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Unfall im Haushalt

Angst.

Hektisch huschten ihre Augen umher, versuchten, sich auf etwas belangloses zu fixieren.

Eine Kuchenform. Eine Packung Mehl. Ein Apfel. Ein Nudelholz.

Angsterfüllt weiteten sich ihre Augen, schnell schaute sie weg. Ein Nudelholz. Das war gar nicht gut. Ein fester Schlag damit auf den Hinterkopf… Panisch schüttelte sie den Kopf, klammerte sich an die Theke in der großen Küche. Schmerzhaft gruben sich ihre Finger in das unnachgiebige Holz, versuchten Halt in der Wirklichkeit zu finden.

Die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, eine Kälteschauer kroch ihren Rücken empor.

Ein Kochlöffel. Eine Vanilleschote. Ein Rührgerät. Eine Gabel.

Ein gezielter Stoß mit der Gabel in Richtung Auge… Nein, nein, nein. An so etwas durfte sie nicht einmal denken!

Ihr Atem ging immer schneller, ihr Herz pochte fast schon schmerzhaft gegen ihren Brustkorb. Laut rauschte das Blut in ihren Ohren, übertönte die Stimme eines Mannes im Hintergrund. Die Stimme ihres Mannes. Doch seine Worte drangen nicht zu ihr vor, zu sehr war sie gefangen in ihrer eigenen Welt der Panik.

Langsam drehte sie sich um und lehnte sich gegen die Arbeitsplatte. Ihre Beine zitterten, gaben unter ihrem Gewicht leicht nach, nur das harte Holz in ihrem Rücken bewahrte sie vor einem Sturz. Doch nun stand sie IHM direkt gegenüber. Ihrem Mann. Ihr persönlicher Albtraum. Dem Grund ihrer Panik.

Wild gestikulierend kam er auf sie zu, während er auf sie einredete. Vorsichtig wich sie ihm aus, darauf bedacht keine zu schnellen Bewegungen zu machen und außerhalb seiner Reichweite zu bleiben. Sie konnte es nicht riskieren den Abstand zwischen ihnen kleiner werden zu lassen. Geschweige denn sich von dem, was er sagte, ablenken zu lassen. Ein einziger Fehler ihrerseits konnte alles zerstören.

In einer beiläufigen Geste legte er seine Hand auf der Arbeitsplatte ab, direkt neben dem Küchenmesser. Ihr Herz machte unwillkürlich einen Sprung, wie ein geschlagenes Tier zuckte sie zusammen. Doch er redete einfach weiter, tat, als habe er nichts gemerkt. Doch sie registrierte dafür jede noch so kleine Bewegung von ihm. Jeder unerträgliche, ekelhafte Blick, der für einen Moment auf den gefährlichen Küchengeräten ruhte, jeder Atemzug, den sie auf ihrem Gesicht spürte.

Sie fühlte sich mehr und mehr in die Ecke gedrängt, ihrem Mann voll und ganz ausgeliefert. Doch sie konnte nichts dagegen tun. Er stand vor ihr, erschreckend nah, und in ihrem Rücken spürte sie die Härte der Arbeitsplatte. Sie war gefangen. Schutzlos seiner Gnade ausgeliefert…

 

Von Anfang an hatte sie es gespürt. Mit seinen braunen Augen, dem liebevollen Lächeln aus den sanft geschwungenen Lippen und dem Dreitagebart hatte er sie sofort um den Finger gewickelt. Er hatte regelrecht um sie geworben, sie mit Geschenken und Komplimenten gehäuft. Es war alles so wunderschön gewesen, bis zu ihrem ersten Kuss. Sanft und unschuldig hatten sich ihre Lippen das erste Mal getroffen, es war kaum mehr als ein Hauch, und dennoch hatte sie es gespürt.

Ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt, ein unangenehmer Schauer nach dem anderen war durch ihren Körper gegangen. Viel zu schnell hatte ihr Herz geschlagen und ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt gewesen. Sie hatte sich gefühlt wie ein gefangenes Tier, das zur Schlachtbank geführt wurde.

Noch heute konnte sie seinen schockierten Blick vor sich sehen, als sie damals Hals über Kopf geflüchtet war. Vor ihm. Und ihren Gefühlen. Tagelang hatte sie sich in ihrer kleinen Wohnung verschanzt. Mehrmals hatte das Telefon geklingelt und es wurde an der Tür geklopft, doch nichts konnte sie dazu bringen, ihr Bett zu verlassen. Sie war gefangen in ihrer eigenen Angst.

Dennoch drehten sich ihre Gedanken nur um ihn. Die braunen Augen verfolgten sie, zärtliche Berührungen seiner schlanken Finger brachten sie im Schlaf zum lustvollen Erzittern. Ihre Lippen kribbelten bei dem alleinigen Gedanken an ihren unschuldigen Kuss. Ihr Herz zerbrach bei dem Gedanken, dass er nach ihrer übereilten und panischen Flucht nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, dass dieser liebevolle Blick sie nie wieder treffen würde. Schließlich musste sie es sich eingestehen. Sie hatte sich verliebt. In einen Menschen, der sie in einen Zustand völliger Panik versetzte.

Als ihr Telefon das nächste Mal geklingelt hatte, hatte sie es nicht ignoriert.

Fünf Jahre später hatten sie geheiratet.

Sie hatte sich sehr dagegen gewehrt, ihn immer wieder mit Ausreden abblitzen lassen. Doch er war hartnäckig geblieben und hatte immer weiter um sie gekämpft. Ihr Unwohlsein war in seiner Gegenwart mit der Zeit immer weniger geworden und sie hatte es erfolgreich geschafft ihren Fluchtreflex zu unterdrücken. Nur deswegen hatte sie sich letztendlich überzeugen lassen mit ihm zusammen zu ziehen und schließlich vor den Traualter zu treten. Außerdem konnte sie froh sein, überhaupt jemanden gefunden zu haben, der sie so bedingungslos liebte und nicht einmal misstrauische Fragen zu ihrer nicht vorhandenen Verwandtschaft stellte. Er liebte sie einfach nur ihretwegen. Nicht wegen ihrer Hobbies, ihrer Freunde oder ihrer Vergangenheit. Und das war das größte Geschenk, dass er ihr hätte machen können.

Und doch konnte sie nicht dankbar sein. Vielmehr verfluchte sie ihn in diesem Moment dafür. Denn nur so hatte er sie in diese Situation gebracht. Hätte sie sich damals nicht von ihm um den Finger winkeln lassen, würde sie nun nicht in der Küche stehen und solche Angst haben.

Sie hätte einfach von vorne herein ihr Gefühl, ihr Verlangen nicht unterdrücken dürfen.

 

Tief durchatmend richtete sie ihren verschwommenen Blick auf ihn. Seine braunen Augen, die sie eins so geliebt hatte, ruhten auf ihrem Gesicht, und schauten sie nach all den Jahren scheinbar immer noch genau so sanft und fürsorglich an, wie am ersten Tag. Seine Lippen formten dieselben romantischen Worte und auch seine gesamte Körpersprache drückte nichts als reine Liebe aus. Ihre Beziehung hatte sich in den letzten zehn Jahren nicht verschlechtert oder auseinander gelebt. Eher im Gegenteil. Sie waren sich noch näher gekommen, gingen noch vertrauter miteinander um.

Das hatte sie nachlässig gemacht. Und das bereute sie nun zutiefst. Sie hatte einen Fehler gemacht, den sie nun nicht wieder rückgängig machen konnte, der sie verändert hatte.

Lange hatte sie es zurück gedrängt. Das Gefühl fliehen zu müssen. Vor ihm.

Aber nicht, um nicht verletzt zu werden. Sie wusste, er würde ihr niemals etwas antun. Dafür liebte er sie einfach zu sehr.

Sie musste fliehen, um sich selbst nicht zu verlieren.

Jahrelang hatte sie daran gearbeitet, die Vergangenheit zu vergessen, alles hinter sich zu lassen und ein normales Leben zu führen. Dank ihrer Psychiaterin hatte sie es geschafft, dieses unbändige Verlangen in ihr zu unterdrücken. Es war ein langer und schwieriger Weg gewesen. Zehn Jahre lang hatte sie in einer Psychiatrie verbracht, bis die Ärzte sich sicher sein konnten, dass sie kein Bedürfnis mehr danach hatte.

Sie war geheilt. Doch sie selbst hatte es immer gewusst. Irgendwann würde sie alles wieder einholen. Und wenn es soweit gekommen war, würde sie es nicht mehr unterdrücken können.

Jahrelang hatte sie aus Schutz vor anderen, und vor allem vor ihr selbst, niemanden an sich heran gelassen. Und dann war er gekommen und hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt. Erst als sie sich sicher sein konnte, dass sie diesen Drang in ihr einigermaßen unter Kontrolle hatte, hatte sie sich auf diese Ehe mit ihm eingelassen.

Doch seit Wochen hatte es sich angekündigt. Nein, sogar schon seit Monaten. Sie waren ein eingespieltes Team, das Traumpaar schlechthin, sie verbrachten die meiste Zeit miteinander, stritten nie, teilten die selben Interessen und konnten sagen, was der andere dachten. Sie waren sich zu nah. Sie fühlte sich zu wohl, um gegen ihr Inneres noch länger ankämpfen zu können.

Schockiert konnte sie nur zuschauen, wie ihr Mann sie in seine starken Arme schloss, sie sanft in den Nacken küsste. Tief sog sie seinen ureigenen Duft ein, genoss den angenehmen Druck seiner Umarmung, bevor sie innerlich aufschrie und den Kampf aufgab. Sie hatte einfach keine Kraft mehr.

Eine einsame Träne lief ihre Wange herunter, als sie hinter seinem Rücken die Hand hob und zustach.

Immer und immer wieder. Bis zum Anschlag rammte sie das scharfe Küchenmesser in den geliebten Körper und zog es blutgetränkt heraus.

 

Leblos sackte ihr Mann auf den Boden, den Mund zu einem letzten Schrei geöffnet und dennoch lag in seinem gebrochenen Blick bedingungslose Liebe.

Stundenlang saß sie da, den Kopf ihres Geliebten auf ihrem Schoß gebettet, verzweifelt um Verzeihung bittend. Doch ihre Worte blieben ungehört. Ihr Herz zerbrach bei dem Anblick des Leichnams, andererseits war sie jedoch zufrieden. Sie hatte endlich das getan, was sie schon seit dem Anfang ihrer Beziehung machen wollte.

Sein Blick, seine Liebesschwüre, sein Körper – all das gehörte nun ihr. Keine andere Frau, nicht einmal seine Mutter, würde je wieder ein Lächeln von ihm bekommen. Denn das aller letzte hatte ihr selbst gegolten.

 

Es schienen Tage vergangen zu sein, bevor sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte und sie nicht in ihren widersprüchlichen Gefühlen versank. Nachdem sie die Küche gereinigt und ihren Mann unter einiger Kraftanstrengung in ihr gemeinsames Bett gebracht hatte, sammelte sie so schnell es ging all ihre wichtigsten Besitztümer ein. Ein einziger Gedanke beherrschte sie: Flucht.

Doch als sie das restliche Bargeld aus dem Geldbeutel ihres Mannes nehmen wollte, sah sie es.

Ein unscheinbarer, kleiner Zettel, versteckt zwischen den Geldscheinen.

 

Und da wurde ihr klar, dass eine Flucht zwecklos war.

Weinend brach sie auf dem Boden zusammen, als sie den Inhalt des Briefes las und ihr bewusst wurde, dass er es gewusst hatte. Alles. Ihre Vergangenheit. Ihr Verlangen danach, ihn für immer zu besitzen. Ihn umzubringen, damit niemand anderes jemals seine Liebe bekommen könnte.

Er hatte alles gewusst. Und sie dennoch nicht weniger geliebt.

 

Sie konnte nicht mehr fliehen. Denn ihr größter Feind war nun nicht mehr ihre Vergangenheit oder das Verlangen nach dem Mord an ihrem Ehemann.

Selbst eine Flucht ans andere Ende der Welt würde ihr nichts mehr nützen. Das erste Mal in ihrem Leben spürte sie, was es bedeutete, etwas aus tiefstem Herzen zu bereuen. Und dieses Gefühl würde sie überall hin begleiten.

 

Blind vor Tränen taumelte sie in die Küche, griff nach dem erst besten scharfen Gegenstand, den sie fand und erlöste sich selbst von der Schuld, den einzigen Menschen umgebracht zu haben, der sie bedingungslos akzeptiert hatte. Mit all ihren Macken. Und Fehlern. Und ihrem dunkelsten Geheimnis.

 

„… und meine Liebe zu dir hat mich umgebracht. Doch ich bereue es nicht.“

 

 

 

Impressum

Texte: Fragilitas
Bildmaterialien: Fotograf: Vera K., Model: Fragilitas
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2013

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