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Mord im Ort


Tief atmete er durch und schloss verzweifelt seine brennenden Augen. Immer und immer wieder ging er die Worte in seinem Kopf durch, versuchte sie so harmlos und schonend wie es nur ging zu formulieren. Allein bei dem Gedanken, was er gleich tun musste, schossen ihm die Tränen in die Augen und sein Magen verknotete sich schmerzhaft.

In seiner immerhin 20 jährigen Karriere bei der Kriminalpolizei Rastatt musste er schon einige unangenehme Dinge tun. Drogendealer fassen, blutige Tatorte untersuchen oder der High-Society Baden-Badens auf den Zahn fühlen. Doch das, was ihm nun bevor stand, übertraf alles. Es war nie leicht, den Eltern beizubringen, dass ihr Kind bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Dieses Mal jedoch hatte er das Opfer persönlich gekannt.

Verzweifelt versuchte er das Bild des Tatorts aus seinen Gedanken zu verbannen, doch es schob sich immer wieder vor sein inneres Auge.
Unnatürlich verdreht lag sie da, in einer Lache ihres eigenen Blutes, den Blick leblos in die Ferne gerichtet. Ihre einst so blonden Haare lagen blutverklebt auf ihrem verformten Hinterkopf, der Mund war weit zu einem Schrei geöffnet. Die Hände lagen rechts und links von ihrem Kopf, wie als hätte sie ihren Sturz abfangen wollen.
Ihr Oberkörper lag mit dem zerschundenen Rücken zum Betrachter, ihre Beine waren jedoch seltsam verdreht und standen in einem unnatürlichen Winkel ab.
Noch jetzt musste er würgen, wenn er daran dachte wie entstellt ihr zierlicher Körper war. Die gebrochene Knochen, die zertrümmerte Wirbelsäule, die vielen Hämatome und Wunden zeugten von einem äusserst schmerzvollem Tode. Etwas, das er nicht einmal seinem grössten Feind wünschen würde.
Und dieses junge, unschuldige Ding hatte so etwas auf keinen Fall verdient. Und das Traurige daran war, dass alles darauf hin deutete, dass sie sich das selbst verschuldet hatte.
Ein älterer Herr hatte den Leichnam auf einem Feld am Waldrand gefunden, als er mit seinem Hund in den frühen Morgenstunden einen kleinen Spaziergang gemacht hatte. Das Gebiet war bekannt für seine vielen Wildschweine und es gab schon den ein oder anderen Angriff auf freilaufende Hunde, die diese Begegnung oft nur knapp lebend entkommen konnten.
Doch Julia Hertweck hatte nicht so viel Glück gehabt. Sie wurde vielmehr von einer Wildschweinmutter überrannt und zu Tode getrampelt. So lautete zumindest seine Vermutung. Und auch ein ortsansässiger Jäger, den er selbst zum Tatort gerufen hatte, teilte seinen Verdacht. Die aufgewühlte Erde rund um das Opfer, der naheliegende Wald und das angrenzende Maisfeld deutete auf einen Wildschweinangriff. Und auch der zerschundene Körper mit den vielen zertrümmerten Knochen unterstützte seine Theorie.

Was hatte sie nur da draußen so alleine gewollt? Oder war sie überhaupt alleine gewesen? Und wieso hatte sie außer der Kleidung, die sie anhatte, nichts bei sich gehabt? Kein Geldbeutel, kein Haustürschlüssel, nicht einmal ein Handy.
Doch bevor er all diese Fragen klären konnte, musste er es erst einmal ihren Eltern beibringen. Ein letztes Mal atmete er tief ein, bevor er klingelte.
Plötzlich war er nicht mehr nur ein einfacher Polizist, der Kleinkriminelle jagte, sondern ein guter Bekannter, der dem Bürgermeister beibringen musste, dass seine Tochter ums Leben gekommen war.
Er musste nicht einmal etwas sagen, ein Blick genügte und Frau Hertweck, die Mutter des Opfers, brach in Tränen aus. Fassungslos schüttelte sie immer wieder den Kopf, murmelte in einem Mantra vor sich hin, dass das nicht sein kann. Nicht ihre Tochter. Sie driftete immer weiter ab, versank in ihrer Welt aus Trauer und Schmerz. Und er war ihr einziger Fels in der Brandung, ihr Halt in der Wirklichkeit. Verzweifelt klammerte sie sich an ihn, krallte ihre Fingernägel in seine Schultern, unbeherrscht, überwältigt von der Wucht ihrer eigenen Trauer. Erst als sie Schritte hinter sich hörte, löste sie sich von ihm, nur um ihrem Mann, dem Bürgermeister in die Arme zu fallen.
Er konnte nur da stehen und versuchen, seine eigenen Tränen wegzublinzeln und sich nicht von der spürbaren Erschütterung dieser kleinen Familie überwältigen lassen. Doch das war leichter gesagt als getan…


„Also, was wissen wir über das Opfer?“
Erschrocken fuhr er zusammen, als seine Kollegin plötzlich neben ihm stand. Völlig gedankenversunken war er dagesessen, erschüttert von den vergangenen Stunden und mit seinen eigenen Nerven am Rande des Abgrunds. Das Gespräch mit den Eltern des Opfers hatte stark an seiner Beherrschung genagt, die pure Verzweiflung, die in den Augen der Mutter stand, würde ihn mit Sicherheit noch lange verfolgen.
Leicht schüttelte er den Kopf, versuchte so die bedrückenden Gedanken zu verscheuchen, und konzentrierte sich auf seine Kollegin. Lässig lehnte sie sich an der Schreibtischplatte ihm gegenüber an und schaute ihn direkt an. Der Blick aus ihren dunkelbraunen Augen war durchdringend und ließ ihn erschüttern. Er fühlte sich immer, als würde sie ihn durchleuchten. Kein Geheimnis war vor ihr sicher, nicht die kleinste Gefühlsregung blieb ihr verborgen. Mit dieser Gabe überführte sie jeden noch so guten Lügner und machte somit ihre geringe Berufserfahrung von gerade einmal fünf Jahren wieder wett.
Seufzend wandte er seinen Blick ab, musterte stattdessen den Boden. Vor ihr brauchte er nicht einmal so tun als hätte er sich selbst im Griff. Das schätzte er so sehr an seiner Partnerin. Vor ihr musste er nicht den harten, gefühlslosen Bullen spielen, den alle von ihm erwarteten. Wenn sie beide, wie jetzt, alleine in ihrem gemeinsamen Büro waren, fiel die Fassade des Polizisten von ihm ab, und er war nur noch Manfred. Mensch. Ehemann. Und Vater einer Tochter, die genau so alt war, wie das Opfer.

Seine Stimme klang brüchig als er begann, seine Kollegin über das Opfer zu informieren.
„Sie hieß Julia Hertweck, 23 Jahre alt und war die einzige Tochter des Bürgermeisters. Sie hat nach dem Abi mit einer Ausbildung zur Hotelkauffrau begonnen und diese im letzten Jahr mit Bestnoten beendet. Seitdem arbeitet sie im Dorint Hotel in Baden-Baden und empfängt die High-Society.“
Als nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch keine Reaktion von ihr kam, schaute er sie fragend an. Samantha, seine Kollegin, starrte ihn nur ausdruckslos an und meinte dann: „Sie war so alt wie deine Tochter.“ Es war eine einfache Feststellung, doch indirekt fragte sie, ob das der Grund war, wieso ihn das alle so mitnahm.

„Ja, sie waren zusammen in der Grundschule und waren ganz gut befreundet. Jeder in Haueneberstein kannte sie. Du weißt ja, in so einem kleinen Dorf kennt jeder jeden. Aber bei Julia war das noch einmal anders. Und das lag nicht daran, dass sie die Tochter des Bürgermeisters ist.. oder war. Sie war so eine strahlende, positive Erscheinung, die Jungs haben sich um sie gestritten, jeder kam gut mir ihr klar, jeder mochte sie. Sie war so ein kluges Mädchen…“ Zum Ende hin wurde er immer leiser, bis er schließlich verstummte.

„Deswegen hast du also darauf bestanden, dass ihre Leiche obduziert wird! Du verstehst nicht, wieso sie da draußen auf dem Feld war, alleine, obwohl sie doch weiß, dass es da vor Wildscheinen nur so wimmelt.“ Mit wenigen Schritten war Samantha bei ihm und legte ihm sanft ihre zierliche Hand auf seine Schulter. „Ich kann dich sehr gut verstehen Manfred, aber alles deutet darauf hin, dass es wirklich nur ein Unfall war. Hast du ihren Knöchel gesehen? Ich könnte wetten, dass sie versucht hat vor dem Wildschwein zu fliehen und dabei gestürzt ist und sich den Knöchel verstaucht hat, so dick wie er war. Und so ein wild gewordenes Tier nimmt vor einem wehrlosen, auf dem Boden liegenden Opfer keine Rücksicht.“
„Vermutlich hast du Recht“ seufzte er, „..aber…“. Noch bevor er weiter reden konnte, wurde die Tür zu ihrem Büro aufgestoßen und herein stürmte ihr Kollege Rainer. Unbemerkt verschwand die zierliche Hand von seiner Schulter, seine eigene Körperhaltung wurde aufrechter und stolzer. Verschwunden war der verletzliche Mensch, zurück blieb nur der gefühlslose Polizist, den jeder von ihm kannte. Und auch die ernste Miene seiner Kollegin war einem breiten Lächeln gewichen.
Immer wieder wunderte er sich darüber, wie schnell sie beide in der Lage waren, sich zu verstellen und sich den Erwartungen ihrer Mitmenschen anzupassen. Nur wenn sie alleine waren, konnten sie sie selbst sein.
Überschwänglich begrüßte Samantha ihren Kollegen und bot ihm sofort einen Kaffee an. Jeder im Präsidium unterschätzte sie, sah in ihr nur die freundliche, gutaussehende Frau. Keiner nahm sie als Polizistin ernst und es wurde schon öfters darüber spekuliert, ob er, Manfred, verheirateter Mann und Vater, mit ihr eine Affäre hatte. Doch das war nur ein blödes Gerücht. Ja, er liebte sie. Jedoch nur als kleine Schwester. Samantha gehörte mittlerweile zur Familie, auch seine Frau hatte sie tief in ihr Herz geschlossen. Es verging so gut wie kein Wochenende, an dem seine Kollegin und ihr Freund nicht bei ihnen zum Essen eingeladen waren.

Wortlos überreichte sein Kollege ihm einen dünnen Ordner mit den ersten Obduktionsergebnissen, bevor er sich wieder Samantha zuwendete. Ja, er selbst war im Präsidium nicht wirklich beliebt, war er doch zu den meisten abweisend und kalt. Man musste erst einmal seine Schale knacken, bevor er mit seinen Mitmenschen warm wurde. Samantha hatte das erstaunlicherweise innerhalb einer Woche geschafft. Normalerweise brauchte man dazu fast ein Jahr.
Seufzend schlug er den Ordner auf und überflog die wenigen Daten, die ihm bereits zur Verfügung standen.
Julia Hertweck, geboren am 15. Mai 1989, 1,70m groß und 57 kg schwer. Todeszeitpunkt war zwischen 2 und 3 Uhr nachts. Kein Alkohol und keine Drogen im Blut. Gerissene Achillessehne, drei gebrochene Rippen, gebrochenes Genick und ein zertrümmerter Schädel. Was genau davon die Todesursache war, konnte noch nicht festgestellt werden, daran wurde jedoch noch gearbeitet.

Der Todeszeitpunkt bestätigte seine Vermutung bezüglich der Wildschweinattake, doch was hatte Julia um zwei Uhr nachts, mitten unter der Woche, auf diesem Feld am Waldrand außerhalb des Dorfes zu suchen? Was wollte sie dort? War das ein geheimer Treffpunkt? Oder wollte sie zu Fuß in das nächste Dorf laufen?
Frustriert klappte er den Bericht zu und ließ ihn auf seinen Schreibtisch fallen. Das war doch zum Mäuse melken! Er hatte gehofft, dass ihm die Obduktion endlich die Gewissheit geben würde, dass es wirklich nur ein Unfall war. Dass Julia auf der Flucht vor dem Wildschwein hingefallen war und daraufhin überrannt wurde. Doch es tauchten für ihn immer mehr Fragen und Ungereimtheiten auf. Und wie es schien war er der einzige, der nicht daran glaubte. Die Zweifel nagten an seinem Gewissen, ließen ihn nicht in Ruhe.
Er musste irgendwie Antworten auf seine Fragen bekommen, und wenn es nur war, um in dieser Nacht in Ruhe schlafen zu können.

Mit einem genervten „Rainer hau‘ ab, wir haben zu Arbeiten!“ verscheuchte er seinen Kollegen aus seinem Büro. Sich die Jacke überziehend schnappte er sich den Autoschlüssel und gab Samantha ein Zeichen ihm zu folgen. So Schmerzlich es auch werden würde, sie mussten noch einmal zu den Eltern des Opfers. Er hätte es ihnen gerne erspart, doch es lag sicherlich auch in ihrem Interesse, den Unfall zu klären. Und vielleicht half es ihnen sogar, wenn sie darüber sprachen.


Sein Entschluss kam jedoch noch einmal stark ins Wanken, als er vor dem Haus des Bürgermeisters parkte. Hatte er sich selbst denn überhaupt genug im Griff, um diese Situation zu überstehen? Konnte er überhaupt einen klaren Kopf bewahren, wenn er gleich den trauernden Eltern gegenüber saß? Die richtigen Fragen stellen, ohne sie dabei zu sehr zu verletzen?
Schon lange hatte er nicht mehr so sehr an sich und seiner Berufswahl gezweifelt.

Langsam und vorsichtig schloss sich eine kleine, zierliche Hand um seine eigene und drückte sie aufmunternd. Nein, dieses Mal war er nicht alleine. Er hatte eine starke Frau an seiner Seite, die ihm helfen und Halt geben würde. Ein letztes Mal nickte Manfred ihr zu, bevor er sich sanft von ihr löste und aus dem Auto stieg. Gemeinsam klingelten sie und warteten, bis nur Sekunden später die Tür geöffnet wurde. Mit gesenkten Kopf wurden sie empfangen und ins Wohnzimmer geleitet. Bedrückte Stille herrschte in dem kleinen, aber durchaus edlem Haus. Trauer stand den Eltern ins Gesicht geschrieben, die Augen gerötet und teilnahmslos.

„Es tut mir leid euch noch einmal stören zu müssen. Doch ich habe da noch einige Fragen an euch…“ begann Manfred. Er hatte zwar nicht viel mit dem Bürgermeister zu tun, jedoch schien es ihm in dieser Situation unangebracht, ihn zu Siezen. Und in so einem kleinen Dorf wie Haueneberstein kannte man den Vornamen des jeweils anderen nur zu gut. Und Sebastian Hertweck schien kein Problem damit zu haben.

„Julia hat doch noch bei euch gewohnt. Wisst ihr, wieso sie so spät in der Nacht auf diesem Feld zwischen Haueneberstein und Kuppenheim war?“
„Ich… ich habe keine Ahnung. Julia… Sie hat gesagt, dass sie später nach Hause kommt und wir nicht auf sie warten sollen. Sie wollte sich gleich nach der Arbeit noch mit einer Freundin im Kino in Baden-Baden treffen. Verena, ihre Freundin, wohnt auch hier in Haueneberstein. Sie hat vorhin schon angerufen und.. und… uns ihr Beileid ausgesprochen. Verena kann es selbst noch gar nicht fassen, denn sie hat Julia um kurz vor Mitternacht vor unserem Haus abgesetzt…Wieso… wieso nur…“ Am Ende brach Frau Hertweck in Tränen aus, überwältigt von ihrer Trauer und Verzweiflung. Wortlos reichte ihr Mann ihr ein Taschentuch und legte tröstend einen Arm um ihre Schulter. Der zierliche Körper zitterte unkontrolliert, laut schluchzte sie immer wieder auf.
Beschämt senkte Manfred den Kopf und schluckte lautlos. Es tat ihm furchtbar leid, dass er die beiden mit seinen Fragen so foltern musste, die pure Verzweiflung, die das Ehepaar ausstrahlte, schnürte ihm die Kehle zu.
Er wartete einige Minuten, bis Frau Hertweck sich einigermaßen beruhigt hatte und auch er wieder mit der Situation umgehen konnte, bis er fragte, ob Julia einen Freund hatte. Beide schüttelten den Kopf und erklärten, dass ihre letzte Beziehung vor zwei Jahren zu Ende ging. Samantha bat noch um die Nummer der Freundin des Opfers, dann überließen sie die Eltern wieder sich selbst.


Frustriert legte er den Hörer auf und ließ den Kopf sinken. Verena Reiss hatte bestätigt, dass sie Julia um 23:50 vor dem Haus ihrer Eltern abgesetzt hatte und danach nach Hause gefahren war. Julia hatte außerdem nicht angedeutet, dass sie in dieser Nacht noch irgendwie nach Kuppenheim wollte oder noch etwas anderes vor hatte. Es schien, als wäre er in einer Sackgasse angelangt. Wahrscheinlich musste er die Tatsache akzeptieren, dass es wirklich nur ein Unfall war. Und Julia einfach nur noch einen kleinen Spaziergang machen wollte. Nachts. Alleine. Wenn es Stockdunkel ist. Ohne Taschenlampe. Und ohne Tasche…

„Samantha…?“ fragte er etwas ungläubig. Hatten sie dieses kleine Detail wirklich übersehen? „Eine Frau hat doch immer eine Handtasche dabei?“ Als seine Kollegin schließlich nickte, fragte er weiter: „Und wo ist Julias Handtasche? Ihr Handy? Ihr Geldbeutel? Ihr Haustürschlüssel?“ Überrascht starrte ihn Samantha an. Nein, daran hatten sie wirklich nicht gedacht. Zeitgleich standen sie auf und machten sich auf den Weg zum Tatort. Während der kurzen Autofahrt rief seine Kollegin Verena Reiss, die Freundin des Opfers, noch einmal an. Sie konnte Bestätigen, dass Julia eine Tasche dabei hatte und sie auch nicht bei ihr im Auto vergessen hatte.
Eine Stunde lang suchten Samantha und er das nähere Umfeld des Tatorts ab, doch von den persönlichen Sachen des Opfers war keine Spur zu sehen.

„Du hattest also recht, irgendetwas stimmt hier nicht“ sprach Samantha das aus, was er auch dachte. Ja. Endlich hatten sie einen Beweis dafür, dass seine Zweifel nicht unbegründet waren. Tatsache war, dass Julias persönlichste Sachen fehlten. Das konnte nur zwei Dinge bedeuten. Entweder sie wurde ermordet und der Mörder hatte ihre Tasche vom Tatort entfernt, oder sie wurde ihr von einem Räuber erst nach ihrem Tod entfernt.
„Ja, irgendetwas ist faul an der ganzen Sache.“
Er musste so schnell es ging die Eltern informieren, denn wenn wirklich der Täter nun den Haustürschlüssel besaß, konnte er nun ungehindert in das Haus der Familie Hertweck eindringen.
Gerade als er nach seinem Handy griff, vibrierte es in seiner Hand.
Mit einem Blick auf das Display stellte er fest, dass es der Pathologe war.
„Ja Stefan, was hast du neues für mich?“
„Ich habe einige sehr interessante Dinge herausgefunden. Eines kann ich dir mit Sicherheit sagen: Das Opfer wurde nicht von einem Wildschwein getötet. Das Genick kann in der Position, in der sie lag, auf keinen Fall gebrochen worden sein. Rein theoretisch müsste das Tier hinter ihr her gerannt sein, und als sie stürzte und sich dabei die Achillessehne riss, müsste es sie überrannt haben. Das Genick wurde ihr jedoch mit einem gezielten Schlag mit einem Baseballschläger oder etwas anderem von schräg oben gebrochen. Ihr Schädel wurde erst nach ihrem Tode zertrümmert und auch die gebrochenen Rippen wurden ihr höchst wahrscheinlich erst danach zugefügt.“
Fassungslos lauschte Manfred den Worten des Pathologen. Wie konnte jemand nur so grausam sein?
Doch es ging noch weiter…
„Außerdem habe ich Spermaspuren gefunden. Das Opfer hatte eine Stunde vor Ihrem Tod noch freiwilligen Sex.“ Ungläubig starrte er seine Kollegin an, die alles mitgehört hatte. Es handelte sich wirklich um Mord. Und jemand wollte, dass es nach einem Unfall aussah. Und dieser jemand wäre damit auch noch beinahe durchgekommen!

Schnell bedankte er sich bei seinem Kollegen, bevor er auflegte und zum Tatort zurück eilte.
Atemlos folgte ihm Samantha. „Manfred, was ist? Ist dir noch etwas aufgefallen? Verdammt, wieso rennst du denn so?“ rief sie ihm hinterher, doch er machte nicht langsamer.
Wie hatten sie das alles nur übersehen können? Dabei war doch alles so offensichtlich gewesen! Wie ein Anfänger hatte er gehandelt und sich von seiner eigenen Trauer blenden lassen!

„Sam, schau dir doch mal den Tatort genau an! Dort lag die Leiche, zertrümmert, entstellt, mit blutverklebten Haaren. Aber wo ist das Blut? Auf dem Boden ist nichts zu sehen! Wenn Julia hier ermordet worden wäre, dann müsste der Boden mit Spuren übersät sein. Aber hier ist nichts. Rein gar nichts! Sie wurde irgendwo anders ermordet und anschließend hier her gebracht, damit es aussieht, als wäre sie von einem Wildschwein angefallen worden!“ Unruhig lief er im Kreis um den Tatort herum, deutete immer wieder auf die Stelle, an der Julias Körper gefunden wurde und auf die aufgewühlte Erde außen herum.
Fassungslos schnappte Samantha nach Luft, konnte selbst nicht glauben, dass sie das erst jetzt bemerkten. Sie hatte sich blenden lassen. Das war ihr noch nie passiert! Zu ihrer Verteidigung blieb nur zu sagen, dass sie den Tatort vorher nur auf Fotos ihres Kollegen gesehen hatte, denn an dem Morgen war sie erst später zur Arbeit gekommen.
Dennoch hätte auch ihr das sofort auffallen müssen. Und dann auch noch diese Spermaspuren. Mit wem war Julia kurz vor ihrem Tod noch zusammen gewesen?
Auch Manfred überlegte angestrengt und ließ den Tag noch einmal Revue passieren. Kaum war er an diesem Morgen im Präsidium angekommen gewesen, hatte er auch schon einen Notruf bekommen. Sofort war er losgefahren um den Tatort zu untersuchen. Nachdem er sich von dem ersten Schock erholt hatte und die Wildschweinspuren entdeckt hatte, hatte er den ortsansässigen Jäger angerufen und um Hilfe gebeten. Dieser hatte bestätigt, dass die Abdrücke am Körper des Opfers dem eine Wildschweinpfote ähnelte und die aufgewühlte Erde eindeutig von diesen Tieren stammten.

Der Jäger.

Er war der einzige Mensch am Tatort gewesen, der nicht zur Polizei gehörte. Und Manfred hatte bedingungslos seinen Worten geglaubt, ohne sich eine zweite Meinung zu holen oder sich selbst zu informieren. Wahrscheinlich hätte der Jäger auch behaupten können, dass die Spuren von einem Hasen stammten, und er selbst hätte es ihm geglaubt. Wie dumm konnte man sein?
Es war nur eine Vermutung, ein Geistesblitz, doch er musste das überprüfen.
Schnell zog er Samantha hinter sich her zum Auto.
Innerhalb weniger Minuten standen sie vor dem Haus des Jägers. Sicherheitshalber hatten sie etwas abseits geparkt und die letzten Meter zu Fuß hinter sich gebracht. Geduckt liefen sie durch den Garten, versteckten sich hinter Büschen und Bäumen, bis sie sich, mit der Pistole im Anschlag, an der Terrassentür des Hauses befanden. Vorsichtig spähten sie durch das Glas hindurch, versuchten auszumachen, wo sich der Inhaber befand. Doch von Gregor Hirth, dem Jäger, war nichts zu sehen.

Stumm nickten sie sich zu, bevor Manfred vorsichtig und langsam die unverschlossene Tür öffnete und in den Wohnraum trat. Die Waffe einsatzbereit arbeiteten sie sich Raum für Raum durch das verlassene Haus, bis nur noch der Keller übrig war. Ein letztes Mal tief Luft holend drückte Manfred vorsichtig die Klinke herunter. Vor ihm lag eine steile Treppe, die in den Kellerraum des Hauses führte. Darauf bedacht keine Geräusche zu machen ging er herunter, Samantha folgte ihm aufmerksam. Je weiter und tiefer sie in den Raum eindrangen, desto mulmiger wurde Manfred. Etwas stimmte hier nicht. Weit und breit war von dem Jäger nichts zu sehen und das, obwohl sein Auto im Hof geparkt hatte und die Terrassentür offen stand. War er möglicherweise geflüchtet?
Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, zerriss ein Geräusch die vollkommene Stille.
In Zeitlupe drehte er sich um und da stand er. Gregor Hirth. Mit ernstem Gesicht stand er da und klatschte in die Hände.

„Manfred, Manfred, ich hätte nicht gedacht, dass du meine kleine Farce aufdeckst. Erzähl mir, alter Freund, wie hast du es herausgefunden?“
Er musste sich erst einmal wieder fassen. Irgendwie hatte er doch noch gehofft, dass er sich irgendwie geirrt oder etwas übersehen hatte. Aber Gregor hatte gerade all seine Hoffnungen zerstört. Er hatte quasi gestanden.
Jetzt ging es nur noch darum zu erfahren, wieso er das getan hatte.
„Weißt du Gregor, du hast einige Fehler gemacht. Der Tatort sah ja doch nicht so ganz realistisch aus. Ein bisschen Blut hätte nicht geschadet. Und vielleicht hättest du vorher einfach nicht mit Julia schlafen sollen…“ begann Manfred im spöttischen Plauderton zu erzählen.
Gregor stand in seiner vollen Gestalt einfach nur da, die Arme vor der Brust verschränkt. Unbewaffnet. Der Keller war jedoch voll mit potenziellen Waffen. Schaufeln, rechts von ihm stand eine Axt, und wer wusste, was sonst noch so versteckt war.
Doch seine eigene Pistole und die seiner Kollegin waren bedrohlich auf den Jäger gerichtet, bereit, jederzeit abzudrücken.
„Weißt du Manni, ich darf dich doch Manni nennen? Die Kleine hat sich mir förmlich angeboten. Im Bett war sie echt erste Sahne, sie ging ab wie eine Raubkatze, das hätte dir sicher auch gut gefallen! Aber dann hat sie angefangen von einer Beziehung und Gefühle zu reden.“
„Und deswegen hast du sie ermordet? Weil sie sich in dich verliebt hatte?“ fragte Samantha entgeistert, doch Gregor ignorierte sie einfach.
„Und gestern Abend stand sie einfach plötzlich vor meiner Tür. Ich habe sie ordentlich durchgenommen und sie dann für ein paar Minuten alleine in meinem Bett liegen lassen. Doch sie musste mir ja folgen und hinterher spionieren. Dabei hat sie dann etwas entdeckt, das sie nichts angeht. Sie hat mein kleines Reich hier unten entdeckt…“ Mit diesen Worten machte er eine einladende Bewegung hinter sich und bat die beiden Polizisten, ihm zu folgen.
Vor ihnen eröffnete sich ein Raum voller illegaler Waffen. Schusspistolen aller Art stapelten sich in den Regalen an der Wand,Handgranaten, Messer, Äxte. Gregor Hirth war offenbar ein sehr erfolgreicher Waffendealer. Sprachlos standen sie beide da, überwältigt von der puren Menge.

Und dann ging alles ganz schnell. Zwei Schüsse. Und dann der Schmerz.
Laut stöhnte er auf und sank auf dem Boden zusammen, krümmte sich zusammen. Zwei Hände griffen nach ihm, drückten auf die blutende Wunde an seiner rechten Schulter.
Krampfhaft versuchte er die Sterne vor seinen Augen wegzublinzeln, im hier und jetzt zu bleiben.
„Na Manfred, wer muss hier auf wen aufpassen?“
Das waren die letzten Worte, die er wahrnahm, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor.


Ruhig saß er da und beobachtete den Bürgermeister und seine Frau. Er war erst vor wenigen Stunden mit einer Schiene und einem dicken Verband aus dem Krankenhaus entlassen worden. Gregor hatte mit seinem Schuss zum Glück nur die Schulter getroffen. Der Jäger hatte da jedoch weniger Glück gehabt. Samantha hatte ihn die ganze Zeit beobachtet und dabei bemerkt, dass er eine der Waffen aus dem Regal genommen hatte, während Manfred abgelenkt war. Zeitgleich hatten sie einen Schuss abgefeuert, doch Samantha hatte direkt ins Herz getroffen. Gregor war sofort tot gewesen.

Er hatte wirklich Glück gehabt, dass er so eine aufmerksame Partnerin an seiner Seite gehabt hatte, denn ohne sie, würde er nun möglicherweise nicht mehr leben. Das hatte sie beide nur noch enger zusammen geschweißt.
Und während er so da saß und beobachtete, wie der Bürgermeister seine Frau tröstete, wusste er wieder, wieso er diesen Beruf gewählt hatte.
Um die Wahrheit herauszufinden. Egal wie grausam sie war. Denn er lebte lieber mit der Wahrheit, als sich die ganze Zeit fragen zu müssen, ob er sich nicht doch vielleicht geirrt hatte.
Und auch der dankbare Blick des Vaters sagte ihm, dass er alles richtig gemacht hatte.
Und das entschädigte alles.

Mit wenigen Worten verabschiedete er sich und machte sich auf den Weg nach Hause.
Seine Familie wartete sicherlich schon sehnsuchtsvoll auf ihn. Und er konnte es kaum erwarten, sie in die Arme zu schließen.

Impressum

Texte: Fragilitas. Die handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten sind nicht beabsichtigt.
Bildmaterialien: Fragilitas, Model: ich, Fotograf: Vera K.
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013

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