Ein letztes Mal atmete er tief ein, bevor er näher trat. Sein Herz stoppte kurz, als er sich über den schlichten Sarg beugte und ihren Anblick tief einsaugte. Seine Seele schrie und bäumte sich auf, lechzte nach einer letzten Berührung.
Mit zitternden Fingern fuhr er sanft ihre kalten Gesichtszüge nach, über die blassen Wangenknochen bis hin zu den einst so roten und vollen Lippen. Doch nun schimmerten sie leicht bläulich, wirkten eingefallen und leblos. So wie der Rest ihres wunderschönen Körpers. Selbst jetzt, als sie starr und unnatürlich bleich da lag, die Hände friedlich auf ihrer Brust verschränkt, war sie das schönste Lebewesen, das er je gesehen hatte.
Es kam ihm vor als sei es erst gestern gewesen, als er ihre Schönheit das erste Mal erblickt hatte.
Inmitten von gesichtslosen Anzugträgern war sie plötzlich da gestanden, in ihrem roten, kurzen Kleid. Mit abwesendem Blick hatte sie in ihrer Tasche gewühlt, auf der Suche nach ihrem Schlüssel. Sie war der einzige Farbklecks in einer sonst so grauen und trägen Welt, ein Hoffnungsschimmer am Horizont gewesen. Er war einfach nur da gestanden und hatte sie beobachtet, unfähig den Blick von ihr zu nehmen, gebannt von ihrer grazilen Figur.
Das rote Kleid hatte ihren weiblichen Körper umschmeichelt, in sanften Wellen waren ihr die schwarzen Haare über die Schulter gefallen und hatten ihr Gesicht verdeckt. Und dann, als sie ihren Kopf gehoben hatte, hatte es ihn wie ein Schlag getroffen.
Dunkelrote, sanft geschwungene Lippen, eine kleine Stupsnase, hohe Wangenknochen, eisblaue Augen und ein blasser Teint.
Schneewittchen.
Das war das erste, das ihm durch den Kopf schoss. Er hatte Schneewittchen gefunden!
Die Haut so weiß wie Schnee, die Lippen so rot wie Blut und die Haare so schwarz wie Ebenholz.
Verwirrt hatte er einige Male geblinzelt um sich zu vergewissern, dass er sich das alles nicht einfach nur eingebildet hatte. Doch da war sie wirklich gestanden, seine persönliche Märchenprinzessin.
Kurz hatten sich ihre Blicke gekreuzt, dann hatte sie sich umgedreht und war in der Menschenmenge verschwunden. Es hatte einige Sekunden gedauert, bis er realisiert hatte, dass sie weg war, doch dann hatte er die Verfolgung aufgenommen, bis vor ihre Haustüre.
Er hatte es wirklich versucht, hatte sein Bestes gegeben der Versuchung zu widerstehen, hatte versucht sie zu vergessen. Doch alles war umsonst gewesen. Nach nur einem Tag war er wieder vor ihrer Haustüre gestanden und hatte sie durch das Fenster im Erdgeschoss beobachtet, wie sie den Haushalt machte, oder las. Er hatte sie auf Schritt und Tritt verfolgt, war ihr heimlich beim Einkaufen hinterher geschlichen. Ihr Anblick hatte ihn süchtig gemacht, sie war wie eine Droge. Jede Sekunde, in der er nicht bei ihr sein konnte, hatte ihn zum Verzweifeln gebracht, unruhig war er im Bett gelegen, hatte sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Doch der Gedanke an sie hatte ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
Nach nur einem Monat hatte er all ihre kleinen Geheimnisse, Macken und Gewohnheiten gekannt, hatte gewusst, wann sie immer einkaufen ging, und wer ihre beste Freundin war.
Doch irgendwann war ihm das nicht mehr genug gewesen. Sie sollte ihm gehören, nur ihm.
Der unbändige Wunsch sie zu besitzen war in ihm heran gewachsen. Und mit ihm die Gewissheit, dass das, was er für sie fühlte, weit mehr war als Liebe. Der Begriff der unsterblichen Liebe hatte für ihn eine ganz neue Bedeutung bekommen. Als Kind war es nur ein Traum gewesen, eine Wunschvorstellung, die sich nie erfüllen würde. Doch seitdem er ihr begegnet war, wusste er, dass es so etwas wirklich gab.
Genau so wie in den ganzen Märchen, die ihm seine Mutter als kleines Kind vorgelesen hatte. Ein Prinz verliebt sich in eine wunderschöne Prinzessin und nachdem er sie gerettet hat, muss der Prinz sie mit dem Kuss der unsterblichen Liebe wieder zum Leben erwecken.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Doch sein Glück war noch nicht vollkommen gewesen. Er hatte sie zwar jeden Tag gesehen, sich an ihrem Anblick ergötzt, sie jedoch hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Für seine Prinzessin war er nichts weiter als Luft gewesen, sie hatte ihn einfach nicht beachtet. Und diese Tatsache hatte ihn langsam von innen heraus aufgefressen, ihn an den Rande des Wahnsinns gebracht. Anfangs hatte es ihm gereicht sie flüchtig beim Vorbeigehen zu Berühren oder tief ihren eigenen Duft einatmen zu können. Doch auch das hatte ihm nicht mehr genügt. Als sie ihm auch trotz mehrmaligem Ansprechen oder Anrempeln keine Beachtung geschenkt hatte, war ihm klar geworden, dass er weiter gehen musste, einen großen Schritt nach vorne machen.
Und das hatte er getan.
Ein weiteres Mal strich er sanft über ihren sinnlichen Mund, malte sich in Gedanken aus wie es sich anfühlen würde, ihren sanften Atem auf seinen Fingerspitzen zu spüren, das Blut unter ihrer Haut pulsieren zu fühlen.
Nicht mehr lange, erinnerte er sich in Gedanken. Nur noch ein paar Sekunden, dann würde er all das wahrnehmen können. Gleich würde er endlich ihren Geschmack kosten können, sie würde endlich ihm gehören. Nur ihm alleine. Und das alles nur wegen seinem genialen Plan.
Er konnte nicht genau sagen, ab wann dieser Gedanke in ihm herum gespukt war. Vielleicht, als sie ihn nicht beachtet hatte? Oder war es doch schon, als er sie das erste Mal gesehen hatte? Als er erkannt hatte, wer sie wirklich war?
Sein Schneewittchen.
Es war viel zu leicht gewesen an das Gift zu kommen und es in den blutroten Apfel zu spritzen. Und es war noch leichter seiner Prinzessin den Apfel unbemerkt in die Handtasche zu schmuggeln.
Doch als er durch ein Fenster beobachtet hatte, wie sie zu Hause in die giftige Frucht gebissen hatte und anschließend zusammen gebrochen war, hatte es ihm das Herz zerrissen. Nur der Gedanke, dass er sie bald wieder für sich haben würde, dass er der edle Prinz war, der sie mit dem Kuss der unsterblichen Liebe zum Leben erwecken würde, hatte ihn am Leben gehalten.
Und nun stand er hier, tief über ihren Sarg gebeugt, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt. Bereit, seine Pflicht zu tun.
Langsam schloss er seine Augen, rief sich ihr lebendiges Antlitz in Erinnerung. In ihrem roten Kleid stand sie wieder vor ihm, die schwarzen Haare wehten sanft um ihr blasses Gesicht, die blutroten Lippen verzogen sich zu einem liebevollen Lächeln und die eisblauen Augen blickten ihn direkt an.
Mit diesem Bild vor Augen überwand er die letzte Distanz.
Sanft liebkoste er ihre kalten Lippen, legte all seine Liebe für sie in diesen einen Kuss. Die Welt um ihn herum wurde unwichtig, hörte sich auf zu drehen. Die Zeit stoppte, alle Geräusche verblassten. Sein Herz hörte auf zu schlagen, das Atmen wurde unwichtig. Sein Verstand hörte auf zu arbeiten, die Gedanken kamen zum Stillstand.
Er spürte nur noch ihr kalten und dennoch so sinnlichen Mund. Und die reine Liebe, die ihn durchströmte. Immer und immer wieder trafen ihre Lippen aufeinander, warm auf kalt, lebendig auf leblos.
Doch irgendwann bemerkte er, dass etwas fehlte, etwas nicht stimmte.
Kein stetiger Luftstrom, kein rhythmisches Herzklopfen, keine Erwiderung.
Schockiert riss er die Augen auf, starrte auf ihre immer noch geschlossenen Augen, die aschfahle Haut, die eingefallenen Wangen, die schmalen, blauen Lippen.
Auf ihre Leiche.
Die Welt begann sich wieder zu drehen, sanftes Vogelgezwitscher flutete den Raum, die Uhr tickte unerbittlich weiter.
Doch sie würde nie wieder kommen.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Texte: Fragilitas
Bildmaterialien: Model: Fragilitas, Bearbeitung und Foto: Vera K. , (http://unbornsaint.deviantart.com/)
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2012
Alle Rechte vorbehalten