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Intrigen. Bestechungen.
Daraus bestand meine Welt. Eine Welt voller Betrüger und Verräter. Ich war ein Teil davon, fühlte mich wohl in dieser Umgebung, passte mich ihr an. Ich war die Perfektion eines Geschäftsmannes, ein Künstler im sinnvollen Umgang mit wertlosen, bestechlichen Individuen.
Eigentlich sollte ich mich in meiner momentanen Situation also wohlfühlen. Umgeben von Verrat und Abneigung. Mein Spezialgebiet.
Doch dieser Verrat hatte einen bitteren Nachgeschmack. Krampfhaft zog sich mein Magen zusammen, schmerzhaft wurden meine Arme nach hinten gerissen. Hart pochte mein Herz gegen meinen Brustkorb, als ich zehn Maschinengewehre auf mich gerichtet sah und die Mündung einer Pistole seitlich an meinem Kopf spürte.
Das Geräusch der einrastenden Handschellen hallte laut durch den Raum. Schicksalhaft. Endgültig.
Emotionslose Masken starrten mich an, kugelsichere Westen zum Schutz vor einer unbekannten Ursache. Angespannte Muskeln, bedrückende Stille.
Ich war gefangen. Gefangen in einem Meer geladener Waffen und einsatzbereiter Polizisten.
Die tödliche Kälte der Pistole paralysierte sowohl meinen Körper als auch meine Gedanken. Die kleinste Bewegung wäre mein Todesurteil.

Ein Haftbefehl.
Geflüsterte Worte. Bedrohlich und voller Abscheu. Erfüllt mit Schadenfreude und Erleichterung.
Ich war in einem Schockzustand eingefroren, unfähig, meine Unschuld zu beteuern. Gefangen in meinem persönlichen Alptraum.
Hart und unnachgiebig wurde ich nach vorne geschoben, durch die Massen an Polizisten gelenkt. Eine seelenlose Puppe, den bohrenden Blicken dutzender gewaltbereiter Menschen ausgeliefert.
Mein einziger Rückzugsort, das abgelegene Ferienhaus, wurde zum Ort eines riesigen Missverständnisses. Denn etwas anderes konnte diese Farce nicht sein.
Die einst so ruhige Natur in der Umgebung war erfüllt mit Autos, Polizisten und Journalisten. Aus Stille wurde Hektik, aus Geborgenheit Entfremdung.

Blitzlichtgewitter begrüßte mich, als ich grob durch die Tür aus dem Haus geführt wurde, flankiert von zwei Männern.
„Wie hat die Presse denn schon wieder davon mitbekommen? Wir können froh sein, dass sie uns nicht den ganzen Einsatz versaut haben“ Die tiefe Stimme des Mannes harmonierte mit seinem äußeren Erscheinungsbild: Groß, breit, muskulös.
Bestimmende Schritte, stählerne Griffe.
Die nüchterne Enge im vergitterten Polizeiauto kam mir im Gegensatz zu dem Aufruhr außerhalb fast schon beschützend vor.

Die Fahrt war lang. Viel zu lang. Die bedrückende Atmosphäre im Inneren des Autos ließ mich unbehaglich aus dem Fenster schauen. Unterbrochen wurde die Stille nur ab und zu durch undeutliche Befehle aus dem Funkgerät, die in ein nervendes Rauschen übergingen.
Ich hatte zu viel Zeit um aus dem Fenster zu schauen. Die vorbeiziehende Landschaft interessierte mich jedoch nicht, kannte ich sie doch mittlerweile schon zu genüge. Schwere Gedanken beherrschten und quälten mich innerlich, äußerlich jedoch war ich wie immer. Eine Maske der Emotionslosigkeit. Nützlich in meinem Job, aber auch privat. Wer keine Gefühle zeigt oder besitzt, ist weniger angreifbar. Die wichtigste Voraussetzung für meinen Beruf. Der Verstand ist das Mittel zum Erfolg, Gefühle behindern nur.
Und wer braucht schon Gefühle in einer Welt, in der Geld regiert?
Doch trotzdem spielte mein Körper verrückt. Schweiß nasse Hände. Innere Unruhe. Eine menschliche Reaktion, die ich schon so lange nicht mehr gespürt hatte.

Beißende Gewissheit nagte an mir. Gewissheit, dass dies hier etwas viel größeres war als die alltäglichen Intrigen gegen mich. Aber auch Ungewissheit. Wieso hatte man mich verhaftet? Auf meine Frage bekam ich nur ein ironisches Lächeln und ungläubiges Kopfschütteln.

Es dauerte lange bis in der idyllischen Landschaft die ersten Anzeichen von Zivilisation auftauchten. Unberührte Natur wurde zur belebten Stadt, Bauernhöfe zu Mehrfamilienhäusern. Hektischer Betrieb auf den Straßen, lautes Hupen, Menschenmassen.
Für alle anderen ging das normale Leben weiter. Die Welt drehte sich rücksichtslos, während für mich die Zeit still zu stehen schien.

Grob wurde ich aus meiner beschützenden Isolation gerissen, die mich von der Außenwelt abschottete. Das Zuschlagen der Autotür klang noch lange in meinen Ohren nach, während ich, flankiert von zwei Beamten, in die Polizeistation geführt wurde.
Sowohl vor als auch hinter mir liefen weitere Wachen und zeigten mir demonstrativ ihre Waffen.
Äußerlich emotionslos ließ ich mir durch steinerne Gänge führen, vorbei an ausdruckslosen Bürotüren, tief hinein ins Gebäude. Ich wollte einfach nur noch alleine sein, um über meine momentane Situation nachdenken zu können. Alleine, ohne beobachtende Aufpasser und ohne die stumme Drohung der Waffen.

Drei Mal wurde der Schlüssel herumgedreht. Die feste Stahltür war verschlossen.
Keine Chance zur Flucht. Vergitterte Fenster. Eine spärliche Einrichtung. Die Zelle entsprach genau meinen Erwartungen und Befürchtungen. Niemals hätte ich gedacht irgendwann einmal in so etwas eingesperrt zu sein. Doch nun war es passiert.
Und ich wusste nicht einmal wieso.

Die Härte des Stuhles hielt mich in der Wirklichkeit, während meine Gedanken immer wieder abdrifteten. Die Erinnerung an die ruhige und behagliche Atmosphäre meines Ferienhauses verlockte meine Phantasie zum Träumen, eine Flucht aus diesem Alptraum.
Doch noch weigerte ich mich dies alles als eine ernsthafte Bedrohung anzusehen.

Die hoffentlich baldige Ankunft meines Anwalts erschien mir wie ein Lichtblick in dieser abscheulichen Zelle, die meinem Standard nicht einmal im geringsten entsprach.
Noch erlaubte ich es meinen Gedanken nicht, in die dunkelsten Gefilde meiner Vorstellungskraft ab zu schweifen. Noch gab es keinen Grund dazu.
Immerhin war ich in Untersuchungshaft, hatte also einen Prozess vor mir.
Wie sagt man nicht immer? Die Gerechtigkeit wird siegen?
Also brauchte ich mir keinerlei Sorgen zu machen. Denn das alles hier konnte sich nur um ein Missverständnis handeln.
Und selbst wenn nicht. Ich hatte einen guten Anwalt und jede Menge Geld.
Egal in welch aussichtsloser Situation ich in meinem bisherigen Leben schon gefangen war, mein Vermögen hatte mir bisher immer geholfen. Geld regiert die Welt.
Und wenn man aus solch einer Familie wie der meinige stammte, musste man nichts befürchten.
Nur der Gedanke, dass ich mit hoher Wahrscheinlichkeit unbeschadet aus dieser Situation heraus kommen würde, ließ mich äußerlich ruhig auf dem Stuhl sitzen und die Ankunft meines Anwalts abwarten.


Die Sekunden zogen sich in die Länge, Minuten wurden zu Stunden.
Ich wusste nicht, wie lange ich reglos da saß und wartete. Geduld war einfach nicht meine Stärke. Es war eine harte Probe für mich. Ich wollte der Wache vor meiner Tür nicht die Genugtuung geben, indem ich meine strenge Selbstbeherrschung verlor und wie ein gefangenes Tier im Käfig umher lief.

Das Geräusch des Türschlosses riss mich aus meinem schwerelosen Zustand zwischen Traum und Realität. Erlösend.
Die beruhigende Anwesenheit des Anwalts wirkte sich sofort auf die Atmosphäre in der kleinen Zelle aus. Meine verkrampften Muskeln entspannten sich merklich, ich sank etwas in meinem unbequemen Stuhl zusammen.
Endlich konnte ich dieses ganze Missverständnis aufklären.

Die tiefe, rauchige Stimme durchbrach sanft die bedrückende Stille.
„Entschuldigen Sie die lange Wartezeit, Herr Jansen. Ich bin so schnell gekommen, wie es der Feierabendverkehr zulässt.“
Ein fester Händedruck, ein musternder Blick. Tief schaute mir Herr Lisensko, mein Anwalt, in die Augen, wie als versuche er Bestätigung für etwas zu finden.
Durchleuchtende Blicke suchten Zugang zu meinem Inneren zur Unterscheidung von Wahrheit und Lüge.
Der edle und teure Anzug zeigte seinen Status und seine erfolgreiche Karriere. Ja, ich hatte zweifelsfrei den besten Anwalt.
Doch gleichzeitig erinnerte er mich an mein eigenes Erscheinungsbild.
Armani. Dolce und Gabbana. Nur im besten und teuersten fühlte ich mich wohl. Aber anstatt eines edlen Anzugs trug ich eine bequeme Designerjeans und ein weites Poloshirt. Hatte man mich doch ohne eine Vorwarnung gewaltsam aus meinem abgelegenen Ferienhaus entführt.
Laut hallte das Geräusch des aufklappenden Koffers durch den leeren Raum, das Rascheln der Unterlagen klang unnatürlich.
„Die Anschuldigungen gegen Sie sind schwerwiegend“.
Das war das schlimmste, was er mir hätte sagen können. Ich sah in seinen Augen, dass er bereits den Ausgang des Prozesses wusste.

Schwer senkte sich die Stille über uns, als ich verzweifelt versuchte zu begreifen, was vor sich ging.
Noch vor einigen Stunden hatte ich entspannt auf meinem Sofa gelegen, hatte seit langer Zeit wieder einmal ein Buch in der Hand gehabt, und meine Geschäfte sich selbst überlassen. Die ankommenden Autos hatte ich nicht gehört. Erst als meine Eingangstür laut gequietscht hatte, war ich mir der Anwesenheit fremder Personen bewusst geworden. Dann war alles sehr schnell gegangen. Mein Haus war umzingelt gewesen und ich hatte in den Lauf eines Gewehres geschaut.
Und nun saß ich hier. Gefangen. Eingesperrt.
Unschuldig.

Einige Minuten vergingen in Stille. Ein Sturm der Gedanken. Unfähigkeit, alles zu begreifen. Und doch innere Ruhe.
„Was wirft man mir vor?“ Ein seltsames Gefühl machte sich bei dieser Frage in mir breit. Eigentlich wollte ich die Antwort nicht wissen.
Feigling. Nein, so jemand war ich noch nie gewesen.
„Siebenfacher Mord“.


Laut rauschte das Blut in meinen Ohren, Formen verschwammen, Farben vermischten sich. Die Worte wiederholten sich in einer unendlichen Schleife in meinen Kopf, kreisten, verknoteten sich.
Und nur ein Gedanke konnte sie besiegen: Ich war unschuldig.


Lange hatte ich noch mit meinem Anwalt geredet, geschätzte tausend Male meine Unschuld beteuert. Doch schließlich war er gegangen und hatte mich mit meinen Gedanken alleine gelassen. Seitdem saß ich paralysiert auf dem unbequemen Bett der kleinen Zelle und starrte regungslos auf einen Punkt der gegenüberliegenden Wand.
Begreifen. Eines der schwierigsten Dinge. Vor allem in meiner Situation.
Die bestehenden Lebensgesetze wurden aus ihren Fugen gerissen, ließen nichts als Verwirrung und Chaos zurück.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis, kehrten immer wieder zu einer bestimmen Frage zurück: Ich sollte sieben Personen ermordet haben?
Mein Gewissen war nicht sehr rein. Intrigen. Verrat. Bestechungen. Das alles gehörte zur Tagesordnung in meinem Beruf. Aber Mord?
Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich meine Hände. Hände eines Mörders? Getränkt mit Blut, eingesetzt als Waffe? Nein.
Manipulationen. Intrigen. Das waren Verbrechen, bei denen ich mich wohl fühlte. Doch ein einfältiger Mord? Solch eine Dummheit traute man mir zu? Bei dieser Art der Kriminalität gab es zu viele Risiken, die ich nicht bereit war, einzugehen.
Heftig schüttelte ich meinen Kopf, versuchte so diesen verrückten Gedanken zu verbannen. Nein, wenn ich selbst schon nicht an meine Unschuld glaubte, dann würde ich auch diesen Prozess nicht gewinnen. Nein. Ich war kein Mörder. Und ich hatte auch noch nie jemanden körperlich verletzt. Naja bis auf die ein oder andere Ausnahme.

Zweifel trotz Gewissheit. Innerlich zerrissen.
Und doch mit Bestimmtheit sagen können, unschuldig zu sein. Und daran musste ich festhalten.

Dunkelheit tränkte die kleine Zelle. Verbarg die spärliche Einrichtung und die Enge. Vergrößerte sie zur Unendlichkeit. Denn Dunkelheit hat kein Ende.
An Schlaf war nicht zu denken. Unbekannte Geräusche und Gerüche. Bedrückende Gedanken. Ein wacher Geist.
Dabei war Schlaf die einzige Flucht aus dieser kleinen Hölle.


Besuch bekam ich keinen.
Alleine fristete ich mein Dasein in dieser erbärmlichen Zelle. Alleine mit meinen Gedanken.
Familie hatte ich keine mehr. Als Ersatz dafür hatte ich immer Geld.
Frauen gab es in meinem Leben viele. Doch keine blieb länger als eine Woche. Wozu auch? Sie beanspruchten nur sehr viel Geld für sich und erwarteten auch noch Romantik und Gefühlsduselei. Nein danke, darauf konnte ich verzichten.
Die einzige Person, die mir sehr nahe stand, war mein bester Freund. Doch das hatte sich wohl auch erledigt. Sein Verrat schmeckte bitter und schmerzte sehr. Denn er war der einzige, der von meinem Ferienhaus im tiefsten Schwarzwald wusste. Nicht einmal die Polizei hätte ohne einen Hinweis etwas davon mitbekommen können, da ich dieses Haus von verschiedenen Leuten kaufen hatte lassen, damit wirklich niemand Kenntnis davon hatte.
Und gerade von meiner einzigen Vertrauensperson wurde ich verraten.
Ich hätte das an seiner Stelle nicht einmal in Erwägung gezogen. Dachte ich zumindest.
Jedoch flüsterte eine ganz leise Stimme in mir, dass ich genauso gehandelt hätte.


Die Tage zogen sich dahin. Ich schwebte in einem Zustand zwischen Langeweile und ernsthafter Sorge um meine Zukunft. Nur selten kam mein Anwalt um mich auf dem Laufenden zu halten.
Durch ihn wusste ich auch, dass die Presse nur noch ein Thema kannte: Der sogenannte Pi-Mörder. Genannt wurde ich so, da ich bei meinen angeblichen Opfern überall den griechischen Buchstaben und die mathematische Konstante π hinterlassen hatte, in Form von einem Zettel auf der Leiche oder ein Brandzeichen im toten Körper.
Ekel. Unfassbarkeit.
Wie kann man mir so eine Grausamkeit zutrauen? Ich mag vieles sein, doch mit Sicherheit kein gewissenloser Mörder, der seine Opfer vorher noch misshandelt.
Der Termin meines ersten Tages vor Gericht stand bevor.
Aufregung. Nervosität.
Ich wusste, was auf mich zu kam. Es würde ein harter Weg werden, um meine Unschuld zu beweisen.
Für das Schlimmste gewappnet wartete ich auf Herr Lisensko. Äußerlich jedoch ließ ich mir nichts anmerken. Weder meine Aufregung, noch meine geringe Hoffnung, nach diesem Tag die Untersuchungshaft als freier Bürger verlassen zu können.
Das Geräusch des Türschlosses war dieses Mal fast bedrohlich. Schicksalsverkündend.


Blitzlichtgewitter. Die Presse war also auch anwesend. Normalerweise verhüllten die meisten Angeklagten ihr Gesicht auf dem Weg zum Gerichtsgebäude. Doch ich nicht. Ich war mir keiner Schuld bewusst und hatte somit auch keinen Grund, mich vor der Presse zu verstecken.
Trotzdem war mir die ganze Situation sehr unangenehm.
Erst im Inneren des Gebäudes konnte ich wieder aufatmen. Die Öffentlichkeit war vom Prozess ausgeschlossen.

Steril. Nüchtern.
Anders konnte man den Gerichtssaal nicht beschreiben.
Bedrückend. Erniedrigend. Die Stimmung im Saal war erfüllt mit Hass gegen mich.
Unfreundliche Gesichter. Rot umrandete Augen.
Hass und Trauer. Eine gefährliche Mischung.
Und ich saß hilflos da. Den Blicken und Worten der Anwesenden ausgeliefert.
Die Meute verstummte erst bei Eintritt des Richters, der mit strengem Gesichtsausdruck den Raum betrat.

Zuerst wurde die Anklageschrift vorgelesen. Ohne jegliche Regung saß ich da und ließ die Anschuldigungen über mich ergehen, bis ich nach vorne gerufen wurde.

„Sind Sie Christoph Jansen, 35 Jahre alt, ledig, Hauptwohnsitz in Berlin?“ Monoton las der Richter meine Daten vor und ich nickte nur, bevor ich schwören musste, vor Gericht die Wahrheit zu sagen.
„Was haben Sie zu Ihrer Anklage zu sagen?“ wurde ich in genau derselben gleichgültigen Stimmlage gefragt. Das Publikum hinter mir erwartete schweigend meine Antwort. Anspannung. Erwartung.
„Ich habe noch nie einen Mord begangen.“
Das waren meine einzigen Worte. Und sollten auch die einzigen für die restliche Verhandlung sein. Aufgebrachtes Gemurmel ging durch den Saal, fassungslose Blicke.
Und dann Stille. Ein leichtes Aufatmen. Das Luftholen vor dem Sturm. Und dann ging es los.
Ein lauter Tumult brach auf den Zuschauerrängen aus. Eine Frau in den Fünfzigern stand auf, ihr verheultes Gesicht zu einer Fratze verzogen.
Schreie. Beschimpfungen. Worte der grausamsten Art. Leute standen auf, drehten sich zu ihr um. Bekräftigendes Nicken. Zustimmendes Gemurmel. Immer mehr Menschen standen auf, Finger zeigten anklagend auf mich.
Den Blick starr nach vorne gerichtet, wandte ich mich vom Geschehen ab, unfähig, die Anschuldigungen weiter zu ertragen.
Nur der Glaube an meine Unschuld hielt mich davon ab, auch nur in geringster Weise auf all das zu reagieren.

Doch als sich der Saal wieder einigermaßen beruhigt hatte, kam der Moment, an dem für mich die ganze Welt zusammen brach.
Der Staatsanwalt beugte sich ein Stückchen über sein Pult und schaute mir tief in die Augen.
„Herr Jansen, wenn Sie so von Ihrer Unschuld überzeugt sind, dann können Sie mir ja vielleicht erklären, wie diese Aufnahmen entstanden sind.“ sagte er mit süßlicher Stimme, während ein Beamer eingeschaltet wurde, der sein Bild nun an die gegenüberliegende Wand projizierte.

Gebannt starrte ich auf die Wand und die gezeigten Videos, die mich schockierten.
Das erste Video musste von einer Überwachungskamera stammen, die in einer verlassenen Tankstelle installiert war. Zu sehen war eine junge Frau, die Kaugummi-kauend hinter der Kasse stand und gelangweilt in einer Zeitschrift blätterte, bis die Tür aufging und ein groß gewachsener Mann in den kleinen Verkaufsraum trat.
Lässig schlenderte der Mann auf die Frau zu und griff beiläufig in seine hintere Hosentasche, doch anstatt seinen Geldbeutel heraus zu holen, zog er eine Pistole unter seinem Oberteil hervor und zielte damit auf die Brust der Frau.
Ohne zu zögern drückte er ab. Die Frau stürzte zu Boden und war nicht mehr auf dem Überwachungsvideo zu sehen, der Mörder jedoch holte mit behandschuhten Händen einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche und platzierte ihn gut sichtbar auf dem Tresen. In Zeitlupe drehte er sich um, um die Tankstelle zu verlassen. Das war der Zeitpunkt, als das Gesicht des Mannes klar und deutlich auf dem Video zu erkennen war.
Der provokative Blick. Das freche Grinsen.
Die kurzen, braunen Haare. Stechend blaue Augen. Die Narbe in der rechten Augenbraue.
Und genau das war der Moment, in dem ich realisierte, dass ich diesen Prozess nicht gewinnen würde.
Es war mein eigenes Gesicht, das gerade auf die Wand projiziert wurde und der Kamera den Mittelfinger zeigte.

Doch das Grauen ging weiter. Das Bild wechselte und zu sehen war die Tiefgarage eines Parkhauses. Eine schwarze Gestalt löste sich aus dem Schatten eines Autos, tief gebeugt und einen Körper auf dem Boden schleifend. Die leeren und emotionslosen Augen des toten Mannes starrten direkt in die Kamera, als die Leiche sorgsam in der Mitte der Fahrbahn platziert wurde. Die Kleidung des Toten war an einigen Stellen stark zerrissen und gab somit den Blick auf eine tiefe Stichwunde und das eingebrannte Pi frei.
Grausam entstellt. Öffentlich gedemütigt. Nicht einmal Würde hatte man dem Toten gelassen.
Die gebeugte Gestalt drehte sich demonstrativ zur Kamera, ein unheilverkündendes Lächeln auf den Lippen, und winkte provokant.

Die Stille im Gerichtssaal wurde nur durch vereinzeltes Schluchzen unterbrochen. Eine angespannte und gleichzeitig schockierte Stille.
Das fluchtartige Verlassen des Saales einer jungen Frau bekam ich nur nebenbei mit. Gebannt starrte ich auf das Bild, nicht fähig zu begreifen, dass ich der Mörder dieser zwei Menschen sein sollte. Die Gleichgültigkeit, mit der der Mörder zwei Lebewesen umgebracht hatte, schockierte mich zutiefst. Und das alles sollte ich begangen haben.

Und mein Alptraum ging noch weiter.
Dieses Mal war ein verlassener Bankschalter zu sehen. Lange Zeit passierte nichts, dann öffnete sich am anderen Ende des Raumes eine unscheinbare Tür, und heraus kam... Ich.
Blutbeschmiert. Das tropfende Messer noch in der Hand. Schadenfroh vor sich hin grinsend.
Die Personifikation des Teufels. Entflohen aus dem schlimmsten Horrorfilm.

Der Film stoppte.
Fassungslose Stille herrschte im Saal. Jeder versuchte zu verarbeiten, was er gerade gesehen hatte. Familienangehörige, Lebenspartner. Sie alle saßen da, wurden mit dem Tod ihrer Liebsten konfrontiert. Ich könnte ihnen den Hass mir gegenüber nicht verübeln, nein, sogar sehr gut nachvollziehen.

Leere. In meinem Inneren tobte kein Gefühlssturm, keine Angst. Das einzige, was ich fühlte, war Leere. Und der Wunsch, dieses Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen.
Ich sehnte mich nach meinem Ferienhaus, nach den drei Wochen Urlaub, die mir noch zustanden.
Ich vermisste die Intrigen und Spielchen, um den Konkurrent in den Ruin zu treiben.
Was würde ich nicht alles dafür geben, in diesem Moment in meinem Büro sitzen zu können? Alles.
Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte. Vielleicht Angstschweiß, zitternde Hände, ein Kreislaufzusammenbruch. Irgendetwas.
Doch ich war gefangen in meinem regungslosen Körper. Gefesselt in einem Schockzustand.

Von der restlichen Gerichtsverhandlung bekam ich nicht viel mit. Ich starrte einfach nur auf die Tischplatte vor mir, ließ alles über mich ergehen. Mein Anwalt warf mir ab und zu einen verzweifelten und auch schockierten Blick zu, doch ich fand nicht die Kraft dazu ihm erneut zu beteuern, dass ich unschuldig sei und dieses Verbrechen nicht begangen habe.
Es war sowieso alles sinnlos.


Zwei Monate später verließ ich zum letzten Mal den Gerichtssaal. Flankiert von zwei Beamten, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
Nach unzähligen Tagen vor Gericht wurde mein Urteil ausgesprochen. Lebenslang.
Etwas anderes hatte ich auch nicht mehr erwartet. Trotz unserer Beweislage, der Bestätigung meines Alibis zur Tatzeit.
Die Beweise gegen mich waren einfach zu schwerwiegend.
Mittlerweile wusste ich selbst nicht einmal mehr, was ich glauben sollte. Noch vor einigen Wochen hätte ich felsenfest behauptet, niemals einen Menschen umgebracht zu haben.
Doch nun, nachdem ich all die Überwachungsvideos gesehen hatte, in denen ich auf grausamste Weise sieben Menschen getötet hatte, war ich mir nicht mehr sicher.
Ich musste krank sein im Kopf, irgendeine Störung haben.
Gedächtnislücken. Aussetzer. Eine andere Erklärung gab es nicht. Die zuständigen Ärzte mussten durch ihre Unfähigkeit einen Fehler gemacht haben und einen Hirntumor oder ähnliches übersehen haben. Was wäre sonst der Grund dafür, dass ich nichts von meinen angeblichen Taten wusste?
Die Ärzte jedoch hatten mich als psychisch gesund und voll entscheidungsfähig diagnostiziert.
Ich wurde zurück in meine Zelle geführt.
Meine letzte Nacht in ihr. Dann würde ich in ein anderes Gefängnis transportiert werden.

In mir herrschte immer noch diese fassungslose Stille. Noch lange hatte ich die Geschehnisse nicht verarbeitet, nicht realisiert, dass wirklich ich für das Ende von sieben Leben verantwortlich sein sollte.
Es schien mir alles so unwirklich. Wie ein schlechter Alptraum.
Besinnungslos lag ich auf dem unbequemen Bett. Die Wände lachten mich aus, die Enge verspottete mich. Die Einsamkeit als Strafe für mein Vergehen.
Ernüchternd. Deprimierend. Endlos.
Bedrückende Stille, bedrückende Gedanken. Und über all dem die Frage nach meiner Schuld. Unbeantwortet.

Das Aufschließen der sperrigen Tür schreckte mich aus meinem lethargischen Zustand. Ein großer, muskulöser Mann erfüllte den Türrahmen, gekleidet in der üblichen Montur eines Wächters.
Wortlos reichte er mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier, auf dem in fein säuberlicher Schrift mein Name stand.
„Du hast eine Minute“ brummte mir der unbekannte Wächter zu und blieb beobachtend neben mir stehen.

Ratlos schaute ich von dem Wächter zu dem Brief in meinen Händen. Post? Von wem denn? Und zu solch ungewöhnlicher Zeit? Normalerweise bekam man seine Post immer morgens zum Frühstück, nachdem sie natürlich vorher überprüft wurde.

Eine unbestimmte Vorahnung erfüllte mich, als ich mit zittrigen Händen das Blatt auffaltete und auf die geschwungene, aber gut leserliche Schrift starrte.
Worte, die mir das Leben im Gefängnis zur Hölle machen würden.



Christoph Jansen.
Vielleicht erinnerst du dich an mich. Ich meinerseits habe dich nie vergessen.
Wie denn auch, bist du doch verantwortlich für die Verunstaltung meines Gesichtes. Na, klingelt es jetzt?
Genau, ich bin die Frau, die nach einem Autounfall in ihrem brennenden Auto saß und in letzter Sekunde von der Feuerwehr gerettet wurde.
Ein Autounfall, an dem du schuld bist.
Weißt du noch, wie du mir im Krankenhaus einen Scheck mit einer Millionen Euro gegeben hast, damit ich eine falsche Aussage mache und mich als Schuldigen darstelle?
Du sagtest ich könne das Geld dazu benutzen, mir mein verbranntes und entstelltes Gesicht wieder herstellen zu lassen.
Wie als würde ich das viele Geld dazu nutzen.
Wichtiger als mein Gesicht war mir die Rache.
Und endlich bist du genau da, wo ich dich haben wollte.

Habe ich das Geld nicht sinnvoll eingesetzt? Ein arbeitsloser Mann, für Geld zu allen Taten bereit, ein erfolgreicher Chirurg aus den USA und ein verlassenes Haus auf Hawaii als Zielort unserer Flucht, und schon hatte ich meine Rache.

Mit Geld kannst du also doch nicht immer all deine Probleme aus der Welt schaffen.

Ich habe der ganzen Welt gezeigt, wie du wirklich bist.

Pia.




Fassungslos betrachtete ich den Brief in meinen Händen. Pia.
Plötzlich machte alles einen Sinn. Das Pi an den Tatorten, die demonstrativen Blicke in die Überwachungskameras und meine Unwissenheit über die Taten.

Noch bevor ich weiter über den Brief nachdenken konnte, wurde er mir entrissen. Fassungslos versuchte ich noch danach zu greifen, ich konnte mein einziges Beweisstück für meine Unschuld nicht einfach kampflos aufgeben. Adrenalin wurde durch meinen Körper gepumpt, als ich mich an den Beamten hing, ihn trat, schlug, kratzte. Aber ich war zum ersten Mal in meinem Leben jemanden unterlegen. Ich hatte keine Chance. Mein Gegner verließ mit einem Feuerzeug in der Hand den engen Raum. Ich ahnte, dass von diesem Beweisstück nur noch Asche übrig bleiben würde.

Nur langsam sickerte die Erkenntnis ein. Ich war wirklich unschuldig. Doch niemand außer mir wusste es.
Noch nie war ich solch einer schwerwiegenden Intrige zum Opfer gefallen.
Noch nie hatte eine meiner Taten solche Folgen gehabt.
Übelkeit überkam mich, haltlos begann ich zu zittern. Meine Beine gaben nach, versagten ihren Dienst. Den Kopf hängen lassend. Auf allen vieren kniend. Die Welt nicht verstehend. Seelische und körperliche Erschöpfung.

Tief in mir stieg ein unbekanntes Gefühl auf, verdrängte die besinnungslose Leere, die seit dem Anfang meines Prozesses von mir Besitz ergriffen hatte.

Noch nie war mir etwas so fremd gewesen, denn ich spürte, dass es tief aus meinem Inneren kam.
Alle bisher sorgfältig verdrängten und ausgelöschten Gefühle, sei es Freude, noch Hass oder Angst, kamen aus ihrem Versteck heraus.
Das erste Mal in meinem Leben beherrschte mich Angst und tiefe Verzweiflung.
Verzweiflung, über meine ausweglose Situation.
Angst, weil ich das erste Mal in meinem Leben etwas nicht mit meinem Geld regeln konnte.
Ich war alleine.
Auf mich gestellt.
Unschuldig.
Und keiner außer mir wusste die Wahrheit.
Eine Tatsache, die mich von innen heraus zerfraß, meinen Schutzwall zerstörte.

Beschämt kauerte ich mich auf dem Boden zusammen, als meine Augen anfingen zu brennen.
Unbekannte Nässe auf meinen Wangen. Unbekannte Gefühle in mir.
Unschuldig gefangen in der eigenen Hölle.
Und keiner konnte mir helfen.
Ich war alleine mit der Gewissheit, kein Mörder zu sein.
Alleine mit der Gewissheit, unschuldig zu sein.
Eine Tatsache, die mich den Rest meines Lebens verfolgen würde.

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Tag der Veröffentlichung: 07.05.2011

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