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Dunkelheit.
Wieder einmal war sie das Erste, was ich sah, als ich aufwachte. Die Dunkelheit umgab mich, verwirrte meine Sinne und brachte mich erneut zum Verzweifeln. Wie oft war ich im letzten Monat schon irgendwo aufgewacht, ohne zu wissen, wo ich war, oder wie ich dahin gekommen bin? Oft genug. Und schon wieder war es mir passiert.
Nur langsam gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte vage Umrisse erkennen. Kalte Angst kroch in mir hoch, als ich versuchte herauszufinden, wo ich war. Vorsichtig betastete ich meinen Körper und stellte erleichtert fest, dass ich noch alle Kleider anhatte. Jedes Mal wachte ich mit der Ungewissheit auf, was mit mir passiert war. Jedes Mal hatte ich Angst, dass mir etwas angetan wurde.


Hart drückten sich kleine Steinchen in meine Handflächen, als ich mich langsam aufsetzte. Eisige Kälte drang vom Boden durch meine Kleidung hindurch und ließ mich frösteln, der harte Steinboden ließ meinen Rücken schmerzen.
Laut knacksten meine Gelenke, als ich schließlich ganz aufstand, und durchbrachen damit die grausame Stille um mich herum. Jedes Mal, wenn ich orientierungslos aufwachte und nicht wusste, was passiert war oder wo ich überhaupt war, umgab mich diese grausame Stille. Nur mein eigener, hektischer Atem war zu hören. Ansonsten Stille. Toten Stille.


Bei diesem Gedanken stellten sich sofort die feinen Härchen auf meinen Armen auf, Gänsehaut überzog meinen Körper, und das nicht nur wegen der Kälte. Angst. Ich hasste dieses Wort. Das bedrückende Gefühl, dass mich erneut überwältigte, meine Atmung stark beschleunigte und dafür sorgte, dass ich mich in der nächstbesten Ecke verstecken wollte, konnte man nicht mit einem einfachen Wort beschreiben.


Kurz schloss ich meine Augen, um mich zu sammeln, während ich einmal tief ein und ausatmete und versuchte, meine Angst herunter zu schlucken. Blöderweise funktionierte das einfach nicht so, wie ich das wollte.
Vorsichtig und ganz langsam streckte ich meine rechte Hand aus, direkt auf die undurchdringbare Schwärze, die ich als Wand vermutete, zu. Nach wenigen Sekunden berührte ich auch wirklich mit meinen Fingerspitzen eine harte Steinwand. Ich ging einige Schritte darauf zu und ließ mich dann mit dem Rücken zur Wand wieder auf den Boden sinken. Erleichterung durchflutete mich, als ich die beschützende Stärke des Steins an meinem Rücken spürte.
Was versuchte ich mir hier eigentlich selbst vor zu machen? Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in meinen Händen und machte mich ganz klein.


Wieso versuchte ich mir selbst einzureden, nicht zu wissen, wo ich war? Ich wusste es doch ganz genau. Und diese Tatsache machte mir nur noch mehr Angst. Wieder die gleiche Dunkelheit. Die gleiche Stille. Die gleiche Angst. Die gleiche Ungewissheit. Die selbe Höhle.


Was war so besonders an dieser Höhle, dass ich immer genau hier aufwachte? Was trieb mich hier hin?
Ich wusste es nicht. Und das verunsicherte mich zutiefst.

Laut schrie ich auf, als plötzlich mein Handy in meiner Hosentasche zu vibrieren begann– es war wie immer auf lautlos gestellt. Hart pochte mein Herz in meinem Brustkorb, als ich schnell nach meinem Handy griff und den Anruf annahm.


„Jana!“ Oh oh, das hörte sich überhaupt nicht gut an. „Jana, zum Teufel noch einmal, wo steckst du nur schon wieder? Komm sofort nach Hause, sonst kannst du 'was erleben!“ Und schon war das Gespräch beendet. Na super. Da hatte meine Mutter mal wieder gute Laune. Wie immer, wenn ich einmal etwas später nach Hause kam. Also eigentlich jeden Tag. Mittlerweile hatte ich mich schon daran gewöhnt. Schon erstaunlich, wie schnell sich ein Mensch an etwas gewöhnen kann. Wer weiß, vielleicht würde ich in ein paar Tagen erneut in dieser Höhle aufwachen, und mich nicht einmal mehr darüber wundern oder Angst vor dieser Höhle haben? Vielleicht würde es für mich alltäglich werden? 


Nein. Wild schüttelte ich bei diesem Gedanken meinen Kopf, so dass meine langen Haare nur so in der Luft herumgewirbelt wurden. Nein, ich wollte nicht, dass es für mich alltäglich wurde. Die Ungewissheit, was in den Stunden davor passiert war, machte mich fertig, zerriss meine Seele und zerstörte mich innerlich. Was war passiert? Was hatte ich getan? Und wieso konnte ich mich nicht daran erinnern? Nein, ich wollte wirklich nicht, dass ich mich an dieses Gefühl gewöhnte und es jeden Tag erneut durchleben musste.

 


Seufzend schaute ich auf das grelle Display meines Handys, das mich im ersten Moment blendete. Zwei Uhr in der Nacht. Kein Wunder machte meine Mutter so einen Aufstand. Fünfzehn entgangene Anrufe. Wieso hatte ich sie nicht gehört? Naja, das war nun auch egal. Mit wenigen Knopfdrücken schaltete ich die Taschenlampe meines Handys an, um mir den Weg zu leuchten. Nur kurz sah ich mich in der Höhle um. Das alte, an einigen Stellen schon zerrissene, braune Sofa stand immer noch an der kahlen Steinwand, ein kleiner, notdürftig zusammen gebastelter Tisch stand davor. Leere Coladosen lagen vereinzelt herum, Zigarettenschachteln, Chipstüten und Fußballzeitschriften schmückten den Steinboden. Alles sah genau so aus, wie es bereits vor einer Woche war. Gut, vielleicht war die ein oder andere Coladose dazu gekommen. So sicher konnte ich mir da natürlich nicht sein.


Vorsichtig bahnte ich mir den Weg durch dieses Chaos und kletterte anschließend durch den Ausgang der Höhle, der von außen durch dichtes Gestrüpp verdeckt war. Kraftvoll kämpfte ich mich durch die Büsche und kassierte wieder einmal den ein oder anderen blauen Fleck oder Riss in meinem Oberteil. Schnell schüttelte ich noch die Blätter aus meinen Haaren und richtete meiner Kleider wieder, bevor ich mich auf den Weg nach Hause machte, um die Höhle so weit wie möglich hinter mir zu lassen. Ich beeilte mich, den Wald, in dem dieses geheime Versteck lag, schnell zu verlassen. Es war ganz schön unheimlich mit all den hohen Bäumen und dem Rascheln der Blätter, nur leicht leuchtete mir der Mond den Weg, ansonsten war es Dunkel.


Mir fiel ein riesiger Stein vom Herzen, als ich es unbeschadet nach Hause geschafft hatte und endlich vor unserer Haustür stand.


Zu Hause. In Sicherheit. Hier brauchte ich vor nichts mehr Angst zu haben. Hier konnte mir keiner mehr etwas antun. Das dachte ich zumindest. Die Tirade meiner Mutter ließ ich über mich ergehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, was sie aber nur noch wütender machte. Aber was hätte ich denn sonst machen sollen? Ihr ins Gesicht sagen, dass ich nicht wusste, wo ich die letzten Stunden war und wieso ich nicht an mein Handy gegangen bin? Dass ich alles vergessen hatte, was ich gemacht hatte? Nein. Mit diesem Problem musste ich ganz alleine klar kommen. Es würde meine Mutter ja doch nicht interessieren. Und sie würde mir eh nicht glauben. Keinerlei Gefühlsregung spiegelte sich auf meinem Gesicht, als ich schließlich in mein Zimmer ging, mich umzog und ins Bett legte. Erst als mich die Bettdecke schützend und wärmend umgab floss eine einzelne Träne meine Wange herunter.

 



Dunkelheit. Schon wieder begrüßte sie mich beim Aufwachen, genau so wie die Stille um mich herum, die nur durch meinen eigenen Atem durchbrochen wurde. Ich hasste, hasste, hasste es. Wieder einmal nagte die Ungewissheit an mir und biss sich durch meine Gedanken. Ungewissheit. Noch so ein Wort, das ich verabscheute, seitdem ich regelmäßig irgendwo aufwachte und nicht mehr wusste, was vorher passiert war. Ein scharfer Schmerz schoss durch meinen Kopf, zerriss ihn, brachte mich laut zum Aufschreien. Hart wand ich mich auf dem Boden, versuchte, dem Schmerz zu entkommen, der mir die Gedanken vernebelte und meine Nerven zum Erzittern brachte. Eng schlang ich meine Arme um meinen Kopf, krümmte mich zusammen, wollte einfach nur, dass der Schmerz verschwindet, der mich beherrschte. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sich meine Muskeln entspannten und ich einfach nur erschöpft da lag. Was war da mit mir passiert? Müde versuchte ich meine Gedanken zu ordnen, herauszufinden, was passiert war und was mir solche Schmerzen verursacht hatte. Langsam und darauf bedacht, keine all zu schnellen Bewegungen zu machen, aus Angst, erneut von einer Schmerzwelle überrollt zu werden, drehte ich mich wieder auf den Rücken und setzte mich langsam auf. Ein dumpfer Nebel verschleierte meine Gedanken, ein schwacher Abklang der Schmerzen halte immer noch in meinem Kopf nach.


Mit wackeligen Beinen stand ich auf, schwankte die wenigen Schritte bis zu dem alten Sofa und ließ mich entkräftet darauf fallen.
Wieso war ich schon wieder in dieser Höhle? Was brachte mich jedes Mal hier her? Und wie war ich schon wieder hier her gekommen?


Müde legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ich konnte mich wieder einmal an nichts erinnern. Das letzte, was ich wusste, war, dass ich mit meiner besten Freundin Julia in der Stadt war um ein bisschen zu shoppen. Und danach... Schwärze.
Verzweiflung breitete sich in mir aus, nahm jede noch so kleine Pore von mir ein und brachte mich zum aufschluchzen. Ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, meine Augen wurden feucht, und schließlich ran die erste Träne aus meinem Auge, über meine Wange, und tropfte auf das alte, hässliche Sofa. Mit bebenden Schultern legte ich mich ganz auf die Couch und rollte mich wie ein kleines Kind zusammen. Laut hallte mein Schluchzen von den kahlen Steinwänden wieder, doch das war mir egal. Hier würde mich eh keiner hören.

Aus Sekunden wurden Minuten, aus Minuten wurden Stunden. Die Zeit verging und brachte bereits das erste Licht in die Höhle. Und ich lag immer noch da und starrte mit offenen Augen an die gegenüberliegende Wand. Apathisch. Verzweifelt. Hoffnungslos.

Mir blieb nur eine Möglichkeit, um herauszufinden, was in den letzten Stunden, bevor ich in dieser Höhle aufgewacht war, passiert war: Ich musste Julia fragen. Ich wollte endlich wissen, was mit mir los war! War ich etwa geisteskrank? Hatte ich irgendeine andere Krankheit, die mich etwas vergessen ließ? Ich brauchte endlich Gewissheit. Denn so, wie es momentan war, konnte es nicht weiter gehen. Bereits das dritte Mal in dieser Woche war ich in der Höhle, die mir mittlerweile so bekannt war, aufgewacht. Ich brauchte endlich wieder etwas Beständigkeit in meinem Leben, etwas Ruhe. Und Zeit, um wieder Kraft zu tanken und um mein Leben wieder zu ordnen.


Mit einem neuen Ziel vor den Augen schwang ich meine Beine vom Sofa herunter und stand schnell auf. Das war ein großer Fehler, denn sofort tanzten kleine Sternchen vor meinen Augen, der Raum drehte sich, und ich fiel wieder zurück auf die Couch. Orientierungslos blieb ich kurze Zeit so sitzen, atmete tief durch und stand schließlich langsamer auf.

 


Schnell war der Weg von der Höhle bis nach zu Hause zurückgelegt. Die ersten Sonnenstrahlen erhellten die Bäume des Waldes, ließen die kleinen Tautropfen auf den Gräsern glitzern und beleuchteten die dunkle Straße vor dem Haus meiner Eltern. So leise es ging schloss ich die Haustüre auf und tapste auf Zehenspitzen in den Flur, immer darauf bedacht, meine Eltern nicht zu wecken. Falls sie denn überhaupt schliefen. Denn so wie ich meine Mutter kannte, hatte sie in dieser Nacht kein Auge zu gemacht, weil ich nicht da gewesen war. Mein schlechtes Gewissen machte sich lautstark bemerkbar, doch ich ignorierte es gekonnt. Ich meine, was hätte ich denn machen sollen? Ich wusste ja selbst nicht, was in dieser Nacht so alles passiert war.

 


Vorsichtig schaute ich in unser Wohnzimmer, und tatsächlich, dort lag meine Mutter schlafend auf dem Sofa, in der einen Hand das Telefon, in der anderen eine dünne Wolldecke fest umklammernd. Lautlos seufzte ich auf und tapste auf Zehenspitzen in mein Zimmer, schloss leise die Tür, suchte meine Schulsachen zusammen und zog mir schnell etwas anderes an. Ich hinterließ meiner Mutter noch eine kleine Notiz auf dem Wohnzimmertisch, dass es mir gut ginge und es mir leid tat, und schon verschwand ich wieder lautlos. Meine Schritte führten mich zielsicher in Richtung Schule, die natürlich noch geschlossen war. 

 

 

Müde, da ich ja die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, ließ ich mich auf die Parkbank vor dem imposanten Gebäude nieder. Mit geschickten Fingern holte ich mein Handy aus meiner Hosentasche, ignorierte erst einmal die zehn entgangenen Anrufe, und schrieb meiner besten Freundin eine SMS, in der ich sie fragte, ob sie denn nicht etwas früher zur Schule kommen könnte, da ich dringend mit ihr reden musste. Zum Glück war es schon kurz nach 6 Uhr, Julia würde also sowieso in einer viertel Stunde aufstehen.

Angespannt saß ich da und warte darauf, dass die Zeit verging. Doch gerade in diesem Moment zog sie sich in die Länge und machte das Warten unerträglich. Meine Gedanken kreisten um das kommende Gespräch, die Angst saß mir tief in den Knochen. Angst, vor den Antworten meiner Freundin. Angst vor dem, was mit mir passierte.
Es kam mir wie Stunden vor, in denen ich dort saß und wartete, bis leise Schritte mich aus meinen Gedanken holten. Dort stand sie. Julia. Meine beste Freundin. Besorgt und gleichzeitig erfreut sah sie mich an, ihre Haare waren noch verwuschelt, dunkle Augenringe ließen sie müde wirken.


In eine feste Umarmung zog sie mich, erdrückte mich und flüsterte mir immer wieder ins Ohr: „Oh Gott, zu Glück geht es dir gut. Ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Sorgen? Wieso denn das? Aber auch ich war froh, sie zu sehen.

 

Endlich jemand, mit dem ich reden konnte. Vielleicht sollte ich ihr einfach die ganze Geschichte erzählen. Aber was war, wenn sie mich auslachte? Oder nichts mehr mit mir zu tun haben wollte? Oder, noch schlimmer, beim Psychiater anrief? Eine Zwangsjacke hervorholte? Mich in eine Gummizelle einsperrte? Innerlich schüttelte ich den Kopf. Nein, so war Julia nicht. Hoffte ich zumindest.


Als sie sich endlich von mir löste und mich prüfend anschaute, lächelte ich sie einfach an. Nein. Julia würde mir schon helfen.
Bevor sie begann zu reden, schaltete ich mich ein und begann meinerseits zu erzählen, was in den letzten Wochen passiert war, denn ich wusste, sollte sie einmal beginnen zu reden, so hätte ich keinerlei Chance auch einmal zu Wort zu kommen. Aber genau das mochte ich eigentlich so sehr an ihr. Ich erzählte ihr also alles. Angefangen mit der Höhle, wie ich immer wieder dort aufwachte, ohne irgendeine Erinnerung an die vergangenen Stunden, von dem Stress mit meiner Mutter und von meiner Angst.


Langsam füllte sich der Schulhof mit unseren Mitschülern, doch wir beachteten sie einfach nicht. Eine große Last fiel von mir, als ich meine Erzählung beendete. Es tat halt doch gut, mit jemandem darüber reden zu können. Und Julia lachte mich nicht einmal aus, meine Angst war also wirklich unbegründet gewesen. Stattdessen zog sie mich noch einmal in eine feste Umarmung und begann dann ihrerseits ausführlich zu erzählen.


„Weißt du Jana, du hast mir ehrlich gesagt große Angst eingejagt. Alles war ja ganz normal, bis wir dann zusammen in dem Café saßen. Du warst.. plötzlich so komisch. Erst hast du in die Luft gestarrt, ich hab' dich sogar mehrmals angesprochen, aber du hast einfach nicht reagiert. Und dann hast du dir plötzlich an den Kopf gelangt, wie als hättest du Kopfschmerzen oder so. Ich habe dich danach noch einmal angesprochen. Der Blick... Dein Blick, mit dem du mich angeschaut hast.. Den werde ich nie vergessen. So.. eiskalt. Mörderisch. Ich hatte richtig Angst vor dir! Und dann bist du einfach aufgestanden und gegangen. Ohne ein weiteres Wort. Das war wirklich unheimlich!“


Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, dass ich einfach so aufgestanden war. Das letzte, was ich wusste, war, dass wir zusammen in dem Café saßen und geredet haben. Und danach setzte meine Erinnerung aus.
Laut durchbrach die Schulglocke meine Gedanken und schnell gingen wir in unser Klassenzimmer. Die Schulstunden vergingen wie im Fluge, während ich einfach nur da saß und alles über mich ergehen ließ. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren, egal wie sehr ich mich anstrengte. Julia warf mir immer wieder besorgte Blicke zu und ich lächelte ihr tapfer zurück. Zumindest versuchte ich es. Ich war heilfroh, als der Schulgong das letzte Mal an dem Tag für mich ertönte und ich endlich meine Sachen zusammenpacken konnte.


Doch eine böse Überraschung wartete bereits vor dem Klassenzimmer auf mich: Meine Mutter. Und sie sah nicht gerade sehr glücklich aus. Eher im Gegenteil. Ich konnte Julia nur noch einen gequälten Blick zuwerfen, dann wurde ich schon in unser Auto gezerrt. Die Fahrt verlief schweigend, doch sobald ich meinen Fuß über die Türschwelle gesetzt habe, ging es schon los. Schreie. Vorwürfe. Tränen. Und schließlich meine Strafe. Hausarrest. Ganze 4 Wochen lang. Ohne ein einziges Wort zu sagen ging ich in mein Zimmer und ließ mich entkräftet auf mein Bett sinken. Was hätte ich auch sagen sollen?


Die Müdigkeit übermannte mich schließlich, und kurz bevor ich die Augen schloss, fing mein Kopf wieder an zu schmerzen.




Verwirrt schlug ich die Augen auf. Wo war ich? Was war das für ein komisches Zimmer? Und wie war ich hier her gekommen? Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff ich mir an meinen Kopf, während ich vorsichtig aufstand und mich umschaute. Die vielen Poster von irgendwelchen Schauspielern, die Fotos von Freundinnen, und der riesige Kleiderschrank waren eindeutige Hinweise darauf, dass dieses Zimmer einem Mädchen gehörte. Also was machte ich dann hier?


An mir herunterschauend stellte ich wieder einmal fest, dass ich Frauenkleider an hatte. Wieso, wieso wachte ich jedes Mal auf und steckte erstens im Körper einer Frau und zweitens auch noch in den Kleidern? Das verstand ich einfach nicht. Doch wie immer nahm ich es schulterzucked hin. Immerhin gab es wichtigeres im Leben. Zum Beispiel Autos. Oder Alkohol. Abschätzend ließ ich meinen Blick über die Fotos wandern, bis er auf einem braunhaarigen Mädchen hängen blieb. Ihre vollen, rote Lippen waren schön geschwungen, die blauen Augen strahlten mich durch das Foto richtig an. Vorsichtig schritt ich durch das Zimmer und blieb schließlich vor einem großen Wandspiegel stehen. Doch was ich da sah, verschlug mir die Sprache. Braune Haare. Strahlend blaue Augen. Wieso war ich im Körper von diesem süßen Mädchen?


Schockiert ließ ich mich einfach an Ort und Stelle auf den Boden sinken. Ich wusste ja bereits vorher, dass ich aus unerklärlichen Gründen braune, lange Haare hatte. Aber ich hatte mich vorher noch nie in einem Spiegel gesehen.
Was war nur mit mir los? Ein Mann, gefangen im Körper einer Frau. Na super.


Langsam stand ich wieder auf und schaute mir die Bilder noch einmal genauer an. Viele unbekannte Mädchen lächelten mir entgegen, auf dem ein oder anderen war ich auch zu sehen. Oder zumindest mein Körper. Doch ein Bild zog mich besonders an. Bedächtig nahm ich es in die Hand und schaute es mir genauer an. Das Mädchen neben mir kam mir seltsam bekannt vor... Wie als hätte ich es schon einmal irgendwo gesehen. Ja genau. Erst gestern war ich wieder irgendwo aufgewacht, ohne zu wissen, wo ich war. Nur dieses Mal war es in einem Café passiert. Und ich war nicht alleine gewesen. Dieses Mädchen auf dem Foto... sie war bei mit gewesen. Sie hatte sogar noch mit mir geredet. Sie kannte mich also, aber ich sie nicht!
Was ging hier nur vor? Was passierte mit mir?

 


Wut über meine Situation und über meine Ahnungslosigkeit stieg in mir auf und vernebelte meine Gedanken. Wieso ich? Wieso konnte ich nicht ganz normal sein? Meine Gefühle übermannten mich, brachten meine Hände zum Erzittern. Ein starker Druck baute sich in meinem Kopf und meinem Brustkorb auf, brachte mich fast zum Explodieren und übernahm mein ganzes Handeln. Ein befreiender Schrei verließ meine Lippen, wütend schmiss ich den Bilderrahmen auf den Boden. Laut zersprang er in tausend Teile, kleine Glassplitter verteilten sich im ganzen Zimmer, genau so wie die Scherben meines Lebens.


Entkräftet ließ ich mich auf den Boden sinken, ignorierte die Glassplitter um mich herum einfach. Wieso nur? Wieso ich? Und vorallem: Was war denn überhaupt mit mir? Denn so langsam kam ich nicht mehr darum, mir einzugestehen, dass etwas mit mir nicht stimmte. Erinnerungslücken, ein weiblicher Körper und die Hilflosigkeit. Nicht einmal Freunde hatte ich. Oder ich konnte mich einfach nur nicht an sie erinnern. Hatte ich denn überhaupt Eltern? Aber... wenn ich richtig darüber nachdachte, brauchte ich nicht einmal Eltern. Ich kam auch so ganz gut alleine klar. Ich hatte keinerlei Lust, immer nur Vorschriften zu bekommen. Tu dies nicht, tu das nicht, räum' dein Zimmer auf! Nein, darauf konnte ich gut und gerne verzichten.


Erneut stieg diese unermüdliche Wut in mir auf und erweckte den Wunsch nach Zerstörung und Chaos. In diesem Zimmer, in dem ich gerade saß, war alles so aufgeräumt. Das Zimmer eines Spießers.


Mit den Fingerspitzen pickte ich vorsichtig das Bild der beiden Mädchen aus den Glasscherben und betrachtete es spöttisch. „Jetzt ist Schluss mit lustig“ raunte ich dem Foto zu und zerriss es in der Hälfte. Ich schmiss es weit weg und rappelte mich wieder auf. Auch die anderen Bilderrahmen landeten auf dem Boden und vergrößerten den Scherbenhaufen noch mehr. Doch im Gegensatz dazu hatte ich mein Leben in diesem Moment im Griff. Ich bestimmte, was passierte. Ich kontrollierte das Chaos.


Wenigstens das war mir in der Unbeständigkeit meines Lebens geblieben. Egal wo ich wieder einmal aufwachte, die Wut war immer da. Die Wut und der Drang nach Zerstörung.


Mit neuer Energie sprang ich auf das Bett, riss die Poster von den Wänden, schmiss Bücher aus den Regalen und räumte den Kleiderschrank aus. Nach und nach verwüstete ich das Zimmer und spürte die Genugtuung in mir aufkommen. Prüfend betrachtete ich die Verwüstung um mich herum und beschloss spontan, noch eine Nachricht zu hinterlassen, bevor ich ging. Geschickt hüpfte ich über die Haufen von Kleidern und Scherben, bis zu dem Schreibtisch. Schnell war auch ein Stück Papier und ein Stift gefunden und ich schrieb in meiner unverkennbaren Männerschrift einige Worte darauf.
„Viel Spaß beim Aufräumen. Aaron“ Doch dann wurde es Schwarz um mich herum.

 




Völlig aufgelöst saß ich auf meinem Bett und betrachtete zuerst den Zettel in meiner Hand und dann das Chaos um mich herum. Die Kopfschmerzen vernebelten noch meine Gedanken, doch trotzdem war mir eins klar: Irgend etwas musste in der letzten halben Stunde passiert sein. Genau dreißig Minuten war es her, seitdem ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut habe. Dreißig Minuten, in denen mir wieder einmal die Erinnerungen fehlten. Aber was in dieser Zeit hier passiert war, war unübersehbar. Mein ganzes Zimmer war ein einziges Chaos, alles war zerstört und zerwühlt. Es sah so aus, als wäre ein Einbrecher hier gewesen. Doch ich war mir ziemlich sicher, dass niemand mein Zimmer betreten hatte. Die Fenster waren fest verschlossen und lagen im ersten Stock, ich sah auch keine Einbruchsspuren. Und meine Eltern saßen in diesem Moment sicherlich in der Küche und behielten den Flur genau im Auge, um ja sicher gehen zu können, dass ich nicht abhaute.


Wie ist also dieser Aaron in mein Zimmer gekommen? Und was für ein Problem hat er mit mir? Und wieso habe ich das Gefühl, dass er nicht das letzte Mal hier war, sondern wieder vorbeikommen wird?


Den Tränen nahe griff ich zum Telefon und rief erst einmal Julia an, um ihr alles zu erzählen. Doch leider hatte auch meine beste Freundin keine Ahnung, was da passiert war. 

Verzweifelt begann ich schließlich mein Zimmer aufzuräumen. Es war eine ganz schön harte und auch langwierige Aufgabe, doch sie war eine willkommene Abwechslung.
Der Tag neigte sich dem Ende zu und der Mond stand bereits hoch am Himmelszelt, als ich schließlich entkräftet ins Bett fiel. Doch Schlafen konnte ich nicht. Ich hatte zu sehr Angst davor, dass dieser Aaron heute Nacht wieder kommen würde. Krampfhaft hielt ich meine Augen offen, drehte mich von einer Seite zur anderen, doch ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet. Tief vergrub ich mich unter meiner Bettdecke, versteckte mich vor den Schatten in meinem Zimmer. Doch es half alles nichts. Die Angst saß mir tief in den Knochen.


Meine Augen wurden immer schwerer und fielen mir immer wieder zu, doch noch kämpfte ich verzweifelt dagegen an. Doch es war ein sinnloser Kampf. Aber bevor ich schließlich ganz einschlief, kam mir eine Idee. Geschwind schaltete ich mein Licht an und kramte in einer Kiste unter meinem Bett herum, bis ich schließlich gefunden hatte, was ich gesucht hatte: Meine Kamera. Erleichtert stellte ich fest, dass die Batterien wohl noch für einige Stunden halten würden. Barfüßig in meinem Zimmer herumtapsend suchte ich die perfekte Position und trapierte die Kamera schließlich so, dass sie fast das ganze Zimmer aufnahm.
Wenigstens etwas beruhigter kroch ich wieder in mein Bett, schlang die Decke fest um mich herum und glitt in die Dunkelheit.

 



Verwirrt schlug ich die Augen auf und schaute mich erst einmal um. Wieso lag ich auf dem Boden? Gähnend streckte ich mich und hörte meine Knochen protestierend Knacksen. Langsam stand ich auf und schaute mich in meinem Zimmer um. Wieder wurde einiges zerstört, Bücher wurden aus den Regalen geworfen und zerrissen. Doch es war bei weitem nicht so schlimm, wie noch am Tag zuvor. War Aaron wieder hier gewesen? Und wieso hatte ich das nicht mitbekommen?


Aufgeregt stolperte ich durch das Chaos zu meiner Kamera, die tatsächlich sogar noch lief. Schnell schloss ich sie an meinen Fernseher an und spulte zurück, bis zu der Stelle, an der ich mich ins Bett gelegt habe. Einige Zeit passiert nichts und ich sah nur, wie ich schlief.


Doch dann passierte es. In dem Video schlug ich die Augen auf und griff mir mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Kopf, während ich die Bettdecke zur Seite schlug.
Was ich als nächstes sah, konnte ich nicht glauben.
Ich, oder zumindest mein Körper, stand auf und fluchte laut: „So ein Mist! Schon wieder bin ich in diesem verflixten Zimmer. Und in diesem Frauenkörper. Mir reicht es jetzt!“ Und dann fing ich an, mein eigenes Zimmer zu zerstören. Mit einem bösen Grinsen lief ich in dem Video durch das Zimmer, riss Kleider aus dem Schrank, zerstörte Schulbücher, zerschnitt mein Lieblingsoberteil.
Mit einem schwarzen Edding schrieb ich in dem Video auf meine Decke den Namen eines Jungens: Aaron.

 



Erschrocken wirbelte ich um meine eigene Achse und schaute auf meine Bettdecke. Tatsächlich. Da stand es, mit schwarzen Edding. Aaron.

Nur ein Wort. Ein Name. Und trotzdem rann mir ein Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Was hatte das zu bedeuten?
Ein Begriff schoss mir sofort durch den Kopf. Erst vor kurzem hatte ich darüber im Fernsehen einen Bericht gesehen. Doch diese Möglichkeit bereitete mir Angst. Riesige Angst. Angst vor mir selbst. Denn das, was ich gerade in dem selbstaufgenommenen Video gesehen habe, konnte man nicht einfach mit Schlafwandeln erklären. Nein. Das war so viel mehr.
Schockiert über diese Erkenntnis setzte ich mich erst einmal auf mein Bett und verbarg das Gesicht in den Händen. Wieso ich? Wieso nur? Verzweiflung breitete sich in mir aus. Verzweiflung, doch auch gleichzeitig Entschlossenheit.
Das war mein Leben. Ich wollte es genießen können, und nicht dauernd ängstlich in der Ecke sitzen und hoffen, dass Aaron... Ich wollte nicht einmal weiter denken. Nein. Ich musste etwas unternehmen. Mein Leben musste wieder mir alleine gehören. Und um dieses Ziel zu erreichen brauchte ich Hilfe. Professionelle Hilfe.



Um das Chaos in meinem Zimmer kümmerte ich mich erst gar nicht, sondern schnappte mir einfach eine Hose und ein T-Shirt, wechselte schnell die Kleider, und verließ dann mein Zimmer. Die Treppe nach unten kam mir unwahrscheinlich lang und steil vor, die Tür schien so weit weg zu sein. Doch ich war bereit dazu, diesen Weg zu gehen.

Egal, wie lang und beschwerlich er war. Stufe für Stufe ließ ich hinter mir, doch vor mir warteten bereits meine Eltern auf mich.


„Wo willst du denn hin? Du hast Hausarrest, schon vergessen?“ Ja. Das hatte ich tatsächlich vergessen.
„Ich will nur schnell was schauen. Ich komm' gleich wieder.“ Und ohne auf eine Reaktion zu warten, stürmte ich zur Haustüre hinaus und die Straße entlang.
Ich würde gerne behaupten können, dass ich ernst gemeint hatte, was ich zu meinen Eltern gesagt hatte.
Ich komm' gleich wieder.
Doch so sicher war ich mir da nicht. Das lag nun daran, was mein Arzt dazu sagen würde. Mein Psychologe.
Ich komm' gleich wieder. Doch da stellte sich mir die Frage, ob wirklich ich wieder komme. Oder ob Aaron den Kampf gewinnen würde. Oder aber aus Jana und Aaron würde wieder eins werden.
Eine Persönlichkeit.
Ein Ganzes.
Ein Mensch.

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Tag der Veröffentlichung: 08.07.2010

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