Der Siebentageregenwetter-Ausdruck in seinem Gesicht setzte sich fest. Eric war es leid, immerfort den willkürlichen Launen seines verglatzten Onkels ausgesetzt sein zu müssen. Zwar durfte er kostenlos unter dessen palastartig ausladendem Dach wohnen, auch am allgegenwärtigen Luxus teilhaben, aber sich deshalb derart zugrunde richten zu lassen … Den beißenden Spott, die täglich wiederkehrenden Beleidigungen, die gehässigen Bemerkungen zu Tisch, das überlegene Breitmaulfroschgrinsen, all dies könnte Eric vielleicht noch wegstecken, wenn es nur nicht unter den Augen und Ohren eines oberniedlichen Persönchens geschähe.
Das oberniedliche Persönchen hieß Alice und war fast gleichaltrig mit Eric und seit mehr als einem Jahr mit dessen Onkel, dem doppelt so alten Ferdinand von Waldecke verheiratet. Wie dieser altmodische Despot bei einer so romantischen jungen Dame Erfolg gehabt hatte, blieb trotz des beachtlichen Zugewinns an Vermögenswerten für Eric irgendwo schleierhaft. Ferdinand war ihrer nicht würdig und gemäß Lebenserwartung würde er noch vierzig Jahre leben. Sie saß am einen Ende des Tisches, der sich so länglich hinstreckte, dass er selbst Königs Arturs Tafelrunde Platz geboten hätte. Am anderen Ende, am Kopf der Tafel thronte der Hausherr sichtlich bequem im barocken, grünledrig überspannten Polsterstuhl. Erics Platz war ein schlichter in der Mitte und das Holz unter seinem Gesäß hart. Kaum hatte der Diener die üblichen kulinarischen Köstlichkeiten aufgefahren, da erscholl auch schon die knarzige Stimme: „Womit verdient es eigentlich ein solcher Taugenichts und Tunichtgut wie mein Neffe so fürstlich zu dinieren, kannst du mir das verraten, liebe Alice?“
Alice bereitete es mit ihrem zartbesaiteten, kieksigen Sprechorgan merklich Anstrengung, sich über die Entfernung hinweg Gehör zu verschaffen. „Er verdient es, weil er gleichfalls den Namen derer von Waldecke trägt und du versprochen hattest, ihn nach dem tragischen Tod seines Vaters, deines leiblichen Bruders, unter deine Fittiche zu nehmen“, erinnerte sie.
„Konnte ich denn ahnen, dass er die Faulheit, die ganze Unnützlichkeit seines Vaters geerbt hat. Sein Hiersein beruht nur auf einen von den Fehlern meiner Gutmütigkeit.“ Er hämmerte wutentbrannt auf die furnierte Eichenplatte. „Keine adlige Abstammung der Welt rechtfertigt es, so selbstgefällig in den Tag hinein zu leben. Student will er sein, pah! Er ist eine einzige Schande für unsere stolze Ahnenkette. Hoffentlich schenkst du mir bald einen Stammhalter.“
Alice, leicht errötet, wandte sich an Eric: „Nimm es nicht so schwer, der Reitunfall hat ihn boshaft werden lassen.“
Eric nickte ihr knapp zu. Er empfand aber, dass das steif gebliebene Bein Ferdinands Charakter nicht wesentlich verändert hatte, wenn er auch ohne dem kein arg so verbitterter, menschenverachtender Zyniker geworden wäre, den vermutlich der Neid nach Jugend und Unversehrtheit zu immer neueren Gemeinheiten trieb. Doch was war das damals für ein einschneidender Vorfall gewesen: Erics Vater hatte plötzlich das Pferd scheu gemacht, auf dem Ferdinand ritt und mit ihm dann durchging. Der stinkreiche Bruder stürzte schwer und kurze Zeit später fuhr der Verursacher sich alkoholisiert mit seiner Harley an einem Brückenpfeiler tot, keine Bremsspuren. Das war nicht mal ein halbes Jahr her und er hatte seinem Sohn nur Schulden hinterlassen. Doch hatte Eric die eisblauen Augen von seinem Vater als Erbteil, wenn man so will, und er bildete sich ein, dass auch dessen Rachegelüste auf ihn übergegangen seien. Ferdinand hatte viel Dreck am Stecken, er hatte bereits kurz nach Erics Geburt dessen Mutter verjagt, sie im wahrsten Sinne des Wortes ausbezahlt, weil sie ihm nicht standesgemäß schien.
„Schwätz nicht, Alice, seine Art ist es, die ich nicht mag … und wie ihr euch verschwörerisch anschaut, als plantet ihr permanent einen Honeymoon! Ich werde veranlassen, dass er seine Speisen künftig auf dem Fußboden einnimmt, manierlich in einem Napf verrührt. Er wird aufpassen müssen, dass es ihm die Rottweiler nicht streitig machen.“
Sein Diktat war absolut maßlos, Alice tat vor Schreck einen Fehlbiss in die Luft und der Kerzenleuchter vor Eric flackerte auf, ein Docht war im geschmolzenen Wachs ertrunken. Diesmal ist der Alte endgültig zu weit gegangen.
Eric beschloss ihn umzubringen.
An das Anwesen grenzte ein gewaltiger See. Eric wusste von Onkel Ferdinands allsonntäglicher Ruderpartie, die stets in Herrgottsfrühe stattfand. Es war dunkle Nacht und das Herrenhaus schlief friedlich, als sich Eric mit einer Sporttasche unterm Arm weitläufig an den Hunden vorbei zum Bootshaus stahl. Er wagte Licht zu machen und sah das Ruderboot sogleich vor sich. Der Tasche entnahm er eine Akku-Bohrmaschine und bohrte fünf kleine Löcher ins Heck, welche er danach mit einem Schälbohrer daumendick weitete, bis jeweils ein Korken stramm in die Bohrung gepresst werden konnte. Vier hatte er im Müll gefunden und den fünften Korken einer Flasche im Weinkeller entwendet. In jeden Korken trieb er einen Stahlhaken mit Öse daran, und er verknotete eine hochreißfeste Nylonschnur vorne so, dass sie fünf Anfänge hatte, forkenähnlich, zog sie durch die Ösen, so dass schlussendlich die Schnur an den fünf Korken zappelte, die ihrerseits in der Außenwand steckten. Mit Hilfe eines Navi-Programms hatte Eric im Vorfeld die Entfernung zwischen Ablegestelle und gegenüberliegendem Ufer vermessen, es waren 576 Meter – das hieß 288 Meter bis zur Seemitte, wo ein gefährlicher Sog wirkte, wie Ferdinand mehr als einmal erwähnt hatte. Eric rollte die Nylonschnur von der 300-Meter-Spule, nach der 288sten Markierung trennte er sie ab. Nun verstaute er alle Hilfsmittel wieder sorgfältig in die Tasche, schulterte diese und hievte das Boot auf einen Rädersatz, um es nach draußen an den Steg zu befördern. Wo er es langsam ins Wasser gleiten ließ und sofort vertäute. Um die Nylonschnur nicht zu verlieren oder zu verknäueln, hatte er sie sich viele Hundertmal um den Handballen geschlungen. Er kauerte sich auf den Steg und verknotete das lose Ende unter der Wasseroberfläche mit einer Querstrebe.
Während Eric zurückschlich, malte er sich aus, was in wenigen Stunden im günstigsten Fall passieren würde: Ferdinand gelangt zur Ablegestelle und findet sein Ruderboot bereits zu Wasser gelassen vor. Er hält es für einen Dummejungenstreich – oder sollte sich aus seiner Sicht der nichtsnutzige Neffe einmal als hilfreich erwiesen haben? -, jedenfalls rudert er raus. Nach 288 Metern, in der Mitte des Sees spannt die Nylonschnur und wird zum Korkenzieher. Das dünne Boot leckt und läuft mit Wasser voll, der starke Sog und der Hang zu Panikattacken, der Ferdinand nach dem verhängnisvollen Reitunfall befallen hatte, tun ihr Übriges. Die Nussschale kentert und beeinträchtigt durch seine Beinbehinderung wird der große Ferdinand von Waldecke jämmerlich absaufen. Seine Hilferufe werden zu dieser frühen Stunde allenfalls von Anglern gehört und bis jene Rettungskräfte herbeigeholt haben, ist der Patriarch längst ein toter Fisch.
Als sich Eric endlich ins Bett begab, verspürte er das erste Mal nach langer Zeit wieder Vorfreude auf die ersten Sonnenstrahlen des Morgens. Seine Seele gesundete wohl nur im Rachesturm ihrer selbst.
Es waren aber nicht die Sonnenstrahlen, die ihn weckten, sondern der Tumult im Haus. Stimmendurcheinander, hastige Füße und heftiges Türschlagen. Eric trat aus seinem Zimmer und Alice stürmte im Empfangssaal unverzüglich auf ihn zu, warf sich ihm schluchzend in die Arme. „Dein Onkel ist tot, im See ertrunken“, ihre Stimme bebte. „Es ist so schrecklich! Die Polizei wartet auch schon.“ Er hielt ihren sehnigen Körper fest, der von Früh an merklich viele Sporteinrichtungen besucht hatte, drückte sein Gesicht an ihres, atmete sie ein, schnupperte den blumigen Duft ihrer Haare und war ihr nah wie nie. Nicht einmal davon zu träumen hatte er gewagt, jetzt schien es fast selbstverständlich, dass es für immer sein könnte: Sie und er.
Mücken tanzten in den schrägen Lichtsektoren der Vormittagssonne, der Tote hingegen lag ausgestreckt wie unbewegt am Ufer und musste auf seinen Abtransport noch warten. Gemeinsam schritten sie zur Identifizierung, Eric war mittlerweile in einen schwarzen Anzug gegossen, trug ebenso Trauer und nickte ebenso stumm, wie Alice es tat. Polizeihauptkommissar Prymeslaw Dryszk, der an vokalischer Mangelerscheinung litt, hatte die Szene beobachtet. Wie er befand, gaben die Trauernden ein auffallend hübsches Pärchen ab, er ging nun geradewegs auf die beiden zu, stellte sich vor und sprach ihnen zunächst sein Beileid aus. „Es gibt ein Problem“, fügte er hinzu, „die Taucher haben das Boot vom Grund des Sees geborgen. Es ist angebohrt, ebendarum können wir nicht von einem Unglücksfall ausgehen.“
Damit hatte Eric gerechnet und spielte seinen Trumpf aus: „An welcher Stelle des Sees wurde das Boot denn aufgefunden?“
„Nicht weit von ihrem toten Onkel entfernt, ganz in der Mitte des Sees.“
Ein triumphierendes Zucken wirbelte Erics Brauen auf. „Bis dahin sind es aber 288 Meter, wäre das Boot beim Ablegen bereits undicht gewesen, hätte es doch schon eher volllaufen und untergehen müssen, zumal mein Onkel rechtzeitig umgedreht wäre. Es sei denn …“
„Was meinst du, Eric?“ Alice kreuzte die Arme vor der Brust, sie fröstelte.
„Es sei denn … Ferdinand war lebensmüde.“
Aber er hatte lauthals um Hilfe gerufen, das ergibt keinen rechten Sinn
, dachte sich der erfahrene PHK Dryszk. „Ließe denn das Verhalten von Herrn von Waldecke in letzter Zeit diesen Schluss zu?“, begehrte er zu wissen.
„Mein Onkel muss seit seinem Reitunfall und dem Ableben seines Bruders, meines Vaters also, ein gebrochener Mann gewesen sein. Er überspielte es wohl – und Alice war ihm auch eine immense Stütze.“
Alice räusperte sich zu Wort: „Jein. In unserer Ehe lief es nicht allzu rund, er wollte zwar Nachwuchs, aber war, was das anging, nicht sonderlich aktiv, wenn Sie verstehen. Eins kommt mir jetzt eigenartig vor, vorhin berichtete mir unsere Haushälterin, dass im Keller eine entkorkte, noch volle Weinflasche stand. Vielleicht wollte sich Ferdinand nur harmlos betrinken, doch dann wird ihn die Verzweiflung übermannt haben?“
Zwei Einzelheiten bekam Dryszk nicht mehr aus seinem Denken heraus, der fehlende Korken und die exakte 288 Meter-Angabe. Er ließ das Zimmer des Neffen durchsuchen. Aber auch das hatte Eric eingeplant und sämtliche Gegenstände aus der Sporttasche noch in der Nacht fein säuberlich an ihren angestammten Platz zurückgebracht, bis auf die unverdächtige Nylonschnurrolle, die er für schlappe zwanzig Euro im Internet bestellt hatte und neben seinem Golfset und seinem kaputten Drachen im Schrank lagerte.
„Eric, wir werden Sie verhaften und dem Untersuchungsrichter vorführen!“ Der Polizeihauptkommissar war zu ihnen ins feudale Wohnzimmer getreten, die Nylonschnurrolle in den Fingern. „Laut Beschriftung sind das ursprünglich 300 Meter Schnur gewesen, ziemlich genau zwölf Meter sind noch drauf, somit fehlen die ominösen 288 Meter. Das ist, wie sie so trefflich wussten, die Entfernung bis zur Mitte des Sees. Sie haben das Ruderboot mit Korken präpariert, es dann mit Hilfe dieser Art Angelleine entkorkt.“
Alice stieß einen spitzen Schrei aus und fiel Eric ohnmächtig entgegen, einige Sekunden später tauschte er ihre warme Berührung gegen die der kalten Handschellen und verwünschte seine Dummheit, seine mangelnde Nachsorge, denn wenn sich im See zu allem Überfluss die Korkenschnur anfände - die Ermittler müssten nur den Steg oder die Wasseroberfläche (Kork schwimmt!) genauestens inspizieren -, würde er von der übergroßen Beweislast nahezu erschlagen.
Diese Befürchtung erwies sich allerdings als unbegründet, er war rasch wieder auf freiem Fuß. Und wie sich im Weiteren herausstellte, hatte Ferdinand bei der Eheschließung Alice einen Vertrag unterzeichnen lassen, wonach sie erst nach frühstens zehnjähriger Ehe geerbt hätte. Der Clou war, dass die Rottweiler als Alleinerben bestimmt wurden und Alice nur solang ein Bleiberecht auf dem Anwesen hatte, wie die Köter am Leben waren. Nach deren Hinscheiden würde es verkauft werden und die Gelder aus dem Erlös und sonstige in eine Stiftung für streunende Hunde fließen.
Alice durfte also vorläufig wohnen bleiben und Eric blieb es auch, zumindest setzte ihn bislang niemand vor die Tür. Er fühlte sich nicht vollauf erwünscht, eher geduldet. Was wahrscheinlich von den Zweifeln an seiner Unschuld rührte als auch daran, dass er sehr forsch gegenüber Alice auftrat. Jedes Mal vorm Zubettgehen stellte er ihr die Frage, ob er mit in ihr Bett dürfe, so lax und nebenher, wie er sich am Frühstückstisch erkundigte, ob sie gut genächtigt habe. Aus Alice wurde er sowieso nicht schlau, schien sie ihm doch bisschen wie eine Mitverschworene. Auch heute lümmelte er gegen Mitternacht im Salon, als er ihre Sommerpumps nahen hörte. „Ich geruhe zu Bett zu gehen, dir eine gute Nacht“, verkündete sie am Türrahmen gelehnt.
„Und wenn ich diese Nacht einmal deinen Schlaf beaufsichtigen dürfte?“
Normalerweise verzog sie sich auf seine Avancen wortlos und war in ihrer Wortlosigkeit überzeugender als jede Moralpredigt, diesmal antworte sie: „Okay, aber nach meinen Spielregeln.“
Das Ehebett im dunklen Kolonialstil, in dem zuletzt immer bloß die eine Hälfte beschlafen worden war, sah aus, als könnte man damit als Floß über den See setzen und stand mitten im Raum. Alice schubste ihn hinein und dämmte die Beleuchtung, ihr Rock rutschte herunter und von ihrer durchsichtigen Bluse, mit dem BH darunter, sprangen immer mehr Knöpfe auf. „Ich möchte dich fesseln“, erklärte sie dann freiheraus. „Nun guck nicht so, in der Vergangenheit konnte ich mich nicht ausleben.“
„Fessle mich!“
„Guter Junge.“ Sie trat hinters Kopfende des Betts und ihr elfengleicher Schritt ging nochmals hin und her, dann waren auch schon seine Handgelenke an den Bettpfosten gebunden, es schnitt ihm ins Fleisch.
„Aua, was ist das, Draht?“
„Nylonschnur, ich habe sie damals gefunden, gleich als ich zum ersten Mal zum See runter bin. Fast wie bei einem Mobile bammelte da was dran. Es waren Korken, fünf an der Zahl. Du hast Ferdinand ermordet! Man kann die Schnur übrigens nicht zerreißen.“
An Erics beschleunigter Atmung war zu erkennen, dass er sich seiner Zwangslage bewusst war, erst recht, wo sich die Schnur nun auch um die weiße Säule seines Halses legte, sich zuzuziehen begann. „Ja doch“, brach es mit letzter Luft aus ihm heraus, „mörderische Triebe überkamen mich. Verschone mich nicht, stranguliere mich, weil ich niederträchtig und nichtswürdig bin, ich verdiene keine Gnade!“
„Tja, mein Süßer, es gibt so kleine Racheakte, die einem Trost spenden.“
Erste Bewusstseinseintrübung ergreift ihn, er vermeint, er wird sterben, aber unvermutet lockert sich die Schnur um seine Kehle.
„Ich behaupte, Rache ist nur was für schwache Charaktere - oder aber ich bin völlig verkorkst.“ Sie streift ihren Slip ab, robbt auf ihn drauf und bis zu Erics Gesicht vor. „Könntest du mich bitte dort küssen, wo er mich nie geküsst hat?“
Tag der Veröffentlichung: 26.06.2011
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