Per Bahn Angereiste schlagen sich an einer erstbesten Hauswand das Wasser ab. Auf dem Hochgleis rattert sie dahin, die Bahn, eingebettet in unverbrüchlicher, trister Urbanität. Wie Blumen indes, so farbstrotzend, sind die angetanzt kommenden Menschen durchgestylt, sie formieren sich unter den herüberwehenden, vermutlich bis in die höchsten Stockwerke der Innenstadt tragenden, stampfenden Bässen zu knalligen Gruppenbildern, posieren in ausgelassenster Jugendfrische.
Auch ich lasse mich zu einer gestochenen Aufnahme verleiten, man weiß nie, wie oft man noch die Gelegenheit bekommt. Derweil handelt die Sonne mit purem Gold, kaum ein Wölkchen wattiert ihr gleißendhell herauszuckendes Strobo-Feuer. Meine Sonnenbrille ist nicht nur voll porno designet – ich bin äußerst modebewusst -, sie schattet groß- und doppelrundflächig meine empfindlichen Äuglein ab. Etliche rings picheln dosenweise Bier, die gute alte Dose ist zurück! Ach, nein danke, der Herr Dealer im Ärmellosen, ich benötige keinen Stimmungsaufheller in Tablettenform, bleibt mir lieber weg mit dem Zeug, andernfalls werde ich auf der Stelle technophob.
Wir pilgern in Sneakern, viele in Converse-Tretern oder welchen mit Nike-Logo (manch Übermütiger flippfloppt allen Ernstes) zunächst geraden Weges ins buntscheckige, vielköpfige Gemenge hinein. Eine scharfe Biege, dann ist ein langgezogenes Gewölbe zu unterlaufen - der bloße Augenschein löst Beklemmungen aus -, in dem es wie insgeheim befürchtet fortan nur tippelschrittchenweise vorangeht. Das alles scheint nicht gut organisiert, angefangen vom alten, stillgelegten Güterbahnhof, ein marodes Gebäude (ich sah den Trailer vor Wochenfrist im Internet), das nach Abriss verlangt oder nach den Sprayern, die eine reichliche Arbeitsfläche für ihre Graffiti unter der Sprühdose hätten, und um das herum diese internationale Großveranstaltung im Rahmen der RUHR.2010 abgehalten wird. Beirrt durch das großangelegte Bummelantentum, aber sich nicht davon verdrießen lassend, setzt spontanes, richtiggehend WM-taugliches Gegröle ein, das auf mich freilich, von der Menschenmasse eingeschüchtert, wie das sprichwörtliche Pfeifen im Walde wirkt. Und keine halbe Stunde mehr, dann schlägt die Stimmung im Tross allmählich um, man erleidet Klaustrophobien. Beklommenheit und Angst sind aus der selben Hirnregion, so tappt ein schwarzwallendes Unbehagen an meiner Seite mit, hat sich mir im Gedränge untergehakt. Ständige Ellenbogenstüber, der Nickligkeiten und leicht grobianischen Übergriffe mehr; soeben wische ich durch jemandes Arme durch, der Geruch von feuchten Achselhöhlen gesellt sich dem allgegenwärtigen Schweißmief bei. Hautnaher bin ich solcher schwitzenden Kohorten Zeit meines Lebens nicht gekommen. Unter dem Betonbaldachin nimmt das Vorwärtsgeschiebe seinen immer verlangsamteren Lauf. In gespielter Sorglosigkeit wird die zunehmende Enge, die dauerhafte Tuchfühlung wohl von den meisten als gottgegeben hingenommen. Ein Grapscher- und Frottiererparadies will es mir scheinen, irgendwer genießt meine festen Backen am Schritt seiner Hose.
Jenseits des Tunnels lockt das in Helligkeit gebeizte Freie zum Durchschnaufen, dies Etappenziel rückt näher, die aufstarkende Music mit ihren groovy Vibes. Wenige Meter, dann mag es geschafft sein, und man wird einem durch schwere Wetter geplagten Seefahrer gleich >>Land in Sicht, Land, Land!<< ausrufen können. Erneut gebe ich mich dem Gewoge des wie unter Tage ächzend dahinkrauchenden Lindwurms anheim, bin lediglich Anhangsgebilde dessen, kaum mehr Wesen mit eigenständiger Fortbewegungsmethode.
Endlich tagt es wieder: Licht und Luft! Die Bewegungsfreiheit jedoch bleibt auf ein Weniges beschränkt, minimiert sich in den nächsten Minuten noch, denn scheinbar stopfen sich mehr und mehr Menschen von allerortsher – als wäre das Veranstaltungsgelände an allen vier Ecken angezündet worden - und folglich auch in Gegenrichtung in diese ohnehin geknüppelt volle, wenn nicht überfüllte, von schiefergrauem Mauerwerk sowie Bauzäunen eingegrenzte, knautschzonenlose Verladebühne für Menschen statt Vieh. Beweg die Beine so geschwind du willst, du kommst nicht entscheidend von der Stelle! Die aufeinandergeprallten Lebendwände aus Fleisch und Blut verkeilen sich zusehends ineinander.
Welcher Chaotik werde ich da Zeuge, habt ihr denn keinen Kompass im Leib!? Genauso gut könnte ich mit mir selbst hadern. Allmächtiger, ein Jeder, den es hier hineingedrückt hat, steckt schier ausweglos in der Falle! Brust an Brust, Angesicht zu Angesicht, mit angehaltenem Atem und möglichst seitlich abgestrecktem Ellbogen, territoriale Ansprüche markierendem, schielt Jeglicher nach einer Lücke, einem Wegkommen. Mamma Mia, uns allen glotzt die blanke Verzweiflung aus den Augen! Hände, die sich halten sollen, verlieren einander; Pärchen, die vielleicht auf Leben und Tod miteinander verbunden sein wollen, verlieren einander aus dem Gesicht: von unwiderstehlichen Kräften erfasst und weggedrängt, fortgerissen. Einer im survivorliken Outdoorlook antwortet auf mein Japsen nach Erfrischung generös mit einem pressstimmigen >>No problem“ und bespritzt mich aus seiner Einweg-Sprudelflasche ... wie eine letzte Segnung. Ein fremder Reißverschluss zippt sich mir in die Ohrmuschel.
Ich blicke auf, erblicke oberhalb der Mauern an Gestängen Zuschauer lehnen und aufs Kesseltreiben niedergaffen, sich daran mitgruseln oder aber ergötzen (von außerhalb muss das Ganze die Anmutung eines Amphitheaters, des Kolosseums haben: >>Die Todgeweihten grüßen euch!<<), ferner durchblicke ich auch, warum es mich, uns in die eine bestimmte Richtung zieht - wie ein tödlicher Sog, aus dem es kein Entrinnen gibt: Ebendort ist eine mannsbreite, steile Treppe in die Wand gehauen, schmiegt sich dem Tunnel an. Wider Erwarten ein Ausweg? Aber alles und jeder scheint genau zu dem Punkte zu streben, und ich erkenne sogleich, wir sind übelberaten, weil der Druck der antrudelnden Lawine, so ohne Wellenbrecher, zu gewaltig werden wird. Dem Anprall der Menschenflut kann die mit einem notdürftigen Eisengeländer versehene Freitreppe schwerlich standhalten, und wir erst recht nicht, die wir diesem Ausschlupf fatal nahe sind. Ein Fatalismus, genährt durch die Unübersichtlichkeit des Getümmels, dabei alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten und mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen ignorierend. Da befindet sich Polizei und Sicherheitsdienst auf der Treppe und hilft vereinzelten Personen hinauf, aber warum in drei Teufels Namen schlagt ihr nicht Alarm? Warum lasst ihr nicht mit intonierter Kanzelstimme und Megaphon eine Warnung erschallen, warum lasst ihr keine uniformierten Entsatztruppen die Böschung runtereilen, warum lasst ihr nicht alle Ausgänge öffnen, das tumultuarische Areal entfluchten? Holt uns hier verdammt noch mal raus! - Seht ihr denn das drohende Verhängnis nicht!? So steckt doch die Köpfe zusammen, bedenkt euch gefälligst!
Lauter Durchgänger, die Hinteren spornen die Vorderen zu Übermenschlichem an, hinne sollen sie machen, die Stufen unter nahkampfnahen Bedingungen trotzdem im Sturme nehmen: >>die Treppe, die Treppe hoch!<< Wiewohl sich mir ein neuerlicher Atemzug in den Brustraum zwängt, entringt sich meiner Kehle kein Dalli und kein Avanti, denn die schmale Steinstiege ist unser gewisslicher Untergang! Wer noch Puste und Resonanzraum hat, schreit und flucht und jammert … betet. Die Stimmen der Verzweifelten werden der Hörerschaft jederzeitig im Ohr haften bleiben. Sechs, sieben, acht Menschen stauchen sich auf einem einzigen Meter zusammen, so viele schreckgeweitete, blicklose Augen.
Mir drückt es die Atemwege ab, ich fühle Benommenheit aufsteigen, ein Ohnmachtsgefühl fällt mich an, meine Widerstandskräfte brechen. Ein Käppiträger sieht mich unter seinem verbogenen Schirm mit traurigem Blick an, Opferblick. Alles Regbare scheint an ihm erstorben, allein die Augen leben an ihm. Durch den Blickkontakt lockert seine Erstarrung auf, er ballt mühsam eine gliederlahme Hand zur Faust und die zu mir empor: Durchhalten! Ich versuche ihm ein nettes Wort zuzuraunen und bin es nicht imstande, und ich versuche, ich versuche ja die Besinnung zu behalten und weiß zugleich, ich werde über kurz oder lang scheitern. Wenigstens die dunklen Brillengläser absetzen, noch einmal unverfinstert die Sonne sehen, den hoffentlich vergissmeinnichtblauen Himmel ...! Meine Hände gelangen in dem Kuddelmuddel einfach nicht hin. Im verbrillten Grauschaum des Elends entzieht es dem Szenario jede Farbe, in gespenstisch bleistiftskizzenhafter Morbidezza steigt der getreppte Notausstieg in seiner steinernen Masse vor mir auf, keine zwei Längen entfernt, nur ist in den kompressen, kettenmoleküligen Menschentrauben beileibe keiner mehr so recht gehfähig. Allenfalls über die Köpfe unserer sind die Stufen noch zu erreichen, da kennen einige wahrlich gar nichts: Mitleidslose Surfer, es gibt sie, jemand setzt mir den Fuß hart in den Nacken ... Aber bei weitem nicht jeder ist sich im Gestöber der Panik der Nächste, die Mitmenschlichkeit stirbt nie ganz, selbst wenn die Welt in Trümmer sinkt.
Die zwangsläufigen Niederbrüche. Es begräbt mich unter all den wie in einem Dominoeffekt abkippenden Körpern. Mit den Schicksalsgenossen fällt auch totale Dunkelheit über mich herein. Kein Strahl Sonnenlicht dringt durch. Mit einem Mal und trotz soporösem Befinden verspüre ich Verbarfußung, dass zudem Drahtvierecke meine Rückenpartie parzellieren, ich muss auf ein Eisengitter gestürzt sein, das hier einst gestanden hatte, um diese unheilvolle, diese vermaledeite, einem Run nicht gewachsene Fluchtmöglichkeit abzuzäunen? An deren Fuße ich nun von und mit so Vielen verschüttet daliege. Ein wimmelnder Grabhügel sprießt auf, dessen Basis ich bin - ich bin das Leiden Christi, Golgotha! Ist es schon die tiefe Apathie, die in Not und Tod unvermeidliche psychische Ausfallserscheinung, die mich innerlich gnädeln lässt: >>Bettet euch ruhig weich auf mich.<<
Ich würde gern die schmerzerfüllt verkrümmten Schenkel etwas anziehen - bin eigentlich nur mehr eine zufällige Ansammlung von Gliedmaßen - und vermag auch das nicht, über kein Körperteil kann ich befehlen, sie sind wie abgetrennt, nicht einmal ein Entfesselungskünstler, ein Entknotungsweltmeister könnte auf Anhieb all die Arme und Beine auseinanderpolken. Die Wangenknochenlagerung meines Kopfes ist auch keine angenehme, die Gewichte auf meinem Brustkorb, die mich zermalmen wollen, erzeugen einen dumpfen, knochenbrechenden Laut, und als Letztes nehme ich die Bisse irgendjemandes nach dem Überleben Schnappenden wahr, es ist wie ein aufgedrücktes Kainsmal. Ich habe mit dem meinigen Leben abgeschlossen, und während ich verröchele, muss ich meinen Eltern denken, denen ich aufgrund einer karmischen Verstrickung im Tode vorausgehe. War ich zuvor durch die innerseelischen Prozesse nicht ganz bei mir, werde ich jetzt vollends klar im Kopf.
Wenn ihr mich beißt, Menschengeschwister, so küsst ihr mich damit. Wenn ihr mich erdrückt, Menschengeschwister, umarmt ihr mich damit. Und wenn ihr mich mit euren Tränen ertränkt, Menschengeschwister, beweint ihr mich damit. Immerhin ist dies: die LOVEPARADE. Der Totentanz. Dance or die! Tragen wir uns ins Buch der Geschichte ein mit dieser apokalyptischen Episode, ich bin weit gereist, um hier ins ewige Leben einzugehen. Nun fall ab, meine Hülle! Enthäute dich, meine Seele!
Der Tod hat das letzte Band irdischer Zugehörigkeit zerschnitten, ich habe ausgelitten, und schlagartig ist es aberwitzig leicht, mich aus dem auf beachtliche Höhe angeschütteten Leiberknäuel zu lösen. Von einer glänzenden Aura umrahmt, von einem Lichtschimmer umflossen könnte ich spielerisch die Verderbnis bringenden siebenundzwanzig Stufen hinaufschweben, ich tue nichts dergleichen, es ist zu spät. Vielmehr schreite ich unter dem Panikorchester hin, geistere ich durch die Haufen, schrecke ich wie durch Befehl aus dem Nirgendwo die Verdämmernden auf, biete mich ihnen als Lichtgestalt, als Beschirmer dar: Gib nicht auf, du arme juvenile Frau, öffne die Augen, sieh mich an, atme, lebe, überdauere! Tatsächlich kommt der eine oder andere ramponierte, todbleiche Mensch wieder zu sich, richtet sich mechanisch auf. Und ich bin denen beiständig, die im Dutzend unter den Händen herbeieilender Helfer wegsterben, stelle eine geistige Verbindung zu ihnen her: Stehe Gott dir bei, du leidgeprüfter Mann in der Blüte deiner Jahre.
Ich verweile noch, bis das DJ-Gewummere verstummt ist, bis alle Gedanken der Teilnehmer auf Moll gestimmt sind, bis der Unglücksort aus ermittlungstechnischen Gründen rotweiß bebändert, dort ein Kerzenmeer erglommen ist und man ihn als Memento Mori verstehen gewusst hat – hier steht jene Treppe unseligen Angedenkens, an welcher die Einundzwanzig (einundzwanzig, als hätte das Schicksal Blackjack gespielt und jeder Punkt ein Menschenleben!) den Tod im Gedränge fanden -, bis Beileidsgesichter den greinenden Angehörigen den letzten Verstorbenen besargt und zu Grabe getragen haben, bis der letzte Schwerverletzte genesen ist. Bis die Hintergründe der Katastrophe sämtlich belichtet sind, bis jemand Verantwortung für das Desaster übernommen, ein Schuldeingeständnis abgelegt hat. So lange verweile ich, so lange finde ich meine Ruhe nicht. So lange wandele ich ruhelos umher.
Und wann immer ungeachtet des windstillen Moments ein sanfter Hauch über eure erinnerungsschweren Schläfen, eure tränenumflorten Augen streicht, so lange wird es meine vorbeischleichende Trösterseele sein.
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Widmung
Giulia und den Zwanzig
den Überlebenden
den Lebenden.