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Seemannsgarn

Die Autorin hat Seemannsgarn gesponnen!

 

Diese Geschichte ist frei erfunden.

Namen, Personen, Handlungen und Begebenheiten entspringen der Fantasie der Autorin.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären rein zufällig.

 

Die schönen Orte (es sind längst nicht alle!) auf Norderney,

die weiten Strände und die traumhaften Sonnenuntergänge gibt es tatsächlich.

Prolog

Sommerstürme über Norderney, die kurz und heftig über die Insel toben, sind keine Seltenheit. Man sollte ihnen besser aus dem Weg gehen oder aber das Wogen, Wirbeln, Spucken und Zischen der Natur aus sicherer Entfernung genießen. 

Verdammt, ich war mittendrin in einem Sturm der Gefühle und ich hatte keine Ahnung, ob es sich dabei wirklich nur um einen kurzen heftigen Sommersturm handelte. Von wegen sichere Entfernung!

Wie eine Böe mit Windstärke zehn fegte er über mich hinweg, wirbelte alles, was ich mir mühsam aufgebaut hatte durcheinander und brachte mein Gefühlsleben zum Beben. Da musste nur ein Kerl mit geblümten Hemden und einer Schwäche für Sanddorn daherkommen und schon geriet mein Vorsatz, nie wieder mein Herz zu verschenken, in Gefahr. Doch nun hatte ich es verloren, ohne es zu merken und meinen Anker, der mir sicheren Halt gab, gleich mit. 

1. Kapitel

Panik krabbelte mir eiskalt über die Wirbelsäule den Rücken hinauf, bis in die Wurzelspitzen meiner Nackenhaare. Plötzlich wurde mir siedend heiß, ich tastete meinen Hals ab, blickte gedankenverloren auf die Nordsee und registrierte nicht einmal die Möwe, die auf einem Zaun an der Marienhöhe saß und mit scharfem Blick und ebensolchem Schnabel beobachtete, wie ich meinen Rucksackbeutel auf links drehte und den gesamten Inhalt rund um meinen Kaffee à la Heinrich Heine auf dem Tischchen verstreute.

Heinrich Heine in meiner Tasse, ein Kaffee mit einem Schuss Sanddornlikör, konnte mir auch nicht helfen und musste warten. Verdammt, es musste doch irgendwo sein! Jede Menge Sand, eine Muschel, mein Strandtuch, Stifte, Sonnencreme, Portemonnaie und Schlüssel verteilte ich rings um meine Tasse. So sehr ich auch suchte, meine Kette mit einem Herzchen und einem Anker als Anhänger tauchte nicht wieder auf.

Gedanklich sprang ich zurück an den Ort, an dem ich es zum letzten Mal gesehen oder es in der Hand gehalten hatte. Wenn ich nur wüsste, wo das gewesen war! Der Blick von hier oben war einfach fantastisch und lenkte mich immer wieder ab, meine Gedanken schweiften in die Ferne. Wieder kam eine Norderneyfähre in Sicht, die den Hafen ›meiner Insel‹ ansteuerte und neue Feriengäste lieferte.

 

»Na Mädchen, haste was verloren?«, fragte mich ein älteres Ehepaar vom Nebentisch, das interessiert zu mir herüberschaute und den Inhalt meines Beutels in Augenschein nahm.

»Mein Herz«, murmelte ich mit zittriger Stimme. »Mein Herz und meinen Anker habe ich verloren. Verschwunden, einfach weg!« Ich rutschte unter den Tisch, verscheuchte die Spatzen, die sich an den Krümeln labten und machte mich auf einen dummen Kommentar des Paares gefasst. Belustigt schauten sich die beiden an und sahen dabei so aus, als ob sie sich wortlos verstehen würden.

»Nee, junge Frau, dabei können wir leider nicht behilflich sein. Ein verlorenes Herz kann man nur selbst wiederfinden. Da kannste nur hoffen, dass es in gute Hände gefallen ist.« Sie sah ihrem Mann verliebt in die Augen, er hatte den Arm um sie gelegt und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange.

Leise raunte er ihr zu: »Ich glaube, wir müssen jetzt mal los.« Die beiden nickten mir freundlich zu, beäugten noch einmal meine Habseligkeiten und zahlten. Beim Aufstehen beugte sich der Mann zu mir herüber und gab mir mit einem Augenzwinkern einen letzten wohlgemeinten Rat:

»Mädchen, denk an den Finderlohn! Wenn sich derjenige meldet, der es gefunden hat, dann sei großzügig. Aber sieh ihn dir genau an, und dann finde heraus, ob er auch wirklich gut mit deinem Herzchen umgegangen ist! Viel Glück, wir drücken dir die Daumen.« Der ältere Mann sagte noch etwas, das ging jedoch im Brummen meines Handys unter.

»Danke, Glück kann ich brauchen«, murmelte ich und dachte an meine Oma Melli, von der ich das Kettchen zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt bekam. Seitdem war es mein Glücksbringer, den ich Tag und Nacht bei mir trug. ›Und denk immer dran, sagte sie feierlich, als sie es mir um den Hals legte, ›da wo dein Herz ist, wird auch dein Anker sein.‹ Das war ausnahmsweise keiner von ihren gern zitierten Sprüchen.

Mein Handy brummte noch immer und wie von Geisterhand ploppte ein Foto meiner Kette auf dem Display auf.

 

He! Liebste Julie‹, las ich die knappe Begrüßung, die auf Norderney bei den Einheimischen üblich war. ›Vermisst du etwas? Vermisst du mich? Würde mich nicht wundern, nach unserem letzten Wochenende. Würde mich sogar riesig freuen, wenn es so wäre. Dein Chatzchen.‹ Dahinter ein knutschender Smiley. Genau! So musste es gewesen sein. Sven hatte mein Herz geklaut.

Mein Hang zur Romantik knallte nun wieder einmal voll dazwischen, als ich das las. Nicht mehr in Rosarot oder Himmelblau, sondern in einem leuchtenden Sanddornorange, das viel kraftvoller und gefährlicher war, als alles andere und das meinen Vorsatz, nie wieder mein Herz zu verschenken, gefährlich ins Wanken brachte. Liebste hatte Sven geschrieben! Mein Herz jubilierte, es hüpfte in meiner Brust und die Seepferdchen in meinem Bauch tanzten, je länger ich seine Worte ansah. Und außerdem redete er mich mit Julie an, so wie es meine Oma früher getan hatte.

Zum Ärger der Möwe stopfte ich meine Sachen schnell wieder in meine Tasche, nippte an dem inzwischen lauwarmen Kaffee à la Heinrich Heine und schrieb eine Antwort.

 

He! Sven, wieso meldest du dich denn jetzt erst? Wo hast du meine Kette gefunden??? Habe es gerade eben erst gemerkt, dass sie verschwunden ist. Bin voll in Panik! Du, ich muss sie unbedingt sofort zurückhaben!!!

 

Die blauen Häkchen hinter der Nachricht zeigten an, dass er sie gelesen hatte. Wieso ließ er sich nun so lange Zeit mit einer Antwort? Dieser Mann machte mich noch verrückt.

Was ist los? Weshalb antwortest du denn nicht?

 

Liebste Julie, deine nervige Angewohnheit, eine Frage immer mit einer Gegenfrage zu beantworten, macht mich wahnsinnig. Bei sowas schalte ich automatisch auf stur. Sorry!

 

Ach ja, das war es also! Darüber hatten wir schon einmal gesprochen. Es stimmte, er hatte vollkommen Recht. Diese Gewohnheit gehörte zu meinen kleinen Macken, die ihn nervte. Eine andere war mein Tick für To-do- und sonstige Listen, sowie meine Schwäche für Sanddorn in sämtlichen Variationen. Außer in Zahnpasta.

 

Ach Sven, das war doch keine böse Absicht. Aber um auf deine Fragen zurückzukommen, ja, ich vermisse mein Herz und meinen Anker. Und dich??? – Ja, auch dich! Manchmal, ein kleines bisschen (wenn ich mal Zeit dazu habe). In der Therme ist irre viel zu tun, da komme ich kaum zum Nachdenken und zum Vermissen. Du weißt ja, was in der Ferienzeit los ist, wir sind total ausgebucht. Aber nun sag schon, wo war mein Kettchen? Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass ich es überhaupt abgelegt habe. Du hast es mir heimlich abgenommen, nicht wahr? Sei ehrlich, gib’s zu!

 

Was glaubst du denn, wo ich es gefunden haben könnte? Grins! In meinem Bett!!! Du scheinst deine Sachen gern unter Decken und Bettzeug zu entsorgen.

 

??? Was soll das denn heißen?

 

Wieder blickte ich einer Fähre hinterher. Die Luft wirkte milchigblau und die Farben des Meeres und des Himmels verschwammen weich ineinander. Die feine Horizontlinie, die sonst messerscharf alles trennte, war nicht mehr auszumachen und die Nachbarinsel Juist lag wie ein heller Streifen ohne Konturen vor mir. Das Licht war auf eine unwirkliche Art weich und sanft und das sandfarbene Beige des Strandes schmiegte sich in die Blautöne. Zwischen all diesen Nuancen glitt lautlos ein weißes Schiff, die Frisia, vorüber.

Es war, als wäre ich in einer anderen Welt, in einem Traum. Und wieder einmal wurde mir mit glückseligem Gefühl bewusst, dass ich meinen Traum lebte. Hier, auf Norderney, dieser wunderbaren Insel, auf der ich für immer bleiben wollte und auf der ich sesshaft werden konnte, wenn meine dreimonatige Probezeit übermorgen endete. Trude, meine Chefin, machte mir Hoffnung, ich sollte mir deswegen man keine Sorgen machen.

Eine weitere Nachricht weckte mich aus meinen Tagträumen.

 

Och ..., ich denke da nur an ein kleines Stückchen Goldpapier in einem gewissen Ferienhaus in Ostfriesland. Schönen Gruß an Frau Tula!

 

Musste er mich ausgerechnet jetzt daran erinnern! Den Vorfall und auch die Frau, die unter dem Nickname Tula im Internet nach Männern für gewisse Stunden gesucht hatte, gab es nicht mehr. Sie passte nicht mehr in mein Leben.

Blödmann! Lauf du mir noch einmal über den Weg, mein lieber Prinz G., schrieb ich empört und wählte seine Nummer. Manche Dinge lassen sich nun mal besser im persönlichen Gespräch klären.

Ich blickte über die Schulter, ob ich ungestört war. Am Nachbartisch saßen längst neue Gäste und das Stimmengemurmel, das Lachen und das Klappern des Geschirrs hielten mich dann doch von meinem Vorhaben ab. Stattdessen schrieb ich Sven, ich würde mich später melden und bestellte einen zweiten Kaffee, diesmal allerdings ohne Schuss.

Da hatte ich ja noch mal Glück im Unglück gehabt! Wenn ich mein Kettchen irgendwo am Strand verloren hätte, dann ... Ich mochte es mir nicht ausmalen. Das war Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet mir so etwas passieren musste! Nie wieder wollte ich mein Herz verschenken. Und was war jetzt? Oma Melli hätte ihre Freude daran gehabt und wissend gelächelt. Mein Chatzchen Sven wäre ein Mann nach ihrem Geschmack gewesen, zumindest besser als Lucas, der mich kurz vor unserer Hochzeit eiskalt abservierte und sich ein Leben mit einer hoffnungslosen Romantikerin nicht vorstellen konnte. Sie mochte ihn von Anfang an nicht, aber das sagte sie nie, sie zeigte es auch nicht, trotzdem konnte ich es spüren. Mit ihrer Vermutung, dass wir nicht zueinander passen, behielt sie Recht und vielleicht traf es auch zu, dass es nicht nur die eine große Liebe im Leben gibt.

 

Der Schuss Sanddornlikör im Kaffee machte sich bemerkbar, als ich aufstand und den schmalen Weg hinunterlief. Vor dem Historischen Schaufenster Nr. 19 blieb ich stehen und sah mir die Abbildung, welche die Marienhöhe um 1900 zeigte, näher an. Sie sah darauf aus wie eine Wanderhütte auf einem Hügel. Mein Wissen beschränkte sich darauf, dass König Georg der V. die Hütte seinerzeit erbauen ließ und sie nach seiner geliebten Frau Marie benannte. Er hatte Norderney zu seiner Sommerresidenz erklärt und dort einiges bewirkt. Wenn das nicht voll romantisch war!

 

Ich nahm das Handy, wählte Svens Nummer, das Freizeichen ging raus und nach dem ersten Ton hatte ich ihn in der Leitung. Auf der gegenüberliegenden Rasenfläche hoppelten etliche Kaninchen fröhlich umher und zeigten keine Spur von Angst.

»Hallo Julie, schön dich zu hören«, sagte er, als ob er neben mir stände. Seine tiefe, wohlklingende Stimme gab mir ein warmes, wohliges Gefühl, sie zog mich schon bei unserem allerersten Telefonat in ihren Bann.

»Hallo Sven«, rief ich so laut, als ob er schwerhörig wäre. Eine Gruppe Radfahrer zog schnaufend und laut klingelnd unten an mir vorbei. »Du glaubst gar nicht, wie froh ich bin, dass du meine Kette gefunden hast. Du musst sie mir schnellstens vorbeibringen! Bitte! Sie ist mein Glücksbringer, ohne sie geht garantiert etwas schief. Ich habe Angst, dass das mit dem unbefristeten Vertrag sonst nichts wird. Bitte Sven! So schnell wie möglich, ja?«

Noch während ich sprach, schickte ich eine Bestellung ans Universum. Ich wünschte mir, er möge mit JA antworten und juchzte, als er tatsächlich JA sagte. Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr. Als er mir ausführlich erklärte, dass ›schnellstmöglich‹ frühestens am übernächsten Wochenende sein würde, zuckte ich zusammen. Dann erst konnte er rüberkommen und freute sich auf ein Event an der Milchbar, das dann stattfinden sollte.

»Liebe Julie, ich würde wahnsinnig gern früher vorbeikommen, aber es geht wirklich nicht. Ich krieg’s beim besten Willen nicht dazwischen. Ich kann dir die Kette doch per Post schicken, dann hast du sie spätestens übermorgen.«

»Bist du sicher, dass die so schnell sind? Darauf möchte ich nicht vertrauen, außerdem könnte sie verloren gehen. Kann ich denn sonst nicht vorbeikommen und sie abholen, ich habe Sonntag einen freien Tag?«

»Jetzt Sonntag?« Sekundenlange Stille in der Leitung. Das machte mich ganz kribbelig. Musste er etwa erst in seinen Terminkalender schauen? »Das lässt dir ja wirklich keine Ruhe, aber das ist doch viel zu aufwendig, dafür extra anzureisen.«

»Ich schaue mal in den Fahrplan, ob ich mit der Bahn kommen kann. Meppen hat doch einen eigenen Bahnhof, oder?«

»Natürlich! Was glaubst du denn? Das ist kein kleines Kuhdorf am Ende der Welt«, lachte er. Ich stellte mir vor, wie sich die Falten um seine Augen dabei zusammenzogen und aussahen wie Sonnenstrahlen einer Kinderzeichnung. Jede einzelne Falte hatte ich in jener Nacht mit dem Finger und mit meinen Lippen liebkost, bevor ich in seinen Armen versank.

»Sven?«

»Ja?«

»Ziehst du eines deiner schönen Hemden an, wenn ich vorbeikomme? Das mit den Rosen darauf?« Ich musste ein wenig angeheitert sein, solch alberne Fragen stellte ich normalerweise nie. Nur seinem Hemd verdankte er es im Übrigen, dass er bei unserer ersten Begegnung nicht sofort in der Schublade unter ›Ferner liefen‹ landete.

»Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden. Kannst du es noch einmal wiederholen?«

Mit Sicherheit nicht, ich hatte sowieso den starken Verdacht, dass Sven sich köstlich über mich amüsierte. »Blödmann! Du hast mich sehr gut verstanden. Also, ich schau mal nach den Zugverbindungen und melde mich dann. Tschüss, mein Prinz.« Seine lachenden Abschiedsworte und irgendwas mit Rosen klang mir noch in den Ohren, als ich auflegte.

 

Als ich zurück in meinem Appartement war, musste ich erstmal etwas essen. Hier auf der Insel hatte ich ständig Hunger. Die Dose Ravioli in meinem Vorrat interessierte mich nicht. Die einzige Alternative waren Kartoffeln, aus denen schon zentimeterlange Keime wuchsen. Also gab es heute Pellkartoffeln mit Kräuterquark und ich garnierte das Ganze mit einem scharfen Radieschen. Gesund und günstig war das und satt wurde ich auch davon.

Ein Sanddornhappen als Nachtisch wäre jetzt gut. Omas Traumfänger baumelte über den süßen Sünden, die auf der Fensterbank aufgereiht lagen und mir die Wartezeit bis zum nächsten Date mit Sven versüßen sollten. Nach seiner Abreise hatte ich mir einen größeren Vorrat zugelegt. An jedem Wochenende wollte ich mir einen davon gönnen, bis wir uns in den Herbstferien wiedersahen. Mit keinem Sterbenswörtchen hatte Sven erwähnt, dass er zwischendurch noch einmal auf der Insel sein würde. Oder hatte ich das überhört? Irgendwie brachte er alles durcheinander.

Die Kartoffeln blubberten auf dem Herd vor sich hin, während ich die Bahnverbindung von Norddeich-Mole nach Meppen checkte. Diese Fahrt dauerte schon allein zwei Stunden und dann kam noch eine Stunde Fahrzeit für die Fähre dazu. Drei Stunden unterwegs für nur eine Strecke, das war mir definitiv zu viel.

Wie konnte ich ihn bloß davon überzeugen, dass er sich umgehend auf den Weg zu mir machen sollte? Männer um den Finger wickeln, das konnte ich normalerweise gut. Bei Sven war ich mir allerdings nicht so sicher, er konnte ganz schön eigensinnig sein. Ich schickte ihm eine Nachricht mit der bestmöglichen Bahnverbindung und zermarterte mir das Hirn, wie ich bis Montag an meinen Glücksbringer kommen konnte. Mir fiel nichts ein und so ging ich noch einmal runter zur Strandpromenade, an der Milchbar vorbei in Richtung Nordstrand. In dem Abschnitt wollte ich nach Strandkorb Nr. 213, den meine Oma in ihrem Brief erwähnt hatte, Ausschau halten.

 

***

 

An der Kaiserwiese ging ich vorbei, sah mir die blauweiß gestreiften Strandkörbe an und schmunzelte, weil sie so akkurat aufgereiht nebeneinanderstanden. Holzgitter sorgten dafür, dass sich kein Unbefugter hineinsetzen konnte. Dieser Strandabschnitt war bestimmt nicht der richtige, auch wenn ein Korb mit der Nummer 213 dabei war. Das hätte nicht zu meiner Oma gepasst. Meine Suchaktion geriet ganz schön durcheinander, als ich herausfand, dass die Nummern nicht einmalig waren, sondern mehrfach vergeben wurden.

Auch etliche Liebesschlösser, die an versteckten Stellen angebracht waren, fielen mir auf. Mein Faible für diese Art von Liebesbekundungen war noch intensiver geworden, seit ich das Liebesschloss von Oma Melli entdeckt hatte. Seitdem fielen sie mir sofort ins Auge. Damals, es kam mir schon vor wie eine Ewigkeit, als ich mit Sack und Pack auf die Insel fuhr, gehörte auch so ein Teil zu meinem Reisegepäck dazu. Doch das schlummerte inzwischen auf dem Meeresgrund und den Fischen war es egal, was es mit den eingravierten Namen ›Lucas & Marie‹ auf sich hatte.

Auf meinem Weg stolperte ich über eine sandige grüne Flasche. Ich sah sie mir näher an, sie war mit einem Schraubverschluss fest verschlossen. Gestrandet, angespült von dem auflaufenden Wasser, wie man hier zur Flut sagte. Gedankenverloren wischte ich den Sand ab. Wie viele Flaschen, mit einem kleinen Gruß und mit meiner Adresse darin, hatte ich schon ins Meer hinausgeschickt? Mit jeder neuen Flaschenpost schickte ich Träume in die Welt, hoffte, dass sie gefunden würde. Leider war das ein Traum geblieben. Auch diese Flasche barg kein Geheimnis in sich. Mit Schwung warf ich sie zurück in die Nordsee, die sie mir trotzig mit jeder Flutwelle wieder vor die Füße spülte.

Als ich mich erneut danach bückte, fiel mir der Nachname meines Freundes aus Kindertagen wieder ein. Tiemann hieß er, Sebastian Tiemann! Wir hatten in den Ferien Drachen steigen lassen und streiften durch die Gegend, während meine Oma und sein Vater die Strandkörbe hüteten.

Am Riffkieker und dem Surfcafé, das direkt nebenan war, sowie am Cornelius war ich längst vorbei und hielt nach einem freien Strandkorb Ausschau. Die Nummer war mir jetzt egal. In den nächsten Tagen wollte ich weitersuchen, dann jedoch bei der Weißen Düne. Ich war mir sicher, dass in dem Strandabschnitt der richtige Strandkorb stehen musste.

Der Wind hatte inzwischen aufgefrischt, doch im Schutz des Strandkorbs merkte ich nicht viel davon. Ich legte meine Füße auf die Ablage und holte den Inselkrimi, den mir eine Kundin geschenkt hatte, aus meinem Beutel. Das Titelbild zeigte ein Foto von der Milchbar in ihrem schönsten Licht. Seit jenem Abend mit Sven verband ich das Lokal mit romantischen Erinnerungen. Ich hatte den Klappentext noch nicht bis zum Ende gelesen, als sich mein Handy meldete und der Mann, an den ich immer öfter dachte, mir eine Nachricht schickte.

 

He! Julie, ich habe eine Idee, damit es nicht ganz so stressig wird für dich. Was hältst du davon, wenn wir uns in Leer oder in Emden treffen, zwecks Übergabe? Oder meinetwegen auch in Norddeich? Oder willst du dir unbedingt mein Haus ansehen? Sanddornkuss - Dein Sven.

 

He! Sven-Gabriel, wie kommst du denn auf die Idee? Glaubst du wirklich, es ist mir so wichtig zu sehen, wie du wohnst? Momentan will ich nur mein Herz und meinen Anker zurückhaben. Am besten bis übermorgen. Kannst du dir nicht doch noch etwas einfallen lassen?

 

Rein praktisch war das unmöglich, das wusste ich, doch im Stillen hoffte ich auf ein Wunder. Svens Vorschlag gefiel mir dennoch gut, ich konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Wir verabredeten uns also für den nächsten Sonntag in Emden an der Kunsthalle. Kette, Kultur und Kuss, dachte ich schmunzelnd, tolles Unterhaltungsprogramm.

 

2. Kapitel

Den Krimi packte ich ungelesen wieder ein und überflog zum wiederholten Male Omas Brief. Das Original hatte ich zuhause gelassen, ich hatte ihn mit dem Smartphone abfotografiert. Auf diese Weise trug ich ihn immer bei mir und konnte ihn jederzeit ansehen. Schließlich wollte ich nicht, dass dieses geheimnisumwobene Schreiben vom Winde verweht oder von der salzhaltigen Luft zerfressen wird. Der Inhalt beschäftigte mich mehr, als mir lieb war und ich war besessen von der Idee, dem Zauber dieser Liebe auf die Spur zu kommen. Ob der Mann überhaupt noch lebte?

 

Im Telefonbuch suchte ich nach Sebastian Tiemann und fand, wie nicht anders erwartet, etliche Einträge unter dem Namen. Natürlich war es auch möglich, dass Sebastian inzwischen woanders lebte, oder dass er geheiratet und den Namen seiner Frau angenommen hatte. Ich probierte mein Glück auf Facebook, aber das brachte mich auch nicht weiter, jedenfalls nicht, wenn ich seinen richtigen Namen eingab.

Fieberhaft überlegte ich, unter welchen Namen er noch angemeldet sein könnte, mir fiel sein Spitzname einfach nicht ein. Schluss für heute, dachte ich und bummelte über die Strandpromenade zurück nach Hause. Es waren noch immer viele Leute unterwegs, die sich das Programm der Summertime Norderney ansahen. Tolle Konzerte mit namhaften Künstlern, die seit Wochen ausverkauft waren und dazu ein Rahmenprogramm mit den unterschiedlichsten sportlichen Aktivitäten lockten besonders viele Touristen an.

Jogger überholten mich, auf den Parkbänken saßen aufs Meer schauende Paare, und auf den weißen Straßenlaternen, welche die Promenade säumten, putzten sich die Möwen für die Nacht. Zwischen Stimmengewirr und Musik rauschte das Meer im Hintergrund.

Ein Großteil der Urlauber wurde in diesen Tagen zu Nachtschwärmern, die die Lokale im Ortskern unsicher machten und erst in den frühen Morgenstunden den Weg ins Bett fanden. Ich gewöhnte mich nur langsam daran, dass die Insel von donnerstags bis sonntags unzählige Feiertrüppchen beherbergte.

An der Milchbar gesellte ich mich zu den Schaulustigen, die andächtig zusahen, wie die Sonne unterging und langsam ins Meer eintauchte. Mit gezückten Handys standen die meisten da und fotografierten alle paar Sekunden aufs Neue. Auf diese Weise versuchten sie, die Schönheit des Augenblicks festzuhalten, um sich zuhause immer wieder daran erfreuen zu können. Im Gegensatz zu den Urlaubsgästen hielt ich weder einen Cocktail noch ein Handy in der Hand. Ich musste am nächsten Tag früh raus und vor meinem Dienstbeginn wollte ich das sommerliche Hoch für eine Joggingrunde nutzen.

»Hallo, meine Goldmarie«, hörte ich die nervigste Stimme, die ich kannte, während ich träumend das Farbenspiel am Abendhimmel verfolgte und mit meinen Gedanken bei Sven war. Ich tat so, als ob ich den Typ nicht gehört hätte, doch plötzlich lagen seine Hände auf meinen Schultern und er drehte mich zu sich herum.

»Hey David, nimm deine Finger da weg!«, zischte ich wütend und schüttelte den smarten Typ ab, der sich neuerdings Termine für Wellnessmassagen bei mir geben ließ, nur um mir nahe zu sein. Ich musste unbedingt mal mit meiner Chefin darüber reden. Trude sollte dafür sorgen, dass David König künftig nicht von mir, sondern von einer Kollegin, oder besser noch von einem Kollegen behandelt wird.

»So früh schon ins Bett? Allein??? Einen ausgiebigen Schönheitsschlaf hast du doch gar nicht nötig, meine Süße. Du wirst von Tag zu Tag hübscher. Morgen früh darfst du mir dein Geheimnis verraten, wir beide haben einen Termin.« Wenn er nicht so anzüglich dabei gegrinst hätte, hätte ich mich wirklich über das dick aufgetragene Kompliment gefreut, trotz seiner schrillen Stimme.

»Na dann, bis morgen«, verabschiedete ich mich freundlich und bewunderte mich selbst dafür. Unter der Rubrik ›Wieder eine gute Tat‹ hakte ich die Unterhaltung mit David ab. Er konnte ja nichts für seine Stimme und vielleicht steckte hinter diesem Mann, der von Hause aus Söhnchen war, ein wirklich netter Kerl. Mir stand allerdings nicht der Sinn danach, das herauszufinden. Das überließ ich gern einer anderen. Auf jeden Pott passt ein Deckel, pflegte meine Oma zu sagen und bei diesem Pott konnte ich mir nur einen ordentlich scheppernden Deckel vorstellen. Ich sollte mich mal in meinem Bekanntenkreis umsehen, ob sich da jemand für ihn finden ließ.

 

***

 

Schon von weitem entdeckte ich David am folgenden Tag in der Wartezone unseres Wellnessbereichs. Schlickpackung! Oh nein, das durfte nicht wahr sein. Trude sah mich mitleidig an, als ich sie fragte, ob wir nicht tauschen könnten. Leider ließ sich das so kurzfristig nicht mehr ändern, aber bei seinen weiteren Terminen wollte sie sich was einfallen lassen. »Schöner Sch ...«, rutschte es mir beinahe heraus. Im letzten Moment machte ich dann daraus »Schöner Schlick!«

»Und wenn er aufdringlich wird, dann nimm die Trillerpfeife, dann bin ich sofort da, mit einem Eimer Eiswasser.« Mit diesen Worten drückte sie mir etwas in die Hand und schob mich in Richtung Schlickpackung.

 

»He! Goldmarie!«, schnarrte er und baute sich in seinem weißen Bademantel vor mir auf. Er grinste, spielte mit den Enden des Frotteegürtels und ich befürchtete, dass er sich hier im Flur vor mir entblößen wollte. Dem kam ich zuvor, öffnete die Tür zur Kabine und schob David hinein.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte ich gewohnheitsmäßig. Das Schwebebad war vorbereitet, der Norderneyer Schlick stand bereit und bei David stand auch etwas, als er den Bademantel öffnete und sich mir in voller Schönheit präsentierte.

»Jepp! Dann lass uns mal so richtig schmutzige Sachen machen!« Seine Stimme vermischte sich zu allem Überfluss mit kleinen Kieksern. Oh, mein Gott! Ich hatte es geahnt. Meine Hand wanderte in die Hosentasche. Sollte ich sofort zur Trillerpfeife greifen? In meinem Job bekam ich jede Menge nackte Männer zu sehen, das konnte mich normalerweise nicht schockieren. Aufmunternd sah er mich an und zeigte mit einem teuflischen Grinsen auf sein bestes Stück. »Na komm schon, ich habe für eine Wellnessbehandlung bezahlt, jetzt will ich auch etwas dafür haben.«

»Das bekommst du auch! Ganz, ganz schlimme und schmutzige Sachen werde ich mit dir machen«, ging ich auf seinen Wunsch ein und zeigte mit strengem Blick auf die Liege. »Setz dich da hin, mit dem Rücken zu mir.«

Ich merkte, wie mein Tonfall sich veränderte. Für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in die Rolle der geheimnisvollen Verführerin, die ich noch bis vor ein paar Monaten gespielt hatte. Doch Tula, so nannte ich mich im Netz, gab’s seit meinem Treffen mit Sven, bei dem ich eine Riesendummheit begangen hatte, nicht mehr. Die Rolle der Chatroom-Queen, die den Männern ihre verborgenen Wünsche erfüllt, hatte ich abgelegt, die passte nicht mehr zu mir. Im Grunde genommen hatte sie nie zu mir gepasst.

Routiniert griff ich in die warme Masse, klatschte den Schlamm nicht gerade liebevoll auf Davids Rücken und verteilte ihn so, wie ich es gelernt hatte. Als seine Vorderseite an der Reihe war, forderte ich ihn auf, den Bereich abwärts des Nabels selbst mit der schwarzen Masse einzuschmieren.

»Hey Marie, das ist doch dein Job«, stöhnte er, begann aber auf der Stelle damit, als er meinem strengen Blick begegnete. »Keine Widerrede! Und um den da unten kümmern wir uns nachher, wenn du schön entspannt bist. Ich hoffe, er beruhigt sich wieder.«

»Du machst es aber richtig spannend! Wusste doch, dass du nicht so harmlos bist, wie du aussiehst.«

»Ganz recht, du wirst es schon noch merken. So, und nun leg dich hin. Ich dimme das Licht, damit es für dich angenehm und gemütlich ist und stelle ein wenig Musik an.«

»Oh ... ja ...! Marie, du weißt, was gut ist.«

»Psst, nicht sprechen, einfach nur schweben, den Schlick auf deiner Haut wirken lassen und ein wenig träumen. Ich bin in zwanzig Minuten wieder bei dir.« Zum Abschluss erklärte ich ihm den Notfallknopf und war froh, als ich die Tür hinter mir schließen konnte. Das war ja noch einmal gut gegangen. Bis jetzt zumindest.

»Alles okay?«, fragte Trude besorgt, als ich mit hörbarem Schnaufen in unseren Wäscheraum eilte.

»Der Typ schafft mich! Schmutzige Sachen will er mit mir machen, hat er mir eröffnet, als er den Bademantel öffnete und mir sein einsatzbereites Prachtstück präsentierte.«

»Ja, ja! Wir machen den lieben langen Tag nichts anderes als schmutzige Sachen«, kicherte meine Chefin nun. »Der Norderneyer Meeresschlick sieht ein bisschen dreckig aus, und das, obwohl er im Grunde vollkommen sauber ist. Soll ich ihn gleich abbrausen? Oder wirst du mit der Situation fertig?« Prüfend sah sie mich an. Noch bevor ich antworten konnte, ertönte der Notruf, und die rote Lampe an Davids Kabine blinkte.

»Ich kümmere mich um den Notfall!« Eiligen Schrittes huschte sie zu der Kabine und gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen. Ich blieb an der Tür stehen, die Trude schwungvoll öffnete.

»Es ist ein Notfall, ich glaube ER ...«, dabei zeigte David auf seine Mitte, »... verträgt den Schlick nicht.« Mit geschlossenen Augen und entrückten Gesichtszügen deutete er auf die betroffene Stelle. Trude reagierte sofort, holte den Brauseschlauch, mit dem die Kunden nach der Schlickpackung gereinigt werden, drehte auf und zielte mit dem kalten Wasser auf den heißen Notfall.

Für einen Moment herrschte Totenstille, nur das gleichmäßige Plätschern war zu hören, dann ein Schrei, bei dem Davids Stimme sich zu weiteren Höhen emporschwang.

»Spinnst du?«, japste er nach Luft ringend, riss die Augen weit auf und schoss empor.

»Nun mal schön ruhig, junger Mann«, beschwichtigte Trude, stellte das Wasser ab und baute sich, mit vor der Brust verschränkten Armen, vor dem bedürftigen Kerl auf.

»Das war definitiv ein Notfall, allerdings für Marie. Ich nenne das sexuelle Belästigung, diese Nummer, die Sie gerade abgezogen haben, und so etwas dulden wir hier nicht. Sie, lieber David König, werden in dieser Saison bei uns keinen Termin mehr bekommen! Nur, damit das mal klar ist. Daran kann auch Ihr Herr Vater nichts ändern, auch kein noch so großzügiges Trinkgeld, oder eine Spende.«

Dermaßen aufgebracht hatte ich Trude bisher nicht erlebt, sie kam immer mehr in Fahrt.

»Sie können froh sein, wenn ich den Notfall nicht der Direktion melde und stattdessen Stillschweigen darüber bewahre.«

»Aber ..., das dürfen Sie doch gar nicht!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor und legte seine Hand schamhaft auf die Stelle, die sich jetzt im Gegensatz zu seinem restlichen Körper weiß aus der Schlammfarbe abhob.

»Und ob ich das darf! Ich leite diese Abteilung und ich bin durchaus befugt, Hausverbot zu erteilen, wenn sich jemand nicht anständig benimmt.«

Obwohl ich draußen vor der angelehnten Tür wartete, stand auch ich stramm. Man sollte sich besser nicht mit ihr anlegen, das wurde mir wieder einmal klar.

»So, und nun raus aus dem Schwebebad. Stellen Sie sich da drüben hin, damit wir den restlichen Schlick jetzt abwaschen können.« Sie dirigierte den schwarz-gescheckten Kerl in die Ecke, in der die Dusche angebracht war und fragte in einem Ton, als ob nichts gewesen wäre, ob das Wasser etwas temperiert sein dürfte, bevor sie wieder ans Werk ging.

»Und schmutzige Sachen werden hier grundsätzlich nicht gemacht, mein Lieber. Nicht einmal der Schlick ist schmutzig, selbst der wird vor der

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: © Rita Roth
Bildmaterialien: Bildmaterial: https://de.fotolia.com/id/175048309, https://de.fotolia.com/id/116638992, https://de.fotolia.com/id/93381801
Cover: Covergestaltung: Chris Gilcher - http://buchcoverdesign.de
Lektorat: Textcheck Agency, Michaela Marwich
Tag der Veröffentlichung: 24.10.2017
ISBN: 978-3-7438-3793-5

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Widmung:
Meer! Was will ich mehr?

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