Atme. Meine Augen schwollen an, als ich versuchte zu schlucken. Ein dicker Kloß steckte in meinem Hals. Frustriert von meiner Schwäche, wischte ich mit dem Handrücken die Tränen weg, die sich einen Weg über meine Wangen gebahnt hatten. Ich konnte nicht länger darüber nachdenken - sonst würde es mich zerreißen.
Ich sah mich in dem Zimmer um, das zwar meines war, zu dem ich aber keine rechte Beziehnung hatte - ein gebrauchter Schreibtisch an der Wand, ein nicht dazu passender Stuhl, daneben ein dreistöckiges Bücherregal, das schon zu viele Jahre in zu vielen verschiedenen Wohnungen verbracht hatte. Kahle Wände ohne Bilder. Kein Hinweis, wer ich früher einmal gewesen war, bevor ich hier wohnte. Nur ein Ort, an dem ich mich verstecken konnte - vor dem Schmerz, vor den wütenden Blicken und den bissigen Bemerkungen.
Warum war ich hier? Ich kannte die Antwort. Es gab keine andere Wahl; es war ein Muss. Ich konnte nirgendwo sonst unterkommen, und sie konnten sich nicht weigern, mich aufzunehmen. Sie waren meine einzige Familie, und ich war nicht dankbar dafür.
Ich lag auf dem Bett und versuchte, mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Als ich nach dem Mathebuch greifen wollte, zuckte ich zusammen. Unglaublich, dass meine Schulter jetzt schon so weh tat. Na toll! Dann musste ich diese Woche wohl schon wieder mit langen Ärmeln rumlaufen.
Der stechende Schmerz in meiner Schulter rief scheußliche Bilder in meinem Kopf wach. Wut kochte in mir hoch, und ich biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knischten. Dann holte ich tief Luft und ließ mich von einem dumpfen Schwall Nichts einhüllen. Die Gefühle mussten verschwinden, also zwang ich mich, meine volle Aufmerksamkeit den Hausaufgaben zuzuwenden.
Ein leises Klopfen weckte mich. Ich stütze mich auf die Ellbogen und versuchte mich in dem dunklen Zimmer zu orientieren. Eine Stunde hatte ich mindestens geschlafen, obwohl ich mich überhaupt nicht daran erinnern konnte, eingedöst zu sein.
"Ja?", antwortete ich, alles Weitere blieb mir im Hals stecken.
"Emma?", rief ein dünnes, vorsichtiges Stimmchen, und langsam öffnete sich meine Tür.
"Du kannst ruhig reinkommen, Jack." Obwohl ich mich so mies fühlte, bemühte ich mich, freundlich zu klingen.
Die hand noch fest am Türgriff, steckte er den Kopf herein - er überragte den Griff kaum.
Mit seinen großen braunen Augen sah Jack sich im Zimmer um, bis unsere Blicke sich trafen - ich wusste, er hatte Angst vor dem, was er hier vorfinden könnte. Erleichtert lächelte er mich an. Für einen Sechsjährigen wusste er schon viel zu viel.
"Das Abendessen ist fertig", sagte er uns senkte die Augen. Mir war klar, dass er mir die Nachricht nicht gern überbrachte.
"BIn gleich da", antwortete ich und lächelte ihm aufmunternd zu, so dass er einigermaßen beruhigt zu den Stimmen im anderen Raum zurückkehrte. Aus dem Esszimmer hörte ich Geschirrgeklapper und Leylas aufgeregte Stimme. Hätte ein Unbeteiligter die Szene beobachtet, wäre er mit Sicherheit davon ausgegangen, dass hier eine amerikanische Bilderbuckfamile dabei war, zum gemeinsamen Abendessen Platz zu nehmen.
Doch das Bild veränderte sich schlagartig, als ich aus meinem Zimmer kam. Ich war der Schandfleck auf ihrem Familienporträt, ein grässlicher Misston, meine bloße Existenz machte alles zunichte. Sofort lag Streit in der Luft. Noch einmal atmete ich tief ein und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich es überstehen würde. Es war doch nur ein Abend wie jeder andere, oder etwa nicht? Aber genau das war ja das Problem.
Langsam ging ich den Flur hinunter und trat in das hell erleuchtete Esszimmer. Als ich die Schwelle überschritt, wurde mir flau im Magen, und ich hielt den Blick auf meine nervös ineinander verflochtenen Finger gerichtet. Zu meiner Erleichterung bemerkte mich niemand.
"Emma!", rief Leyla einen Moment später und rannte auf mich zu. Als ich mich zu ihr hinabbeugte, umarmte sie mich so fest, dass mir der Schmerz in den Arm schoss und ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken konnte.
"Hab ich dir schon das Bild gezeigt, das ich heute gemalt habe?", fragte sie mich und zeigte stolz auf ihr rosa und gelbes Gekritzel. Ich spürte einen stechenden Blick im Rücken und wusste, wenn es ein Messer gewesen wäre, hätte es mich augenblicklich außer Gefecht gesetzt.
"Mom,hast du meinen Tyrannosaurus Rex gesehen?", hörte ich Jack fragen, der offensichtlich versuchte, seine Mutter von mir abzulenken.
"Großartig, Schätzchen", lobte sie ihn und wandte seinen Zeichenkünsten ihre volle Aufmerksamkeit zu.
"Das ist ein wunderschönes Bild", sagte ich leise zu Leyla und schaute in ihre strahlend braunen Augen. "Magst du dich vielleicht schon an den Esstisch setzen?"
"Okay", stimmte sie mir zu, nicht ahnend, dass ihre liebevolle Geste für zusätzliche Spannung gesorgt hatte. Wie sollte sie auch? SIe war vier Jahre alt, ich war für sie die große Cousine, die sie vergötterte, und sie für mich die Sonne in diesem dunklen Haus. Niemals hätte ich ihr Vorwürfe dafür machen können, dass ihre Zuneigung mir zusätzlichen Ärger einbrockte.
Das Gespräch wurde lebhafter, die Aufmerksamkeit wandte sich von mir ab. Nachdem alle anderen sich bedient hatten, nahm ich mir etwas von dem Brathähnchen mit Erbsenund Kartoffeln. Da ich spürte, dass jede meiner Bewegungenprüfend beobachtet wurde,konzentrierte ich mich beim Essenausschließlich auf meinen Teller. Obwohl ich bei weitem nicht satt wurde, wagte ich es nicht, mir noch etwas zu nehmen.
Ich überhörte die Worte, die als nicht enden wollende Litanei über den schrecklich anstrengenden Arbeitstag aus ihrem Mund kamen. Ihre Stimme ging mir durch Mark und Bein, und mir wurde flau im Magen. George machte eine beschwichtigende Bemerkung und versuchte wie immer, seine Frau zu beruhigen. Mich nahmen beide lediglich zur Kenntnis, als ich bat, mich entschuldigen zu dürfen. George warf mir einen kurzen, ambivalenten Blick zu und antwortete lakonisch, ich könne ruhig aufstehen.
Also nahm ich meinen Teller und, da Jack und Leyla bereits zum Fernsehen ins Wohnzimmer verschwunden waren, auch ihr Geschirr, und trug alles in die Küche. Dort machte ich mich an meine allabendlichen Plichten, kratzte die Essensreste von den Tellern, räumte das Geschirr in die Spülmaschine und schrubbte die Töpfe und Pfannen, die George fürs Kochen benutzt hatte.
Ehe ich zum Tisch zurückging, um die restlichenSachen zu holen, wartete ich, bis die Stimmen sich ins Wohnzimmer verzogen hatten. Nachdem ich das Geschirr abgewaschen, den Müll hinausgebracht und den Boden gefegt hatte, ging ich zurück in mein Zimmer. Ich kam am Wohnzimmer vorbei, aus dem ich Fernsehgeräusche und im Hintergrund das Lachen der Kinder hörte. Wie üblich bemerkte mich niemand.
Ich legte mich auf mein Bett, steckte die Kopfhörer in meinen iPod und drehte die Lautstärke voll auf, damit mein Kopf erst gar nicht auf die Idee kommen konnte nachzudenken.
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2015
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