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Einst war ich eine erfolglose Hobbyschriftellerin und glaubte, meine Geschichten und die magischen Wesen darin wären nur ein Produkt meiner Fantasie. Doch dann traf ich meine eigenen Figuren leibhaftig und mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.

In der Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ beschreibe ich meine Abenteuer in dieser fantastischen Welt rund um die beiden Magier Rick und Alec. Ich erzähle Euch von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.

 

Seit meiner ersten Begegnung mit Rick und Alec war viel geschehen. Das Rätsel um meine magische Herkunft hatte sich endlich gelöst, Alec und Lluh waren mir wie eine Familie ans Herz gewachsen, und meine Liebesbeziehung zu Rick schien gefestigt zu sein (Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree & Band 2: Fluch der Taikons).

Aber dann war durch meine Schuld Ricks dämonische Seite endgültig ausgebrochen und er hatte sich den Strangorren, bluttrinkenden Dämonen mit zerstörerischen Kräften, angeschlossen. Mich hatte er einfach zurück gelassen. Verlassen. Schon zum zweiten Mal.

Natürlich war ich ihm gefolgt und dank meines unverbesserlichen Dickkopfs war Rick nun wieder mit mir zusammen, sogar noch enger als jemals zuvor. Doch das hatte von uns allen einen hohen Preis gefordert (Magische Seiten – Band 3: Blut der Strangorren): Die Strangorren hatten Alec fast vollständig ausgesaugt, sein Blut ebenso wie seine Magie. Trotzdem hatte er Rick dabei geholfen, mich zu heilen, nachdem die kleine Werwölfin Chocco mir die Kehle aufgerissen hatte, um mich in ihr Rudel zu holen. Ich wusste noch immer nicht, mit welcher Art von Magie Rick und Alec mich vor dem sicheren Tod bewahrt hatten – und zu was für einer Kreatur ich nun wurde.

Außerdem hatte Rick eine Revolte unter den Strangorren losgetreten, als er – nicht ganz freiwillig – einen magischen Blutsbund mit mir eingegangen war. Einige von Ricks treuesten Strangorren-Dämonen hatten daraufhin die Seiten gewechselt und seitdem schäumte ihr ehemaliger Anführer Caleb vor Wut auf uns. Calebs ganz besonderer Hass richtete sich dabei auf mich, denn irgendwie hatte ich es geschafft, seine Alpha-Magie gegen ihn zu wenden. Keiner wusste so genau, woher meine neuen magischen Kräfte stammten und was sonst noch in mir brodelte.

Nichtsdestotrotz gab es auch gute Nachrichten. Wir waren alle noch am Leben und in Kisha hatte ich eine weibliche Vertraute gefunden. Darüber hinaus schienen Rick und Alec endlich ihre Dauer-Fehde begraben zu haben. Vielleicht war das aber auch nur ein Zweckbündnis, denn wir befanden uns auf der Flucht, nicht nur vor Caleb, sondern auch vor Daretree, einem Wesen des Chaos. Unser Kampf ums Überleben hatte gerade erst begonnen.

 

 

TEIL 1



1


„Selbst wenn ich deiner absolut hirnrissigen Argumentation zustimmen würde – was ich nicht tue –, warum zur Hölle musstest du es heimlich tun? Du hättest vorher mit mir darüber reden müssen!“

„Vorher mit dir darüber reden?“ Ich schnaubte. „Du hättest doch niemals zugestimmt. Lieber wärst du ...“

„Ganz recht! Ich hätte niemals zugestimmt!“, fiel Rick mir ins Wort. Seine Finger gruben sich tiefer in meine Schultern. „Du wärst beinahe verblutet!“

„Das ist lächerlich. An so einem kleinen Kratzer verblutet niemand!“

Wieder versuchte ich, mich aus Ricks Klammergriff zu lösen. Genauso erfolglos wie schon die letzte halbe Stunde. Eine halbe Stunde vollgefüllt mit einer endlosen Schimpftirade. Rick war einfach nicht zu stoppen. Und offenbar wollte er mich für den Rest seines Lebens festhalten – was unter anderen Umständen, wenn wir nackt und allein gewesen wären, eine durchaus verlockende Vorstellung war. Aber wir waren nicht nackt und wir waren alles andere als allein. Mal abgesehen von meinen beiden besten Freunden, Alec und Lluh, die sich ausnahmsweise auf Ricks Seite geschlagen hatten, starrten uns rund ein Dutzend weiterer Augenpaare an.

Es war eine ziemlich schräge Gruppe von Verbündeten. Am seltsamsten war vielleicht, dass ausgerechnet Lenny uns einen sicheren Unterschlupf gewährte. Denn Lenny und sein debiler Halbbruder Pax waren beide durch geschwisterliche Bande mit unserer schlimmsten Feindin Daretree verbunden. Daretree galt als Meisterin des Chaos und konnte die bösartigsten Emotionen in jeder Art von Wesen anstacheln. Sie liebte es, Terror und Leid zu verursachen, Wesen gegeneinander aufzuhetzen oder auch in den Selbstmord zu treiben. Als wäre das nicht schon übel genug, konnte sie sich auch noch verdreifachen inklusive ihrer beängstigend starken Kräfte. Lenny besaß anscheinend die gleiche Magie wie seine Schwester, auch die Sache mit dem Verdreifachen. Doch im Gegensatz zu Daretree fand er keinen Gefallen an der Qual von anderen. Zumindest redete ich mir das ein. Letztendlich hatte Lenny uns allen den Hintern gerettet und vor Daretree beschützt. Nach dem Kampf hatte er uns in ein sicheres Versteck geführt, ein stillgelegtes Sägewerk im Naturschutzgebiet an Frantows Felsküste.

Lenny half uns Kisha zuliebe, weil seine Schwester Daretree seinen schwachsinnigen Halbbruder Pax dazu gebracht hatte, Kisha das rechte Auge bei vollem Bewusstsein aus dem Gesicht zu reißen. Außerdem schien vor diesem Desaster noch so einiges mehr zwischen Lenny und Kisha vorgefallen zu sein. Doch weder Lenny noch Kisha wollten darüber reden.

Kisha wiederum war bei uns, weil sie eine Schwäche für Alec hatte. Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Alec diese zärtlichen Gefühle erwiderte, aber er wollte sich das aus irgendwelchen Gründen nicht eingestehen. Kisha wurde von Robin, einem ihrer Leute, begleitet. Warum Robin, dieser schlaksige Halbwüchsige, bei uns blieb, wusste ich nicht so genau – aber ich vermutete, dass es mit Lenny zusammenhing. Die beiden schienen befreundet zu sein. Vielleicht sah Robin in Lenny so eine Art väterlichen Mentor. Oder vielleicht wollte Robin erreichen, dass Kisha ihren Groll auf Lenny begrub.

Dann war da noch Johnny, der einzige Gestaltwandler in der Runde. Ein Werbaribal, also ein Wesen, das sich in so eine Art überdimensionalen Schwarzbär verwandeln konnte, vorzugsweise bei Vollmond. Johnny war ein Streuner und wie alle Gestaltwandler hasste er Strangorren. Aber Rick war für ihn nun mal so etwas Ähnliches wie ein großer Bruder, dem er beistehen wollte, auch wenn das bedeutet, an der Seite von Strangorren zu kämpfen.

Abgesehen von dieser wild zusammengewürfelten Runde umringte uns natürlich auch unser neues kleines Strangorren-Rudel. Braggard und seine Frau Fanny wirkten angesichts unseres Streits todunglücklich, ihr üblicher Gesichtsausdruck, wenn Rick und ich uns gegenseitig anfauchten. Ihre Tochter Maakra hätte sich früher darüber amüsiert, weil sie es toll fand, wenn jemand diesen verbohrten Macho-Strangorren Kontra gab. Aber seit ihr Bruder Cameron im Kampf schwer verletzt worden war, schien ihr aufmüpfiger Teenager-Spott verschwunden zu sein. Die anderen fünf Strangorren, Durago, Bakir, Hydor, Navarous und Rajko, verfolgten die Auseinandersetzung von Rick und mir mit einer Mischung aus Verunsicherung und Hilflosigkeit.

Rick schien es egal zu sein, dass wir von allen angestarrt wurden. Ich hingegen sehnte mich nach ein bisschen Privatsphäre und einem Ende dieses sinnlosen Streits. Doch Rick wurde nicht müde, mir Vorwürfe zu machen.

„Kleiner Kratzer?“, blaffte Rick zum unzähligsten Mal. „Ich habe deinen kleinen Kratzer geheilt, ich weiß wie klein er war. Er war so klein, dass ich durch den Heilzauber bis morgen früh außer Gefecht gesetzt bin.“

„Willst du mir jetzt etwa ein schlechtes Gewissen machen?“, empörte ich mich. „Dass ich damit uns alle in Gefahr gebracht habe, weil du uns nicht mehr verteidigen kannst?“

„Scheiße, nein! Was ich will ist, dass du endlich aufhörst, solche Kamikaze-Aktionen im Alleingang zu starten!“

„Aber es ist wahr“, meldete sich plötzlich Durago zu Wort. „Du hast uns alle in Gefahr gebracht, Fate. Der Geruch deines Blutes ist stark und süß. Fremdartig, leicht wieder zu erkennen. Er lockt Werwölfe, Strangorren und Vampire gleichermaßen an.“ Durago wandte sich an Rick. „Fate muss sich endlich waschen und wir müssen ihre Kleider verbrennen, sonst werden wir uns nicht mehr lange hier verstecken können.“

Es kränkte mich, dass ausgerechnet Durago Vorwürfe gegen mich erhob, denn er war mein heimlicher Liebling unter unseren Strangorren-Rebellen. Fuchsrote Haut, schräge Augen, hohe Wangenknochen und rabenschwarzes Haar. Seine Zähne waren wie bei fast allen Strangorren sehr spitz und auch die Klauen an seinen Händen konnten sich sehen lassen. Doch die typische Strangorren-Hautmusterung war bei ihm nur sehr schwach ausgeprägt, was deutlich zeigte, dass er ein Mischling war. Durago war Einzelgänger und wahrscheinlich war das auch der Grund, wieso er derjenige von Ricks Männern war, dem ich mich spontan am stärksten verbunden fühlte. Die meiste Zeit schwieg er, wirkte abweisend und in sich gekehrt, so als würde ihn das alles gar nicht interessieren. Umso mehr traf es mich, wie schlecht seine Meinung über mich war.

Noch viel schlimmer war, dass Durago recht hatte. Daran hatten weder Rick noch ich während unseres schier endlosen Streits gedacht. Wir hatten zwar die letzte Schlacht gegen Caleb und Daretree gewonnen, aber seitdem waren wir auf der Flucht. Dank Lenny hatten wir eine kurze Verschnaufpause, aber mehr auch nicht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man uns entdeckte – und Durago hatte uns daran erinnert, dass wir gerade dabei waren, diese Zeit drastisch zu verkürzen.

Trotzdem! Ich hatte keine Wahl gehabt. Es war der einzige Weg gewesen, willentlich eine meiner Visionen herbei zu führen: Indem ich blutete. Dieser winzige Schnitt an meinem Hals, den ich mir zugefügt hatte, war nun wirklich nicht der Rede wert. Rick übertrieb einfach maßlos.

„Danke, Durago“, brummte Rick. „Wenn es um Fate geht, übersehe ich manchmal das Offensichtliche.“ Rick ließ meine Schultern los und nahm mich bei der Hand. „Wir gehen runter zu den Klippen und waschen dir das Blut ab. Fanny, hast du noch halbwegs passende Klamotten für Fate?“

Fanny schüttelte den Kopf.

„Ich besorge was“, sagte Lluh und flatterte los. Der kleine Viggill mit seinen Fledermausflügeln und dem magischen Talent, sich unsichtbar machen zu können, war ein Meister im Organisieren von dringend benötigten Dingen.


Stumm und kleinlaut ließ ich mich von Rick wegführen. Er hielt mich fest an der Hand. Instinktiv erwiderte ich seinen Händedruck. Rick war sauer auf mich, und ich auf ihn. Trotzdem mussten wir beide unseren üblichen Dickkopf hintenanstellen, denn es ging nicht mehr nur um uns zwei. Wir waren nicht mehr alleine. Wir waren letztendlich für alle verantwortlich.

Rick hatte damit kein Problem. Er war der geborene Anführer und er hatte nie etwas anders getan, als mit einem Team zu arbeiten. Auch wenn Rick kein übermäßig geselliger Mann war, so war er dennoch daran gewöhnt, in einer Gruppe zu agieren. Genauer gesagt, eine Gruppe anzuführen. Schon früher bei Moira und seinen Freunden. Dann war er zwar zu Caleb gegangen, dem ungekrönten Oberhaupt der Strangorren, aber auch dort hatte Rick sich nie wirklich unterworfen, sondern hatte gleich zum Einstieg den Rang eines Anführers bekommen. Offiziell war Caleb sein Alpha gewesen. Inoffiziell hatte das keine einzige Sekunde lang funktioniert. Stattdessen hatte er Caleb seine Männer abspenstig gemacht – und das noch nicht mal absichtlich. Für Rick war dieses Alpha-Gruppen-Ding seine zweite Natur.

Aber ich ... ich fühlte mich maßlos überfordert. Ich hatte Angst. Nicht wegen Caleb und seiner Meute wütender Strangorren, die uns an den Kragen wollten. Und auch nicht wegen Daretree, die ihren persönlichen Ehrgeiz daran gesetzt hatte, an mir Rache zu nehmen. Und auch nicht, weil mich ein weiblicher Mini-Werwolf gebissen hatte und ich mich womöglich in ein Monster verwandelte. Okay, letzteres machte mir tatsächlich einigermaßen zu schaffen. Aber immerhin hatte ich die kritische erste Vollmond-Nacht überstanden, ohne dass irgendetwas Abartiges aus mir geworden war. Bis auf diese Sache mit dem Spiegeln von Magie, als ich Caleb seine eigenen Kräfte um die Ohren geschleudert hatte. Er hatte seine Männer mit Alpha-Magie auf uns gehetzt – und ich hatte genau diese Alpha-Magie wie mit einem Hohlspiegel gegen ihn gekehrt. Ich hatte Calebs Magie dazu benutzt, seine Männer nach meinem Willen zu lenken und ihnen den Rückzug zu befehlen. Damit hatte ich Caleb in die Knie gezwungen und kurzfristig die Macht über seine Männer besessen! Das war ein wahnsinniges Gefühl gewesen, wie ein Rausch. Es hatte uns in der Schlacht den entscheidenden Vorteil verschafft und darauf war ich irrsinnig stolz. Aber es hatte mich auch zu etwas gemacht, was ich einfach nicht sein konnte. Meine neue Magie hatte mir eine Rolle aufgedrängt, die mir höllische Angst machte: Eine Alpha zu sein.

Ich war zwar Ricks Gefährtin und ich wollte mich auch gar nicht vor der Verantwortung drücken, die das mit sich brachte. Wenn Rick ihr männlicher Alpha war und wir durch die Hölle gehen mussten, dann war das eben so, und ich würde ohne zu murren an Ricks Seite sein. Als seine Geliebte und seine Gefährtin. Seine Männer hatten uns verteidigt. Also würde ich auch ohne zu zögern das gleiche für sie tun.

Aber ich war nun mal keine Alpha! Ich wollte laut schreien, dass sie sich für den Job eine andere suchen sollten. Das Problem war nur: da gab es keine andere.

>Hast du dir deswegen die Kehle durchgeschnitten? Weil du keine Alpha sein willst?<

Ricks Frage hallte unausgesprochen durch meinen Kopf. Verdammt! Ich hatte unsere neue Blutsverbindung vergessen. Dank ihr konnten wir uns auch stumm verständigen. Wir hatten es von Anfang an ziemlich gut hinbekommen, auf diese Art zu kommunizieren. Aber es war verdammt schwer, dem anderen etwas zu verschweigen. Zumindest mir fiel es schwer, mich von Rick abzuschotten.

„Das ist nicht fair!“, fluchte ich. „Ich kann deine Gedanken nicht lesen, wenn du es nicht willst!“

Ricks Mundwinkel zuckten. „Ich kann deine Gedanken auch nicht lesen. Es war nur eine Frage ins Blaue hinein. Es ist das, was ich vermute. Und offenbar liege ich richtig.“

„Erstens habe ich mir nicht die Kehle durchgeschnitten“, wiederholte ich zum ungefähr hundertsten Mal, „und zweitens wollte ich nur die Geschichte zu Ende zu schreiben, diese ...“, händeringend suchte ich nach einem geeigneten Wort, „nenn es von mir aus Vision. Ich hatte so ein Gefühl, dass mein Blut der Schlüssel dazu sein könnte. Und ich hatte recht damit“, fügte ich trotzig hinzu. „Es hat funktioniert. Nun wissen wir, wie lange Caleb dich schon beobachtet hat. Sein Vater hat dich bereits als Kind ausgesucht und in dir eine Gefahr für den Machtanspruch seines Sohnes erkannt. Calebs Fehler war es, dass er dich unterschätzt hat, dass er nicht wahr haben wollte, dass du ein Alpha bist, der sich niemals unterwerfen wird. Außerdem wissen wir jetzt, weshalb Caleb so erpicht darauf war, dass du den Blutsbund mit mir eingehst. Er hat von Anfang an darauf spekuliert, dass er dich mit mir erpressen kann. Du musst ihm sein Herz brechen oder sein Herz bricht dich – das war Courgens Prophezeiung an Caleb.“

„Ich bin nicht begeistert darüber, dass mich jetzt alle für einen liebekranken Trottel halten. Aber abgesehen davon, um zu wissen, dass du meine Schwachstelle bist, braucht man nun wirklich keine Prophezeiung von Courgen.“ Rick seufzte. „Trotzdem ist es gut, dass du es niedergeschrieben hast. Meinen Männern gibst du damit die Bestätigung, dass sie das Richtige getan haben. Doch du musst endlich aufhören, mit dem Tod zu liebäugeln.“

„Das habe ich nicht“, widersprach ich. „Ich habe das alles im Griff. Es hätte auch von alleine wieder aufgehört zu bluten.“ Das tat es nämlich immer, wenn es mit dem Schreiben und meinen Pseudo-Visionen zusammenhing.

„Ja, das ist richtig“, stimmte Rick mir überraschenderweise zu.

Erstaunt sah ich ihn an. Trotz dieser scheinbar versöhnlichen Worte, war seine Wut immer noch deutlich spürbar.

„Ich konnte spüren, wie sich deine Wunde schloss“, sprach Rick weiter, „doch sie heilte nicht schnell genug. Hätte ich nicht nachgeholfen, wärst du trotzdem verblutet. Du hast gerade erst einen Werwolf-Biss überstanden. Ganz zu schwiegen von dem Gemetzel mit Caleb und Daretree. Dein Körper ist momentan nicht stark genug für solche Experimente. Und ich bin nicht stark genug, um dich zu verlieren“, fügte er leise hinzu.

„Du wirst mich nicht verlieren.“ Ich drückte seine Hand.

„Nur um das mal ganz offiziell klar zu stellen“, knurrte Rick, „wenn du lebensmüde bist, dann wirst du nicht alleine gehen. Ich werde dich nicht sterben lassen – selbst wenn es das letzte ist, was ich tue.“

„Das darfst du nicht! Willst du mir allen Ernstes damit drohen, dass du ...“

„Es ist mir scheißegal, ob ich verbotene Magie benutzen muss oder dabei drauf gehe. Oder beides. Ich werde dich nicht sterben lassen! Und selbst wenn ich, rein theoretisch, ganz brav wäre“, fügte Rick süffisant hinzu. „Dein Tod wird ein Loch in mich reißen und daran werde ich zugrunde gehen. Wir haben einen Blutsbund. Unterschätze das nicht. Wenn du dich umbringst, dann tötest du uns beide.“

„Ist das so?“, entgegnete ich und sah ihm fest in die Augen. „Gut. Denn dann wird dein Tod auch mich umbringen. Vielleicht hält dich das im Gegenzug davon ab, ständig deinen Hals zu riskieren.“

Ricks Miene wurde zu einem unergründlichen Pokerface. Eigentlich hatte ich ihm ein kleines Lächeln entlocken wollen. Dass er nun den Unnahbaren spielte, war kein gutes Zeichen. Bereute er es etwa, mit mir diesen Blutsbund eingegangen zu sein? Denn freiwillig hatte er es nicht getan. Auch nicht, als ich ihn darum gebeten hatte. Erst angesichts von Calebs Drohung, mich ihm für immer wegzunehmen, hatte Rick das Ritual durchgezogen. Ich legte den Kopf schief und musterte ihn. Pokerface hin oder her, aber mittlerweile kannte ich Rick gut genug. Das, was er vor mir verbarg war kein Bereuen. Plötzlich verstand ich.

„Verdammt!“, fluchte ich. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Du spekulierst tatsächlich darauf, dass Alec dann die Magie des Chaos benutzt, um mich zu retten während du stirbst?“

„Wer von uns beiden kann jetzt Gedanken lesen?“

„Habt ihr noch einen weiteren Kuhhandel geschlossen, von dem ich nichts weiß?“, giftete ich.

„Kein Kuhhandel. Und keine Spekulationen. Alec ist, was dich betrifft, sehr berechenbar. Weitaus berechenbarer als du. Ich muss es hören“, kehrte Rick wieder zum ursprünglichen Thema zurück. „Bitte sag mir, dass du nicht lebensmüde geworden bist.“

„Du denkst doch nicht wirklich, ich könnte Selbstmordgedanken hegen?“

„Seit diesem Werwolf-Biss hast du Angst, dich in etwas Grässliches zu verwandeln. Du hast Angst, zu einem Monster zu werden. Ich weiß, was diese Angst mit einem machen kann.“

„Ja, ich habe diese Angst“, gab ich zu. „Aber andererseits bin ich schon seit meiner Geburt ein Monster, das normalerweise gleich bei der Geburt vom eigenen Volk getötet wird. So ein Mischwesen wie mich darf es eigentlich gar nicht geben. Für die meisten bin ich eine Missgeburt. Doch als ich das erfahren habe, bin ich damit erstaunlich gut klar gekommen. Vielleicht weil ich so ein Eigenbrötler bin und schon immer das Gefühl hatte, irgendwie seltsam zu sein. Mich deswegen umzubringen ist mir ehrlich gesagt gar nicht in den Sinn gekommen. Für mich war damals nur wichtig, dass es für dich keinen Unterschied macht. So ist es auch jetzt. Solange du mich liebst, solange du mich so liebst, wie ich bin, will ich nicht sterben. Ich wollte wirklich nur die Geschichte zu Ende schreiben“, beteuerte ich. „Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass mein Blutgeruch unsere Feinde anlocken könnte. Oder womöglich für deine Männer eine Versuchung ist. Das war gedankenlos. Das wäre einer echten Alpha nicht passiert“, fügte ich hinzu. „Ich bin eine Fehlbesetzung! Warum zur Hölle braucht ihr überhaupt eine Alpha!? Caleb hat auch kein weibliches Pendant.“

„Es ist nicht so, dass wir eine weibliche Alpha brauchen. Trotzdem bist du es. Du bist es seit dem Moment, als du Caleb mit seiner eigenen Alpha-Magie besiegt hast. Du hast unsere Männer gerettet und ihren ehemaligen Alpha unterworfen als ich dazu nicht mehr fähig war. Und du bist meine Gefährtin, die Gefährtin ihres neuen Alphas. Aus all diesen Gründen bist du jetzt ihre weibliche Alpha. Das ist nur logisch.“

„Zur Hölle mit Logik! Ich bin Einzelgänger, ein Außenseiter, schon mein ganzes Leben lang. Und jetzt soll ich eine Horde von Strangorren anführen? Wie soll das gehen?“

„Wen würdest du als meinen Stellvertreter vorschlagen?“

Verwirrt über diesen abrupten Themenwechsel starrte ich Rick an. „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Sag schon. Wen?“

„Ich kenne die meisten deiner Männer gar nicht.“

„Genau deswegen frage ich dich. Nicht nachdenken. Sag mir einfach, bei wem es sich richtig anfühlt. Wenn ich nicht wäre, wer würde sie anführen?“

„Durago“, antwortete ich schließlich meinem Bauchgefühl folgend.

„Richtig“, bestätigte Rick. „Perfekte Wahl. Durago hat genug Mumm, sich einzumischen und auch einem dominanteren Mann Widerworte zu geben, wenn er von einer Sache überzeugt ist. Er ist unerfahren und bei weitem nicht der Stärkste meiner Männer. Doch wenn es hart auf hart kommt, ist er der Zäheste. Ihm ist es egal, ob die anderen ihn mögen, weil er immer ein wenig Abstand hält und nur seinem eigenen Urteil vertraut. Kommt dir das bekannt vor? Anführer und Außenseiter haben vieles gemeinsam. Manchmal ist es nur ein kurzer Augenblick, der darüber entscheidet, ob du das eine oder das andere bist.“

Wir hatten das Meer erreicht. Rick kraxelte mit mir zusammen die Klippen bis ganz hinunter. Ich wollte mich ausziehen, doch Rick hielt mich zurück. Irritiert sah ich ihn an, dann bemerkte ich das verräterische Glitzern in seinen Augen und lächelte. Wir waren allein. Die anderen außer Sicht- und Hörweite. Rick schälte mir stumm die blutbefleckten Kleider vom Leib und warf sie achtlos auf einen Haufen. Das letzte Kleidungsstück, ein hässlicher Baumwollslip, den Fanny mir gegeben hatte, entflammte in Ricks Hand. Er warf ihn auf den restlichen Kleiderhaufen und schickte noch einen kleinen Feuerball hinterher. Eine Stichflamme schoss hoch und meine Klamotten verwandelten sich in ein Häufchen Asche. Kein Stückchen Stoff, mit dem ich mich bedecken konnte, war übrig geblieben. Ich fühlte mich irgendwie ausgeliefert und wollte rasch ins Wasser steigen, um nicht splitterfasernackt mitten in der Wildnis zu stehen.

„Hey!“, protestierte Rick. „Hast du nicht etwas vergessen? Oder muss ich wirklich die ganze Arbeit alleine machen und mich selbst ausziehen?“

„Aber wenn mich jemand sieht ...“

Ich sehe dich. Nur ich. Niemand sonst. Wir sind allein.“

„Aber die anderen werden vielleicht ...“

„Die anderen wissen ganz genau, was wir tun, sobald wir allein sind. Warum auf einmal so schüchtern?“, spottete Rick. „Das letzte Mal hattest du keine Hemmungen, über mich herzufallen, obwohl alle anderen genau nebenan gewartet haben.“

Ich lief knallrot an, musste aber gleichzeitig lächeln. Ja, es war definitiv zu spät für Schamgefühle. Trotzdem hatte es etwas Verruchtes, dass ich nackt war, während Rick noch alle Kleider trug. Verrucht und erregend. Das verräterische Kribbeln zwischen meinen Beinen wurde stärker. Ich griff nach Ricks Jeans, öffnete Knopf und Reißverschluss und spürte, wie er sich mir entgegen wölbte. Voll Vorfreude rieb ich meine Hüften an ihm und schob meine Hände unter sein Shirt. Rick hatte einen fantastischen Körper. Sehnig und muskulös. Unzählige Narben bedeckten seine Haut und ich liebte jede einzelne davon. Sie waren ein Teil von ihm und deswegen waren sie schön.

Rick küsste mich und griff nach meinem Hintern. Instinktiv schlang ich die Beine um seine Hüften. Im nächsten Moment war er in mir. Ich riss ihm das Shirt vom Körper und er zerrte sich die restlichen Klamotten vom Leib. Dann trug er mich ins Wasser und wir liebten uns mit jeder einzelnen Faser unseres Körpers.



2


Als wir zu den anderen zurückkehrten war es bereits dunkel. Mit einem zufriedenen Lächeln erinnerte ich mich daran, wie ich den Sonnenuntergang verbracht hatte. Feucht und heiß. Und das Meerwasser zum abkühlen. Ich fühlte mich wie neugeboren.

Wann würden Rick und ich wohl das nächste Mal Gelegenheit haben, ungestört alleine zu sein? Wirklich ungestört und weit genug von den anderen weg, dass ich mir keine Gedanken wegen des Supergehörs von Strangorren machen musste. Wir waren leise gewesen und dank eines kräftigen Seewindes hatte die Brandung alles andere übertönt. Hoffentlich.

Misstrauisch sah ich in die Runde. Kein dummes Grinsen war zu sehen. Dank des Vollmondes konnte ich die Gesichter relativ gut erkennen. Fast alle waren draußen. Kaum einer hielt die bedrückende Atmosphäre im Inneren des Sägewerks aus, wo sich Fanny und Maakra um den schwer verletzten Cameron kümmerten.

Ich hielt nach Lluh und den versprochenen Kleidern Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Ich trug lediglich Ricks T-Shirt, das mir bis in die Kniekehlen reichte. Rick lief dafür mit freiem Oberkörper durch die Gegend – ein durchaus lohnender Anblick. Trotzdem wartete ich sehnsüchtig darauf, ihm sein Shirt zurückgeben und mich wieder vollständig anziehen zu können. Die fehlende Unterwäsche machte mich irgendwie nervös. Ich überlegte gerade, ob ich mir um den kleinen Viggill Sorgen machen sollte, als Fanny mich zu sich winkte und mir ein Bündel Kleider überreichte.

„Ist Lluh bei euch?“, fragte ich, während ich rein ging, um mich umzuziehen.

„Er meinte, er hätte etwas vergessen und ist noch mal los geflogen.“

Ich inspizierte den kleinen Stapel, den mir Fanny überreicht hatte. Jeans, Shirt, Socken und obendrauf schwarze Spitzenunterwäsche. Alles dabei, was ich brauchte. Ich sah in das Etikett des BHs und des passenden Slips. Meine Lieblingsmarke in der richtigen Größe. Ich redete mir ein, dass Lluh aus purer Neugier meine Schubladen durchwühlt hatte (damals als ich noch eine feste Bleibe gehabt hatte) und deswegen so genau über meine Unterwäsche Bescheid wusste. Dass er sich unsichtbar machen konnte, hatte damit hoffentlich nichts zu tun. Nein, ganz bestimmt nicht. Unsichtbar machen war anstrengend für einen Viggill und danach entwickelte Lluh immer einen Heißhunger auf Süßes, am liebsten mit viel Schokolade, Fett und Milch. Ganz bestimmt war es purer Zufall, dass Lluh bei seinen Besuchen stets meine gesamten Schokoladenreserven vertilgt hatte. Wenn Lluh zurückkam, würde ich ein ernstes Gespräch mit ihm führen.

„Hat Lluh gesagt, was er vergessen hat?“, fragte ich.

„Er hat was von Zähneputzen gesagt.“

Lluh kannte mich viel zu gut. Eine Zahnbürste war eindeutig Bestechung. Wenn er auch noch Zahnpasta und Zahnseide mitbrachte, dann musste er ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen meiner Dessous haben.

Ich verzog mich in einen ungestörten Raum des verlassenen Sägewerks und schlüpfte rasch in die Kleider. Die Jeans war ein bisschen zu weit und das Shirt dafür ein bisschen zu eng. Aber die Unterwäsche passte perfekt. Oh ja, ich würde ein sehr ernstes Gespräch mit Lluh führen. Zahnbürste hin oder her.

Nachdem ich mich umgezogen hatte, wollte ich wieder nach draußen zu den anderen gehen. Nichts wie raus aus der bedrückenden Atmosphäre im Inneren des Sagewerks, wo Cameron von seiner Familie umsorgt wurde. Beim Gedanken an den jungen Krieger mit dem verkohlten Arm verkrampfte sich mein Magen. Zusammen mit seinem Vater hatte er sich als erster Rick angeschlossen. Nein, das stimmte nicht ganz, die ersten waren Maakra und Fanny gewesen. Seine Schwester und Mutter. Streng genommen hatten also die Frauen der Kleinfamilie den Stein ins Rollen gebracht und die offene Rebellion begonnen. Das machte es für mich umso schlimmer. Denn anders als die Männer hatten sie es nicht allein für Rick, sondern auch für mich getan.

Ich war es mir selbst schuldig, nach Cameron zu sehen. Mit einem Stoßseufzer verließ ich den kleinen Büroraum, in dem ich mich umgezogen hatte und ging zu der Ecke des Arbeitsraums, in der man Camerons Krankenlager eingerichtet hatte. Fanny kniete neben ihm. Sie streichelte seine Hand und redete leise auf ihn ein. Cameron hatte die Augen geschlossen, doch ich vermutete, dass er sich nur schlafend stellte.

„Hallo, Fanny“, sagte ich. „Bringst du Rick bitte sein Shirt? Damit ersparst du mir eine Menge dumme Bemerkungen.“ Das war natürlich eine haarsträubende Begründung. „Lass dir Zeit, schnapp ein wenig frische Luft und vertritt dir die Beine. Ich bleibe solange bei Cameron“, fügte ich hinzu.

Fanny sah mich traurig und dankbar zugleich an. Ich bemühte mich um ein aufmunterndes Lächeln und tatsächlich hellte sich ihre Miene ein wenig auf. Sie drückte kurz meine Hand und ging nach draußen. Es brach mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn Fanny zu mir aufsah als wüsste ich, wie man die ganze Welt retten konnte.

Ich kniete mich neben Cameron. Er öffnete die Augen und blickte mich mit ausdrucksloser Miene an. Er sah grässlich aus. Blass, tiefschwarze Augenringe, das fröhliche Leuchten in seinen Augen scheinbar für immer erloschen. Es tat weh, diesen leeren Blick zu sehen. Aber es war immer noch besser als der Anblick des schwarz verkohlten Knochens, der einmal sein Arm gewesen war. Wie durch ein Wunder konnte er seine Finger noch bewegen. Nicht viel, aber doch einige Millimeter. Genug, dass niemand es übers Herz brachte, ihm den Arm zu amputieren.

Ich musste an Johnny denken, den jungen Werbaribal, den Rick als kleinen Knirps unter seine Fittiche genommen hatte. Es fiel Johnny sichtlich schwer, dass sein großes Vorbild zu einem blutsaugenden Strangorren geworden war. Trotzdem war er bei uns geblieben. Rick zuliebe. Obwohl Gestaltwandler die natürlich Beute von Strangorren waren. Das Blut eines Gestaltwandlers half Strangorren gegen Schmerzen und wirkte wie ein Heilmittel. Johnny hatte Cameron mehrmals trinken lassen, aber nicht weil er Cameron helfen wollte. Wie jeder andere Gestaltwandler hasste er Strangorren. Johnny hatte es beim ersten Mal nur getan, um mich davon abzuhalten, Cameron mein eigenes Blut zu geben. Und danach ... nun ja, vermutlich aus Treue und Freundschaft zu Rick.

Aber trotz Johnnys Blut setzte keine Heilung bei Cameron ein. Wenn ich ehrlich war, dann hatte ich sogar das Gefühl, dass es schlimmer wurde und der Arm immer weiter abstarb. Cameron hatte keine Infektion. Ich wusste nicht mal, ob Strangorren so etwas überhaupt bekommen konnten. Aber die Schmerzen fraßen den jungen Strangorren innerlich auf. Die Schmerzen und das Wissen, dass es nichts gab, womit wir seinen Arm retten konnten. Vor zwei Stunden hatte Johnny das letzte Mal Cameron von sich trinken lassen. Wenn ich Johnny darum bat, würde er Cameron sicher ein weiteres Mal von seinem Blut geben. Nicht mir zuliebe, sondern Rick zuliebe. Aber Johnny sah mittlerweile auch nicht mehr besonders gesund aus. Noch mehr Blut zu spenden könnte womöglich üble Folgen für ihn haben.

„Ich will es versuchen“, sagte Cameron plötzlich.

Er musste mir nicht erklären, was er damit meinte. Ich war zwar kein Gestaltwandler, aber Chocco, die kleine Werwölfin, hatte mich gebissen. Vielleicht hatte der Werwolf-Biss mein Blut verändert und es wirkte nun wie das Blut eines Gestaltwandlers, vielleicht war es sogar stärker als Johnnys Blut, weil ich noch eine ganz andere Art von Magie in mir trug. Aber ich hatte auch einen Blutsbund mit Rick und nach dem Werwolf-Biss hatte ich mich weder verwandelt noch war ich gestorben. Stattdessen hatten ich während meiner ersten Vollmondnacht Strangorren-Zeichen auf meiner Haut gehabt. Nur kurz, aber sie waren da gewesen. Und wenn mein Blut wie das eines Strangorren wirkte, dann war es pures Gift für Cameron.

„Du weißt, was ich bin“, entgegnete ich. Es fiel mir schwer, ihm diese Hoffnung auf die Heilwirkung meines Blutes nehmen zu müssen. „Dass ich zur Hälfte von Meereswesen, den Marwaree, abstamme. Auch das ist in meinem Blut. Außerdem habe ich mich nicht in einen Werwolf verwandelt. Wahrscheinlich haben es dir die anderen nicht erzählt, aber an meinem Hals waren die gleichen Hautzeichnungen wie ihr Strangorren sie habt.“

„Ich weiß, dass dein Blut mich töten könnte. Das ist okay. Alles ist besser als dieses langsame Krepieren.“ Cameron griff mit seiner unverletzten Hand nach mir und klammerte sich an meinem Arm fest. „Bitte!“, flüsterte er. „Bitte. Nur ein bisschen Blut. Selbst wenn ich die Kontrolle verliere, bin ich zu schwach, um dir zu schaden. Und alle anderen sind in Hörweite, du kannst sie rufen, wenn du Hilfe brauchst. Dir kann nichts geschehen.“

Ich schüttelte stumm den Kopf. Ich machte mir keine Sorgen darüber, dass Cameron mich aussaugen könnte. Ich hätte alles getan, um ihm zu helfen. Aber das Risiko, ihn mit meinem Blut zu vergiften, konnte ich nicht eingehen. Angestrengt überlegte ich, ob es nicht doch anders sein könnte, ob es nicht irgendeinen Hinweis gab, dass ich Cameron mit meinem Blut helfen konnte oder ihn zumindest gefahrlos trinken lassen konnte. Rick hatte mein Blut zwar nicht geschadet, aber er hatte einen Blutsbund mit mir und das veränderte alles. Ein Blutsbund neutralisierte automatisch die giftige Wirkung von Strangorren-Blut auf einen Artgenossen. Caleb war der einzige andere Strangorr, der mein Blut genommen hatte; allerdings bevor ich diese Verbindung mit Rick eingegangen war und mich Chocco gebissen hatte. Also vor meiner potentiellen Verwandlung in etwas Strangorren-Ähnliches.

„Bitte!“ Cameron klammerte sich fester an meinen Arm.

Auch ein kranker Strangorr war erstaunlich kräftig. Ich spürte, wie Camerons Krallen durch meinen Ärmel schossen und sich tief in meine Haut drückten. Plötzlich wusste ich, dass er die ganze Zeit von Strangorren-Zeichen an meinem Hals gewusst hatte. Er spekulierte darauf, dass mein Blut ihn umbrachte. Es tat mir unendlich weh, ihn so zu sehen.

„Cameron, lass mich los.“ Ich streichelte seine Hand, die mich festhielt. Ich brachte es nicht übers Herz, mich einfach loszureißen oder ihn wegzustoßen.

„Du bist es mir schuldig!“, krächzte Cameron ohne seinen Griff zu lockern. „Als ich mit Caleb brach, habe ich das nicht nur für Rick getan. Ohne dich wäre das alles nicht geschehen!“

Eine Faust rammte sich in meinen Magen. Ich hatte geahnt, dass er irgendwann mich dafür verantwortlich machte. Trotzdem war ich so naiv gewesen, zu hoffen, dass alles wieder gut werden würde. Dass der Tag, an dem Cameron mir die Schuld gab, niemals kommen würde.

„Lass sie los!“ Johnny stand plötzlich hinter mir.

Cameron ignorierte ihn und zerrte meinen Arm näher an seinen Mund heran. Johnny packte ihn an der Gurgel, doch Cameron ließ nicht locker. Ich sah in Camerons traurige Augen und entdeckte ein Funkeln darin. Aber es war nicht das fröhliche Leuchten, das ich vermisst hatte. Es war ein grimmiges Funkeln voll Entschlossenheit und Selbstzerstörung. Cameron wollte mein Blut. Er wollte den Tod. Und wenn Johnny ihn erwürgte, war ihm das ebenso recht. Cameron hatte sich selbst längst aufgegeben.

Aber ich nicht! Ich hatte Cameron nicht aufgegeben! Und das würde ich auch nicht tun. Niemals!

„Ich bin deine Alpha“, knurrte ich. „Ich werde nicht zulassen, dass du dich selbst umbringst. Ich befehle dir als deine Alpha: Lass mich los!“

Sofort löste sich Camerons Griff um meinen Arm. Im gleichen Moment erstarb das Funkeln in seinen Augen.

„Cameron wollte mir nichts tun“, sagte ich zu Johnny.

„Ich weiß.“ Johnny gab Camerons Kehle wieder frei. Dann riss er sich seinen linken Ärmel hoch und drückte seinen Arm an Camerons Mund. „Du suizidaler Trottel wirst jetzt so viel von mir trinken, bis du dir diese schwachsinnigen Experimente aus dem Kopf geschlagen hast.“

Als Cameron nicht sofort zubiss, presste Johnny seinen eigenen Arm mit sanfter Gewalt gegen Camerons Fangzähne. Sobald der erste Blutstropfen hervorquoll, begann Cameron zu saugen. Johnny wurde während dieser seltsamen Blutspende zunehmend blasser. Schließlich zwang er Camerons Kiefer wieder auseinander und zog seinen Arm zurück, blieb aber noch neben mir sitzen, ob nun aus Erschöpfung oder weil er abwarten wollte, was sein Blut bewirkte.

Cameron lag still auf dem Rücken. Die Schweißtropfen auf seiner Stirn waren verschwunden, aber ich fürchtete, dass seine Schmerzen schon bald wiederkehren würden. Ich blinzelte meine Tränen weg und schlang die Arme um die Knie. Johnny war am Rand seiner Kräfte. Das würde nicht mehr lange gut gehen. Diesmal hatte Johnny sogar noch mehr Blut als sonst gegeben.

Es war erstaunlich, dass Johnny es überhaupt tat, auch wenn es aus Freundschaft für Rick war. Jahrhunderte lang waren Gestaltwandler von Strangorren wie Zuchtvieh als Nahrungsquelle gehalten worden. Dafür hassten Gestaltwandler die blutsaugenden Dämonen. So wie auch die meisten anderen magischen Wesen Strangorren hassten. Es gab einen guten Grund, weshalb Strangorren fast ausgetrottet worden waren. Sie saugten nicht nur Blut wie Vampire. Sie saugten auch die Magie ihrer Opfer aus. Aber Strangorren hatten nun mal keine Wahl, sie mussten das tun. Vampire konnten sich auch von Menschen nähren, sie taten dies sogar viel lieber, denn Menschenblut schmeckte besser, auch wenn es nicht so viel Kraft spendete. Ein bisschen wie Junk-Food. Und solange Menschen der gemeinsame Feind aller magischer Wesen waren, bevorzugten die meisten Vampire auch aus rein politischen Überlegungen Menschen-Blut. Doch für Strangorren war das kein gangbarer Weg. Sie brauchten das Blut anderer magischer Wesen, um überleben zu können.

Da kam Fanny zurück und sah fassungslos zu Johnny. „Du hast ihm schon wieder von deinem Blut gegeben?“ Dann bedachte sie mich mit einem Strahlen als wäre ich für dieses Wunder verantwortlich.

„Alles klar hier drinnen?“ Rick betrat hinter Fanny den Raum.

„Alles bestens“, brummte Johnny während er aufstand und sich an Rick vorbei durch die Tür schlängelte.

Rick sah mich an und zog die rechte Augenbraue nach oben. >Johnny lügt genauso schlecht wie du. Erzähl mir, was geschehen ist.<

>Nicht jetzt<, wich ich aus.

Ich nahm Rick bei der Hand und führte ihn aus dem Zimmer. Es war zwar feige, Fanny mit Cameron da drinnen allein zu lassen, aber es war auch keine gute Idee neben Cameron sitzen zu bleiben und ihn mit meiner Anwesenheit zu quälen. Vorerst war die Gefahr gebannt. Cameron würde sich vermutlich wieder schlafend stellen, aber er würde seiner Mutter nicht das Herz brechen, indem er seinen Selbstmordgedanken vor ihren Augen nachgab.


Draußen vorm Sägewerk herrschte Aufbruchsstimmung. Ricks Männer waren hungrig. Genauso wie Rick, der seit kurzem ebenfalls Blut brauchte. Auch das war meine Schuld, denn Ricks neu erwachter Bluthunger war eine unliebsame Nebenwirkung unseres Blutsbundes – zu dem ich ihn mehr oder weniger gezwungen hatte.

Unsere Strangorren teilten sich in zwei Schichten ein, damit immer einige als Schutz im Lager waren, während die anderen sich Blut besorgten. Rick ließ mich nicht gern alleine, aber irgendwann musste er seinen Hunger stillen. Während wir uns verabschiedeten, schärfte Rick mir mehrmals ein, keine Dummheiten zu machen. Ich versprach es (wohl wissend, dass Dummheiten machen ein dehnbarer Begriff war) – unter der Bedingung, dass er nicht unnötig sein Leben riskierte. Am liebsten wäre ich mitgekommen, aber das wollte Rick nicht. Während ich ihm hinterher sah, griff eine kalte Hand nach meinem Herz. Meine Angst, ihn zu verlieren, war größer als jemals zuvor.

Drei Strangorren waren als Beschützer zurückgeblieben. Braggard, Rajko und Durago. Braggard war bei seiner Frau Fanny im Inneren des Sägewerks und kümmerte sich um Cameron. Rajko saß draußen etwas abseits mit Maakra. Die beiden hielten heimlich Händchen. Irgendwie süß, dass der ungehobelte Strangorr in Maakras Nähe zum schüchternen Teenager wurde. Rajko hatte sich unmittelbar nach Braggards Familie unserer Revolte gegen Caleb angeschlossen. Allem Anschein nach hatte er es für Maakra getan und dafür sogar mit seinem Vater gebrochen. So viel Romantik und Herz hätte ich dem einfältig wirkenden Muskelprotz gar nicht zugetraut. Zumindest nicht auf den ersten Blick.

Durago, der dritte Strangorr, der zu unserem Schutz geblieben war, hatte sich zu Johnny und Robin gesetzt. Auch Josh Kastor, Alecs Vampir-Freund, war unmittelbar nach Einbruch der Dämmerung dazugekommen und hatte sich zu den dreien gesellt. Erstaunlich genug, denn Strangorren, Gestaltwandler und Vampire waren eigentlich Todfeinde. Noch mehr erstaunte mich allerdings, dass Alec nirgends zu sehen war.

„Wo ist Alec?“, fragte ich.

„Da hinten – wo der Lärm herkommt“, antwortete Durago.

„Kisha ist bei ihm. Sie streiten“, erklärte Josh netterweise für jemanden, der kein Supergehör besaß. „Es geht um dich“, fügte er hinzu und warf mir einen seltsamen Blick zu.

Ein derber Fluch entfuhr mir. Ich hatte jetzt keine Nerven für diese Spielchen. Wenn es um mich ging, dann sollten sie es gefälligst ausdiskutieren, wenn ich dabei war. Mit großen Schritten lief ich in die Richtung, in die Durago gedeutet hatte. Schon von weitem hörte ich, dass es ein heftiger Streit war. Ich konnte mir nicht vorstellen, wieso sie sich meinetwegen derart in die Haare geraten konnten. Wahrscheinlich hatte Josh das falsch verstanden und es ging nur indirekt um mich. Vermutlich beharrte Kisha darauf, dass Alec in Sicherheit bleiben sollte anstatt meinetwegen weiterhin bei einer Horde von Dämonen zu bleiben, für die sein Blut ein ganz besonderer Leckerbissen war. Kisha hatte mir versprochen, Alec zu beschützen solange seine magischen Kräfte noch nicht wiederhergestellt waren. Bestimmt gab sie das als Grund für ihre Besorgnis an.

Sollte mir recht sein. Auch ich wollte Alec aus der Schusslinie haben und möglichst weit weg von bluttrinkenden Dämonen, die ihn nur wenige Tage zuvor beinahe umgebracht hätten. Ich war mit Kisha völlig einer Meinung und bereitete mich innerlich darauf vor, mit ihr zusammen eine weibliche Front gegen ein verblendetes männliches Ego zu eröffnen. Wenn ich schon ausnahmsweise mal weibliche Unterstützung hatte, könnte ich die Gelegenheit auch gleich dazu nutzen, um Alec vorsorglich den Kopf abzureißen, falls er tatsächlich bereit war, meinetwegen Chaos-Magie einzusetzen. Entschlossen beschleunigte ich meinen Schritt und nach wenigen Metern war ich so nahe, dass aus dem Stimmengewirr verständliche Worte wurden.

„Verliebt?“, höhnte Kisha. „Du hast dich doch erst in Fate verliebt, nachdem sie etwas mit Rick angefangen hatte. Erst dann, als du dir sicher warst, dass du sie nicht haben kannst.“

„Du weißt nichts über Fate und mich. Ich war für sie da, als Rick sie verlassen hat. Beide Male. Das erste Mal wollte sie es nicht glauben. Doch beim zweiten Mal war Fate fast so weit, zu erkennen, dass sie zu mir gehört. Nur ihre Schuldgefühle haben sie davon abgehalten, mit mir glücklich zu werden – und das hat Rick sich prompt zunutze gemacht, um sie mit diesem beschissenen Blutsbund an sich zu ketten. Aber das wird nicht funktionieren, denn das nächste Mal, wenn er Fate verlässt ...“

„Es gibt kein nächstes Mal!“, rief ich dazwischen und lief zu Alec. Mit beiden Händen schubste ich ihn rückwärts gegen den Felsen. „Rick wird mich nicht verlassen! Nie mehr! Was fällt dir überhaupt ein, so einen Mist zu reden!“ Aufgebracht wollte ich ihn erneut schubsen, als könnte ihm das diesen Unsinn aus dem Kopf treiben, doch Alec packte meine Handgelenke.

„Es wird ein nächstes Mal geben“, erwiderte Alec, „weil er sich mit Freuden in Gefahr begibt. Weil Rick lieber mit seinen Männern auf Beutezug durch die Gegend streift, als bei dir zu sein. Siehst du es denn nicht, Fate? Rick ist nicht mehr der nette edle Magier, der den Schwachen hilft. Er ist nicht das, in was du dich verliebt hast. Rick ist ein Monster, das anderen ihr Blut aussaugt und ihre Kräfte stiehlt.“

„Es geht nicht darum, was Rick ist“, warf Kisha ein. „Es geht darum, was Fate für dich ist, Alec. Du benutzt sie, um dich selbst zu bestrafen.“

Alec und ich starrten Kisha gleichermaßen entsetzt an.

„Es ist dein Selbsthass, der dich antreibt“, sprach Kisha unbeirrt weiter. „Sich ausgerechnet in Fate zu verlieben ist geradezu perfekt, um dich selbst zu quälen – weil Fate die einzige ist, die deine vermaledeite Schwester Susan durchschaut hat. Und auch dich. Wenn du in Fates Nähe bist, dann lässt du Susan und deine Hassliebe zu ihr wiederauferstehen. Nein, falsch, du hast sie nie gehen lassen. Du hast Susan getötet, aber sie ist noch immer in dir, und du gibst dir große Mühe, sie keine einzige Sekunde lang zu vergessen, damit du nicht glücklich sein kannst. Genau deswegen redest du dir ein, ausgerechnet in Fate verliebt zu sein.“ Kisha wandte sich an mich. „Alec hat dich so oft gerettet, dass Ricks Dankbarkeit längst seinen Hass besiegt hätte. Würde Alec sich nicht darauf versteifen, in dich verliebt zu sein, wäre er Ricks Freund geworden. Doch Alec bevorzugt es, gehasst zu werden. Vorzugsweise von jemandem, der stark genug ist, um ihn zu töten. Gehasst und einsam. Das ist seine selbstauferlegte Bestrafung, weil er seine Schwester getötet hat.“

„Netter Monolog“, mischte sich plötzlich eine andere Stimme ein. Es war Lenny. „Aber das Offensichtliche hast du vergessen, Kisha. Wenn Rick getötet wird – und die Chancen dafür sind dank meiner holden Schwester Daretree momentan ziemlich hoch –, dann könnte Alec tatsächlich mit Fate glücklich werden. Das ist es, was Alec gemeint hat: Wenn Rick seine heiß geliebte Fate das nächste Mal verlässt, wird es endgültig sein.“

„Seid ihr alle krank im Kopf?!“, schrie ich. „Wie könnte ihr über Ricks Tod reden, als sei das eine Option an der Börse?“

„Weil es für Alec genau das ist“, antwortete Lenny. „Eine Option. Sogar eine verdammt gute Option.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Kisha. „Es ist keine Option, denn Ricks Tod wird auch Fate umbringen. Sie haben einen Blutsbund. Wenn Rick stirbt, wird Fate das nicht überleben. Alec wird sie nur als Leiche kriegen.“

„Als ob Alec sie jemals sterben lassen würde“, warf Lenny ein. „Er liebt Fate und du weißt das.“

„Scher dich zum Teufel!“, fauchte Kisha. „Das alles geht dich überhaupt nichts an.“

Du gehst mich sehr wohl etwas an“, protestierte Lenny. „Was muss ich denn noch tun, damit du mir ...“

„Nimm deinen fetten Psycho-Bruder und verschwinde! Das kannst du tun!“

„Du bist so verdammt selbstgefällig“, rief Alec, der endlich seine Sprache wieder gefunden hatte. „Lenny hat uns allen den Hintern gerettet. Auch dir! Weißt du, Kisha, vielleicht hast du recht, vielleicht will ich mich selbst betrafen. Aber zumindest bestrafe ich niemand anderen für etwas, was er gar nicht getan hat. Es ist nicht Lennys Schuld, dass du dein Auge verloren hast. Streng genommen kann noch nicht einmal Pax etwas dafür. Du weißt, dass Daretree ihn nur als Werkzeug benutzt hat. Daretree zu hassen, das ist Okay, denn sie hat Schreckliches mit dir gemacht. Aber warum muss auch Lenny dafür büßen? Buße für etwas, das er nicht getan hat. Ist das deine Vorstellung von Gerechtigkeit?“

Kisha sah Alec an, als wollte sie ihm die Gurgel rausreißen und instinktiv stellte ich mich schützend vor Alec.

„Okay, liebe Kinder – das war genug für einen Abend!“ Josh kam hinzu. Robin war dicht hinter ihm. „Wir werden uns jetzt alle eine kleine Auszeit gönnen.“ Josh legte Alec einen Arm um die Schulter und zog ihn mit sich. „Alec und ich werden oben auf den Klippen ein bisschen Klettern üben und Robin hat noch ein paar unglaubliche unwichtige Dinge mit Lenny zu klären.“

Während Josh mit sanfter Gewalt Alec nach schräg links zu den aufragenden Klippen drängte, ging Robin zielstrebig auf Lenny zu und zerrte ihn zurück Richtung Sägewerk.

Kisha war dann wohl meine Aufgabe. Großartig, ganz großartig. Hatten die Jungs nicht kapiert, worüber sich Kisha gerade aufgeregt hatte? Unsensibles Männerpack! Vermutlich hatten sie einfach nur Angst vor Kisha und sie daher großzügig mir überlassen. Oder war das wieder so ein Geschlechterding? Mist!

Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Zumindest war die geographische Richtung klar, da die Jungs Richtung Sägewerk und Steilklippen gezogen waren. Für uns Mädels blieb nur der Gang zum Strand übrig.

Mit möglichst ausdrucksloser Miene sah ich Kisha an und enthielt mich jeden weiteren Kommentars. Normalerweise lockert das bei Frauen die Zunge und sie sagten irgendetwas, worauf ich reagieren konnte. Dummerweise schien Kisha eine ähnliche Strategie wie ich selbst zu verfolgen: Mund halten und abwarten. Schweigen breitete sich aus.

Zur Hölle damit! Wir hatten echt andere Probleme, als diesen Vergangenheits-Soap. Andererseits war die Ursache des Streits nahe liegend. Daretree war unser Hauptproblem und zugleich der gemeinsame Nenner für dieses emotionale Höllenfeuer. Sie hatte Kishas Auge auf dem Gewissen und egal wie das gelaufen war und wer wen benutzt hatte, Lenny und Pax waren Daretrees Geschwister. Und genau wegen dieser verfahrenen Familiengeschichte hatte Lenny uns geholfen.

Verdammt! Ich wusste immer noch nicht, was ich zu Kisha sagen sollte. Aber weiterhin hier rumzustehen und sich anzuschweigen, machte die Sache nicht besser. Vielleicht fiel mir auf dem Weg zum Strand was ein. Oder auch nicht. Reden wurde sowieso überschätzt. Schweigend ging ich an Kisha vorbei und bedeutete ihr, mir runter zu den Klippen zu folgen. Erstaunlicherweise trottete sie mir tatsächlich hinterher. Das war immerhin ein Anfang.

Seufzend ging ich voraus Richtung Meer. Ich vermied die Stelle, wo Rick und ich über einander hergefallen waren, das wäre mir irgendwie schräg vorgekommen. Stattdessen wählte ich einen kleinen Umweg. Ich schielte immer wieder zu Kisha. Sie blieb dicht hinter mir. Zwar wortlos und schlecht gelaunt, aber immerhin kam sie mit. Je länger unser Fußmarsch dauerte, umso entspannter wurde ihre Miene. Ich beschloss, den kleinen Umweg etwas größer zu machen. Als Kisha sich dann endlich so weit beruhigt hatte, dass sie nicht mehr hinter mir her stapfte, sondern sich dicht neben hielt, kraxelte ich nach oben auf einen Felsvorsprung, an dem sich die Wellen brachen. Die Sonne war zwar schon lange hinterm Horizont verschwunden, aber die hereinbrechende Nacht war durch ein letztes Schimmern des Abendrots und den Schein des Vollmondes erhellt. Alles war angenehm gedämpft und in sanfte Farben gehüllt. Irgendwie fand ich es leichter mit Kisha zu reden, wenn wir nicht dem grellen Tageslicht ausgesetzt waren.

Mit einem Seufzer ließ ich mich auf dem Steinboden nieder. Kisha folgte meinem Beispiel. Wir saßen nebeneinander und starrten auf die aufgewühlte See. Noch immer Schweigen zwischen uns. Aber es war nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Irgendwie fühlte sich das sogar richtig gut an.

Oder ging das nur mir so? Nun wurde mir doch ein wenig mulmig und ich blickte zu Kisha.

„Fragst du dich, ob ich dich jetzt hasse?“, kommentierte sie meinen Blick.

„Ähm ... Na ja, so was in der Art“, gab ich zu.

„Die Antwort ist nein. Kein Mann sollte eine Frauenfreundschaft zerstören können.“

„Wir sind Freundinnen?“, freute ich mich. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Zumindest nicht gerade jetzt nach diesem Streit.

Kisha drehte sich zu mir und beäugte mich amüsiert. „Ich würde sagen, wir sind sogar die allerbesten Freundinnen, die wir haben. Oder ziehst du mir Maakra etwa vor?“

Diese Vorstellung brachte mich zum Lächeln. Kisha hatte Recht. Wir lebten in einer Männerwelt. Und die einzigen beiden anderen Frauen, Maakra und Fanny, kamen als Freundinnen nicht in Frage. Sie waren für mich das, was für Kisha ihre kleinen Streuner waren, denen sie unter den Bahnhofsgleisen Schutz gewährte.

„Allerbeste Freundinnen“, murmelte ich. Ich fragte mich, wann es dazu gekommen war. Unsere erste Begegnung war ziemlich feindselig verlaufen. „Dann waren die Fesseln damals so eine Art Freundschaftsarmbändchen?“, spottete ich.

„Ja“, antwortete Kisha ohne auf meinen scherzhaften Tonfall einzugehen. „Hätte ich dich nicht als meine zukünftige beste Freundin erkannt, hätte ich dich sofort getötet.“

„Du hast Robin also nur getestet“, stellte ich fest. Irgendwie beruhigend, dass ich nicht die einzige war, mit der man ständig solche dämlichen Tests durchführte. Manchmal hatte ich das Gefühl, das ganze Leben war ein einziger beschissener Test. Oder vielmehr das Überleben.

„Es wurde Zeit, dass Robin endlich erwachsen wird und mir die Stirn bietet.“ Kisha nahm einen kleinen Stein und warf ihn ins Wasser. Dann änderte sie ihre Sitzposition so, dass sie mich direkt ansehen konnte ohne sich den Hals zu verrenken. „Ich weiß, dass der Beginn unserer Freundschaft etwas holprig war“, sprach sie weiter. „Aber wir haben uns von Anfang an respektiert. Du hattest keine Angst, weder vor mir noch vor meinem vernarbten Gesicht. Und was Alec betrifft: Ja, ich finde es schade, dass er auf dich fixiert ist.“

„Aber du bist nicht in ihn verliebt?“, vergewisserte ich mich vorsichtig.

„Nein.“ Ein sehr knappes Nein. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Aber es war kein freundliches Lächeln.

„Benutzt du Alec, um Lenny weh zu tun?“, spekulierte ich.

„Ja, das tue ich“, gab sie freimütig zu. „Ziemlich offensichtlich, oder? Funktioniert trotzdem. Und außerdem ...“ Sie gab ein bitteres Lachen von sich. „Weißt du, es ist verdammt lange her, dass ich mit einem Mann zusammen war. Das da“, sie zeigte auf ihre leere Augenhöhle, „schreckt die meisten ab. Aber Alec scheint es gar nicht zu bemerken“, fügte sie leise hinzu und wandte den Blick aufs offene Meer. „Soll ich dir ein offenes Geheimnis verraten? Alec ist der erste Mann, den ich nackt gesehen und mit meinen Händen an all den intimen Stellen berührt habe, seit ...“ Sie brach ab.

„Seit Lenny?“, riet ich.

„Ich hatte keine Hintergedanken als ich Alecs Wunden versorgt habe“, stellte Kisha klar. „Dein blonder Freund ist zwar ein hübsches, drahtiges Kerlchen, aber um ehrlich zu sein, hat es mich einiges an Überwindung gekostet, ihn überall anzufassen. Wärst du dazu in der Lage gewesen, dann hätte ich dir diese Arbeit mit Freuden überlassen. Alecs von Strangorren-Bissen zerfleischter Körper war wirklich kein schöner Anblick. Ganz zu schweigen von dem Gestank. Blut, Dreck und Pisse ... Da kamen bei mir ziemlich üble Erinnerungen hoch.“ Kisha atmete tief durch. „Aber als Alec erwachte und erfuhr, dass ich ihn versorgt hatte, seinen nackten Körper an so ziemlich jeder Stelle mit dem Heiltrank eingerieben hatte, da sah er mich an. Mich. Nicht diesen Krater in meinem Gesicht. Er hat mich angesehen. Ohne Abscheu. Ohne Mitleid. Stattdessen voll Respekt. Vielleicht sogar mit Zuneigung, weil ich dir geholfen habe ... Es ist lange her, dass ein Mann mich so angesehen hat.

„Was ist mit Lenny?“

„Lenny ...“, murmelte sie. Ihre Züge verhärteten sich, als sie seinen Namen aussprach.

„Magst du ihn immer noch?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich will ihm wehtun! Das hast du ganz richtig erkannt.“

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

„Lenny war damals der Grund, dass ich mich Daretree angeschlossen habe.“

„Und du bist der Grund, dass er sich von Daretree losgesagt hat. Du bist der Grund, dass Lenny sein Leben riskiert hat und noch immer hier ist.“

„Lenny spielt den Samariter für das fette Ungeheuer, das mir mein Auge rausgerissen hat. Er liebt diese kranke Missgeburt. Ich hingegen hasse Pax. Ich hasse ihn! Und wenn er tausendmal nichts dafür kann. Ich hasse ihn trotzdem! Und deswegen kann ich niemals mit Lenny zusammen sein: Denn wo Lenny ist, da ist auch Pax.“

„Pax ist sein Bruder. Lenny hat keine Wahl. Würde er seinen Bruder bei Daretree lassen, würde sie Pax wieder dazu benutzen, anderen wehzutun.“

„Lenny hat die Wahl“, widersprach Kisha, „die hatte er immer. Glaubst du etwa, Lenny macht das, weil er ein so großes Herz hat? Vergiss es! Sich um seinen schwachsinnigen Brutalo-Bruder zu kümmern, ist genau Lennys Ding. Aber ich habe keine Lust, als die entstellte Freundin in sein Gruselkabinett einzutreten!“

„Gruselkabinett? Geht es darum?“

Kisha überlegte kurz. „Ja, vielleicht ist das der springende Punkt. In Lennys Nähe fühle ich mich wie das entstellte Monster, zu dem mich Daretree gemacht hat. Doch wenn ich mit dir und Alec zusammen bin, dann vergesse ich, wie mein Spiegelbild aussieht.“

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Also hielt ich den Mund und sah sie an. Der Vollmond spendete genug Licht, um Kishas zarte Gesichtszüge zu erkennen: Fein geschnitten, geradezu edel, und mittendrin der zerfurchte Krater rund um ihr zerstörtes Auge. Das alles war Kisha, gehörte zu ihr und ihrer Geschichte. Für mich sah sie wunderschön aus.

Kisha schlang die Arme um sich als wäre ihr kalt. Auf einmal verstand ich. Alec war der erste Mann, den Kisha seit Lenny berührt hatte. Aber es war sogar noch viel schlimmer: Seit Lenny kannte Kisha keine Zärtlichkeit mehr. Kisha hatte zwar ihre Schar von Kindern, aber das waren ihre Schützlinge, die sie umsorgte. Das war etwas anderes. Es ging nicht darum, dass Kisha seit Lenny keinen Mann mehr an sich heran gelassen hatte. Kisha hatte nichts und niemanden mehr an sich herangelassen. Was Kisha so schmerzlich vermisste war eine liebevolle Berührung. Eine tröstende Umarmung, wenn die Einsamkeit erdrückend wurde. Doch wer sollte das bei Kisha tun? Selbst mit Robin und Tozzo, ihren engsten Vertrauten, wahrte sie körperliche Distanz. Ansonsten waren Kämpfe und Schläge der einzige Körperkontakt, seit Pax ihr das Auge herausgerissen hatte.

Bevor ich Rick begegnet war, hatte ich viele lange Jahre als eigenbrötlerischer Single gelebt. Niemand hatte mich berührt. Außer wenn ich mir mit Blutspenden Geld verdienen musste und sie Nadeln in mich hinein gestochen hatten. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn die Haut verhungerte, weil sie keine Zärtlichkeit bekam.

Vorsichtig rutschte ich näher zu Kisha und berührte fragend mit dem Handrücken ihren Arm, den sie fest um die Knie geschlungen hatte. Erst zuckte sie zusammen, doch dann seufzte sie wie ein kleines Kind. Ich legte meine Hand auf ihren Rücken und streichelte sie. Ich hatte das noch nie bei einer Frau gemacht. Aber ich hatte auch noch nie eine beste Freundin wie Kisha gehabt.

„Wenn du das irgendjemand erzählst, bringe ich dich um“, flüsterte Kisha mit erstickter Stimme.

„Ich weiß.“ Ich zog sie an mich und nahm sie in den Arm. Sie schmiegte ihre Wange an die kleine Kuhle zwischen meinem Hals und Schultern. Ich streichelte sie weiter, über ihren Rücken, Kopf und ihre wunderschönen Haare. Ich fühlte ihre Wärme und konnte spüren wie sie lächelte. Es war ein gutes Gefühl. Ich atmete den Salzgeruch der Wellen ein und schloss die Augen.

Plötzlich spürte ich, wie sich Kishas Körper versteifte. „Nicht bewegen!“, zischte sie.

Alarmiert riss ich die Augen auf. Ich konnte nichts Bedrohliches entdecken. Nicht in meinem Sichtfeld. Kishas Kopf jedoch lag noch immer in meiner Halsbeuge, sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, was hinter mir war. Ganz offensichtlich gefiel ihr der Anblick nicht.

„Was ist ...?“, flüsterte ich.

„Still!“, fiel sie mir ins Wort.

Ich schluckte. Und dann spürte ich etwas. Wärme. Als würde sich von hinten eine Heizung nähern. Oder etwas sehr großes Warmes. Kisha presste sich fester an mich. Ihre Finger hielten mich fest wie ein Schraubstock, als wollte sie mich daran hindern, mich zu bewegen.

Da teilte sich die seltsame Wärme hinter mir. Ein Teil bewegte sich schräg nach rechts, zu der Seite, an der Kisha lehnte. Ein anderer Teil bewegte sich nach links, schlich sich um mich herum. Erst jetzt bemerkte ich, wie dunkel es geworden war. Ich schielte nach links und sah eine schemenhafte Gestalt. Kaum zu erkennen, nicht mehr als ein Umriss. Ein verdammt großer Umriss. Wie eine langgezogene überdimensionale Katze mit zu vielen Beinen. Ich zählte elf – aber das konnte nicht stimmen, oder? Elf Beine machten keinen Sinn, es gab kein Tier mit einer ungeraden Anzahl von Beinen. Was zur Hölle war das?

Wie um mir zu antworten, hob das Ding den Kopf und riss das Maul auf. Zähne blitzten. Gleichzeitig schnellte der vordere Teil des Körpers in die Höhe. Krallen schossen auf mich zu. Instinktiv warf ich mich auf Kisha. Scharfe Klauen rissen meinen Rücken auf. Der Schmerz brannte zwischen meinen Schultern. Ich schrie und drückte reflexartig den Rücken durch. Vor mir erschien ein zweites Maul. Heißer, stinkender Atmen blies mir ins Gesicht. Zähne kamen näher, um meinen Kopf abzubeißen.

Das war‘s, dachte ich und schloss die Augen.

Ein Zischen vor mir. Ein wütendes Fauchen hinter mir. Brandgeruch.

„Runter!“, befahl eine Stimme. „Drückt euch auf den Boden!“

Ich tat es, presste meine Körper auf Kisha. Hinter mir kreischende Schreie. Als würde man ein Baby abschlachten. Das Geräusch tat in den Ohren weh und überdeckte einen Moment lang den Schmerz in meinem Rücken.

Dann war es vorbei. Leises Wimmern und keuchender Atem eines Mannes. Ich blickte auf. Durago stand breitbeinig zwischen zwei versengten Kadavern. Die eine Tierleiche war völlig verkohlt und regungslos. Der andere Körper war nur angesengt und als katzenartiges Wesen erkennbar. Mit elf Beinen. Elf Beine mit verdammt scharfen Krallen. Es lebte noch, röchelte und schlug hilflos mit seinen scharfen Pranken ins Leere.

Kisha bewegte sich unter mir. Sie hielt sich den Kopf, an ihrer Schläfe eine Platzwunde. Als ich mich auf sie geworfen hatte, musste sie ziemlich hart auf den Felsboden geknallt sein. Ich erinnerte mich an meinen Rücken. Er tat erstaunlich wenig weh, die höllischen Schmerzen von gerade eben fast schon wieder verschwunden. Schock? Ich rappelte mich auf und betrachtete meine Hände: Leichter Tremor. Mir war kalt. Ja, ganz eindeutig Schock-Zustand, konstatierte der nüchterne Teil von mir.

Alles gut, nichts war passiert, nichts schlimmes, versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Ich war am Leben. Kisha hatte nur eine Beule. Alles gut.

Während Kisha sich unter mir herauswand, blieb ich auf meinem Hintern sitzen. Ich fühlte mich zu wacklig, um aufzustehen. Ich sah zu Durago. „Danke“, hauchte ich.

„Rick wird mir den Arsch aufreißen“, war seine Antwort. „Schon wieder Blutgeruch. Verdammte Scheiße! Und jetzt auch noch von euch beiden. Kisha riecht auch nicht gerade normal. Fuck!“ Durago ging zu dem zuckenden Tierkörper und ließ sich auf die Knie fallen. Er packte das halbtote Wesen von hinten am Hals und drückte den schnappenden Kiefer zu Boden. Dann biss er in den Nacken des Tieres und begann zu saugen.

Da verstand ich. Diesmal befürchtete Durago nicht, der Geruch meines Blutes könnte uns verraten. Er hatte viel dringlichere Probleme. Der Blutgeruch nagte an seiner Selbstbeherrschung. Durago war erst in der zweiten Schicht, hatte also noch nichts getrunken und war offensichtlich ziemlich hungrig. Fasziniert beobachtete ich, wie er sich von dem Tier nährte. Ich hatte Strangorren noch nie trinken sehen. Rick hatte zwar mein Blut gekostet – und ich das von ihm. Aber das war anders gewesen. Ein erotischer Biss während des Liebesspiels. Wild und erregend. Wir hatten nicht viel von dem anderen genommen. Es war um den Nervenkitzel gegangen, Adrenalin und Lust.

Durago hingegen brauchte das Blut, um seinen Hunger zu bekämpfen und die Kontrolle zu behalten. Er verzog das Gesicht, es schien ihm nicht besonders zu schmecken. Trotzdem trank er weiter von dem seltsamen Tier.

Kisha rappelte sich auf und half mir auf die Beine. Ich vergewisserte mich mit prüfendem Blick, ob es ihr gut ging. Aus Erfahrung wusste ich, dass Kopfwunden meist schlimmer aussahen als sie tatsächlich waren. Kisha hatte scheinbar nur ein Kratzer, es blutete nicht besonders stark und sie schien auch keine großen Schmerzen zu haben.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Durago. Er nahm noch einen letzten Schluck von dem zuckenden Tier, schüttelte sich und spuckte aus. Dann zog er ein Messer hervor und schlitzte er dem Tier mit einer schnellen Bewegung die Kehle auf. Laut fluchend stand er auf und spuckte nochmal auf den Boden.

„Nachtsicc“, erklärte Durago. „Widerliches Dreckszeug. Schmeckt wie Jauche.“ Er wandte sich von dem Kadaver ab, ging auf mich zu und drehte mich um. „Rick wird mich umbringen“, knurrte er während er meinen Rücken untersuchte.

„Es tut nicht besonders weh“, beruhigte ich ihn. „Es scheint auch nur ganz wenig zu bluten, das hört bestimmt von alleine wieder auf.“ Ich machte mich von ihm los. „Ohne dich wäre ich jetzt tot. Du hast uns gerettet. Ich danke ...“

„Ich hab versagt!“, fiel Durago mir ins Wort. „Rick hat mir nur eine einzige Aufgabe gegeben: Auf dich zu achten und dich zu beschützen, während er weg ist.“

„Du bist uns gefolgt?!“, fauchte Kisha. „Du hast uns belauscht?!“ Ihre Wut war greifbar. Von Dankbarkeit keine Spur.

„Ich habe auf Gefahren gelauscht“, entgegnete Durago. „Das Geplapper von euch hat mich nur abgelenkt.“

Kisha verengte ihre Augen und giftete ihn an: „Wenn du den anderen auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erzählst, was du gehört oder gesehen hast ...“

„Keine Sorge“, fiel ihr Durago ins Wort. „Ich werde ganz sicher nicht rumerzählen, dass ich es versaut habe, weil ich mit sabberndem Maul da saß und dachte, ihr zieht jetzt eine heiße Lesben-Nummer ab.“

„Du widerlicher Scheißkerl!“ Kisha wollte auf ihn losgehen.

„Aufhören!“, rief ich.

Ich schaffte es gerade noch, mich zwischen die beiden zu schieben. Kisha rempelte mich an und ich knallte mit meinem aufgekratztem Rücken gegen Durago. Jetzt tat es weh. Mir wurde übel und ich kämpfte mühsam den Brechreiz nieder während ich mich an Duragos Arm festkrallte, um nicht umzukippen. Durago wollte mich hochheben und tragen.

„Nein, ich kann alleine gehen“, protestierte ich und machte mich von ihm los. „Hat Rick dir befohlen, meinen Leibwächter zu spielen?“

„Rick sagte, solange er mit den anderen unterwegs ist, bin ich für den Schutz von euch allen verantwortlich.“

Die Sache mit Stellvertreter hatte Rick ziemlich schnell in die Tat umgesetzt.

„Doch ich habe es nicht geschafft, seine Gefährtin zu schützen“, fügte Durago grimmig hinzu.

Ah ja. Ricks Gefährtin. Vielsagende Formulierung. Für Durago war ich noch lange nicht seine Alpha, sondern lediglich Ricks Gefährtin.

„Rick weiß, dass ich eine natürliche Begabung dafür habe, in Schwierigkeiten zu geraten“, erwiderte ich. „Er wird mir die Schuld geben. Lass mich raten: Rick hat dir auch gesagt, dass ich es möglichst nicht mitbekommen soll, wenn du den Babysitter für mich spielst. Richtig?“

Durago gab ein vielsagendes Grunzen von sich. Das hieß dann wohl ja. Rick war ein unverbesserlicher Kontroll-Freak und diese Heimlichtuerei machte es nicht besser! Dämlicher Macho. Da standen mir noch etliche Kämpfe bevor. Aber jetzt gab es dringlicheres.

Seufzend richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die praktische Schadensbegrenzung. Zuerst musste ich den Blutgeruch loswerden. Im Lager gab es noch mehr hungrige Strangorren. Außerdem konnte es nicht schaden, die Wunden auszuwaschen – auch wenn das Salzwasser höllisch weh tun würde.

„Ich geh runter zum Wasser und mach mich sauber.“

„Nein, das ist zu gefährlich“, sagte Durago.

„Verschon mich mit dem Beschützer-Mist“, entgegnete ich schnippisch. „Dafür ist es zu spät.“ Manchmal bohrte ich gern in offenen Wunden. Vor allem, wenn das mein Gegenüber mundtot machte. Ungelenk kraxelte ich an einer flacheren Stelle runter zum Wasser. Trotz meiner bösen Sprüche war ich insgeheim froh, dass Durago und Kisha mich flankierten. Auch wenn mir Durago ein wenig zu dicht auf die Pelle rückte. Als ich unten beim Wasser angekommen war, hatte ich endgültig genug.

„Ich muss mein Oberteil ausziehen, um das Blut abzuwaschen“, sagte ich zu Durago.

Wortlos zerrte sich Durago sein Shirt über den Kopf und drückte es mir in die Hand.

„So war das nicht gemeint.“ Ich wollte ihm sein Shirt zurückgeben, doch Kisha hielt mich ab.

„Dein eigenes ist hin“, sagte Kisha. „Völlig zerfetzt vom Nachtsicc. Also nimm das Teil von Durago.“

„Und zur Belohnung für ihre Vernunft, bekommt Kisha endlich mal wieder einen nackten Männerkörper zu sehen“, spottete Durago.

„Du Arsch!“, fauchte Kisha.

„Wenn du den auch sehen willst, musst du nur Bescheid sagen. Ich stehe dir gern zur Verfügung.“

„Schluss jetzt!“, rief ich und starrte Durago genervt an. „Wenn du unbedingt Kisha anbaggern willst, dann mach das. Aber nicht jetzt! Los, verschwinde! Ich muss mich waschen.“

Durago reagierte nicht.

„Ich sagte: verschwinde! Oder glaubst du allen Ernstes, ich mach hier Striptease vor dir.“

„Rick hat gesagt, ich soll auf dich achten. Rick ist mein Alpha. Was er sagt ist Gesetz.“

„Wenn Rick rauskriegt, dass du mich angegafft hast während ich nackt im Meer war, was denkst du wohl, was dann passiert? Also hau ab!“

Durago knurrte und versuchte, mich nieder zu starren. Ich hielt seinem Blick stand. Gegen dieses Macho-Dominanz-Gehabe war ich immun! Das sollte Durago eigentlich klar sein, nach allem, was geschehen war.

Kisha schob sich zwischen uns. „Wenn du uns beschützen willst, dann halt uns den Rücken frei“, sagte sie zu Durago. „Von der Landseite aus droht Fate weitaus mehr Gefahr als vom Wasser.“

Wow, so viel diplomatisches Geschick hätte ich Kisha gar nicht zugetraut. Tatsächlich verzog sich Durago. Vorsichtig schälte ich mich aus meinem zerfetzten Shirt und dem nagelneuen BH, den mir Lluh besorgt hatte. Kisha ging neben mir in die Knie und half mir, die Wunden mit meinem Shirt abwaschen. Die Kratzer waren hauptsächlich zwischen den Schulterblättern. Das Salzwasser brannte erwartungsgemäß wie die Hölle. Um mich abzulenken untersuchte ich den BH. Wie durch ein Wunder hatte er es unbeschadet überlebt. Wäre auch echt schade drum gewesen. Lluh hatte ein ausgesprochen hübsches Spitzen-Teilchen ausgesucht. Angesichts meiner schmerzenden Rippen, beschloss ich jedoch, den BH vorerst nicht anzuziehen.

„Dein Rücken blutet kaum noch“, sagte Kisha und gab mir mein kaputtes Shirt zurück, das sie als Lappen benutzt hatte. „Aber die Wunden sehen trotzdem nicht gut aus.“

„Ich will gar nicht wissen, was ich mir deswegen wieder von Rick anhören muss“, stöhnte ich und betrachtete bedauernd mein zerfetztes Shirt. Lluh kannte nicht nur meine Vorliebe für Spitzenunterwäsche, sondern auch meinen ansonsten schnörkellosen Kleidungsgeschmack. „Mein kaputtes Oberteil nehm ich besser mit, bloß keine Spuren hinterlassen. Und vielleicht kann Fanny noch irgendwas davon retten, es ist ja nur hinten kaputt. Ich mag das Shirt, es ist um Welten besser als die albernen Rüschen-Blusen, die Fanny sonst für mich auf Lager hat“, grummelte ich. „Man muss nicht immer alles gleich verbrennen, nur weil ein bisschen Blut drauf gekommen ist. Ich spül es nochmal gründlich im Salzwasser, damit es nicht mehr nach Blut riecht.“

Während ich mein Shirt im Meer auswusch, zog auch Kisha ihr Oberteil aus und schrubbte ihren Ärmel, der mit dem Blut ihrer Kopfwunde beschmutzt war. Bevor ich Duragos Shirt anzog, tupfte Kisha die letzten Blutstropfen zwischen meinen Schultern mit einem Taschentuch ab. Ich erwiderte ihr den Gefallen an ihrer Stirnwunde. Anschließend zerrissen wir die blutigen Taschentücher in kleine Stücke und warfen sie ins Meer. Die Schnipsel tanzten auf den Wellen, während sie langsam tiefer sanken. Das dünne Papier würde sich rasch auflösen. Ich sah zu Kisha. Plötzlich mussten wir beide grinsen. Ohne ersichtlichen Grund.

Ein echter Mädels-Abend.

Nachdem wir fertig waren traten wir den Rückweg an. Als wir an den beiden Tierkadavern vorbeikamen, blieb ich kurz stehen und betrachtete den weniger verkohlten Leichnam. Der Körper war katzenartig und etwa zweieinhalb Meter lang. Ich hatte mich nicht verzählt, es waren tatsächlich elf Beine, wobei das Elfte direkt oben am Hals neben dem Maul ansetzte und viel längere Klauen hatte als der Rest: Vermutlich zum Reißen und nicht zum Laufen. Zwischen den Brandwunden konnte man kurzes schwarzes Fell durchschimmern sehen. Lebendig waren es bestimmt sehr schöne Tiere.

„Was ist ein Nachtsicc?“, fragte ich.

„Das, was du vor dir siehst“, antwortete Durago.

„Geht es auch ein bisschen genauer?“ Dämlicher Idiot. Wollte er mich absichtlich ärgern?

„Sie können lautlos schleichen und sind nur Nachts unterwegs“, erklärte Kisha. „Tagsüber verkriechen sie sich in Höhlen, notfalls buddeln sie sich selbst eine. Sie sind immer als Pärchen auf der Jagd. Ein Weibchen und ein Männchen. Wenn einer von ihnen stirbt, bleibt der andere allein und verhungert.“

„Dann ist es wohl besser, dass sie jetzt beide tot sind“, meinte ich.

„Klingt fast so, als hättest du Mitleid mit ihnen“, wunderte sich Kisha.

„Es sind schöne Tiere und sie tun nur das, was ihre Natur ist“, antwortete ich spontan.

„Außer, es hat sie jemand abgerichtet“, warf Durago ein. „In dieser Gegend sollte es keine Nachtsicc geben. Sie leben eigentlich in den warmen Hochebenen im Hinterland. Direkt an der Küste trifft man die normalerweise nicht.“

„Großartig“, murmelte ich.



3


Auf dem Rückweg merkte ich, dass ich nicht nur Kratzer hatte, sondern auch meine Rippen geprellt waren. Oder gebrochen. Es tat beim Atmen weg. Außerdem müffelte Duragos Shirt. Das wohlige Gefühl frischer Kleidung hatte nicht lange angehalten, dachte ich wehmütig. Als wir das Lager fast erreicht hatten, blieb Durago plötzlich stehen. Alarmiert sah ich mich um.

„Du musst keine Angst haben“, beruhigte mich Durago. „Du nicht ....“ Er senkte den Kopf und ging auf die Knie.

Im nächsten Moment stürmte Rick auf mich zu, packte mich und tastete mich ab. Ich gab einen kleinen Schrei von mir. Weniger, weil meine Rippen schmerzten, sondern vor Überraschung. Rick gab einen grollenden Laut von sich. Ich spürte den Dämon unter der Oberfläche brodeln. Verdammt, jetzt wusste ich, was Durago gemeint hatte.

„Mir geht es gut. Alles in Ordnung.“ Instinktiv umarmte ich Rick. Oder vielmehr, ich hielt ihn fest, damit er nicht auf Durago losging.

„Ich habe versagt“, gestand Durago demütig und goss Öl ins Feuer. „Sie wurden angegriffen, ich war zu langsam. Es war meine Schuld.“

Ricks Körper versteifte sich und wurde heißer. Das war gar nicht gut.

„Durago hat uns gerettet!“, rief ich und umklammerte Rick so fest ich konnte. „Ohne ihn wäre ich tot! Er hat mir das Leben gerettet. Mir und Kisha!“

Rick schien mich nicht zu hören. Seine Fangzähne schossen hervor und seine Haut verfärbte sich, Strangorren-Muster wurden sichtbar. Glut flammte in seinen Augen auf als er den Blick auf Durago richtete. Verfluchter Mist, Durago war in ernsthafter Gefahr.

Ich krallte mich noch fester an Rick und küsste ihn, spürte die spitzen Zähne. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, drückte ich meine Lippen so heftig auf seinen Mund, dass seine Zähne mich schnitten. Ich schmeckte mein eigenes Blut und vertiefte den Kuss. >Bitte tu Durago nichts!<, nutzte ich unsere Blutsverbindung, um zu Rick durchzudringen. >Es war nicht seine Schuld!<

Doch auch durch unseren stummen Austausch konnte ich Rick nicht aufhalten. Seine Wut war wie heißes Feuer. Aber wie sollte ich es löschen? Wie sollte ich Rick ablenken, damit er Durago nicht blindwütig umbrachte? Das einzige, was ich durch unsere Blutsverbindung jemals so stark gespürt hatte wie diese grenzenlose Wut, war Ricks animalische Lust. Also dachte ich an Sex, was Besseres fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Ich zeigte Rick meine Erinnerungen daran, wie wir uns auf den Klippen geliebt hatten. Und wie er in den Sümpfen über mich hergefallen war, um unseren Blutsbund zu besiegeln. Ich dachte an all die Momente als der Dämon in ihm aufgestiegen war, während wir Sex hatten.

Es funktionierte! Ricks Aufmerksamkeit richtete sich auf mich, die Wut auf Durago verblasste. Rick erwiderte den Kuss, saugte an dem winzigen Schnitt, den seine Zähne an meinen Lippen hinterlassen hatten. Seine Hand griff nach meinem Hintern. Er hob mich hoch und drückte mich gegen seine Erregung. Instinktiv rieb ich mich an ihm, schürte seine Lust, um ihn bei mir zu halten. Rick ging mit mir auf die Knie und warf mich auf den Boden. Er riss Duragos Shirt von meinem Oberkörper und warf die Fetzen knurrend beiseite. Seine Hand schob sich in meine enge Jeans. Ich beeilte mich, den Verschluss zu öffnen, damit wenigstens ein Kleidungsstück ganz blieb.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, dass Durago noch immer am Boden kniete und uns fasziniert zusah. Verdammt! Ich hatte etwas angefangen und jetzt konnte ich es nicht mehr stoppen. Wollte Durago allen Ernstes dabei zuschauen, wie Rick mit mir Sex hatte?

Kisha war meine Retterin. Sie gab Durago einen Tritt in die Seite und schleifte ihn weg. Keine Sekunde zu früh. Rick war schon in mir und im nächsten Moment wurde ich ebenso von der Lust überrollt, wie er selbst. Wir hatten beide unsere Kleider nur soweit verschoben, wie es nötig war und keiner von uns wollte auch nur eine Sekunde mit Vorspiel verschwenden.

Es war kurz und heftig.

Und als es vorbei war, blickten wir uns überrascht und auch ein wenig entsetzt an.

„Oh, Scheiße“, murmelte Rick unter keuchenden Atemstößen. Seine Fangzähne waren verschwunden und seine Augen wieder dunkelblau. „Es tut mir leid, Fate. Man hat mich gewarnt, was diese Blutsverbindung auslösen kann, aber ich dachte nicht ...“

„Hey!“, fiel ich ihm ins Wort. „Kein Grund sich zu entschuldigen. Ich war genauso schnell wie du.“

Das entlockte ihm zumindest ein Lächeln.

„Kannst du spüren, wenn ich verletzt bin?“, fragte ich, als sich mein Herzschlag langsam wieder auf ein normales Niveau absenkte. „Kann ich das auch bei dir?“

„Über eine kurze Entfernung geht das. Je näher wir euch kamen, umso stärker konnte ich fühlen, dass etwas nicht stimmte. Und als ich dann merkte, dass du verletzt bist und auch noch nach Durago gestunken hast ... Ich wollte ihm die Kehle rausreißen!“ Rick blickte mich ernst an, so als wäre ich eine völlig Fremde. „Du hast instinktiv das getan, was Strangorren-Frauen seit Jahrhunderten tun, um ihren Mann zu beruhigen.“

„Hm. Ähm, na ja …“ Hatte ich etwa die dämonische Emanzipation um Lichtjahre zurückgeworfen? „Das bedeutet, du hast dich jetzt wieder im Griff und wirst Durago nicht die Kehle rausreißen?“, fragte ich vorsichtig. „Es war wirklich nicht seine Schuld.“

In knappen Worten schilderte ich Rick, was geschehen war. Das Frauengespräch ließ ich natürlich weg. Rick rollte sich von mir herunter und untersuchte meinen nackten Oberkörper. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ich scheinbar nur ein paar oberflächliche Blessuren hatte, konnte ich ihn diesmal sogar davon abhalten, mich schon wieder zu heilen. Denn immer wenn Rick mich heilte, kam ich mir wie ein Schwächling vor. Die paar Schrammen musste ich auch alleine aushalten können!

Nachdem Rick mit der medizinischen Inspektion meines Körpers fertig war, schob ich meine Hände unter sein Shirt und zog es ihm aus. „Gleiches Recht für alle“, murmelte ich und küsste ihn auf seinen Bauch. „Jetzt werde ich überprüfen, ob du auch gut auf dich aufgepasst hast.“

Rick ließ sich das Shirt ausziehen, doch als ich an seine Hose wollte, wehrte er sich. Ich gab einen empörten Laut von mir.

„Wenn du das tust, kommen wir heute nicht mehr zu den anderen zurück“, erklärte Rick. „Auch wenn ich das wirklich gerne auskosten würde. Aber wir müssen uns erst um unsere Männer kümmern. Diese Nachtsicc sind kein gutes Zeichen, wir müssen hier weg. Danach, mein blutrünstiger Liebling, können wir das hier in aller Ausführlichkeit ausdiskutieren.“

Blutrünstig war mein Stichwort.

„Einen Moment noch“, bat ich. Diese eine Sache musste ich noch klären. Ohne Zuhörer. >Wie schmeckt mein Blut jetzt? Was macht mein Blut mit Strangorren? Hat es sich durch Choccos Biss verändert? Hat es Heilwirkung?<

>Ging es vorhin darum? Cameron wollte testen, ob du ihn heilen kannst?<

>Nein, er wollte testen, ob mein Blut ihn umbringen wird.<

>Scheiße!<, fluchte Rick.

>Cameron ist verzweifelt, Rick. Es tut mir weh, ihn so zu sehen. Ihn und seine Familie. Sie haben alles aufgegeben: Für dich. Und ein bisschen auch für mich. Cameron und seine Familie sind die einzige, die es auch für mich getan haben. Wenn es nur die geringste Chance gibt, dass mein Blut Cameron helfen kann, dann muss ich das wissen. Bitte, Rick, sag es mir ehrlich: Was macht mein Blut mit Strangorren? Was macht es mit dir?<

>Ich bin kein reinrassiger Strangorr.<

>Cameron auch nicht! Sag mir, wie mein Blut bei dir wirkt.<

>Es schmeckt unglaublich, unwiderstehlich. Eine bittersüße Droge. Der Biss der kleinen Wölfin hat das noch verstärkt. Allein unsere Blutsverbindung gibt mir die Kraft aufzuhören. Noch. Komm niemals in meine Nähe, wenn ich Hunger habe.<

>Hat es Heilwirkung?<, bohrte ich nach.

Rick zögerte, bevor er mir antwortete: >Dein Blut wirkt nicht wie das eines Gestaltwandlers. Als ich Durago an dir gerochen habe, da bin ich schier ausgerastet. Überschäumende Wut hat sich mit der geballten Ladung Magie vermischt, die ich kurz vorher von meinen Opfern getrunken habe. Das Blut eines Gestaltwandlers hätte das noch weiter verstärkt und wahrscheinlich wäre Durago jetzt tot. Doch stattdessen hat dein Blut mir geholfen, mich wieder unter Kontrolle zu kriegen.< Er machte eine kurze Pause. >Cameron ist krank und verletzt. Dein Blut dämpft vermutlich seine Schmerzen, aber gleichzeitig könntest du ihn damit einschläfern wie einen altersschwachen Hund. Es ist zu riskant.< Laut fügte Rick hinzu – wohl wissend, dass ihn alle hören konnten: „Ich habe gerade dein Blut getrunken, Fate. Ich weiß, was es mit dem Dämon in mir macht. Du hattest nicht ohne Grund Strangorren-Male auf deiner Haut. Jeder Strangorr, der von deinem Blut nimmt, wird sterben! Wenn nicht durch dein Blut, dann durch meine Hand. Du wirst Cameron mit deinem Blut nicht heilen, Fate. Aber wir werden einen Weg finden, ihn zu retten!“

Ich fragte mich, weshalb er es auch laut gesagt hatte. Damit Zweifler überzeugt wurden? Damit keiner mich anrührte? Irgendetwas verschwieg er mir. Veränderte sich mein Blut immer noch? Veränderte ich mich? Streng genommen hatte er nicht direkt geleugnet, dass mein Blut Heilwirkung hatte. Doch bevor ich nachhacken konnte, nahm Rick meine Hand und zog mich auf die Beine.

„Komm jetzt“, sagte er. „Wenn Durago dich wirklich beschützt hat, sollten wir ihn nicht länger quälen.“

Ich durchschaute das Ablenkungsmanöver, aber ich wusste auch, dass Rick mir nicht mehr erzählen würde. Also gab ich nach. Vorerst. Nachdem Rick mir zum zweiten Mal an jenem Abend sein T-Shirt überlassen hatte, gingen wir gemeinsam zu den anderen zurück.


Ricks Männer waren draußen, man erwartete uns. Branco, Ricks großer hundeähnlicher Gefährte, kam uns entgegen und stupste mich mit seiner Schnauze. Ich kraulte ihn hinter den Ohren. Lluh war ebenfalls zurückgekehrt. Nach einer kurzen Begrüßung hatte er sich wieder zu Alec gesellt, der zusammen mit Johnny und Josh ein wenig abseits stand. Kisha und Durago hatten den anderen bereits von den Nachtsicc berichtet. Ricks Wutausbruch und das, was er danach mit mir getan hatte, war wohl kaum zu überhören gewesen. Wir waren sehr nah am Lager gewesen, auch Alec musste es mitbekommen haben. Ich vermied es, in seine Richtung zu sehen. Ich wollte mir seinen Gesichtsausdruck ersparen. Vermutlich war das auch der Grund, warum sich Lluh lieber in Alecs Nähe aufhielt. Kisha stand uns am nächsten. Ich erwiderte ihren besorgten Blick mit einem beruhigenden Lächeln. Jeder wusste, dass Sex mit einem Strangorren heftig sein konnte. Sehr heftig. Und Rick war in dieser Hinsicht ein Vollblut-Dämon.

Durago schritt auf uns zu und sank erneut auf die Knie. Mit dieser altmodischen Demuts-Geste würde ich mich wohl niemals anfreunden können.

„Es war meine Aufgabe, sie zu schützen und ich habe versagt“, sagte Durago. „Ich nehme meine Bestrafung an, wie auch immer sie sein wird.“

„Fate behauptet, du hättest sie gerettet“, sagte Rick.

„Ich war einen Moment lang unaufmerksam. Fate hätte niemals verletzt werden dürfen.“

„Dann wird es deine Strafe sein, ihre Verletzungen zu tragen.“ Rick zog mich mit dem linken Arm eng an sich und presste seine Hand auf mein Brustbein, dicht über dem Herzen. Seine rechte Handfläche legte er auf Duragos Stirn. Da wurde mir klar, weshalb mich Rick nicht geheilt hatte. Ich wehrte mich nicht, denn ich wusste, wie sinnlos es war. Es war für Durago das kleinere Übel. Ich spürte wie Rick meine Schmerzen übertrug und mir von Duragos Lebensenergie gab. Rick stieß ein erstauntes Knurren aus und Duragos Körper verkrampfte sich. Zugegeben, das mit der Rippen-Prellung und den Schmerzen beim Atmen hatte ich ein klitzekleines bisschen heruntergespielt.

Nachdem Rick die Verbindung gelöst hatte, hob Durago den Kopf, blieb aber noch am Boden. „Ich verdiene mehr als das“, sagte er. „Auch Kisha wurde verletzt. Ich bin für den Schutz aller verantwortlich.“

„Kisha, komm“, sagte Rick und ließ mich los.

Kisha zögerte. Robin trat zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie zuckte mit den Achseln und ging zu Rick. Rick ließ mich los und griff stattdessen nach Kishas Hinterkopf. Die andere Hand legte er erneut auf Duragos Stirn und wiederholte die Prozedur. Durago zuckte, diesmal heftiger als zuvor bei mir. Dann übergab er sich. Ein Schwall halbverdautes Blut. Es stank nach toter Katze. Auch Kisha hatte ihre Verletzung offenbar verharmlost.

Rick sah mit hochgezogener Augenbraue zwischen Kisha und mir hin und her. „Eine kleine Vorwarnung, wie viel ich Durago zumuten muss, wäre gut gewesen.“ Er sah zu Rajko und Braggard, den beiden Strangorren, die zusammen mit Durago als zweite Schicht auf Nahrungssuche gehen sollten. „Durago ist zu schwach. Er kann jetzt nicht auf die Jagd“, stellte Rick fest.

„Ich kann!“, widersprach Durago und kämpfte sich auf die Beine. Er war kreidebleich.

„Ich glaube, ich zieh auch noch mal los“, sagte Hydor und trat neben Durago. „Ich habe schon wieder Hunger. Ich bin eh viel zu dünn.“ Er hackte sich freundschaftlich bei Durago unter. „Nimmst du mich mit, Kumpel?“ Er schaffte es, Durago zu stützen, ohne dessen männlichen Stolz zu verletzen.

Hydor war der größte, aber auch der schmalste von Ricks Männern. Er hatte die kleinsten Zähne und sah für einen Strangorren geradezu zart und verletzlich aus. Ich hatte Rick ein bisschen über seine Männer ausgefragt. Daher wusste ich, dass man Hydor früher als schwaches Sensibelchen verspottet hatte. Ich wusste auch, dass Durago keine engen Freunde hatte. Aber Durago spielte gern den Beschützer, mindestens ebenso gern wie Rick. Ich hätte eine warme Dusche darauf verwettet, dass Durago das auch bei Hydor getan hatte. Bestimmt nutzte Hydor gerne die Gelegenheit, sich revanchieren zu können.

Rick betrachtete das ungleiche Männerpaar. „Beeilt euch. In der Zwischenzeit machen wir uns aufbruchsbereit und suchen nach einem anderen Unterschlupf. Hier können wir nicht länger bleiben.“

Rick war sich sicher, dass die Nachtsicc abgerichtet worden waren. Er bezweifelte zwar, dass Caleb dahinter steckte, aber wir hatten schließlich noch andere Feinde. Wir mussten verschwinden und zwar möglich schnell. Fanny war den Tränen nahe. Cameron zu transportieren könnte sein Tod sein. Johnny hatte ihm zuletzt so viel von seinem Blut gegeben, dass er sich nun selbst kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Noch mehr Blutspenden waren keine Option, aber Rick versprach Fanny, einen Heilungs-Zauber zu wirken.

„Und wenn wir angegriffen werden?“, mischte sich Johnny ein. „Wie willst du dann kämpfen, wenn du alle deine Magie aufgebraucht hast? Das ist sinnlos. Wir müssen den Arm amputieren, das ist ein Fass ohne Boden. Glaub mir, ich weiß das besser als ihr alle zusammen. Die Wirkung meines Blutes verpufft einfach. Nimm das verkohlte Ding weg, dann hat Cameron eine echte Chance, wieder gesund zu werden. Sieh es ein, der Arm ist nicht zu retten.“

Wir alle wussten, dass Johnny Recht hatte. Aber ich wusste auch, dass Rick niemals nachgeben würde, nicht so lange auch nur noch eine einzige Faser in Camerons Arm lebendig war.

Es wurde Zeit, mit Alec ein ernstes Wort zu reden. Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, da hatte Alec versucht, Rick zu erpressen: Verzicht auf Sex mit mir im Austausch für magische Unterstützung, Camerons Arm zu retten. Ich hatte das boykottiert. Also lag es auch in meiner Verantwortung einen neuen Deal mit Alec auszuhandeln.

Nach einigem Suchen fand ich Alec zusammen mit Lluh bei Josh und Kisha, nur wenige Meter vom Sägewerk entfernt. Die beiden versuchten, Alec zu überzeugen, mit ihnen zu gehen und sich von mir und den Strangorren zu trennen.

„Denk doch mal logisch, Alec“, drängte Kisha. „Willst du wirklich riskieren, dass Daretree die Gelegenheit hat, dich und Rick aufeinander zu hetzen?“

„Ich lass Fate nicht alleine bei Rick und diesen Monstern.“ Alec klang wie ein trotziges Kind.

„Rick wird ihr nichts tun“, entgegnete Kisha sichtlich genervt. „Ganz im Gegenteil. Die beiden haben einen Blutsbund. Hast du immer noch nicht verstanden, was das bedeutet?“

„Scheiß auf diesen verfickten Blutsbund!“, fluchte Alec. „Habt ihr nicht gesehen, was Rick gerade getan hat? Die Lebensenergie von anderen nach gut dünken zu verteilen. Mit der Magie des Chaos zu spielen, als wäre das gar nichts.“

„Das ist also auch schon die Magie des Chaos?“, mischte ich mich verunsichert ins Gespräch ein.

„Na ja, es ist zumindest verdammt nahe dran“, antwortete Kisha. „Aber man muss auch kein künstliches Drama daraus machen“, blaffte sie in Alecs Richtung.

„Also ist es noch keine richtige Chaos-Magie, oder?“, vergewisserte ich mich.

„Worauf willst du hinaus?“, fragte Kisha.

Der Gedanke war so nahe liegend, dass ich mich wunderte, wieso noch keiner darauf gekommen war. Konnte es wirklich sein, dass alle anderen diese Möglichkeit vergessen hatten?

„Camerons Arm. Könnten wir ihn so retten? Indem jemand anderes seinen Arm für ihn gibt?“

„Bist du etwa so heroisch, deinen eigenen ...“, Kisha stockte, dann verstand sie. „Das würdest du tun? Einen Unschuldigen dafür verstümmeln und leiden lassen?“

„Nein, keinen Unschuldigen“, murmelte ich ein wenig betreten. Meine Idee war tatsächlich ziemlich grausam und vermutlich auch total verwerflich und unethisch ... Doch das war mir egal. „Also, ich dachte, vielleicht ein Verbrecher, jemand, der den Tod verdient hat ...“ Lluh starrte mich entsetzt an und ich kam ins Stottern. „Also ... ich meine ... Strangorren brauchen doch sowieso Blut. Und ab und zu müssen sie auch töten, um zu überleben. Ähm, ich meine … worauf ich hinaus will … wenn doch sowieso jemand sterben muss, dann könnte man doch vorher ... also, so eine Art magische Organtransplantation ...“

„Wenn auch nur einer der Beteiligten dazu gezwungen wird“, hörte ich plötzlich Rick hinter mir sagen, „dann ist es definitiv die Magie des Chaos. Und ja“, fuhr er fort als ich mich zu ihm umdrehte, „ich habe auch schon daran gedacht. Mehr als einmal. Aber wenn ich dem Chaos verfalle, dann ... dann weiß ich nicht, was passiert. Womöglich bringe ich dann alle um, die mir zu nahe kommen. Außerdem gibt es den Blutsbund zwischen uns: Ich habe Angst, dass ich dich mit in den Strudel der Chaos-Magie reiße. Wir müssen einen anderen Weg finden.“

„Wir haben keine Zeit für so was“, schaltete sich Johnny ein, der dicht hinter Rick zu uns kam. „Cameron in diesem Zustand zu transportieren wird uns aufhalten, man wird uns in Null-Komma-Nichts einholen. Aber wenn wir seinen Arm amputieren, dann kann ich Cameron mit meinem Blut soweit stärken bis er halbwegs alleine laufen kann. Dadurch sind wir wieder beweglicher und können notfalls rasch untertauchen. Doch dieses verkohlte Gerippe raubt Cameron seine Kraft schneller als ich ihm Blut geben kann. Und keiner kann doch ernsthaft wollen, dass Rick Chaos-Magie anwendet!“ Johnny warf mir einen bösen Blick zu. „Also müssen wir den Arm amputieren. Das ist die einzige Möglichkeit.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Rick. „Wir werden eine andere Lösung finden!“

Und wenn es sein musste, dann eben mit der Magie des Chaos, dachte ich grimmig. Aber nicht Rick sollte derjenige sein, der sie anwendete. Ich hingegen war doch ohnehin schon eine undefinierbare Missgeburt, ein Kind des Chaos sozusagen. Ein bisschen mehr Chaos machte da doch wohl kaum noch einen Unterschied. Ich war es Cameron schuldig. Irgendwie würde ich da schon wieder rauskommen.

„Du denkst immer noch darüber nach?“, fragte Lluh und flatterte mit weit aufgerissenen Augen vor meinem Gesicht herum. Lluh und Alec kannten mich fast noch besser als Rick. Lluh brauchte keine Blutsverbindung, um meine Gedanken zu erraten. „Du willst einen Unschuldigen mit der Magie des Chaos …“

„Nein, keinen Unschuldigen“, wiederholte ich ärgerlich. „Es ist ja nicht so, als gäbe es keine bösartigen Psychopathen und als hätten wir keine Feinde. Wie gesagt, wenn derjenige doch sowieso streben muss, dann ist es doch letztendlich egal, ob er vorher seinen Arm für Cameron gibt. Und nein, ich werde nicht zulassen, dass Rick die Magie des Chaos anwendet. Und auch Alec nicht. Keiner meiner Freunde“, fügte ich rasch hinzu. Verdammt, ich redete mich um Kopf und Kragen. „Ich werde einen anderen Weg finden. Es gibt immer einen anderen Weg.“

„Du bist wie sie geworden“, zischte Lluh und flog ein Stück rückwärts von mir weg.

„Wie wer?“, fragte ich verständnislos.

„Wie Rick und Alec. Du gehst über Leichen. Für deine Freunde gehst du über Leichen. Ohne mit der Wimper zu zucken. Alec und Rick haben auf dich abgefärbt und ...“

„Nein, haben sie nicht!“, fauchte ich. „Ich bin nicht so geworden. Ich bin schon immer so gewesen!“

Lluh hob zu einer Entgegnung an und mir lag ebenfalls einen bitterböse Erwiderung auf der Zunge, dass Lluh doch letztendlich ganz genauso war – da gellte plötzlich ein hoher Frauenschrei auf.

Es war Fanny! Voll Panik und Schmerz. Aus dem Sägewerk, wo Cameron lag.

Wir rannten los, hin zu Fanny und Cameron. Allen voran Rick. Ich war die Langsamste. Aber nicht wegen meiner mangelnden Superkräfte, sondern weil Branco mir andauernd den Weg verstellte, um mich auszubremsen. Als ich endlich Camerons Liegestätte erreichte, hatten sich die anderen bereits um Cameron herum aufgereiht und verstellten mir die Sicht.

Alec drehte sich zu mir und wollte mich wieder nach draußen bugsieren, doch ich schüttelte seine Hand ab und drängte mich durch die massigen Körper der Strangorren. Als sie mich bemerkten, machten sie eine kleine Gasse für mich frei. Ich war ihre Alpha – und ich war schuld an dem grausamen Anblick, der sich mir bot.

Cameron lag in einer Blutlache. Bleich. Ohnmächtig. Sein gesunder Arm lag quer über seiner Brust, in der Hand ein Messer. Doch sein anderer Arm ... wie ein dürrer Zweig, seltsam abgewinkelt von Camerons Schulter … in der immer größer werdenden Blutlache … Abgetrennt. An Camerons Schulter nur noch ein Stumpf, aus dem Blut spritzte. Cameron hatte sich den Arm selbst amputiert!

Rick kniete neben Cameron. Er versuchte die Blutung zu stoppen und ihn gleichzeitig zu heilen. Ich sank neben Rick auf den Boden. Wortlos griff ich nach Camerons Armstumpf und tastete mich durch das offene Fleisch bis ich die aufgeschlitzte Arterie fand. Rick zögerte nur kurz, dann konzentrierte er sich auf den Heilungs-Zauber, während ich mit beiden Händen an dem blutenden Armstumpf auf alles drückte, wo Blut hervor spritzte.

Plötzlich war Johnny neben mir. Er schlang seinen Gürtel um den Stumpf und zog ihn fest zu. Seine Hände zitterten.

Meine nicht. Ich war so ruhig, dass es mir selbst Angst machte. Irgendwo in mir drin tobte das blanke Entsetzen, aber ich hatte es in eine Kiste gesperrt und in einen tiefen Abgrund in mir drin versenkt. Und dort sollte es auch bleiben.

Die Zeit verschwamm, ertrank in all dem Blut, das weiterhin aus Camerons Armstumpf floss. Nach einer gefühlten Unendlichkeit ließ die Blutung schließlich nach bis nur noch ein kleines Rinnsal aus der Wunde tröpfelte. Ich sah zu Rick. Schweiß rann über sein bleiches Gesicht. Seine Wangen hohl und eingefallen, die Augen halb geschlossen. Er heilte Cameron immer noch.

„Rick!“, rief ich. Doch es kam keine Reaktion von ihm.

>Rick? Rick!<

Er reagierte nicht. Panik stieg in mir auf und ich sah verblasste Erinnerungsbilder vor mir aufsteigen. Damals bei meiner Halbschwester Neve, als sie mit dem Tode gerungen hatte, da wäre Rick beinahe zu weit gegangen, wenn seine Freunde nicht eingegriffen hätten. Ich warf mich auf Rick und riss ihn von Cameron weg, um den Heilungszauber zu unterbrechen. Rick knallte hart auf den Boden. Ich kniete über ihm. Er blinzelte, sah mich an, als wäre ich eine Fremde. Ich streichelte ihm über die Wange. Er legte seine eigene Hand auf die meine und richtete sich langsam auf.

„Cameron wird überleben“, hörte ich Johnny hinter mir sagen.

„Ja, er wird überleben“, echote Rick. „Wir müssen die Wunde nähen.“

Bakir, der dunkelhäutige Strangorr mit den weinroten Haaren, kam mit Nadel und Faden. Irgendjemand war so geistesgegenwärtig gewesen, Fanny und Maakra wegzubringen. Hoffentlich war dieser jemand auch so geistesgegenwärtig, den beiden Frauen zu sagen, dass Cameron außer Gefahr war. Ich beobachtete, wie Bakir die Wunde nähte. Nicht so akkurat wie ein Chirurg, aber er machte das eindeutig nicht zum ersten Mal.

„Warum hat Cameron das getan?“, fragte ich tonlos.

„Meine Schuld“, stammelte Johnny. „Er hat gehört, was ich gesagt habe.“

„Nein. Cameron wusste, dass Rick eine Amputation niemals zugelassen hätte“, widersprach ich. „Er wusste, dass wir seinen Arm retten wollten.“

„Natürlich lag es daran, dass euch Cameron belauscht hat“, mischte sich Navarous ein. Bevor er sich auf Ricks Seite geschlagen hatte, war er ein Mitglied des Ältesten-Rates gewesen und genau so sah Navarous auch aus. Grauer Flaum auf dem Kopf und seine Haut wie schmutziges altes Leder, das erste Risse zeigte. Sein Körper war zwar von Alter gebeugt, doch er war trotzdem größer als Rick. Navarous hatte noch kein einziges Mal mit mir geredet, mich bislang ignoriert als wäre ich unsichtbar. Im Prinzip sogar verständlich, denn ich widersprach allen Bräuchen und Gesetzen, die es in seiner traditionellen Welt gab. Nun sah Navarous mich zum ersten Mal direkt an. Es war kein freundlicher Blick. „Wir alle haben euch gehört und vor allem das, was du als Ricks Gefährtin gesagt hast. Und wir ahnen, was du nicht gesagt hast. Jeder von uns hat seine eigenen Motive, um Rick zu folgen. Doch nichts davon war schwerwiegend genug, um alles hinter sich zu lassen. Bis auf diesen einen Grund, den wir alle gemeinsam haben: Wir alle haben uns zu Rick bekannt, weil er uns die Hoffnung gibt, mehr zu sein als die blutrünstigen Dämonen, die Caleb um sich scharen wollte. Blut trinken und die Magie der anderen Wesen rauben, keiner von uns hat sich dieses Dasein ausgesucht. Aber wir haben keine Wahl, wir müssen es tun, um zu überleben. Rick hat uns gezeigt, dass wir trotzdem keine seelenlosen Monster sind. Dass wir besser sein können als die mörderische Bande, derer sich Caleb bedient. Rick ist unser Alpha und du seine Gefährtin. Ihr seid es, die uns Halt und Führung geben. Cameron wollte verhindern, dass ihr seinetwegen der Magie des Chaos verfallt.“

Meine Kehle schnürte sich zu. „Es ist meine Schuld“, wisperte ich. „Cameron hat es meinetwegen getan. Weil ich das mit der Chaos-Magie vorgeschlagen habe …“

„Es ist eine große Aufgabe, Alpha zu sein“, bemerkte Navarous spitz. „Nicht jeder ist dazu geboren.“

„Navarous!“, rief Rick warnend. „Sie konnte es nicht wissen.“

„Aber nun weiß sie es“, erwiderte Navarous. „Du selbst hast uns ermutigt, offen unsere Meinung zu äußern.“

„Das ist die Meinung eines alten Mannes“, mischte sich Bakir ein. Ohne den Blick von seinen Näharbeiten an Camerons Arm abzuwenden, sprach er weiter. „Fate ist noch keine drei Tage lang unsere Alpha, trotzdem ist sie bereit, alles dafür zu geben, um einem von uns zu helfen. Einem Strangorren, einem Mann des Volkes, der ihr Leben zerstört hat. Strangorren hätten sie beinahe umgebracht, sie und jeden, der ihr am Herzen liegt. Sie hat Caleb die Stirn geboten, vom ersten Moment an. Sie hat gekämpft, sie hat sich ihm niemals unterworfen. Sie hat Rick den Grund gegeben, den er brauchte, um sich von Caleb loszusagen. Vielleicht hätte er das irgendwann sowieso getan. Aber er hat es jetzt getan. Für Fate. Ohne Fate wären wir immer noch dort: Bei einem machtgierigen Tyrann, der uns als austauschbare Marionetten in den Tod schickt – und bei einem Ältesten-Rat aus Speichelleckern. Du, alter Mann, hast Calebs Befehlen jahrelang Folge geleistet und du würdest es immer noch tun, wären nicht Rick und Fate aufgetaucht. Was hast du jemals getan, um einen von uns unwichtigem Mischlings-Kriegern zu retten?“

„Aufhören!“, rief Rick. „Für diese Diskussion ist jetzt kein Platz. Ich danke euch beiden, dass ihr so offen gesprochen habt. Und dabei werden wir es jetzt belassen, so lange, bis wir unsere Leute außer Gefahr gebracht haben.“

Navarous und Bakir nickten. Nicht unterwürfig. Vielmehr respektvoll. Und voll Vertrauen darauf, dass Rick, die richtige Entscheidung treffen würde. Ich beneidete sie um dieses Vertrauen. Ich hatte es nicht. Vielleicht, weil ich nicht wusste, ob es überhaupt eine richtige Entscheidung gab. Oder auch deshalb, weil ich meine eigenen Entscheidungen traf, ganz egal, wie sehr ich Rick liebte.

Bakirs Reaktion hatte mich überrascht. Womit hatte ich seine offenkundige Sympathie gewonnen? Noch dazu obwohl ich Ricks Befehle mehr als einmal in Frage gestellt hatte. Nachdenklich musterte ich Bakir. Er war knapp über zwei Meter groß, was für einen Strangorren eher durchschnittlich war, und geschätzt rund zehn Jahre älter als Rick. Bakirs Haut erinnerte an geschwärzte Oliven mit deutlich erkennbaren tiefroten Strangorren-Mustern, die auf eine weitgehend reinrassige Herkunft hinwiesen. Ich fand es erstaunlich, dass er sich selbst trotzdem als Mischling bezeichnete. Seine welligen dicken Haare, die er zu einem langen Zopf im Nacken zusammengebunden hatte, schimmerten in der gleichen Burgund-Farbe wie seine Hautzeichnungen. Seine Nägel und Augen waren schwarz, seine Fangzähne jedoch strahlend weiß und beängstigend scharf, so wie bei den allermeisten bluttrinkenden Dämonen. Trotz seines kantigen Gesichts mit dem breiten Kiefer war er auf seine Art ein sehr attraktiver Mann, der die Blicke auf sich zog. Er hatte noch mehr Muskeln als Rajko und war eitel genug, seinen Körper einzuölen und die meiste Zeit halbnackt durch die Gegend zu laufen. Bakir erinnerte mich immer ein wenig an die Wüstenkrieger aus den leicht angestaubten Sandalenfilmen.

Bakir war mir bislang ebenso aus dem Weg gegangen wie Navarous. Doch im Gegensatz zu Navarous hatte Bakir mich nicht ignoriert, sondern lauernd aus der Ferne beobachtet. Ich konnte mich dunkel erinnern, dass Bakir es gewesen war, der mich damals am Tor der Strangorren-Villa in Empfang genommen hatte, als ich nach Alecs Rettung wieder zu Rick zurückgekehrt war – obwohl mich Caleb eindringlich davor gewarnt hatte, weil Rick mich bestimmt aus Wut umbringen würde. Ich hatte Calebs Warnungen zwar geglaubt und höllische Angst vor Ricks Zorn gehabt, aber mein Vertrauen in Rick war größer gewesen. Und meine Liebe zu Rick hatte mir sowieso keine andere Wahl gelassen als zu ihm zurückzukehren.

Bakir hatte mich damals am Tor überrascht angestarrt, aber dann sofort an Caleb übergeben, so als hätte er genaue Instruktionen für meine Rückkehr gehabt. Also war Bakir anscheinend einer von Calebs Leibwächtern gewesen und hatte dessen Vertrauen genossen. Bakir bezeichnete sich selbst zwar als Mischling, aber absolut reinrassige Strangorren gab es quasi nicht mehr und die Deutlichkeit von Bakirs Hautmusterung bewies, dass die Strangorren-Herkunft in ihm kaum durch andere Wesen verwässert war. In der offiziellen Hackordnung musste Bakir ziemlich weit oben gestanden haben. Wieso hatte er diese aufstrebende Position aufgegeben?

In einer ruhigen Minute musste ich Rick ausführlich zu den Beweggründen seiner Männer befragen, ganz besonders zu Bakir und Navarous. Denn ehrlich gesagt war Bakir der letzte, von dem ich Schützenhilfe erwartet hätte. Noch dazu mit einer flammenden Rede, die ich dem dunklen Schönling niemals zugetraut hätte.

Maakra und Fanny kamen hinzu und lenkten mich von meinen Grübeleien ab. Robin hatte sich offenbar um sie gekümmert und achtete auch jetzt darauf, dass die zwei weinenden Frauen Bakir nicht im Weg standen. Ich senkte rasch den Blick, um ihre Tränen nicht sehen zu müssen. Stattdessen starrte ich auf Camerons Stumpf. Dann auf meinen eigenen Arm, sah die dicke, rosa Narbe, die fast an der gleichen Stelle war, an der Cameron seinen eigenen Arm abgetrennt hatte. Rick und Alec hatten mich mehrmals geheilt nachdem mir Chocco die Kehle aufgerissen hatte. Dabei hatte sich auch diese ältere schwelende Wunde an meinem Arm geschlossen. Jetzt war da nur noch eine wulstige Narbe. Ja, ich wusste verdammt genau, was der eigene Arm wert war und für was oder wen man ihn opferte. Ich war dazu bereit gewesen, meinen Arm abzutrennen, um Alec zu heilen, für sein und auch mein Leben, das ich nicht ohne Alec verbringen wollte. Dafür hätte ich auch meinen Arm geopfert. Ich war zwar unglaublich froh, dass ich meinen Arm nicht tatsächlich verloren hatte, aber letztendlich wäre es ein akzeptabler Preis gewesen, um Alec am Leben zu halten.

Doch es gab einen Unterschied: Cameron hatte seinen Arm in dem Glauben – oder vielleicht sogar in der Hoffnung – abgetrennt, an dem Blutverlust zu sterben. Ich hingegen hatte gewusst, dass ich weiterleben würde. Ich hatte um das Leben meines besten Freundes gekämpft. Cameron hingegen hatte auf einen schnellen Tod gehofft.

Insgeheim gab ich Navarous recht, es war meine Schuld. Und irgendwie war ich immer noch wild entschlossen, Camerons Arm zu retten. Obwohl es da gar nichts mehr gab, was man retten konnte. Navarous Worte hatte mir die Röte ins Gesicht getrieben. Aber Bakirs Verteidigungsrede hatten mich noch tiefer berührt. Für Navarous und Durago war ich nur Ricks Gefährtin. Zwangsgeduldet. Aber Bakir hatte mich seine Alpha genannt.

Ich blickte Rick in die Augen und nutzte unsere Blutsverbindung. >Wie schlimm ist es? Ist Cameron stark genug, um ihn transportieren zu können?<

>Ich fürchte, dass ... Aber wir haben keine Wahl, wir müssen hier weg.<

Ich wusste ganz genau, was Rick fürchtete. Flucht war unsere einzige Möglichkeit, aber Cameron war zu schwach und es gab nichts, womit wir ihn noch helfen konnten. Ricks Kräfte waren am Ende und Johnny hatte ihm in den letzten Stunden sowieso schon viel zu viel von seinem Blut gegeben. Wir hatten keinen anderen Gestaltwandler hier. Ich biss die Zähne zusammen und traf eine Entscheidung.

„Johnny“, sagte ich zu dem jungen Gestaltwandler, der die kleine Werwölfin Chocco und ihren Großvater Elijah schon seit einigen Jahren kannte. „Geh zu Elijah und sag ihm, er soll hierher kommen und Cameron abholen. Bei der Bucht unten am Strand gibt es einen Felsvorsprung. Dort sollte man mit so einem Rettungs-Boot anlegen können, wie es Elijah auf seiner Fähre hat. Bis zur Bucht wird Cameron durchhalten. Auf dem Boot kann er dann liegen.“

Johnny sah mich an, als spräche ich chinesisch.

„Sag Elijah, er soll Cameron an einen sicheren Ort bringen“, fuhr ich fort, „und dafür sorgen, dass er gesund wird. Er soll ein geeignetes Versteck für ihn finden. Fanny, Braggard und Maakra werden auch bei Cameron bleiben wollen. Erinnere Elijah daran, dass Chocco mich beinahe umgebracht hätte. Elijah ist mir ein Leben schuldig und das fordere ich jetzt ein.“

Es war so still, dass ich meinen eigenen Atem hören konnte. Sogar Fanny und Maakra hatte aufgehört zu weinen.

Johnny sah mich mit großen Augen an. Er brauchte eine geraume Weile bis er die Bedeutung meiner Worte verarbeitet hatte.

„Johnny?“, drängte ich ungeduldig. „Hast verstanden, was du Elijah ausrichten sollst? Er ist mir das schuldig.“

„Aber …“, stammelte Johnny, der Elijah um einiges besser kannte als ich. „Und wenn er sich weigert? Du verlangst viel von ihm, das ist ein zu großes Risiko. Er wird Chocco für nichts und niemanden in Gefahr bringen.“

„Geh zu ihm und sorg dafür, dass Chocco dabei ist, wenn du ihm sagst, worum ich ihn bitte.“

Johnny schüttelte den Kopf. „Ich weiß, was du beabsichtigst. Aber in diesem Fall wird er Chocco nicht nachgeben.“

„Tu es trotzdem“, beharrte ich. „Versuch es einfach. Und wenn Elijah sich weigert, dann mach ihm die Konsequenzen klar: Ich werde Cameron nicht zurücklassen. Elijah sollte sich gut überlegen, ob er riskieren will, dass ich in Gefangenschaft gerate. Man hält mich für eine Seherin. Man wird mich foltern, um an Informationen zu kommen. Nicht nur über die Strangorren, sondern auch darüber, wie ich zu diesem Werwolf-Biss gekommen bin. Und wenn man Ricks Leben als Druckmittel gegen mich einsetzt, werde ich nicht zögern, alles zu erzählen, was ich über die kleine Werwölfin weiß, die mich gebissen hat. Wer und was sie ist und wie sie sich versteckt halten kann.“

Johnny wurde blass. Er liebte Chocco noch mehr als Rick. Johnny wusste ganz genau, womit ich drohte. Es war zwar seit jener verhängnisvollen Nacht kein Geheimnis mehr, dass es in Frantow ein kleines Werwolf-Mädchen gab, aber bislang wusste niemand, dass sie eine geborene Alpha war und ein Amulett besaß, dass ihre Aura unterdrückte. Nicht einmal Rick und Alec. Auch wenn die beiden clever genug waren, sich so etwas in der Art zusammenreimen zu können.

„Du willst Elijah erpressen? Mit Chocco?“

„Nein, ich will ihn nicht erpressen“, widersprach ich. „Ich fordere nur ein, was er mir schuldig ist. Wenn Elijah das nicht tut, dann muss er mit den Konsequenzen leben. Ich habe Chocco sehr gern, trotz allem, was sie getan hat. Aber ich liebe Rick und jeder weiß das. Mit anderen Worten: Jeder weiß, womit man mich zum Reden bringen kann.“ Ich atmete tief durch. Ich machte das wirklich nicht gerne. „Vielleicht hilft uns Elijah freiwillig, vielleicht musst du gar nicht ...“

„Ich kenne Elijah“, fiel mir Johnny ins Wort. „Wir wissen beide, dass er es nicht freiwillig tun wird.“ Er drehte sich um und lief davon.

Nachdem Johnny sich auf den Weg gemacht hatte, wurde mir bewusst, dass mich immer noch alle anstarrten. Rick streckte die Hand nach mir aus und zog mich eng an seine Seite. Er küsste mich auf den Scheitel.

Bakir warf Navarous einen triumphierenden Blick zu. „Was denkst du nun über Fate, alter Mann?“

„Wie lange wird es dauern, bis Durago und die anderen zurück sind?“, fragte ich, um ein erneutes Aufkeimen der Streitigkeiten zu verhindern.

„Auch wenn sie sich beeilen, wird es bestimmt noch eine Stunde dauern“, antwortete Rick.

„Vermutlich wird Elijah auch nicht früher da sein“, überlegte ich laut.

Rick musterte mich ausgiebig, dann begann sein Mundwinkel zu zucken. >Wie lange planst du schon, Elijah zu erpressen?<

„Woher ...?“, stammelte ich und brach ab. Vor lauter Überraschung hatte ich laut gesprochen.

>Woher ich das weiß?<, vollendete Rick meine Frage. >Du hast das ziemlich gut durchdacht. Hört sich für mich nicht nach einem spontanen Einfall an.<

Ich erwiderte nichts. Ich hatte tatsächlich ziemlich lange mit dem Gedanken gespielt und immer wieder nach einem anderen Ausweg gesucht. Chocco als Druckmittel zu benutzen war einfach nur Mist! Aber andererseits hatte ich letztendlich nur offen dargelegt, was passieren konnte, wenn wir in Gefangenschaft gerieten. Doch diese faule Ausrede vor mir selbst half nicht gegen, wie schäbig ich mich gerade fühlte.

>Wie lange?<, bohrte Rick nach.

>Zu lange.< Viel zu lange. Ich hätte das schon durchziehen sollen als Cameron noch beide Arme gehabt hatte.

>Du bist dir sehr sicher, dass Elijah kommt. Was weißt du über die Kleine?<

Im Prinzip wusste Rick längst Bescheid. Nur eine Alpha konnte durch ihren Biss jemanden in einen Werwolf verwandeln und als mich Chocco vor Ricks Augen angefallen hatte, war sie mit ihrem Amulett getarnt gewesen. Als Rick das kleine Mädchen zum ersten Mal gesehen hatte, war er im Blutrausch gewesen und hatte seiner eigenen Wahrnehmung wahrscheinlich nicht mehr getraut. Er hatte sie damals nicht als Werwölfin erkannt, weil Choccos Amulett ihre Aura unterdrückt hatte. Deswegen hatte Rick sie vermutlich überhaupt so nahe an mich herangelassen und nicht schnell genug reagiert. Rick war viel zu klug, um bei einer zweiten Begegnung nicht die richtigen Schlüsse zu ziehen.

>Ich weiß etwas, das du eigentlich selbst erraten kannst<, antwortete ich ausweichend. >Wenn es nur deine Vermutung ist, kannst du leugnen ohne zu lügen. Und ich habe Elijah versprochen, es für mich zu behalten. Ich halte meine Versprechen. Aber ich werde dich nicht für ein Versprechen sterben lassen. Was ich gesagt habe, war ernst gemeint. Wenn man mich mit deinem Leben erpresst, werde ich immer die gleiche Entscheidung treffen.<

>Ich liebe dich auch.<

Der Blick, mit dem mich Rick ansah, ließ mein Herz so sehr überquellen, dass es wehtat. Ja, wir hatten gerade verdammt große Schwierigkeiten und unsere Lage war nahezu hoffnungslos. Aber auf eine schräge Art und Weise war ich trotzdem glücklich – und wenn ich dabei drauf ging, würde ich auch glücklich sterben. Denn ich war bei Rick. Wir hielten uns noch einen Moment lang aneinander fest und genossen die Nähe des anderen.

Schließlich lösten wir die Umarmung, was uns beiden sehr schwer fiel. Aber wir mussten uns aufbruchsbereit machen. Das hohe Schluchzen von Maakra und Fanny hatte wieder eingesetzt. Ich wusste, dass es meine Aufgabe war, mich um die beiden Frauen zu kümmern. Leider. Als ich mich auf den Weg zu dem lauter werdenden Weinen machte, sah ich Alec. Blas und entsetzt. Ich wusste nicht, was ich zu ihm sagen sollte, deswegen ging ich stumm an ihm vorbei. Er hielt mich am Arm fest.

„Ein Kind? Das Leben eines kleinen Mädchens? Nur um einen dieser Drecksdämonen zu retten?“

Ich drehte mich zu ihm um und hielt seinem Blick stand. „Auf einmal ist Chocco also nur ein kleines Mädchen?“, fragte ich. „Obwohl sie mir die Kehle rausgerissen hat? Und ich ohne diese Drecksdämonen längst tot wäre? Ich bin ihnen das schuldig.“

„Du bist ihnen gar nichts schuldig. Hör endlich mit diesen permanenten Selbst-Beschuldigungen auf!“

„Diese Strangorren haben ihr Leben für uns riskiert, sie haben die Seiten gewechselt. Sie sind anders als Caleb.“

„Das glaubst du doch selber nicht.“ Alec schnaubte. „Denkst du, es sind Kuscheltiere, nur weil sie Rick diesem Arschloch Caleb vorziehen? Wach auf, Fate. Es sind Dämonen! Sie trinken Blut. Das Blut von Wesen wie dir und mir!“

„Ich weiß sehr genau, was sie sind.“

„Ach ja? Weißt du auch, weshalb sich dieser schwarze Lackaffe Bakir so verdammt gut mit Wunden auskennt? Weil es zu seinem Job gehört, die Gefangenen so lange wie möglich am Leben zu halten. Damit man die Folter so richtig auskosten kann. Weil er die Qualen seiner Opfer genießt. Er ist kein netter Onkel Doktor. Er ist ihr Folterknecht!“

„Soll das heißen, er hat auch dich gefoltert ...?“

„Frag doch Rick. Er war dabei und hat das Schauspiel genossen.“ Alec ließ mich los und ging weg.


Fanny und Maakra zu trösten war ein beschissener Job, aber immer noch besser als über das nachzudenken, was Alec mir gerade an den Kopf geworfen hatte. Während sich die zwei weinenden Frauen an mir festklammerten, überlegte ich verzweifelt, was ich tun konnte, damit sei endlich mit dem Schluchzen aufhörten. Trost gehörte zu den Aufgaben einer weiblichen Alpha. Ich sollte das können. Doch ich konnte es nicht und wäre am liebsten davon gelaufen. Ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte und wusste nichts besseres, als ab und zu beruhigende Laute von mir zu geben. Mich überfiel wieder dieses bleierne Gefühl der Hilflosigkeit. Wie sollte man in einer trostlosen Situation Trost spenden?

Aber was mich dabei am meisten fertig machte: Keiner von Camerons Familie gab mir die Schuld. Nicht mal Braggard. Als er mit Duragos zweiter Schicht zurückkam, ließen Maakra und Fanny mich endlich los und stürmten auf ihn zu. Ich werde niemals seinen Gesichtsausdruck vergessen, als Rick mit ruhiger Stimme berichtete, was vorgefallen war. Braggard sagte gar nichts. Rajko fluchte und wollte Maakra in den Arm nehmen. Doch sie fauchte ihn an und klammerte sich weiterhin an ihre Eltern. Nachdem Rick ihnen erzählte hatte, welchen Deal ich mit Elijah abschließen wollte, nickte Braggard und murmelte ein leises Danke in meine Richtung.

In dem Moment hätte ich mich beinahe übergeben. Cameron hatte durch meine Schuld seinen Arm verloren und Braggard bedankte sich. Ich spürte Duragos Blick auf mir, doch ich vermied es, zu ihm hinzusehen. Durago hatte mich nie als Alpha anerkannt und jetzt hatte er den Beweis, dass ich nur ein dummes Flittchen war, das alles versaute.

Braggard ging mit den Frauen ins Haus, um selbst nach Cameron zu sehen. Ich stand unschlüssig da und wusste nicht, ob ich ihnen folgen sollte. Rick nahm mir die Entscheidung ab und zog mich sanft an sich.

„Lass Braggard einen Moment mit seiner Familie alleine“, murmelte er und fügte stumm hinzu: >Er weiß, dass Cameron sich umbringen wollte. Doch bei Strangorren gilt Selbstmord als Akt der Feigheit. Das war der einzige Grund, weshalb Cameron sich nicht die eigene Kehle durchgeschnitten hat. Er hat sich den Arm amputiert, weil er gehofft hat, an dem Blutverlust zu sterben.<

Rick bestätigte, was ich mir schon selbst zusammengereimt hatte. Trotzdem war es meine Schuld. Hätte ich meinen Mund gehalten, wäre das nicht passiert. Und wäre ich damals nicht auf eigene Faust zu Joel gegangen, dann wäre Rick noch bei Moira und seinen Freunden in Aston, dann wäre der Dämon in Rick vielleicht niemals durchgebrochen. Deswegen gab ich mir auch permanent die Schuld an allem – weil es nun mal tatsächlich meine Schuld war!


Während wir auf Elijahs Ankunft warteten, diskutierte Rick mit seinen Männern, wohin wir gehen sollten. Es gab keinen Zufluchtsort für uns. Caleb würde es zwar nicht wagen, die Familien der abtrünnigen Strangorren als Druckmittel einzusetzen, denn bei einer aussterbenden Rasse hatte man keine Ressourcen zu verschwenden. Außerdem hätte man es Caleb als Schwäche ausgelegt, wenn er diesen Weg anstelle eines direkten Kampfes gewählt hätte. Aber die wenigen von Ricks Männern, die eine Familie hatten, waren durch ihre Entscheidung für Rick auch bei ihren Angehörigen in Ungnade gefallen. Und seine nicht-dämonischen Freunde wollte niemand in die Sache mit hineinziehen – am allerwenigsten Rick.

Wir konnten überall und nirgendwo hingehen. Nur eines war sicher, Caleb würde Frantows Grenzen kontrollieren. Aber alles darüber hinaus war unbekanntes Terrain. Nicht mal Navarous, der zuvor dem Ältesten-Rat angehört hatte, konnte uns sagen, wie weit Calebs Einfluss reichte. Entsprechend planlos war die Diskussion. Selbst die Grundsatzfrage, ob Landesinnere oder Küstenregion blieb offen.

Schließlich erstarb die Debatte. Man überließ Rick die Entscheidung. Aber Rick traf keine Entscheidung. Er wollte zuerst Cameron in Sicherheit wissen und der Seitenblick, den er Lenny und Alec dabei zuwarf, sprach Bände: Nicht vor fremden Ohren. Verständlich, denn diese Entscheidung betraf eigentlich nur unsere Strangorren. Lenny loszuwerden, war auch kein Problem. Bei Alec sah die Sache etwas anders aus. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn dazu bringen sollte, mich alleine mit Rick und unseren Strangorren ziehen zu lassen.


Die Diskussion hatte sich über eine Stunde hingezogen. Elijah war allerdings immer noch nicht in Sicht. Als sich die Nacht langsam verabschiedete, wurden die anderen zunehmend nervöser und begannen zu zweifeln, ob sich ein großer böser Werwolf tatsächlich von einer dahergelaufenen schwächlichen Missgeburt erpressen ließ. Es sprach zwar keiner laut aus, aber das war auch nicht nötig. Glücklicherweise vertraute mir Rick. Oder vielmehr: Er hatte genug Erfahrungen mit meiner Begabung als Erpresserin gemacht, um zu wissen, dass Elijah kommen würde.

Während der Warterei versuchte ich erneut, an Alecs Vernunft zu appellieren. Erfolglos. Er war zwar sauer auf mich, aber trotzdem wild entschlossen, mich zu beschützen. Völliger Unsinn. Erstens konnte er das nicht und zweitens gab es da nichts zu beschützen – zumindest nicht vor Rick und seinen Männern. Obwohl ich Alec mittlerweile sogar verstand. Ich hatte gesehen, was man in Calebs Folterkeller mit Alec angerichtet hatte. Nun wusste ich, dass es Bakirs Werk gewesen war. Und Rick dabei zugesehen hatte. Daher beharrte Alec darauf, mich wegzubringen, weg von den Dämonen, die ihn gefoltert hatten, und vor allem weg von Rick. Ich hingegen wünschte mir, Kisha täte genau das mit Alec: ihn ganz weit weg in Sicherheit bringen.

Warum zur Hölle, tat sie das nicht einfach?!

Kisha berief sich zwar immer wieder auf ihr Versprechen, Alec zu beschützen, bis er wieder völlig gesund war und sich seine Kräfte erholt hatten. Aber erstaunlicherweise hatte sie mich bislang recht wenig bei meinem Überredungsversuchen unterstützt, Alec wegzuschicken. Das war extrem seltsam, denn Kisha konnte doch nicht allen Ernstes planen, dann ebenfalls mitkommen zu wollen, oder? Wir hatten zwar mittlerweile Freundschaft geschlossen und sie hatte definitiv eine Schwäche für Alec, aber das sah ihr einfach nicht ähnlich. Kisha hatte schließlich auch noch ihre Kids unter den Bahngleisen in Frantow, um die sie sich kümmern musste. Wenigstens hatte Kisha Robin wieder zu den Kids zurückgeschickt, der Junge musste schließlich nicht auch noch seinen Hals riskieren. Josh war notgedrungen ebenfalls gegangen, denn als Vampir brauchte er vor Sonnenaufgang einen sicheren Unterschlupf. Auch Lenny kündigte schon seit Stunden an, dass er zusammen mit Pax verschwinden wollte. Aber er tat es nicht. Natürlich nicht, Kisha war schließlich noch da. Noch dazu mit Alec, einem Mann, der sie interessierte.


Als der Morgen graute, begann auch ich langsam zu zweifeln, ob Elijah kommen würde. Womöglich hatte er noch ein paar Asse in der Hinterhand. Oder er hatte die Zeit genutzt, um abzutauchen. Dann konnte es ihm egal sein, ob ich ihn verriet. Als ich kurz davor war, aufzugeben, tauchte endlich ein Boot am Horizont auf. Ein kleiner Funken Hoffnung, der mir neue Energie gab.

Ich ging mit Rick voraus, um Elijah zu empfangen und den Deal endgültig in trockene Tücher zu bringen. Cameron war immer noch bewusstlos. Braggard trug seinen Sohn, wie ein Baby in seinen Armen. Fanny und Maakra hielten sich dicht neben ihm. Auch die anderen folgten uns hinunter zu der Bucht. Elijah war mit einem alten Fischerboot gekommen. Johnny war natürlich mit an Bord, ebenso wie Diego, Choccos Onkel. Und noch jemand war dabei: ein kleines entzückendes Mädchen, das ebenso niedlich wie auch gefährlich war.

Ich fluchte, als ich Chocco erkannte. Ihre Aura funkelte. Elijah war klug genug gewesen, ihr das Amulett abzunehmen. Er hatte die Botschaft verstanden. Ricks Männer wussten zwar von Choccos Werwolfs-Biss, aber ich hatte keinem von dem Amulett erzählt. Eine Werwölfin ohne Aura hätte allerdings jeden ins Grübeln gebracht.

Kaum hatte das Boot angelegt, sprang Chocco von Bord und rannte auf mich zu. Branco drängte sich an meine Seite und fletschte die Zähne. Rick entfuhr ein Knurren. Er hatte keineswegs vergessen, dass dieses harmlos aussehende Mädchen mich beinahe umgebracht hätte. Rick schob mich hinter sich und seine Männer bauten sich wie eine Wand vor mir auf. Das Bild war grotesk: Ein halbes Dutzend bluttrinkender Dämonen stellte sich einem zarten kleinen Mädchen entgegen, um es davon abzuhalten, mich in Stücke zu reißen.

Chocco blieb stehen und gab ein jämmerliches Wimmern von sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Sie sah so verloren aus, so ängstlich und traurig. „Fate?“, fiepte sie. Eine erste Träne kullerte über ihre Wange.

Verdammter Mist! Ich verfluchte Elijah und seine miesen emotionalen Tricks. Meine Hände zitterten und mein Puls raste. Chocco hatte mich fast umgebracht und ein Teil von mir brach bei ihrem Anblick in blanke Panik aus. Aber eben nur ein Teil. Ein anderer Teil hatte dieses kleine Balg ganz tief und fest ins Herz geschlossen.

Ich krallte mich in Brancos Fell, um ihn wie einen Sicherheitsanker dicht an meiner Seite zu haben. Ich glaubte zwar nicht, dass Chocco mich nochmals angreifen wollte – zumindest nicht jetzt. Aber selbst wenn, dann war Branco schneller und stärker.

„Ich will zu ihr“, krächzte ich. Wo zur Hölle war meine Stimme geblieben?

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Rick.

„Chocco wird mir nichts tun. Glaube ich.“ Ich hielt mich weiterhin an Branco fest, um meine Angst in den Griff zu kriegen. „Bei Elijah bin ich mir nicht so sicher“, fügte ich lapidar hinzu. Es sollte wie ein Scherz klingen, aber es war keiner.

Rick ließ mich gehen, blieb aber dicht neben mir, so dass ich von ihm und Branco flankiert wurde. Chocco rannte weiter auf mich zu, so hastig, dass sie stolperte. Auf allen vieren hoppelte sie weiter – wie ein Wolfswelpe. Ich zuckte zusammen und wollte weglaufen. Branco fletschte die Zähne und Rick hob die Arme in Verteidigungsstellung. Chocco blieb erneut stehen und sah mich fragend an.

„Ganz langsam“, knurrte Rick.

Chocco sah ihn an. Sie erkannte ihn als den Mann, der mein Blut getrunken hatte. Sie zeigte ihm die Zähne – was in ihrer Mädchengestalt ziemlich niedlich wirkte. Branco machte einen Schritt auf sie zu und gab ein Grollen von sich. Sie zuckte zusammen. Vor Branco hatte sie offenbar mehr Respekt als vor Rick.

„Es ist okay“, beruhigte ich Branco und auch mich selbst. „Chocco will mir nichts tun. Nicht wahr, Chocco?“

Die Kleine schüttelte den Kopf. Ich streckte die Hand nach ihr aus. Da machte sie einen großen Satz und warf sich in meine Arme. Ich erstarrte vor Schreck. Ein Grollen von Rick. Und dann spürte ich ihre kleinen Schokoladen-verschmierten Finger in meinem Nacken und entspannte mich wieder.

„Alles in Ordnung“, sagte ich rasch, bevor Rick sie von mir wegreißen konnte.

Heulend und lachend zugleich klammerte sich Chocco an mich, drückte mir schmatzende Küsschen aufs Gesicht. „Es tut mir so leid“, fiepte sie. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

Sie nahm mein Gesicht in ihre beiden winzigen Hände und ging ein Stück auf Abstand. Sie hatte sich mit ihren Stummelbeinchen an meiner Taille festgeklammert. Ziemlich fest. Es erinnerte mich daran, dass sie weitaus mehr Kraft hatte als ich.

Trotzdem hatte ich reflexartig meine Hände auf ihren Rücken gelegt, damit sie nicht fiel. So wie man eben ein kleines Kind festhielt. Aber sie war kein kleines Kind. Sie machte mir Angst. Mein Körper erinnerte sich, was sie getan hatte, als sie sich das letzte Mal auf mich gestürzt hatte. Mein ganzer Körper zitterte. Ich konzentrierte mich auf ihr süßes Kindergesicht, um meine Panik niederzuringen und setzte mich mit ihr zusammen auf einen Felsbrocken. Nicht nur, weil sie mir auf Dauer zu schwer war, sondern auch, weil sich das Zittern bis in meine Knie ausbreiteten.

Ehrlich gesagt war ich unglaublich froh, dass Rick und Branco bei mir blieben. Auch wenn Chocco in dem Moment kein bisschen wölfisch aussah und nichts auf einen Ausbruch ihrer anderen Seite hindeutete, war es sehr beruhigend, dass die beiden jederzeit dazwischen gehen konnten. Chocco änderte die Stellung und hockte sich bequem auf meinen Schoß. Sie betrachtete mich ausgiebig und untersuchte auch meinen Hals. Ich ließ es zu. Es war mir unangenehm – vor allem, weil alle anderen uns zusahen. Nachdem Chocco ihre Inspektion abgeschlossen war, breitete sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht aus.

„Ich wusste, dass du wieder gesund wirst!“, krähte Chocco fröhlich. Sie sah Rick und Branco an. Sie wusste, dass Rick mein Mann war, das hatte Elijah ihr klar gemacht. Und Branco betrachtete sie offenbar ebenso als notwendiges Übel. Dann drehte sich Chocco zu den Strangorren. „Die mag ich nicht, schick sie weg.“ Ihr Blick fiel auf Camerons bewusstlosen Körper, den Braggard auf dem Boden abgelegt hatte. Fanny und Maakra standen dicht dahinter. Auch Johnny war dort, er kniete neben Cameron und kontrollierte Bakirs Verband. „Was macht Johnny bei ihnen?“, fragte sie.

„Er hilft ihnen, zu euch aufs Boot zu kommen.“

Chocco sah mich entsetzt an. „Nein!“, schrie sie empört. „Die mag ich nicht! Die dürfen nicht zu uns. Du sollst zu uns aufs Boot kommen! Du und Johnny! Ab jetzt bleibt ihr bei uns!“

„Wer hat Chocco denn diesen Unsinn erzählt!?“ Vorwurfsvoll sah ich zu Elijah, doch der schüttelte nur stumm den Kopf, ebenso wie Diego.

„Es ist nur das, was sie will“, erklärte Johnny. „Und da Elijah ihr normalerweise alles durchgehen lässt, ist sie es gewohnt, dass ihr Wille Gesetz ist.“

Verdammter Mist! Erst hatte ich gedacht, Elijah hätte die Kleine hier angeschleppt, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen und meinen Beschützerinstinkt für ein unschuldiges Kind zu wecken. Aber nein, Elijah hatte sie aus reiner Bequemlichkeit mitgebracht. Damit ich den Mini-Tyrann bändigte. Obwohl das eigentlich sein Job war. In dem Moment war ich mir absolut sicher, dass Elijah trotz seiner Magie niemals ein echter Alpha gewesen war. Oder glaubte er etwa, ich schaffte es nicht, mein Vorhaben in Choccos Beisein durchzuziehen?

„Hör zu, Chocco“, sagte ich zu ihr. „Das sind Freunde von mir und sie brauchen eure Hilfe.“

„Ist mir egal!“, entgegnete sie trotzig. „Ich mag sie nicht! Sie sollen weggehen. Du sollst mit uns ...“

„Schluss jetzt!“, rief ich. „Sie werden mit euch kommen! Du hast bei mir einiges gut zu machen.“

Chocco sah mich motzig an.

„Du hast mich gebissen!“, erinnerte ich sie.

„Na und?“, entgegnete sie leichthin. „Ist doch wieder verheilt.“

„Verheilt?“, fragte ich fassungslos. „Du glaubst, das ist einfach so wieder verheilt ...?“ Ich sah zu Elijah und dann wurde mir klar, dass er es ihr nie gesagt hatte. Er nicht und auch sonst niemand. Ich riss mich zusammen und würgte meine Wut hinunter. Wenn Chocco es nicht wusste, dann war es höchste Zeit, dass es ihr jemand sagte.

„Hör mir jetzt mal ganz genau zu, Chocco. Wenn du jemanden beißt, dann ist das eine ernste Sache.“

„Ja, ich weiß.“ Chocco nickte. „Ich darf es nur an Vollmond machen, weil man nur dann jemanden in einen von uns verwandeln kann.“

„Nein!“, widersprach ich „Du darfst es überhaupt nicht machen! Niemals! Verstehst du?! Nie, denn wenn du ...“

„Ja, ja“, fiel sie mir ins Wort. „Ich darf das eigentlich erst, wenn ich erwachsen bin. Elijah hat auch schon mit mir geschimpft.“ Sie wirkte fast gelangweilt.

Da riss mir endgültig der Geduldsfaden. Ich packte Chocco bei den Schultern und schüttelte sie. „Du hast mich fast umgebracht!“, rief ich. „Du tötest so gut wie jeden, den du beißt! Kaum jemand ist stark genug, sich zu verwandeln! Niemand, den du kennst ist stark genug! Giorgo nicht, Netty nicht und Fratello nicht. Wenn du sie beißt, sterben sie!“

Chocco sah zumindest schuldbewusst aus, als ich die Namen aufzählte. Aber es war auch nicht schwer zu erraten, wer als nächstes auf ihrer beiß-sie-und-hol-sie-ins Rudel-Liste stand.

„Aber du bist nicht tot“, hob Chocco erneut an. „Du bist stark genug, um ...“

„Nein, bin ich nicht. Rick, mein Mann, und Alec, mein bester Freund, haben mich geheilt. Sie haben mir so viel von ihrer eigenen Kraft gegeben, dass sie selbst beinahe gestorben wären. Dein Biss hätte beinahe uns alle drei getötet. Und deswegen mussten auch meine anderen Freunde mich beschützen und haben sich in Gefahr begeben. Alle, die du hier siehst, mussten zusammen helfen, damit ich am Leben bleibe. Wären sie nicht gewesen, wäre ich jetzt tot: Weil du mich gebissen hast!“

Chocco wurde blass, ihre Augen riesengroß. Und nun, da meine Wut die Panik verdrängt hatte, wurde ich endlich ruhiger. Dafür begann Chocco zu zittern. Um uns herum war es gespenstisch still. Vermutlich hätte ich jetzt irgendetwas Beruhigendes zu der Kleinen sagen sollen. Doch da hörte ich Cameron Stöhnen und meine Wut flammte erneut auf.

„Hörst du, wie schlecht es ihm geht“, fuhr ich fort. „Er heißt Cameron und ist noch genauso jung wie dein Johnny. Cameron hat einen Arm verloren, weil er mich beschützt hat – nachdem du mir die Kehle herausgerissen hast. Es ist mir egal, ob es dir leid tut! Denn deine Entschuldigung ändert nichts an dem, was du getan hast. Wenn du willst, dass ich nicht mehr böse auf dich bin, dann hilf ihm. Hilf Cameron und seiner Familie!“

Ich war laut geworden. Sehr laut. Ich hatte Chocco regelrecht angeschrien und sie war immer kleiner geworden, hatte sich auf meinem Schoß zusammengekrümmt als würde ich sie schlagen.

„Chocco, komm zu mir“, sagte Elijah.

Chocco wieselte auf allen Vieren zu ihm. Ein kleiner Welpe. Werwolf-Welpe. Auch wenn ihre Gestalt sich nicht gewandelt hatte, aber ihre Werwolf-Natur brodelte hauchdünn unter dem zuckersüßen Kindergesicht.

Ich atmete tief durch. Vermutlich hatte ich der Kleinen mehr Angst gemacht, als man einem Kind machen sollte, aber ich wusste nicht wie ich es sonst hätte sagen sollen. „Ich habe nie behauptet, dass ich mit Kindern umgehen kann“, grummelte ich mehr zu mir selbst, doch fast alle Anwesenden hatten ein sehr aufmerksames Supergehör.

Elijah sah mich böse an, aber das ließ mich kalt. Er war derjenige, der es versäumt hatte, Chocco auf ihr Dasein als Werwölfin vorzubereiten. Wenn ich es nun notgedrungen an seiner Stelle tat, hatte er kein Recht, sich über das Wie zu beschweren.

„Ich finde, du hast das ganz großartig gemacht“, sagte Bakir und erntete zustimmendes Raunen seiner Kameraden. Ein zweifelhaftes Kompliment, wenn man bedachte, was Bakir in Calebs Folterkammer getan hatte.

Rick zog mich in seine Arme und küsste mich auf den Scheitel. >Danke.<

>Es ist meine Schuld, dass Cameron seinen Arm verloren hat. Kein Grund, sich zu bedanken. Du weißt, wie viel mir diese kleine Strangorren-Familie bedeutet. Eine Familie, die für uns beide alles aufgegeben hat. Auch für mich. Und nun ist Cameron ...< Ich brach ab. Nicht mal im Gedanken konnte ich es aussprechen ohne loszuheulen. Und Losheulen konnte ich mir nicht erlauben.

>Ich meinte nicht nur Cameron. Du hast Durago vor meiner Wut geschützt. Du hast uns gerade eine Chance zur Flucht verschafft. Ich hätte Cameron nicht zurückgelassen, wir wären nicht weit gekommen. Danke, dass du für meine Männer sorgst.<

>Unsere Männer<, verbesserte ich Rick.

>Also nun doch ihre weibliche Alpha?<, schmunzelte Rick.

>Ich bin deine Gefährtin und sie alle haben ihr Leben für uns riskiert. Das ist Grund genug für mich, dafür muss ich keine Alpha sein.<


Als wir Cameron und seine Familie zu Elijah aufs Boot brachten, blieben Rick und Branco an meiner Seite: Diesmal, um mich vor Elijah zu schützen. Er sah aus, als wollte er mich auf der Stelle umbringen.

„Es ist nie eine gute Idee, einen Alpha-Werwolf zu erpressen“, sagte Johnny zu mir.

„Ist Elijah wirklich nur deswegen sauer?“, entgegnete ich. „Oder ist es, weil ich Chocco die Wahrheit gesagt habe.“

„Vermutlich beides. Aber wenn du mich fragst, es war höchste Zeit dafür, dass endlich jemand Chocco klar macht, was es mit dieser Werwolf-Verwandlung auf sich hat. Ein bisschen mehr Sensibilität hätte zwar nicht geschadet, aber nun gut, jeder auf seine Art ...“

„Wenn du es so viel besser kannst“, motzte ich, „Warum hast du es Chocco dann nicht schon längst auf sensible Art beigebracht? Vielleicht wäre sie dann gar nicht erst auf die Idee gekommen, mich verwandeln zu wollen. Das hätte uns allen eine Menge Ärger erspart.“

„Sicher, damit hast du vollkommen Recht“, erwiderte Johnny ruhig. „Und ich hätte das auch wirklich gern getan. Du vergisst nur eine Kleinigkeit: Ich bin nicht wie du. Ich bin nicht gegen Elijahs Alpha-Magie immun.“

„Oh, verstehe. Daran habe ich nicht gedacht.“

„Na ja, irgendwie hast du trotzdem recht“, lenkte Johnny ein. „Ich hätte es Chocco einfach sagen sollen, bevor es mir Elijah verboten hat. Danach habe ich auch nie mehr den Fehler begangen, Elijah bei irgendwas um Erlaubnis zu bitten.“

„Ich kann dich hören!“, rief Elijah und trat zu uns.

„Na und?“ Johnny

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.06.2024
ISBN: 978-3-7554-7961-1

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