Cover

Inhalt

 

 

Einst war ich eine erfolglose Hobbyschriftellerin und glaubte, meine Geschichten und die magischen Wesen darin wären nur ein Produkt meiner Fantasie. Doch dann traf ich meine eigenen Figuren leibhaftig und mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.

In der Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ beschreibe ich meine Abenteuer in dieser fantastischen Welt rund um die beiden Magier Rick und Alec. Ich erzähle Euch von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.

 

Nachdem sich der Wirbel um meine magische Herkunft gelegt hatte (Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree & Band 2: Fluch der Taikons), schien eigentlich alles eitel Sonnenschein zu sein. Ich war Ricks Freundin und mein Herz quoll über vor Glück, diesen wunderbaren Mann für mich gewonnen zu haben. Doch noch immer fehlte es uns an Vertrauen zueinander. Rick verheimlichte mir etwas und zugleich veränderten sich seine magischen Kräfte. Seine dämonische Seite erwachte. Da mir Rick sein Geheimnis nicht anvertrauen wollte, brachte mich meine verfluchte Neugier schließlich auf eine sehr, sehr dumme Idee, mit der ich unser Glück zerstörte. Doch ich war nicht bereit aufzugeben und richtete dadurch immer mehr Schaden an. Schließlich riskierte ich alles, um wieder mit Rick zusammen zu sein und zog dabei auch meinen treuen Freund Alec mit in den Strudel der Zerstörung.

 

 

TEIL 1



1


Der Bildschirmschoner meines Notebooks schaltete sich zum ungefähr dreitausendsten Mal ein. Ich schubste die Maus vor mir, um das Gefühl loszuwerden, untätig vorm Rechner zu sitzen. Der Bildschirm wurde wieder hell. Erneut starrte ich auf den Text, den ich mittlerweile fast auswendig kannte. Moira hatte mich ermutigt, an dem Roman über Rachel und Sake zu arbeiten. Also tat ich es, denn schließlich war sie mein Boss. Die Geschichte war zwar allgemein bekannt und so eine Art modernen Legende unter Vampiren geworden, aber niemand kannte die genauen Details. Die sollte ich nun liefern. Moira hatte ganz eindeutig völlig falsche Vorstellungen von meinen magischen Kräften. Sofern ich überhaupt welche besaß.

Plötzlich klingelte es an der Wohnungstür. Ich fluchte leise und beugte mich dichter über die Tastatur. Ich erwartete keinen Besuch.

Im nächsten Augenblick pochte es an die Tür. „Mach auf! Ich weiß, dass du da drin bist.“

Es war Debby. Ricks engste Vertraute unter seinen Magier-Freunden und eine verdammte Nervensäge. Was wollte der blonde Giftzwerg hier? Widerwillig stand ich auf und ging zur Tür. Wir waren nicht gerade enge Freundinnen. Zugegeben, vielleicht war ich ein klitzekleines bisschen eifersüchtig auf Debby, weil sie Rick viel länger kannte und ihm in den meisten Dingen sehr viel näher stand als ich. Debby war Ricks Kampfgefährtin, seine treue Begleiterin und Freundin. Sie war die Frau, der er voll und ganz vertraute. Ich war nur die Frau, mit der er sein Bett teilte.

„Was treibst du da?“, fragte Debby als sie durch die Tür trat.

„Ich wünsche dir auch einen schönen Tag“, brummte ich.

„Tu nicht so, als ob ausgerechnet du auf Etikette Wert legst.“

„Etikette? Wen willst du mit dieser verschnörkelten Ausdrucksweise beeindrucken?“

„Ich will mich nicht mit dir streiten.“

„Fein, das spart Zeit. Was willst du dann?“

„Du scheinst mächtig beschäftigt zu sein.“ Debby stapfte zu meinem Laptop. „Schreibst du an einer neuen Geschichte? Nicht besonders klug.“

„Ich habe nicht darum gebeten, für euch zu arbeiten, das war eure Idee …“

„Es war Moiras Wunsch!“, stellte Debby klar. „Ich denke, du solltest gar nicht mehr schreiben.“

„Ach ja? Und warum nicht?“ Ich war dieser Nörgeleien überdrüssig. „Weil es euch sowieso nicht weiter bringt? Weil ich nur über die Vergangenheit schreibe und ihr ohnehin schon wisst, was passiert ist?“

„Wir wussten auch, was Rick als kleinem Jungen zugestoßen ist“, fiel sie mir ins Wort. „Trotzdem ist er durch deine Schreiberei über seine Kindheit beinahe getötet worden.“

Ich zuckte zusammen. Mal wieder hatte sie zielstrebig einen wunden Punkt getroffen. Aber ich war nicht bereit, Debby diesen Triumph zu gönnen. „Rick lebt. Aber dafür ist Dixon tot“, ging ich in die Offensive.

„Das ist aber nicht dein Verdienst“, stellte sie trocken fest.

„Richtig. Ich erinnere mich gut, wie unglaublich dankbar ihr Alec dafür wart, dass er Dixon getötet hat.“ Meine Stimme triefte vor Ironie und Wut. Viel zu lange unterdrückter Wut. Denn es war nicht nur die Eifersucht, die zwischen Debby und mir stand. Der aktuelle Zankapfel war Alec: mein bester Freund und Debbys erklärtes Feindbild.

„Warum nur drehen sich unsere Gespräche früher oder später immer wieder um diesen Psychopathen?“, bemerkte Debby spitz. „Alec scheint dir wirklich äußerst wichtig zu sein.“

„Wenn du damit andeuten willst …“

„Ich will damit andeuten, dass du dir lieber um Rick Gedanken machen solltest, anstatt mit diesem verschlagenen ...“

„Wenn du nur hierhergekommen bist, um auf Alec herumzuhacken, kannst du gleich wieder verschwinden. Er ist mein Freund.“

„Ich dachte Rick ist dein Freund.“

„Du weißt genau, wie ich das meine.“

„Das einzige, was ich genau weiß, ist, dass du nicht gut für Rick bist!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „So, jetzt ist es raus“, sagte sie sichtlich erleichtert.

„War’s das?“, fauchte ich. Debbys Bemerkung war ein echter Tiefschlag. Sie wusste das verdammt gut. Doch es stimmte leider. Ob es mir gefiel oder nicht, der blonde Giftzwerg hatte Recht. Rick war durch meine Schuld mehr als nur einmal in Gefahr geraten. Trotzdem wollte Rick mich bei sich haben. Als seine feste Freundin. Anfangs hatten seine Freunde das akzeptiert, einige hatten sich sogar für uns gefreut. Außer Debby. Sie hatte schon immer mit eisiger Feindseligkeit auf mich reagiert und mittlerweile schienen sich die anderen ihr anzuschließen. Sogar Neve, meine Halbschwester.

„Versteh mich nicht falsch“, sprach Debby weiter. „Im Prinzip habe ich nichts gegen dich.“

„Klar doch“, schnaubte ich. „Im Prinzip können Werwölfe auch Silberohrringe tragen.“

„Du bist an sich okay, aber du bist definitiv die falsche Frau für Rick.“

„Lass mich raten: Du bist die Richtige für ihn.“

„Auf das Spielchen lass ich mich nicht ein. Es geht hier nicht um Eifersucht. Es geht hier einzig und alleine um Rick.“ Debby atmete tief durch. „Ich weiß, dass du ihn liebst, oder das zumindest glaubst, aber trotzdem … Scheiße, siehst du denn nicht, was mit ihm geschieht? Seit du aufgetaucht bist, verändert er sich. Und damit meine ich nicht nur seine Kräfte – auch wenn ich das im Gegensatz zu Moira äußerst besorgniserregend finde. Rick hat seine Magie immer weniger unter Kontrolle und das Letzte, was er jetzt braucht, ist jemand, der ihn in ein emotionales Chaos stürzt.“

„In ein emotionales Chaos?“

„Schlimm genug, dass Ricks Verstand jedes Mal in die Hose wandert, wenn er in deiner Nähe ist. Aber dann auch noch deine zweifelhafte Freundschaft mit Alec. Manchmal denke ich, Rick vögelt dich nur, weil er Angst hat, dass du ansonsten zu diesem Psychopathen Alec gehst.“ Ich hob zu einer Erwiderung an, doch Debby hob beschwichtigend die Hände. „Ich bin nicht hier, um dir Vorwürfe zu machen“, fuhr sie fort. „Ich bin gekommen, weil ich mir ernsthafte Sorgen um Rick mache. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich ihm helfen kann. Ich fürchte nein. Aber vielleicht, hoffentlich, kannst du ihm helfen. Denn du bist der Dreh- und Angelpunkt all seiner Probleme. Also, wenn dir wirklich was an Rick liegt, dann beende diese Pseudo-Beziehung und halt dich von ihm fern. Tu es für Rick, denn er ist ohne dich besser dran.“ Kaum hatte sie diese Worte gesprochen, drehte sie sich auf dem Absatz um, rauschte aus meiner Wohnung und knallte die Tür hinter sich zu.

Einen Moment lang war ich sprachlos. Was war nur los mit diesem blonden Biest? Wie kam sie dazu, mir ein schlechtes Gewissen zu machen? Ich machte mir schon viel länger Sorgen um Rick als sie. Debby konnte mich mal!

Ihr überhebliches Getue ging mir gewaltig auf die Nerven. Am meisten nervte mich, dass die anderen ihre Partei ergriffen und dadurch all meine beginnenden Freundschaften im Keim erstickt wurden. Debby war nicht nur der Grund dafür, dass sich meine Halbschwester Neve von mir fern hielt, sondern sie hatte auch einen Keil zwischen mich und meine einzigen drei Freunde unter den Zauber-Neulingen getrieben. Vermutlich hatte Debby sich nur deswegen zur Mentorin von Fergie, Cliff und Tony aufgeschwungen, um sie gegen mich aufzuhetzen. Es war längst in Vergessenheit geraten, dass ich diejenige gewesen war, die als erstes die außergewöhnlichen Kräfte dieser drei Neulinge bemerkt hatte.

Okay, früher oder später hätte es auch Simon bemerkt, aber das tat nichts zur Sache.

Verdammt. Nun wurde ich genauso kleinlich wie Debby. Zur Hölle damit! Das konnte mir doch alles egal sein, sollte Debby doch reden, was sie wollte. Was scherte mich das? Sie konnte mir gestohlen bleiben, in jeglicher Hinsicht.

Dank Debby war meine Konzentration nun endgültig dahin. Ich fuhr mein Laptop runter, packte meinen Rucksack und meine Jacke, und eilte aus der Wohnung. Ohne nachzudenken schwang ich mich auf mein Fahrrad und schlug den Weg zum Hafen ein. Ich ignorierte rote Ampeln, Verkehrsschilder und Einbahnstraßen, um schneller voran zu kommen. Erstaunlicherweise wurde ich trotzdem nicht von einem Auto überrollt. Eines Tages würde ich vermutlich in einem ganz banalen Verkehrsunfall ums Leben kommen – fernab von Magie und übernatürlichem Schnickschnack.

Kurz vor der Abzweigung zum Frachthafen bog ich scharf nach links in einen Feldweg ein. Ich konnte das Meer riechen und trat schneller in die Pedale. Erst als der Weg an einem zerbeulten Maschendrahtzaun endete, stieg ich ab und lehnte das Fahrrad achtlos gegen einen Baum. Ich eilte den schmalen Trampelpfad entlang und schlängelte mich durch die hinter einem Busch verborgene Öffnung im Drahtzaun. Dann kletterte ich über den Felsvorsprung und hatte endlich mein Ziel erreicht. Vor mir lag eine kleine Bucht, ein winziger Streifen Naturstrand, den der Rest der Welt vergessen hatte.

„Ich wusste, dass du hierher kommen würdest“, hörte ich eine vertraute Stimme sagen.

Na ja fast der ganze Rest der Welt, dachte ich lächelnd und drehte mich zu Alec um. Alec war ein begeisterter Kletterer und er kannte jeden Quadratmillimeter Felsen in der Umgebung von Aston. Genauso wie ich Astons Küste wie meine Westentasche kannte. Felsküste war sozusagen der gemeinsame Nenner. Und ganz speziell an dieser Klippe waren wir uns schon viel zu oft begegnet als dass man es noch als Zufall bezeichnen konnte. Es war mein Lieblingsplatz – und Alec wusste das. In gewisser Weise war es unser geheimer Treffpunkt geworden, ein kleines Refugium, von dem Rick nichts ahnte.

„Wo hast du dein Laptop gelassen?“, fragte Alec und setzte sich neben mich auf einen Felsbrocken.

„Ich bin nicht zum Schreiben hergekommen. Wo ist deine Kletter-Ausrüstung?“

„Ich bin nicht zum Klettern hergekommen.“ Er legte den Kopf schief und sah mich fragend an. „Was ist los? Du bist durch die Straßen gefegt, als sei der Teufel hinter dir her.“

„Hast du mich etwa verfolgt?“, knurrte ich gereizt.

„Hey, ganz ruhig. Lass deinen Ärger über die Mini-Blondine nicht an mir aus.“

„Entschuldige“, murmelte ich betreten, denn er hatte recht. „Ich bin nur ... durcheinander.“

„Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie scheiße Debby sein kann. Ich war in der Gegend und wollte dich besuchen. Also so ganz förmlich in deiner … äh … eurer Wohnung.“ Er machte eine kurze Pause. „Doch dann bin ich auf dem Weg zu dir Debby in die Arme gelaufen und als ich bei dir ankam, habe ich dich nur noch von hinten auf deinem Fahrrad gesehen. War nicht schwer zu erraten, wo du hin willst. Du bist eine echte Verkehrsgefährdung, weißt du das?“ Er stumpfte mich freundschaftlich in die Seite. „Du hattest also Streit mit Debby?“

„Streit? Weiß nicht, ob man es so nennen kann. Es war eher ein Vortrag darüber, dass ich die falsche Frau für Rick bin. Dass er meinetwegen so schräg drauf ist.“

„Seine Eifersuchtsanfälle sind also noch schlimmer geworden?“

„Nein, eigentlich nicht. Er ist nun mal aufbrausend, ein bisschen mehr als früher, aber das ist nicht das Problem.“

„Was ist dann das Problem?“

„Rick wird ausrasten, wenn er erfährt, dass ich mit dir darüber rede. Aber ...“ Ich zögerte kurz. „Verdammt! Egal. Ich schätze, ich sollte dich warnen. Halte dich lieber von Rick fern.“

„Wieso? Was habe ich jetzt schon wieder verbrochen?“

„Nichts. Rein gar nichts.“ Ich haderte mit mir selbst. Aber letztendlich war es kein Geheimnis. Vielmehr machte es unter den Magiern längst die Runde, sogar Joel wusste schon davon. „Es ist so ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll ... also ... Rick wachsen seine magischen Kräfte über den Kopf.“

„Davon habe ich gehört“, sagte Alec bedächtig. „Ungewöhnlich, dass es in seinem Alter noch mal einen akuten magischen Schub gibt, aber andererseits ist er nicht der Erste, dem das passiert. Ist es wirklich so drastisch, wie man sich erzählt?“

„Es ist sogar noch viel schlimmer. Er hat es kaum mehr unter Kontrolle. Es ist nicht nur so, dass seine bestehenden Kräfte anwachsen, er bekommt auch noch neue Fähigkeiten dazu. Er kann jetzt Stein formen.“

„Aber diese Fähigkeit haben doch nur ...“

„Druiden und einige Dämonen-Arten, normalerweise.“ Aber nichts an Rick schien normal zu sein. „Keiner weiß, was als nächstes kommt. Das ist auch der Grund, weshalb er das Selbstverteidigungstraining komplett an Debby abgegeben hat. Er hat Angst, jemanden zu verletzen.“

„Du lässt dich von Debby trainieren?“, fragte Alec ungläubig.

„Nein, ich habe mich natürlich geweigert, nochmal in diesen dämlichen Selbstverteidigungskurs für aufstrebende Jung-Magier zu gehen. Ich war da sowieso von Anfang an völlig deplatziert.“

„Dachte ich mir“, kommentierte Alec mit einem Lächeln in der Stimme. „Lass mich raten: Rick hat dir deswegen die Hölle heiß gemacht?“

„Ja, das hat er. Er meinte, für mich sei das besonders wichtig, da ich keine Zauberkräfte habe, mit denen ich mich verteidigen könnte. Aber ganz ehrlich: Die Hälfte der Zeit sitze ich dort bloß untätig rum während die Neulinge ihre Verteidigungs-Zauber üben. Mal abgesehen davon, dass ich keine Lust habe, mich von Debby herumkommandieren zu lassen, ist es auch nicht gerade angenehm, angestarrt zu werden. Alle wissen, dass ich nur deshalb mitmachen darf, weil ich Ricks Freundin bin. Entweder sie halten mich für den privilegierten Sprössling des Chefs oder für das kleine naive Flittchen.“

„Übertreibt du nicht ein bisschen? Wenn sie wissen, wer du bist, dann wissen sie doch auch von deinen Fähigkeiten.“

Ich schnaubte. „Ach ja, ich vergaß, meine überwältigenden Fähigkeiten, die bislang nichts als Ärger gebracht haben.“

„Hat Debby dir diese Scheiße eingeredet?“

Ich schwieg. Debby hatte es zwar bislang als einzige laut ausgesprochen, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie mit ihrer Meinung nicht alleine stand.

Alec strich mir vorsichtig über den Arm. Er wusste, dass ich manchmal nicht angefasst werden wollte. Ich lehnte mich gegen seine Hand, eine stumme Geste, dass ich seine Berührung als tröstlich empfand. Seufzend legte er den Arm um meine Schulter und zog mich an seine Seite. Ich legte den Kopf auf seine Schulter und starrte aufs Meer.

Lange Zeit saßen wir einfach so da. Erst als sich der Himmel langsam rötlich färbte, durchbrach Alec das Schweigen.

„Mit einer Sache hat Rick Recht“, sagte Alec.

„Hm?“ Es war ungewöhnlich, dass Rick und Alec einer Meinung waren.

„Es wäre gut, wenn du dich zur Wehr setzen könntest. Du streifst verflucht oft alleine durch die Gegend ...“

„Ich kann mich ganz gut selbst verteidigen, dazu brauche ich nicht Debbys lächerliches Training. Die paar schmutzigen Tricks, mit denen man sich ohne Magie wehren kann, hat Rick mir längst beigebracht.“

„Daran habe ich keine Zweifel“, antwortete Alec. „Aber manchmal reichen schmutzige Tricks nicht aus.“

Ich schwieg.

„Hast du mich gehört?“, fragte Alec nach einer Weile.

„Hm“, brummte ich unwillig.

„Du glaubst mir nicht, oder?“

„Ich finde es ja wirklich süß, dass du dir Sorgen um mich ...“

„Los steh auf.“ Alec erhob sich und zog mich mit auf die Beine. „Lass uns einfach mal testen, wie weit du mit deinen tollen schmutzigen Tricks von Rick kommst.“

„Das ist albern“, entgegnete ich. „Ich weiß, dass ich damit gegen Magie nichts ausrichten kann.“

„Keine Magie“, versprach Alec. „Wir tun einfach so, als sei ich ein stinknormaler Perversling, der es auf dich abgesehen hat.“

„Ich will dir nicht wehtun.“

Alec lachte. „Lass das mal meine Sorge sein. Im Zweifelsfall darfst du mich mit Debbys Salbe verarzten.“

„Das Ganze zielt unter die Gürtellinie.“

„Das war mir klar – umso lieber lass ich mich dort von dir verarzten“, fügte er augenzwinkernd hinzu.

„Und da wunderst du dich, wenn Rick eifersüchtig wird.“

„Jetzt vergiss mal Rick für ein paar Minuten. Bereit, überfallen zu werden?“

„Na gut, du hast es so gewollt“, gab ich schließlich nach und hob die Hände leicht an.

„Okay – folgende Situation: Du bist mal wieder alleine am Meer und inmitten der Einsamkeit taucht irgendein Vollidiot auf, der dich anmacht. Du hast höflich nein gesagt, doch der Typ hält das für Koketterie …“ Alec ging mir einem Grinsen auf mich zu. „… und versucht, dich zu umarmen.“

Er streckte die Arme nach mir aus. Ich schlüpfte darunter hinweg und machte einen Ausfallschritt. Alec erwischte mich an der Gürtelschlaufe und zog mich zu sich. Ich hob das Knie und zielte auf seine Weichteile, doch Alec drehte sich zur Seite, ich traf nur seine Hüfte.

„Jetzt ist der Typ gewarnt, dass du nicht so schwächlich bist, wie du aussiehst“, kommentierte Alec mein Bemühen. „Also wird er zu härteren Bandagen greifen.“ Er wirbelte mich herum, so dass ich mit dem Rücken zu ihm stand. Dann packte er mit seiner Rechten meine Hände und legte seinen linken Unterarm unter mein Kinn. „Nun wird er dich in den Schwitzkasten nehmen, allerdings vermutlich weniger sanft als ich gerade.“ Alec zog mich dicht an seinen Körper. „Was machst du jetzt?“

Ich trat ihm mit dem Absatz auf den Fuß. Gleichzeitig hob ich abrupt die Schultern und zog den Kopf ein, so dass ich mich aus seinem Unterarm winden konnte. Ich biss andeutungsweise in seine Hand, drehte mich schwungvoll um und boxte in Richtung seiner Geschlechtsteile.

Alec sprang zur Seite. „Autsch“, sagte er lächelnd, während meine Faust ins Leere traf und ich dabei ins Straucheln geriet. „Vielleicht hättest du ihn damit kaltstellen können. Vielleicht aber auch nicht – und dann wäre unser erfahrener Triebtäter nun doppelt vorsichtig. Er würde kein Risiko mehr eingehen.“ Alec machte einen Satz auf mich zu, packte meine Handgelenke und stellte sich auf meinen rechten Fuß. Ein leichter Ruck zur Seite und ich verlor endgültig das Gleichgewicht. Noch bevor ich recht wusste, was mit mir geschah, lag ich auf dem Rücken und Alec saß auf mir.

„Und jetzt?“, fragte er während er meine Hände über meinem Kopf zusammenführte und mit der linken Hand fest gegen den Boden presste. „Nun habe ich eine Hand frei, mit der ich dich entweder fesseln oder deine Kleider zerreißen kann. Oder beides. Du hast es vermasselt – obwohl du vorgewarnt warst und wusstest, dass ich dich angreife. Normalerweise würde dich ein solcher Typ aus dem Hinterhalt überwältigen.“ Er gab meine Hände wieder frei, kniete aber immer noch über mir. „So viel zu der Wirksamkeit von Ricks schmutzigen kleinen Tricks.“

„Ich werde trotzdem nicht in Debbys Training gehen!“, motzte ich und wand mich unter ihm hervor.

„Solche Ungeheuerlichkeiten würde ich auch niemals von dir verlangen“, entgegnete er scherzhaft und klopfte sich den Staub von der Jeans.

„Sondern?“ Nun war meine Neugier geweckt.

„Du hast mir mal erzählt, dass du als Kind unbedingt Kampfsport lernen wolltest und dich deine Eltern stattdessen in einen Ballettkurs geschickt haben ...“

„In den ich genau zweimal gegangen bin“, ergänzte ich mit einem grimmigen Lächeln und streifte mir die Haare aus dem Gesicht. Ich war schon damals ein Dickkopf gewesen. Das Verbot, Kampfsport zu erlernen, hatte zu einer strickten Verweigerungshaltung gegen Ballett geführt.

„Kennst du den Unterschied zwischen Kampfsport und Kampfkunst?“, fragte Alec.

„Bei Kampfsport trainiert man auf Wettkämpfe mit Punktesystem und so. Bei Kampfkunst geht es primär um Verteidigung und Angriff, um den effektiven Einsatz von Abwehrtechniken, ohne Rücksicht auf bleibende Schäden.“

„Ja, das fasst es ganz gut zusammen“, stimmte mir Alec zu. „Was du brauchst, sind Techniken, mit denen du dich auch gegen deutlich stärkere und vor allem schwerere Gegner wehren kannst.“

„Kommt jetzt die Geschichte, wie man die Kraft des Gegners gegen ihn selbst umlenkt?“

„Ich sehe schon, du hast genügend Kung Fu Filme gesehen“, erwiderte er meinen spöttischen Tonfall. „Aber mal im Ernst. Kung Fu wäre nicht das Schlechteste für dich. Es gibt einen Stil, der von einer Frau entwickelt wurde und vergleichsweise schnell erlernbar ist.“

Die Idee gefiel mir. Dummerweise hatte mir Rick noch immer keine neue Identität und Ausweise besorgt. Mein richtiger Name stand auf der Abschussliste der SOLFs; damit konnte ich mich nicht bei einem Kurs anzumelden. „Aber wie und wo soll ich ...?“

„Ich könnte es dir beibringen“, beantwortete Alec meine Frage.

„Du kannst Kung Fu?“

„Tja, ich besitze viele ungeahnte Fähigkeiten“, erwiderte er. „Vergiss nicht, ich war lange Zeit der Meinung, dass es um meine magischen Fähigkeiten eher dürftig bestellt ist.“

„War es wegen deines Vaters?“ Es war kein Geheimnis, dass Sirin Kraggen seine Kinder verprügelt hatte.

„Anfangs ja. Ich wollte meine Schwester beschützen können.“ Alec machte eine kurze Pause. „Und dann, nachdem mein Vater tot war ... Na ja, ... ich dachte wohl ... Ist auch egal. Aber abgesehen davon, es hat mir Spaß gemacht und es ist geradezu perfekt, um den Kopf frei zu kriegen. Man muss sich dazu konzentrieren, da bleibt kein Platz für düstere Grübeleien“, fügte er betont fröhlich hinzu.

Zu fröhlich für meinen Geschmack. Aber Alec konnte es nicht leiden, wenn man ihn zu etwas drängte. Er würde mit mir darüber reden, wenn er so weit war. „Mit wem trainierst du normalerweise?“, ging ich auf den Themenwechsel ein.

„Nun, ab jetzt mit dir.“

„Und vorher?“

„Sagen wir mal so, es gibt genügend Typen, die förmlich darum betteln, verprügelt zu werden.“

„Ich bezweifle, dass man so seine Technik verfeinern kann.“

„Es reicht, um in Übung zu bleiben. Was die Technik betrifft: Sogar ich habe Freunde. Oder zumindest so was ähnliches.“

„Wer hat es dir beigebracht?“, bohrte ich wider besseres Wissen weiter. Neugier war eines meiner Laster.

„Eine von Vaters Angestellten.“

„Eine?“

Er nickte. „Anjenka. Sie kam eigentlich zum Putzen und Kochen.“

„Hat dein Vater es herausbekommen?“

„Er hat gemerkt, dass ich es konnte, aber nicht, wer mich trainierte. Sirin war mächtig, aber er war auch ein bonierter Chauvinist. Er hat so ziemlich jeden Mann in meiner Umgebung verdächtigt. Aber er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, dass es eine Frau sein könnte.“

„Und Susan?“

„Nein, Anjenka hat sich von Anfang an strikt geweigert, Susan zu trainieren und hat mir auch verboten, ihr davon zu erzählen. Ich dachte, Anjenka würde Susan für zu jung halten und hätte Angst, das kleine Mädchen könnte sich verplappern. Erst später erkannte ich, dass sie einfach mit ihrem scharfen Blick Susans Charakter durchschaut hatte. Scharfer Blick trifft es sogar ziemlich gut. Wenn sie dich ansah, dann hatte man das Gefühl, sie blickt mitten in dein Herz.“

„Wer war sie? Was war sie?“

„Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht genau, sie gehörte wohl zu einer seltenen Dämonen-Art. Sie konnte sich unsichtbar machen und setzte diese Fähigkeit manchmal zur Übung bei unseren Trainingsstunden ein. Damit ich lernte, den Angreifer auch zu spüren und nicht nur auf visuelle Eindrücke zu reagieren. Außerdem hatte sie einen grandiosen Ortungssinn, sie konnte alle Lebewesen, die größer als eine Katze waren, bis auf hundert Meter Entfernung spüren, sie konnte dir bei Bekannten sogar genau sagen, wer sich näherte. Nicht zuletzt dank dieser Fähigkeiten hat mein Vater nie herausbekommen, wer mich trainierte.“

„Wo ist sie jetzt?“

„Ich weiß es nicht. Eines Tages ist sie einfach nicht mehr wieder gekommen. Mein Vater war ziemlich ungehalten deswegen, weil es mehrere Wochen dauerte, bis er eine neue Haushaltshilfe auftreiben konnte, die bereit war für ihn zu arbeiten. Ich habe damals und auch später nach Anjenka gesucht. Erfolglos. Sie will offensichtlich nicht gefunden werden.“ Er sah mit leerem Blick auf das Meer hinaus. Dann wand er sich wieder zu mir. „Was ist nun? Soll ich es dir beibringen?“

Ich nickte.

„Okay. Dann lass uns anfangen.“

„Jetzt? Hier? Sofort?“

„Ja. Wenn dich tatsächlich jemand angreift, dann kannst du es dir auch nicht aussuchen, wann und wo das ist. Keine Angst“, fügte er hinzu. „Wir werden uns nicht am Boden wälzen. Heute noch nicht. Heute gibt es nur ein paar Grundregeln.“

Ich schluckte. Sport war nicht meine Welt.

„Okay, zunächst mal brauchst du einen stabilen Stand, um kämpfen zu können. Stell dich gerade hin und dann dreh deine Füße ein.“ Er machte es vor.

„Sieht nicht sehr stabil aus“, meinte ich skeptisch, machte es ihm jedoch folgsam nach. „Fühlt sich auch nicht stabil an.“

„Du musst leicht in die Knie gehen, verlagere dein Gewicht ein bisschen nach hinten.“

Ich tat es und aus meinen wackligen Beinen wurde eine solide Basis.

„Gut. Jetzt mach zwei Fäuste, Daumen nach außen, aber nicht seitlich abstehen lassen.“ Er stellte sich neben mich. „Und nun schlägst du auf Kopfhöhe zu. Such dir einen Punkt in der Mitte. Stell dir vor, es ist die Nase deines Angreifers. Gerader Schlag, links und rechts abwechselnd, so dass deine Arme einen Keil nachbilden.“ Er machte es vor. „Das nennt man Kettenfaust-Schlag.“

Ich versuchte seine Bewegung zu imitieren. Alec ging um mich herum und stellte sich vor mich. „Du musst immer auf den gleichen Punkt zielen.“ Er griff nach meinen Fäusten und umschloss sie mit seinen Händen. „Lass locker, ich zeig dir, wie es geht.“ Langsam führte er meine Arme. „So muss es sich anfühlen. Mach die Augen zu und spür die Bewegung.“

Ich tat es. Ein echter Vertrauensbeweis. Auch Debby hatte uns ein paar Mal in ihrem Training aufgefordert, die Augen zu schließen und nur die Bewegung zu spüren, aber ich hatte immer geschummelt und geblinzelt. Bei Alec jedoch ließ ich mich darauf ein. Blindes Vertrauen – wortwörtlich.

Wir übten an jenem Tag nur diese Armbewegung und den seltsam verrenkten Stand. Es war ganz erstaunlich wie schwierig es war, eine so einfache Bewegung wie einen simplen Faustschlag korrekt durchzuführen. Noch viel größere Probleme hatte ich mit meinem Gleichgewicht. Und dann sollte ich auch noch auf einem Bein stehen – das überforderte mich völlig.

„Ich schätze, du wirst ziemlich geduldig sein müssen“, seufzte ich.

„Nein, du wirst ziemlich geduldig sein müssen. Aber ich habe vollstes Vertrauen in deinen Dickschädel“, fügte er augenzwinkernd hinzu. „Für heute ist es genug. Wir wollen schließlich nicht schon am ersten Trainingstag Ärger mit deinem Macker kriegen. Er wartet bestimmt schon auf dich.“

Ich zuckte mit den Achseln. „In letzter Zeit kommt er recht spät nach Hause.“

„Euer zu Hause …“, wiederholte Alec nachdenklich.

„Na ja, soweit man unsere Wohnung so nennen kann.“ Es war Ricks Idee gewesen, zusammenzuziehen. Alec wusste das. Er wusste auch, dass mir die gemeinsame Wohnung Angst machte.

„Ich fahre dich, es wird schon dunkel.“

„Aber mein Fahrrad …“

„Passt in den Kofferraum“, nahm er meinen Einwand vorweg.

Mal wieder hatte ich das Gefühl, er kannte mich besser als Rick. Alec wusste, wie schwer es mir fiel, mein Fahrrad nicht in meiner Nähe zu haben. Es lag nicht daran, dass ich gerne Fahrrad fuhr oder das halb verrostete Ding irgendeine nostalgische Bedeutung für mich hatte. Es war meine Mobilitätsgarantie, ein kleines Stückchen Unabhängigkeit, und nebenbei das schnellste Fortbewegungsmittel in einer Großstadt wie Aston.


In Alecs Wagen wurde ich umso schweigsamer, je näher wir meiner Wohnung kamen. Unserer Wohnung. Es war noch immer ungewohnt für mich, nicht mehr alleine zu leben. Aber Rick hatte mir gar keine andere Wahl gelassen. Nun gut, streng genommen hätte ich nein sagen können, aber … ich hatte Angst gehabt, dass Rick mich dann verlässt. Außerdem hatte ich keinen vernünftigen Grund gefunden, der dagegen sprach. Das kleine Ein-Zimmer-Appartement, das Rick mir anfangs besorgt hatte, war nicht mehr sicher gewesen als ich es mir mit Joel verscherzt hatte. Auch Rick hatte seine Wohnung deshalb aufgeben müssen. Dann hatte er mich mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gesetzt und uns eine große gemeinsame Wohnung besorgt. Seitdem lebte ich mit Rick zusammen. Insgeheim haderte ich jeden Tag aufs Neue mir selbst, ob ich das wirklich wollte.

Wollte ich?

Ja. Nein. Jein. Keine Ahnung.

Ein wenig mehr Bedenkzeit wäre gut gewesen. Mein Leben hatte sich in den letzten Monaten komplett geändert. Gerade noch war ich eine abgerissenen Möchtegern-Autorin gewesen und im nächsten Moment fand ich mich im Kreis meiner eigenen Romanhelden wieder, die Kräfte besaßen, von denen normale Menschen bestenfalls träumen konnten. Plötzlich hatte ich ganz andere Probleme als das Geld für die nächste Monatsmiete aufzutreiben und schlug mich – wortwörtlich – mit Magiern, Vampiren und einer skrupellosen Regierungsbehörde, den SOLFs, herum. Zur Krönung des Ganzen erfuhr ich dann auch noch, dass mein ganzes bisheriges Leben eine einzige Lüge gewesen war. Meine vermeintlichen Eltern nur Opfer eines magischen Zigeuner-Fluches und mittlerweile hielten sie mich sowieso für tot. Und was meine richtige Herkunft betraf: Ich war ein Mischwesen, das nicht wusste, ob es nun an Land oder unter Wasser gehörte. Eine verbotene Missgeburt, die man normalerweise schon als Säugling tötete.

Doch die wirklich größte Veränderung in meinem Leben waren meine Gefühle für Rick.

War das Liebe?

Ja, das war es. Ich liebte ihn. Aber mittlerweile war ich mir nicht mehr sicher, wen ich da eigentlich liebte. Oder was.

Denn mit einer Sache hatte Debby recht: Rick veränderte sich tatsächlich. Seine Temperamentsausbrüche wurden heftiger und seine Magie immer stärker. Seine Kräfte vergrößerten sich schneller als seine Selbstbeherrschung, sie unter Kontrolle zu halten. Zudem waren auch Kräfte dabei, die für einen Magier extrem ungewöhnlich waren und daher allgemeine Besorgnis auslösten.

Aber egal, wer oder was Rick war: Ich liebte ihn.



2


Zu meiner unendlichen Erleichterung war ich vor Rick zu Hause. Hätte er mitbekommen, wie mich Alec zurück brachte, wäre ein neuer Eifersuchtsanfall vorprogrammiert gewesen. Zugegeben, eigentlich mochte ich es, wenn Rick ein bisschen eifersüchtig war, denn dann war ich mir wenigstens sicher, dass er mich noch wollte. Aber diese überschäumenden Wutanfälle, die ihn in letzter Zeit immer häufiger überfiel, waren ziemlich unerträglich. Ich war froh, das Ganze umgehen zu können. Rick kam rund eine halbe Stunde später als angekündigt und ich hatte in der Zwischenzeit meine Kleidung wechseln und Duschen können. Als ich hörte, wie er die Tür aufschloss, saß ich bereits am Rechner und korrigierte eine Textpassage, die ich am Tag zuvor geschrieben hatte. Ich hatte es aufgegeben, etwas Neues zu schreiben. Das ließ sich nun mal nicht erzwingen. Morgen war auch noch ein Tag. Nun stand mir erst mal ein Abend mit Rick bevor. Leider nicht alleine. Seine Freunde erwarteten uns im Covert’s Inn – und wir würden dort unweigerlich auch Debby treffen. Hurra.

Ricks Begrüßung war wie üblich sehr besitzergreifend. Nett ausgedrückt. Ohne ein Wort zu verlieren, packte er meinen Hintern und zog mich an sich. Es war deutlich zu spüren, dass er unser Wiedersehen lieber nackt und in der Horizontalen weiter geführt hätte. Stattdessen ließ er mich los, rückte seine Hose zurecht und trieb mich zur Eile an, damit wir rechtzeitig in der Untergrund-Bar eintrafen.

Es wäre leicht gewesen, Rick mit Sex abzulenken, aber das hätte das Unvermeidliche lediglich aufgeschoben. Verlockend war es trotzdem, ganz besonders, da Rick offenbar genau das wollte. Insgeheim hoffte ich, dass er von sich aus dem Bedürfnis nach körperlicher Entspannung nachgab. Aber auch er blieb ausnahmsweise vernünftig. So umrundeten wir uns wie zwei rollige Katzen und versuchten, eine neutrale Konversation am Laufen zu halten. Rick wirkte abwesend, merkte kaum wie ich seinen pflichtschuldigen Fragen nach meinem Tagesverlauf auswich. Einerseits war ich froh darüber, andererseits ärgerte es mich. Wenn es ihn sowieso nicht interessierte, dann sollte er sich die Fragerei eben sparen. Aber abgesehen davon war sein Gemütszustand eher beunruhigend. Abwesend, wortkarg und nervös. Aus Erfahrung wusste ich, dass er mir nicht erzählen würde, was mit ihm los war. Nicht jetzt und nicht hier. Ich spürte, dass er dazu nicht bereit war.

Außerdem hatten wir auch gar keine Zeit dazu, dachte ich bitter, wir wurden schließlich von seinen Freunden im Covert‘s Inn erwartet. Genauer gesagt: Nicht wir wurden dort erwartet, sondern Rick. Ob ich als sein Anhängsel mitkam oder nicht, war schlichtweg egal.

Als wir in der Untergrund-Bar ankamen, ließ Debby keinen Zweifel daran, wie überflüssig ich eigentlich war. Zum Ausgleich war Neve so übertreiben nett zu mir, dass mir übel wurde. Wenn es irgendetwas gab, das ich nicht ertragen konnte, dann war es Mitleid. Wie üblich reagierte ich darauf derart missgelaunt, dass man mich bald in Frieden ließ und ich mich davon stehlen konnte. Alibimäßig ging ich auf Toilette, um später eine Ausrede zu haben. Dann trollte ich mich in den Nebenraum des Covert’s Inn, wo eine ziemlich schlechte, aber dafür umso lautere Heavy Metal Band spielte. Ich verzog mich in eine Nische und starrte Richtung Band. Ich konnte die Musiker zwar nicht sehen, aber ich wollte alleine sein und dafür war ich hier genau richtig, umgeben von einer lärmenden unbekannten Masse.

Leider funktionierte diese Strategie nicht besonders lange. Ich hatte mein Glas noch nicht mal zur Hälfte geleert, als Miljon und Joel auftauchten. Ein seltsames Gespann. Miljon Shamour war ein Vampir, aber leider kein Durchschnitts-Vampir. Er war älter und mächtiger als die meisten Blutsauger, intrigant und skrupellos, man musste sich vor ihm in Acht nehmen. Joel Carplett hingegen war ein Magier. Zwar waren Zauberer für Vampire normalerweise nichts weiter als Futter, doch Joel Carplett gehörte zu den Privilegierten. Dank seiner Familie hatte er sowohl die finanziellen als auch die magischen Mittel, um seine Ziele zu verwirklichen, ganz egal wie niederträchtig und verwerflich sie sein mochten. Wenn er mit Miljon durch die Gegend zog, so konnte dies nur bedeuten, dass Joel noch immer ein Bündnis mit dem Vampir hatte. Böse ausgedrückt könnte man auch sagen, dass er Miljon als Söldner angeworben hatte. Wozu auch immer.

Ich duckte mich und versuchte, mich aus ihrem Blickfeld zu entfernen. Was natürlich sinnlos war, denn ein Vampir wie Miljon konnte mich riechen. Sein schmieriges Grinsen verriet mir, dass er längst Witterung aufgenommen hatte. Seufzend ließ ich meinen Hinterkopf gegen die Wand hinter mir fallen. Ich fragte mich, wie oft Miljon seine Vampir-Magie noch an mir ausprobieren wollte, bevor er endlich einsah, dass seine erotischen Kräfte bei mir wirkungslos waren. Das wurde allmählich langweilig und war ebenso sinnlos wie Joels Bestechungsversuche, um mich von Rick und Moira weg zu lotsen.

„Sieh an, sieh an. Unsere unbegabte Seherin so ganz alleine.“ Miljon machte eine spöttische Verbeugung.

Ich schwieg. Was sollte ich auch dazu sagen. Unbegabt war ich zweifelsohne, aber eine Seherin war ich nicht. Nicht wirklich. Niemand wusste so recht, was ich war, am wenigsten ich selbst. Ich hatte diese verworrenen Träume, die teils Bruchstücke der Vergangenheit und teils groteske Karikaturen der Gegenwart enthielten. Nur ganz selten war auch ein kleiner Splitter der Zukunft dabei. Alles reichlich nebulös und schwer zu deuten. Meine Romane waren zwar äußerst detailgetreu, aber darin waren nur die alten Geschichten der Vergangenheit zu finden. Das war alles. Vage Träume und meine Schreibanfälle, die meist nur Unheil brachten. Die auch schon Rick beinahe in den Tod getrieben hatten. Danke an Debby für diese Erinnerung.

„Rick scheint seines Spielzeuges überdrüssig geworden zu sein“, sagte Joel. „Er lässt dich in letzter Zeit oft alleine, nicht wahr?“

Wortlos stieß ich mich mit den Schultern von der Wand ab und wollte verschwinden. Miljon verstellte mir den Weg. Ich musterte ihn schweigend. Wie weit wollte er diesmal gehen? Er würde es nicht wagen, offene Gewalt gegen mich anzuwenden. Nicht im Covert’s Inn. Hier herrschte absolutes Gewaltverbot und wer diese Regel brach, musste nicht nur mit einem sofortigen Rauswurf rechnen, sondern war auch für alle anderen Gäste Freiwild. Miljon hatte sehr viele Feinde, die nur darauf warteten, dass er eine solche Dummheit beging. Um mich herum drehten sich die ersten Köpfe zu uns und beobachteten das Geschehen interessiert. Miljon hatte einen gewissen Ruf. Doch eigentlich war er zu klug, ein solches Risiko einzugehen.

„Wie viel hat Rick dir denn erzählt?“, fragte Joel von der Seite.

„Wovon erzählt?“, rutschte es mir heraus.

Joel grinste. Am liebsten hätte ich mir die Zunge abgebissen. Nun war es zu spät. Ich ergriff die Flucht nach vorne. „Okay, ihr beiden Aasgeier. Was wollt ihr eigentlich von mir?“

„Ein wenig reden, nichts weiter.“ Joel legte mir vertrauenswürdig den Arm um die Schulter und drängte mich gleichzeitig gegen die Wand.

„Denk an das Gewaltverbot“, zischte ich.

„Aber, Fate, wer wird denn so zickig sein? Nimm dir ein Beispiel an Rick. Er ist in letzter Zeit sehr viel aufgeschlossener geworden. Nicht mehr so wählerisch bei seinen Freunden. Aber das kann er sich wohl auch nicht mehr erlauben.“

„Was willst du damit andeuten?“

„Andeuten?“, fragte Joel betont unschuldig zurück. „Was heißt andeuten? Das ist doch schon lange ein offenes Geheimnis.“

Ich hörte auf mich zu wehren. Von was zur Hölle sprachen die beiden da?

„Hör schon auf, Joel“, mischte sich Miljon ein. „Du merkst doch, Fate hat keine Ahnung. Dabei ist sie selbst ein Bastard. Und trotzdem … Ich verstehe nicht, weshalb du so viel von ihr hältst. Um ihre Kräfte kann es nicht gut bestellt sein. Rick fickt sie und sie weiß noch nicht mal, mit was sie da fickt.“

„Was für eine rüde Ausdrucksweise“, tadelte Joel. „Fate ist nun mal unerfahren und verliebt, das trübt den Blick. Aber wenn du mich fragst“, er packte mich am Kinn und zog mich unsanft zu sich heran, „beginnen sich die rosaroten Wolken aufzulösen. Sie sieht sich bereits nach neuen Beschützern um. Oder sollte ich sagen: Intensiviert alte Freundschaften.“

„Dieses kleine farblose Ding ist wirklich ein Männermagnet“, hörte ich plötzlich eine vertraute, aber keineswegs gern gehörte Frauenstimme. Es war Hanna, eine dunkelhaarige, rassige Schönheit. Eine Magierin. Auf ihre Art ebenso sehr Außenseiterin wie ich. Unter anderen Umständen hätten wir vielleicht sogar Freundinnen werden können.

„Und? Wie sieht es aus?“, wandte sich Hanna an Miljon. „Beißt du dir mal wieder deine niedlichen Fangzähne an ihr aus?“

„Alles nur eine Frage der Zeit.“

„Nun, vielleicht hast du damit sogar Recht“, entgegnete Hanna. „Sie ist nicht stark genug für einen Dämon. Aber das kann man ihr kaum zum Vorwurf machen. Nur wer selbst ein Dämon ist, erträgt einen anderen.“

„Okay, genug jetzt“, rief ich ärgerlich. „Was soll der ganze Mist? Warum erzählt ihr mir das alles?“

„Weil wir dir unsere Freundschaft anbieten wollen“, antwortete Joel. „Denn ohne Rick wirst du es nicht lange bei Moira und ihrer kleinen Bande aushalten.“

Ohne Rick?“, rutschte es mir heraus. Wollte Rick etwa weggehen?

„Auch das wusstest du also nicht“, stellte Joel mit einem süffisanten Grinsen fest. „Momentan dulden dich Ricks Freunde nur ihm zuliebe, aber das wird nicht mehr lange anhalten. Nicht mal deine Halbschwester will sich mit dir beschäftigen. Ich hingegen kann dir helfen, deinen eigenen Weg zu finden und deine Kräfte zu entfalten. Ich verfüge über ganz andere Quellen der Magie als Moira.“ Ich hob zu einer Entgegnung an, doch Joel hob die Hand zu einer abwehrenden Geste und sprach unbeirrt weiter. „Nein, sag jetzt nichts. Du würdest es womöglich bereuen. Es ist nur ein unverbindliches Angebot, ausschlagen kannst du es immer noch. Halte dir die Möglichkeit offen, du wirst es brauchen. Glaub mir.“

Bevor ich etwas erwidern konnte, waren Joel und Miljon bereits wieder in der Menge verschwunden. Nur Hanna stand noch an Ort und Stelle und musterte mich interessiert. Herausfordernd blickte ich sie an. Sie schenkte mir ein mitleidiges Lächeln und verzog sich ebenfalls.

Hätten nur Joel und Miljon ihr Gift verspritzt, dann hätte ich es einfach ignoriert. Es war Hannas mitleidiges Lächeln, das mir nicht mehr aus dem Kopf ging, weil es bewies, dass Joels Andeutungen kein Bluff waren. Irgendetwas stimmte nicht mit Rick. Etwas, das weitaus schlimmer war, als die Wutausbrüche und das Anwachsen seiner Kräfte. Und offenbar war ich die Einzige, die keine Ahnung hatte, was eigentlich los war. Verdammt! Zur Hölle mit Rick! Er hatte noch immer kein Vertrauen zu mir.

Ich musste hier raus. Jetzt. Sofort.

Mit geballten Fäusten schlängelte ich mich durch die Menge. Ich wich Rick und seinen Freunden großräumig aus und hastete die Treppe nach oben, raus aus dieser vermaledeiten Untergrund-Bar. Keine Ahnung, weshalb Rick mich überhaupt andauernd dorthin mitschleppte, vermutlich um mich besser unter Kontrolle zu haben. Früher hätte er Joel und Miljon keine zwei Meter an mich heran gelassen, aber mittlerweile hatte er wohl Besseres zu tun. Dann brauchte er sich auch nicht wundern, wenn ich mich davon machte.

Ich hörte, wie der Türsteher Pit mir etwas hinterher rief. Dieser lästige Gnom würde mich sicherlich bei Rick verpetzen. Spontan schlug ich einen anderen Weg ein und bewegte mich Richtung Hafen. Ich würde ganz sicher nicht nach Hause gehen, in diese verfluchte Wohnung, in die mich Rick verfrachtet hatte, ohne mir auch nur eine Minute Bedenkzeit zu lassen, ob ich überhaupt mit ihm zusammenziehen wollte.

Ja, ich war wütend. Stinkwütend.

Rick fickt sie und sie weiß noch nicht mal, mit was sie da fickt.

Es stimmte, ich wusste gar nichts. Nur alle anderen schienen Bescheid zu wissen. Aber ich war auch nur das dämliche Betthäschen!

Es war kein Zufall, dass ich Richtung Hafen ging. Wenn sich Rick schon um mich Sorgen machte, dann sollten es wenigstens berechtigte Sorgen sein. Falls er sich Sorgen machte.

Obwohl … das war überhaupt nicht die entscheidende Frage. Rick würde sich sogar ganz sicher Sorgen machen. Aber ging es dabei um mich? Oder nur um Ricks überdimensionales Ego? Alles nur reiner Besitzerstolz. Manchmal fragte ich mich, ob Rick sich auch nur halb so sehr für mich interessieren würde, wenn ich nicht mit Alec befreundet wäre. Debby hatte nur das laut ausgesprochen, was ich selbst schon die ganze Zeit befürchtete. Joels und Miljons Interesse an mir spielten vermutlich auch eine wichtige Rolle. Das war wirklich grotesk, denn umgekehrt würden sich Miljon und Joel einen Dreck um mich scheren, wenn Rick keinen Alleinherrschaftsanspruch auf mich erhoben hätte.

Ich hatte es so satt, als Faustpfand für ihren schwachsinnigen Kleinkrieg herhalten zu müssen. Der einzige, dem es wirklich um mich ging, war Alec – und ausgerechnet er wurde von allen Seiten als gewissenloser Psychopath beschimpft.

„Wo willst du hin?“ Rick packte mich unsanft am Arm und riss mich zurück. Ich verlor das Gleichgewicht und hielt mich reflexartig an ihm fest.

„Lass mich los. Darf ich nicht mal mehr fünf Minuten alleine sein?“

„Nicht nachts und vor allem nicht in der Hafengegend. Das hatten wir doch schon durchdiskutiert.“

„Von Diskussion kann keine Rede sein. Es war wohl eher ein Monolog deinerseits.“

„Willst du mir verraten, was los ist? Was hat Joel denn nun schon wieder für Lügen verbreitet?“

„Wenn dein kleines Spionagenetzwerk so hervorragend funktioniert, solltest du das eigentlich besser wissen als ich. Bei mir hat er nur vage Andeutungen gemacht. Ansonsten hat er mir ebenso wenig erzählt wie du in letzter Zeit.“

Rick musterte mich abschätzend. „Quid pro quo. Du hast mir auch nicht erzählt, dass du dich mit Alec getroffen hast.“

Es war nicht weiter verwunderlich, dass er davon wusste. Es fragte sich eigentlich nur, ob Ricks Informant mich oder Alec verfolgt hatte.

„Na und?“, entgegnete ich. „Alec ist mein Freund. Was ist daran so ungewöhnlich? Hätte ich mich mit Lluh oder Silas getroffen, wäre es dir egal.“

„Das kann man wohl kaum vergleichen …“

„Vergleichen womit? Mit deiner Geheimhaltungspolitik? Oder deinem unglaublichen Vertrauen zu mir? Ist nicht gerade schmeichelhaft, wenn selbst Hanna besser über dich Bescheid weiß als ich.“

„Was hat sie gesagt?“

„Nichts. Nichts hat sie gesagt. Niemand sagt mir etwas, am allerwenigstens du!“

„Es ist sicherer so.“

„Jetzt hör doch mit dem Schwachsinn auf. Wenn du es mir nicht erzählst, dann wird es jemand anders tun. Joel und Miljon reißen sich ja geradezu darum.“

„Joel und Miljon ...“, echote Rick. „Die beiden wissen gar nichts. Die wollten nur ein wenig Staub aufwirbeln und dich ausfragen.“

„Das war kein Trick, dazu waren die Ankündigungen zu konkret. Welche neuen Verbündeten suchst du? Und was meinte Hanna damit, dass ich nicht stark genug für einen Dämon bin?“

„Scheiße!“ Rick wurde blass. „Das hat sie gesagt?“

„Ja.“

„Was noch?“

„Sie sind darauf herumgeritten, dass ich ein Bastard bin und haben angedeutet, dass du Moira und die anderen verlassen wirst. Sie haben mir ihre Freundschaft angeboten.“

„Verdammt!“ Rick schnaubte. „Das musste ja so kommen. Natürlich halten sie dich für ein leichtes Opfer. Wenn du dich die ganze Zeit mit Alec herumtreibst, müssen sie zwangsläufig denken ...“

„Alec kann nichts dafür! Er kann Joel und Miljon ebenso wenig leiden wie du. Wenigstens in diesem Punkt seid ihr euch einig.“

„Darum geht es nicht.“

„Worum geht es dann?“

Rick sah mich an und blieb mir die Antwort schuldig. Wieder einmal. Ich senkte den Blick und starrte auf meine abgeschabten Schuhe. Sie waren schlicht, nichts Besonderes. Sie passten zu mir. Mit einem Mal war ich nicht mehr wütend, sondern nur noch unglaublich traurig. Ich war dabei, Rick zu verlieren und ich wusste nicht, was ich dagegen tun konnte. Wahrscheinlich hatte ich ihn schon längst verloren. Ich wollte es nur nicht wahr haben.

Plötzlich zog mich Rick an sich und drückte meinen Kopf an seine Brust. „Komm mit nach Hause. Bitte“, flüsterte er.

Ich nickte stumm und stellte keine Fragen mehr. Schwer zu sagen, ob ich die Sinnlosigkeit meiner Fragen eingesehen hatte oder Angst vor den Antworten hatte. Vielleicht lag es auch an meiner erbärmlichen Abhängigkeit von Rick. Kaum umarmte er mich und warf mir ein Bröckchen Zärtlichkeit zu, wurde ich wieder schwach. In jener Nacht bekam ich sogar eine regelrechte Überdosis Zärtlichkeit, die meine bohrenden Fragen beinahe zum Verstummen brachten.

Beinahe.

Und dann, am nächsten Morgen, als ich alleine in dem kalten, großen Bett aufwachte, setzte der Katzenjammer ein. Die erste Tasse Kaffee schmeckte grauenhaft. Die zweite Tasse schüttete ich weg. Selbst der Geruch verursachte bei mir Magenschmerzen. Klares Wasser und schwarzer Tee schienen die einzig genießbaren Lebensmittel zu sein. Alles andere widerte mich an. Erstaunlicherweise war ich an jenem Tag so produktiv wie seit Wochen nicht mehr. Meine Finger flogen über die Tasten, denn auf einmal spürte ich ganz genau, wie mies sich meine Romanfigur Rachel gefühlt haben musste. Vielleicht war es das: Vielleicht hatte ich mich vorher einfach zu gut gefühlt, um über das elende Dasein von Rachel zu schreiben. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich mich so einsam wie selten zuvor fühlte. Meine Romanfiguren waren stets meine besten Freunde gewesen. Und mehr oder weniger auch ein Ersatz für mein missglücktes Liebesleben. Dann war Rick aufgetaucht und auf einmal waren meine Freunde mehr als nur ein reines Fantasieprodukt. Das hatte mich abgelenkt. Und es hatte mir die lächerliche Illusion vermittelt, ich könnte eines Tages zu ihnen gehören. Zu meiner Halbschwester Neve. Zu Rick …

Falsch gedacht.

Ich scrollte über den Text und zählte die Ausbeute des heutigen Tages: Zehn Seiten waren eine beachtliche Leistung. Ich hätte eigentlich zufrieden sein sollen. War ich auch. In gewisser Weise.

Doch zugleich war ich deprimiert, denn ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich immer dann am kreativsten war, wenn ich mich in mein emotionales Schneckenhaus zurückzog. Eskapismus war das Fachwort, auch wenn es in meinem Fall nicht angebracht war. Nicht mehr. Denn ich lebte tatsächlich in genau jener Welt, über die ich schrieb. Eine Fantasiewelt, die real war.

Nein, ich bereute nichts. So grausam es manchmal sein mochte, aber diese Welt, dieses Leben war besser als alles, was ich jemals zuvor erlebt hatte. Und noch gab ich die Hoffnung nicht auf.

Da klingelte mein Handy. Ich blickte auf das Display und musste lächeln. Es war Alec.

„Training?“, fragte er.

„Ich kann in zwanzig Minuten an unserem Strand sein.“



3


In den nächsten Tagen hörte ich Alecs Frage noch sehr oft: „Training?“ Und ganz egal wie müde ich war, dieses eine Wort reichte aus, um mir einen wahren Energieschub zu verpassen. Nein, Schuldgefühle hatte ich nie, wenn ich ohne Ricks Wissen mit Alec trainierte, an unserem heimlichen Treffpunkt, den Rick nicht kannte. Das war mein kleines Refugium, fernab von Rick und seinem Kontrollwahn. Ich genoss diese Stunden mit Alec. In den letzten Wochen hatten wir fast täglich trainiert und ich merkte, wie ich Fortschritte machte. Nur an jenem Nachmittag schien ich alles Gelernte vergessen zu haben.

„Konzentrier dich.“ Ein ungeduldiger Unterton schlich sich in Alecs Stimme.

Ich hielt kurz inne, atmete tief durch und verbannte Rick aus meinen Gedanken. Dann nickte ich und wir begannen den Drill von vorne. Ich konzentrierte mich auf meine Hände, die Koordination zwischen Abwehr- und Angriffsbewegung fiel mir noch schwer. Dann endlich schaffte ich es, Faust nach vorne, geöffnete Hand seitlich zur Abwehr. Meine Schultern entspannten sich, links, rechts, drehen nicht vergessen. Plötzlich ein ermahnender Tritt gegen meinen rechten Knöchel.

Mist, ich hatte meine Beine völlig vergessen. „Okay, ich hab es kapiert“, murmelte ich mit einem schiefen Lächeln.

„Das war schon zum vierten Mal“, kommentierte Alec nüchtern.

„Ja, ich weiß …“ Ich ging leicht in die Knie, kombinierte die Drehung mit einem leichten Seitwärts-Schritt – und vergaß meine Faust zu schließen. Verdammt!

Alec hielt inne. „Was ist los? Macht Rick Ärger, weil du mit mir trainierst statt zu Debby zu gehen?“

Ich senkte den Blick.

„Du hast es ihm immer noch nicht gesagt“, stellte Alec fest.

„Er hat nicht gefragt“, gab ich trotzig zur Antwort. „Es scheint niemanden zu stören, dass ich nicht in Debbys dämlichen Kurs gehe.“

„Das bedeutet nur, dass Debby dich nicht verpfiffen hat.“

Ich schnaubte. „Sie ist wahrscheinlich froh, wenn ich weg bleibe und sie sich nicht mit mir beschäftigen muss.“ Vor einigen Tagen hatte mir Rick nach einem riesengroßen Streit befohlen, wieder in den Selbstverteidigungskurs für Magier-Neulinge zu gehen, den Debby mittlerweile alleine leitete. Als ob Rick das Recht hätte, mir etwas zu befehlen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass meine konstante Abwesenheit irgendjemand auffiel und Rick mir erneut deswegen die Hölle heiß machte. Debby wollte mich zwar sowieso nicht dabei haben oder vielleicht hatte Rick vergessen, sie danach zu fragen, aber auch sonst vermisste mich niemand. Wahrscheinlich lag für die meisten der Gedanke nahe, dass ich Privattraining von Rick bekam. Nun, Privattraining bekam ich tatsächlich. Aber nicht Rick war mein Trainer.

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Alec. „Diese Heimlichtuerei wird ihn erst richtig wütend machen.“

„Von Heimlichtuerei kann keine Rede sein. Schließlich bin ich nicht verpflichtet, Rick über jeden meiner Schritte zu unterrichten. Wenn ich in die Bibliothek zu Moira gehe oder Neve besuche, dann muss ich das auch nicht großartig ankündigen.“

„Werd nicht albern. Du weißt ganz genau, dass ich das bevorzugte Ziel von Ricks Eifersuchtsanfällen bin. Dein hitzköpfiger Freund hat es bislang nur zähneknirschend hingenommen, wenn wir uns einfach zum Reden getroffen haben. Er wird ausrasten, wenn er mitkriegt, was wir hier tun. Dass ein Kampftraining mit engem Körperkontakt verbunden ist, weiß wohl keiner besser als Rick.“

Alecs Anspielung auf mein erstes Selbstverteidigungstraining mit Rick ließ Röte in meine Wangen aufsteigen. Das Ganze war ziemlich schnell zu einer erotischen Zerreißprobe geworden. „Das hier ist etwas ganz anderes als damals mit Rick.“ Ich begab mich erneut in Abwehrstellung und bedeutete Alec, mit dem Drill weiter zu machen.

Doch Alec blieb regungslos stehen. „Ist es das wirklich?“, fragte er schließlich. „Ist da wirklich ein so großer Unterschied?“

„Du bist mein bester Freund. Und du bist nicht scharf auf mich. Zwischen uns ist alles rein freundschaftlich.“

„Ach ja, ich vergaß“, entgegnete er. „Alles rein freundschaftlich.“

Sollte ich seine demonstrative Ironie hinterfragen?

Alec nahm mir die Entscheidung ab und machte einen Schritt auf mich zu. Er ergriff meine Handgelenke und löste sanft meine Abwehrstellung auf. „Was wäre passiert, wenn ich dich als Erster gefunden hätte und nicht Rick derjenige ...“

„Alec, bitte, tu das nicht!“ Ich trat einen Schritt zurück und entzog ihm meine Hände.

„Doch, ich werde diese Frage nun endlich laut aussprechen. Ich habe es satt, dass sie in meinem Kopf herumgeistert. Rick ist eifersüchtig auf mich. Du weißt das, ich weiß das und selbst Rick gibt es zu. Warum? Woher kommt diese Eifersucht? Liegt er damit tatsächlich so falsch?“

„Ich liebe Rick.“

„Ach ja? Glaub mir, da kann man sich täuschen. Was genau liebst du denn an diesem egozentrischen ...“

„Alec, hör auf.“

„Nein, ich werde nicht aufhören, denn du bist gerade dabei, den gleichen Fehler zu begehen wie ich damals bei Susan.“

„Willst du Rick etwa mit deiner Schwester vergleichen?“

„Nein, das will ich nicht. Vielmehr will ich dich mit mir vergleichen. Rick hat sich verändert und er verändert sich immer noch, immer mehr. Selbst seine Freunde haben deswegen Bedenken, sogar Moira ist beunruhigt. Nur du verschließt die Augen davor. So wie ich es damals bei Susan ignoriert habe.“

Ich wusste, dass es Alec große Überwindung kostete, von seiner Schwester zu reden. „Es tut dir immer noch weh“, stellte ich fest.

„Ja.“ Er gab ein bitteres, trockenes Lachen von sich. „Trotz allem, was geschehen ist. Ich meine … also … Ich bin darüber hinweg. Eigentlich. Aber manchmal kommt der Schmerz zurück, manchmal ertappe ich mich sogar dabei, wie ich sie vermisse. Dumm, nicht wahr?“

„Nein, ist es nicht.“ Instinktiv trat ich näher und streichelte beruhigend seinen Arm. Er erstarrte und sah auf meine Hand. Ich wollte sie wieder wegziehen, doch er legte rasch seine eigene Hand darauf.

„Ich vermisse nicht die Susan, die du gekannt hast“, erklärte er. „Nun ja, streng genommen hast du sie gar nicht gekannt, aber ... so wie du über sie geschrieben hast ... Sie war nicht immer so.“ Er stockte, dann fuhr er mit belegter Stimme fort. „Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich sie geliebt habe. Oder vielmehr, das geliebt habe, was ich als meine kleine Schwester sah … sehen wollte.“ Er hob den Kopf und blickte mir in die Augen. „Was siehst du in Rick? Das, was er ist? Oder das, was du dir wünscht?“

„Ich hoffe, das ist das gleiche“, antwortete ich. „Doch manchmal habe ich Angst, dass ich mich irre.“

Alec nahm meine Hand und ging mit mir zum Rand der Klippe. Schweigend setzten wir uns nebeneinander auf den Boden. Die letzten Tage waren windig gewesen und das Meer hatte eine dunkle Färbung angenommen. Kleine Schaumkronen zierten die unruhige See. Am Himmel waren nur vereinzelt blaue Bruchstücke zu sehen, die heranziehende Dämmerung mischte rosa Fetzen in die grauen Wolken. Es wurde Zeit, zu Rick zurückzukehren. Aber ich wollte bei Alec bleiben.

Alec strich über die Narbe auf meinem Handrücken, ein Überbleibsel unserer Flucht vor den SOLFs. Eine Erinnerung daran, dass Alec mir einst das Leben gerettet hatten.

„Wir waren ein tolles Team“, sagte er gedankenverloren.

„Wie geht es Milo?“, fragte ich ihn nach dem ehemaligen SOLF, der uns geholfen hatte.

„Ich musste auch gerade daran denken. Wir drei gegen den Rest der Welt.“

„Lluh war auch noch dabei“, erinnerte ich ihn. „Er hat die anderen zu Hilfe geholt.“ Während wir drei uns darauf vorbereitet hatten, gemeinsam zu sterben. So etwas verbindet.

„Ein tapferer kleiner Flattermann, dieser Viggill.“ Alec lächelte, dann wurde er wieder ernst. „Milo hat sich noch nicht recht eingelebt in seinem neuen Dasein. Kann man nachvollziehen. Er muss sich vor seinen ehemaligen Kameraden verstecken und plötzlich sind die Wesen, die er als Monster verfolgt hat, seine einzigen Freunde. Na ja, das wird schon. Wenn er erst mal ein wenig Abstand gewonnen hat …“

„Also hat Debby ihm jetzt endlich neue Papiere besorgt.“

„Nein, hat sie nicht“, widersprach Alec. „Sie hat einfach so getan, als hätte sie ihn völlig vergessen. Milo ist nicht der Typ, der gerne um etwas bittet, vor allem nicht Debby.“

„Dann werde ich Rick …“

„Vergiss es“, schnitt er mir das Wort ab. „Ich habe es bereits erledigt. Milo hat eine neuen Pass, Personalausweis und Sozialversicherungsnummer. Und als kleine Dreingabe habe ich ihm auch noch eine Geburtsurkunde, einen Universitätsabschluss und einen Führerschein gebastelt. Und wenn dein werter Macho-Freund nicht langsam in die Gänge kommt, werde ich genau das Gleiche für dich tun.“

„Um mir zu helfen oder um Rick zu ärgern?“

„Beides“, gab Alec zu.

Ich seufzte.

„Kommt dir das nicht ein bisschen seltsam vor, dass Rick dir keine neue Identität besorgt?“, stichelte Alec. „Eine äußerst geschickte Art und Weise, dich an der kurzen Leine zu halten. Ohne Ricks Hilfe kannst du letztendlich nichts machen. Keine Reisen, kein Job, kein Mietwagen, keine eigene Wohnung – und vor allem kein eigenes Konto. Handy, Internet und Email auch nur über Ricks Zweitanschluss. Und was den ganzen Finanzkram betrifft, musst du darauf hoffen, dass Ricks blonde Schatzmeisterin dich nicht ebenso vergisst wie Milo. Soll ich mit der Aufzählung weiter machen?“

Ich presste die Lippen aufeinander.

„Tu doch nicht so, als ob dich das nicht stört!“, beharrte Alec.

„Verdammt!“, fluchte ich. „Ja, es stört mich. Es stört mich sogar ganz gewaltig. Aber ...“

„Aber es kostet dich jedes Mal Überwindung, Rick daran zu erinnern“, vollendete Alec meinen Satz. „Weil du dir wie eine Bittstellerin vorkommst. Und außerdem hat Rick ja viel wichtigere Dinge zu tun“, schloss er zynisch.

Ich schwieg. Alec hatte ins Schwarze getroffen und ich hatte deswegen schon mehr als eine Auseinandersetzung mit Rick gehabt.

„Was hat er eigentlich so unglaublich wichtiges zu tun?“, bohrte Alec weiter nach.

„Hör auf. Bitte“, sagte ich tonlos. Das war ein weiteres Mienenfeld. Rick hüllte sich noch immer in Schweigen, was seine Arbeit betraf. Aber wenigstens galt diese Geheimhaltungspolitik nicht nur mir. Er hatte damit auch Moira und sogar Debby verärgert, weil er ihnen auch nichts mehr erzählen wollte.

„Es tut mir leid“, lenkte Alec ein. „Ich will dich nicht drängen. Es ist nur … Ich mach mir Sorgen um dich. Niemand sollte dich so behandeln. Am allerwenigsten Rick.“

„Rick behandelt seine Freunde nicht besser“, entfuhr es mir.

„Macht das einen Unterschied?“, fragte Alec.

„Nein“, flüsterte ich. „Nein, das macht wohl keinen Unterschied.“

Die rosa Farbfetzen in den Wolken wurden zu einem dunklen, angegrauten Orange. Wenn ich mich beeilte, war ich noch vor Rick zu Hause, rechtzeitig genug, um mich duschen und umziehen zu können. Aber ich wollte mich nicht beeilen. Ich wollte hier bei Alec bleiben, versteckt an dem kleinen Strand. Ich wollte mich verkriechen. Auch vor Rick.

„Ich werde einige Zeit aus Aston verschwinden“, sagte Alec unvermittelt.

Erschrocken drehte ich mich zu ihm.

„Sieh mich nicht so entsetzt an.“ Alec legte den Arm um mich und zog mich an sich. „Sonst komme ich noch auf falsche Gedanken.“

„Wohin willst du gehen?“

„Einen Freundschaftsdienst erledigen. Es wird hoffentlich nicht lange dauern.“

„Lass mich raten“, brummte ich. „Du riskierst dabei deinen Hals.“

„Das tue ich täglich.“

„Wie lange wirst du weg sein?“

„Nur ein paar Tage. Mach dir keine Sorgen.“

„Bilde dir bloß nicht ein, ich würde dich vermissen.“ Ich rieb meine Wange an seiner Schulter. „Es geht mir nur um die Trainingsstunden.“

„Ich habe dir gezeigt, wie du Schattenboxen üben kannst. Alternativ kannst du natürlich auch zu Debby gehen“, neckte er mich. Dann wurde er wieder ernst. „Ich lasse dich nur ungern allein.“

„Und ich lasse dich nur ungern gehen“, murmelte ich. „Freundschaftsdienst klingt gefährlich. Wenn dir was passiert, dann mache ich dir die Hölle heiß.“ Plötzlich kam mir ein Gedanke. „Könnte ich nicht mitkommen?“

„Nein“, sagte Alec. „Mal abgesehen davon, dass dich Rick lieber in Ketten legen würde als dich ...“

„Du weißt ganz genau, dass ich mir von Rick nichts verbieten lasse!“

„Das wäre sicherlich ein interessanter kleiner Machtkampf.“ Er lachte leise. „Und ehrlich gesagt, würde ich das wirklich gerne beobachten, aber in diesem speziellen Fall … Nein, ich kann dich nicht mitnehmen. Das ist zu gefährlich.“

„Verdammt, Alec!“ Ich machte mich von ihm los und sprang auf. „Fängst du jetzt auch schon mit diesem Mist an!“, rief ich.

„Hoh, ganz ruhig, Braune.“ Er rappelte sich ebenfalls auf. „Ich würde dich wirklich gerne mitnehmen, nichts lieber als das. Und sei es nur um Rick eins auszuwischen. Aber sieh es ein: Du kannst nicht einfach so verschwinden. Dein Macker würde uns hinterherkommen und nichts als Ärger machen. Das kann ich wirklich nicht brauchen. Dazu ist es zu wichtig. Ich würde nicht nur mein Leben riskieren, sondern auch das meines Freundes.“

Ich blickte ihn trotzig an.

„Okay, meine Süße. Ich will es mal so formulieren: Wenn du mir garantieren kannst, dass Rick keinen Ärger macht und dass er mir nicht in die Quere kommt, dann nehme ich dich mit.“ Er sah mir in die Augen. „Kannst du das? Denn alles andere würde ein unnötiges Risiko bedeuten. Und du willst doch, dass ich einem Stück zurückkomme, oder?“

„Das ist unfair!“

„Hey, du hast dir diesen herrschsüchtigen Egomanen ausgesucht. Jetzt musst du auch damit klar kommen.“

Ich biss die Zähne zusammen und wusste nicht so recht, auf wen ich wütend sein sollte. Auf Alec, auf Rick oder auf mich selbst. Oder auf diese ganze verfluchte Situation.



4


Hätte ich wenigstens gewusst, wo sich Alec herumtrieb, wäre ich entspannter gewesen. Oder vielleicht hätte ich mir noch mehr Sorgen um ihn gemacht. Aber alles wäre besser als diese verdammte Unsicherheit. Offenbar waren alle Männer in meiner Umgebung sehr bestrebt, mich in Watte zu packen und mir nichts, aber auch rein gar nichts zu erzählen. Alec verzieh ich es viel leichter, denn ihm glaubte ich, dass er triftige Gründe hatte. Einer dieser Gründe war sicherlich auch die Tatsache, dass ich mit Rick zusammen war.

Nein, Alec nahm ich es nicht übel. Nicht sehr zumindest ...

Was Rick betraf, sah die Sache etwas anders aus. Beschützerinstinkt hin oder her, aber es war einfach demütigend, dass selbst Joel und Miljon mehr über ihn wussten als ich. Wir hatten eine Beziehung, verdammt noch mal! Ich hatte ein Recht darauf, zu wissen, was mit ihm los war! Aber einem bedeutungslosen Betthäschen war man natürlich keine Rechenschaft schuldig. Zur Hölle mit Rick!

In jenen Tagen ohne Alec hatte ich nichts als Ablenkung und mir wurde schmerzhaft bewusst, wie sehr er mir fehlte. Außerdem war die Hektik des heimlichen Trainings einer endlosen Warterei gewichen, in der ich viel zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Natürlich hätte ich auch die pflichtbewusste Streberin spielen können. Ich hätte in der Zeit Schreiben können. Oder brav Schattenboxen üben. Aber ich war nun mal keine pflichtbewusste Streberin.

Stattdessen versank ich immer mehr in Grübeleien. Ich wurde immer schweigsamer, stellte auch keine Fragen mehr. Doch Rick bemerkte es kaum, er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Und was seine Freunde traf, so war ich ohnehin nur sein farbloses Anhängsel, das seine Nützlichkeit erst noch unter Beweis stellen musste.

Sollte mir recht sein. Je weniger Beachtung man mir schenkte, desto leichter konnte ich meinen neuen Plan umsetzen. Vielleicht war Plan übertrieben ausgedrückt, aber immerhin hatte ich eine einigermaßen konkrete Vorstellung, was ich tun wollte. Zuerst war es nicht mehr als das trotzige Vorhaben gewesen, auf eigene Faust Recherchen anzustellen – ohne wirklich daran zu glauben, dass ich etwas Derartiges zustande bringen würde. Aber schon bald wurde mir bewusst, wie einfach das eigentlich für mich war.

Der entscheidende Faktor war Fegleave, ein Mittel, mit dem man seinen Spuren verwischen konnte. Alec hatte mir einen üppigen Vorrat an Fegleave-Staub gegeben, sogar in einer nahezu perfekten Version, die nicht mal Alec selbst austricksen konnte. Natürlich hatte ich Rick nichts davon erzählt, er hätte mir dieses wirklich nützliche Mittelchen sofort wieder abgenommen. Obgleich es eine effektive Schutzmaßnahme war, um notfalls Angreifer abzuschütteln, hatte Rick sich geweigert, mir nochmals Fegleave-Staub zu überlassen, seit ich das Zeug benutzt hatte, um seine Dauerüberwachung zu boykottieren. Er hatte lediglich eine Notfall-Ration in einem Geheimfach für mich deponiert, die er regelmäßig kontrollierte. Hätte ich etwas davon benutzt, dann hätte ich darüber vermutlich einen schriftlichen Rechenschaftsbericht in dreifacher Ausfertigung vorlegen müssen. Und zugegeben, diesmal lag Rick mit seinem ewigen Misstrauen sogar richtig, denn in den letzten Wochen hatte ich Alecs Fegleave vor allem dazu verwendet, Rick und Branco davon abzuhalten, mir zu meinem kleinen Refugium am Strand zu folgen. Nun wandte ich diese Strategie einmal mehr an – allerdings wollte ich diesmal nicht zu meinem Strand, sondern zu Joel.

Rick sollte davon natürlich nichts erfahren. Es galt also, einige Vorkehrungen zu treffen, denn ich war bei Joels Leuten hinlänglich bekannt. Aber sie kannten mich nur als Ricks unscheinbare Begleiterin, die keine anderen Kleidungsstücke als Jeans und T-Shirts zu besitzen schien. Weit gefehlt. Martha, eine von Ricks Vertrauten, hatte mich mit allem ausgestattet, was ein eitles und modebewusstes Frauenherz begehrte. Inklusive passender Schuhe und Make-up. Doch ich war weder modebewusst noch besonders eitel. Das Make-up hatte ich noch nie benutzt und all die feinen Röcke und Kleider verstaubten ebenso wie die Stöckelschuhe im Schrank. Ich hätte die Sachen schon längst weiter verschenkt, aber ich hatte befürchtet, Marthas Gefühle zu verletzten. Nun war ich froh, dass ich die Sachen behalten hatte und als Verkleidung benutzen konnte, um mich zu tarnen.

Ich wählte ein schwarzes Kostüm bestehend aus einem schmalen Rock und einem engen Blazer. Unter dem Blazer zog ich lediglich ein dünnes Top an, das man nicht sah, wenn die Jacke geschlossen war. Es wirkte so, als trüge ich unter der Jacke nicht weiter als nackte Haut. Dazu hochhackige Schuhe und Seidenstrümpfe. Dann noch ein wenig Styling: Hochsteckfrisur, helles Puder, kirschroter Lippenstift, schwarzer Kajal und Wimperntusche. Fertig war der Schneewittchen-Look.

Natürlich sah ich immer noch so aus wie ich selbst und aus der Nähe erkannte man mich, wenn man genauer hinschaute. Aber da ich für die Meisten nur das Mauerblümchen an Ricks Seite war, dem man nur aus der Ferne einen kurzen Blick zuwarf und ansonsten ignorierte, hielt ich die Tarnung für ausreichend, um unbemerkt zu Joel zu gelangen.

Ich schlich mich aus der Wohnung und streute Fegleave-Staub hinter mich bis ich zwei Häuserblocks entfernt war. Dann rief ich mir ein Taxi. Ich hatte nichts weiter dabei als den kleinen Plastikbeutel mit Fegleave-Staub und ein paar Geldscheine für den Taxifahrer. Den Hausschlüssel hatte ich in eine kleine Einbuchtung des hölzernen Türrahmens geklemmt. Das erschien mir am sichersten. Die Wohnung war mit Schutz-Zaubern überfrachtet und ich würde in einigen Stunden zurück sein. Aber für den Fall, dass etwas schief ging, wollte ich keinesfalls etwas mitnehmen, was meine wahre Identität verraten könnte.

Wenige hundert Meter von meinem eigentlichen Ziel entfernt, ließ ich mich absetzen. Joels Familie besaß eine Villa am Stadtrand. Anders als Ricks Wohnung, war diese Adresse kein Geheimnis. Die Carpletts waren zu einflussreich, um sich darüber Sorgen machen zu müssen. Sie hatten Geld und Macht genug, um ihr öffentliches Anwesen zu schützen. Ich stöckelte mit übertriebenem Hüftschwung auf das Tor der Villa zu. An meinem Gang würde man mich definitiv nicht erkennen. Nun folgte der schwierigste Teil meines Vorhabens: Zu Joel vorgelassen zu werden ohne meinen Namen nennen zu müssen.

Das Anwesen der Carpletts war von einem kunstvollen schmiedeeisernen Zaun umgeben. Die Schnörkel sahen wie harmlose Verzierungen aus und wirkten alles andere als einbruchssicher. Aber das lag in der Natur von wirklich fiesen magischen Barrieren. Ich fragte mich, wie viele Einbrecher wohl schon blauäugig in ihr Verderben gelaufen waren. Durch den Zaun sah man den weiträumigen Garten mit wunderschönen knorrigen Pinien, deren Geruch die Luft versüßte. Der Rasen war gepflegt, ein sattes Grün, mit kleinen versprengten Blumeninseln. An einigen Stellen wanden sich Rosenranken um den Zaun. Im Hintergrund ein elfenbeinfarbenes Gebäude im Kolonialstil. All das erinnerte an eine südländische Plantage aus Sklavenzeiten, wie man sie aus den alten Hollywoodfilmen in Technicolor kannte. Der Vergleich mit der Sklavenzeit passte sogar ziemlich gut, denn von den Angestellten wurde blinder Gehorsam erwartet.

Mit einem reichlich mulmigem Gefühl im Magen drückte ich auf die Klingel. Die Überwachungskamera nahm mich mit einem leisen Surren in ihren Fokus. Ich bereitete mich auf eine längere Diskussion mit einem Angestellten vor. Doch stattdessen wurde das Tor geöffnet.

Einfach so.

Man hatte mich entweder erkannt oder man hatte mich erwartet.

Verdammter Mist! Mein ach-so-ausgeklügelter Plan war gescheitert noch bevor ich überhaupt richtig damit angefangen hatte. Aber nun war es zu spät für einen Rückzieher. Mit eisigem Lächeln und hocherhobenen Hauptes ging ich den Kiesweg entlang. Keine leichte Aufgabe mit Stöckelschuhen. Ich hörte wie sich das Tor wieder hinter mir schloss. Das leise Klicken jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Freiwillig in die Falle gegangen, ohne recht zu wissen weshalb.

Niemand war zu sehen. Kein Wächter, kein Gärtner, kein Butler. Ich hatte dunkel in Erinnerung, dass Joel angeblich seit neuestem Wachhunde hatte. Doch es waren noch nicht einmal Vögel zu hören. Es war geradezu gespenstisch still. Auch der Eingang der Villa war verwaist. Die Tür stand einen Spalt offen. Ich drückte sie auf und ging hindurch.

„In mancherlei Hinsicht bist du sehr berechenbar“, begrüßte mich eine selbstgefällige Stimme. Ich hob meinen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam. Am oberen Plateau des geschwungenen Treppengeländers stand Joel. Alleine.

Er machte eine kleine Verbeugung. „Darf ich bitten.“

Ich schluckte und ging langsam die Treppe hinauf. Immer einen Fuß vor den anderen. Oben angekommen nickte mir Joel zu und führte mich wortlos zu seinem Arbeitszimmer. Alles sehr geschmackvoll in dunklen Holz gehalten, scharfer Kontrast zum weisen Rauputz an den Wänden. Abgesehen von einigen antiken Möbelstücken war die Einrichtung spärlich. Keine Regale, keine Bücher. Ein schwerer Schreibtisch mit einem Plasmabildschirm darauf. In einer Ecke ein niedriger Tisch mit einer Karaffe und Kristallgläsern darauf. Zwei Sessel standen daneben. Es hätte gemütlich wirken können, doch das Fehlen jeglicher persönlicher Gegenstände verlieh dem Raum eine kühle Atmosphäre. Es war ein Eckzimmer, an einer Wand zwei große Fenster, an der angrenzenden Mauer eine verglaste Balkontür. Ein möglicher Fluchtweg, schoss es mir durch den Kopf.

„Hübsch, wirklich hübsch, deine kleine Maskerade“, durchbrach Joel das Schweigen und musterte mich abschätzend. „Was Rick wohl davon halten würde, wenn er wüsste, dass du dich für mich derart in Szene gesetzt hast.“

Ich biss die Zähne aufeinander. Es war nicht schwer zu erraten, dass Rick nichts von meinem Besuch wusste.

„Nimm Platz.“ Joel deutete auf einen der beiden Sessel. „Darf ich dir etwas anbieten?“

„Nein.“ Ich setzte mich.

„Nun, was führt dich hierher?“, fragte er.

„Sag du es mir“, entgegnete ich. „Du hast mich doch erwartet.“

Joel lachte leise in sich hinein. „Es war wirklich ein niedlicher Anblick, wie du den Köder im Covert’s Inn geschluckt hast.“

„Woher wusstest du, wann ich komme? Lässt du mich überwachen?“

„Nicht direkt“, wich er meiner Frage aus. „Es muss dich sehr kränken, dass Rick dir so wenig vertraut“, wechselte er unvermittelt das Thema. „Es ist verständlich, dass du ihm auch nicht alles erzählst.“ Er zwinkerte mir zu. „Keine Angst, dein Besuch bei mir, wird unser kleines Geheimnis bleiben. Vorerst.“

„Willst du mich erpressen? Kein guter Anfang ...“

„Oh bitte, Fate. Willst du mir allen Ernstes weiß machen, du wolltest zu mir überlaufen? Hältst du mich für so dumm, dir das zu glauben?“

„Wir wissen beide, dass Rick sauer wird, wenn er erfährt, dass ich hier war. Die Frage ist nur, auf wen von uns beiden sich seine Wut richten wird.“

„Eine gute Frage. Er ist äußerst unbeherrscht in letzter Zeit. Aber früher oder später war das zu erwarten.“

„Wirst du mir nun endlich erzählen, was du über ihn weißt?“

„Und was bekomme ich als Gegenleistung? Was hast du mir anzubieten?“

„Nichts. Außer, dass ich dir zuhöre.“

Joel sah mich schweigend an.

„Komm schon, Joel. Lass doch die Spielchen“, gab ich mich selbstbewusst. „Deine Andeutungen liefen von Anfang an darauf hinaus, dass du mir all die kleinen miesen Gerüchte über Rick unbedingt erzählen möchtest. Du willst meine Loyalität testen und ich bin neugierig. Das ist der Deal. Du willst mich gegen ihn aufhetzen? Nun gut, dann versuch dein Glück“, provozierte ich ihn.

„Immer mit dem Kopf durch die Wand, nicht wahr, Fate?“ Joel lachte auf. „Nur in einem Punkt irrst du dich, meine neugierige Seherin. Deine Loyalität muss ich nicht testen. Du wirst Rick nicht verlassen. Aber er wird nicht bei dir bleiben. Schon jetzt zieht er sich von dir zurück. Du kannst das nicht aufhalten und nichts von dem, was ich dir erzählen werde, kann es verhindern. Schon bald wirst du wieder alleine sein. Was wirst du dann tun? Dich damit zufrieden geben, von Moira aus Mitleid geduldet zu werden? Während du Rick in seinem neuen Leben aus der Ferne anschmachtest? Oder wirst du zu deinem anderen Volk unter Wasser gehen, wirst du die Welten wechseln und fortan am Meeresgrund leben? Falls du das überhaupt überlebst und obwohl du Angst hast, dort ebenso unwillkommen zu sein wie hier an Land. Du willst wissen, was dich dort im Meer erwartet. Aber niemand von Ricks Freunden will dir antworten. Vor allem nicht Rick selbst. Ich kann dir diese Antworten liefern.“

„So wie bei Neve damals?“

„Ja. Genauso wie bei Neve damals.“ Ein überlegenes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. „Hast du deine Halbschwester jemals gefragt, ob sie es bereut, zu mir gekommen zu sein? Nein, hast du nicht“, gab er sich selbst die Antwort. „Weil du ganz genau weißt, dass Neve das Risiko jederzeit wieder eingehen würde. Und sie hatte schon damals weitaus mehr zu verlieren als du.“

„Was weißt du über Rick?“, lenkte ich das Gespräch wieder auf das Wesentliche.

„Offensichtlich mehr als du ...“

„Das Thema hatten wir schon“, schnitt ich ihm das Wort ab.

„Ja, es kränkt dich“, sagte er mehr zu sich selbst. „Es kränkt dich sogar sehr. Zu Recht.“

„Okay, genug Zwietracht gesät“, kommentierte ich betont nüchtern. „Komm zur Sache.“

„Dir ist sicherlich schon aufgefallen, dass Rick ein äußerst gespanntes Verhältnis zu Vampiren hat.“

Ich nickte. Wenn Rick an Informationen kommen wollte, konnte er es sich nicht erlauben zimperlich zu sein. Toleranz war der Schlüssel, es zählten nur die Taten. Und selbst dann musste er manchmal mehr als nur ein Auge zudrücken. Doch wann immer es um Vampire ging, wurde Rick ungemütlich. Sogar in den seltenen Fällen, wenn sie auf unserer Seite standen. Ich hatte dies immer seiner unangenehmen Begegnung mit Gail zugeschrieben. Sie hatte ihre Vampir-Magie dazu verwendet, ihn gegen seinen Willen in ihr Bett zu bekommen. So zumindest hatte es Rick beschrieben.

„Rick ist sehr schnell für einen Magier“, fuhr Joel fort. „Sein Geruchssinn macht jedem Werwolf Konkurrenz und sein Gehör ist ungewöhnlich gut, nicht wahr?“

Wieder nickte ich.

„Und man munkelt, seine Augenfarbe würde sich in gewissen Momenten ändern. Aber das kannst du sicherlich besser beurteilen als ich.“

Es stimmte, wenn Rick erregt war, sei es aus Wut oder aus Begierde wurden seine blauen Augen so dunkel wie der Nachthimmel, fast schwarz. Manchmal blitzte darin etwas auf, über das ich lieber nicht nachdenken wollte. Wie glühende Kohlen. Ich hatte ihn oft wütend erlebt und noch häufiger hatte ich die pure Lust in seinen Augen gesehen. Oh ja, ich wusste sehr genau, worauf Joel anspielte.

„Nun, lass uns das mal zusammenfassen: Schnelligkeit, Geruchssinn und Gehör – damit übertrifft er jeden anderen Magier. Darüber hinaus ändert sich seine Augenfarbe, er ist unbeherrscht und er hasst Vampire. Ausgerechnet Vampire, denen man außergewöhnliche Schnelligkeit, Geruchssinn und Gehör nachsagt ...“

„Rick ist kein Vampir.“

„Nein, das ist er nicht, ganz im Gegenteil. Vampire sind seine natürlichen Feinde.“

„Ernsthaft? Was soll daran ungewöhnlich sein? Die meisten Magier sehen Vampire als ihre Feinde an.“

„Aber Ricks Kräfte sind nicht die eines Magiers. Und seine Instinkte haben eine äußerst dunkle und blutige Quelle, die Vampire als Konkurrenz sieht. Konkurrenz um das Futter. Rick ist ein Bastard.“

Ich ignorierte den Teil mit der dunklen und blutigen Quelle und konzentrierte mich auf den letzten Satz. „Na und? Soll mich das etwa abschrecken? Ausgerechnet mich? Ich bin selbst ein Bastard, ein Mischwesen, das man normalerweise schon nach der Geburt tötet.“

„Das ist etwas anderes: Du stammst zur einen Hälfte von Menschen und Magiern ab, doch deine Mutter gehörte zu den Marwaree, einem Volk, das unter Wasser lebt. Du wandelst zwischen zwei Welten, die unvereinbar sind und eines Tages wirst du dich entscheiden müssen.“ Er machte eine kurze Atempause. „Rick hingegen ist ein Bastard, ein Nachkomme zweier Völker, die jedoch der gleichen Welt entstammen. Das Gerücht, dass er Dämonen-Blut in sich trägt, kursiert seit Jahren. Doch niemand hat es wirklich ernst genommen. Man hat es immer für böswillige Nachrede gehalten, weil ihm einige seine beeindruckenden Kräfte neiden – mich selbst eingeschlossen“, gab er bereitwillig zu.

Ich wusste davon. Rick hatte es mir erzählt, er hatte vor mir nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er teilweise dämonischer Abstammung war. Aber das musste ich Joel nicht auf die Nase binden.

„Es spielt für mich keine Rolle. Selbst wenn er ein reinrassiger Dämon wäre ...“

„Das ist nicht das Problem“, fiel mir Joel ins Wort.

„Was ist dann das Problem?“

„Seine Kräfte. Seine immer weiter wachsenden Kräfte und seine dahinschwindende Selbstbeherrschung.“ Joel machte eine kleine Kunstpause, als erwartete er einen Kommentar von mir. Doch ich hatte nicht vor, ihm noch mehr Munition zu liefern. „Als vor einigen Monaten seine Magie erneut anwuchs, breitet sich Unmut aus“, fuhr Joel fort. „Nicht nur unter den Zauberern. Es ist bislang so gut wie nie vorgekommen, dass die Kräfte eines Magiers nach dem siebenundzwanzigsten Lebensjahr weiter wachsen, noch dazu in einem derartigen Ausmaß.“

Es stimmte, selbst Anselm und Moira hatten es mit Sorge betrachtet. „Man führt diese neuen Kräfte also auf Ricks Dämonen-Abstammung zurück“, stellte ich fest.

„Ja. Und nun fragt man sich, welche Dämonen-Art es wohl sein mag.“

„Das also versucht Rick seit Wochen heraus zu finden“, murmelte ich. „Und du weißt, um welche Dämonen-Art es sich handelt?“

„Nein, ich bin mir nicht sicher.“

„Aber du vermutest etwas.“

„Nur das offensichtliche. Seine Ähnlichkeit zu Vampiren lässt nicht viele Möglichkeiten zu. Und keine davon ist besonders schön. Einige sind untot. Alle trinken Blut, nicht nur das Blut von Tieren oder Menschen.“

„Vielleicht ist Rick ganz anders“, gab ich zu bedenken. „Vielleicht haben sich bei ihm durch die verschiedenen Stammbäume ganz neue Kräfte entwickelt, so wie sich bei mir diese Träume und das Schreiben gezeigt haben.“

„Naive kleine Fate“, spottete Joel. „Du vergisst etwas ganz Entscheidendes: Rick kann es nicht kontrollieren. Nicht seine neuen Kräfte sind das Problem. Die eigentliche Gefahr ist seine mangelnde Kontrolle darüber. Rick wird mehr und mehr zum Dämon. Der Dämon in ihm gewinnt die Kontrolle. Er wird die Seiten wechseln. Rick weiß das und seine Freunde wissen es ebenfalls.“ Er sah mich durchdringend an. „Und nun weißt du es auch.“

Warum hatte Rick es mir nicht gesagt? Es tat weh, dass Rick mir nicht vertraute. „Weshalb erzählst du mir das alles?“, fragte ich mit belegter Stimme.

„Weil es sonst niemand tut. Ich weiß nicht, ob ich dich mag. Wohl eher nicht. Aber ich schätze deine Kräfte und deinen Mut. Ich will, dass du am Leben bleibst. Vielleicht brauche ich dich eines Tages. Und ganz sicher wirst du mich brauchen. Auf die eine oder andere Weise.“

„Was willst du damit erreichen?“, fragte ich. „Du wartest doch nur darauf, dass Rick die Kontrolle verliert. Du spekulierst doch schon seit Jahren darauf, dass du ihn auf diese Weise auf deine Seite ziehen kannst. Wenn du sagst, dass er die Seiten wechselt, dann sprichst du doch davon, dass er zu dir überläuft.“

„Ja, das ist richtig. Oder vielmehr: das war richtig. Aber die Dinge haben sich geändert. Ein bisschen Dämonen-Blut in sich zu tragen, ist die eine Sache. Zu einem anderen Wesen zu werden, ist etwas anderes. Rick wird nicht zu mir überlaufen.“

„Damit hast du verdammt recht!“, rief ich.

„Rick wird nicht nur für Moira und seine Freunde zur Gefahr werden. Er wird für alle Magier ein inakzeptables Risiko sein.“

„Du erwartest nicht allen Ernstes, dass du mich mit solchen Sprüchen beeindrucken kannst.“

Joels Gesichtsausdruck blieb ausdruckslos. Dann schüttelte er stumm den Kopf. „Nein, du wirst es erst glauben, wenn es zu spät ist.“

„Ich frage dich nochmals: Was willst du damit erreichen, dass du mir all das erzählst?“

Joel rieb sich über das Kinn. Er nahm sich reichlich Zeit für seine Antwort. „Es kann nicht mehr lange dauern, bis du dich entscheiden musst, in welcher Welt du leben willst. Falls du die Welt der Marwaree wählst, bin ich der einzige, der dir den Weg weisen kann. Natürlich nicht ohne Gegenleistung. Das ist das Angebot, das ich dir mache. Und ich mache es dir jetzt, weil keiner – auch ich nicht – abschätzen kann, wie lange du noch in Sicherheit bist, bevor Rick endgültig durchdreht.“

„Reichlich billiger Versuch, mir Angst zu machen.“

„Das ist noch so ein kritische Punkt bei dir: Du hast keine Angst vor Rick. Genau das wird dir zum Verhängnis werden.“

Ich legte den Kopf schief und musterte Joel. Diese kryptischen orakelhaften Sätze entsprachen nicht seinem Stil. Das hörte sich eher an wie ... „Warst du bei Courgen?“, fragte ich gerade heraus.

„Nah dran.“ Er verzog den Mund zu einem Lächeln. „Aber es gibt noch weitere Quellen, auf die ich zurückgreifen kann. Mittlerweile solltest du wissen, dass ich über ganz andere Möglichkeiten als Moira verfüge.“

„Ein Zauberspruch? Hast du dich mal wieder an der Magie des Chaos versucht?“

„Das war nicht nötig. Noch nicht. Du solltest dich nun auf den Rückweg machen“, sagte er unvermittelt. „Du willst schließlich nicht, dass Rick dein Fernbleiben bemerkt und unangenehme Fragen stellt. Oder?“

„Du lässt mich gehen? Einfach so?“

„Aber natürlich. Darauf hast du doch spekuliert. Wenn ich dich mit Gewalt festhalte, handle ich mir unnötigerweise Schwierigkeiten ein. Rick mag dir zwar nicht vertrauen, aber er betrachtet dich als sein Eigentum. Außerdem bist freiwillig zu mir gekommen, weil du nicht mehr weiter wusstest. Du wirst es wieder tun.“

Joel stand auf und bot mir seinen Arm an. Ich erhob mich, ignorierte jedoch seine Geste. Schweigend geleitete er mich durch das Gebäude und den Gartenweg entlang bis zur Tor. Während sich das schwere Eisengitter öffnete, betrachtete Joel mich mit gönnerhaftem Besitzerstolz, als wäre ich eine neue Errungenschaft von ihm.

„Es war mir eine Ehre, Fate“, verabschiedete er sich. „Auf ein baldiges Wiedersehen.“


Ich drehte mich wortlos um und ging die Straße entlang. Das Klackern meiner Absätze wurde zum gleichmäßig emotionslosen Rhythmus eines Metronoms. Der Takt schien mich zu verspotten. Hämisches Kichern über eine lächerliche Gestalt. Ich ertrug das Geräusch nicht. Ich streifte die Schuhe ab, nahm sie mit der linken Hand und ging barfuß weiter. War das wirklich alles passiert? Ungläubig blickte ich die hochhackigen Schuhe an, die Krönung meiner Maskerade.

Warum vertraute Rick mir nicht? Warum erzählte er mir nicht einmal das Offensichtliche, das, was ohnehin alle wussten? Und wenn Rick der Teufel persönlich wäre, das hätte mich bei weitem nicht so sehr verletzt, wie das Wissen, dass er mir nicht vertraute. Was sollte das? Was glaubte er, was ich tun würde, wenn ich es erfuhr? Ihn verlassen?

Du wirst Rick nicht verlassen, hallten Joels Worte in meinem Kopf wieder. Aber er wird nicht bei dir bleiben. Schon bald wirst du wieder alleine sein.

Das machte auf eine grausame Art und Weise Sinn. Rick vertraute mir nicht, weil ich die Mühe nicht wert war. Er teilte mit mir sein Bett. Zumindest zeitweilig. Er hatte wahrscheinlich niemals vorgehabt, mich langfristig an seinem Leben teilhaben zu lassen. Obgleich er doch gesagt hatte, dass ... Rick hatte tatsächlich gesagt, dass er mich liebte.

Ich liebe dich. Es ist mir ernst. Du bist die Eine für mich. Ich will der Eine für dich sein.

Das waren seine Worte gewesen, die ich tief in meinem Herzen wie einen kostbaren Schatz verwahrt hatte. Es hatte so ehrlich geklungen, ich hatte ihm geglaubt. Und vielleicht ... vielleicht hatte Rick tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, mich als seine Gefährtin … Aber nun machte er ganz eindeutig eine Kehrtwendung. Was auch immer die Zukunft für ihn brachte: Für mich war dort kein Platz vorgesehen.

Blindlings ging ich die Straße entlang. Mein Kopf war leer. Ich konnte nicht denken, ich nahm nichts von meiner Umgebung wahr. Das einzige, was ich spürte, war der scharfkantige Eisklumpen in meiner Brust, der alles zerfetzte und mich innerlich zerfleischte.

„Taxi?“, fragte plötzlich eine Stimme von der Seite. Ein weißer Kleinwagen fuhr neben mir. Der Fahrer wirkte asiatisch, hatte die Fensterscheibe heruntergekurbelt und seinen linken Arm locker darauf gelegt. „Brauchen Sie ein Taxi?“, wiederholte er seine Frage.

Ich nickte wie in Trance. Er hielt an. Ich ging um den Wagen herum und setzte mich auf den Beifahrersitz. Gedankenverloren schnallte ich mich an. Der Sicherheitsgurt rastete schwerfällig ein. Er drückte extrem hart gegen meinen Oberkörper und ich versuchte, ihn ein wenig zu lockern, doch der Gurt schien sich verklemmt zu haben. Während der Fahrer den Wagen startete, rutschte ich auf meinem Sitz hin und her, dann gab ich es auf. Vielleicht konnte mich der schmerzhafte Druck auf meinen Rippen zumindest körperlich ablenken. Nachdem wir einige Minuten schweigsam gefahren waren, hatte ich jegliche Orientierung verloren. Die Gegend kam mir fremd vor. Ich fragte mich, ob der Fahrer einen Umweg nahm, um das Taxientgelt unnötig in die Höhe zu schrauben – als mir plötzlich bewusst wurde, dass er mich gar nicht gefragt hatte, wo ich eigentlich hin wollte. Wurde ich etwa gerade entführt?

Ich drehte den Kopf zur Seite und musterte den Taxifahrer. Seine Aura war schwach, aber trotzdem deutlich erkennbar, also kein stinknormaler Mensch. Er war kein Magier und auch kein Vampir, soweit konnte ich die Sache eingrenzen. Warum zur Hölle hatte ich nicht vorher darauf geachtet? So sorgsam und vorsichtig ich den Weg zu Joel angetreten hatte, so unbedacht war ich nun auf dem Nachhauseweg.

Welches nach Hause eigentlich?

Ehrlich gesagt war es mir in jenem Moment schlichtweg egal, wer oder was mich da entführte oder zu welchem Zweck. Es war nicht der Überlebenswille, der mich aufrüttelte, sondern mein Widerspenstigkeit. Es war einfach nicht meine Art, mich kampflos zu ergeben.

Ich versuchte, aus der Situation schlau zu werden. Der vermeintliche Taxifahrer war dünn und knochig, ungefähr Anfang zwanzig. Schräge hellbraune Augen, olivenfarbene Haut mit Akne-Narben. Auf dem Kopf trug er ein zusammengebundenes Tuch. Das Profil abgeflacht, als wäre ihm mehrmals das Nasenbein gebrochen worden. Er kam mir nicht bekannt vor. Ich bezweifelte, dass er einer von Joels Leuten war, das hätte keinen Sinn ergeben. Wieder rüttelte ich am Anschnallgurt, doch er ließ sich weder lockern noch öffnen. Ich war mir fast sicher, dass der straffe Nylonstoff mit Ascorren-Tinktur behandelt war. Jeder halbwegs begabte Idiot konnte diese Bann-Fesseln herstellen.

„Wird das eine Entführung?“, fragte ich.

Die Mundwinkel des dürren Typen bogen sich nach oben. „Sieh an, Schnuckelchen hat gemerkt, dass mit dem netten Taxifahrer etwas nicht stimmt. Hat ja reichlich lange gedauert. Du bist nicht gerade die Hellste.“

Damit hatte er leider recht: Noch dämlicher hätte man sich kaum anstellen können.

„Aber nein, eine Entführung würde ich es nicht nennen“, sprach er weiter. „Du hast echt keine Ahnung, was hier abgeht. Da läuft sie mit einer Aura wie eine Leuchtreklame quer durch diese Gegend. Ganz alleine. Und steigt zum nächstbesten Typen ins Auto.“ Er schnaubte. „Du bist neu in Aston, oder? Wie lange weißt du schon, dass du kein Mensch bist? Eine Woche? Einen Tag?“

Zumindest funktionierte meine Tarnung, überlegte ich. Hätte er mich als Ricks Freundin erkannt, hätte er zweifelsohne die Finger von mir gelassen. Keiner vergriff sich derart dreist an Ricks Schützlingen. Ich war mir fast sicher, dass er mich ohne weitere Diskussion gehen ließ, wenn ich mich zu erkennen gab. Aber dann hätte sich unweigerlich herumgesprochen, dass ich mich in aufgedonnerter Maskerade alleine in der Nähe der Carplett-Villa herumgetrieben hatte. Außerdem hatte ich die Nase gestrichen voll davon, auf Ricks Schutz angewiesen zu sein. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen, als meine Identität preis zu geben.

„Wenn es keine Entführung ist, was ist das dann?“, fragte ich.

„Kommt darauf an, was du zu bieten hast.“ Er warf mir einen Seitenblick zu. „Die Carpletts scheinst du mit deinen Fähigkeiten nicht beeindruckt zu haben.“

„Was hast du mit mir vor?“

„Nun wie gesagt, das hängt ganz von dir ab. Erzähl mal: Was kannst du denn so?“

Gute Frage. Eigentlich gar nichts. „Ich weiß ich es nicht so genau. Ich … ich weiß nur von dieser Aura und dass ich auch eine habe“, warf ich ihm ein Bröckchen hin. „Aber ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.“

„Und wie bist du auf die Carpletts gekommen?“, fragte er.

„Nun ja ... Ich habe einfach jemanden gefragt, wer mir am besten weiter helfen kann.“ Naives Dummchen. Ja, das konnte ich gut spielen.

„Jemanden gefragt? Soll das heißen, du bist auf das nächstbeste Wesen mit Aura zugegangen und hast gefragt, was du bist?“

„Ähm, also eigentlich war es umgekehrt. Eine Frau hat mich angesprochen und mir die Adresse der Carpletts gegeben“, improvisierte ich.

„Wie sah sie aus?“

„Ganz normal. Braune Haare, mittelgroß, ein bisschen älter als ich.“

„Braune Augen?“

„Ich weiß nicht mehr. Ich glaube sie waren grau.“

„Schlank, dicke Titten? Hatte sie eine Narbe am linken Ohr?“

„Eine Narbe ist mir nicht aufgefallen.“ Immer schön vage bleiben. Womöglich war das ein Test, ob ich bluffte.

„Claudia verbirgt sie meist unter ihren Haaren. Hat sie noch was zu dir gesagt?“

„Nur dass ich mich dort melden soll und man mir dann weiterhilft. Aber sie haben mich nicht mal rein gelassen. Sie sagten, sie könnten mich nicht brauchen.“

„Armes Schnuckelchen“, spottete der vermeintliche Taxifahrer. Er kaufte mir diese Ahnungslos-Nummer tatsächlich ab. „Hat deine Aura nicht versprochen, was sie gehalten hat, hm?“

Ich sah ihn gespielt verständnislos an.

Er lachte. „Keine Angst, Schnuckelchen. Wir werden dich nicht wegschicken. Wir können alles brauchen – und sei es nur als Dämonen-Futter.“

Verfluchter Mist! Ich war einem Fessen in die Hände gefallen!

Fessen wurden Wesen genannt, die ihre Kräfte nutzten, um als Zuhälter oder Blut-Dealer zu arbeiten. Das magische Pendant zu Menschen-Händlern. Sie raubten und verkauften Wesen mit einer Aura. Es war ihnen egal, welche Art von Aura und welche Art von Wesen, wichtig war ihnen nur, dass sie keinen Ärger bekamen. Sie beschränkten sich normalerweise auf Streuner, um die sich niemand sorgte. Diese armen Namenlosen verkaufen sie dann wie Vieh. Meistens als Dämonen-Futter. Manchmal auch als Huren, die im wahrsten Sinne des Wortes „vernascht“ wurden. Daneben hatten Fessen auch andere Kunden. Bei einigen Vampiren galt es als besondere Delikatesse, das Blut von ungewöhnlichen magischen Wesen zu trinken. Andere wiederum hielten es für schick, sich einen Haussklaven zu halten. Und dann gab es auch noch skrupellose Magier, die Versuchskaninchen oder Zutaten für die dunkelste Art von Magie brauchten.

Von Rick wusste ich, dass sich die meisten Fessen nicht lange am gleichen Ort aufhielten. Nur die gut organisierten Clans, die ihren Handel im großen Stil aufzogen und dadurch auch entsprechend einflussreiche Kunden hatten, konnten es sich erlauben, sich über längere Zeit an einem festen Stützpunkt einzunisten. Wahrscheinlich befand ich mich gerade auf dem Weg zu einem solchen Fleischmarkt.

Ich stockte. Konnte das wirklich ein Zufall sein? Kurz nachdem Joel angedeutet hatte, dass Rick zu einer Dämonen-Art gehörte, die auch das Blut anderer magischer Wesen trank, wurde ich ausgerechnet von einem Fessen aufgegriffen, diesen schmiereigen Fleisch- und Blut-Dealern?

Nein, das war ganz sicher kein Zufall. Wahrscheinlich hatte sogar Joel selbst dieser eigennützigen Bande den Tipp gegeben. Er wusste ganz genau, dass mich jeder Fessen-Clan sofort wieder freilassen würde, sobald ich den Namen „Rick Forrest“ erwähnte. Dann würde Rick erfahren, wo ich mich herumgetrieben hatte, ohne dass ich Joel die Schuld dafür geben konnte. Natürlich hätte ich genauso gut Joels Namen erwähnen können. Gleicher Effekt. Aber dann würde Rick noch wütender werden.

Joel wollte mir klar machen, wie hilflos ich ohne Beschützer war. Und er wollte mir zeigen, mit welchen Wesen ein bluttrinkender Dämon verkehrte, wenn er sich sein Essen nicht eigenhändig besorgte. Joel hatte eine geballte Abschreckungsstrategie inszeniert. Er hatte nur eine winzige Kleinigkeit vergessen: Mich.

Ich war bekanntermaßen verdammt stur. Weniger bekannt war, dass ich vor allem dann reichlich eigensinnig wurde, wenn es um meine Unabhängigkeit ging. Eine altbekannte eisige Ruhe überkam mich. Ich war sehr gespannt, wie weit ich alleine kam. Netter Test. Das Ergebnis war mir fast egal, denn ich zweifelte nicht daran, dass Joel mir die Wahrheit gesagt hatte. Rick wollte mich verlassen. Schon bald. Und das wiederum bedeutete, dass ich wenig zu verlieren hatte.

Verstohlen näherte ich meine linke Hand dem Taxifahrer. Vielleicht konnte ich das Steuer herumreißen und einen Unfall provozieren … Doch als ich nur noch knapp zwei Handbreit von Steuer entfernt war, bekam ich einen elektrischen Schlag. Heller Schmerz stach in meine Finger. Ich gab einen leisen Schrei von mir und zog die Hand zurück. An meinem Zeige- und Mittelfinger waren offene Brandwunden. Die restlichen Fingerkuppen trugen kleine Brandblasen. Es tat höllisch weh.

Der Taxifahrer kicherte. „Okay, Schnuckelchen. Nun weißt du, dass jeder Fluchtversuch sinnlos ist. Schreien und rumzappeln auch, es wird dich niemand hören. Außer mir.“ Er zwinkerte mir zu und schien geradezu darauf zu wartete, dass ich lauthals jammerte. Dann schnalzte er mit der Zunge und machte sich mit seiner rechten Hand an den Armaturen neben dem Steuer zu schaffen. Ein kleiner Bildschirm leuchtete auf. „Ich habe noch was auf dem Weg aufgelesen“, sagte er in Richtung des Monitors. „Ich schicke die Daten rüber.“

„Gut. Heute sind wir knapp mit der Ware“, antwortete eine verrauschte Stimme. „Wann bringst du es?“

„Zehn Minuten.“

Er tippte gegen den Bildschirm und eine Eingabemaske sprang auf. Mit geübten Fingern gab er meine Daten ein.


Art: Exot

Aura: Mittelstark

Kräfte: Unbekannt

Geschlecht: Weiblich

Aussehen: Menschlich, junge Frau, schmächtig

Status: Neuling, keine Bindung, Carplett-Ausschuss

Sicherheitsstufe: 2


Ich fragte mich, was Sicherheitsstufe zwei bedeutete. War das hoch oder niedrig? Vermutlich eher niedrig, bislang hatte ich für ihn keine Gefährdung dargestellt. Und leider würde das auch so bleiben. Ich war nicht gefährlich. Ich besaß keinerlei Kräfte, mit denen ich mich verteidigen oder gar angreifen konnte. Mein einziger Vorteil war es, dass sie nicht wussten, wer ich wirklich war. Der Fessen-Taxifahrer hielt mich für ein Naivchen, das sich widerstandslos in sein Schicksal fügte und von ein paar Brandblasen bereits vollständig eingeschüchtert war. Vielleicht ließ ihn das unvorsichtig werden. Ich senkte den Blick, zog den Kopf zwischen die Schultern und gab mir große Mühe, verängstigt auszusehen. Scheinbar verzweifelt starrte ich auf meine verbrannten Finger, während ich aus den Augenwinkeln beobachtete, welchen Weg wir nahmen. Wir fuhren geradewegs durch das Industrieviertel, Richtung Müllverbrennungsanlage. Dann bogen wir in eine kleine Seitenstraße nach rechts ab und der Gestank nach Abfall wurde wieder schwächer. Es war ein Außenbezirk, Neubaugebiet mit großen Hallen. Astons Industrie war in den letzten Jahren stetig gewachsen. Ich erinnerte mich, dass es Sonntag war. Niemand verirrte sich an einem Sonntag hierher. Außer vielleicht ein paar Schwarzarbeitern. Wir fuhren durch mehrere Baustellen und hielten schließlich hinter einer großen, fünfstöckigen Halle. Sie war noch im Rohbau, aber die beiden unteren Stockwerke waren fast fertig. Nur die Fenster fehlten. Die oberen drei Stockwerke sahen aus wie Skelette. Metallverstrebungen hielten die Fußböden aus Spannbeton und Baugerüste deuteten die noch entstehenden Mauern an.

„Schön brav sein“, höhnte mein Fahrer und stieg aus.

Er ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Hinter ihm trat ein zweiter Mann herbei. Sein Gesicht war mit feinem rötlichem Flaum bedeckt, ebenso seine Hände. Er war größer als mein Fahrer und fast doppelt so breit. In der linken Hand hielt er einen Metallring. Zielsicher packte er meinen Hals und legte den Metallring darum. Ich hörte das Schloss in meinem Nacken einrasten. Dann öffnete er den Gurt und zerrte mich aus dem Wagen. Ich wehrte mich nicht, tat verängstigt, damit er mich nicht fesselte oder festhielt. Es funktionierte. Er gab mir einen Stoß in den Rücken und schubste mich Richtung Eingang. Ich täuschte ein Stolpern vor, taumelte zur Seite – und rannte ich los.

Doch ich kam nicht weit. Der Rotflaumige lief mir auf allen Vieren hinterher und warf sich auf mich. Meine Rippen knirschten unter seinem Gewicht. Er zerrte mich auf die Beine, verschränkte mir meine Arme auf den Rücken und hielt sie mit einer Hand fest. Scharfe Krallen bohrten sich in meine Handgelenke, ich spürte Blut an meinen Finger entlang rinnen.

„Netter Versuch, Schnuckelchen“, kommentierte mein Fahrer. „Gratuliere, deine Sicherheitsstufe ist gerade von zwei auf drei gestiegen.“

Mit eisernem Griff führte mich der Rotflaumige quer durch die Lagerhalle und einen angrenzenden Raum mit Waschbecken und Küchenzeile. Eine Seitentür führte weiter in den Heizungsraum, in dem Strom- und Wasserzähler bereits montiert waren. Im Boden war eine Falltür eingelassen. Der Taxifahrer öffnete den Schacht. Unten brannte Licht, Betonstufen führten hinab. Der Rotflaumige bugsierte mich nach unten. Kleine Splitter stachen in meine Fußsohlen. Ich war noch immer barfuß. Durch den niedrigen Schacht zogen sich lange Röhren und Elektroleitungen. An den Seiten gab es vereinzelt vergitterte Lampen. Ich konnte zwar aufrecht gehen, doch der Rotflaumige musste sich ducken, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Wir gingen an mehreren Abzweigungen vorbei, bis wir eine schwere feuersichere Metalltür erreichten. Dahinter befand sich ein vollständig weiß gekachelter Raum. Am hinteren Ende waren mehrere Nischen abgeteilt. In zwei der Nischen saß jeweils ein zusammengekauertes Wesen am Boden. Beide waren nackt. Einer von ihnen war unglaublich dünn, unter seiner leuchtend roten Haut zeichneten sich Knochen ab. Die andere Gestalt wirkte im Kontrast dazu wie ein fetter Fleischberg, mit Schuppen bedeckt und so blass, dass sich die Farbe kaum von den Kacheln unterschied. Beide waren mit Ketten an die Wand gefesselt.

An der linken Seite des Raumes entdeckte ich einen kleinen Kleiderhaufen, daneben befanden sich mehrere Wasserhähne. An einigen davon waren lange Schläuche angeschlossen. Der rotflaumige Fessen führte mich zum linken Ende des Raumes, zu den Nischen, die am weitesten von den anderen beiden Gefangenen entfernt waren.

„Wir wollen schließlich nicht, dass sich unsere Ware gegenseitig auffrisst“, erklärte der Fessen-Taxifahrer grinsend, während mich der Rotflaumige in die Nische schubste.

„Zieh dich aus“, forderte der Fessen-Taxifahrer.

Ich rieb mir meine schmerzenden Handgelenke. Die Krallen des Rotflaumigen hatten mehrere Schnittwunden hinterlassen. Plötzlich quietschte die Tür und drei weitere Männer traten ein. Zwei davon sahen dem Fessen-Taxifahrer ziemlich ähnlich, fast wie Brüder. Der dritte war aufgedunsen und blass; schwarze Haare und schlecht rasiert.

Meine Dickköpfigkeit kam ins Wanken. Ich könnte es beenden. Einfach nur Ricks Namen nennen. Er lag mir auf den Lippen. Warum machte ich mir das Leben so schwer, warum ging ich dieses Risiko ein? Das war es doch nicht wert, oder? Ich musste doch nur Ricks Namen nennen und sagen, wer ich wirklich war. Und dann würden sie mich gehen lassen.

Oder?

Würden sie mich wirklich gehen lassen? Oder hatte ich diesen Zeitpunkt längst verpasst? Würden sie mich nicht eher töten, damit ich sie nicht bei Rick verraten konnte? Schließlich kannte ich jetzt ihren Stützpunkt. Und was war mit Rick? Brachte ich ihn damit in Gefahr, wenn ich mich als seine Freundin zu erkennen gab? Würde sie Rick erpressen? Mein Marktwert stieg enorm, sobald ich Ricks Namen aussprach. Von Carplett-Ausschuss zu Forrest-Liebchen.

Ich hatte die Chance verpasst. Ich hatte Ricks Schutz aufgegeben. Es war zu spät, es gab kein Zurück mehr. Ich musste alleine wieder aus diesem verdammten Mist raus kommen.

Zur Hölle, ich hatte es mal wieder komplett verbockt!

Rick Forrest … Was würde passieren, wenn ich diesen Namen nannte?

Es war zu spät, das würde alles nur noch schlimmer machen. Ich presste die Lippen aufeinander und hob trotzig das Kinn.

„Zieh dich aus“, wiederholte der Fessen-Taxifahrer seine Forderung, während die anderen drei auf mich zugingen.

Ich blieb regungslos stehen. Sie wollten mich nicht begrabschen, sie wollten nur ihre Ware für die Käufer vorbereiten. Ich wusste selbst, dass es klüger gewesen wäre, mich freiwillig auszuziehen. Trotzdem brachte ich es einfach nicht über mich, widerstandslos nachzugeben.

„Wie du willst“, sagte der Fessen-Taxifahrer und machte dem aufgedunsenen Typen und dem Rotflaumigen ein Zeichen, woraufhin die zwei sich in Bewegung setzten. Der Rotflaumige packte meine Arme. Gleichzeitig zog der aufgedunsene Typ ein Messer und wollte mein Bluse aufschneiden. Ich trat nach ihm und versuchte den Rotflaumigen zu beißen.

„Lass das, du wirst dir nur selbst weh tun“, sagte der Fessen-Taxifahrer beinahe gelangweilt.

Es war so dumm, doch ich konnte einfach nicht aufhören, mich zu wehren. Es war, als stünde ich neben mir und sähe mir selbst bei dem aussichtlosen Kampf zu. Schließlich riss dem aufgedunsenen Typen der Geduldsfaden und er verpasste mir eine harte Ohrfeige.

„Nicht ins Gesicht“, protestierte der Fessen-Taxifahrer. Er warf dem Aufgedunsenen einen Holzstab zu und fügte hinzu: „Wenn es sein muss, dann brich ihr die Beine, aber lass ihr Gesicht in Frieden. Sonst können wir sie nur noch als Ramsch-Ware anbieten.“

Der Aufgedunsene holte aus und traf mein linkes Schienbein. Ich schrie. Blut rann an meinen Unterschenkel entlang, meine Knie gaben nach. Der Rotflaumige drückte mich mit dem Bauch auf dem Boden und rammte mir sein Knie ins Kreuz. Ich spürte wie ein Messer meine Kleidung am Rücken aufschnitt. Dann wurde ich wieder auf die Beine gezerrt und meine Kleider fielen zu Boden. Ich versuchte, um mich zu schlagen. Der Aufgedunsene holte wieder mit dem Stock aus und traf mich in die Rippen. Der Rotflaumige knurrte unwillig, denn der Stock hatte auch ihn gestreift. Er schleuderte mich auf den Boden und trat einen Schritt beiseite. Mehrere Stockhiebe trafen mich an Armen, Beinen und Brustkorb. Ich bedeckte meinen Kopf, krümmte mich zusammen, um dem Stock möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.

„Genug damit. Wir wollen sie heute noch verkaufen.“

Die Schläge hörten sofort auf. Noch bevor ich es wagte, den Kopf zu heben, traf mich ein harter Wasserstrahl, schleuderte mich quer über den Boden und drückte mich gegen die Wand. Das Wasser war eiskalt, mein Herzschlag setzte kurz aus. Ich blieb so zusammengekrümmt, wie ich war. Ich sah und hörte nichts außer dem Brausen des Wasserstrahls, der mich gegen die Wand drückte. Dann stoppte das Wasser. Der Rotflaumige zerrte mich an den Haaren auf die Beine und zwang mich, den Oberkörper aufzurichten. Er packte meine Arme und kettete mich mit Handschellen eine Metallöse, die in der Wand eingelassen war. Ich kniete am Boden, die Hände aufrecht nach oben gestreckt. Meine Beine taten von den Schlägen weh, doch ich wollte nicht vor ihnen knien. Ich biss die Zähne zusammen und richtete mich mühsam auf. Von meinen Handgelenken rann Blut, mein linkes Knie pochte und in meinem rechten Schienbein wütete ein stechender Schmerz. Ich zwang mich, nicht nach unten auf meine Beine zu sehen. Wenn ich die Verletzungen sah, dann würde ich womöglich losheulen. Das war keine Option. Angestrengte stützte ich mich seitlich an der gekachelt Wand ab, presste die Beine zusammen und versuchte meine Brüste mit den Ellbogen zu verdecken. Meine nassen Haare klebten wie Eiszapfen an meinem Kopf und mein Kinn schien eingefroren zu sein. Ich war völlig in meinem Schmerz gefangen und es dauerte eine ganze Weile, bis ich meine Umgebung wieder wahrnahm. Über mir hörte ich Schritte und verzweifelte Schreie. Türen schlugen zu, ein Klatschen wie Schläge auf nackter Haut, gedämpftes Wasserrauschen. Es gab hier mehr als einen Verkaufsraum.

Die schwere Eisentür öffnete sich und ein weiterer Mann trat herein. Seine senffarbene Haut war von einem unregelmäßigen Muster aus Muttermalen übersät. Nur seine Glatze war von den Punkten verschont geblieben. Er war fast einen Kopf kleiner als ich und hatte schrägstehende braune Augen, ausgefranste Ohren und einen Froschmund. Als er mich ansah, grinste er und zeigte eine lange Reihe vergilbter dreieckiger Haifischzähne. Das musste Yan-Dy sein. Ich hatte von ihm gehört. Froschmund und Haifischzähne waren sein Markenzeichen. Er war der Anführer des größten Fessen-Clans in Aston. Die Meisten seiner Leute waren angeblich Blutsverwandte. Tatsächlich ließ sich ein gewisse Familienähnlichkeit zu dem Fessen-Taxifahrer und den beiden anderen asiatisch wirkenden Wesen erkennen.

„Bring sie her“, sagte Yan-Dy mit einem Nicken in Richtung des Rotflaumigen.

Der Rotflaumige nahm den Schlagstock und ging auf mich zu. Diesmal wehrte ich mich nicht als er meine Fesseln aufschloss und ließ mich widerstandslos zu Yan-Dy führen. Ich konnte kaum laufen und hatte Angst, ein weiterer Schlag mit dem Holzstock könnte meine Beine brechen. Damit wäre jede Chance auf Flucht endgültig verloren.

Yan-Dy musterte meinen zerschrammten Körper, dann sah er in mein Gesicht. Ich biss die Zähne aufeinander und hielt seinem Blick stand.

„Noch immer aufmüpfig?“, spottete er. „Mal sehen, wie du schmeckst.“

Der Rotflaumige zwang mich, meinen linken Arm in Yan-Dys Richtung zu strecken. Ich sah auf die Haifischzähne und zum ersten Mal bekam ich richtig Angst. Angst er könnte mir meine Hand abbeißen. Ich versuchte mich loszureißen. Der Rotflaumige klemmte mir den Stock unter den Hals. Ich würgte und bekam kaum noch Luft. Im nächsten Moment packte Yan-Dy mein Handgelenk und biss hinein. Blut quoll hervor. Er trank zwei tiefe Schlucke davon. Seine Augen leuchteten auf. Es schmeckte ihm.

„Die bringt mindestens siebentausend“, stellte er fest. Er gab mein Handgelenk frei und ging wieder zur Tür.

Ohne den Stock unter meinem Hals zu lockern, zerrte der Rotflaumige meine blutende Hand zu seinen Mund. Dann saugte er daran, wie ein Kind einen Milchshake durch ein Röhrchen schlürfte. Mein Fessen-Taxifahrer kam näher und blickte mich mit hungrigen Augen an. Wortlos reichte der Rotflaumige ihm mein Handgelenk weiter. Er nahm es und schluckte das hervorquellende Blut, dann biss er richtig zu, zerrte an meinem Fleisch. Er wollte mehr als nur Blut. Ich wurde panisch und versuchte zu treten. Da drückte sich der Stock fester gegen meine Kehle. Helle Sternchen tanzten vor meinen Augen, meine Sicht verschwamm.

„Aufhören“, hörte ich plötzlich Yan-Dys Stimme. „Ich habe bereits einen Käufer für sie. Er will sie in einem Stück.“

Sofort wurde meine Hand losgelassen, auch der Druck an meiner Kehle ließ nach. Ich hustete, musste mehrmals blinzeln, bis ich wieder klar sehen konnte. Vor mir stand Yan-Dy. Neben ihm eine riesige dunkle Gestalt. Sie war weit über zwei Meter groß und so muskelbepackt wie ein Wrestler. Strähnige schwarze Haare hingen ihm über die breiten Schultern. Seine dunkle, rötlich-braune Haut war an den Oberarmen von verschlungenen Mustern übersät, die er stolz zur Schau trug als wären sie königliche Insignien. Zu Recht, denn es sah wunderschön und zugleich stark und würdevoll aus. Am linken Oberarm war zwischen den kunstvollen Hautzeichnungen dickes Narbengewebe zu sehen, das den Eindruck von Stärke noch unterstrich. Er trug dunkle Stoffhosen und ein schwarzes ärmelloses Shirt. Beides wirkte teuer und neu. Als er näher kam, konnte ich seine Augen sehen. Sie waren fast vollständig schwarz, wie zwei glänzende Kugeln mit kleinen goldenen Reflexen. Sein kantiges Gesicht wirkte wie eine grob in Stein gemeißelte Skulptur. Er streckte seine Hand nach mir aus. Sie war groß, die ledrige Haut von kleinen Narben bedeckt. Er packte mein Handgelenk und leckte über die offene Wunde. Er nahm nur ein paar Tropfen meines Blutes und war dabei sehr sanft, als würde er mein Handgelenk küssen, höflich, fast entschuldigend. Er hatte eine eigenartige Ausstrahlung. Fremdartig, aber auch irgendwie vertraut ... oder vertrauenseinflößend? Doch gleichzeitig ängstigte er mich mehr als Yan-Dy und seine schmierige kleine Bande. Was war dieser Mann mit den geheimnissenvollen Hautmustern und den goldglänzenden schwarzen Augen? Ich hatte so ein Wesen noch nie gesehen. Warum erschien er mir so vertraut? Nicht er selbst, sondern eher das, was er ausstrahlte. War das ein Zauber oder ein Bann? Magie wie sie Vampire besaßen?

Er ließ von meinen Handgelenk ab, hob den Kopf und sah mir in die Augen. Sein Mund war von meinem Blut bedeckt, hinter seinen leicht geöffneten Lippen sah man kräftige weiße Zähne. Fangzähne. Nicht die spitzen Eckzähne eines Vampirs, es waren die scharfen Fänge eines Raubtieres.

Ich starrte ihn an. Trotz meiner verzweifelten Lage faszinierte er mich. Gleichzeitig wuchs meine Angst. Einem Wesen wie ihm konnte ich nur schwer entkommen. Er strahlte Macht und Magie aus. Seine Aura war dunkel und stark, fast so stark wie die Aura von Rick.

„Ich nehm sie“, sagte der dunkle Mann ausdruckslos.

„Sie kostet zehntausend. Zwölf wenn wir die Spuren verwischen sollen.“

„Die Spuren verwische ich selbst“, antwortete der dunkle Mann und überreichte Yan-Dy ein Bündel Geldscheine. Damit hatte er mich ganz offiziell gekauft.

Yan-Dy grinste und zählte hastig nach. „Die Handschellen gibt es gratis dazu. Sie ist noch wild.“

„Ich weiß. Das ist auch gut so“, sagte mein Käufer. Der nüchterne Klang seiner Stimme jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Legt auch ihre Füße in Ketten.“

„Kluge Entscheidung“, kommentierte der Rotflaumige. Er verschränkte mir die Arme hinterm Rücken und fesselte sie mit den Handschellen. Dann zwang er mich auf den Boden, setzte sich auf mich und legte mir Fußfesseln an. „Fertig zum Abtransport“, grunzte er und stand auf.

Sofort rollte ich mich wieder zu einer Kugel zusammen und schielte zu dem großen dunklen Mann mit den verschlungenen Hautmustern. Mein Käufer trat auf mich zu und zerrte mich auf die Beine. Warum hatte er mich gekauft? Was wollte er mit mir machen? Ich konnte weder Gier noch Lust in seinen Augen erkennen. Sein Gesicht wirkte emotionslos. Pokerface. Er klemmte mich unter seinen linken Arm und schleppte mich wie eine leblose Schaufensterpuppe nach draußen. Vor der Halle stand ein schwarzer Wagen mit verdunkelten Scheiben. Mit einem Piepsen öffnete sich der Kofferraum. Ich wurde hineingeworfen, doch der Deckel schloss sich nicht. Stattdessen zerrte mein Käufer an meinem Oberarm, damit ich mich aufrichtete und über den Rand des Kofferraums blicken konnte.

„Sieh gut zu“, sagte er zu mir. Dann drehte er sich um, streckte die Hände in Richtung der Lagerhalle aus und murmelte etwas. Im nächsten Moment stieg ein kleiner dünner Rauchfaden aus dem Sockelgeschoss der Halle. Der Rauch wurde dicker, sammelte sich zu einer grauen Wolke, die sich um die unfertigen höheren Stockwerke rankte. Es grollte, dann schossen Feuerpfeile aus der Wolke, fuhren jaulend in die Halle. Ich hörte Schreie. Flammen züngelten hervor und stoben gen Himmel. Plötzlich Stille. Dann fiel das Gebäude in sich zusammen. Staub wirbelte auf, Asche und Qualm. Zurück blieb nichts als eine dunkle Grube.

Wortlos drehte sich die hünenhafte Gestalt wieder zu mir um. Er drückte meinen Oberkörper mit sanfter Gewalt zurück in den Kofferraum und schlug die Haube über mir zu.

Warum hatte er das getan? War das seine Vorstellung von Spuren verwischen? Oder ein Machtdemonstration? Aber für wen? Er hatte mich gezwungen zuzusehen, doch wahrscheinlich nur, um mir deutlich zu machen, wie aussichtslos jeder Fluchtversuch war. Gratuliere, Vorstellung gelungen, ich war hinreichend beeindruckt. Genauer gesagt zitterte ich vor Angst am ganzen Körper. Aber das konnte nicht der einzige Grund gewesen sein, dazu war ich zu unwichtig. Ich war für ihn doch nicht mehr als ein Stück Fleisch …?

Doch ganz gleich, warum er das Fessen-Nest ausgerottet hatte, für mich machte das keinen Unterschied mehr. Ich war verloren. Wenn ich Glück hatte, tötetet er mich, bevor er mich auffraß. Wenn ich Pech hatte, würde er mich über Wochen hinweg am Leben halten, vielleicht nur mein Blut trinken, vielleicht auch Stückchenweise mein Fleisch essen. Ich hatte all diese Geschichten gehört. Es war wie die Fortsetzung des Märchens vom bösen schwarzen Mann. Wenn du nicht brav bist, werden dich die Fessen hohlen. Und dann wirst du langsam und qualvoll von einem Dämonen geschlachtet und aufgefressen.

Letztendlich war es lediglich die banale Geschichte vom Fressen und Gefressen werden. Solange man sich am oberen Ende der Nahrungskette befand, konnte man es gelassen hinnehmen. Doch sobald man wusste, dass man selbst als Futter diente, sah die Sache ein wenig anders aus. Ein unbehagliches Gefühl, solange man vor den bösen Monstern sicher war. Panik, wenn man einem davon in die Hände fiel. Kalte Angst, wenn man erkannte, dass es gar keine Monster waren.

Der Mann, der mich gekauft hatte, war kein Monster. Ich wusste nicht, was er war, aber er hatte sich weniger monsterhaft verhalten als die Fessen. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Hunger. Er hatte mich eingekauft wie eine Delikatesse. So als suche man sich eine Languste auf dem Wochenmarkt aus. Die Languste wurde in eine Kiste gepackt und schließlich lebendig in kochendes Wasser geworfen, weil dann das Fleisch schön zart blieb. Was machte man mit Wesen wie mir, damit das Fleisch zart blieb? Würde man mich foltern, damit mehr Adrenalin in meinem Blut war, so wie man es mit Hunden machte, bevor man sie schlachtete?

Ich blieb stocksteif in dem Kofferraum liegen. Ich hätte mich festhalten können, um nicht bei jeder Bodenwelle und Kurve gegen die harte Schale geworfen zu werden. Doch ich tat es nicht. Warum eigentlich nicht? Stand ich unter Schock? Vermutlich. Ja, sogar ganz sicher.

War das die Strafe dafür, dass ich bei Joel gewesen war? Falls ja: wer bestrafte mich? Das sogenannte Schicksal? Falls es so etwas wie Schicksal tatsächlich gab.

Oder bestrafte ich mich selbst? Bestrafte Fate sich selbst? Fate oder das Schicksal? Gab es da einen Unterschied? Ich war mein eigenes Schicksal – deswegen hatte ich mich Fate genannt.

Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht gefressen werden!

Es war meine Schuld. Ich hatte mich selbst in diese ausweglose Situation hinein manövriert. Rick hatte immer wieder versucht, mir klar zu machen, wie schutzlos ich ohne ihn war. Aber ich hatte es einfach nicht glauben wollen, hatte mir in meinem kindischen Größenwahn eingebildet, ich könnte es mit den starken bösen Jungs aufnehmen.

Als mich der Fessen-Taxifahrer von der Straße aufgelesen hatte, war es für mich ein Spiel mit ungewissem Ausgang gewesen. Es war mir egal gewesen, wie es endete. Ich hatte mir eingebildet, ich hätte nichts zu verlieren. Jetzt war es kein Spiel mehr und der Ausgang war nicht mehr ungewiss. Und plötzlich wurde mir klar, dass es mir nicht egal war, wie es endete. Ich hatte etwas zu verlieren. Mich selbst. Mein Leben. Und Rick. Rick, der mir nicht vertraute und trotzdem …

Nein! Nein, ich wollte nicht sterben! Ich wollte Rick wieder sehen. Nicht nur Rick, auch Alec und Lluh. Und Branco. Ich hatte verdammt viel zu verlieren! Verfluchter Mist! Warum wurde mir das erst jetzt klar?

Plötzlich hielt der Wagen an. Ich hörte Knirschen, Schritte auf Kies. Dann öffnete sich der Kofferraum. Blinzend sah ich ins Licht, erkannte nur die dunkle Silhouette vor der untergehenden Sonne. Unwillkürlich zog ich die Beine an und kauerte mich zusammen.

„Bleib ruhig liegen“, sagte mein Käufer. „Ich werde dich jetzt losbinden. Wehr dich nicht, ich will dir nicht weh tun, Fate.“

Fate? Er kannte meinen Namen? Er wusste also wer ich war. War das gut oder schlecht?

Ich spürte seine ledrigen Hände erst an meinen Füßen, dann an meinen Händen. Er zerbrach das Metall der Ketten wie trockene Zweige. Dann streckte er mir eine Hand hin und half mir aus dem Kofferraum. Wir befanden uns auf einem Felsvorsprung, dicht neben einer Schlucht. Weit und breit war nichts zu sehen außer kahlem Stein und den Wagenspuren im Staub. Ich blieb regungslos stehen, ich hätte auch nirgendwohin weglaufen können.

Der Mann holte ein zusammengefaltetes Stoffbündel von der Rückbank. Es war ein blauer Overall aus grobem Leinenstoff wie ihn Handwerker trugen. „Ich bin Caleb“, sagte der Mann als er mir den Overall gab.

Ich griff nach dem Overall und zog ihn mir hastig über. Er war viel zu groß, ich musste Ärmel und Hosenbeine hochkrempeln. „Woher weißt du, wer ich bin?“, fragte ich.

„Das ist unwichtig“, antwortete der Mann, Caleb.

Ich konnte die Situation nicht einschätzen. War dieser Caleb Freund oder Feind? Um wen oder was ging es hier? Um mich? Rick? Alec? Oder wollte jemand Joel ärgern? Es gab noch tausend andere Möglichkeiten, eine ganze Menge Namen schossen mir durch den Kopf und zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, wie sehr ich in der Schusslinie stand.

„Was geschieht jetzt mit mir?“, versuchte ich erneut, ihm Informationen zu entlocken.

„Steig vorne ein“, sagte Caleb. „Ich werde dir nichts tun.“

„Wohin bringst du mich?“, bohrte ich nach ohne mich von der Stelle zu bewegen. „Bist du nur ein Zwischenhändler?“

„Nein, kein Zwischenhändler. Ich habe dich gekauft und nun gehörst du mir.“ Seine Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Ich gehöre nur mir selbst!“, entgegnete ich und reckte das Kinn nach oben. Meine Kaltblütigkeit war echt. Na ja, zumindest teilweise. Es war nicht das erste Mal, dass ich in einer ausweglosen Situation feststeckte und den Tod erwartete. Dabei hatte ich eine äußerst nützliche Eigenschaft an mir entdeckt: Wenn meine Angst zu groß wurde und ich es nicht mehr aushielt, dann überkam mich meistens eine eisige Ruhe. Es war als würde sich etwas in meinem Innersten spalten. Da war das kleine verängstigte Kind in mir, das ich in einen tief verborgenen Schutzbunker verfrachtete, damit man das bitterliche Weinen nicht hören konnte – um dann nach außen hin, eine Kaltblütigkeit zu verströmen, die ich eigentlich gar nicht besaß. Das war mein Schutzmechanismus. Je größer meine Angst, desto ruhiger wirkte ich nach außen. Es war absurd. Aber es war nützlich.

Caleb musterte mich interessiert. „Ja, du bist noch wild“, kommentierte er meine Reaktion. „Steig jetzt ein.“

„Sag mir erst, wohin du mich bringst.“

„Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen.“ Caleb packte mich am Arm, zerrte mich zur Vorderseite des Wagens und bugsierte mich mit geübten Handgriffen auf den Beifahrersitz. „Ich kann dich auch wieder fesseln und in den Kofferraum verfrachten.“

Plötzlich presste er seine rechte Handfläche auf meinen Brustkorb und drückte mich in den Autositz. Seine Augen glommen kurz auf, dann spürte ich, wie sich ein unsichtbares Band um meinen Oberkörper schloss. Ich konnte meine Arme nicht mehr bewegen. Er griff zu dem Metallring um meinen Hals und zerbröselte ihn mit bloßen Händen. Dann wandte er sich ab, ging um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz.

„Was du getan hast, war sehr dumm“, sagte Caleb und betrachtete mich mit lauerndem Blick. „Warum bist du zu den Carpletts gegangen?“

„Was…? Ich verstehe nicht.“

„Rick Forrest ist dein Freund. Warum warst du bei den Carpletts? Suchst du neue Verbündete?“

„Was soll das werden? Willst du mich bestechen?“, knurrte ich. Lief es darauf hinaus? Dieser Caleb hatte mich erkannt und wollte mich nun dazu benutzen, um Rick zu schaden?

„Ich kann dir mehr bieten als die Carpletts“, sagte Caleb wie zur Bestätigung meines Verdachtes.

„Okay, um die Sache abzukürzen: Ich werde Rick niemals verraten, weder an die Carpletts noch an sonst jemanden, schon gar nicht an irgendeinen dahergelaufenen Dämon! Ich werde es weder für Geld noch für Macht oder sonstige Versprechungen tun. Und mich durch Folter dazu zu bringen, haben schon andere vergeblich versucht“, fügte ich trotzig hinzu.

„Was ist dir Rick wert?“, fragte Caleb. „Ein Bein? Ein Arm? Dein süßes Gesicht? Deine Lippen würden ein hübsches Sümmchen auf dem Fleischmarkt bringen.“ Er betrachtete mich überheblich. „Was weißt du schon von Schmerzen und Folter? Glaubst du allen Ernstes, dein kleiner Picknick-Ausflug zu den SOLFs macht dich zum Experten? Du hast keine Ahnung, was Folter bedeutet.“

„Aber ich weiß, was Rick mir bedeutet“, entgegnete ich.

„Ich frage nochmals: Weshalb warst du bei den Carpletts?“

Ich zögerte, dann antwortete ich bedächtig: „Ich wollte herausfinden, was die Carpletts über Rick wissen.“

Caleb musterte mich ausgiebig, die kleinen goldenen Reflexe in seinen Augen bewegten sich wie fleißige Ameisen. „Du sagst die Wahrheit“, meinte er schließlich. „Nun gut. Was wissen die Carpletts über Rick Forrest?“

„Nichts von Bedeutung.“

„Und was weißt du über Rick Forrest?“

„Ich weiß, dass er für seine Freunde alles geben würde – und ich werde einen Teufel tun und dir auch nur die geringste Kleinigkeit erzählen, die ihm schaden könnte“, fauchte ich.

Unbeeindruckt starrte Caleb mich an, wieder das goldene Glitzern in seinen Augen. Das war bestimmt irgendeine schräge Magie, wahrscheinlich um den Wahrheitsgehalt meiner Worte zu überprüfen. Sollte mir recht sein, ich meinte das bitterernst.

Schließlich wandte er sich wortlos ab und fuhr los. Nach einigen hundert Metern wechselten wir wieder auf die Landstraße. Ich konnte nur erahnen, wo wir uns befanden. Die Felsschlucht, bei der er mir den blauen Overall gegeben hatte, gehörte vermutlich zum verlassenen Steinbruch östlich des Industrieviertels. Da entdeckte ich plötzlich ein halb verrostetes Ortsschild. Wir fuhren geradewegs nach Aston zurück. Nach einigen Kilometern erkannte ich die Straßen. Wir näherten uns der gemeinsamen Wohnung von Rick und mir …?

Caleb bemerkte meine verwirrte Miene und schmunzelte. „Ja, ganz recht. Ich bring dich nach Hause.“

„Aber ... Nun verstehe ich gar nichts mehr.“

„Wenn ich jemals einen treuen Freund brauche, dann wünsche ich mir jemanden wie dich. Ich werde dich gehen lassen. Du stehst nun in meiner Schuld. An deiner Stelle würde ich Rick Forrest nichts von all dem erzählen. Zu deiner und seiner Sicherheit“, fügte er mit warnendem Unterton hinzu.

„Wer bist du?“

„Wenn du Glück hast, wirst du das niemals erfahren.“ Er lenkte den Wagen an den Straßenrand. Wir waren nur noch zwei Querstraßen von der Wohnung entfernt. Caleb hielt die linke Hand über meinen Brustkorb und schloss kurz die Augen. Meine unsichtbaren Fesseln verschwanden. „Steig aus“, sagte er.

„Aber ...“

„Steig aus!“, wiederholte er mit deutlicher Schärfe. „Du hast mit deiner Neugier schon genug Unheil angerichtet.“

Erschrocken über seinen Tonfall öffnete ich die Autotür und hastete nach draußen. Noch bevor ich die Autotür schließen konnte, fuhr Caleb bereits wieder los. Einen Moment lang starrte ich ihm perplex hinterher. Dann bemerkte ich die Blicke mehrerer Passanten und wurde mir meines Aufzuges bewusst. Nasse, zerzauste Haare, barfuß und mit nichts weiter als einen viel zu großen Overall bekleidet. Rasch wandte ich mein Gesicht ab und versuchte mich hinter meinen zottligen Haaren zu verstecken. Mit eingezogenem Kopf drückte ich mich an den Hauswänden entlang. Ich war dankbar für die Dämmerung. Kurz vor der Wohnung hielt ich inne. Der Hauseingang war leer, im Gang brannte kein Licht, auch oben in der Wohnung war alles dunkel. Rick war offenbar noch nicht zurück. Ich hastete mit leisen Schritten durch den dunkeln Hausflur, holte mit zittrigen Fingern den Hausschlüssel aus seinem Versteck und schloss auf. Ich schlüpfte durch die Tür und sperrte wieder ab. Den Schlüssel ließ ich stecken, so als hätte ich es vergessen. Das konnte Rick natürlich nicht aufhalten, aber vielleicht verschaffte es mir genau die paar Minuten Zeit, die ich brauchte, um mich in einen normalen Zustand zu bringen. Ich rannte zum Kleiderschrank, suchte Unterwäsche, ein langärmliges Shirt und Jeans und lief damit ins Bad. Ich wusste, wie gut Ricks Geruchssinn war und an mir klebte der verräterische Gestank von Qualm, Blut und Dämonen. Ich duschte sehr gründlich und reinigte meine Wunden. Nach der Dusche waren die Verletzungen durch das warme Wasser aufgeweicht und bluteten wieder, vor allem die Platzwunde am Bein und die tiefe Bisswunde an meinem Handgelenk. Ich verbrauchte zwei Päckchen Taschentücher, bis ich schließlich aufgab und das Handtuch opferte. Es war sowieso schon blutig. Ich zerschnitt es in zwei Teile, knotete den einen Streifen um mein Schienbein und die zweite Hälfte um mein Handgelenk. Verdammt, Rick konnte jeden Moment zurückkommen und ich saute gerade das ganze Bad mit Blut ein. Voll Panik durchwühlte ich die Schublade mit dem Verbandszeug, das für harmlose Verletzungen gedacht war. Aber der meiste Kram in der Schublade war sowieso komplett überflüssig, wenn man erst mal Debbys magische Heilsalbe benutzt hatte – von der wir glücklicherweise einen ansehnlichen Vorrat besaßen. Ich griff hektisch nach dem Glas mit der Salbe und schmierte mir das Zeug auf die Wunden. Debby war zwar ein mieses Biest, aber ihre Heilmittelchen waren einfach phänomenal. Die Platzwunde an meinem Schienbein hörte sofort auf zu bluten. Der Biss an meinem Handgelenk war allerdings nicht so leicht zu bändigen. Ich musste drei Schichten Salbe auftragen, bis die Blutung endlich zu einem kleinen Rinnsal verebbte. Ich legte einen Verband an und widmete mich dann den restlichen Blessuren. Kleinigkeiten, nur ein paar oberflächliche Schnitte, Schürfwunden und Prellungen. Allerdings äußerst farbenfroh auf meiner blassen Haut. Rasch kleidete ich mich an. Dann ein prüfender Blick in den Spiegel. Das langärmlige Shirt war ausgeleiert und ein wenig zu groß, der Ärmel verdeckte sogar den Verband am Handgelenk. Auf den ersten Blick sah ich völlig unverletzt aus. Ich war unglaublich dankbar, dass die Fessen mein Gesicht verschont hatten. Auch wenn sie das lediglich getan hatten, um meinen Verkaufswert nicht zu mindern.

Ich warf das Verbandszeug zurück in die Schublade. Wir hatten tatsächlich eine ganze Schublade voll davon. Was nicht zuletzt daran lag, dass Rick andauernd mit Verletzungen nach Hause kam, die entweder so harmlos waren, dass er dafür keine Magie verschwenden wollte oder die so schlimm waren, dass man trotz magischer Heilzauber noch Verbandsmaterial brauchte. Meistens letzteres. In den letzten Wochen häufiger als früher. Er erzählte mir nicht mehr, woher er die Wunden hatte. Nun gut, dachte ich grimmig, diesmal würde ich den Spieß umdrehen. Aber zunächst galt es, die offensichtlichen Spuren zu beseitigen. Viel Zeit blieb mir nicht mehr. Hastig stopfte ich den Overall, die blutigen Taschentücher und Reste des Handtuchs in einen Plastiksack. Ich begnügte mich nicht damit, den Sack in den Abfalleimer zu werfen, sondern trug ihn raus zu der großen Mülltonne vorm Haus. Dann eilte ich zurück in die Wohnung. Rick war noch immer nicht zurück. Er verspätete sich mal wieder und diesmal war ich froh darüber. Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken und versuchte, das Zittern meiner Hände wieder unter Kontrolle zu bekommen. Ich sah normal aus. Aber nur solange ich meine Kleider anhatte. Das war kein Zustand, der lange anhielt, wenn ich mit Rick alleine war. Und wie sollte ich Rick dann davon abhalten, den Verband an meinem Handgelenk zu öffnen und sich die Wunde selbst anzusehen. Früher oder später würde er unweigerlich die Schnitte, die Platzwunden und die Bisse sehen. Die ganzen Kratzer und Prellungen konnte ich mit einem Fahrradsturz erklären. Aber wie zur Hölle sollte ich eine Ausrede für die tiefen Bisswunden an meinem Handgelenk finden? Verdammter Mist!

Plötzlich klingelte das Handy neben meinem Laptop. Ich zuckte zusammen, dann näherte ich mich dem klingelnden Teil wie einem gefährlichen Insekt. Es war Rick. Ich nahm ab.

„Fate?“

„Hi“, krächzte ich. „Wo bist du?“ Ich erschrak selbst über den sehnsüchtigen Klang in meiner Stimme. Sehsüchtig und verängstigt. Noch immer zitterte ich am ganzen Körper. Ich wollte in den Arm genommen werden. Ich sehnte mich nach Ricks Zärtlichkeit, nach der vertrauten Sicherheit, die ich in seiner Nähe empfand.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

„Ja, ja ... Ich war nur ... Alles okay bei mir. Ich war nur gerade im Gedanken woanders.“

„Verstehe.“ Vermutlich nahm Rick an, dass er mich beim Schreiben gestört hatte. „Es tut mir leid“, begann er zögernd, „aber ich muss dringend weg. Ich werde erst morgen oder übermorgen nach Hause kommen. Es geht leider nicht anders.“

Ich schluckte. Einerseits war ich dankbar für den unverhofften Zeitaufschub. Anderseits hungerte jede einzelne Faser meines Körpers nach seinen tröstenden Berührungen. „Ist es gefährlich?“, fragte ich.

„Das ganze Leben ist gefährlich“, entgegnete er bemüht scherzhaft.

„Bitte, pass auf dich auf.“

„Keine Angst, mir wird nicht geschehen. Es ist nicht gefährlicher als sonst.“

„Ich vermisse dich“, flüsterte ich.

„Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?“

„Mir geht es gut. Ich vermisse dich einfach, das ist alles.“

„Ist es schlimm, wenn mich das freut?“, neckte er.

„Dämlicher Idiot.“

„Ich liebe dich auch. Ich bin bald zurück. Wenn etwas sein sollte, dann melde dich bei Moira oder Debby.“

Ganz sicher würde ich das nicht tun. „Pass auf dich auf“, wiederholte ich, „und nimm Branco mit.“

„Der dämliche Köter weicht momentan sowieso kaum von meiner Seite.“

„Gut zu wissen.“ Branco war Ricks erklärter Beschützer. Zuvor war er der treue Begleiter meines Vaters gewesen. Auch mir selbst hatte das große Hundeähnliche Wesen mit dem schwarzen Fell schon mehr als einmal den Hintern gerettet.

„Ich melde mich morgen wieder“, versprach Rick. „Spätestens. Mach keinen Unsinn.“

„Dito“, entgegnete ich.

Ein leises Klicken der Hörertaste. Gespräch beendet. Ich legte das Handy zurück auf den Tisch. Dann schlang ich die Arme um meinen Körper und taumelte rückwärts bis ich gegen das Sofa stieß. Ich sank auf das weiche Poster, kauerte mich zusammen und versteckte den Kopf zwischen meinen Knie, wiegte mich in monotonem Rhythmus vor und zurück. Das Zittern blieb, Kälte breitet sich in meinem Körper aus. In jenem Moment hätte ich gerne geweint. Ich war alleine, niemand konnte es sehen. Und vielleicht hätte es mir geholfen, einfach laut zu heulen. Doch es kamen keine Tränen. Der Knoten in meiner Brust schnürte sich immer enger zusammen. Mein Mund war trocken und meine Augen brannten als wäre Staub darin. Mein Körper schien nicht genug Flüssigkeit für Tränen zu haben.

Vielleicht auch besser so. Ich konnte es mir nicht leisten, verheulte Augen zu haben, wenn Rick zurückkam.

Rick … Wenn er mich doch in den Arm nehmen und halten könnte ...

Aber wenn er hier wäre, hätte er längst die Bisswunde entdeckt, ermahnte ich mich selbst. Und die Story mit dem Fahrradunfall hätte er mir sowieso nicht abgekauft. Verdammt! Mist, verdammter Mist! Ich musste mir etwas einfallen lassen und zwar schnell.

Gedanklich ging ich meine Optionen durch. Meine Halbschwester Neve könnte zwar einen Heilungs-Zauber wirken, aber wahrscheinlich würde sie mich verraten und Rick alles erzählen. Natürlich nur zu meiner eigenen Sicherheit. Ich schnaubte. Sie hatte leicht reden. Ihr geliebter Bryan war auch nicht in Gefahr. Debby hätte wahrscheinlich irgendein magisches Heilmittel parat, etwas Stärkeres als ihre Standard-Heilsalbe. Vielleicht würde sie sogar verstehen, weshalb ich Rick beschützen wollte. Trotzdem würde sie mich verpetzen und mit Freuden diese Gelegenheit nutzen, um mir und auch Rick deutlich zu machen, dass unsere Beziehung zum Scheitern verurteilt war.

Zur Hölle, weshalb war Alec ausgerechnet jetzt nicht in Aston?! Wäre Alec hier, würde ich eine Lösung finden. Alec würde mir helfen, ohne wenn und aber. Denn Alec vertraute mir. Alec wäre zwar auch stinksauer geworden, wenn ich ihm erzählt hätte, wie es zu meinen Verletzungen gekommen war, aber er würde mir trotzdem helfen. Er war nicht so unbeherrscht und hitzköpfig wie Rick. Außerdem hatte mir Caleb nur für den Fall gedroht, dass Rick davon erfuhr. Alec und Rick redeten eigentlich nie miteinander. Nicht freiwillig.

Plötzlich ein Poltern an der Fensterscheibe. Ich hob den Kopf und sah eine kleine schemenhafte Gestalt vorm Fenster flattern. Es war Lluh.

Ich zögerte. Lluh ließ sich nicht so leicht abschütteln. Er hatte gesehen, dass ich zu Hause war. Ihn zu ignorieren war also aussichtslos. Lluh kam häufiger vorbei, stets durch Fenster, ganz so wie es sich für einen Viggill geziemte. Viggille waren kleine fliegende Wesen. Sie waren rund 15 Zentimeter groß und ihr Aussehen ähnelte dem von Menschen – bis auf ihre Fledermausflügel. Viggille konnten sich unsichtbar machen und besaßen meist eher schwache Magie. Zumindest angeblich. Ich war mir nicht sicher, ob ihre Kräfte wirklich so schwach waren. Lluh selbst hatte stets ein Geheimnis daraus gemacht, was er konnte. Er hatte uns auch nie erzählt, wie er in den kleinen Käfig gelandet war, aus dem ich ihn befreit hatte. Niemand wusste, wie alt Lluh war, vielleicht wusste nicht einmal er selbst sein genaues Alter. Aber nach allem was er erzählt hatte, musste er bereits einen dreistelligen Altersbereich erreicht haben, obwohl er noch immer wie ein schlaksiger Teenager aussah. Vermutlich würde er bis in alle Ewigkeit so aussehen.

Lluh kannte mich ziemlich gut. Seinen neugierigen Fragen zu entkommen würde nicht einfach werden. Es war sozusagen die Generalprobe für Rick. Ich zog meinen Ärmel über den Verband, bemühte mich um ein freundliches Lächeln und öffnete das Fenster.

„Hey, komm rein“, begrüßte ich ihn.

„Hallo Süße“, sagte er in gespielt anzüglichem Ton und drehte zwei Runden um meinen Kopf. „Ich habe gehört, dein Macker ist heute weg und du hast sturmfreie Bude.“

„Du warst also bei Moira.“

„Jep. Komme direkt von dort.“ Er stutzte und musterte mich. „Was ist denn mit dir los? Was machst du für ein Gesicht?“

„Nichts ist los“, antwortete ich hastig. Großartig. Lluh war noch keine zwei Sekunden da und schöpfte bereits Verdacht. Wie sollte ich da Ricks kritischem Blick standhalten? „Hunger auf Schokolade?“, lenkte ich ab.

„Immer. Bring mich zu deinem geheimen Vorrat“, forderte Lluh und ließ sich auf meiner linken Schulter nieder. Ich zuckte zusammen, er hatte sich mitten auf eine Prellung gesetzt. Aber scheinbar hatte Lluh meine Reaktion nicht bemerkt.

„Und?“, begann ich lauernd, während ich Richtung Küche ging. „Hast du mitbekommen, weshalb Rick so plötzlich weg musste?“

Lluh flog wieder von meiner Schulter weg und flatterte direkt vor mein Gesicht. „Bist du deswegen so komisch? Weil sie dir mal wieder nicht erzählt haben, was los ist?“, fragte er. „Falls es dir ein Trost ist: Mir wollten sie es auch nicht sagen.“

„Und da du ein braver Viggill bist, hast du dafür natürlich vollstes Verständnis und hast auch nicht weiter nachgeforscht.“

„Willst du mich mal wieder zum Spionieren verführen? Du weißt, dass meine Dienste nicht ganz billig sind.“

„Okay, wenn die Schokolade nicht ausreicht, kann ich noch mehr besorgen.“

„Das reicht mir diesmal nicht.“

„Verlangst du etwa, dass ich dir Kekse backe? Glaub mir, das willst du nicht. Aber ich kann versuchen, mir von Moira selbstgebackene ...“

„Keine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.10.2023
ISBN: 978-3-7554-5486-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /