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Inhalt

 

Einst war ich eine erfolglose Hobbyschriftellerin und glaubte, meine Geschichten und die magischen Wesen darin wären nur ein Produkt meiner Fantasie. Doch dann traf ich meine eigenen Figuren leibhaftig und mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt.

In der Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ beschreibe ich meine Abenteuer in dieser fantastischen Welt rund um die beiden Magier Rick und Alec. Ich erzähle Euch von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.

 

Nach meinem recht holprigen Start (Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree) war es mir gelungen, Rick und Alec davon zu überzeugen, dass ich ihre Geheimnisse in meinem ersten Roman (Im Schatten von Druwenarr) nicht absichtlich ausgeplaudert hatte. Trotzdem war das Vertrauen dieser beiden Männer zu mir äußerst zerbrechlich. Ich konnte es sogar verstehen, denn mir selbst ging es umgekehrt genauso.

Außerdem rechnete ich fest damit, dass die Magier schon bald das Interesse an mir verlieren würden, denn meine Kräfte waren lächerlich unbedeutend. Meine einzige magische Gabe war es, beim Schreiben und in meinen Träumen, Dinge und Geschichten zu sehen, von denen ich gar nicht wissen konnte. Längst vergangene Dinge, die eigentlich niemandem mehr interessieren sollten. Es war ziemlich nutzlose Magie, doch Rick sah in mir seinen Schützling und fühlte sich für mich verantwortlich. Und dann waren da auch noch andere Gefühle, die alles verkomplizierten.

Ricks Freunde blieben auf Abstand zu mir, weil ich in ihren Augen keinen guten Einfluss auf Rick hatte. Nur Branco hielt zu mir, was ich vermutlich meinem Vater Mineo Taikon zu verdanken hatte, denn vor Rick war Branco meinem Vater ein treuer Begleiter gewesen. Außerdem verfestigte sich meine die Freundschaft zu Lluh, diesem kleinen frechen Viggill mit Fledermausflügeln. Und Alec wurde für mich mehr und mehr zum Seelenverwandten ... sehr zum Missfallen von Rick.

Rick hasste Alec und damit stand er nicht alleine. Die meisten hielten Alec für einen Psychopathen und meine offene Freundschaft zu ihm trug nicht gerade zu meiner Beliebtheit bei. Andererseits machte das kaum einen Unterschied, denn ich war ohnehin eine Persona non grata – nicht zuletzt auch deshalb, weil ich eine Missgeburt war, die gar nicht existieren durfte: Ein verbotene Mischung aus Wasserwesen und Landwesen.

In „Fluch der Taikons“ wurde mir meine Herkunft erneut zum Verhängnis und meine eigene Magie brachte ausgerechnet den Mann in Gefahr, dem mein Herz gehörte.

 

 

TEIL1



1


„Du könntest dir genauso gut selbst die Kehle durchschneiden“, schlug Rick vor. „Das wäre mit Sicherheit ein angenehmerer Tod.“

Ich verdrehte die Augen. „Du hast wirklich einen Hang zum Melodramatischen. Ich will einfach nur an den Strand.“

„Du kannst aber nicht einfach nur an den Strand. Zumindest nicht ganz alleine.“

„Ach? Und warum nicht?“

„Womit soll ich anfangen?“, stöhnte Rick. „Die Liste ist lang. Vielleicht wegen deines unbändigen Drangs, dich ins Wasser zu stürzen und zu ertrinken?“

„Davor schützt mich der Occopa-Anhänger“, hielt ich dagegen. Rick wusste sehr genau, dass dieser magische Anhänger mein unwillkürliches Verlangen, blindlings im Meer zu schwimmen und abzutauchen, unterdrückte. Wir hatten diese Diskussion unzählige Male geführt und daher nahm ich sein nächstes Standard-Argument vorweg, um die Sache abzukürzen. „Und ja, ich weiß, der Anhänger wird mich nicht davor schützen, dass Mischlinge generell verhasst sind, ganz besonders solche Mischwesen wie ich.“ Meine Mutter Luana hatte zu den Marwaree gehört, einem Volk, das unter Wasser lebte. Doch mein Vater Mineo war ein Magier an Land gewesen. Die Mischung von Land- und Wasserwesen war verboten. Solche Bastarde wie ich wurden normalerweise schon bei der Geburt getötet.

„Es geht nicht darum, dass du ein Mischling bist. Aber ja, ganz recht: diese Rassen-Fanatiker gehören auch auf die Liste deiner Verfolger. Und sobald wir endlich herausgefunden haben, wer deinem Vater ans Leder wollte, können wir da sicherlich noch eine ganze Menge anderer Namen hinzufügen.“

„Nur die Marwaree und deine Freunde wissen, was und wer ich bin. Ansonsten niemand! Also streich die Fanatiker an Land und auch alle Feinde meines Vaters. Noch ist es ein gut gehütetes Geheimnis, dass ich die Tochter von Mineo Taikon bin.“ Der Name meines Vaters ging mir immer noch holprig über die Zunge. „Abgesehen davon, nur weil ich ein Halbblut bin, bedeutet das nicht zwangsläufig ...“

„Blut ist auch ein verdammt gutes Stichwort“, fiel mir Rick ins Wort. „Miljon wäre sicherlich hoch erfreut über eine kleine Blutspende.“

„Ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Vampir meinetwegen auf seinen Schönheitsschlaf verzichtet und sich der Sonne aussetzt. Bis zur Dämmerung bin ich längst zurück.“

„Miljon hat genügend Handlanger und Verbündete, die das Sonnenlicht geradezu lieben. Seit du ihm zuletzt die Tour vermasselt hast, ist übrigens Joel sein bester Kumpel. Du erinnerst dich doch an Joel? Der reiche Idiot, der dich kaufen wollte?“

„Ja, ich erinnere mich an den reichen Idioten, dessen zweiter Vorname Heimtücke ist. Joel würde niemals eine offene Konfrontation mit dir riskieren. Genau deswegen hast du mir doch das Label Ricks kleiner Schützling mit roten Buchstaben auf die Stirn eingraviert!“

„Ein Label, das dich für einige Leute umso reizvoller macht. Ganz zu schwiegen von Dixon und seinen gehirnamputierten Schießwütigen.“

Dixon war ein Tiefschlag. Ich hatte immer noch Alpträume davon, wie er versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Rick wusste das. Aber dieser verbohrte Macho würde schon noch kapieren, dass ich kein Feigling war. „Ich werde mich nicht verkriechen, nur weil irgendein psychopathischer perverser ...“

„Apropos psychopathisch“, fiel mir Rick erneut ins Wort. „Dein beschissener Rosenkavalier scheint das nicht gut zu verdauen, dass du ihn zurückgewiesen hast.“

„Alec würde mir niemals etwas tun. Er ist mein Freund.“

„Alec war vielleicht – und auch nur vielleicht – mal kurzzeitig dein Freund. Davor hat er geschworen, dich umzubringen. Wer weiß, was sein krankes Hirn als nächstes ausbrütet. Er war schließlich nicht gerade begeistert darüber, dass du bei mir geblieben bist.“

„Dann wird er sich bestimmt freuen, wenn ich sein Angebot doch noch annehme und er zur Abwechslung mal den großen Beschützer für mich spielen darf!“, giftete ich zurück. Nicht nur Rick konnte Tiefschläge verteilen.

„Oh nein, meine Liebe. Du wirst mich nicht schon wieder mit diesem Kotzbrocken erpressen. Außerdem ist dein Freund Alec momentan abgetaucht. In den letzten zwei Wochen hat ihn niemand mehr in Aston gesehen.“

„Du spionierst ihm hinterher?“

„Es ist mein Job, zu wissen, was unsere Feinde tun. Das gehört dazu, wenn man für Neulinge verantwortlich ist!“

„Zur Hölle nochmal! Dann kümmere dich doch um diese verdammten anderen Neulinge, die sperrst du schließlich auch nicht ein!“

„Du bist aber nicht wie die anderen Neulinge!“

„Genauer gesagt bin ich gar kein Neuling! Ich besitze keinen einzigen Funken Zauberkraft!“

„Verfickte Scheiße, du hast doch überhaupt keine Ahnung von dem Ganzen!“

In dem Moment klingelte es an der Wohnungstür. Rick öffnete, um Debby hereinzulassen. Sie hatte kurz vorher angerufen, weil sie Rick zu einer ihrer gemeinsamen kleinen Abenteuer-Touren abholen wollte. Genau deswegen wollte ich währenddessen an den Strand. Das Meer war der einzige Ort, wo zumindest eine winzige Chance bestand, dass ich nicht die ganze Zeit darüber nachgrübelte, ob Rick von seinem Streifzug lebendig und in einem Stück zurückkam.

„Ähm – ich warte lieber unten auf dich“, sagte Debby nachdem sie ein Blick in Ricks Gesicht geworfen hatte.“

„Nein, Debby. Nicht nötig, die Diskussion ist beendet. Fate hat sich nur noch nicht entschieden, ob sie hier oder in ihrer eigenen Wohnung schreiben will.“

Wütend funkelte ich ihn an. „Fate hat sich längst entschieden, dass sie an den Strand gehen wird!“

„Ich habe nein gesagt!“

„Tja, das ist dann wohl dein Problem“, fauchte ich. „Du kannst mich nicht einsperren.“

„Ich warte doch lieber unten.“ Debby wandte sich zum Gehen, doch ein großes schwarzes hundeähnliches Wesen verstellte die Tür. „Hey, Branco, du kommst wie gerufen.“

„Wenn Branco dich begleitet, kannst du an den Strand“, verkündete Rick großzügig.

„Ich kann mit und ohne Branco an den Strand!“, stellte ich klar.

„Wir werden Branco brauchen“, widersprach Debby.

„Ist mir sowieso lieber, alleine an den Strand zu gehen!“

„Tja, dumm gelaufen, denn genau das wirst du nicht tun!“, blaffte Rick.

„Lass sie doch an den Strand“, kam mir Debby überraschend zur Hilfe. „Du kannst sie schließlich nicht ewig unter Verschluss halten.“

„Soll ich sie etwa ganz alleine durch die Gegend spazieren lassen? Sie will mir ja noch nicht mal sagen, an welchen Strand.“

„Warum nicht?“, wunderte sich Debby.

„Weil es mein Strand ist“, antwortete ich. „Und ich dort meine Ruhe haben will!“ Ich wollte wenigstens einen Ort ganz für mich alleine haben. Ohne Ricks Dauerüberwachung. Hätte er gewusst, wo mein geheimer Lieblings-Strand war, hätte er dort längst versteckte Kameras oder irgendeinen magischen Schnickschnack postiert, um mich zu kontrollieren. „Zur Hölle noch mal!“ fluchte ich. „Ich muss schließlich auch damit klar kommen, dass du ohne mich losziehst!“

„Das kann man ja wohl kaum vergleichen!“

„Ja, ganz Recht, das kann man nicht vergleichen. Denn ich stürze mich nicht in gefährliche Situationen, um irgendwelchen Neulingen den Hintern zu retten. Oder um aus zwielichtigen Gestalten Informationen heraus zu kitzeln. Und ich tanze auch nicht vor Nase der SOLFs herum. Oder was immer du sonst noch so tust, um deinen Hals zu riskieren. Ich will lediglich ans Meer. Das ist weder gefährlich, noch ist es für dich ein besonders großes Problem, mich dort zu finden. Im Zweifelsfall hetzt du mir sowieso Branco auf den Hals.“

„Stör ich?“ Lluh flatterte in den Raum.

„Wer hat die Fledermaus rein gelassen?“, grollte Rick.

Lluh war ein Viggill. Außer seinen Flügeln und der Körpergröße hatte er nicht viel Ähnlichkeit mit einer Fledermaus. Die schlaksige, gebräunte Jungengestalt mit den zu großen Händen und dem struppigen dunkelblonden Haar hätten niemals vermuten lassen, dass der kleine Kerl schon weit über hundert Jahre alt war. Nur seine schilfgrünen Augen ließen manchmal sein wahres Alter erahnen.

„Das Fenster war offen“, entgegnete Lluh. „Na ja, angelehnt, gekippt. So gut wie offen.“ Sein typisches spitzbübisches Grinsen erschien.

„Ein gekipptes Fenster ist keine Einladung“, brummte Rick.

„Welche Laus ist denn dem großen dummen Kerl über die Leber gelaufen?“, fragte mich Lluh.

„Das übliche. Er kommt nicht damit klar, dass er mir keine Vorschriften machen kann.“

„Und ob ich das kann.“ Rick baute sich bedrohlich vor mir auf.

„Nein, verdammt!“, fauchte ich. „Erstens habe ich nie darum gebeten, dein verfluchter Schützling zu sein und zweitens ist das sowieso keine Dauerlösung. Du wirst nicht ewig meinen Aufpasser spielen können. Ich will und werde auch alleine klar kommen.“

„Rick, lass sie“, schaltete sich Debby erneut ein. „Je mehr du sie bemutterst, desto mehr gerät sie ins Kreuzfeuer. Wenn du endlich aufhören würdest, so einen Wirbel um Fate zu veranstalten, dann würden die meisten Leute ziemlich schnell das Interesse an ihr verlieren. Du solltest Fate an jemand anderen abgeben. Es wäre für alle besser, wenn Silas oder Bryan ...“

„Nein! Fate bleibt bei mir.“

Debby stieß einen tiefen Seufzer aus. „Rick, denk nach. Momentan wagt es zwar niemand, Fate anzugreifen, denn alle wissen, dass sie irgendeine deiner Schützlinge ist. Aber du machst sie in dem Moment zur Zielscheibe, wenn deine Feinde – und davon hast du sehr viele – den Eindruck gewinnen, dass sie für dich mehr ist als nur eine kurzfristige Bettgeschichte und du ...“ Debby brach ab und warf mir einen seltsamen Blick zu, so eine Art Mischung aus Mitleid und innerem Kopfschütteln. Dann wandte sie sich wieder Rick zu und sprach weiter: „Worauf ich hinaus will: Nur solange Fate keine Sonderrolle für dich einnimmt, ist sie sicher. Und du willst doch, dass es so bleibt, oder? Also benimm dich nicht, als hättest du dein Hirn verloren. Niemand sollte daran Zweifel kriegen, dass du dich unter Kontrolle hast.“

„Du tust ja gerade so, als würde ich mich wie ein schwanzgesteuerter Idiot benehmen.“

„So hätte ich das zwar nicht ausgedrückt, aber es bringt die Sache ziemlich gut auf den Punkt. Wenn du ihretwegen zur unberechenbaren Größe wirst, wird das zwangsläufig Ärger provozieren. Besser du belässt es dabei, dass sie eine von vielen ist. Okay, eine mit kleinem Sonderstatus, weil du sie mit in dein Bett nimmst, aber jeder versteht, dass du ab und zu ... na ja … Ähm, also, was ich damit sagen will ...“

„Ich weiß, was du damit sagen willst“, schnitt Rick ihr das Wort ab.

Ich wusste es auch. Ich hatte es von Anfang an gewusst. Trotzdem war es jedes Mal eine kalte Dusche. Die Flitterwochen waren vorbei. Genauere gesagt: Es hatte sie nie gegeben.

Rick war ehrlich. Er machte keinen Hehl daraus, dass er scharf auf mich war. Und das ging runter wie Olivenöl. Er mochte mich, Sympathie war auch dabei. Freundschaft und ... vielleicht sogar ein bisschen mehr; was auch immer dieses bisschen sein mochte. Er hatte sein Leben für mich riskiert und einiges auf sich genommen, um mit mir zusammen zu sein. Aber er hatte mir nie irgendwelche Versprechungen gemacht, das bedeutungsvolle L-Wort kein einziges Mal erwähnt.

Ich natürlich auch nicht. Den Teufel würde ich tun.

Kein Grund für Herzschmerz. Ich hatte schließlich von Ricks Freunden, ganz besonders der mitfühlenden Sarah, genug Warnungen bekommen, mich besser nicht in Rick zu verlieben. Ein vernünftiger Rat. Zu dumm, dass ich nicht besonders vernünftig war.

„Okay, Fate“, sagte Rick schließlich. „Dann geh eben an den Strand. An den öffentlichen Strand. Dort werden es weder die SOLFs noch Joel wagen, dich anzugreifen. Ich werde dich abholen, wenn ich zurück bin.“

„Öffentlicher Strand? Es ist Samstag. Hast du eine Ahnung, welche Menschenmassen dort sein werden?“

„Weniger als am Sonntagnachmittag.“

„Ich will nicht zu dieser Sandkiste für Omas und Kleinkinder!“ Keine zehn Pferde brachten mich an diesen verdreckten, künstlichen Touristen-Mist-Strand. Aston war von einer ebenso traumhaften wie unwegsamen Felsküste umgeben. Und genau das wollte ich haben: Fels, raue See und das alles ganz für mich alleine.

„Entweder öffentlicher Strand oder ...“

„Ich gehe dorthin, wo es mir gefällt. Ich habe nicht vor ...“

„Also, Fate“, unterbrach mich Lluh. „Ich sag das nicht gerne, aber Rick hat recht, der öffentliche Strand ist sicherer als ...“

„Hey, ich dachte du bist auf meiner Seite!“, fiel ich dem kleinen Verräter ins Wort. „Wisst ihr was? Ihr könnt mich alle mal!“ Ich packte meine Jacke und stürmte auf die Tür zu.

Rick packte meinen Arm und hielt mich fest. „Bleib. Ich bin bald zurück und dann gehen wir gemeinsam ans Meer. Bitte!“

Ein Bitte von Rick? Obwohl er stinkwütend war? Eine echte Seltenheit. Das bestätigte meinen schlimmsten Verdacht. Eine kalte Hand griff nach meinem Herz. „Und wenn nicht? Was ist, wenn du nicht zurückkommst? Du setzt andauernd dein Leben aufs Spiel und ich darf nicht mal alleine ans Meer?“

„Es ist nur ein harmloser Botengang.“

„Ich bin kein Idiot. Wenn das nur ein harmloser Botengang ist: Bestens! Weißt du was, dann begleite ich dich und wir können danach zusammen ...“

„Fate, du kannst ...“

„… nicht mitkommen?“, vollendete ich seinen Satz. „Weshalb überrascht mich das nicht? Es ist doch ganz einfach: Wenn es gefährlich ist und du deinen Hals riskierst, dann sollte ich wohl besser schon mal üben, wie es ist, ohne dich klar zu kommen!“ Ich spürte Tränen aufsteigen. Wut und Angst waren eine wirklich miese Mischung. Ich schüttelte seinen Arm ab und rannte aus der Wohnung.

Zu meiner Überraschung ließ Rick mich gehen. Bevor er es sich noch anders überlegte, lief ich die Treppe hinunter und schlug den Weg Richtung Meer ein. Ich fragte mich, wieso Rick plötzlich nachgegeben hatte, denn im Zweifelsfall schreckte er nicht vor brachialen Maßnahmen zurück, um mich von Alleingängen abzuhalten. Plötzlich sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung neben mir. Es war Lluh. Na klar, deswegen also.

„Spielst du jetzt Ricks Handlanger?“, fragte ich säuerlich.

„Ich dachte, meine charmante Begleitung ist dir wahrscheinlich tausendmal lieber als zu Moira verfrachtet zu werden. Oder Anselm, wenn du Pech hast. Rick hatte bereits Sarah am Handy ...“

„Willst du mir etwa drohen?“

„Nicht ich. Rick.“

„Verdammter Mist!“

„Also langsam bin ich dann doch beleidigt. Ich dachte, ich bin dein Freund und du freust dich über ein wenig gemeinsame Zeit. Aber du tust gerade so, als wäre es eine Strafe, den Nachmittag mit mir zu verbringen.“

„Wenn du mein Freund bist, warum hältst du dann zu Rick?“

„Ich halte nicht zu Rick. Aber genauso wie er will ich dich beschützen. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten, die Rick und ich haben.“

„Verdammter männlicher Egotrip.“

„Komm schon, Fate. Es wäre doch viel schlimmer, wenn es Rick egal wäre, was aus dir wird.“ Er schlug einen scherzhaften Ton. „Sieh es doch einfach als Zeichen seiner ...“

„Das ist nicht witzig!“, blaffte ich ihn an.

Lluh riss erschrocken die Augen auf und sofort tat es mir leid. Er konnte schließlich nichts dafür. Es war unfair, meinen Frust an dem kleinen Kerl auszulassen. Er war zwar vermutlich mehr als hundert Jahre älter als ich, aber er sah so jung und zerbrechlich aus, dass ich mir richtig mies vorkam. „Entschuldige, Lluh. Ich wollte dich nicht anmotzen.“

Lluh stieß einen tiefen theatralischen Seufzer aus. „Ich werde es überleben. Aber was Rick betrifft ...“

„Hast du Rick nur gesagt, dass du mich begleitest?“, lenkte ich ihn vom Thema ab. „Du hast ihm doch hoffentlich nicht versprochen, mich an diesen vermüllten Strand für degenerierte Touristen zu verfrachten?“

„Und schon ist Fate wieder auf der Suche nach einer Hintertür, um ihren Dickkopf durchzusetzen“, amüsierte sich Lluh.

„Was dachtest du denn?“ Ich grinste und war froh, dass er mir meinen Gefühlsausbruch nicht übel nahm. Ich hatte zwar nicht vor, Lluh den Weg zu meinem geheimen Lieblingsstrand zu zeigen, aber Aston hatte eine lange und sehr verwinkelte Küste. Es gab noch andere schöne Ecken dort. „Ich kenne da ein Plätzchen, das rein theoretisch für die breite Öffentlichkeit zugänglich ist. Ist also im Prinzip ein öffentlicher Strand.“

„Im Prinzip?“, echote Lluh. „Lass mich raten: Wir müssen durch eine Schlammgrube und es wimmelt dort von giften Schlangen und Monster-Moskitos und deswegen geht dort niemand freiwillig hin.“

„Nah dran: Der Weg ist zugewachsen und außer schroffen Felsen gibt es dort nichts. Aber es ist nicht völlig menschenleer, also zumindest nicht immer. Manchmal sind dort ein paar Adrenalin-Junkies zum Kite-Surfen.“

„Klingt gemütlich. Worauf warten wir noch?“


Wie üblich war ich völlig verdreckt, bis ich mich durch das Gestrüpp gekämpft hatte, das den Weg zu der kleinen Felsbucht von der Außenwelt abschirmte. Aber das war es wert, Hauptsache kein überfüllter Badestrand. Ich breitete die Arme aus und genoss den Wind in meinem Gesicht: Es roch nach Salzwasser und trotz meines Schutz-Amuletts konnte ich den Ruf des Meeres spüren. Lluh warf mir einen misstrauischen Blick zu.

„Keine Angst, ich habe das im Griff“, beruhigte ich ihn.

Meine Sehnsucht nach dem Meer lag mir im Blut. Das Erbe meiner Mutter. Sie hatte zu den Marwaree gehört, diesen geheimnisvollen Wesen im Meer, die man einst wegen ihrer seherischen Kräfte verfolgt hatte. Ohne den magischen Occopa-Anhänger hätte ich mich schon längst in die Fluten gestürzt und wäre immer weiter hinaus geschwommen. Auf Nimmerwiedersehen. Vielleicht wäre ich ertrunken. Oder vielleicht auch einfach unter Wasser geblieben – aber nur falls man mich rechtzeitig entdeckte und zu einem Wasserwesen wandelte. Schwer zu sagen, wie die Marweree sich mir gegenüber verhalten würden. Unsere erste Begegnung war eher feindselig verlaufen. Aber letztendlich hatten sie mich am Leben gelassen und an Land zurückgebracht. Ich griff nach dem Occopa-Anhänger und fühlte das glatte Perlmutt unter meinen Finger. Ich wusste nicht, wer mir diesen Anhänger geschenkt hatte, aber er bedeutete mir sehr viel, nicht nur wegen seiner magischen Wirkung. Zumindest ein Marwaree wollte, dass ich die freie Wahl hatte und dem Sog des Meeres nicht hilflos ausgeliefert war. So konnte ich das Meer genießen ohne Angst haben zu müssen, die Kontrolle zu verlieren.

Mit einem seligen Lächeln drehte ich mich um meine eigene Achse. „Ist es nicht wunderschön hier?“, seufzte ich.

„Bis auf den Wind.“ Lluh landete auf meiner Schulter, um sich an mir festzuhalten. „Ja, es ist schön“, gab er zu. „Aber der Weg hierher ist das Letzte. Wenn ich nicht fliegen könnte, dann hätte ich mich geweigert, dir zu folgen. Du siehst aus, als wärst du drei Tage im Dschungel gewesen. Kein Wunder, das hier sonst niemand ist.“

„Stimmt doch gar nicht. Es sind massig Leute hier.“ Ich deutete auf die schroffen Felsen, die der kleinen Bucht vorgelagert waren. Dahinter sah man mehrere Kite-Surfer, die von der schräg gegenüberliegenden Sandbucht aus übten.

„Wundert mich gar nicht, wieso du vergessen hast, zu erwähnen, dass die Menschen, die sich angeblich an diesem Strand herumtreiben, eigentlich am Nachbarstrand sind und sich alle Knochen brechen würden, wenn sie bis hierher kämen.“

„Na ja, also, theoretisch könnte man zwischen den Felsen hindurch surfen.“

„Aber auch nur theoretisch.“ Lluh schüttelte den Kopf und grinste in sich hinein. Es schien ihn zu amüsieren, dass ich ein Schlupfloch gefunden hatte, um Ricks Macho-Allüren zu trotzen.

„Wenigstens sind die Kite-Surfer weit genug weg und ich muss mich nicht unsichtbar machen. Ihr habt echt keine Ahnung, wie anstrengend das ist.“

„Was hättest du denn gemacht, wenn ich an den öffentlichen Strand gegangen wäre?“, fragte ich während ich mich die letzten paar Meter Felsgestein bis zum Wasser hinunter hangelte.

„Warum hätte ich mir darüber den Kopf zerbrechen sollen? Es war doch absolut klar, dass du nicht dort hingehst. Verdammter Scheiß-Wind!“, fluchte Lluh und krallte sich an meinem Rücken fest, um nicht weggepustet zu werden.

Unten am Wasserrand angekommen, zog ich meine Schuhe und Strümpfe aus. Eigentlich wäre ich unglaublich gerne schwimmen gegangen, aber ich hatte keine Badesachen dabei. Andererseits war meine Unterwäsche trotz der Spitzeneinsätze züchtig genug, um aus der Ferne als Bikini durchzugehen. Außerdem hatten die Kite-Surfer sowieso genug mit sich selbst zu tun, vermutlich bemerkten sie mich gar nicht. Ich überlegte, wie viel Spott ich mir von Lluh anhören musste, wenn ich mich auszog. Und wie viel Ärger mir das mit Rick einbringen würde. Er hatte natürlich wie selbstverständlich angenommen, dass ich ohne Bikini nicht im Meer schwimmen ging. Sonst wäre die Diskussion um einiges hitziger geworden. Aber wenn ich Lluh davon abhielt, mich zu verpfeifen, musste Rick letztendlich auch gar nichts davon erfahren. Zögernd sah ich zu den Kite-Surfern, die völlig selbstvergessen mit dem Wind herumtollten.

Hätte ich meinen Laptop dabei gehabt, wäre ich damit zufrieden gewesen, schreibend am Wasser zu sitzen. Dummerweise hatte ich im Eifer des Gefechts den Laptop ebenso vergessen wie die Badesachen. Also blieb mir nichts anderes übrig als die ganze Zeit auf das verlockend funkelnde Meer zu blicken. Ich faltete meine Jacke zusammen und benutzte sie als Sitzpolster. Mein T-Shirt war ziemlich lang und relativ weit. Ich könnte die Jeans ausziehen und mit Shirt schwimmen gehen. Bei dem Wind und den angenehm warmen Temperaturen würde das nasse Shirt bestimmt bald wieder trocken sein. Aber andererseits … Ach, zum Teufel mit meiner falschen Scham! Ich wollte schwimmen gehen und es gab keinen Grund, es nicht zu tun! Lluh war mindestens hundert Jahre alt, da hatte er bestimmt schon etliche nackte Frauenbeine zu Gesicht bekommen.

„Verkneif dir die dummen Sprüche“, warnte ich ihn während ich meine Jeans öffnete. „Sonst wird die stetige Schokoladen-Quelle in Ricks Wohnung dauerhaft versiegen.“

Lluh hatte seinen Mund bereits geöffnet, schloss ihn aber wieder und begnügte sich angesichts meiner Drohung mit einem äußerst schmutzigen Grinsen. Ich warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Ich habe nichts gesagt“, verteidigte sich Lluh. „Aber wenn du das vorhast, was ich denke, wäre ein weises T-Shirt effektvoller.“

„Du riskierst gerade eine ganze Ladung Kokos-Creme Kekse!“

Da hörte ich einen anerkennenden Pfiff von der anderen Seite. Zwei Kite-Surfer waren den Felsen vor meiner Bucht gefährlich nahe gekommen. Einer war dunkelhäutig und trug ein ärmelloses Shirt, abgeschnittene Jeans und eine Baseballkappe. Er drehte sich weg und wendete als ich zu ihm sah. Wohl eher die schüchterne Sorte. Aber irgendwas irritierte mich an ihm ...

Wieder ein Pfiff, er kam vom anderen Surfer. Er hatte nur kurze Badeshorts an und den muskelbepackten Oberkörper einer griechischen Marmorstatue. Er winkte mir johlend zu und fordert mich mit einer Handbewegung auf, mit dem Striptease fortzufahren.

Männer. Ich drehte mich weg und am liebsten hätte ich meine Jeans wieder angezogen. Aber das ging natürlich nicht, das ließ mein Stolz nicht zu. Verdammter Mist! Was sollte dieser dämliche Aufstand überhaupt? Mein T-Shirt war länger als die meisten Mini-Röcke!

Plötzlich hörte ich ein Geräusch hinter mir. Drei kleine Eidechsenköpfe reckten hinter einem Stein hervor und gaben fiepende Geräusche von sich. Nicht nur die roten glitzernden Punkte in den schwarzen Knopfaugen verrieten mir, dass ich es mit einem magischen Wesen zu tun hatte. Eine silbrige Aura umgab das kleine Tierchen und alle drei Köpfe gehörten zu dem gleichen pummligen Körper mit sechs Stummelbeinchen. An mir schien das Wesen wenig Interesse zu haben. Vielmehr starrte die magische Echse fasziniert zu Lluh.

„Was ist das?“, fragte ich.

„Verdammte Drecksviecher!“, fluchte Lluh und flog ein Stückchen höher.

Keine Minute zu früh, denn einer der Köpfe schnappte nach ihm. Das Tier gab ein enttäuschtes Grunzen von sich. Im gleichen Moment tauchten noch ein halbes Dutzend Wesen von der gleichen Sorte auf. Die Mini-Lindwürmer sahen wirklich putzig aus. Aber auch niedliche Tiere konnten gefährlich sein.

„Wollen sie dich fressen? Sind sie giftig?“, fragte ich besorgt.

„Weder noch. Harmlos, aber enorm nervig. Haut ab!“ Lluh scheuchte die dreiköpfigen Wesen weg und flatterte zur Seite. Die seltsame Eidechsenhorde folgte ihm. Die kleinen Tiere schienen von Lluh geradezu besessen zu sein und gaben unentwegt dieses hohe Fiepen von sich.

„Die sind doch richtig süß!“ Ich streckte vorsichtig die Hand nach der kleinsten Pseudo-Eidechse aus. Sie drehte sich um und knurrte mich mit allen drei Köpfen an. Dann hob sich plötzlich der mittlere Kopf und schnupperte. Das Knurren verstummte und das kleine Wesen näherte sich mir. Vorsichtig kraulte ich den vorwitzigen mittleren Kopf mit der Fingerspitze. Es schien dem Kleinen zu gefallen. Er fiepte voll Begeisterung und rieb auch die anderen beiden Köpfe an meiner Hand. „Verschmuste Miniatur-Lindwürmer“, murmelte ich und musste lächeln. Die schuppige Haut kitzelte an meiner Hand.

„Das sind keine Lindwürmer“, sagte Lluh, der noch immer vergeblich versuchte, seinen kleinen Fanclub los zu werden. „Das sind Bidisani. Die verdammten Viecher sind ganz verrückt nach Viggill-Geruch. Und wenn sie uns erst mal gefunden haben, dann fangen sie mit diesem dämlichen schrillen Piepsen an. Ich hatte gehofft, sie wären endlich ausgerottet.“

„Warum denn?“, fragte ich. „Die Tierchen haben dir doch gar nichts getan. Du hast selbst gesagt, dass sie harmlos sind.“

„Früher hat man sie abgerichtet, um Viggille aufzuspüren, wenn sie unsichtbar sind. Aber diese hier scheinen niemandem zu gehören.“

Egal ob nun nervig oder niedlich oder Mini-Spürhunde, aber dreiköpfige Eidechsen sollten sich besser vor Menschen versteckt halten. Ich warf einen Blick zu den Kite-Surfern. Der Hellhäutige mit muskelbepacktem freiem Oberkörper winkte mir erneut zu. Der dunkelhäutige Typ mit der Baseballkappe konzentrierte sich hingegen aufs Surfen. Dafür kam er aber auch ein ganzes Stück näher an die Felsen heran. Anfangs hatte ich gedacht, die beiden gehören zusammen, aber jetzt war ich mir da nicht mehr so sicher. Während der halbnackte Muskelprotz sich im Posing übte, schien der dunkelhäutige Typ mit der Baseballkappe Todessehnsucht zu haben. Er versuchte tatsächlich durch die Felsformation vor meiner Bucht hindurch zu surfen. Ich musste diese eidechsenähnlichen Bidisani hier wegschaffen, bevor er womöglich bis zu mir durchkam und die kleinen Wesen entdeckte. Der Baseballkappen-Typ war mittlerweile so nahe, dass sich Lluh normalerweise schon längst unsichtbar gemacht hätte. Da hob er plötzlich den Kopf, so dass ich zum ersten Mal das Gesicht unter Baseballkappe sehen konnte.

Verfluchter Mist! Es war Young, ein SOLF. Sein bitterböser Blick verriet, dass auch er mich wiedererkannt hatte.

„Lluh, hör mir gut zu“, raunte ich ohne den Blick von Young abzuwenden. „Der Kite-Surfer kommt näher. Du musst die Bidisani hier wegschaffen. Dreiköpfige Eidechsen sind nicht für Menschen-Augen bestimmt. Ebenso wenig wie Viggille.“ Ich schnappte mir meine Jeans. „Also verschwinde und nimm deinen Fanclub mit. Ich geh als Mensch durch, ich werde ihn so lange aufhalten, bis ihr außer Reichweite seid und man dieses hohe Fiepen nicht mehr hören kann.“

„Aber ich kann dich doch hier nicht alleine lassen“, protestierte Lluh.

„Bitte. Schaff sie hier weg. Ich verschwinde auch so schnell wie möglich. Oder willst du, dass sie in einem Versuchslabor landen? Wenn man mich zusammen mit den kleinen Kerlchen findet, sperrt man mich genauso ein. Ich bin sicherer, wenn die Bidisani nicht in meiner Nähe sind.“

Lluh gefiel das zwar nicht, doch mein letzter Satz hatte ihn offensichtlich überzeugt. „Na gut, ich bring sie weg – und dann komme ich wieder.“

„Aber nur unsichtbar!“, rief ich ihm hinterher.

Hastig schlüpfte ich in meine Jeans, zog Schuhe und Strümpfe wieder an. Die hohen Töne der Bidisani wurden leiser. Keine Sekunde zu früh. Der dunkelhäutige SOLF, Young, setzte alles auf eine Karte und raste zwischen zwei Felsen hindurch. Doch sein linkes Bein schrammte gegen den schroffen Stein und riss entlang des Unterschenkels auf. Er verlor das Gleichgewicht, knallte mit dem Schädel gegen den Felsen und landete nur wenige Meter von mir entfernt in der Felsspalte. Young wollte auf mich losgehen, doch er verfing sich in den Seilen seines Schirms. An seinem Kopf war eine tiefe Platzwunde. Eines der Seile hatte sich halb um seine Hand und halb um seinen Hals gewickelt. Der Schirm hing noch immer in der Luft und zerrte an den Seilen. Wäre Youngs Körper nicht in einer Felsspalte festgeklemmt gewesen, hätte ihn der Schirm wahrscheinlich einfach wieder aufs Meer hinaus gezerrt. Sein Bein blutete so heftig, dass sich das Wasser rot färbte. Durch seine Verletzungen war er geschwächt und die Seile seines Schirms hatten ihn schachmatt gesetzt. Er würde eine ganze Weile brauchen, um sich zu befreien. Bis dahin waren auch die Bidisani weit weg. Perfekte Gelegenheit, mich schleunigst aus dem Staub zu machen.

Aber was, wenn Young sich nicht befreien konnte? Wenn er verblutete? Oder ihn die Seile erwürgten … War das dann die gerechte Strafe für einen SOLF, der mich wieder zu Dixon verschleppen wollte?

Die SOLFs waren eine brutale Schlägertruppe, die als geheime Behörde agierte und zum Ziel hatte, alle magischen Wesen auszurotten. Young war einer der Männer, die mich vor nur wenigen Wochen gefangen genommen hatten. Sie hatten mich zu ihrem Anführer Dixon gebracht und seiner Folter ausgeliefert. Jedes Detail von damals hatte sich in mein Hirn eingebrannt und immer wieder hatte ich Alpträume davon. Manchmal auch, wenn ich wach war. Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken.

Young sah zu mir hoch. Sein Gesicht schmerzverzerrt. Und voll Hass. Trotzdem war Young der einzige SOLF, der damals dazwischen gegangen war, als Dixon versucht hatte, mich zu vergewaltigen. Außerdem hatte er Brancos Tod verhindert, zwar nur deshalb, weil er ihn fälschlicherweise für einen ganz normalen Hund gehalten hatte, aber dennoch … Young war nicht so wie die anderen SOLFs.

Verflucht noch mal, ich konnte ihn nicht so liegen lassen! Das konnte ich einfach nicht. Er war doch wehrlos. Ich musste ihn wenigstens halbwegs aus den Seilen lösen, um sicher sein zu können, dass er nicht starb. Ich wollte keinen Mord auf dem Gewissen habe. So zerschlagen und blutend wie er aussah, würde ich ihm trotzdem mit Leichtigkeit entkommen.

Aber wollte ich wirklich riskieren, dass er mich zu fassen bekam und in Dixons Folterkammer zurückbrachte?

Plötzlich wurde Young unter seiner dunklen Hautfarbe kreidebleich, wie graue kalte Asche. Dann erbrach er sich. Gehirnerschütterung? Oder schlimmeres? Der rote Fleck im Wasser rund um sein Bein wurde größer und aus seiner Kopfwunde quoll das Blut in dicken Strömen. Noch immer war seine rechte Hand durch das Seil seines Schirms an seine Hals gefesselt. Er versuchte, sich mit der linken zu befreien, doch seine Bewegungen wurden schwächer.

Mist! Verdammter Mist!

Halblaut fluchend kraxelte ich zu ihm hinunter und watete durch das Wasser. Young hob den Kopf. Erstaunen zeichnete sich in seinem Gesicht ab. Ich ging vorsichtig um ihn herum, um außer Reichweite seiner freien linken Hand zu bleiben. Von hinten versuchte ich, das Seil zu lockern, doch es saß so stramm, dass es tief in seine gefesselte Hand schnitt. Er hatte Glück gehabt, wäre seine Hand nicht dazwischen gewesen, hätte ihn das Seil längst erdrosselt.

„Hast du ein Messer?“, fragte ich.

Ich bekam nur einen gurgelnden Laut zur Antwort. Ich taste Young ab. Er war ein SOLF. Zwar nicht in Uniform, aber mein Instinkt sagte mir, dass er niemals ohne Waffe unterwegs war. Ich behielt Recht. In seiner hinteren Hosentasche fand ich ein Taschenmesser. Ich öffnete es mit zittrigen Fingern und säbelte damit das Seil durch, das um Youngs Gurgel und die rechte Hand geschlungen war. In gleichen Moment als Youngs Hals wieder frei war, riss der Schirm ihn zur anderen Seite und er knallte erneut mit dem Kopf gegen den Fels. Wie eine schlaffe Puppe fiel er zurück ins Meer. Sein Gesicht lag im Wasser und er regte sich nicht mehr. Ich hastete hinter ihm her. Noch konnte ich im Wasser stehen, es ging mir bis zu der Taille. Vorsichtig drehte ich Young um, zog ihn so weit auf den Felsen hoch, dass sein Kopf und die Schultern über der Wasseroberfläche waren. Ich fühlte seinen Puls, aber angesichts des heftigen Windes konnte ich nicht feststellen, ob er noch atmete. Wenn ich ihn hier liegen ließ, verblutete er vielleicht. Ich sah zu den anderen Kite-Surfern. Sie mussten doch etwas mitbekommen haben. Hatten sie vielleicht längst den Notruf getätigt?

Plötzlich schoss eine Hand vor und packte mich am Hals. Young schleuderte mich zur Seite und warf sich auf mich.

Ich strampelte, doch er hatte mich überrascht – und nun lag er mit seinem ganzen Gewicht auf mir. Panik stieg in mir auf. Nein, nein, nicht zurück zu Dixon.

„Warum?“, fragte er. Blut tropfte aus seinem Mund auf mein Gesicht. „Warum hilfst du mir?“

Ich versuchte, von ihm wegzukommen, doch er presste mich noch härter gegen den scharfkantigen Fels.

„Du hast mich erkannt, aber du bist nicht weggelaufen“, zischte er. „Warum? Wegen dem fliegendem Monster und dem deformierten grünem Ungeziefer? Sind das deine Freunde? Diese verkrüppelten Ungeheuer?“

Young hatte also Lluh und die Bidisani gesehen. Und jetzt er hatte mich im Schwitzkasten. Selbst wenn Lluh zurückkam, wie sollte er mir helfen? Lluh konnte sich zwar unsichtbar machen, aber er war nicht stark genug, um Young von mir wegzukriegen und er konnte auch Rick niemals schnell genug hierher holen.

„Stimmt es?“, raunte Young. „Stimmt es, was du geschrieben hast? Was du über Dixon geschrieben hast?“

Ich war so überrascht von seiner Frage, dass ich aufhörte mich zu wehren.

„Antworte mir!“, verlangte Young. „Was du da geschrieben hast, über Neve und Bryan. Und auch Dixon: Stimmt es? Ist es wahr? Dass Dixon sie foltert. Kinder. Straßenkinder?“

Verwirrt sah ich ihn an. Ich brauchte eine Weile bis ich verstand, was er meinte. Aber ja, an einer Stelle in meinem Roman hatte ich geschildert, wie ich es mit Dixons Augen gesehen hatte, wie sehr Dixon es genoss, Straßenkinder zu zerstückeln und aufs Grausamste zu quälen. Seine perverse Freude darüber, wie zäh sie waren, wie lange er sich an ihrem Leid ergötzen konnte, bevor sie starben.

„Es ist so wahr wie alles andere in dem Roman“, krächzte ich.

„Nein. Du lügst. Propaganda für euch Monster, das ist es.“

„Als ich es schrieb, wusste ich noch nicht mal, dass es euch wirklich gibt. Magische Wesen und SOLFs, ich hielt das alles für meine Fantasie.“

„Ihr seid Monster! Wir SOLFs schützen die Menschen vor euch!“

„Du gehörst zu Dixon. Du solltest besser als ich wissen, was in euren Kerkern vorgeht. Wie viel Blut klebt an deinen Händen? Was wird Dixon mit mir machen, wenn du mich zu ihm bringst?“

„Du bist eine von ihnen. Von diesen gefährlichen Missgeburten. Du hast es verdient ...“ Mitten im Satz flog sein Kopf zur Seite, als hätte er einen Tritt gegen die Schläfe bekommen.

Lluh!

Ich nutzte das Überraschungsmoment und stieß ihn von mir. Youngs Kopf bekam erneut einen unsichtbaren Stoß, diesmal von schräg unten gegen das Kinn. Ich hetzte durchs Wasser, krabbelte die Felsen hoch. Ich wagte es nicht, hinter mich zu sehen, rannte weiter, stolperte, stieß mir die Knie auf und zerkratzte mir Hände und Gesicht als ich mich durch die Böschung kämpfte. Erst als ich oben an der Uferstraße stand, wagte ich es, einen Blick hinter mich zu werfen. Eine kleine Gestalt flog auf mich zu, doch von Young keine Spur.

„Lauf!“ Lluh flatterte an mir vorbei und gab mir die Richtung vor. „Los, schnell“, trieb er mich an. „Wir haben nicht viel Vorsprung.“

Ich rannte die Straße entlang. Mir tat alles weh und ich wusste nicht wie lange ich das Tempo durchhalten konnte. Der Hinweg zum Strand hatte zu Fuß fast eine ganze Stunde gedauert: Genau diese schier endlose Strecke lag nun vor mir. Ich wusste nicht, ob ich gegen einen durchtrainierten SOLF ankam. Youngs Verletzungen waren offenbar nicht halb so schlimm gewesen, wie sie ausgesehen hatten, denn sonst hätte er mich nicht überwältigen können.

„Wie weit ist er weg?“, keuchte ich.

„Lauf weiter, ich versuch ihn abzulenken.“

„Nein, Lluh, bitte, bleib bei mir!“ Ich konnte nicht zulassen, dass Lluh meinetwegen seinen Hals riskierte.

Lluh zögerte.

„Lluh, nein!“ Verzweiflung mischte sich in meine Stimme.

„Dann lauf, lauf so schnell du kannst: Solange er außer Sichtweite ist, bleibe ich an deiner Seite.“

„Kleiner Erpresser.“

„Hör auf zu quatschen und spar dir deine Kräfte für die Flucht.“

Ich rannte, stumm und verbissen. Meine Beine wurden immer schwerer, ich wurde zunehmend langsamer, ganz egal, wie sehr ich mich anstrengte, aber meine Muskeln bewegten sich einfach nicht schneller. Ich rechnete jede Sekunde damit, Young hinter mir zu sehen.

Endlich erreichte ich ein Wohnviertel. Menschen. Passanten, unter denen ich mich verstecken konnte. Auch die verwinkelten Gassen gaben mir ein wenig Sicherheit. Ich schlug einen Hacken nach dem Anderen. Nur noch wenige hundert Meter bis zu Ricks Wohnung. Meine Wohnung nur eine Querstraße weiter. Schlüssel, verdammt. Ich tastete meine Jeans ab und atmete auf. Mein Schlüssel war noch in der Tasche. Ich lief an Ricks Wohnung vorbei. Die Versuchung war groß. Vielleicht war Rick schon wieder zurück. Rick bedeutete Sicherheit. Zärtlichkeit. Geborgenheit, wenn er mich in die Arme nahm. Aber ich war panisch, verdreckt und hatte das Blut eines SOLFs im Gesicht kleben. So konnte ich ihm nicht unter die Augen treten. Ich lief weiter bis ich das Haus erreichte, in dem mir Rick eine kleine Wohnung besorgt hatte; damals, ganz am Anfang, als ich noch die Kraft gehabt hatte, mich gegen meine Gefühle für ihn zu wehren und dem Verlangen nach seinem Körper zu widerstehen.

Ich hangelte mich am Treppengeländer nach oben zu meinem Ein-Zimmer-Appartement. Meine Finger zitterten, es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich es schaffte, die Tür aufzuschließen. Noch länger dauerte es, sie hinter mir wieder zu verriegeln. Rick hatte diese Wohnung mit unzähligen Schutzzaubern abgesichert, hier konnte mir nichts mehr passieren. Ich hatte es geschafft. Ich war in Sicherheit.

Mein Hals tat weh und mir war übel vom langen Rennen. Ich setzte mich auf den Boden und kauerte mich zu einer Kugel zusammen. Nur einen kleinen Moment. Ich spürte, wie mein Körper in sich zusammensackte und zwang mich wieder auf die Beine, weil ich Angst hatte, sonst nie mehr aufstehen zu können. Erst musste ich mich in einen vorzeigbaren Zustand bringen, denn ich hatte keine Ahnung, wann Rick zurückkehren würde.

„Alles in Ordnung?“, fragte Lluh.

Ich nickte. „Duschen, frische Kleidung“, stammelte ich und schleppte mich ins Bad. Lluh verzog sich in die Küche, ich hörte es klappern. Er hatte gesagt, es wäre anstrengend, sich unsichtbar zu machen. Ich hoffte, es gab in den Küchenschränken noch genug Essbares für Lluh, damit er seine Kraftreserven wieder auffüllen konnte. Ich schloss die Badezimmertür, ließ achtlos alle Kleider zu Boden fallen und stellte mich unter die Dusche. Dann erlaubte ich mir, ein wenig zu weinen, nur ein kleines bisschen, denn ich wollte Rick nicht mit verheulten Augen entgegentreten. Er sollte nicht wissen, was passiert war.


„Du hast gewusst, dass er ein SOLF ist?“, fragte Lluh, nachdem ich ihm erzählt hatte, wer Young war und weshalb er mich angegriffen hatte. „Wie kamst du dann auf die hirnverbrannte Idee, ihm zu helfen?“

Ich kauerte mich enger in das Sofa. Ich war frisch geduscht, hatte saubere Kleidung an und die Waschmaschine beseitigte gerade die letzten Reste meines misslungenen Strandausfluges.

„Ich dachte, er verblutet oder wird womöglich von dem Seil erwürgt.“

„Na und?“ Lluh stemmte sich die Hände in die Hüften und sah mich vom Wohnzimmertisch aus vorwurfsvoll an.

„Er ist nicht wie die anderen SOLFs. Hätte ich ihn etwa hilflos liegen lassen sollen?“

„Ja!“

„Aber ...“

„Was denkst du wohl, was er getan hätte, wenn du ihm nicht entwischt wärst?“

„Ich habe dir doch erzählt, wie er sich damals verhalten hat.“

„Ja, du hast mir erzählt, dass er Branco mit einem harmlosen Hund verwechselte und dich nach einem kurzen Hinweis auf die Dienstvorschriften, diesem Dreckschwein Dixon überlassen hat, wohl wissen, was Dixon mit dir tun wollte. Und da er immer noch bei dieser Mörderbande ist, hat er offenbar Gefallen an deren Foltermethoden gefunden!“

So hatte ich die Sache noch gar nicht gesehen. Plötzlich ein Geräusch an der Tür. Rick rief meinen Namen. Ich rannte ihm entgegen und warf mich ihm in die Arme.

„Bist du gar nicht mehr sauer?“ Er war sichtlich verwirrt, während er mich zärtlich an sich drückte. Er hatte andere Kleidung an als noch am Vormittag. Er roch nach Duschgel und seine Haare waren feucht. Sein harmloser Botengang und mein völlig ungefährlicher Strandausflug schienen einige Gemeinsamkeiten zu haben. Ich hob den Kopf und studierte sein Gesicht. Er hatte Schrammen auf der Wange.

„Was ist mit deinem Gesicht passiert?“, fragte er und strich mir sanft über die Stirn.

Stimmt, auch ich hatte etliche kleine Kratzer. Beinahe hätte ich gelacht.

„Dornen und Gestrüpp“, wich ich aus.

„Ihr wart also nicht am öffentlichen Sandstrand.“ Seine Meine verhärtete sich und er sah verärgert zu Lluh.

„Lluh kann nichts dafür“, sagte ich schnell. „Er hat auch sein Versprechen nicht gebrochen. Es war ein allgemein zugänglicher Strand. Und ...“ Plötzlich wurde mein Hals eng. „Woher hast du deine Verletzungen? Ist alles in Ordnung mit dir?“ Ein Ablenkungsmanöver. Ziemlich plump. Es wunderte mich nicht, dass Rick es sofort durchschaute. Er nahm mein Gesicht in beide Hände.

„Fate? Was ist passiert?“

„Erzählst du mir dann, woher deine Kratzer stammen?“, wappnete ich mich zum Gegenangriff. Ja, ich war verängstigt und mir ging es gar nicht gut. Aber trotz allem war ich nicht bereit, mich einsperren zu lassen. Und genau das würde Rick tun, wenn ich ihm erzählte, was geschehen war.

„Fate, du musst es ihm sagen!“, forderte Lluh. „Sonst bringst du auch die anderen in Gefahr.“

Lluh hatte recht, trotzdem zögerte ich.

„Der Typ war ein SOLF“, beharrte Lluh. „Das ist nicht mehr nur deine Privatangelegenheit!“

„Ein SOLF?“, wiederholte Rick. „Du bist einem SOLF begegnet?“

„Ich wäre ihm nicht begegnet, wenn ich an meinen einsamen Strand gegangen wäre“, ging ich in die Offensive. „Aber du wolltest unbedingt, dass ich in der Öffentlichkeit ...“

„Hör auf!“, schnitt mir Rick das Wort ab. „Wenn du einem SOLF begegnet bist, dann bringt das alle Neulinge in Gefahr. Die Sache ist zu ernst. Wir können uns nachher streiten. Erzähl mir zuerst, was geschehen ist!“

Scham stieg in mir auf und ich fühlte mich genauso schäbig wie ich war. Also erzählte ich Rick, was sich in der kleinen Bucht ereignet hatte. Die hässlichen Details ließ ich allerdings weg. Lluh runzelte die Stirn, als er meine geschönte Version hörte. Aber das Wichtigste hatte ich erzählt, genug, dass Rick und seine Freunde sich auf die Situation einstellen konnten. Doch ich verschwieg meine Angst und sparte mir die Einzelheiten meines Nahkampfs mit Young. Rick erinnerte sich an den jungen SOLF. Auf meine Bitte hin, hatte er Young bei unserer Flucht damals nicht erschossen, sondern nur bewusstlos geschlagen.

Zu meinem Erstaunen wurde Rick nicht wütend. Stattdessen nahm er mich in die Arme und hielt mich einfach nur fest. So als hätte er Angst, mich zu verlieren. So als würde ich ihm mehr bedeuten als nur ... ein zeitlich begrenztes Arrangement.

Aber so war es nicht. Es lag an den SOLFs. Wann auch immer es um die SOLFs ging, neigte Rick – und auch Moira – zu Überreaktionen. Verständlich. Die SOLFs hatten ihre Familie regelrecht abgeschlachtet. Eine Geschichte, die alle Zauberer kannten und die Rick in groben Zügen auch Neve und Bryan in meinem Roman erzählt hatte. Es war Rick nicht leicht gefallen, darüber zu reden, deswegen hatte ich nie nachgebohrt. Ich wollte keine alten Wunden aufreißen, nur um meine Neugier nach Details zu befriedigen.

Das Wichtigste wusste ich ohnehin. Moira liebte Rick von ganzem Herzen, obwohl er nicht ihr leiblicher Sohn war. Ihr leiblicher Sohn war Sammy … gewesen. Sammy war es auch gewesen, der Rick mit zu sich nach Hause gebracht hatte, um dem kleinen, von seiner eigenen Magie verstörten Jungen ein Heim zu geben. Ein paar Jahre später, als Rick elf Jahre alt war, hatten die SOLFs Moiras Sohn Sammy und seine Freundin Clara verschleppt, gefoltert und getötet. Moiras Mann William hatte versucht, sie zu befreien und war dabei ebenfalls von den SOLFs ermordet worden. Moira hatte die verstümmelten, von Folter gezeichneten Leichen erst Wochen später gefunden. Nur Sammy war noch am Leben gewesen, doch viel zu schwer verletzt, als dass sie ihn noch hätten retten können. Rick und Moira hatten ihm beim Sterben hilflos zusehen müssen.

Danach hatte Moira zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Agatha und ihrem Freund Anselm eine kleine wehrhafte Gruppe gegründet – mit dem Ziel, sich um die Neulinge unter den Zauberern zu kümmern und vor den SOLFs zu schützen. Diese Aufgabe hatte Moira davor bewahrt, durch ihre Wut und Trauer überwältigt zu werden und der dunklen Magie des Chaos zu verfallen. Rick und seine Freunde führten nun diese Mission fort. Auch wenn sie für die Neulinge mittlerweile weit mehr taten, als sich nur um ihre Sicherheit zu kümmern, stand der Schutz vor den Grausamkeiten der SOLFs noch immer an erster Stelle.

Ich fragte mich, wer Moiras Familie getötete hatte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ich mir absolut sicher, dass es kein Ergebnis einer verworrenen Befehlskette war, sondern ein einzelner Mensch dafür die Verantwortung trug. Wer hatte es angeordnet? Wer hatte Moiras Familie so grausam gefoltert und getötet?

In dem Roman über Neve und Bryan hatte ich geschrieben, dass die Zauberer den Schuldigen niemals gefunden hatten. Doch das war schon eine ganze Weile her. Inzwischen mussten sie es doch herausbekommen haben, oder? Verdammt, da war ich nun schon mehrere Woche bei den Magiern, bei meinen eigenen Romanfiguren, und erst jetzt fiel mir auf, wie wenig Neues ich in dieser Zeit über sie erfahren hatte. Das Einfachste wäre es gewesen, Rick danach zu fragen. Doch ich wollte nicht herumschnüffeln, denn ich hoffte, er würde es mir irgendwann von selbst erzählen – weil es genau die Art von Erinnerung war, über die man nur mit seinen engsten Freunden und Vertrauten sprach.

Noch immer hielt Rick mich fest. Sehr fest. Jedes Mal, wenn einer seiner Schützlinge den SOLFs zu nahe kam, wurde er an Sammys Tod erinnert. Ich streichelte seinen Rücken. Er brauchte diese Umarmung sogar noch mehr als ich.

„Moira will uns sehen“, sagte Rick schließlich. „Die anderen erwarten uns in der Bibliothek. Dort kann ich mich am Rechner in die Zentrale der SOLFs hacken. Danach werden wir wissen, was Young zu Bericht gegeben hat.“ Seine Stimme klang nüchtern. Ganz anders als die Zärtlichkeit, die ich in seinen Fingern zu spüren glaubte. Betonung auf glaubte. Macht des Wunschdenkens.

„Was will Moira?“, fragte ich. Wir wurden normalerweise nicht ohne Grund in die Bibliothek zitiert.

„Joel weiß, was du bist.“



2


Aus der Bibliothek drang Stimmengewirr zu uns. Anselm und Moira. Wobei Anselm deutlich lauter war – und das war sehr ungewöhnlich für den sonst so nüchternen und zugeknöpften Magier.

„Sarah soll Fate übernehmen“, forderte Anselm als wir den Raum betraten.

„Was ist, wenn Miljon sie wieder angreift?“, gab Moira zu bedenken. „Sarah kann sie nicht beschützen, das weißt du ganz genau.“

Der Streit ging also um mich. Anselm schien es nicht zu störten, dass ich anwesend war, ganz im Gegenteil. „Dann schickt Fate eben zu Bryan!“, beharrte er.

„Die Diskussion ist doch müßig.“ Moira warf Rick einen warnenden Blick zu, sich nicht einzumischen. „Rick wird sie keinem anderen überlassen. Ich verstehe nicht, weshalb du dich so sehr dagegen wehrst.“

„Weil sie keinen guten Einfluss auf Rick hat! Sie behindert ihn wie ein Klotz am Bein und schadet seiner Konzentration. Außerdem sind ihre Kräfte völlig unbrauchbar. Trotzdem kümmert er sich nur noch um sie. Das ist Zeitverschwendung, sie ist nutzlos!“

Meine Füße rammten sich in den Boden und weigerten sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Nutzlos. Ein Klotz am Bein. An Ricks Bein. Von ihm abhängig. Wie durch einen Nebel spürte ich Rick neben mir. Ein Teil von mir wollte sich die Ohren zuhalten, sich umdrehen und weglaufen, vor Anselms Worten flüchten. Aber ich musste einfach hören, was sie wirklich über mich dachten. Es war Zeit, sich der Wahrheit zu stellen.

„Erstens ist Fate nicht nutzlos und zweitens ist es Ricks Aufgabe, sich um sie zu kümmern“, entgegnete Moira.

„Rick hat noch andere Aufgaben. Aber das scheint er vollkommen vergessen zu haben. In Fates Gegenwart ist er ist aufbrausend und unkonzentriert. Du weißt, wie gefährlich das ist. Wer wird ihn aufhalten, wenn er die Beherrschung über seine Kräfte verliert?“

„Das wird nicht passieren.“

„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, widersprach Anselm. „Willst du mir etwa vorgaukeln, du würdest seine Anspannung nicht spüren? Rick ist unberechenbar geworden seit diese Fate aufgetaucht ist.“

„Ich bin anwesend“, knurrte Rick. „Und Fate ebenfalls.“

Doch Moira und Anselm ignorierten uns und stritten unbeirrt weiter.

„Du hast Rick doch schon immer als unberechenbar bezeichnet“, gab Moira gereizt zurück. „Also sollte das für dich doch keinen Unterschied machen.“

„Es ist schlimmer geworden. Diese Möchtegern-Schriftstellerin bringt nichts als Ärger. Sie ist eine Unruhestifterin. Ich verstehe nicht, weshalb sie dir so wichtig ist.“

„Was soll diese Frage?“ Moira wurde zunehmend ärgerlicher. „Willst du ihre Kräfte etwa leugnen?“

„Kräfte.“ Anselm schnaubte abfällig. „Bislang haben uns ihre Kräfte keinen Schritt weiter gebracht. Wer weiß, ob sie überhaupt jemals etwas Vernünftiges schreiben wird. Billige Trivialliteratur gibt es schon genug. Sie macht nur Arbeit und lenkt Rick von seinen eigentlichen Aufgaben ab. Und du verhätschelst sie auch noch. Sie sollte endlich lernen, alleine zu Recht zu kommen. Wie alle anderen Neulinge auch.“

„Ich soll also die Tatsache ignorieren, dass Dixon sie verfolgt? Ganz zu schwiegen von Miljon und Joel.“

„Den Ärger hat sie sich selbst eingebrockt.“

„Das ist doch Unsinn.“

„Wer sagt dir eigentlich, dass sie keine von Joels Spionen ist?“

„Du traust ihr also immer noch nicht.“

„Nein, warum auch?“, entgegnete Anselm schnippisch. „Hat sie vielleicht irgendetwas getan, um sich unser Vertrauen zu verdienen?“

„Sie hat Rick gerettet“, antwortete Moira.

„Nachdem sie ihn in Gefahr gebracht hat.“

„Darüber lässt sich streiten. Außerdem hat sie uns nicht an Dixon verraten – obgleich sie damals noch dachte, sie sei ein Mensch.“

„Sagt sie. Dafür gibt es keine Beweise. In meinen Augen ist sie nichts weiter als eine Unruhestifterin. Und sie bringt Rick vollkommen durcheinander.“

„Du wiederholst dich“, bemerkte Moira ungeduldig.

„Das Ganze wird in einer Katastrophe enden! Er hat nur noch Fate im Kopf! Als gäbe es nichts Wichtigeres. Er hechelt ihr hinterher wie einer läufigen Hündin!“

„Das reicht“, knurrte Rick und zog mich an sich. „Ich werde nicht dulden, dass du so von meiner Freundin sprichst.“

„Das hatte ich befürchtet“, sagte Anselm mit Verachtung in der Stimme.

„Was genau hast du denn befürchtet?“, fragte Rick herausfordernd. „Dass andere glücklich sein könnten, während du verbiestert hinter deinen Büchern sitzt? Du bist nur neidisch, das ist alles. Vielleicht liegt es auch daran, dass du Simon nicht mehr drangsalieren kannst und der Junge endlich mal unter Leute kommt. Ja, das wird es wohl sein. Ist vermutlich schwer zu ertragen, dass du nun der einzige bist, der das Dasein eines Eunuchen fristet.“

Anselm wurde erst blass und dann rot. „Es fängt schon an“, zischte er und sah triumphierend zu Moira. „Siehst du, was sie mit ihm macht? Was sie mit uns macht! Sie treibt einen Keil zwischen uns!“

„Das hat nichts mit Fate zu tun. Und du weißt das sehr genau.“

„Ich weiß nur, dass diese Person“, er deutet mit spitzen Fingern auf mich, „hier nichts verloren hat. Sie hat weder unser Vertrauen noch unseren Schutz verdient.“

Rick wollte erneut aufbrausen, doch ich hielt ihn zurück. „Nein, Rick. Er hat vollkommen recht“, sagte ich emotionslos und sah direkt in Anselms erstauntes Gesicht. „Meine Kräfte – wenn ich denn wirklich welche haben sollte – sind zu nichts zu gebrauchen. Ich bin nur ...“

„Hör auf, Fate“, fiel mir Rick ärgerlich ins Wort.

„Aber es stimmt.“ Ich drehte mich zu Rick und als ich ihm in seine tiefblauen Augen blickte, drängten meine mühsam unterdrückten Gefühle gegen eine äußerst brüchige Mauer. Ich hatte Angst, panische Angst ihn zu verlieren. Ich war nutzlos und auch Rick würde das früher oder später erkennen. Und dann würde er mich verlassen.

„Da bin ich aber ganz anderer Meinung“, mischte sich Lluh ein.

„Darauf wette ich“, griff Rick sein Argument auf. „Ohne Fate säße Lluh noch immer in dem Käfig inmitten von Anselms verstaubtem Gerümpel.“

Das war allerdings ein guter Einwand. Ich hatte den kleinen Viggill aus einem Käfig befreit, der ihn für alle anderen unsichtbar gemacht hatte. Für alle anderen außer für mich – auch wenn immer noch unklar war, weshalb die Magie des Käfigs bei mir versagt hatte. Rick hatte mir erzählt, dass der Käfig wohl schon seit etlichen Monaten in Anselms Rumpelkammer herumgestanden hatte.

Anselm wurde erneut rot, doch diesmal nicht vor Wut. Es war ihm peinlich, dass er den Viggill nicht bemerkt hatte. Und vielleicht hatte er Lluh gegenüber sogar ein schlechtes Gewissen.

„Was mich betrifft ist Fate weitaus nützlicher als ein verknöcherter eingebildeter Zauberer“, setzte Lluh noch eins obendrauf.

„Aufhören!“, fuhr Moira dazwischen.

Eine beklemmende Stille entstand. Anselm warf Moira einen vernichtenden Blick zu, dann drehte er sich wortlos um und verließ den Raum. Die Tür knallte geräuschvoll ins Schloss und ich zuckte erschrocken zusammen. Soviel Temperament hätte ich Anselm gar nicht zugetraut.

Moira seufzte und sah ihm einen Augenblick hinterher. Dann wandte sie wieder an uns und lächelte warm. „Mach dir nichts aus Anselms Worten. Es ist nicht gegen dich persönlich gerichtet.“

„Es klang aber sehr persönlich“, widersprach Rick.

„Du hättest ihn nicht so angreifen sollen“, tadelte Moira.

„Hätte ich mir vielleicht kommentarlos seinen Unsinn über Fate anhören sollen?“

„Er ist wegen Simon verärgert.“

„Dann habe ich also den Nagel auf den Kopf getroffen.“

„In gewisser Weise schon; auch wenn er Simon niemals drangsaliert hat. Das mit dem Eunuchen war ebenfalls äußerst unangebracht.“

„Was ist denn mit Simon?“, fragte ich dazwischen.

„Er will nicht mehr zu Anselm zurück. Ihm gefällt seine neue Aufgabe, die Neulinge zu trainieren, viel besser.“

„Kein Wunder“, warf Rick ein. „Er macht das auch wirklich großartig! Er ist der geborene Lehrer.“

„Ja, ich weiß. Seine Schüler sind begeistert und Agatha singt die reinsten Loblieder auf ihn. Sie will ihn natürlich bei sich behalten.“

„Wunderbare Neuigkeiten, wenn du mich fragst“, meinte Rick. „Warum kann sich Anselm nicht einfach für Simon freuen?“

„Weil Anselm nun die ganze Arbeit alleine machen muss.“

„Er hat doch noch Sarah“, widersprach Rick.

Moira seufzte erneut. „Wir haben so viele Neulinge, dass selbst Sarah mithilft, sie zu trainieren.“

„Woher kommt der Andrang?“, fragte ich.

„Im Prinzip haben wir das dir zu verdanken. Die meisten von ihnen sind über deinen Roman gestolpert“, antwortete eine Stimme hinter mir. Es war Neve, die zusammen mit Bryan den Raum betrat. Es folgten Simon, Silas, Debby und Sarah. Nur wenig später kam auch Agatha, Moiras Zwillingsschwester, dazu. Sie hatte Anselm im Schlepptau. Ich unterdrückte ein Grinsen. Anselm hatte eine Schwäche für Agatha. Wenn es jemand schaffte, diesen verbohrten Zauberer zu besänftigen, dann war es Agatha.

Der eingeschworene Freundeskreis begrüßte sich mit großem Hallo – und ich kam mir mehr denn je wie ein Störenfried vor. Lluh war mein Rettungsanker. Er saß auf meiner Schulter, als wollte er mir zeigen, dass ich nicht alleine war.


Als erstes drängte Debby darauf, dass sie zunächst die zusätzlichen Neulinge unter sich aufteilten. Damit es bei dem ganzen Gerede über Fate nicht in Vergessenheit gerät, wie sie es formulierte. Außerdem hatte Debby einen Selbstverteidigungskurs ins Leben gerufen. Die meisten Neulinge würden Monate, vielleicht sogar Jahre brauchen, bis sie sich mit ihren Zauberkräften schützen konnten. Debby wollte ihnen zumindest einige Grundlagen vermitteln, wie man sich ganz ohne Magie wehren konnte, falls man angegriffen wurde. Eigentlich hatten Rick und ich sie auf diese Idee gebracht, denn sie hatte uns einmal überrascht, als Rick versucht hatte, mir ein paar Tricks beizubringen. Nun ja, eigentlich hatte sie uns überrascht, als das Nahkampftraining zu einer erotischen Umarmung ausgeartet war. Debby ging zu Recht davon aus, dass Rick und ich mittlerweile lieber andere Arten von Körperlichkeit austauschten und sicherlich kein vernünftiges Selbstverteidigungstraining zu zweit durchführten. Deshalb sollte auch ich an diesem allgemeinen Selbstverteidigungskurs für Neulinge teilnehmen.

„Muss das sein?“, maulte ich. „Ich bin dann dort die einzige ohne magische Kräfte. Die Neulinge wollen bestimmt unter sich sein und ...“

„Selbstverteidigung ist äußerst nützlich, wenn man einem SOLF begegnet“, stichelte Debby. Rick hatte ihnen natürlich schon während der Aufteilung der Neulinge von meiner Begegnung mit Young erzählt. Es war zu erwarten, dass die SOLFs ihre Suche nach mir ausweiteten und dadurch waren auch für die Zauber-Neulinge erhöhte Sicherheitsmaßnahmen ratsam.

Damit hatte ich erst mal verdammt schlechte Karten, wenn es um weitere Strandausflüge ging. Aber wenn sie glaubten, ich würde mich widerstandslos in die Herde der Neulinge einreihen, hatte sie sich getäuscht. Rick warf mir einen misstrauischen Blick zu. Er kannte mich mittlerweile gut genug um zu wissen, dass mein Schweigen keinesfalls Zustimmung bedeutete.

„So, das war nun genug Organisatorisches“, beendete Moira schließlich die Aufteilung der Routineaufgaben. „Fange wir endlich mit dem wichtigen Thema an. Ihr alle wisst, weshalb ich euch hierher gebeten habe. Fates Herkunft ist nicht mehr länger ein Geheimnis. Joel hat davon erfahren. Silas, was kannst du uns darüber berichten?“

„Nicht viel. Hanna steigt zwar mit mir in die Kiste, aber sie vertraut mir nicht.“ Silas hatte sich eigentlich aus privaten, vorrangig körperlichen Gründen mit Hanna eingelassen. Der Latin-Lover-Verschnitt und die schwarzhaarige Schönheit waren rein optisch auch das perfekte Paar und hatten zweifelsohne eine Menge Spaß miteinander. Doch da Hanna zu Joels engsten Vertrauten gehörte, versuchte Silas, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. „Ich glaube sogar, Hanna hat mir in Joels Auftrag davon erzählt“, fügte Silas hinzu. „Ist wohl gegen Rick gerichtet, um ihm zu zeigen, dass er Fate nicht beschützen kann. Vielleicht auch ein bisschen Muskelspielerei, was auf uns zukommt, wenn sich die Neuigkeit über Fate verbreitet.“

Rick und Moira machten sich keine Freunde damit, dass sie einen Bastard wie mich bei sich aufnahmen, denn die Kräfte von Mischwesen wie mir galten als unberechenbare Größe. Die einen sahen in mir reiche Beute, weil sie auf eine Marwaree-Seherin hofften. Die anderen hingegen hielten mich für die Ausgeburt der Hölle, die man ausrotten musste. Ersteres war ich definitiv nicht. Letzteres hoffentlich auch nicht.

„Wie viel weiß Joel?“ Ich konnte Ricks Zähneknirschen förmlich hören.

„Nun, abgesehen von Fates Mischlings-Abstammung, weiß er auch von ihrer Mutter Luana Sesswick, die es sich aus Liebe zu einem Zigeuner mit ihrem Anführer verscherzt hat. Er weiß auch von dem Zigeunerfluch.“

Der Begriff Zigeuner war bei magischen Wesen nicht so negativ besetzt wie bei Menschen und er bezog sich keineswegs auf Sinti oder Roma. Anselm, der detailverliebte Bücherwurm unter den drei älteren Magiern, hatte mir vor einigen Tagen einen äußerst weitschweifigen Vortrag darüber gehalten. Begriffe wie Hexe, Dämon oder auch Zigeuner wurden nur von Menschen als abwertende Schimpfwörter benutzt, nicht aber von magischen Wesen, für sie waren es einfach nur neutrale Bezeichnungen, so ähnlich wie Schuster oder Arzt. Interessanterweise nannten sich sogar einige Magier ganz bewusst Hex oder Hexe, um sich mit den armen Frauen zu solidarisieren, die während der Hexenverfolgung auf dem Scheiterhaufen gelandet waren. Außerdem wollte man sich so von irgendwelchen menschlichen Hobby-Zauberern abgrenzen. Anselm sah das anders, er war kein Freund des Begriffes Hexe, weil er befürchtete, es könnte die alte Feindschaft mit dem Christentum neu aufleben lassen. Agatha hingegen beharrte darauf, dass man das Gedenken an die Hexenverfolgung und ihre unschuldigen Opfer wahren sollte, damit so etwas nie wieder passierte. Agatha und Anselm waren darüber in eine heftige Grundsatzdebatte geraten. Moira hatte die schier endlose Diskussion schließlich beendet, um wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen: Zigeuner und Zigeunerfluch.

Zigeuner bezeichnete bei magischen Wesen all diejenigen, die eine ganz bestimmte Art von Magie besaßen. Meist war es nur eine einzige magische Fähigkeit, die dafür aber besonders stark ausgeprägt. Wie beispielsweise die Magie der Schrift, die mein Vater besessen hatte. Oder auch Heilkräfte. Oder die Magie der Wandlung. Da Zigeuner nur eine isolierte Art von Magie besaßen, waren die meisten von ihnen sehr wissensdurstig und suchten stets nach Möglichkeiten, ihre Fähigkeit in äußerst kreativer Art und Weise einzusetzen. Um so viel Wissen wie möglich über ihre eigene Gabe anzuhäufen, reisten sie ständig durch die Gegend und viele fanden Gefallen daran, überhaupt keinen festen Wohnsitz mehr zu haben. Das hatte ihnen den Namen das fahrende Volk eingebracht. Allerdings hielten Zigeuner ihr einzigartiges Wissen nie schriftlich fest, damit man es nicht womöglich gegen sie verwenden konnte. Auf diese Art blieben sie auch unangefochtene Experten ihrer eigene Fähigkeiten. Das immense Wissen um die eigene Gabe wurde ausschließlich innerhalb der Familie weitergegeben, nur in Ausnahmefällen hielt man es auf streng gehüteten Schriftrollen fest. Der Begriff Zigeuner hatte unter magischen Wesen daher immer den – durchaus bewundernden – Beigeschmack eines wissbegierigen und zugleich geheimnisumwobenen Gelehrten. Daher fragte man Zigeuner oft um Rat, wenn man mit den eigenen Aufzeichnungen nicht weiter kam.

Ebenso wie andere Magier auch hatten sich Zigeuner einst in Clans aufgeteilt. Zigeuner war dabei nur eine Art Sammelbezeichnung. Die meisten bevorzugten es, nicht als Zigeuner sondern lieber mit ihrem Clan-Namen angesprochen zu werden, also im Falle meines Vaters Mineo eben Taikon. Trotzdem war es nicht abwertend, jemand als Zigeuner zu bezeichnen, sondern einfach nur ungenau.

Mit der Bezeichnung Zigeunerfluch verhielt es sich allerdings anders. Dieses Wort löste bei magischen Wesen immer ein bisschen Gänsehaut aus, weil es normalerweise keine Aufzeichnungen dazu gab und man seine Auswirkungen nicht abschätzen konnte. Zudem waren Zigeunerflüche häufig unglaublich stark und verhängnisvoll, denn jeder Zigeunerfluch war ein einzigartiges Kunstwerk, geformt durch die Perfektion der magischen Gabe des Erschaffers.

Wenn Joel also von dem Zigeunerfluch erfahren hatte, dann stand zu befürchten, dass er auch von meinem Vater wusste. Womöglich sogar mehr als ich Rick und seinen Freunden erzählt hatte. Einige pikante Details über meinen Vater hatte ich nämlich für mich behalten und insbesondere meine Verwandtschaft mit Neve ganz bewusst verschwiegen.

„Weiß Joel etwas über meinen Vater Mineo?“, fragte ich vorsichtig.

„Falls Hanna mir die Wahrheit gesagt hat, dann weiß Joel genauso viel wie wir auch“, sagte Silas. „Nicht mehr und nicht weniger.“

Ich sah zu Simon und Sarah, die – zumindest bisher – die Recherchearbeiten in der Bibliothek erledigt hatten. „Habt ihr in euren Aufzeichnungen noch etwas über meinen Vater herausgefunden?“

„Nein, leider nicht“, antwortete Simon. „Obwohl wir tatsächlich ein paar seltene Schriften über die Magie des fahrenden Volkes haben. Aber über Mineo oder den Taikon-Clan war nichts dabei.“

Ich atmete auf. Damit blieb meine Verwandtschaft mit Neve geheim. Vorerst zumindest. Und dafür war ich äußerst dankbar, auch wenn ich irgendwann mit Neve darüber reden musste. Hoffentlich am Sankt-Nimmerleins-Tag. Mineo Taikon war auch Neves Vater, allerdings war diese Geschichte weit weniger romantisch. Das war einer der Gründe, weshalb ich weder Neve noch den anderen davon erzählt hatte. Neves Mutter war für unseren gemeinsamen Vater nur ein Trostpflaster gewesen, um über den Verlust von meiner Mutter Luana hinweg zu kommen. Mineo hatte kein zweites Kind gewollt, nur ein wenig körperliche Entspannung. Doch Neves Mutter hatte anderes im Sinn gehabt und sich heimlich von ihm schwängern lassen. Mineo hatte Neve zwar vorbehaltlos als seine Tochter angenommen, sich um sie gekümmert und genauso geliebt wie ein Vater sein Kind lieben sollte. Aber trotzdem war Neve die aufgezwungene Tochter von einer Frau, die meinem Vater nichts bedeutet hatte. Ich hingegen war die verbotene Frucht einer romantischen Liebe, das gemeinsame Kind mit der Frau, der Mineos ganzes Herz gehört hatte und die für ihn gestorben war. Neve konnte mich ohnehin nicht leiden. Wenn sie erfuhr, dass wir Halbschwestern waren und wie es dazu gekommen war, würde sie mich endgültig hassen. Außerdem hatte Mineo alles daran gesetzt, die Herkunft seiner beiden Töchter geheim zu halten, um uns vor seinen Feinden zu schützen. Das war der zweite und wichtigere Grund, zu verschweigen, dass Neve und ich Halbschwestern waren. Ich wollte Neve nicht in Gefahr bringen.

„Du wirkst nicht sehr enttäuscht, dass wir keine neuen Informationen über Mineo Taikon gefunden haben“, stellte Moira fest.

„Ich hatte nicht erwartet, dass mir meine Familiengeschichte auf dem Silbertablett präsentiert wird. Mineo hat sich verdammt viel Mühe gegeben, mich und meine Abstammung zu verbergen. Zudem beherrscht er die Magie der Schrift. Was wird er mit diesen Kräften wohl angefangen haben, wenn er auf der Flucht war und nicht gefunden werden wollte? Nach irgendwelchen schriftlichen Aufzeichnungen über ihn zu suchen ist müßig.“

„Hättest du uns das nicht früher sagen können?“, beschwerte sich Sarah.

„Ich dachte, das wäre sowieso klar.“

Sarah hob zu einer Erwiderung an, doch Silas schnitt ihr das Wort ab. „Angesichts der Tatsache, dass jemand unsere Geheimnisse bei Joel ausplaudert, ist es vielleicht besser so. Und um das vorweg zu nehmen: Natürlich hat mir Hanna nicht verraten, wie Joel davon Wind bekommen hat. Ich vermute, dass sie es selbst nicht weiß.“

„Nun, der Kreis der Verdächtigen ist ziemlich klein“, sagte Rick. „Wenn wir davon ausgehen, dass Joel keine Verbindung zu den Marwaree hat und wir damals am Strand unbeobachtet waren, dann weiß außer den Anwesenden hier nur einer davon.“

„Und dieser eine ist mein Freund!“, empörte ich mich. „Alec hat keinen Grund mir in den Rücken zu fallen und mich an Joel auszuliefern! Alec will mir nichts Böses antun.“

„Oh, also, Joel will dir auch nichts Böses antun“, stellte Silas klar. „Er will dich lediglich auf seine Seite ziehen und von Rick loseisen. Aus Alecs Sicht könnte man das sogar als Freundschaftsdienst sehen. Vielleicht glaubt er, dass du bei Joel besser aufgehoben bist. Joel ist reich und hat keine Skrupel, sich jeder Art von Magie zu bedienen. Joel hat womöglich sogar Kenntnisse über den Taikon-Clan. Vielleicht will Alec mehr als nur Freundschaft mit Fate und sucht in Joel einen Verbündeten, damit er den großen Zampano für dich spielen kann.“

„Wir sollten erst einmal sammeln, was wir bislang tatsächlich über Alec wissen“, schlug Agatha vor. „Momentan sind wir noch nicht einmal sicher, ob er sich in Aston aufhält.“

„Er hat Rick und Fate in Frantow geholfen anstatt sich mit Bud Kastor zu verbünden“, ließ Neve verlauten. „Und ich habe ihm mein Leben zu verdanken. Das spricht doch zweifelsohne für ihn.“

„Aber ganz am Anfang wollte er uns beide umbringen“, entgegnete Bryan. „Fate wollte er ursprünglich auch töten. Das spricht zweifelsohne gegen ihn.“

„Nein, aufhören“, schaltete sich Moira ein. „Nicht schon wieder eine Diskussion über Alecs Charakter. Wir werden zuerst Fakten sammeln.“

„Fakt ist, dass er hinter Fate her ist“, brummte Rick.

„Er wollte damals doch nur mit mir reden“, nahm ich Alec in Schutz. „Du hast selbst zugegeben, dass er mich beschützen will.“

„Auch wenn er behauptet, dein Freund ...“

„Keine Spekulationen“, unterbrach ihn Moira. „Nur Tatsachen.“

Stille.

„Er steht auf weiße Rosen“, versuchte sich Lluh an einem Scherz.

Ich musste lächeln. Doch den anderen war nicht nach Scherzen zumute, am allerwenigstens Rick, wenn es um weise Rosen ging. Zu Beginn unserer Freundschaft hatte mir Alec eine weise Rose vor die Tür gelegt: Als Friedensangebot und Zeichen der Freundschaft. Rick war davon wenig begeistert gewesen. Auch jetzt sah er aus, als wollte er jemanden erwürgen. Lluh brummte etwas von humorlosem Pack und gab es auf.

„Wir wissen nichts über ihn, genau das ist doch das Problem“, sagte Bryan schließlich.

„Ein sehr großes Problem sogar“, meldete sich Agatha zu Wort. „Er ist Hauptgesprächsthema bei den Neulingen.“

„Vor allem bei den weiblichen Neulingen“, bestätigte Simon. „Dank Fates Roman sehen sie in ihm einen romantischen, tragischen Held und solchen Unsinn.“ Simon rümpfte die Nase und machte deutlich, dass er Ricks Meinung über Alec teilte.

„Wenn Alec hier auftaucht, sind unsere Neulinge also leichte Beute für ihn“, überlegte Silas.

„Richtig“, bestätigte Simon. „Und zwar in jeder Hinsicht. Ihre Kräfte sind nur schwach und ihr Blick sentimental verklärt.“

„Denkst du, Alec könnte sie auf Joels Seite ziehen?“

Simon dachte angestrengt nach. „Ich bin mir nicht sicher. Der Punkt ist, dass sie Fates Roman in jeder Hinsicht ernst nehmen, auch das, was Fate über Joel geschrieben hat.“

„Außerdem sind sie viel zu sehr in Rick vernarrt“, warf Sarah ein.

Rick machte ein verständnisloses Gesicht. „Ich kenne sie doch gar nicht.“

„Rick kann nichts dafür.“ Sarah lächelte süßlich. „Fate hätte sich früher überlegen sollen, wie sie Rick schildert. Unsere weiblichen Neulinge schwärmen regelrecht von ihm. Als ich ihnen erzählte, dass auch Rick bei dem Selbstverteidigungskurs dabei sein wird, waren sie hellauf begeistert.“

Vermutlich meinte Sarah es nicht böse. Sie betrachtete mich einfach nicht als Ricks feste Freundin. Womit sie im Prinzip recht hatte. Ich wusste das und jedem anderen war es auch klar. Es sprach nur keiner laut aus. Außer Sarah.

Verdammter Mist! Ich hatte keine Kräfte, war ein Mischlingsbastard und außerdem völlig nutzlos. Uninteressant. Und nun musste ich auch noch mit einer ganzen Horde weiblicher Jung-Magierinnen konkurrieren. Ich biss die Zähne zusammen. Das Leben war hart, aber ungerecht.

„Wollten wir nicht eigentlich über Alec reden?“, brachte Debby das Gespräch wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. „Wir wissen noch immer nicht, was er in Frantow getrieben hat und wo er jetzt ist. Habt ihr etwas Neues über ihn gehört?“

Moira schüttelte den Kopf. „Nur, dass er wahrscheinlich nach Aston zurückgekehrt ist. Ziemlich plötzlich. Der Gedanke, Alec könnte sich mit Joel verbünden ist äußerst beunruhigend.“

„Das wird er nicht tun!“, widersprach ich voll Überzeugung. „Erstens ist er ein Einzelgänger und zweitens würde er niemals mit einer hinterhältigen Schlange wie Joel gemeinsame Sache machen.“

Rick stöhnte auf und warf Moira einen entnervten Blick zu. „So geht das schon die ganze Zeit. Sie scheint unseren blonden Schönling für einen wahren Engel zu halten. Nur weil er niedlich aussieht, heißt das nicht ...“

„Verdammt noch mal!“, fiel ich ihm ins Wort. „Hältst du mich für so oberflächlich? Ich kann sehr genau zwischen Alecs Charakter und seinem attraktiven Äußeren unterscheiden!“

„Aber du findest ihn attraktiv.“ Ricks Augen funkelten mich herausfordernd an.

„Ja. Er ist nun mal attraktiv. Und?“

„Und er ist deine Lieblingsfigur.“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Schluss!“, rief Moira dazwischen. „Alle Beide. Jetzt will ich erst mal wissen, was das mit der Lieblingsfigur soll.“

„Wer gibt dir das Recht den Inhalt meiner Tagebücher überall lauthals herum zu posaunen?“, fauchte ich Rick an. Dass Alec meine Lieblingsfigur war, wusste Rick nur deshalb, weil er meine Tagebücher gelesen hatte. Und zwar ohne mein Einverständnis! Anfangs hatte mich Rick für eine Verräterin gehalten, die in ihrem Schundroman alle möglichen Geheimnisse über magische Wesen ausplauderte. Meinen mündlichen Beteuerungen, dass ich fälschlicherweise angenommen hatte, mein Roman über Neve und Bryan wäre meiner eigenen Fantasie entsprungen, hatte er natürlich nicht geglaubt. Daher hatte er meine Tagebücher gelesen, um herauszufinden, was ich im Schilde führte und ob ich vertrauenswürdig war. Für mich war das schlimmer als jede Folter gewesen und ich hatte es nur deshalb ertragen, weil er versprochen hatte, niemandem den Inhalt meiner Tagebücher zu verraten!

„Rick hat bislang gar nichts von deinen Tagebüchern erzählt“, schaltete sich Moira ein. „Er hat sich vielmehr strikt geweigert, mit uns über den Inhalt zu reden. Sehr zum Missfallen von Anselm, wenn ich das hinzufügen darf. Was er in deinen Tagebüchern gelesen hat, hütet Rick wie einen Goldschatz. Auch als wir dich kaum kannten, gab er uns auf jede Frage danach lediglich zur Antwort, der Inhalt beweise deine Vertrauenswürdigkeit und mehr müssten wir darüber nicht wissen. Aber wie mir scheint, stimmt das nicht ganz“, fügte sie tadelnd hinzu.

Doch ich beachtete sie nicht, ich hatte nur Augen für Rick, der mich mit ausdrucksloser Miene ansah. Zögernd machte ich einen Schritt auf ihn zu. „Das hast du wirklich gesagt?“, flüsterte ich. „Obwohl du mich kaum kanntest?“

Rick zuckte abweisend die Achseln.

„Es tut mir leid.“ Vorsichtig näherte ich mich ihm und berührte mit den Fingerspitzen seinen Handrücken. Er reagierte nicht. Verlegen wollte ich meinen Arm wieder zurückziehen, doch da spürte ich auf einmal, wie seine starken Finger sich um mein Handgelenk umschlossen.

„Komm her“, raunte er und zog mich fest an sich. Seine Lippen drückten sich sanft auf mein Haar. „Und jetzt erklär uns, wieso ausgerechnet Alec deine Lieblingsfigur ist.“ Ricks Stimme klang nüchtern, distanziert. Doch seine Finger gruben sich so tief in meinen Unterarm, als fürchtete er, ich könnte weglaufen.

Ich streichelte beruhigend seinen Rücken. „Alec ist nicht meine einzige Lieblingsfigur, erinnerst du dich?“

„Ungern. Mit Alec auf eine Stufe gestellt zu werden, ist alles andere als schmeichelhaft.“

„Könntet ihr es auch so erzählen, dass es jemand versteht, der deinen Tagebücher nicht gelesen hat?“, fragte Debby ungeduldig.

„Ich habe zwei Lieblingsfiguren“, antwortete ich. „Ich meine, hatte ich, bevor ich wusste, dass ihr alle real seid und nicht nur irgendwelche eingebildeten Fantasiegestalten in meinem Kopf.“

„Erzähl von deinen beiden Lieblingsfiguren“, sagte Moira. „Wir verstehen schon, wie du es meinst.“

„Die eine Lieblingsfigur ist Alec und die andere ist Rick. Aber aus ganz verschiedenen Gründen. Na ja vielleicht nicht ganz so verschieden. Beide sind komplizierter als die anderen Figuren und dadurch für mich als Schriftstellerin eine Herausforderung. Rick sogar noch mehr als Alec. Bei Alec wusste ich wenigstens was in ihm vorging. Bei Rick hingegen ... Ich konnte nie über Rick schreiben. Ich weiß nicht, ob euch das aufgefallen ist. Alle anderen Figuren konnte ich auch aus der Innenperspektive schildern, was der oder diejenige denkt und fühlt, wie sie oder er die Dinge sieht. Es machte mir Spaß, die verschiedenen Sichtweisen gegenüberzustellen. Aber es gibt in meinem ganzen Roman keine einzige Passage, die aus Ricks Sicht geschrieben ist. Obwohl ich es verdammt oft probiert habe. Ich konnte es einfach nicht. Weil ich keine Ahnung hatte, was in ihm vorging. Ich wusste noch nicht mal, was er als nächstes tun würde. Erst in dem Moment, in dem ich darüber schrieb. Es faszinierte mich, ihn zu beobachten, ihn mit den Augen seiner Freunde und auch seiner Feinde zu sehen. Es zog mich regelrecht in seinen Bann. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass Bryan der eigentliche Held meiner Geschichte war und nicht Rick. Es juckte mich in den Fingern, eine Geschichte über Rick zu schreiben, denn wenn ich über jemanden schreibe, dann bin ich ihm nahe und ...“

„Also ich verstehe ja, dass du gerne über Rick sprichst“, unterbrach mich Moira amüsiert. „Aber eigentlich wollten wir etwas über Alec erfahren.“

Ich spürte wie ich rot wurde.

Rick streichelte meinen Arm. „Lasst Fate ruhig weitererzählen. Ich finde das sehr aufschlussreich.“

„Also, Alec.“ Ich räusperte mich verlegen. „Nun ... wie gesagt, bei Alec wusste ich, was in ihm vorging. Doch er war weitaus unberechenbarer als alle anderen. Ich war mir nie so ganz sicher, wie er sich verhalten würde, wahrscheinlich weil er es selbst nicht wusste. Er war innerlich zu zerrissen. Auf den ersten Blick ein klassischer Bösewicht, fast schon ein Klischee. Doch die Liebe, mit der er seine Schwester behandelte, passte nicht ins Bild eines skrupellosen, machthungrigen Mörders. Er hätte alles für seine Schwester Susan getan. Sie wusste das. Das war der Unterschied zwischen Susan und Alec. Seine Schwester war berechnend und kalt. Alec hingegen handelte aus Liebe und blieb dabei in ständigem Konflikt mit seinem Gewissen. Als er Neve und Bryan zusammen sah, kam ihm zum ersten Mal der Verdacht, dass Susan seine Liebe möglicherweise gar nicht erwiderte und das fraß ihn langsam auf. Versteht ihr? Alec wollte das Richtige tun. Wann immer er mit seinem Gewissen kämpfte, dann war es aus Liebe zu seiner Schwester Susan. Aber Susan gibt es jetzt nicht mehr. Alec selbst hat sie getötet, als er erkannte, dass sie ihn nur benutzte, dass sie ihm etwas vorspielte. Es hat ihm sein Herz gebrochen, auch wenn das verdammt kitschig klingt. Aber es so ist nun mal. Er hat Susan geliebt, aber eben nur das, was sie ihm vorgespielt hat. Die Susan, die er geliebt hat, hat es in Wirklichkeit nie gegeben.“

„Also hat er Susan aus Rache getötet?“, fragte Moira. „Weil sie ihm etwas vorgemacht hat?“

„Nein, nein“, widersprach ich. „Er hat sie getötet, um Neve zu retten. Er wollte einfach nur das Richtige tun.“

„So hast du es auch in dem Roman dargestellt“, sagte Moira sachlich. „Aber was lässt dich so sicher sein, dass Alec tatsächlich so empfindet?“

„Ich ... na ja, es ist so ein Gefühl.“ Hilflos zuckte ich die Achseln. „Habe ich mich denn bei euch anderen getäuscht?“

„Gut, sagen wir mal, du hast recht mit dem, was du über Alec geschrieben hast“, räumte Moira ein. „Trotzdem lässt das noch keinen Schluss über sein jetziges Verhalten zu. Dein Schreiben mag der Realität entsprechen, doch du hast über ihn geschrieben, wie er damals war. Nicht darüber, wie er jetzt ist. Dennoch gehst du wie selbstverständlich davon aus, dass er nun zu den Guten gehört.“

„In meinen Augen hat er mehr oder weniger schon immer zu den Guten gehört.“

„Hmpf“, knurrte Rick. „Ich fürchte, so kommen wir nicht weiter. Solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, stufe ich Alec weiterhin als Feind ein.“

„Ich weiß nicht“, sagte Moira. „Solange nur Neve für ihn Partei ergriffen hat, schob ich es darauf, dass sie ihn in gewisser Weise als ihren Lebensretter betrachtet und dies ihr sonst so gutes Urteilsvermögen trübt. Aber Fate Kräfte sind das Schreiben und ihre Herkunft bestätigt das. Ihr Vater besaß die Magie der Schrift und ihre Mutter war eine Seherin der Marwaree. Wenn also auch Fate denkt, dass Alec …“

„Er ist eine der Hauptfiguren ihres Buches“, fiel ihr Rick ins Wort. „Ist doch klar, dass sie ihn in Schutz nimmt.“

„Damit machst du es dir zu einfach“, widersprach Moira. „Auf Susan und Marc trifft das ebenfalls zu und die beiden nimmt Fate nicht in Schutz.“

„Sind ja auch beide tot. Da ist nichts mehr zu verteidigen.“

„Ich teile Ricks Meinung“, mischte sich Silas ein. „Ich fürchte, dass sich Alec durch den Tod von Susan eher zum Schlechten verändert hat. Er hat schließlich das einzige verloren, was ihm wichtig war, noch dazu durch seine eigenen Hände. Vielleicht will er sich jetzt an Neve und Bryan rächen, weil sie ihn dazu gebracht haben.“

„Klingt logisch“, sagte Rick.

„Finde ich nicht“, widersprach ich.

„Willst du riskieren, dass er Neve und Bryan tötet, weil wir auf deine blauäugige Version von ihm vertrauen?“

„Nein“, gab ich kleinlaut zu.

„Weiß denn niemand, wo sich Alec rumtreibt, wenn er nicht gerade Fate nachstellt?“, fragte Rick.

Silas räusperte sich. „Also, es geht das Gerücht um, dass er sich ab und zu in der Gollonen-Bar sehen lässt.“

„Bei Loquom?“

„Wer ist Loquom?“, fragte ich.

„Notgeiler Abschaum“, brummte Rick.

„Ja, das ist eine treffende Beschreibung“, stimmte Bryan zu.

„Geht es auch ein kleines bisschen genauer?“, bohrte ich nach.

„Loquom ist ein Dämon“, antwortete Neve. „Ein ziemlich ekelhafter Typ, wenn du mich fragst. Er ist fett, richtig schwabbelig und hat eine teigige violette Haut. Außerdem hat er überall eitrige Pickel, sogar auf seiner Glatze. Und dann diese glasigen rosa Augen ...“

„Woher weißt du so genau, wie er aussieht?“, fragte Bryan.

„Weil ich ihn gesehen habe.“

„Wer zur Hölle hat dich in die Gollonen-Bar mitgenommen?“ Bryan sah vorwurfsvoll zu Rick. Doch dieser hob abwehrend die Hände.

„Ich war das“, ließ Debby verlauten.

„Und wieso?“ Bryan wurde rot vor Wut.

„Mich würde eher interessieren, was Debby dort verloren hatte“, warf Rick ein. „Du hättest mich mitnehmen sollen.“

„Genau das war der Grund“, sagte Neve genervt. „Weil Debby und ich die Nase voll hatten von eurem Macho-Gehabe.“

„Die Gollonen-Bar ist kein Ort für Frauen“, knurrte Rick. „Noch nicht mal für so wehrhafte wie Debby.“

„Wie kann man denn nur so maßlos übertreiben“, ereiferte sich Neve. „Zugegeben, es ist nicht gerade ein Ort der Gleichberechtigung. Aber sie fallen dort auch nicht wie hungrige Wölfe über einen her. Außerdem gibt es in der Gollonen-Bar genug willige Frauen.“

Silas schnaubte abfällig. „Gelangweilte geldgeile Flittchen.“

„Offensichtlich warst du auch schon in dieser Bar“, bemerkte Debby spitz. „Was hat dich dorthin geführt?“

„Was genau habt ihr da eigentlich gemacht?“, gab Silas die Frage zurück.

„Was denkt ihr denn, woher wir das Gerücht haben, dass Alec nach Aston zurückgekehrt ist?“, antwortete Neve.

„Also macht er mit Loquom gemeinsame Sache?“, fragte Silas.

Neve schüttelte den Kopf. „Das wissen wir nicht. Aber Loquom ist wie jeder andere machthungrige Dämon an einzelgängerischen Magiern interessiert.“

„Was hat euch Loquom erzählt?“

„Wir konnten ihm nur entlocken, dass sich Alec für eine Weile nach Frantow verzogen hatte, aber demnächst wieder nach Aston zurück will.“

„Dann wurden wir leider auch schon erkannt“, erzählte Debby weiter. „Und Loquom machte uns unmissverständlich klar, dass er auf Moira nicht besonders gut zu sprechen ist und er ihre kleine neugierige Horde, wie er sich ausdrückte, sicherlich nicht unterstützen wird.“

„Schade eigentlich“, meinte Neve. „Bevor er wusste, dass wir zu Moira gehören, war er äußerst zugänglich.“

„Kann ich mir denken.“ Rick betrachtete sie kopfschüttelnd. „Ihr seid ja auch zwei attraktive Frauen. Noch dazu menschenähnlich. Ihr seid das perfekte Appetithäppchen für ihn.“

„Danke“, sagten Neve und Debby wie aus einem Munde.

„Warum hast du mir das nicht erzählt, Neve?“, beschwerte sich Bryan.

„Weil ich genau wusstest, wie du reagieren würdest“, entgegnete sie. „Außerdem hast du nie gefragt.“

„Verdammt noch mal, du ...“

„Hör auf, dich künstlich aufzuregen“, unterbrach ihn Debby. „Jetzt ist es sowieso zu spät.“

Moira sah seufzend in die Runde. „Ihr solltet euch in Zukunft besser koordinieren. Denn wenn ich das richtig sehe, dann kennt man mittlerweile außer Simon und Sarah jeden von euch in der Gollonen-Bar. Ich hatte eigentlich gehofft, Silas wäre dort noch unbekannt.“

„Nein, tut mir leid“, entgegnete Silas mit einem schiefen Grinsen. „Man kennt mich. Und man weiß auch, dass ich auf eurer Seite bin. Seitdem kann ich froh sein, wenn man mir kein vergiftetes Bier serviert. Von Sarah und Simon scheint es dort auch schon einen Steckbrief zu geben.“

„Kein Wunder“, warf Bryan ein. „Loquom ist nicht dumm. Vermutlich hat er sich nach Neves und Debbys Erscheinen gründlich umgehört, wer noch alles zu uns gehört.“

„Damit sind also alle Möglichkeit vergeben, bei Loquom mehr über Alec zu erfahren“, konstatierte Moira.

„Ist auch egal“, sagte Rick. „Wir haben doch sowieso keine Ahnung, wann die Gollonen-Bar das nächste Mal geöffnet ist. Meine Informanten sind diesbezüglich sehr schweigsam geworden.“

„Was ist das für eine seltsame Bar?“, fragte ich lauernd dazwischen. Mir war eine Idee gekommen, eine verdammt gute Idee, wie ich fand. Damit könnte ich wenigstens zeigen, dass ich nicht völlig nutzlos war – und gleichzeitig beweisen, dass ich keineswegs beschützt werden musste, sondern eine selbstbestimmte und wehrhafte Frau war.

„Loquom hat seine Bar damals eigentlich nur eröffnet, weil man ihn in keine andere Kneipe mehr rein gelassen hat“, erklärte mir Silas. „Loquom ist – vorsichtig ausgedrückt – ein wenig exzentrisch und hält sich an kein Gewaltverbot. Ironischerweise hat er seine Bar mit einem Bann belegt, der es unmöglich macht, dort zu zaubern. Man darf sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, aber eben nicht mit magischen Kräften.“

„Das heißt, ihr könnt dort auch keinen Tarn-Zauber oder was Ähnliches anwenden?“

„Richtig. Dort herrscht das Gesetz des Stärkeren. Wohlgemerkt des körperlich Stärkeren.“

„Ein Grund mehr, weshalb es kein Ort für Frauen ist“, warf Rick ein. „Dort verkehrt nur Abschaum.“

„Deine Informanten zum Beispiel“, ergänzte Debby schnippisch.

„Na ja, ganz so schlimm wie Rick und Bryan tun, ist nun auch wieder nicht“, wiegelte Silas ab. „Aber an sich haben sie recht: Frauen sollten sich von dort fern halten.“

„Gibt es keine Möglichkeit herauszukriegen, wann die Bar offen hat?“, bohrte ich nach.

„Debby hat das damals durch Zufall erfahren“, antwortete Neve. „Loquom öffnet sie nach Lust und Laune. Das kann in der nächsten halben Stunde sein, es kann aber auch noch drei Monate dauern.“

„Das Timing ist nicht das Problem“, murmelte Silas. „Ich weiß aus sicherer Quelle, dass die Bar heute Abend, so in knapp fünf Stunden, geöffnet hat. Aber gleichzeitig mit dieser Information wurde mir auch sehr deutlich gemacht, dass mich dort ein Arschtritt erwartet. Echt schade um diese verpasste Gelegenheit ...“

„Ich könnte doch gehen“, rief ich.

Alle Köpfe drehten sich zu mir. Entgeisterte Gesichter starrten mich an.

„Nein“, sagte Rick.

„Was spricht denn dagegen? Mich kennt dort noch keiner.“

„Ich werde hingehen!“ Lluh zog mich unsanft an den Haaren. Er schien von meiner Idee auch nicht besonders begeistert zu sein.

„Vergiss es, Lluh“, sagte Silas. „Loquom hasst Viggille und auch alles andere, was fliegen kann. Er würde dich hochkant wieder rausschmeißen. Und deine magischen Kräfte kannst du dort nicht anwenden. Unsichtbar machen ist also nicht drin.“

„Bestens“, meinte ich gut gelaunt. „Also werde ich gehen und dort mein Glück versuchen.“ Endlich konnte ich den anderen zeigen, dass ich sowohl nützlich als auch vertrauenswürdig war. Nicht nur Ballast. Oder ein Betthäschen. „Wann macht die Bar auf? In fünf Stunden, sagtest du?“

„Du wirst nicht gehen“, widersprach Rick.

„Verdammt noch mal! Wieso denn nicht?“ Ich plusterte mich auf, um ein bisschen größer zu wirken. Lluh verlor den Halt auf meiner Schulter und flatterte mit einem empörten Grunzen in die Luft. Angriffslustig funkelte ich Rick an. Ich war nicht bereit, mir diese Gelegenheit entgehen zu lassen.

„Ja, warum eigentlich nicht?“, kam mir Neve unerwartet zu Hilfe. „Die Idee ist gar nicht so schlecht. Solange man nicht mitbekommt, dass Fate zu uns gehört, sollte es eigentlich keine Probleme geben. Loquom kauft seine Frauen mit Geld, frei nach dem Motto jeder hat seinen Preis. Wenn jemand tatsächlich nicht käuflich ist, akzeptiert er das normalerweise. Auf Gewalt steht er nicht, also zumindest nicht darauf, selbst Gewalt anzuwenden, dazu ist er viel zu faul. Er schaut nur gerne zu. Prügeln und Vergewaltigen überlässt er anderen.“

„Nein!“, blaffte Rick.

„Glaubst du vielleicht, ich krieg das nicht hin?“, fragte ich herausfordernd.

„Verfickte Scheiße! Reicht es dir nicht, dass dich heute beinahe die SOLFs geschnappt hätten!“

„Und am liebsten würdest du auch dafür Alec die Schuld in die Schuhe schieben“, fauchte ich zurück. „Ich habe die Schnauze gestrichen voll davon, dass ihr ständig auf Alec rumhackt! Er ist mein Freund! Er hat mir mehr als nur einmal den Hals gerettet. Er würde niemals mit Joel gemeinsame Sache machen! Genau das wird man mir in dieser Gollonen-Bar bestätigen. Mit ein bisschen Glück bekomme ich sogar heraus, wer euch an Joel verrät. Oder hast du vielleicht eine bessere Idee? Ihr habt eine undichte Stelle und wir haben keine Zeit, weil wir nicht wissen, wann die Bar das nächste Mal aufmacht. Euch lässt man dort sowieso nicht rein. Vermutlich nie mehr! Aber mich kennt dort noch keiner. Betonung auf noch! Es ist unsere beste Chance herauszubekommen, wer euch bespitzelt.“

„Damit hat sie leider recht“, bestätigte Simon, der sich bislang heraus gehalten hatte. „Es ist momentan sogar unsere einzige Chance. Ich will nicht riskieren, dass Alec sich an unseren Neulingen vergreift. Wenn er sich mit Joel verbündet hat, dann ...“

„Das hat er nicht!“, rief ich. „Und ich werde es euch beweisen.“

„Du wirst gar nichts tun!“, rief Rick. „Du hast heute schon genug ...“

„Vielleicht wäre es ein heilsamer Schock“, fiel ihm Silas ins Wort. „Wenn Fate es selbst herausbekommt, wo und mit wem sich Alec herumtreibt, wird ihr das bestimmt die Augen öffnen und sie wird endlich ihre Scheuklappen abnehmen. Denk nach, Rick: Wir können uns hier den Mund fusselig reden, sie wird Alec weiterhin einen Heiligenschein aufsetzen. Aber sollte womöglich sogar Loquom persönlich ihr die Wahrheit erzählen, dann wird sie Alec sicherlich nicht mehr als ihren Freund betrachten.“

Rick zog die rechte Augenbraue nach oben und rieb sich das Kinn. Ich kannte diesen Gesichtsausdruck. Meine Chancen stiegen.

„Nein“, sagte Rick schließlich. „Es ist zwar verlockend, ihr die ungeschönte Version von Alec zu präsentieren. Aber es ist einfach viel zu gefährlich. Ich habe schon einmal den Fehler gemacht, mich von ihr zu einem Undercover-Einsatz überreden zu lassen.“

„Da sind wir aufgeflogen, weil man dich erkannt hat“, warf ich ein. „Und nur falls du es vergessen hast: Alec hat uns damals den Hals gerettet. Uns beiden, nicht nur mir. Außerdem solltet ihr mich nicht länger verhätscheln“, zitierte ich Anselm und warf ihm einen giftigen Blick zu. „Auch ich will für etwas nütze sein und nicht nur eine Unruhestifterin. Es wird Zeit, mir euer Vertrauen zu verdienen.“ Ich fixierte Anselm abschätzend.

Er erwiderte meinen Blick mit ruhiger Gelassenheit. „Gute Ohren und gutes Gedächtnis“, entgegnete Anselm ohne auch nur die geringste Gefühlsregung zu zeigen. „Ausnahmsweise stimme ich Fate voll und ganz zu.“

„Fate fehlt die Erfahrung für ein solches Vorhaben“, wandte Rick ein.

„Dann ist das jetzt eine passende Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln“, erwiderte ich.

„Nein, verdammt noch mal“, fluchte er lauthals.

„So läuft das nicht, Rick“, mischte sich Debby ein. „Du musst dich endlich entscheiden, was du willst. Mit Fate ins Bett zu gehen, ist die eine Sache. Aber sie in alles einzuweihen und zu unseren Treffen mitzubringen eine ganz andere. Wenn du nur Sex willst, dann das ist deine Privatangelegenheit. Aber wenn du möchtest, dass sie eine von uns ist, dann darf sie ruhig auch mal ihren Hintern riskieren. Bei Loquom ein bisschen herumzuschnüffeln ist nun wirklich keine große Sache.“

Erstaunt sah ich Debby an. Ich wusste nicht, ob ich angesichts ihrer deutlichen Worte sauer oder dankbar sein sollte.

„Das kannst du doch nicht vergleichen!“ Rick raufte sich die Haare. „Sie hat keine magischen Kräfte. Wie soll sie sich denn wehren? Sie hat doch keine Ahnung von unserer Welt und …“

„Dann schaff sie hier weg“, fiel ihm Debby ins Wort. „Nur weil du mit ihr ins Bett steigst ...“

„Ich bin kein Ding, das man wegschafft!“, rief ich. „Wenn ihr mir nicht vertraut und mich nicht haben wollt: Okay, dann geh ich. Ich dränge mich nicht auf. Aber ich werde euch trotzdem beweisen, dass ihr Alec Unrecht tut. Zur Hölle mit Loquom und dieser verdammten Gollonen-Bar!“, fluchte ich. „Ich werde Alec auch anders finden. Aber nicht weil ich ihm misstraue, sondern weil er mein Freund ist und ich um ihn besorgt bin! Ist einem von euch vielleicht schon mal der Gedanken gekommen, dass wir ihn nicht finden können, weil ihm etwas zugestoßen ist?“ Oder er Todessehnsucht hatte. Ich machte mir schon seit Tagen entsetzliche Sorgen um ihn. Ich hatte sogar Alpträume deswegen. „Wenn es sein muss, dann ziehe ich das eben ohne euch durch.“

„Du glaubst doch nicht allen Ernstes, dass ich dich alleine durch die Gegend spazieren lasse“, knurrte Rick.

„Ach? Und wie willst du das verhindern?“, fragte ich provozierend. „Willst du mich etwa einsperren oder wieder in Ketten legen? Oder mich gegen meinen Willen aus Aston wegbringen?“ Bevor Rick etwas erwidern konnte holte ich zum Tiefschlag aus. Ich tat das nicht gerne, aber es war nötig. Nicht nur, weil ich Alec helfen wollte und – zugegeben – auch auf diese kleine Mutprobe scharf war. Sondern vor allem, um mir ein für allemal die nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen und Rick klar zu machen, dass ich mich nicht von ihm bevormunden ließ. „Wenn du mich mit Gewalt zwingst, dann wäre das ein gefundenes Fressen für Joel. Eure undichte Stelle wird ihm mit Freuden davon berichten, dass Rick seine Neulinge wie Gefangene behandelt. Wenn sich das herumspricht – und dafür wird Joel sorgen – dann wird euch kein einziger Neuling mehr vertrauen. Sie werden Joel in Scharen zulaufen.“

Eisiges Schweigen senkte sich über die Gruppe.

„Jetzt hat sie dich bei den Eiern“, brachte Silas schließlich hervor.

„Sie spricht nur das aus, was wir alle denken“, kommentierte Debby.

„Du erpresst mich?“ Ricks Augen funkelten mich an. „Wieder einmal erpresst du mich, um deinen Willen durchzusetzen?“

„Ich versuche nur, dir klar zu machen, dass ich meinen eigenen Willen habe, denn das scheinst du gerne zu vergessen. Ich bin ein freies Wesen und treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich lasse mir von niemandem Vorschriften machen, auch nicht von dir.“

Plötzlich setzten sich Bryan und Neve gleichzeitig in Bewegung und kamen auf uns zu. Bryan schnappte sich Rick und verzog sich mit ihm in eine Ecke, während Neve mich beiseite nahm.

Verwirrt sah ich sie an.

„Ich verstehe dich, Fate“, sagte sie mit gedämpfter Stimme, damit uns die anderen nicht hören konnten. „Aber du musst hier niemandem etwas beweisen.“

„Ich schätze das etwas anders ein“, entgegnete ich ebenso leise und sah kurz zu Anselm. Außerdem musste ich vor allem mir selbst beweisen, dass ich nicht nur ein hilfloses Anhängsel von Rick war. „Doch abgesehen davon will ich es tun.“

„Zwischen dir und Rick wird das nichts ändern.“

„Ich weiß.“ Rick war keine Tapferkeitsmedaille, die man gewinnen konnte. „Das ist auch nicht der Grund. Alec ist mein Freund. Ich muss seine Unschuld beweisen. Ich muss wissen, dass es ihm gut geht. Und ich ... ich will ... ich will zu euch gehören, euch allen. Aber ich lasse mich nicht einsperren. Auch nicht von Rick.“

Neve betrachtete mich nachdenklich. „Gut“, sagte sie schließlich. „Ich denke, ich verstehe.“

Ich warf einen unsicheren Blick zu Bryan, der auf Rick einredete. „Was sagt er zu Rick?“, fragte ich.

Neve zuckte die Achseln. „Vermutlich, dass Frauen dickköpfig sind und Emanzipation abgeschafft werden sollte“, antwortete sie mit einem schiefen Lächeln. „Und dass er aus eigener Erfahrung weiß, dass Rick dich nicht davon abhalten kann, das zu tun, was du willst und er deine Entscheidung wohl oder übel akzeptieren muss. Außerdem wird er ihm natürlich sein Mitgefühl aussprechen, ebenso wie er selbst zum schwächeren Geschlecht zu gehören.“

Ich musste lachen.

„Dann auf in den Kampf“, sagte Neve. „Meine Unterstützung hast du.“

Gestärkt durch Neves Zuspruch wandte ich mich wieder den anderen zu. „Ich kann sicher die eine oder andere Information aufschnappen. Ich bin geübt darin, nicht aufzufallen, es wird kein Problem für mich sein, unbemerkt in die Bar rein und wieder raus zu kommen.“

„Unbemerkt? Vergiss es!“, widersprach Debby und ein verschmitztes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Du wirst auffallen, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen. Wie gesagt, Loquom hat eine Schwäche für menschenähnliche Frauen“, begann sie ihre Absicht zu erklären. „Wenn du Information von ihm willst, solltest du mit deinen äußeren Reizen arbeiten. Ich weiß, was Loquom so richtig scharf macht. Gebt mir zwei Stunden mit Fate, dann wird ihr Loquom aus der Hand fressen.“

„Debby, nein!“, protestierte Rick erneut. Seine Stimme klang weniger ärgerlich als hilflos. Offenbar spürte er, dass er auf verlorenem Posten kämpfte.

„Lass sie doch“, widersprachen Simon und Neve wie aus einem Munde. Bryan seufzte.

„Ähm, also ...“, stotterte ich verwirrt. „Deine Styling-Künste in allen Ehren, Debby, aber ich glaube nicht, dass du aus mir ein Super-Model machen kannst. Ich denke es ist besser, wenn ich versuche, dort unauffällig ...“

„So ein Unsinn“, fiel mir Debby ins Wort. „Wie willst du unauffällig am Türsteher vorbeikommen? Beim heimlichen Lauschen wirst du nur erwischt und das wäre gar nicht gut. Außerdem musst du das Gespräch lenken, sonst reden sie womöglich die ganze Zeit über ihre neuesten Eroberungen und verlieren kein einziges Wort über Alec. Die direkte Methode ist besser und sicherer. Es sei denn du hast Angst.“

„Ich habe keine Angst! Na schön, Debby, dann versuch dein Glück.“ Wenn sie einsah, dass ich ein hoffnungsloser Fall war, konnte ich mich schließlich immer noch einschleichen.

„Fate, du wirst nicht ...“, begann Rick erneut.

„Sag du mir nicht, was ich tun soll!“, unterbrach ich ihn mit warnendem Tonfall. Ich hatte Debby, Neve und Simon auf meiner Seite. Sogar Anselm unterstützte mich, auch wenn mir seine Gründe nicht gefielen.

„Lass sie“, schaltete sich Bryan ein. „Du kannst sie sowieso nicht davon abhalten. Glaub mir, ich habe Erfahrung mit sturköpfigen Frauen.“

Rick wollte erneut protestieren, doch Debby hatte bereits meine Hand ergriffen und zog mich hinter sich her. Neve folgte uns ebenfalls. Noch im Gehen kramte Debby ihr Handy aus der Tasche und wählte eine eingespeicherte Nummer. „Martha? Hier ist Debby. Ich muss dich leider kurzfristig überrumpeln. Es ist ein Notfall, wir brauchen sofort ein scharfes Outfit für Fate. Alles andere erkläre ich dir, wenn wir bei dir sind. Ist das okay?“



3


Selbstverständlich war es okay. Ich kannte Martha bereits, sie war eine gute und sehr mütterliche Freundin von Rick. In meiner Anfangszeit bei den Magiern hatte sie mich eingekleidet und mit allem Notwendigen versorgt nachdem die SOLFS meine gesamtes Hab und Gut konfisziert hatten. Martha war eine herzensgute Frau, genauer gesagt eine Kleson, mit einer üppigen weibliche Figur und einem umwerfenden Lächeln. Klesons waren entfernte Verwandte von Gnomen, nur größer und viel hübscher mit wunderschön glänzenden dunklen Haaren. Sie hatten kleine Hände, aber dafür umso größere Füße. Dank ihrer Kleson-Magie konnte Martha quasi jeden alten Stofffetzen in ein perfekt sitzendes Abendkleid verwandeln. Wenn irgendjemand ein heißes Outfit für mich zaubern konnte (wortwörtlich!), dann war es Martha. Sie hatte an dieser kleinen Maskerade sogar einen Heidenspaß. Debby und Neve waren noch viel schlimmer. Debby schien genau zu wissen, was ihr vorschwebte. Neve war für den letzten Schliff zuständig und setzte Debbys skurrilen Kleidervorstellungen noch das letzte Sahnehäubchen auf. Mit vereinten Kräften staffierten mich die Drei aus, ohne auch nur ein einziges Mal nach meiner Meinung zu fragen. Ungefähr eine halbe Stunde lang hatte ich noch ernsthaft versucht, mich zu wehren. Doch natürlich hatte ich nie eine Chance gehabt. Erstens, so klärte mich Neve auf, waren sie diejenigen, die mit Loquom Erfahrung hatten und zweitens, fügte Debby hinzu, war ich auf ihre Unterstützung gegen diesen Macho-Club angewiesen. Letzteres Argument machte mich endgültig mundtot. Ich hatte mir den Undercover-Einsatz zu hart erkämpft, als ihn jetzt wegen irgendwelcher Klamotten zu riskieren. Seufzend übergab ich Neve den Occopa-Anhänger, den sie solange für mich in Verwahrung nahm und verkniff mir jeden weiteren Kommentar.

Als mich Debby mit dem zufriedenen Gesichtsausdruck eines Künstlers, der sein Werk vollendete hatte, aufforderte, mir das Ergebnis ihrer Bemühungen im Spiegel anzusehen, erkannte ich mich selbst kaum wieder.

Ich war in hautenge schwarze Kleider gehüllt – oder vielmehr gezwängt. Das Zeug saß so eng, dass ich mich wunderte, wieso sie keinen Schuhlöffel gebraucht hatten, um es mir anzuziehen. Sofern man überhaupt von anziehen reden konnte. Das bauchfreie Top bedeckte kaum meine Brüste. Der Rock saß tief auf meinen Hüften und endete weniger als eine Handbreit unter meinem Hintern. Am meisten Stoff gaben noch die beiden halterlosen Strümpfe her, dank derer Debby wenigstens auf Strapse verzichtet hatte. Das war aber auch schon das einzige Zugeständnis, zu dem ich sie hatte bewegen können – und das auch nur weil die Strumpfhalter nicht zum Rock passten. Dass ich sie entsetzlich unbequem fand, hatte sie wenig interessiert.

Dazu trug ich hochhackige Schuhe, deren Absatz glücklicherweise so breit war, dass ich nicht umknickte und im Zweifelsfall um mich treten konnte. Das, so klärte mich Debby auf, wäre auch der Vorteil des ultrakurzen, seitlich geschlitzten Rockes: Ich hatte damit ausreichend Bewegungsfreiheit.

Mein Gesicht hatte sie äußerste effektvoll geschminkt, fast wie eine Karikatur meiner selbst. Meine Augen wirkten dank Debbys gekonnten Kajal-Strich doppelt so groß. Ich war kreidebleich gepudert, nur unter meinen Wangen trug ich eine etwas andere Farbschattierung, was meine hohen Wangenknochen regelrecht gespenstisch hervorstechen ließ. Der blutrote Lippenstift bildete den einzigen Farbklecks in meinem Gesicht. Meine Haare hatte Debby in eine zottelige Mähne verwandelt, als wäre ich eine weibliche Version von Mogli. Alles in allem war mein Gesamteindruck schlichtweg umwerfend. Nuttig, aber umwerfend. Ich sah zwar nicht wie ein Cover-Girl aus, aber ich hätte nie gedacht, dass man mein mausgraues Erscheinungsbild in einen feuchten Männertraum verwandeln konnte.

„Stör dich nicht an der Blässe. Loquom steht auf diesen Vampir-Touch“, erklärte mir Debby. „Er mag selbstbewusste Frauen, das gibt ihm den zusätzlichen Kick, wenn er sie einkauft. Du musst stolz und zugleich lasziv auftreten. Verrucht, aber nicht zu billig, es muss so wirken, als ob du es zum Spaß machst und die Bezahlung nur ein zusätzlicher Bonus ist.“

Verunsichert sah ich sie an. Wie eine Nutte auszusehen war die eine Sache, sich wie eine Nutte zu benehmen, war etwas ganz anders.

„Ich bin mir sicher, du kriegst das hin“, beruhigte mich Debby. „Schließlich stehst du nicht zum ersten Mal auf der Bühne. Das hier ist nichts anderes als Theaterspielen.“

„Woher weißt du ...?“, begann ich verwirrt.

„Von deiner Zeit in der Laienspielgruppe? War nicht weiter schwer, das herauszufinden.“

„Du hast Nachforschungen über mich angestellt?“

„Wir beide“, sagte Neve. „Was blieb uns auch anderes übrig. Wir durften deine Tagebücher nicht lesen und Rick schien mir im Bezug auf dich nicht besonders objektiv zu sein. Und vielleicht war es auch ein bisschen Rachedurst“, gab sie freimütig zu. „Du wusstest so viele intime Dinge von mir, aber ich wusste gar nichts über dich.“

„Was hast du denn alles über mich rausgefunden?“

„So viel, dass ich mir dir gegenüber nicht mehr nackt vorkomme“, antwortete Neve.

„Vertraut ihr mir denn jetzt?“, fragte ich unsicher.

„Wir beurteilen dich nach deinen Taten“, wich Debby aus. „Du hast uns nicht an die SOLFs verraten und hast dich auch nicht von Joel kaufen lassen.“

„Außerdem hast du Rick vor dem Ertrinken gerettet“, fügte Neve hinzu. „Und bist erwiesenermaßen gegen Vampir-Erotik immun.“

Was Letzteres mit Neves Vertrauen in mich zu tun hatte, verstand ich nicht. Doch bevor ich nachfragen konnte, drängte Debby auch schon zum Aufbruch. Wir hatten an jenem Abend noch einiges vor und beeilten uns, zur Bibliothek zu kommen, um mit den anderen die letzten Details zu besprechen.


In der Bibliothek angekommen präsentierten Debby und Neve den anderen voll Stolz meine Verwandlung. Zuerst herrschte einhellige Sprachlosigkeit, dann allerdings drifteten die Meinungen weit auseinander.

„Scharfes Gerät!“ Silas grinste anerkennend. Bei dem Blick, dem ihm Rick daraufhin zuwarf, ging er unwillkürlich einen Schritt rückwärts und hob abwehrend die Hände. „Vorsicht, vermintes Gelände“, murmelte er zu sich selbst. „Ab jetzt halte ich lieber meinen Mund.“

„Verdammt noch mal, was habt ihr mit Fate angestellt?“, fluchte Rick. „Habt ihr den Verstand verloren? So kann sie doch nicht rumlaufen.“

„Und wie sie das kann!“ Debby war sichtlich verärgert. Zu recht. An ihr war eine Maskenbildnerin verloren gegangen.

„Sieh sie doch an.“ Anklagend deutete Rick mit den Fingern auf mich.

Bryan griff nach Neve und drückte sie wie ein Stück hart erkämpftes Beutegut an sich. „Ich will lieber nicht wissen, in welcher Verkleidung du dorthin gegangen bist“, murmelte er.

„Ich schätze, du willst es wirklich nicht wissen“, entgegnete Neve.

„Fate wird in diesem Aufzug nirgendwohin gehen!“, sagte Rick barsch.

„Was regst du dich eigentlich so auf?“ Debby klang beleidigt. „Sie sieht scharf aus, Loquom wird begeistert sein.“

„Das bezweifle ich auch gar nicht. Los zieh das aus“, herrschte Rick mich an.

„Ausziehen?“ Meine Stimme glitt eine Oktave tiefer und ich strich ihm verführerisch über das Kinn. „Aber Rickyboy, doch nicht vor den anderen.“

Rick war vor Verblüffung sprachlos. Ich klimperte verführerisch mit den Wimpern. Es machte richtig Spaß, das Vamp zu spielen.

„Sie ist gut“, lobte Neve.

Rick hatte sich von seiner Überraschung erholt und packte mich unwirsch am Arm. „Verflucht, du siehst aus wie ...“

„... wie eine Nutte?“, vollendete ich seinen Satz. „Aber genau das ist doch die Absicht dahinter.“

„Du siehst nicht aus wie eine Nutte“, widersprach Debby und warf Rick einen vernichtenden Blick zu.

„Das wollte ich auch gar nicht sagen“, verteidigte sich Rick.

„Was wolltest du dann sagen?“ Ich blickte ihn herausfordernd an.

„Dass du verdammt noch mal hier bleiben sollst. Natürlich wirst du Loquom gefallen, das bezweifle ich gar nicht. Aber was dann? Wie willst du da wieder raus kommen, hm? Glaubst du Loquom begnügt sich mit einem netten Abschiedslächeln? Schon mal darüber nachgedacht? Du wirst nicht in diese verfluchte Bar gehen! Schon gar nicht in diesen Klamotten.“

„Doch, genau das werde ich tun“, fauchte ich zurück. „Wenn dir das nicht passt, dann verschwinde doch.“

Rick hob zu einer Antwort an, doch Bryan kam ihm zuvor.

„Rick, du kannst sie nicht davon abhalten.“ Bryan legte beruhigend seine Hand auf Ricks Schulter. „Sie wird das in jedem Fall tun. Die Frage ist nur, ob du dabei sein wirst, um ihr im Zweifelfall helfen zu können oder hier lieber vor dich hin schmollst.“

„Soll Rick doch hierbleiben“, motzte ich. „Wir brauchen ihn nicht.“

„Doch wir brauchen ihn“, widersprach Bryan.

„Wofür? Ich muss da sowieso alleine rein.“

„Genau deswegen brauchen wir ihn“, ließ Debby verlauten. „Wir können dich nicht verwanzen, das würde der Türsteher merken. Rick hat von uns allen mit Abstand das beste Gehör, er macht damit jedem Vampir Konkurrenz. Wenn du da drin in Schwierigkeiten gerätst, dann schrei. Rick wird es hören und wir kommen dir zu Hilfe.“

Zum Henker mit Rick! Ich wollte das alleine durchziehen und den anderen beweisen, dass sie mir vertrauen konnten. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich nicht nur nutzloser Ballast war, nichts weiter als Ricks Betthäschen. Nein, ich würde nicht um Hilfe schreien. Auf gar keinen Fall!

Trotzdem war ich froh, dass Rick letztendlich doch als Rückendeckung mitkommen wollte.


Auf dem Weg zur Gollonen-Bar saß ich auf dem Beifahrersitz neben Rick, der im Schneckentempo fuhr, als könnte er damit meinen Auftritt als Gelegenheitsnutte verhindern. Debby und Neve waren auf der Rückbank. Auch Branco und Lluh hatten sich noch zu uns in den Wagen gezwängt, Branco kauerte zwischen Debby und Neve, Lluh thronte auf der Kante des Beifahrersitzes. Simon und Sarah warteten bei den drei älteren Zauberern auf unsere Rückkehr, da sie vor Ort sowieso nichts tun konnten. Bryan und Silas folgten uns jeweils mit ihren eigenen Autos. So hatten wir notfalls drei Fluchtwagen und konnten in verschiedene Richtungen verschwinden, um potentielle Verfolger abzuschütteln. Mir kam es vor, als hätte ich eine ganze Armee zu meinem Schutz dabei.

Unterwegs erklärte mir Debby, wie ich vorgehen sollte. Der Plan war denkbar simpel. Ich sollte reingehen und Loquom ein wenig anturnen, bis er ausreichend Interesse an mir hatte. Anschließend würde ich ihn über Alec ausfragen, unter dem Vorwand, dass ich noch eine Rechnung mit Alec offen hatte. Sobald Loquom anfing, mich kaufen zu wollen, sollte ich einen Rückzieher machen und ihn vertrösten, dass ich erst die Sache mit Alec zu Ende bringen wollte.

„Und was mache ich, wenn Alec dort ist?“, fragte ich.

„Dann verschwindest du sofort wieder und holst uns. Wir schnappen uns Alec und das war‘s dann.“

„Aber Alec hat euch doch überhaupt nichts getan. Ich werde ihn nicht in eine Falle locken!“

„Musst du auch gar nicht“, entgegnete Debby. „Du sollst uns doch nur Bescheid sagen, wenn er da drin ist.“

„Wenn Alec in der Bar ist und deine Tarnung auffliegt, werden sie dich sowieso hochkant rauswerfen“, sagte Neve.

„Nur wenn wir Glück haben“, brummte Rick. „Aber so optimistisch bin ich nicht. Ihr habt bei eurem ganzen hübschen Plan nämlich eine Kleinigkeit vergessen.“

„Ach ja? Was denn?“, fragte Neve.

„Fate ist mehr als nur ein unliebsamer Eindringling. Bei dir und Debby waren sie lediglich sauer, weil ihr zu Moira gehört. Doch über Fate kursiert das Gerücht, sie sei eine Seherin. Womöglich wissen sie sogar, dass sie ein Mischwesen ist. Glaubt ihr wirklich, sie lassen sie einfach so gehen?“

Stille entstand, nur das Brummen von Ricks Wagen war zu hören.

„Alec wird mich nicht verraten“, sagte ich überzeugt.

„Fate hat recht“, stimmte Debby nachdenklich zu. „Ganz gleich, was Alec von Fate will – aber er hat nichts davon, wenn sie Loquoms Horde in die Hände fällt.“

„Aber was, wenn jemand anderes sie erkennt?“, wandte Rick ein.

„In der Verkleidung? Eher unwahrscheinlich“, widersprach Debby. „So bekannt ist ihr Gesicht noch nicht. Und für den absolut unwahrscheinlichen Fall, dass einer von Joels oder Miljons Leuten dort ist: Wieso sollten sie Fate an Loquom verraten, wenn sie doch selbst hinter ihr her sind? Fate kommt da in jedem Fall wieder raus und hier draußen warten wir auf sie und können sofort abhauen. Das Risiko ist wirklich gering.“

Ricks Gesichtsausdruck verriet, dass er Debbys Zuversicht keineswegs teilte. Mit quietschenden Reifen parkte er den Wagen in einem kleinen Hinterhof, stieg wortlos aus und knallte die Autotür so heftig zu, dass der Wagen schaukelte.

Wenig später gesellten sich auch Bryan und Silas zu uns. Ich stöckelte mit den ungewohnt hohen Schuhen neben Rick her, Debby, Neve, Bryan und Silas im Gefolge. Fünf mächtige Zauberer zu meinem Schutz. Ich verstand wirklich nicht, worüber sich Rick aufregte.

Als wir nur noch einen Häuserblock weit von der Gollonen-Bar entfernt waren, musste ich ohne meine magischen Leibwächter weitergehen, doch die anderen würden mir unbemerkt bis zum Eingang der Bar folgen. Erst danach war ich endgültig auf mich alleine gestellt.

„Wenn es auch nur das geringste Anzeichen von Gefahr gibt, dann rufst du meinen Namen“, schärfte mir Rick zum Abschied ein. „Hast du verstanden? Du musst meinen Namen rufen. Das werde ich auf jeden Fall hören.“

Seinen Namen rufen? Bestimmt war das wieder so ein schäbiger Zaubertrick. Ich fragte nicht nach, denn ich wollte es gar nicht wissen. „Alles wird gut gehen“, beruhigte ich Rick und nahm mir fest vor, nicht um Hilfe zu rufen. Unter gar keinen Umständen. Vor allem nicht seinen Namen!

Ich wandte mich um und trat das letzte Stück des Weges alleine an. Ich hatte keine Angst, ich war nur furchtbar aufgeregt. Lampenfieber, wie vor einer Theateraufführung. Die kühle Abendluft ließ mich deutlich spüren, wie wenig Stoff ich an meinem Körper trug und ich rief mir mein Spiegelbild mit dem knallroten Mund in Erinnerung. Vampirella war ein Dreck gegen mich! Während ich mich Schritt um Schritt dem Eingang näherte, versetzte ich mich in die Rolle, die ich zu spielen hatte und führte einen stummen inneren Monolog mit mir selbst.

Ich bin lasziv. Sexy. Ich genieße die Wirkung, die ich auf Männer habe: Sie geifern zu sehen, ist fast so gut wie Sex. Meine Moralvorstellungen sind mehr als nur locker. Warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Wenn jemand so dumm ist, mich dafür zu bezahlen, dass ich ein wenig Spaß im Bett habe – warum nicht? Eigentlich gibt das dem Ganzen doch erst den Kick, macht es schmutziger, heißer. Und ich weiß verfickt gut, wie man Männern einheizt. Nur Alec hatte mich aufs Kreuz gelegt und dafür soll er bezahlen, im wahrsten Sinne des Wortes. Und ich bin Frau genug, mir die Informationen zu beschaffen, die ich brauche, um meine Rechnung mit ihm zu begleichen. Ich bin keine billige Nutte, aber ich bin geil. Der Gedanke, eine hässliche Gestalt wie Loquom zu verführen, ist so abstoßend und widerlich, dass es mich schon wieder anturnt. Ja, ich bin heiß, verdammt heiß. Loquom wird sofort Feuer fangen.

Selbstbewusst schritt ich auf den Türsteher zu. Er musterte mich von oben bis unten. Ich antwortete mit einem süffisanten Kussmund.

Sind deine Eier dick genug, um mich ins Bett zu kriegen, Kleiner?

Der Türsteher grinste und gab mir wortlos den Weg in die Bar frei.

Die erste Hürde lag hinter mir, stellte ich aufatmend fest. Das ging leichter als erwartet. Man sollte mich für einen Oskar nominieren.

Kaum hatte ich die Bar betreten, richteten sich alle Blicke auf mich. Debby und Neve hatten bei meinem Aussehen wirklich ganze Arbeit geleistet. Jetzt war es an mir, das Ganze auszuspielen. Selbstbewusst ließ ich meine Hüfte beim Gehen kreisen, so dass mein Rock scheinbar bei jedem Schritt noch ein Stück höher rutschte.

Ich will sie heiß machen, sie alle. In ihrer Fantasie ziehen sie mich bereits aus, ihre Blicke begrabschen meine Brüste. Die Macht, die ich über sie habe, wirkt auf mich wie eine Droge.

Ich stöckelte zur Theke und ließ meinen Blick über die Menge schweifen, suchte nach Alec. Doch ich konnte ihn nicht entdecken, er schien nicht da zu sein. Gut. Nächster Schritt. Ich musste Loquom auf mich aufmerksam machen. Scheinbar gleichgültig musterte ich die geifernden Gesichter der Anwesenden. Nur wenige Frauen, fast ausschließlich Männer. Ein paar Vampire, ein oder zwei Zauberer, soweit ich das mit meiner begrenzten Erfahrung beurteilen konnte. Der Rest eine bunte Ansammlung von Dämonen und Geschöpfen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Doch in allen Gesichtern die gleichen schmutzigen Gedanken. Ein überhebliches Lächeln spielte um meine Lippen.

Ich kann euch alle haben, ich habe die Wahl. Wen von euch werde ich wohl ficken, Jungs?

„Whiskey“, hauchte ich ohne den Barkeeper auch nur eines Blickes zu würdigen.

Er stellte mir ein Glas hin. Gedankenverloren griff ich danach und nippte daran, ohne jedoch die Flüssigkeit über meine Lippen rinnen zu lassen. Betont gelangweilt schlenderte ich durch die Bar. Langsam erhob sich wieder der normale Hintergrundlärm. Die kleineren Fische hatten eingesehen, dass ich eine Nummer zu groß für sie war, die anderen hingen noch immer an meinem Rockzipfel, um mir die Kleider vom Leibe zu reißen.

Endlich entdeckte ich Loquom in einer Ecke. Fett, glatzköpfig und verpickelt. Rosa Augen, violette Haut und durch und durch abstoßend. Genauso hatte ihn Neve beschrieben. Eine Welle von Übelkeit stieg in mir auf und einen Moment lang drohte ich aus der Rolle zu fallen. Nicht für alles Geld der Welt würde ich mich von so einem Typen anfassen lassen.

Oh doch, ich werde mich von ihm anfassen lassen, seine grabschenden schleimigen Finger auf mir spüren, mich wie ein saftiges Stück Fleisch behandeln lassen. Nur zu gerne und ich werde es genießen. Ich stehe auf diesen Abfall, schmutzigen Sex ohne Gefühle, ohne Reue. Je dreckiger desto besser. Das Abstoßende zieht mich an, macht mich geil. Und Loquom ist verdammt geil. Macht und Geld machen ihn noch viel geiler, geradezu unwiderstehlich.

Ich drückte meinen Rücken durch, um meine Oberweite besser zur Geltung zu bringen. Als ich Loquoms gierigen Blick auf meinen Brüsten bemerkte, dankte ich Debby im Stillen für die eingenähten Push-ups meines trägerlosen Oberteils.

Sieh sie dir nur an, meine Titten, bis dir der Speichel aus dem Mund trieft. Was wirst du zahlen, um sie lecken zu dürfen? Deine stinkende Zunge auf meinen Titten, das turnt uns beide an, nicht wahr? Doch zuerst muss ich eine Rechnung begleichen. Wenn du mich ficken willst, wirst du mir erst ein bisschen was über Alec erzählen müssen.

Ich sah Loquom direkt in seine tranigen Augen und näherte mich ihm mit katzenhaften Bewegungen. Wie eine unförmige Qualle lag er auf einem monströsen Sofa. Außer ihm saßen noch drei weitere Frauen auf dem knallroten Polster. Loquom war mit einem grellvioletten Kaftan bekleidet, die drei Frauen hingegen waren nackt. Zwei waren um die Taille aneinander gekettet und stöhnten hingebungsvoll während sie sich abwechselnd gegenseitig befriedigten. Die Dritte presste sich eng an Loquom und leckte seinen eitrig verpickelten Hals. Loquom hatte desinteressiert eine Hand zwischen ihren Beinen versenkt. Eine

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 12.03.2023
ISBN: 978-3-7554-3542-6

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