Als ich meinen ersten Roman („Im Schatten von Druwenarr“) schrieb, glaubte ich noch, alles wäre meiner Fantasie entsprungen und die Wesen in meiner Geschichte nur erfundene imaginäre Freunde. Die beiden Magier Rick und Alec hatte ich lediglich als Nebenfiguren eingeplant, die keine große Rolle spielen sollten. Doch Rick und Alec ließen sich nicht planen und drängten sich mehr und mehr in den Vordergrund. Und in mein Leben. Zunächst dachte ich, es wäre nur meine schriftstellerische Faszination für diese beiden Männer, die meine Sinne verwirrte. Doch plötzlich verlor ich jegliche Kontrolle und meine vermeintlich erfundenen Figuren machten sich selbstständig. Da erkannte ich, dass meine Fantasy-Geschichten erschreckend real waren. Rick und Alec übernahmen nicht nur eine Hauptrolle in meinem Herzen, sondern stellten auch mein ganzen Leben auf den Kopf und zeigten mir die magischen Seiten der Welt.
„Magische Seiten – Band 1: Ruf der Marwaree“ schildert den recht holprigen Beginn meines neuen Lebens, denn ich wurde keineswegs mit offenen Armen empfangen. Rick hielt mich für eine Verräterin und Alec wollte mich tot sehen. Verzweifelt versuchte ich, das Vertrauen dieser beiden Männer zu gewinnen, doch ich scheiterte kläglich und zu allem Überfluss ließen sich meine zweifelhaften magischen Kräfte ebenso wenig kontrollieren wie meine Gefühle. So stolperte ich von einer Katastrophe in die nächste. Zudem wurde meine unerklärliche Sehnsucht nach dem Meer immer stärker und schließlich war ich gezwungen, meine eigenen Wurzeln zu erkunden, um überleben zu können.
Die Fantasy-Reihe „Magische Seiten“ erzählt nicht allein meine Geschichte. Vielmehr handelt sie von Rick und Alec, von einer tiefen Liebe, einer ungewöhnlichen Freundschaft und magischen Wesen, die sich im Verborgenen halten.
„Verdammte Scheiße!“ Rick schlug mit der Faust auf den Tisch. „Woher weiß dieser Daryll Fate das alles? Ich sag es euch: Weil er einer von uns ist. Ein kleiner schmieriger Spitzel, der daraus Kapital schlagen will. Ich werde ihm den Hals umdrehen, diesem geldgierigen Schwachkopf. Wie kann er jedes Geheimnis ausplaudern als sei es ein Kochrezept?“
Ich zog die Finger von der Tastatur und starrte auf meinen Bildschirm. Das war doch das Letzte! Erst machten sich meine Romanfiguren selbständig und weigerte sich, das zu tun, was ich wollte, und jetzt besaßen sie auch noch die Frechheit, sich darüber zu beschweren, dass ich mich an ihre Regieanweisungen hielt.
Energisch löschte ich den letzten Absatz. Warum hatte ich diesen Müll überhaupt geschrieben? Es hatte so ganz und gar nichts mit der eigentlichen Geschichte zu tun. Und seit wann gab es in meinen Romanwelten mein eigenes Buch zu kaufen? Offensichtlich sogar unter meinem Pseudonym. Eindeutig Größenwahn. Selbst wenn man mein Buch in jener erfundenen Welt kaufen könnte, so würde sich Rick doch vermutlich einen Dreck darum scheren.
Vielleicht hatte er durch einen seiner zahllosen Informanten davon erfahren?
Verflucht, jetzt drehte ich völlig durch. Rick hatte überhaupt nichts erfahren, weil es Rick gar nicht gab. Er war lediglich mein Fantasieprodukt – und genau deshalb sollte er jetzt auch gefälligst das tun, was ich wollte.
Was genau wollte ich eigentlich? Meine Finger lagen unschlüssig auf den Tasten, in meinem Kopf gähnende Leere. Verdammt, war es nun soweit? Gingen mir die Ideen aus? Ich hatte schon immer gewusst, dass die anderen maßlos übertrieben, wenn sie mir eine blühende Fantasie nachsagten. Eigentlich war ich völlig unkreativ. Es war mir schleierhaft, weshalb ich diese Schreibsucht entwickelt hatte. Zumindest ein Grund dafür lag natürlich auf der Hand: Realitätsflucht – das beschrieb meinen sogenannten Lebensstil ziemlich gut. Manchmal bildete ich mir sogar ein meine Romanwelten wären real und ertappte mich selbst dabei, wie ich auf der Straße nach Neve und Bryan, den beiden Protagonisten meines ersten Romans, Ausschau hielt. Oder mir überlegte, ob der Typ an der Theke ein Vampir war. Aus der ehrgeizigen Musterschülerin war eine verschrobene Möchtegern-Autorin mit Wahnvorstellungen geworden. Objektiv betrachtet ging mein Leben den Bach runter. Mir war das vollkommen bewusst, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte auch gar nicht. Solange ich an meinen Romanen schreiben konnte, hatte ich das Gefühl, Freunde zu haben. Fantastische Freunde, in jeder Hinsicht.
„Was regst du dich eigentlich so auf?“, fragte Simon. „Er schreibt doch nur unsere Geschichte auf.“
„Er plaudert unsere Geheimnisse aus. Jeder kann es kaufen, einschließlich der SOLFs!“
Hm, diese Befürchtung konnte ich allerdings nachvollziehen. SOLF war die Abkürzung für „Suche nach obskuren Lebensformen“, der Name einer geheimen Regierungsbehörde, die nach übernatürlichen magischen Wesen suchte und für ihre Grausamkeit bekannt war. Die schwer bewaffneten Soldaten der entsprechenden Spezialeinheit, kurz SOLFs genannt, scheuten vor nichts zurück. Moira, Ricks Ziehmutter und die Anführerin der kleinen Gruppe von Magiern über die ich schrieb, hatte ihren Mann William und ihren Sohn Sammy durch die SOLFs verloren. Nein, nicht verloren, vielmehr hatte man die beiden grausam verstümmelt und zu Tode gefoltert. Als kleiner Junge hatte Rick hautnah miterlebt, wie Sammy an seinen qualvollen Verletzungen gestorben war. Rick hatte das nie überwunden, denn es war Sammy gewesen, der Rick als verwahrlosten Knirps gefunden und voll Herzlichkeit in seiner Familie aufgenommen hatte. Wenn Rick tatsächlich befürchtete, die SOLFs könnten aus meinem Roman irgendeinen Nutzen ziehen, dann verstand ich seine Wut.
„Es steht nichts drin, was die SOLFs nicht ohnehin schon wüssten“, wandte Simon ein. „Und die Zauberformeln … Nun ja, mit den meisten kann nur ein Magier etwas anfangen. Es nützt den SOLFs im Prinzip also gar nichts.“
„Vielleicht entdecken sogar ein paar Neulinge auf diese Art und Weise ihre Kräfte“, mischte sich Sarah ein.
Rick warf ihr einen vernichtenden Blick zu. „Man kann sich die Dinge auch schön reden. Was ist denn zum Beispiel mit den Ascorren, hm? Braucht man dafür etwa Zauberkräfte?“
„Aber wie man Ascorren herstellt, wissen die SOLFs doch sowieso schon.“
„Und was glaubst du wohl, wie sie es erfahren haben?“ Kopfschüttelnd fuhr sich Rick durch die Haare. „Wie könnt ihr nur so naiv sein? Ist euch nicht klar, was das bedeutet? Glaubt ihr allen Ernstes, das, was dieser Typ schreibt, ist alles? Der hat doch mit Sicherheit noch mehr auf Lager. Ich will verdammt noch mal wissen, wer dieser Scheißkerl ist, woher er das alles weiß und vor allem will ich wissen, wem er diese Infos bereits verkauft hat.“
„Ich finde, Rick hat recht“, mischte sich Neve ein. „Das Ganze muss ein Ende haben.“
„Du bist doch nur wegen der Sexszenen sauer“, spottete Debby.
Neve wurde rot. „Wie würdest du es finden, wenn man über dein Privatleben im Internet lesen könnte?“
Bryan nahm sie sanft in den Arm. „Aber es weiß doch keiner, ob das tatsächlich stimmt.“
Dass Neve sauer sein würde, hätte mir klar sein können. Trotzdem tat es weh. Für mich war sie meine beste Freundin. Aber wer sagte denn, dass beste Freundschaft erwidert werden musste?
Verdammt, ich drehte wirklich langsam durch. Es verletzte mich, dass meine eigene Romanfigur mich nicht leiden konnte? Was für ein Wahnwitz. Erstens war Neve nichts weiter als reine Fantasie und zweitens war sie meine Fantasie. Meine eigene Fantasie konnte mich also nicht leiden. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken, was Väterchen Freud dazu gesagt hätte.
Aber weshalb reagierte Rick so überempfindlich? Da steckte mehr dahinter als nur seine Befürchtungen wegen der SOLFs. Ich würde wohl nie aus ihm schlau werden. Rick war nach wie vor meine schwierigste Figur, irgendwie unberechenbar. Am Anfang der Charmeur und ein paar Seiten weiter der nachdenkliche Typ. Sein Verhalten gab mir immer wieder Rätsel auf. Meine Versuche, aus ihm so etwas wie eine konsistente Charaktere zu machen, waren jedes Mal kläglich gescheitert. Selbst seine Affäre mit Hanna blieb mir ein Rätsel, ich wusste nicht einmal genau, ob die beiden überhaupt ... Aber das war Wunschdenken, natürlich hatten die beiden Sex gehabt. Und weshalb zum Teufel war ich auf Hanna eifersüchtig? Rick war nicht real! Ebenso wenig wie Hanna. Abgesehen davon ergab das alles sowieso keinen Sinn. Rick flirtete mit jeder Frau, die ihm unter die Augen kam, aber seit ich ihn kannte, war er kein einziges Mal mit einer davon im Bett gelandet. Zumindest nicht in meinen Büchern.
Ich sollte Rick endlich eine Vergangenheit verpassen, vielleicht brachte mich das wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich schloss die Datei und öffnete das Dokument mit den Biographien. Rick Forrest. Ich las mir durch, was dort bislang stand. Das Aussehen hatte ich ziemlich detailliert beschrieben: Dunkelhaarig, mitternachtsblaue Augen, groß, athletisch, kantiges Gesicht, in jeder Hinsicht attraktiv. Zumindest was meinen Geschmack betraf. Aber das Äußere meiner Charaktere war schon immer die leichteste Übung gewesen. Eine Figur tauchte auf und ich sah sie vor mir. Vor meinem inneren Auge sozusagen. Was für eine abgedroschene Phrase. Das machte einer Schund-Autorin tatsächlich jede Ehre.
Okay, zurück zu Ricks Vergangenheit. Von Kindesbeinen an waren Sammy und Moira seine Hauptbezugspersonen gewesen, genauer gesagt seit Sammy ihn gefunden hatte. Irgendwann war dann auch das hundeähnliche Wesen Branco aufgetaucht und Ricks treuer Begleiter geworden. So weit so gut. Von seiner leiblichen Familie wusste ich jedoch absolut nichts. Und Rick selbst war trotz all der Seiten, die ich über ihn geschrieben hatte, nach wie vor ein riesengroßes Fragezeichen für mich. Sein Image als Frauenheld, das er so gerne betonte, war löchrig. Ein gut aussehender Frauenheld, der keinen Sex hatte? Das war unlogisch, das sollte ich ändern. Rick war nicht der Typ, der gerne auf Sex verzichtete. Aber war er tatsächlich der Typ, der mit jeder x-Beliebigen ins Bett ging? Simon hatte Ricks wahlloses Flirten einmal als billige Ersatzbefriedigung bezeichnet ... Vielleicht hatte Rick andauernd mit unzähligen Frauen Sex. Nur weil ich nichts darüber zu Papier brachte, hieß das noch gar nichts. Ich schüttelte unwillig den Kopf, ich schweifte schon wieder ab. Ich sollte mir über Ricks biologischen Eltern Gedanken machen. Weshalb hatten sie ihn nicht in Magie unterrichtet? Hatten sie keine Zauberkräfte? Oder zu schwache Kräfte? Vielleicht waren seine Eltern auch gestorben, ich könnte eine rührende kleine Geschichte erfinden ... Nein, das konnte nicht sein, das fühlte sich falsch an. Seine Eltern waren noch am Leben, dessen war ich mir sicher. Aber anscheinend kam er nicht besonders gut mit ihnen klar. Hatte Rick eigentlich Geschwister? Es konnte doch nicht so schwierig sein, für Rick eine Vergangenheit zu erfinden! Aber irgendwie konnte ich mich nicht entscheiden. Nein, falsch. Ich hatte einfach keinen Plan. Oder keine Fantasie.
Unwillkürlich öffnete ich wieder die andere Datei und meine Finger begannen erneut zu tippen.
„Jetzt denk doch mal nach, Rick“, versuchte Moira ihn zu beruhigen. „Das in dem Roman ist alles Vergangenheit. Vielleicht will er wirklich nur die Geschichte der Zauberer aufschreiben.“
„Ein dreckiger Verräter ist er“, grollte Rick. „Und ich werde ihm den Arsch aufreißen!“
Jetzt war ich also auch noch ein Verräter. Merkte man denn meinem Roman nicht an, auf wessen Seite ich stand? Wer die Guten und wer die Bösen für mich waren?
„Aber man hat nicht unbedingt den Eindruck, als würde er für die SOLFs Sympathie hegen“, wandte Simon ein.
Richtig. Danke, Simon.
„Reine Tarnung. Vermutlich verkauft sich ein Roman mit Magiern als Helden besser.“
Als hätte ich auch nur den Hauch einer Chance, von meiner Schreiberei reich zu werden. Ich konnte mir davon noch nicht mal die Rechtschreibkorrekturen von einem Profi machen lassen. Meinen Lebensunterhalt bestritt ich mit diversen Aushilfs-Jobs. Ansonsten wäre ich innerhalb kürzester Zeit obdachlos geworden. Und verhungert. Es brachte mich jeden Monat erneut in Bedrängnis, dieses schäbige Ein-Zimmer-Appartement bezahlen zu können. Die Mieten in Aston waren zwar eigentlich gar nicht so teuer, aber für mich war es immer noch viel zu viel. Ich ging auch nicht aus sozialer Verantwortung zum Blutspenden: das war tatsächlich die pure Geldgier.
„Apropos Tarnung. Was macht dich eigentlich so sicher, dass es ein Mann ist?“, gab Debby zu bedenken. „Daryll Fate könnte genauso gut eine Frau sein. Meine Güte, Rick, es ist ein Liebesroman. Eine weibliche Autorin ist viel wahrscheinlicher.“
„Es ist ein scheiß-detailgetreuer Bericht, kein Roman. Außerdem habe ich mich in die Dateien dieses skrupellosen Verlages gehackt“, schloss Rick mit rechthaberischem Gesichtsausdruck.
„Okay, du hast gewonnen.“
„Nicht ganz“, räumte Rick ehrlicherweise ein. „Das Geschlecht war nicht angegeben und außerdem ist Daryll Fate ein Pseudonym.“
Sie wussten also bereits, dass ich unter einem Pseudonym veröffentlichte. Gut, dass nur meine Hobby-Lektorin Anne wusste, wer ich wirklich war – und die arbeitete bei einem anderen Verlag. Ansonsten gab es kaum elektronischen Unterlagen über meine wahre Identität. Ich hatte mein Buch auf einer gratis Self-Publishing Plattform für Möchtegern-Schriftsteller wie mich veröffentlicht und nur an einer Stelle hatte ich meinen echten Namen angeben müssen. Daran würde sich Rick die Zähne ausbeißen, dazu müsste er mehr als nur eine Firewall überwinden.
„Du hast also keine Ahnung, wer sich hinter dem Pseudonym verbirgt?“, fragte Neve.
„Nein“, musste Rick zugeben. „Aber das werde ich noch herausbekommen. Ich hab auch schon eine Idee.“
Ach ja? Welche denn?
Die anderen sahen ihn erwartungsvoll an, doch Rick hüllte sich in Schweigen.
Meine Finger zuckten, aber ich hatte – mal wieder – keine Ahnung, was in ihm vorging.
„Sag schon, was hast du vor?“, drängte Debby.
„Das werdet ihr noch früh genug sehen“, wich Rick aus.
Pah. Wahrscheinlich bluffte er nur. Männliches Ego. Er konnte einfach nicht zugeben, dass er nicht weiterkam.
Okay, ganz ruhig. Es waren meine Bücher, alles war erfunden. Meine erfundenen Handlung und meine erfundenen Romanfiguren. Wenn Rick nicht weiterkam, hieß das nichts anderes als dass ich keine Ideen mehr hatte. Als hätte ich jemals Ideen gehabt. Überhaupt, weshalb saß ich schon wieder an dieser Datei? Ich wollte doch eigentlich an dem Roman über Traum-Dämonen weiter schreiben.
Frustriert schob ich die Tastatur von mir und starrte auf den Monitor. Mein Blick fiel auf die Zeitanzeige am rechten unteren Bildschirmrand. Mist, ich musste weg. Ich schloss die Datei und schob mit der anderen Hand einen USB-Stick in den Laptop, um rasch eine Sicherungskopie zu ziehen. Okay, erledigt. Glücklicherweise fuhr mein Rechner diesmal ohne Zicken runter. Ich schnappte mir meinen Rucksack, griff nach dem Wohnungsschlüssel und eilte nach draußen. Kaum hatte ich die Tür abgeschlossen, merkte ich, dass ich vergessen hatte, Schuhe anzuziehen. Also nochmal zurück in die Wohnung. Ohne die Schnürsenkel zu öffnen, zwängte ich mich in das nächstbeste Paar. Im letzten Moment dachte ich sogar noch daran, eine Jacke mitzunehmen und hetzte erneut die Treppen nach unten zu meinem klapprigen Fahrrad. Nach einigem Gezerre bekam ich mein halbverrostetes Schloss auf und schwang mich auf den Sattel. Als ich die erste Ampel erreicht hatte, fiel mir ein, dass ich meinen Geldbeutel vergessen hatte. Aber ich hatte weder Zeit noch Nerven, wieder zurück zu radeln. Eigentlich brauchte ich meinen Geldbeutel auch gar nicht, es war nur ein Gesprächstermin bei Anne. Außer meinem Kopf benötigte ich streng genommen gar nichts.
Anne, meine Lektorin sah mich prüfend an. Hobby-Lektorin, um genau zu sein und eigentlich war sie auch gar nicht meine Lektorin. Sie arbeitete zwar bei einem großen Verlag und erledigte dort teilweise auch Arbeiten im Lektorat, aber das hatte leider überhaupt nichts mit mir zu tun. Es war reine Nettigkeit, dass sie mir ab und zu ein paar Profi-Tipps gab.
„Aber du wirst doch nicht ewig unter diesem Pseudonym schreiben wollen?“, stellte sie ihre übliche Standardfrage.
„Warum denn nicht?“, gab ich meine übliche Standardantwort. Mit der üblichen Portion Trotz in der Stimme.
Anne seufzte. „Auch wenn du es nicht wahr haben willst, aber das Schreiben ist ein Geschäft. Du willst deine Bücher verkaufen, also musst du auch ein bisschen Werbung dafür machen.“
„Und was hat das mit meinem Pseudonym zu tun?“
„Sei nicht so naiv. Das Marketing eines Buches ist mittlerweile wichtiger als der Inhalt. Die Menschen wollen nicht nur Geschichten lesen, sie wollen auch etwas über den Autor erfahren. Wenn man ein entsprechendes Image aufbaut, kann man das hervorragend einsetzen und mit öffentlichen Lesungen weckt man die Neugier auf dein Buch. So merken sich die Leute deinen Namen und erzählen es ihren Bekannten und voilá – noch mehr verkaufte Exemplare. Und dann …“
„Anne“, fiel ich ihr ins Wort. „Ich habe gerade mal ein einziges Buch veröffentlicht und das ist weit davon entfernt, jemals auf einer Bestseller-Liste zu landen. Kein Mensch will mich vorlesen hören.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln, um meine rüde Antwort abzumildern, denn ich mochte Anne wirklich sehr gerne. Anfangs, als ich noch voller verwegener Träume gewesen war und Leseproben an große Verlage geschickt hatte, da hatte Anne mein Erstlingswerk zur Begutachtung bekommen. Mein Manuskript hatte ihr gefallen, aber leider teilte in dem Verlagshaus ansonsten niemand diese Meinung. Vielleicht war das ihre Art von Trotzkopf, dass sie sich dennoch weiterhin um mich kümmerte und mir manchmal einen Gesprächstermin während ihrer Arbeitszeit gab. Ich bezweifelte, dass ihr Chef wusste, was sie da trieb. Diese kleine Alltags-Rebellion war einer der Gründe, dass ich Anne vertraute. Ich wusste, dass sie es nur gut meinte. Trotzdem würde sie mich nicht dazu überreden können.
„Ich weiß gar nicht, was du hast“, fuhr Anne fort. „Dein Lebenslauf ist doch wirklich ... ähm ... nun ja … abwechslungsreich.“
„Mein Lebenslauf ist ungefähr so zielstrebig wie eine streunende Katze. Man könnte es auch als gescheiterte Existenz bezeichnen.“
„Vielseitig interessiert“, widersprach sie.
„Unentschlossen.“
„Akademiker machen immer Eindruck.“
Akademiker. Ich hasste dieses Wort. Fehlte nur noch, dass sie mich als Intellektuelle bezeichnete.
„Das verpasst deinen Romanen einen intellektuellen Anstrich.“
Ich stöhnte laut auf. „Es ist nur ein Roman. Einer! Und der ist alles andere als intellektuell, das soll er auch gar nicht sein!“
„Die Menschen wollen ein Gesicht mit dem Buch verbinden können.“
„Ich könnte ein Model engagieren, wenn ich das Geld dazu hätte.“
Anne atmete tief durch und sah mich mit halb verzweifelter Miene an. „Warum bist du in dem Punkt so empfindlich? Was ist so schlimm daran, wenn die Leute wissen, wer du wirklich bist?“
„Es ist persönlich.“
„Es ist ein Fantasy-Roman. Weder ich noch sonst wer würden denken, dass irgendetwas davon autobiographisch ist.“
„Ich will es einfach nicht.“
„Du tust gerade so, als würdest du von der Mafia verfolgt.“
Ich warf ihr einen düsteren Blick zu.
Anne deutete meine Mimik falsch. „Du wirst doch nicht wirklich verfolgt, oder?“, fragte sie.
Ich funkelte sie an. „Würde sich das denn nicht hervorragend in meinem abwechslungsreichen Lebenslauf machen?“
Anne wirkte verunsichert. Gut. Sollte sie ruhig ein wenig darüber nachgrübeln, ob ich tatsächlich so eine brave Staatsbürgerin war, wie sie bislang angenommen hatte. Vielleicht gab sie es dann endlich auf, mich von meiner anonymen Identität abbringen zu wollen. Ich setzte ein diabolisches Grinsen auf. Es wirkte. Anne schien echte Zweifel zu bekommen.
„Wie sieht es denn mit den nächsten Romanen aus?“, wechselte sie das Thema.
Ich hatte Anne erzählt, dass ich sowohl einen Roman über Traum-Dämonen als auch einen über Vampire begonnen hatte. Eher spaßeshalber hatte ich sie gefragt, welches Thema sie mehr interessierte, denn ich hatte wenig Einfluss darauf, wie es weiter ging. Ganz abgesehen davon, dass ich momentan wieder mit meinen altbekannten Magiern beschäftigt war, wie mir meine kläglichen Schreibversuche am Morgen deutlich gemacht hatten.
„Also, ich fürchte, das dauert noch ein wenig“, druckste ich herum.
„Aber du sagtest doch ...“
„... dass ich nicht weiß, wie lange es dauert. Anne, ich kann es dir wirklich nicht sagen.“
„Welchen Roman schreibst du denn zuerst fertig?“
„Ich weiß es nicht.“
„Das versteh ich nicht. Woran arbeitest du denn gerade?“
„Also streng genommen, arbeite ich gerade an etwas ganz anderem.“
„Noch ein Roman? Meinst du, es ist klug, drei verschiedene Romane parallel zu schreiben? Bring doch erst mal einen zu Ende. Eine zu lange Pause zwischen Veröffentlichungen ist aus rein marketingtechnischen Gesichtspunkten nicht sinnvoll.“
„Ich weiß“, antwortete ich kläglich. „Ich werde versuchen, zuerst den Dämonen-Roman fertig zu bekommen, er ist schon am weitesten.“
Die Betonung lag auf versuchen. Aber das konnte ich Anne kaum verständlich machen. Wie jeder andere normale Mensch nahm sie an, dass ich mir alles ausdachte, sozusagen Kontrolle über mein Schreiben hatte. Ich konnte nur hoffen, dass es nicht so weiterging, wie in den letzten Tagen.
Anne sah mich milde an. „Du siehst blass und müde aus. Und noch dünner als sonst. Vielleicht solltest du erst mal eine Woche Urlaub machen, um ein wenig Abstand zu kriegen.“
„Urlaub?“
„Ja, Urlaub. Richtigen Urlaub. Ohne Schreiben, ohne Computer, ohne Geldverdienen. Einfach nur Urlaub. Fahr weg, erhole dich!“
Verwirrt blickte ich sie an. „Und was soll ich dann dort den ganzen Tag machen?“
„Leg dich an den Strand. Lern Land und Leute kennen. Lass dich mit Cocktails verwöhnen.“
„Ich mag keine Cocktails.“
„Vielleicht findest du endlich einen netten Mann.“
„Ich kann nette Männer nicht leiden.“ Das war ausnahmsweise keine trotzige Bemerkung, es stimmte tatsächlich. Ehrlichkeit war mir lieber als höfliche Nettigkeit.
Anne verdrehte die Augen. „Stell dich nicht so an. Ich meine doch nur, du solltest mal Auspannen, den Kopf ein bisschen frei bekommen. Mal etwas anderes machen, als dich vor dem Rechner zu verkriechen und den ganzen Tag mit deinen Romanen zu beschäftigen.“
„Etwas anderes?“
„Du musst doch auch mal Spaß im Leben haben. Einfach mal tun, was du willst.“
„Ich habe Spaß. Ich tue genau das, was ich will. Ich brauche keinen Urlaub.“ Ich will keinen Urlaub. Der Gedanke tagelang ohne meine Romane verbringen zu müssen, war furchteinflößend. Womit sollte ich denn die Zeit totschlagen? Wie sollte ich es ohne Schreiben aushalten, völlig isoliert von allem, was mir wichtig war. Einsam und verlassen. Nein, kein Urlaub, nur das nicht. „Ich habe sowieso kein Geld für Urlaub“, lenkte ich ein. „Ich weiß, dass du es nur gut meinst und vielleicht hast du sogar Recht. Aber ich kann es einfach nicht.“
„Aber was dein Pseudonym betrifft ...“
„Nein, auch das nicht.“ Ich zuckte die Achseln. „Hey, auch ein Stephen King hat mal so angefangen. Okay, ich gebe zu, das ist ein bisschen hoch gegriffen, aber als Autor muss man schließlich ein wenig größenwahnsinnig sein, oder?“
„Na gut, du hast gewonnen. Für heute. Aber das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“, drohte sie freundschaftlich.
Nachdem ich Anne entkommen war, stolperte ich ein wenig orientierungslos die Treppen des Verlagshauses hinunter. Urlaub. Was für ein befremdlicher Gedanke. Okay, ich war tatsächlich sehr blass, wahrscheinlich war ich in den letzten Wochen ein bisschen zu oft beim Plasmaspenden gewesen und bei meinen ganzen Gelegenheitsjobs gab es nun mal viel mehr Gehalt für die Nachtschichten. Ja, meine Augenringe sahen übel aus. Aber das war nichts, was man nicht mit einer Portion Schlaf wieder hinbekam.
Was Männer betraf ... Nun ja, wenn ich ganz ehrlich war, musste ich zugeben, dass ich mich manchmal ziemlich einsam fühlte. Aber eigentlich nur, wenn ich vom Schreiben abgehalten wurde und genau das würde ein Mann tun: Mich vom Schreiben abhalten. Kurz gesagt, für Männer hatte ich keine Zeit.
Außerdem machte es mir im Moment viel mehr zu schaffen, wie schlecht Neve von mir dachte. Ausgerechnet Neve, die Heldin meines ersten Romans. Sie war zwar nicht mein Alter Ego, aber für mich war sie die Art von Freundin, die man liebevoll bewunderte und auch beneidete, weil sie alles irgendwie besser hinbekam. Ähnlich und doch so anders. Eigenbrötlerisch waren wir beide und wir teilten die tief verwurzelte Angst vor Zurückweisung. Doch während Neve sich in vorgetäuschter Gleichgültigkeit zurückzog und stolz erhobenen Hauptes ihre Würde rettete, ging ich zum Angriff über und trat um mich. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich spielte den Drachen und machte mich regelmäßig unbeliebt – und oft auch lächerlich.
Neve war so eine Art liebenswerte, bessere Version von mir. Sie hatte sich trotz allem den Glauben ans Gute bewahrt. Sie hatte etwas herzzerreißend Blauäugiges, wo bei mir nur noch Zynismus war. Bevor Neve ihre Zauberkräfte entdeckt hatte, war sie eine erfolgreiche junge Frau mit einer vielversprechenden Zukunft gewesen. Intelligent, attraktiv, angesehen und sozial integriert. Wäre ihr die Magie nicht dazwischen gekommen, hätte sie es sicherlich weit gebracht. Ein Schöngeist, der gerne neue Kulturen entdeckte und Städtereisen liebte. Ich hingegen war der Loser ohne festen Halt im Leben.
Kein Zweifel, Neve und ich waren uns ähnlich. Wir teilten Sehnsüchte, Hoffnungen, Ideale und Ängste. Aber unsere Art damit umzugehen hätte nicht unterschiedlicher sein können. Manchmal kam ich mir vor wie der böse Zwilling.
Völlig in meine Grübeleien versunken hatte ich mein Fahrrad erreicht. Unwillig strich ich mir die Haare aus dem Gesicht. Regen kündigte sich an und meine leichte Naturwelle verstrubbelte durch die Luftfeuchtigkeit noch mehr als sonst. Vermutlich sah ich wieder aus, als wäre ich gerade aus dem Bett gefallen. Ich hätte mir einen Zopf machen sollen. Umständlich kramte ich den Fahrradschlüssel aus der Tasche, um das Schloss aufzusperren. Natürlich klemmte es. Das war nichts Neues. Ich rüttelte daran und wackelte mit dem Schlüssel. Nichts passierte. Leise fluchend zog ich den Schlüssel heraus und steckte ihn wieder hinein. Dann eben mit Gewalt. Ich drehte den Schlüssel ruckartig um – was sich als keine besonders gute Idee herausstellte. Der obere Teil des Schlüssels verbog sich und das Metall riss an der linken Seite ein Stück ein. Man sollte keine Billig-Schlösser kaufen. Es wäre nicht der erste Fahrradschlüssel, der mir abbrach. Wenn ich den Schlüssel ganz vorsichtig herauszog, würde er vielleicht in einem Stück bleiben. Nur, was sollte ich dann tun? Mein Taschenmesser würde mich nicht weiterbringen, es war zu dick für das Schlüsselloch. Warum konnte ich nicht wie andere Frauen Haarklammern mit mir herumschleppen?
„Hallo“, sagte plötzlich eine Männerstimme hinter mir.
Angenehme Stimme. Irgendwie auch vertraut. Kannte ich diese Stimme? Ich wollte mich gerade zu dem Unbekanntem umdrehen, als mich seine nächsten Worte inne halten ließen.
„Entschuldigen Sie, schöne Frau, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“
Was für eine widerliche Schleimerei! Er konnte doch gar nicht sehen, ob ich eine schöne Frau war, schließlich wandte ich ihm den Rücken zu. Ich widmete mich wieder meinem Fahrradschloss. Solche Typen musste man ignorieren. Alles andere würden sie als Erfolg ihres aufgesetzten Charmes verbuchen. Charmante Männer waren noch verlogener als nette Männer.
„Es sieht so aus, als ob Sie Hilfe brauchen könnten“, versuchte er es erneut.
Ich spürte, wie der nervige Typ noch einen Schritt näher kam. Mir lagen etliche bissige Bemerkungen auf der Zunge, aber ich riss mich zusammen und hielt meinen Mund. Vielleicht wollte er tatsächlich nur nett sein. Nett. Konnten mich diese ach-so-netten Männer nicht einfach in Frieden lassen? Ich selbst war weit davon entfernt, nett zu sein.
Zu allem Überfluss begann es in jenem Moment auch noch zu regnen. Dicke Tropfen platschten auf den Boden. Eigentlich machte mir Regen nichts aus, ganz im Gegenteil. Ich mochte Regen gern – solange es draußen warm war. Doch für mein Temperaturempfinden war es Ende März noch entschieden zu kalt, um Regen zu mögen. Entnervt drehte ich an dem halbkaputten Schlüssel, diesmal noch etwas energischer. Er brach ab. Großartig, gaaanz großartig. Ich atmete tief durch und richtete mich auf.
„Kann ich Ihnen wirklich nicht helfen?“, fragte die Männerstimme hinter mir.
Dieser aufdringliche Typ war offenbar immer noch da. „Nein“, knurrte ich, ohne mich umzudrehen.
„Was für abweisende Worte aus so reizenden Lippen.“
Als ob er wüsste, wie meine Lippen aussahen! Er hatte nach wie vor nur meinen Rücken gesehen. Oder gefiel ihm mein Hintern besonders gut? Dachte er womöglich fälschlicherweise meine Oberweite wäre genauso ausladend? Oder hielt er eine schmächtige Brünette für ein leichtes Opfer? Ich konnte sein gewinnendes Lächeln förmlich spüren, dieser Westentaschen-Casanova konnte mir gestohlen bleiben. Mit einer durch und durch uncharmanten Bemerkung auf meinen reizenden Lippen, drehte ich mich zu ihm um.
Doch als ich sein Gesicht erblickte, blieben mir die Worte im Hals stecken. Ich hatte mit einem schmierigen Schönling gerechnet, aber nicht mit dem Mann, der da vor mir stand. Ich sah in zwei dunkelblaue Augen und konnte es nicht glauben, starrte ihn einfach nur an. Fassungslos. Er wirkte ebenso schockiert wie ich. Stocksteif standen wir einander gegenüber und blickten uns an.
Minutenlang, stundenlang, vielleicht auch nur Sekunden.
Große Regentropfen fielen auf uns herab, durchnässten unsere Kleider, rannen von unseren Haaren, doch wir blieben wie erstarrt. Fasziniert saugte ich jedes Detail von ihm in mir auf. Seine Lippen waren nass, seine dunklen Haare klebten wirr an seinem Kopf. Ein kleiner Bach aus Regenwasser zog sich über seine Stirn, vorbei an den Augenbrauen, hinab zu den Wangenknochen und dem entschlossenen Kinn. Ich musste den Kopf heben, um ihm ins Gesicht blicken zu können, denn er war knapp zwei Meter groß. Seine breiten Schultern waren leicht nach vorne gezogen und hätten jeden Leistungssportler neidisch gemacht. Doch mehr als alles andere fesselten mich seine Augen, glänzend und dunkelblau wie der Nachthimmel, erschreckend und anziehend zugleich. Mitternachtsblau. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Trotzdem erkannte ich diese Augen. Er sah genauso aus, wie ich ihn beschrieben hatte.
„Rick“, wisperte ich.
Da kam plötzlich Leben in seine regungslose Gestalt. Er machte einen großen Schritt und packte mich. Bevor ich mich gegen seine Hände wehren konnte, spürte ich einen kleinen Stich am Hals. Dann drehte sich alles, zwei Arme hoben mich hoch und ich verlor das Bewusstsein.
Mein Kopf dröhnte. Es roch muffig. An meiner Wange etwas Kratziges, ich lag auf irgendwas Gepolsterten … wieso lag ich eigentlich …? Träge öffnete ich die Augen und richtete mich vorsichtig auf. Unscharfe Bilder, alles wie durch Milchglas, schemenhaft. Ich blinzelte und langsam kehrte meine Sehschärfe zurück. Um mich herum Bücherregale, ich saß auf einem Sofa.
Verflucht, wo war ich? Wie war ich hierhergekommen? Ich versuchte mich zu erinnern, was zuletzt geschehen war. Termin bei Anne. Kaputtes Fahrradschloss. Irgendein Typ hatte mich angesprochen und dann ... Mit einem Schlag kehrte meine Erinnerung zurück. Panisch sprang ich auf, rannte blindlings zur Tür und knallte gegen einen großen Arm.
„Nicht so schnell“, sagte der Besitzer des Arms.
Ich sah in Ricks Augen. Zumindest glaubte ich, dass es Rick war. Aber es gab doch gar keinen Rick! Das konnte nicht sein. Trotzdem bildete ich mir ein, sogar seine Aura zu erkennen, die ihn als magische Wesen kennzeichnete. Magische Aura, etwas, das ich mir nur ausgedacht hatte. Reine Erfindung. Ich schüttelte diese Gedanken von mir ab und folgte meinen Instinkten, die mir ganz deutlich zubrüllten, dass ich unbedingt von hier weg musste. Ich duckte mich und schlüpfte unter seinem Arm hindurch. Doch weiter als zwei Schritte kam ich nicht, schon umschloss seine Hand meinen Oberarm und zerrte mich zurück. Ich griff in meine Jackentasche. Sie war leer, mein Tränengas war verschwunden. Dann eben anders. Mit einem Fauchen drehte ich mich um und ging zum Angriff über. Meine Faust schoss in die Richtung seines Solar Plexus, doch er konnte mich mit seiner freien Hand abwehren, ließ dabei noch nicht mal meinen Arm los. Ich zielte erneut, diesmal mit der flachen Hand auf seine Nase. Auch das ging schief.
„Bist du jetzt fertig?“, fragte er ungeduldig.
Der längst vergangene Selbstverteidigungskurs schoss in kurzen Bildern durch meine Kopf. Ich drehte meinen Arm mit einem Ruck in Richtung seines Daumens und konnte mich losreißen. Wenigstens das funktionierte. Er sah mich verblüfft an. Bevor er sich von seiner Überraschung erholen konnte, trat ich ihm mit aller Kraft zwischen die Beine. Er gab einen gurgelnden Laut von sich und wurde blass. Mit schmerzverzerrtem Gesicht griff er sich an seine Weichteile und kippte vornüber. Das verschaffte mir den Vorsprung, den ich brauchte. Ich stürmte Richtung Haustür. Sie war verschlossen. Verdammter Mist! Ich sah hinter mich, blickte in zwei zornige blaue Augen. Hektisch suchte ich nach einem Ausweg. Rechts von mir führte eine Treppe nach oben. Keine gute Idee. Gab es hier keine Fenster? Die große dunkelhaarige Gestalt kam näher, die Wirkung meines Tritts hatte offenbar nachgelassen. Ich rannte nach links. Er war schneller, verstellte mir den Weg. Erneut zielte ich nach seiner empfindlichsten Stelle. Erfolglos, diesmal war er darauf vorbereitet. Auch der Trick mit dem Losreißen funktionierte nicht mehr. Ich wollte nach ihm beißen, doch er packte mein Kinn und hielt es fest.
„Verdammtes Biest“, fluchte er und presste mich gegen die Eingangstür. Plötzlich drückte etwas gegen meinen Rücken. Jemand schloss die Tür von außen auf. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?
„Hallo? Was ist denn da drin los?“, rief eine fremde Stimme von draußen. „Rick?! Die Tür klemmt.“
Rick. Die Stimme hatte ihn Rick genannt. Der Mann war tatsächlich Rick. Ich starrte ihn mit großen Augen an und vergaß, mich zu wehren. Meine Romanfiguren existierten wirklich?! Nein, das konnte nicht sein, das war völlig unmöglich. Trotzdem beschlich mich ein Gefühl, als hätte ich es schon immer gewusst. Ich sah Rick an, ungläubig und fasziniert zugleich. Ja, er war es. Der Mann war tatsächlich Rick.
Mit einer raschen Bewegung packte Rick meine Handgelenke, zerrte mich von der Tür weg und nahm mich von hinten in den Schwitzkasten, so dass ich ihn weder beißen noch treten konnte.
„Jetzt könnt ihr reinkommen“, rief er in Richtung Tür.
Ein schmächtiger hellblonder Mann betrat den Raum, dicht hinter ihm folgte eine elfenhafte Gestalt mit langen rotgelockten Haaren. Simon und Sarah. Genauso hatte ich sie mir vorgestellt. Den Schluss bildete Debby. Klein, drahtig, kurzgeschorene blonde Haare und ein entschlossener Gesichtsausdruck, das musste einfach Debby sein. Ich spürte, wie meine Knie weich wurden. Rick hätte irgendein dummer Zufall sein können. Irgendein Fremder, der so aussah, wie ich mir meine Romanfigur vorstellte und zufällig Rick hieß. Aber das hier? Das konnte kein Zufall sein.
Das Verrückteste daran war, dass ich auch bei den anderen glaubte, ihre Aura zu sehen. Wie bei Rick war es nicht mehr als ein leichtes Dimmern, kaum erkennbar, viel schwächer, als ich es beschrieben hatte. Aber es war da.
Wahnvorstellungen, ich hatte Wahnvorstellungen. Reine Hirngespinste, derartige Albernheiten hatte ich mir in der Vergangenheit schon häufiger eingebildet und meine harmlosen Mitmenschen wie Dämonen angestarrt.
Nein, viel einfacher: Ich träumte. Richtig, es musste ein Traum sein, weil es völlig unlogisch war. Denn ich war ein Mensch und Menschen konnten die Aura von magischen Wesen nicht sehen.
Ricks Griff lockerte sich ein wenig. Entweder hatte er bemerkt, dass ich jeden Widerstand aufgegeben hatte oder er vertraute auf meine Intelligenz. Mit vier Magiern auf einmal wurde ich niemals fertig. Selbst einer von ihnen war schon zu viel für mich.
Debby wollte die Haustür zuziehen, hielt dann jedoch inne und sah hinter sich. „Dass du dich auch mal wieder blicken lässt.“
Ein riesiges hundeartiges Wesen mit buschigem dunklem Fell drückte sich durch die Tür. Mit einem leisen Knurren kam es langsam auf Rick und mich zu. Das Wesen reichte Rick bis zu den Hüften, doch auch ohne diese immense Größe hätte allein sein grimmiger Gesichtsausdruck beängstigend gewirkt.
„Branco!“, entfuhr es mir.
Beim Klang seines Namens legte Branco den Kopf schief und sah mich interessiert an.
„Branco“, wiederholte ich.
Der haarige Riese kam näher, schnüffelte an mir und schmiegte zutraulich seinen Kopf an meinen Oberschenkel.
Simon, Sarah und Debby blickten mich erstaunt an. Rick stand hinter mir, ich konnte sein Gesicht nicht sehen, aber da sich sein Griff wieder verstärkte, war er von Brancos Reaktion offensichtlich nicht begeistert.
„Branco, verschwinde“, raunte Rick.
Branco tat ihm den Gefallen und rückte ein Stück von mir ab. Mit ruhigen Augen musterte er Rick und mich.
„Was ist hier eigentlich los?“, fragte Debby. „Willst du sie verführen oder weshalb hältst du sie noch immer im Arm?“, spottete sie.
Rick gab einen undefinierbaren Laut von sich. Er drehte mich mit einem Ruck herum und stieß mich Richtung Bibliothek. „Das Biest wollte flüchten.“
„Das ist angesichts ihrer Lage sogar verständlich“, bemerkte Sarah.
„Hast du sie schon verhört?“, erkundigte sich Simon sachlich.
„Nein. Sie ist gerade erst aufgewacht. Kommen Neve und Bryan noch?“ Rick schubste mich zurück aufs Sofa.
Sarah schüttelte den Kopf. „Die zwei sind mal wieder unauffindbar.“
„Hätte ich von unseren beiden Verliebten auch gar nicht anders erwartet“, brummte Rick.
Debby musterte ihn prüfend. „Warum läufst du denn so komisch? Hat sie dich etwa ...?“
„Lassen wir das“, schnitt er ihr das Wort ab.
Trotz meiner Lage, konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. Ich hatte mit aller Kraft zugetreten.
Rick warf mir einen missgelaunten Blick zu. „Dir wird das Lachen schon noch vergehen.“
Männer waren immer so überempfindlich, wenn es um ihre Geschlechtsteile ging.
„Als Erstes wirst du uns erzählen, wer du wirklich bist“, befahl Rick.
Erstaunt sah ich ihn an. „Wie, das weißt du noch nicht? Wie hast du mich dann gefunden?“ Rick fluchte, offenbar hatte er mir diese Information nicht geben wollen. Hm, wenn er meinen richtigen Namen nicht kannte, dann konnte das nur eines bedeuten. „Du hast mir bei meiner Lektorin aufgelauert, stimmt’s?“ Selbst meine geschummelten Termine bei Anne liefen unter meinem Pseudonym.
„Dein Name“, verlangte Rick ungeduldig ohne auf meine Frage einzugehen.
„Ich dachte, du bist so ein großartiger Hacker. Find ihn doch selbst raus.“
Rick kam bedrohlich auf mich zu und ballte die Fäuste. „Wir können es auch auf die harte Tour machen.“
Sarah entfuhr ein Schrei des Entsetzens. Debby hingegen brach in Lachen aus.
„Debby!“, schimpfte Rick.
„Komm schon, Rick. Es kauft dir sowieso keiner ab, dass du es aus einer schwächlichen Frau raus prügeln willst.“
„Bei diesem Biest könnte ich durchaus eine Ausnahme machen.“
„Lass mich mal.“ Debby setzte sich neben mich und machte ein überaus freundliches Gesicht. „Sag uns einfach, wer du bist und woher du das alles weißt. Dann lassen wir dich auch wieder laufen.“
„Vielleicht“, warf Rick ein.
„Gut, es hängt natürlich von deinen Antworten ab“, schränkte Debby ein. „Aber ich schätze, du hast keine andere Wahl als uns alles zu erzählen.“
„Man hat immer eine Wahl“, murrte ich. Debbys gönnerhafter Ton war mir noch mehr zuwider als Ricks Drohungen.
„Zick hier nicht rum, sondern fang lieber an zu reden“, entgegnete Debby. „Komm schon, Kleine.“
„Wer nennt hier wen klein?“, konterte ich. Im Vergleich zu Debby war ich mit meinen fast 1,70 Metern eine hochgewachsenen Frau.
„Okay Rick. Ich überlass sie dir.“ Debby stand beleidigt auf.
Ihre geringe Körpergröße war also tatsächlich Debbys wunder Punkt, auch das stimmte in meinen Romanen. Und ich hatte das ganz großartig in unser erstes Gespräch eingebaut. Jetzt musste ich mich nur noch bei Simon und Sarah unbeliebt machen, dann war der Rundumschlag komplett. Ich und mein loses Mundwerk.
Rick lief vor mir auf und ab und überlegte anscheinend, womit er mir als nächstes drohen konnte. Aber wenigstens Branco schien mich zu mögen. Na ja, zumindest knurrte er mich nicht an. Branco hatte sich vor dem Sofa auf den Boden gesetzt und beobachtete mich interessiert.
Ich sah mich neugierig um. Das musste die Bibliothek der Zauberer sein, ihr geheimer Treffpunkt. Wie war das möglich? War all das, was mir beim Schreiben so real vorgekommen war, tatsächlich real? Das war unglaublich. Ich lernte meine eigenen Charaktere kennen, konnte sie alles fragen, was ich wissen wollte. Das war … einfach wunderbar! Ein heimlicher Wunschtraum war in Erfüllung gegangen.
Rick warf mir einen düsteren Blick zu, der meine Begeisterung deutlich dämpfte. Momentan waren sie nicht gut auf mich zu sprechen, vorsichtig ausgedrückt. Ganz abgesehen davon, dass ich ihre Gefangene war. Aber sie kannten nur mein Pseudonym, das verschaffte mir einen Vorteil. Wo war eigentlich mein Rucksack geblieben? Vermutlich hatte Rick ihn an sich genommen, zusammen mit meinem Tränengas und meinem Wohnungsschlüssel. Hatte ich irgendetwas Verräterisches in meinem Rucksack? Ein kleines Häufchen Schmierzettel, ein Kugelschreiber und mein Taschenmesser, ging ich den Inhalt im Geiste durch. Außerdem Taschentücher, Fettstift für die Lippen, ein abgebrochener Kamm, Zahnpflegekaugummi und eine Mini-Deo, mein Tribut an die Eitelkeit. Nichts Verfängliches. Gut, dass ich meinen Geldbeutel zu Hause vergessen hatte. Ich hatte keineswegs vor, meine streng gehütete Identität preis zu geben.
„Wieviel hast den SOLFs erzählt?“, begann Rick unvermittelt. „Woher weißt du das alles?“
„Woher weiß ich was?“, fragte ich zurück.
„Stell dich nicht dumm.“
„Ich weiß gar nichts. Ich habe mir das alles nur ausgedacht.“ Ob sie mir die Wahrheit glaubten? Seit ich in diese mitternachtsblauen Augen gesehen hatte, war ich mir dieser Wahrheit selbst nicht mehr sicher.
„Reiz mich nicht“, zischte Rick in einem Tonfall, der mich aufschrecken ließ. Auch Simon warf seinem Freund einen beunruhigten Blick zu. Vielleicht ließ sich Rick doch dazu hinreißen, eine Unschuldige zu misshandeln? Das widersprach zwar allem, was in meinen Romanen stand ... außer natürlich er hielt mich gar nicht für unschuldig. Zum Schutz seiner Freunde würde er alles tun. Falls meine Charakterisierung von ihm zutraf.
„Also ...“, stammelte ich unbeholfen. „Es ist so ... Also, ich bin von dieser ganzen ... Situation ebenso überrascht wie ihr.“
„Weiter.“
„Ich habe den SOLFs überhaupt nichts erzählt. Ich kenne die SOLFs gar nicht. Zumindest nicht persönlich. Ja, gut, sie kommen in meinem Roman vor. Genauso wie ihr. Aber ich wusste doch nicht, dass es euch wirklich gibt.“ Rick machte den Mund auf, um mich zu unterbrechen und ich sprach rasch weiter. „Ich kann es kaum fassen, euch hier genauso vorzufinden, wie ich euch beschrieben habe. Ich dachte wirklich, ich hätte euch nur erfunden. Zumindest glaubte ich das bislang. Ich habe keine Ahnung, wieso meine Fantasie so verdammt real ist.“
Einen Moment lang herrschte Stille und alle sahen mich mit dem gleichen missbilligenden Gesichtsausdruck an.
„Okay, und jetzt die Wahrheit“, forderte Rick.
„Aber das ist die Wahrheit!“
„Ach ja?“, meldete sich Simon aus seiner Ecke. „Wenn das tatsächlich die Wahrheit ist, wieso wirkst du dann so gelassen? Du müsstest doch schier ausrasten und denken du seist verrückt geworden, wenn du aus heiterem Himmel, deinen eigenen Fantasiegestalten begegnest.“
Gutes Argument. Ein vernünftiger, normaler Mensch hätte so reagiert. Wie sollte ich ihnen nur mein verqueres Innenleben erklären? Ich holte tief Luft. Vielleicht verstanden sie es, ich musste es zumindest versuchen. „Du hast recht“, stimmte ich Simon zu. „Aber ihr wisst nicht, wie das ist, sich Tag für Tag mit nichts anderem zu beschäftigen als diese Geschichten zu schreiben. Man lebt in einer ganz eigenen Welt. Klar, da ist die Realität, Einkaufen, Miete zahlen, Arbeiten und Geld verdienen. Mein Verstand sagt mir immer wieder, dass es euch, also die Romanfiguren, nur auf dem Papier gibt. Rational betrachtet ist alles reine Fiktion. Aber es hat sich nie so angefühlt.“ Und in eurer Welt war es so viel schöner, fügte ich stumm hinzu. „Manchmal habe ich wochenlang nur mit euch geredet“, fuhr ich fort. „Ich habe euch bildlich vor mir gesehen, ich habe auch von euch geträumt, sogar ziemlich oft. All diese Geschichten waren einfach da, ohne dass ich wusste woher. Ich habe das nicht nach irgendwelchen logischen oder literarisch-ästhetischen Prinzipien konstruiert, sondern einfach drauf losgeschrieben. Die meiste Zeit wusste ich nicht, was als nächstes passiert. Ich habe es vor mir gesehen und dann habe ich es aufgeschrieben. Ich kann das nicht kontrollieren, es hat ein Eigenleben. Deswegen wart ihr für mich schon immer lebendig. Irgendwie.“
„Klingt wirklich herzig“, kommentierte Rick. „Für wie dumm hältst du uns eigentlich? Du erwartest doch nicht allen Ernstes, dass wir dir diesen Unsinn abkaufen? Besser, du denkst dir eine andere Geschichte aus. Möglichst eine, die genauso zutreffend ist wie dein Roman.“
„Moment mal, Moment mal“, schaltete sich Sarah ein. Sie warf mir einen verstörten Blick zu und wandte sich dann an Rick. „Wenn sie tatsächlich diese verräterische Autorin ist, wieso bringst du sie dann ausgerechnet in die Bibliothek? Zu unserem geheimen Treffpunkt mit allem, was das Magier-Herz begehrt? Bist du verrückt geworden?“
„Es spielt keine Rolle, was sie hier zu sehen kriegt“, antwortete Rick mit einem Achselzucken.
Entsetzen zeichnete sich auf Sarahs Gesicht ab. „Das wirst du nicht tun. Sag mir, dass du sie nicht ...“
„… umbringen wirst?“, ergänzte Rick ihren Satz. „Momentan finde ich diesen Gedanken ziemlich verlockend. Aber nein, das war eigentlich nicht mein Plan. Doch die Bibliothek hat nun mal den unglaublichen Vorteil, dass ich hier all die hübschen magischen Spielsachen von Anselm auf einem Haufen habe. Glaubt mir, sie wird reden! Und danach wird sie vergessen.“
Wie meinte er das? Nur die Bibliothek oder sollte ich auch vergessen, dass ich ihm begegnet war?
„Hör mal Rick“, wandte Simon ein. „Sollte nicht besser ich das machen? Es handelt sich schließlich um mehrere Stunden, die du in ihrem Gedächtnis manipulieren willst ...“
„Nicht Stunden. Jahre“, korrigierte Rick.
Eine kalte Hand schloss sich um mein Herz. Wenn er das vorhatte, was ich dachte, dann war das mein Ende.
„Ich kann diesen beschissenen Roman nicht mehr vom Markt nehmen“, fuhr Rick fort. „Aber ich kann verhindern, dass sie noch mehr Geschichten über uns ausplaudert. Sie wird alles vergessen, was mit uns und ihrer Schreiberei zu tun hat. Einfach alles, was sie jemals zu Papier gebracht hat! Sie wird nie mehr solche Geschichten schreiben. Wenn ich mit ihr fertig bin, kann sie von Glück sagen, wenn sie noch ihren eigenen Namen buchstabieren kann. Zu dumm nur, dass sie sich nicht mehr an ihren Namen erinnern wird.“
Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Das konnte er nicht machen. Er wollte mir alles nehmen, was mir wichtig war. Meine Romane waren mein Leben, mein Herzblut. Die Luft, die ich zum Atmen brauchte.
„Nein!“ Ich sprang auf. „Niemals!“
„Oh doch meine Süße, sogar schon sehr bald.“ Rick schubste mich zurück auf das Sofa.
Ich starrte ihn an. Er drohte nur. Bestimmt drohte er nur. Das konnte nicht sein Ernst sein. Das ging doch gar nicht. Das war ein Bluff. Er wollte mir nur Angst machen. Verflucht, er machte mir sogar höllische Angst.
„Rick, das schaffst du nicht“, widersprach Simon. „Nicht mal Anselm würde das hinkriegen und du bist bei diesem Gedächtnis-Zaubern wirklich erbärmlich schlecht. Genauer gesagt hast du ihn noch kein einziges Mal hinbekommen und ...“
„Ich habe auch nicht vor, Magie der zweiten Art anzuwenden“, fiel ihm Rick ins Wort. „Du bist doch Anselm Musterschüler. Du solltest seine Bücher besser kennen als ich. Mir fehlt nur noch eine Zutat, aber die sollte ich bis heute Abend kriegen.“
„Rigaron?“ Simon wurde blass, er schien zu wissen, wovon Rick sprach. „Du willst ihr das alles aus dem Kopf saugen? Rick lass die Finger davon. So punktgenau funktioniert das nicht.“
„Wer redet denn von punktgenau?“, gab Rick zurück. „Ist gar nicht nötig. Ich nehme einfach alles raus, was ich finden kann. Lieber zu viel als zu wenig. Was soll schon passieren? Ein paar zu groß geratene Gedächtnislücken und vielleicht muss sie das Alphabet noch mal neu lernen.“
„Rigaron ist tückisch. Wenn der Stoff verunreinigt ist, könntest du sie genauso gut in eine sabbernde Schwachsinnige verwandeln.“
„Das Zeug ist sauber. Mein Lieferant ist vertrauenswürdig und das wird mich auch eine ganze Stange Geld kosten. Was soll ich denn sonst machen? Hast du vielleicht eine bessere Idee? Ich kann sie nicht ewig bewachen. Solange ich nicht absolut sicher bin, dass sie uns mit Absicht ans Messer liefert, will ich auch nicht ... Ich bin kein Mörder. Aber ich kann sie auch nicht einfach gehen lassen.“
„Du willst mir meine Geschichten nehmen?“, hauchte ich. „Meine Erinnerungen an euch? Meine Erinnerungen an all meine Romanfiguren? Du willst, dass ich nie mehr schreiben kann?“ Ich musste es laut aussprechen, um zu verstehen, was Rick vorhatte. Um zu glauben, dass es kein Bluff war.
„Ja, genau das“, bestätigte Rick.
„Dann sterbe ich lieber.“
Alle Köpfe drehten sich zu mir. Die vier Magier sahen mich irritiert an.
„Was ist?“, rief ich. „Glaubt ihr mir nicht? Ich bin lieber tot als ohne meine Geschichten. Also spart euch das Geld für Rig … Rigarir ... Egal, wie das Zeug heißt. Aber lieber sterbe ich, als nicht mehr über euch zu schreiben!“
Rick musterte mich ausgiebig. „Du hast gerade bestätigt, dass du in jedem Fall weiter schreiben wirst, wenn ich dich nicht davon abhalte. Und da ich dich nicht umbringen will ...“
„Nein! Verdammt, nein! Das kannst du nicht machen. Das ist mein Kopf, das sind meine Geschichten!“
„Irrtum. Diese Geschichten sind über uns. Sie gehören dir nicht, es sind unsere Geschichten.“
„Aber ich wusste doch gar nicht, dass sie stimmen. Ich ... nein, bitte! Das darfst du mir nicht antun. Du kannst mich einsperren, foltern, töten. Völlig egal, aber bitte nimm mir nicht meine Geschichten. Nimm mir nicht das Schreiben weg. Bitte!“ Ich spürte, wie sich Tränen androhten und biss mir auf die Lippe. Ich heulte nicht in der Öffentlichkeit. Eisernes Prinzip. Kein Flennen vor anderen. Schon gar nicht vor Rick. Vor allem nicht jetzt. Mühsam würgte ich die aufsteigenden Tränen herunter.
„Rick!“ Debby fasste nach seinem Arm. „Du solltest zumindest vorher mit Moira besprechen. Sie kommt morgen wieder. Versprich mir, dass du erst mit Moira redest.“
„Ich habe bereits mit Moira gesprochen. Sie ist von meiner Idee zwar nicht begeistert, aber … Nun ja, sie will dieser Fate erst ein paar Fragen stellen, also werde ich sowieso auf ihre Rückkehr warten müssen.“
Ich schöpfte neue Hoffnung. Ich hatte einen Tag Galgenfrist. Einen Tag bevor ich alles verlor. Ich schwieg. Was sollte ich auch dazu sagen? Die Wahrheit glaubten sie mir schließlich nicht. Sie wollten mir meine Romane nehmen. Meine Erinnerungen an sie. Das Schreiben. Sie wollten mir alles nehmen, was mir im Leben wichtig war.
Plötzlich machte Rick einen Schritt auf mich zu, packte mich am Kragen und zog mich nach oben. „Woher weißt du von uns!“, blaffte er mich an.
Branco sprang auf und knurrte.
Überrascht gab Rick mich frei und ließ mich zurück auf das Sofa fallen. Branco beruhigte sich wieder. Vor Schreck verschluckte ich mich an meiner eigenen Spucke und musste husten.
„Du hast sie gewürgt.“ Sarah blickte Rick vorwurfsvoll an.
„Aber ich ...“, begann Rick reichlich verdattert.
„Er hat mich nicht gewürgt“, brachte ich unter einem weiteren Hustenanfall hervor. „Ich hab mich nur verschluckt.“ Warum zur Hölle verteidigte ich Rick, war ich von allen guten Geistern verlassen? Ich sollte ihn wie einen Brutalo wirken lassen, vielleicht konnte ich dann einen der anderen Magier auf meine Seite ziehen.
„Okay“, sagte Rick. „Noch mal von vorne. Wie lautet dein richtiger Name?“
„Wer sagt mir eigentlich, dass ihr diejenigen seid, für die ihr euch ausgebt?“, ging ich zum Gegenangriff über. „Vielleicht seid ihr einfach nur ein paar Verrückte, die zufällig so aussehen wie meine Romanfiguren. Ein paar übergeschnappte Fans.“ Nicht dass ich Fans gehabt hätte, aber man konnte nie wissen.
„Netter Versuch.“ Rick zog seine rechte Augenbraue nach oben. Verdammt sogar diese Geste stimmte. „Los Süße, rede endlich.“
„Unpassender als ein halber Männername kann es nicht sein“, scherzte Sarah.
Mir war nicht nach Scherzen. Sarah konnte mich mal. Ich presste die Lippen zusammen und schwieg.
Rick atmete tief durch und rang sich ein Lächeln ab. „Hör zu, wir können doch vernünftig miteinander umgehen.“ Seine Stimme klang auf einmal unheimlich sanft. „Wir wollen dir nichts tun. Wenn du ...“
„Bei dem durchschaubaren Geschleime wird mir ganz übel“, unterbrach ich ihn unwillig. „Heb dir das für jemanden auf, der darauf reinfällt.“
„Sag uns endlich, wer du bist!“
„Den Teufel werde ich tun“, fauchte ich. Ich hatte mir nicht all diese Mühe mit meinem Pseudonym gemacht, nur um ihm dem nächstbesten Mistkerl auf die Nase zu binden. Und so lange er meinen richtigen Namen nicht kannte, ließ er bestimmt die Finger von meinem Gedächtnis.
„Wie du willst“, brummte Rick. „Dann bleibst du eben solange hier, bis du uns deinen richtigen Namen verrätst.“
„Als ob ihr mich gehen lasst, wenn ich euch meinen Namen verrate. Das änderte doch gar nichts!“ Wieder spürte ich Tränen der Verzweiflung in mir aufsteigen. Plötzlich war etwas Warmes, Weiches an meinen Beinen. Branco schmiegte sich an mich. Er mochte mich tatsächlich, stellte ich überrascht fest. Ich streichelte ihn sanft, vergrub meine Finger in seinem Fell und versuchte Halt zu finden.
„Es gefällt mir nicht, wie Branco auf sie reagiert“, sagte Rick. „Da stimmt irgendetwas nicht.“
„Du denkst, sie hat ihn mit einem Zauber belegt?“, fragte Debby.
„Nein, das würde ich merken“, widersprach Rick. „Trotzdem ist es eigenartig, sie riecht ein bisschen wie Neve“, murmelte Rick leise. Als ich ihn erstaunt ansah, fügte er lauter hinzu: „Ihr benutzt wohl das gleiche Parfüm.“
Parfüm war Luxus, so etwas konnte ich mir schon lange nicht mehr leisten. Aber es war der falsche Zeitpunkt, um über Deo-Marken und haarsträubende Begründungen zu diskutieren.
„Das kann kein Zufall sein“, sagte Simon. „Überlegt doch mal. Branco hat außer Rick niemanden an sich heran gelassen. Niemanden außer Neve. Und jetzt will Branco ausgerechnet die Person beschützen, die über Neve geschrieben hat. Zwischen den beiden muss es eine Verbindung geben.“
„Wenn es eine gibt, dann will Branco mir diese Verbindung nicht verraten“, entgegnete Rick. „Er wollte mir ja damals noch nicht mal sagen, warum er Neve so vergöttert und jetzt hüllt er sich auch wieder in Schweigen. Keine Ahnung, warum der Köter dieses Biest für unschuldig hält. Vielleicht ist sie das sogar. Aber dann sollte sie mit uns reden. Nun gut, nachdem diese Fate erst einmal eine Nacht in Fesseln gelegen hat, wird sie sicherlich weich werden. Sie sieht nicht allzu stabil aus.“
Ich sah ihn voll grimmiger Entschlossenheit an. Rick würde schon noch merken, wie stabil ich war.
„Wo willst du sie hinbringen?“, fragte Sarah.
„Sie ist hier doch bestens aufgehoben.“
„Wie willst du sie denn einsperren? Aus der Bibliothek könnte sogar ein Blinder ausbrechen“, widersprach Debby. „Für einen Kerker-Zauber haben wir keine geeigneten Zutaten da. Oder hast du auf deiner kleinen Einkaufliste noch mehr als Rigaron stehen?“
„Ich werde sie einfach irgendwo festbinden.“ Rick ging zu einer großen Kiste und kramte darin herum.
„Die Heizung ist kaputt“, gab Sarah zu bedenken.
„Na und?“, sagte Rick ohne von der Kiste aufzublicken.
„Du solltest ihr wenigstens etwas zu Essen geben.“
Sarah, die große Samariterin mit dem engelsgleichen Erscheinungsbild. Ihr übertrieben Liebreiz war mir schon beim Schreiben auf die Nerven gegangen. „Spar dir dein falsches Mitleid“, brummte ich. Verhungern, erfrieren. Wen interessierte das? Sie wollten mir meine Romane nehmen und ich konnte nichts dagegen tun.
„Da hörst du es“, sagte Rick. „Du kannst diese verlogene Schlange ruhig ihrem Schicksal überlassen. Ha!“, rief er triumphierend und zog eine lange Metallkette hervor. „Ich wusste doch, dass es da drin ist.“
Misstrauisch beäugte ich das Teil. Es war zirka einen Meter lang und hatte an jedem Ende eine runde Fessel. Wenn man den historischen Romanen glauben konnte, war das keine angenehme Art, festgehalten zu werden.
„Was willst du denn damit?“, fragte Sarah erschrocken. „Sie foltern?“
„Keine Angst, ich will sie nur festbinden.“ Kopfschüttelnd sah er die anderen an. „Für was haltet ihr mich?“
Ich hatte zwar eine passende Antwort auf diese Frage, hielt es jedoch für klüger, ausnahmsweise meinen Mund zu halten. Rick kam mit grimmigem Gesichtsausdruck auf mich zu und ich bereitete mich innerlich auf wundgescheuerte Handgelenke vor.
„Los, gib deinen Fuß her.“ Rick zwängte sich an Branco vorbei, drückte mich auf das Sofa und zog meinen rechten Knöchel zu sich.
Zappelnd wehrte ich mich und versuchte, ihm meinen Fuß zu entwinden. Mit einem Ruck zerrte er mein Bein noch höher, so dass ich rückwärts auf das Polster fiel. Mit einer schnellen Bewegung zog er meinen Strumpf hoch, legte die Fessel darüber und ließ sie zuschnappen. Er rüttelte an dem Metallring, war mit dem Ergebnis offenbar zufrieden und befestigte das andere Ende der Kette am Heizungsrohr neben dem Sofa. Ich sprang auf und wollte ihm an die Gurgel gehen. Grinsend trat er einen Schritt zurück und ich schlug ins Leere.
„So eine Kette hat doch einige Vorteile.“
„Das schau ich mir nicht länger an.“ Sarah drehte sich um und verschwand.
Debby warf Rick einen seltsamen Blick zu und folgte ihr.
„Was denn?“, empörte sich Rick. „Habt ihr vielleicht einen besseren Vorschlag?“
„Tja, dann noch viel Spaß mit deiner Gefangenen“, verabschiedete sich auch Simon. „Ich bin schon sehr gespannt, was Moira davon hält.“
„Du tust gerade so, als würde euch das alles nichts angehen.“
Simon sah Rick lange an, dann nahm er ihn am Arm und zog ihn nach draußen. Branco trottete ihnen hinterher. Ich versuchte zu lauschen, doch sie sprachen zu leise. Seufzend ließ ich mich auf das Sofa zurückfallen und sah mich um. Die Fenster waren nicht vergittert. Die Zimmertür stand offen. Sie hatte zwar ein Schloss, doch der Schlüssel fehlte. Außerdem war die Klinke verbogen und wies etliche Rostflecken auf. Selbst wenn man die Tür absperrte, war es vermutlich ein leichtes, sie aufzubrechen. Ohne diese verfluchte Fußfessel könnte ich einfach wieder hinausspazieren. Probeweise rüttelte ich an meiner Kette. Zwecklos. Ich stand auf und inspizierte das Heizungsrohr, griff nach dem kalten Metall und zog so fest, wie ich konnte. Ich stemmte mich mit den Füßen gegen die Wand und zerrte erneut, doch das Rohr gab nicht nach. Mist! Wer zur Hölle baute denn solch ausbruchssichere Heizungsrohre? Frustriert trat ich dagegen. Ein lautes Dröhnen erfüllte den Raum. Erschrocken hielt ich das Metall fest und der Ton erstarb wieder. Soviel zu einer heimlichen Flucht.
Plötzlich verstummte das Stimmengewirr draußen. Ich hörte Schritte. Jemand ging nach oben. Dann wieder Geräusche im Gang. Ich sah zur Tür, konnte einen Blick auf Simons Gestalt erhaschen. Ein Quietschen und ein schnappendes Geräusch, als Simon die Haustür hinter sich schloss. Jetzt war ich also mit Rick alleine. Traumhaft. Alptraumhaft. Wieder rüttelte ich an der Kette. Vielleicht fand ich eine rostige Stelle oder konnte sie irgendwie aufbrechen. Ich studierte den Mechanismus des Schlosses.
„Branco?“, hallte Ricks Stimme durch das Haus. „Branco, komm. Ich habe was zu essen.“ Stille. „Branco?“, rief Rick erneut. Dann ein lauter Fluch. Offensichtlich hatte Rick es aufgegeben, nach Branco zu rufen.
Ein Geräusch ließ mich zur Tür blicken. Mit behäbigen Schritten bewegte sich Branco auf mich zu.
„Hallo, Kleiner“, begrüßte ich das riesige Tier.
Ich hatte mich wieder auf das Sofa gesetzt und so war Brancos großer Kopf auf Augenhöhe mit mir. Ich kraulte ich ihn hinter den Ohren und kämpfte erneut mit Tränen. Aber ich würde nicht heulen, vor niemandem. Auch nicht vor Branco.
Branco grunzte. Dann sprang er wie selbstverständlich auf das Sofa, rollte sich neben mir zusammen und legte den Kopf auf meinen Schoß. Er war wunderbar warm. Erst jetzt bemerkte ich meine eiskalten Füße. Die kaputte Heizung fiel mir wieder ein und ich kuschelte mich enger an Branco, vergrub meine Hände in seinem struppigen Fell. Er roch nach feuchtem Hund, nach Erde und Gras. Sein Fell war schmutzig und seine Pfoten hinterließen auf meiner Jeans braune Flecken. Die Wärme des Tieres ging langsam auf mich über. Ich legte meine Wange an seinen Hinterkopf und fühlte mich nicht mehr ganz so verlassen. Mein Magen knurrte. Aufgeschreckt von diesem Knurren hob Branco den Kopf. Er sah mich mit verständnisvollem Blick an, gab einen Seufzer von sich und entspannte sich wieder.
Versonnen streichelte ich sein Fell und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Meine Augenlieder fühlten sich schwer an. Brancos gleichmäßiger Atem wirkte beruhigend. Ich schloss die Augen. Ohne meine eisigen Füße und das bohrende Gefühl im Magen wäre ich wahrscheinlich auf der Stelle eingeschlafen.
Nein, wäre ich nicht. Dazu saßen Angst und Verzweiflung viel zu tief in meinen Knochen. Es waren vermutlich die letzten paar Stunden, in denen ich noch von meinen Geschichten wusste und so etwas wie ein Leben hatte. Mir blieb nur noch ein einziger Tag, solange bis Moira kam. Vielleicht war Moira dagegen. Vielleicht konnte ich sie überzeugen. Vielleicht bekam Rick die fehlende Zutat nicht …
Aber vielleicht war nicht gut genug. Ich musste hier weg, ich musste aus diesen verfluchten Ketten rauskommen. Noch war nichts verloren. Ich durfte nicht aufgeben. Es musste einen Weg geben. Doch mir lief die Zeit weg. Draußen war es bereits dunkel. Ich hatte keine Uhr und wusste nicht wie lange Rick mich bei meiner Entführung in Bewusstlosigkeit versetzt hatte. Es konnte acht Uhr abends oder auch drei Uhr nachts sein.
„Branco!“, rief Rick.
Beim Klang seiner Stimme zuckte ich zusammen. Rick stand in der Tür und meine Finger krallten sich in Brancos Fell. Branco blieb gelassen. Außer einem kurzen Blick widmete er Rick keinerlei Aufmerksamkeit.
„Branco, komm her.“
Branco ignorierte ihn. Stattdessen stupste er mich mit seiner kalten Schnauze an, eine unmissverständliche Aufforderung, ihn wieder zu kraulen.
„Branco?!“ Rick fluchte und war über Brancos Verhalten sichtlich verärgert.
Trotz meiner verzweifelten Lage konnte ich mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. Erst da fiel mir auf, dass Rick einen Teller mit belegten Broten in seiner rechten Hand hielt, unter seinem linken Arm hatte er eine Decke und eine Flasche Wasser geklemmt. Er stellte den Teller und die Flasche in Reichweite ab, dann warf er mir die Decke zu.
„Das hast du Sarah zu verdanken“, brummte er mürrisch.
Wäre mir auch nicht im Traum eingefallen, dass es seine eigene Idee gewesen sein könnte. Ich überlegte gerade, ob ich ihm den Teller an den Kopf werfen sollte, als sein Handy klingelte.
„Was?“ Ricks Stimme klang unwirsch. „Kann er mir das nicht am Telefon sagen?“ Er verdrehte genervt die Augen. „Na gut. Ich komme.“
Rick legte auf und steckte sein Handy wieder ein. Schweigend ging er zu mir und prüfte die Ketten. Er hielt meine Füße dabei fest, andernfalls hätte ich ihn getreten. Branco beobachtete das Schauspiel mit Interesse, machte jedoch keine Anstalten, seinen Platz neben mir zu verlassen.
„Ich bin bald wieder zurück“, sagte Rick. „Branco wird auf dich aufpassen.“
Ohne ein weiteres Wort verließ Rick den Raum. Wenig später wurde die Haustür zugeknallt.
Ich nahm die Decke, die Rick mir gebracht hatte. Sie war schließlich nicht für mich alleine gedacht. Mit einem Seufzer breitete ich den Stoff über Branco und mir aus. Sofort wurde mein Körper von einer wohligen Wärme erfüllt. War das eine Heizdecke? Verwirrt untersuchte ich den Stoff. Nein, kein Heizelement, einfach nur Wolle. Plötzlich bewegte sich die Decke, krabbelte an mir hoch und wickelte mich bis zu meiner kalten Nasenspitze ein. Ich erstarrte und blieb stocksteif sitzen.
Eine magische Decke? Testweise, zerrte ich sie von mir herunter. Der flauschige Stoff warf Falten und schien mir eine Grimasse zu schneiden. Dann floss die Decke in sanften Wellen auf mich zu und wickelte mich wieder bis zu den Ohren in sich ein. Wie ein lebendig gewordenes großes Kuscheltier.
Vorsichtig zupfte ich den Stoff aus meinem Gesicht. „Lass mir wenigstens ein bisschen Platz zum Atmen.“
Die Decke verstand und glitt tiefer. Wow, tatsächlich magisch. Magie umgab meinen ganzen Körper. Unglaublich. Ich streichelte über den weichen Stoff. Branco gab ein vorwurfsvolles Grunzen von sich. „Keine Angst, dich streichle ich trotzdem lieber als die Decke.“ Ich kraulte sein linkes Ohr und einen Moment lang vergaß ich, dass ich eine Gefangene war. Aber nur einen ganz kurzen Moment. Wenn dieser Psychopath Rick glaubte, mich mit einer Schmusedecke einlullen zu können, hatte er sich getäuscht.
Mein Blick fiel auf die belegten Brote. Womöglich waren sie vergiftet. Verzaubert. Bestimmt war irgendetwas drin, damit ich mich nicht mehr wehrte und alles ausplauderte, was er wissen wollte. Vielleicht hatte er dieses Rigaron schon längst – was immer das sein mochte. Womöglich war das Zeug unter die Butter gemischt. Das Risiko wollte ich nicht eingehen. Mein Magen meldete lauthals Protest an. Trotzdem schob ich den Teller ein Stück von mir weg. Branco sah mich erwartungsvoll an. Ein dünner Speichelfaden rann aus seinem Mund und er schnüffelte in Richtung der Brote.
„Nein, ich werde davon keinen Bissen anrühren. Wer weiß, was dein hinterhältiger Freund da rein gemixt hat.“
Branco sabberte die Decke voll und zeigte keinerlei Verständnis für meine Entscheidung.
„Nur zu, bedien dich. Wenn es dir egal ist, ob du dein Gedächtnis verlierst.“
Branco schnappte sich eins der Brote und fraß es mit sichtlichem Genuss. Dann legte er seine Pfote auf den Teller und schob ihn in meine Richtung. Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Warum eigentlich nicht? Branco hatte schließlich meinen Vorkoster gespielt …
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein. Auf gar keinen Fall! Du kannst sie alle haben.“ Von diesem arroganten Magier-Macho wollte ich nichts annehmen! Rick würde zwar sowieso denken, dass ich die Brote gegessen hatte, aber das war nicht der Punkt. Es ging ums Prinzip!
Branco knurrte missbilligend, gab aber auf und machte sich schließlich auch über die restlichen Brote her und verschlang sie in Windeseile. Dieser Versuchung war ich somit entkommen. Prompt grollte mein Magen erneut. Verdammte Prinzipienreiterin, verfluchte ich mich selbst. Nun war es zu spät, der letzte Bissen war längst zwischen Brancos Zähnen verschwunden. Gut so. Mein Magen würde früher oder später schon einsehen, dass dieses Knurren völlig sinnlos war. Ich nahm mir die Wasserflasche vor, schüttete ein wenig davon für Branco auf den leeren Teller. Nach einigem Hadern mit meinen vermeintlich standhaften Prinzipien nahm ich selbst auch einen Schluck.
Wenigstens war mir warm, sogar meine Füße hatten wieder annähern Körpertemperatur. Erneut rüttelte ich an meiner Fessel. Zur Hölle, ich ließ mich von niemandem in Ketten legen, auch nicht von meinen eigenen Romanfiguren. Ich musste hier weg. Wenn Rick meinen richtigen Namen nicht kannte, wusste er auch nicht, wo ich wohnte. Vielleicht konnte ich mich in meiner Wohnung verstecken, zumindest so lange bis mir was Besseres einfiel. Womöglich waren diese Leute doch nur ein Haufen von perversen Verrückten, dann gab es gar kein Rigaron …? Aber perverse Verrückte besaßen normalerweise keine magischen Schmusedecken.
Wie viel Zeit blieb mir wohl, bis Rick zurückkam? Ich brauchte ein Werkzeug, um das Schloss der Fußfessel zu knacken. Irgendwas, das ich als eine Art Dietrich benutzen konnte. Nur was? Die Wasserflasche war aus Plastik, nicht ein Quäntchen Metall daran. Einer plötzlichen Eingebung folgend wippte ich auf dem Sofa. Es quietschte. Sehr gut, das könnte funktionieren. Ich schubste Branco vom Polster.
„Tut mir leid, mein Kleiner. Ich muss was ausprobieren.“
Ich warf die Decke auf den Boden und kniete mich vor das Sofa. Der Bezugsstoff war mit großen Heftklammern am Rahmen befestigt. Ich versuchte eine davon mit dem Daumennagel wegzupulen und riss mir den Fingernagel so tief ein, dass es blutete. Sogar ziemlich heftig, ich tropfte den Boden und das Sofa voll. Das würde eine Riesensauerei geben. Geschah Rick recht! Aber die Heftklammer saß immer noch fest. Suchend blickte ich mich um und überlegte, womit ich es als nächstes versuchen sollte.
Branco hatte sich auf dem Boden niedergelassen und beobachtete mich lauernd. Schade, dass er kein Halsband trug, daraus hätte sich bestimmt etwas machen lassen. Die magische Decke hatte sich neben ihm zusammengeknüllt und robbte ein Stück in meine Richtung.
Reißverschluß, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Ich zog meine Jacke aus und bohrte den Zipfel des Reißverschlusses unter die Heftklammer. Vorsichtig wackelte ich damit hin und her. Es funktionierte. Kaum hatte ich die Metallklammer entfernt, bohrte ich meinen Zeigefinger unter den Stoff und zerrte daran. Zwei weitere Heftklammern sprangen ab. Jetzt war Platz genug, um mit der ganzen Hand zuzugreifen. Verbissen riss ich den Stoff weiter aus seiner Verankerung. Ich brauchte nur ein kleines Stück frei zu legen, bis ich zur ersten Feder des Sofas kam. Voila, geschafft! Ich entfernte die weiche Polsterung und bog die Feder zurecht. Dann legte ich meinen Fuß auf das Sofa, so dass ich das Ende der Feder in den Verschluss bohren konnte. Ich verrenkte mich wie ein Schlangenmensch, um mit der Polsterfeder das Schloss der Fußfessel zu knacken. Vergeblich. Das Ding gab nicht mal ein Klicken von sich. Ungeduldig zog ich meinen Schuh aus, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen. Aber das brachte mich auch nicht weiter. Enttäuscht hielt ich inne und setzte mich auf den Boden.
Die Schmusedecke hatte sich in die hinterste Ecke des Raumes verzogen, als hätte sie Angst, ich würde sie als nächstes massakrieren. Ich betrachtete das ruinierte Sofa und dachte mit Grauen daran, wie Rick auf diesen Anblick reagieren würde.
Erneut rüttelte ich an der Fessel, um sie über meine Ferse zu kriegen. Sie war nicht besonders eng, vielleicht konnte ich mich irgendwie herauswinden. Ich zog die Socke aus. Wieder ein bisschen Platz gewonnen. Ich rückte von dem Heizungsrohr ab, bis die Kette stramm gezogen war. Dann stemmte ich mich mit dem freien Fuß gegen die Wand und zerrte mit aller Gewalt. Das Metall schnitt in mein Fußgelenk. Ich biss die Zähne zusammen, holte tief Luft und versuchte es erneut. Nichts.
Vielleicht mit einem Ruck? Ich entspannte mich kurz und zog dann abrupt mein Bein an. Der Eisenring rammte sich tief in mein Gelenk und ein stechender Schmerz ging durch mein ganzes Bein. Verdammt. Ich würde einen dicken fetten Bluterguss am Knöchel bekommen – und war trotzdem noch in dieser verfluchten Fußfessel. Warme Feuchtigkeit lief über meinen Knöchel. Ich richtete mich langsam auf und untersuchte meinen blutenden Fuß. Hm, vielleicht war das gar nicht so schlecht. Blut war glitschig, vielleicht konnte ich so herausgleiten. Und wenn ich noch ein wenig Hornhaut von meiner Ferse opferte, spann ich den Gedanken weiter, dann war mein Fuß vielleicht schmal genug. Ich griff nach dem leeren Teller und warf ihn zu Boden. Mit einem lauten Scheppern zersprang er in drei große Stücke. Branco schreckte auf und knurrte. Ich griff nach der schmalsten Scherbe und begutachtete meinen Fuß. Branco bellte.
„Ach, sei bloß still!“, rief ich. „Was glaubst du denn, was Rick erst mit mir tun wird. Eine feine Gesellschaft hast du dir da ausgesucht.“
Vorsichtig setzte ich die Scherbe an meine Ferse und ritzte die Haut probeweise. Viel zu zaghaft, so ging das nicht. Ich brauchte einen schnellen Schnitt, mit diesem Rumgekratze würde ich es nie fertigbringen. Ich musste nur darauf achten, die Sehne nicht zu verletzen, Hornhaut wuchs schließlich nach. Und wenn das auch nicht reichte, dann ...
Ich hatte keine Ahnung, was ich dann tun sollte, denn so kaltblütig, meinen ganzen Fuß zu opfern, war ich definitiv nicht. Ich holte tief Luft und biss die Zähne zusammen. Tu so als wäre das nicht dein Fuß, befahl ich mir selbst und dachte daran, was Rick mit mir vorhatte, wenn ich es nicht schaffte, aus dieser vermaledeiten Fessel rauszukommen. Ich hatte gerade all meinen Mut gesammelt und legte die Scherbe schräg an meine Ferse, als Branco mit den Zähnen an meinem Ärmel zog.
„Lass mich.“ Ich befreite meinen Arm und setzte die Scherbe erneut an.
Branco sprang auf meinen Rücken und drückte mich zu Boden. Ich versuchte ihn abzuschütteln, aber dieses riesige Wesen war geschätzte zwanzig Pfund schwerer als ich. Nach einigen Minuten erfolglosen Ringens gab ich schließlich auf.
„Okay, hast du eine bessere Idee?“, fragte ich ihn vorwurfsvoll.
Er gab ein warnendes Knurren von sich und ging von mir runter. Bevor ich nach der Scherbe greifen konnte, schubste er sie gewandt mit einer Pfote aus meiner Reichweite.
„Wenn du glaubst, dass mich das aufhält, dann hast du dich getäuscht.“
Branco verfrachtete auch die anderen beiden Scherben in unerreichbare Entfernung und trollte sich nach draußen.
„Verdammter Mist!“ Erneut zerrte ich an den Fesseln. Es tat höllisch weh. Ein glatter Schnitt mit der Scherbe wäre vermutlich weitaus weniger schmerzhaft gewesen als dieses stumpfe Metall. Mein Knöchel war knallrot und mit Schürfwunden übersät, aus denen kleine rote Bäche rannen. Erste Anzeichen von blauen Flecken zeigten sich. Wenn ich Pech hatte, gab es eine Schwellung rund um meinen Knöchel und dann kam ich mit Sicherheit nicht mehr von dieser verdammten Kette los. Plötzlich hörte ich draußen ohrenbetäubenden Lärm. Was machte Branco da, zerlegte er die Möbel? Oder war Rick zurückgekehrt?
Ich sah zur Tür. Gemächlichen Schrittes kam Branco wieder zurück. Zwischen seinen Zähnen ein glänzender Schlüsselbund!
„Branco!“, freute ich mich. „Du bist der Beste.“
Grunzend ließ Branco die Schlüssel in meinen Schoß fallen. Ich umarmte ihn voll Dankbarkeit. Dann machte ich mich daran, die Schlüssel durchzuprobieren. „Wieso hast du sie mir nicht früher gebracht?“ Ich stutzte. „Warum hast du sie mir überhaupt gebracht?“ Branco mochte zwar mit Ricks Verhalten nicht einverstanden sein, aber dass er seinem Freund in den Rücken fiel, kam mir dann doch seltsam vor. Ich warf Branco einen zweifelnden Blick zu. Er hatte sich mit Unschuldsmiene wieder auf dem Boden neben mir niedergelassen und schien abzuwarten, was als nächstes passierte.
Egal, Hauptsache, ich kam hier weg.
Keiner der Schlüssel passte, aber einer hatte zumindest die richtige Größe. Vorsichtig rüttelte ich hin und her. Er bewegte sich. Mit sanfter Gewalt bearbeitete ich das Schloss. Ein Klicken. Ich schloss die Augen. „Bitte, geh auf“, flüsterte ich verzweifelt. Kaum hatte ich die Worte ausgesprochen öffnete sich die Fessel. Geschafft!
Branco drängte sich neben mich und ich umarmte ihn voll Erleichterung.
„Danke, Branco!“, rief ich. „Du bist ein Engel. Ich hab zwar keinen Ahnung, warum du mir hilfst, aber ... Danke!“ Wie war dieses wunderbare Wesen nur an einen Typen wie Rick geraten?
Hastig streifte ich mir meine Socke über und zog meinen Schuh wieder an. Ich warf einen letzten Blick auf das Chaos, das ich Rick hinterließ. Ein zerfleddertes Sofa, Scherben und überall Blutflecken. Und Ricks vermeintlich hilflose Gefangene war weg. Diese Schlacht hatte ich gewonnen! Mit grimmigem Lächeln packte ich den Schlüsselbund und eilte Richtung Haustür. Als ich nach dem Türknauf greifen wollte, ertönte ein Zischen. Ich zuckte zurück. Der Knauf begann zu glühen und bewegte sich. Branco schnappte nach meinem Jeansbein und zog mich von der Tür weg. Das Metall verformte sich, der Knauf wurde zu einer rot glühenden Schlange, die ihren Kopf reckte, als wäre sie gerade erwacht. Sie richtete ihre knopfförmigen Augen auf mich. Plötzlich schoss ihr Kopf vor und schnappte nach mir. Hätte Branco mich nicht zurückgezerrt, hätte sich ihre Eckzähne in meine Hand gebohrt. Fasziniert starrte ich die glühende Schlange an. Das war Magie. Richtige Magie! Genau vor meiner Nase. Was war das für ein Zauber? Es war faszinierend und ich hätte mir den zischenden Türwächter nur zu gerne genauer angesehen, aber ich dazu hatte ich keine Zeit. Denn an meiner verzweifelten Lage hatte sich nichts geändert. Die Fußfessel war ich endlich los, doch nun stand ich vor verschlossener Tür. Hatte Branco das gewusst? Hatte er mir nur deswegen so bereitwillig geholfen, weil ihm von vorneherein klar gewesen war, dass ich sowieso nicht raus kam?
Mist! Verdammter Mist! Rick hatte also doch einen Weg gefunden, die Bibliothek ausbruchssicher zu machen. Aber ich musste hier weg sein, bevor Rick zurückkehrte. Womöglich mit allen Zutaten, die er brauchte, um mein Gedächtnis zu löschen. Aber wie zur Hölle sollte ich an der magischen Schlange vorbeikommen? Jede Wette, dass sie giftig war. Wie zur Bestätigung, schnappte der Schlangenkopf erneut nach mir. Auch wenn ich bezweifelte, dass ihr Biss tödlich war – das sah Rick einfach nicht ähnlich –, so war ich mir doch ziemlich sicher, dass ihr Gift mich in das Land der Träume schicken würde.
Dann eben nicht durch die Tür, für was gab es Fenster. Ich lief zurück in die Bibliothek mit dem zerfledderten Sofa. Branco folgte mir. Ich öffnete das nächstbeste Fenster und sah nach unten. Schätzungsweise zwei Meter tief. Vielleicht waren es auch drei? Ich war nicht besonders sportlich und Geschicklichkeit war noch nie meine Stärke gewesen … Verdammt, es war das Erdgeschoss, nur ein kleines bisschen nach oben versetzt. Das konnten rein logisch gar keine drei Meter sein! Bestimmt war das nur irgendeine magische Illusion, die mich abhalten sollte, aus dem Fenster zu flüchten. Oder ich war einfach nur ein Angsthase. Außerdem gab es unten Gebüsch. Das sollte meinen Fall lindern.
„Ich glaube, es ist besser, wenn du hier bleibst.“ Ich kletterte auf das Fensterbrett und versuchte Branco wegzuscheuchen. Erfolglos. Er sprang mit den Vorderpfoten neben mich und drückte seinen Kopf an mein Bein.
„Denkst du nicht, dass du meinetwegen schon genug Ärger am Hals hast?“, fragte ich Branco. „Wenn du mich auch noch bei meiner Flucht begleitest, wird Rick endgültig ausrasten.“ Da ging mir ein Licht auf. Branco wollte mir folgen, um herauszufinden, wer ich war. „Das ist es also. Deswegen hilfst du mir. Du bist bei weitem cleverer als dein Freund.“ Ich sah ihn zögernd an. Wenn er später Rick zu meiner Wohnung führte, dann war es vorbei mit meiner geheimen Identität. Andererseits sah ich auch keine Möglichkeit, wie ich Branco davon abhalten konnte, mir zu folgen. Erst mal weg von hier, dann würde mir schon was einfallen.
Wieder sah ich nach unten. Drei Meter, mindestens. Es wirkte jetzt sogar noch tiefer. Nur nicht zuviel darüber nachdenken. Besser ein gebrochenes Bein als ein gelöschtes Gedächtnis. Ich atmete tief durch und sprang. Im nächsten Moment spürte ich Brancos Körper neben mir. Instinktiv griff ich nach seinem Fell und plötzlich schien alles in Zeitlupe abzulaufen. So langsam, dass sogar ein Tollpatsch wie ich sanft landen konnte. Unten angekommen sah ich verwirrt zu Branco. Er war das gewesen und hatte mich mit diesem Zeitlupeneffekt vor Knochenbrüchen bewahrt. Ich hatte zwar gewusst, dass Branco ein magisches Wesen war, aber dass er so etwas konnte, hätte ich nicht vermutet.
Doch wieso half er mir eigentlich? Nur um Rick später zu meiner Wohnung führen zu können?
Ein Geräusch unterbrach meine Gedanken. Ein Auto näherte sich. Ich musste hier schleunigst verschwinden. Über Branco konnte ich später nachdenken.
Ich schlich an der Hauswand entlang, um sehen zu können, wer zur Bibliothek gekommen war. Ricks charakteristische Gestalt zeichnete sich im fahlen Licht der Straßenlaternen ab. Ich sah ihn aussteigen und ins Haus gehen. Durch das offene Fenster ertönte ein lauter Fluch. Was sollte ich jetzt tun? Rick war schneller und stärker als ich. Meine einzige Chance war es, mich zu verstecken. Die Dunkelheit draußen erleichterte die Sache. Hoffentlich gab es keinen Zauberspruch, mit dem man entflohene Frauen aufspüren konnte. Ich hörte, wie Rick nach Branco rief.
„Los geh zu ihm“, flüsterte ich. Doch Branco rührte sich nicht von der Stelle. Ich robbte ein Stück näher Richtung Ausfahrt, um die Entfernung zur Straße abzuschätzen. Vorsichtig reckte ich den Kopf. Rick hatte die Autotür offen gelassen. Womöglich steckte sogar der Schlüssel noch …? Da hörte ich harte Schritte. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig ducken, bevor Rick aus der Haustür stürmte und sie mit einem lauten Knall zuwarf.
„Diese kleine Biest“, fluchte er lauthals. „Ich hätte das störrische Weibsstück niemals alleine lassen sollen. Frauen. Wenn ich sie in die Finger kriege, werde ich ihr den Hals umdrehen.“
Ich schluckte und griff mir unwillkürlich an besagten Hals.
„Oder ihr eine Tracht Prügel verpassen“, fuhr Rick mit seiner Schimpftirade fort. „So viel Verstand wie eine Ameise.“
Was hatte denn mein Verstand damit zu tun? Ich fand meine Flucht durchaus vernünftig.
„Branco, du verdammter Drecksköter!“, brüllte Rick. „Wo bist du? Scheiße noch mal, komm gefälligst her! Wenn ich dich erwische, dann ...!“
Ängstlich streichelte ich Brancos buschiges Fell. Mehr zu meiner eigenen Beruhigung, denn Branco blieb von Ricks Wutausbruch gänzlich unbeeindruckt. Rick ließ einen neuen Schwall von Beschimpfungen los, stieg dann ins Auto und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Ich atmete auf. Mein Fluchtweg war endlich frei. Offenbar dachte Rick, ich wäre schon längst über alle Berge.
„Ich schätze, jetzt ist Rick auf uns beide sauer“, sagte ich zu Branco, der noch immer keinen Millimeter von meiner Seite rückte. „Na gut, dann komm eben mit. Ich kann dich sowieso nicht davon abhalten.“
Orientierungslos blickte ich mich um, ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Es schien eine ziemlich abgerissene Wohngegend zu sein. Es sah tatsächlich so aus, wie ich es mir vorgestellt und auch beschrieben hatte – was mich allerdings nicht weiterbrachte. Ich hatte keine Wegbeschreibung in meinem Roman gegeben. Verwinkelte Gassen, mehr war mir dazu nicht eingefallen. Ich atmete tief durch und schlug schließlich die Richtung ein, in die Rick mit seinem Auto verschwunden war. Das erschien mir noch am sinnvollsten, denn er suchte mich vermutlich in der Innenstadt. Ich würde einfach so lange geradeaus laufen, bis ich auf eine größere Straße stieß. Oder eine U-Bahn Station fand.
Es wäre wesentlich klüger, Branco nicht mit zu mir nach Hause zu nehmen. Aber von mitnehmen konnte auch keine Rede sein. Er verfolgte mich und ich konnte es nicht verhindern. Ich fühlte mich wie ein Sträfling auf Knasturlaub. Die Kette war ich zwar los und auch diesem magischen Bunker entkommen, aber frei war ich immer noch nicht. Vielleicht sollte ich woandershin gehen, in ein Hotel zum Beispiel. Doch dazu fehlte mir das Geld, das war in meiner Wohnung. Wie man es auch drehte und wendete, es blieb nur meine Wohnung. Weil ich einfach nicht wusste, wo ich mich sonst verkriechen sollte.
Mist! Rick hatte mir meinen Wohnungsschlüssel abgenommen. Ich musste bei meiner Vermieterin den Zweitschlüssel holen. Wenigstens konnte Rick mit meinem Schlüssel nichts anfangen. Zumindest solange ihm Branco nicht meine Adresse verriet. Aber vielleicht würde Branco ihn auch gar nicht zu mir führen ...? Und vielleicht gab es den Weihnachtsmann wirklich. Verdammter Mist!
Zwei Querstraßen weiter fand ich eine Straßenbahnhaltestelle. Der Linienplan war eine willkommene Orientierungshilfe. Nun wusste ich wenigstens, in welchem Stadtteil ich war. Ich studierte die Abfahrtszeiten. Die nächste Straßenbahn kam erst in einer halben Stunde. Es war viel zu kalt, um so lange zu warten. Vielleicht sollte ich mir die nächstgelegene U-Bahn Station suchen, überlegte ich. U-Bahnen fuhren in Aston weitaus häufiger als Straßenbahnen. Doch wenn man diesem Netzplan glauben durfte, war die nächste U-Bahn Station ziemlich weit weg. Resigniert folgte ich den Schienen. Ich hatte sowieso kein Geld, versuchte ich mich zu trösten, und bislang hatte man mich noch jedes Mal erwischt, wenn ich ohne gültiges Ticket gefahren war. Aber bis zu meiner Wohnung war es ein weiter Weg. Viel zu weit. Mein Knöchel war angeschwollen und ich musste humpeln, damit der Schmerz erträglich blieb. Wie war das noch? Einfach weiter laufen, damit sich kein Bluterguss im Gelenk bilden konnte? Oder lieber ruhig stellen, damit es gar nicht erst anschwoll? Keine Ahnung. Ich hatte ohnehin keine Wahl, also konnte ich mir genauso gut einreden, dass es besser war, den Fuß zu bewegen. Es dauerte nicht lange, bis ich merkte, dass ruhig stellen die klügere Option gewesen wäre. Rein theoretisch zumindest.
Ich blieb kurz stehen und massierte meinen Knöchel. Zur Hölle mit dieser Wehleidigkeit. Wenn ich zu lange trödelte, dann fand mich Rick innerhalb kürzester Zeit. Aber früher oder später passierte das sowieso, zumindest wenn ich in meiner Wohnung blieb. Am besten, ich holte aus meiner Wohnung nur schnell mein Geld und ein paar Sachen. Den Laptop, Sicherungskopien und einige Kleider zum Wechseln. Danach könnte ich mich an meinen geheimen Lieblingsstrand flüchten, den kannte kaum jemand. Aber würde das etwas nutzen? Wohl kaum, solange ich Branco im Schlepptau hatte. Besser ich kaufte mir ein Zugticket nach … irgendwohin. Hauptsache weit weg von Rick. Außerdem musste ich unbedingt Branco loswerden – oder sicherstellen, dass er Rick nicht zu mir führte. Aber selbst wenn ich Branco abschütteln konnte, standen meine Chancen denkbar schlecht. Ich hatte vom Untertauchen keine Ahnung. Rick war dafür Experte im Aufspüren. Bestimmt gab es dafür einen Zauberspruch. Vielleicht hatte er mir schon längst ein unsichtbares magisches Zeichen verpasst, mit dem er mich überall finden konnte. Verfluchter Magier! Aber noch war ich in Freiheit und ich würde bis zum letzten Atemzug kämpfen! Wenn Rick mir meine Geschichten wegnehmen wollte, dann nur über meine Leiche. Und das meinte ich verdammt noch mal wörtlich!
Verbissen humpelte ich weiter, bis ich endlich eine Straßenbahn fand, in die ich ohne langes Warten einsteigen konnte. Erstaunlicherweise wurde ich diesmal nicht beim Schwarzfahren erwischt. Vielleicht hatte Branco die Kontrolleure abgeschreckt. Oder Straßenbahnen mit kaputter Heizung wurden nicht kontrolliert. Als ich schließlich ausstieg, waren meine Füße so kalt, dass ich den Schmerz in meinem Knöchel kaum noch wahrnahm. Hatte doch alles sein Gutes.
Endlich war ich wieder auf bekanntem Terrain, meine Wohnung in greifbarer Nähe. Wenn ich die Abkürzung durch den Stadtpark ging, waren es nur wenige Minuten Fußweg. Die bewaldete Grünfläche des Stadtparks hatte die Form einer Landzunge mit rund drei Kilometer Länge und fast einen Kilometer Breite. Bis auf zwei kleine Durchgangsstraßen gab es nur ein paar Trampelpfade, einer davon war die Abkürzung zu meiner Wohnung. Stadtauswärts ging der Stadtpark nahtlos in ein Naturschutzgebiet über. Streng genommen war es eigentlich gar kein Park, sondern vielmehr ein übrig gebliebener Waldabschnitt, um den ein Rechtsstreit zwischen Stadtverwaltung und Umweltschützern tobte. Abgesehen davon hatte dieser Grünstreifen einen gewissen Ruf und die meisten Jogger und Fußgänger mieden ihn. Ich traute mich auch nur tagsüber hinein, nach Einbruch der Dunkelheit nahm ich lieber einen Umweg. Aber mit Branco an meiner Seite konnte mir schließlich nichts passieren.
Der schmale Waldstreifen wirkte menschenleer. Trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, verfolgt zu werden. Schon seit ich aus der Straßenbahn ausgestiegen war. Reine Paranoia. Aber wer konnte mir das nach allem, was passiert war, auch verübeln. Meine Hand fuhr automatisch in die leere Jackentasche. Herzlichen Dank, lieber Rick, ohne Tränengas war es nachts auch viel sicherer. Immerhin war es nicht mehr stockdunkel, am Horizont kündigte sich bereits Morgengrauen an. Normalerweise hätte ich um diese Uhrzeit keinen Fuß vor die Türe gesetzt, denn ich war ein ausgesprochener Langschläfer.
Ich saugte die klare Luft in meine Lungen. Es roch nach Frühling. Natürlich roch es nach Frühling, es war Frühling. Festgeschweißt vor dem Rechner und in meine Romane vertieft, hatte ich den Wechsel der Jahreszeiten gar nicht bemerkt. Mein Leben hatte sich nur noch in meinem Kopf abgespielt. Völlig versunken in Fantasiewelten.
Bis gestern. Bis ich Rick in die Augen gesehen hatte. Ein leiser Schauer lief mir über den Rücken, als ich an ihn dachte. Trotz all meiner Fluchtbemühungen hatte ich kaum Zweifel daran, dass wir uns wiedersehen würden und dann … Besser nicht darüber nachdenken.
Nach einigen Metern war der Wald so dicht, dass die Stadt verschwunden schien. Eine kleine grüne Wildnis inmitten der Zivilisation. Es war eine eigenartige Stimmung. Der hereinbrechende Morgen färbte die Landschaft in ein gespenstisches Graublau. Die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm. Um diese Uhrzeit war ich vermutlich die einzige Spaziergängerin in dem verrufenen Park.
Plötzlich hob Branco den Kopf, seine Schnauze zuckte. Er witterte etwas. Gab es hier Wild? Hastig zog ich meinen Schal vom Hals und legte ihn Branco als Leine um. Ich hatte zwar vollstes Vertrauen in Brancos Intelligenz und er war auch kein Hund oder Wolf, aber ich wusste nicht, was für ein Wesen er war und wie Branco reagierte, wenn seine Jagdinstinkte erwachten, falls er welche hatte. Ich blieb stehen und lauschte angestrengt. Es war nichts zu hören, doch Brancos Wahrnehmung war mit Sicherheit besser als meine Ohren. Vorsichtig ging ich weiter, blickte nervös hinter mich und spähte ins Unterholz. Branco knurrte erneut, diesmal deutlich lauter. Dann hörte ich es auch. Rascheln. Schritte. Schwere Schritte. Viele Schritte. Oder war das ein Rudel Wildschweine? Als verzärteltes Großstadtkind hatte ich keine Ahnung, wie man das unterscheiden sollte. Ich packte meinen Schal fester. Branco blieb abrupt stehen und schlüpfte aus dem improvisierten Halsband, das ich aus meinem Schal gebastelt hatte.
„Branco nicht“, flehte ich voll Angst, er könnte einfach zwischen den Bäumen verschwinden und mich alleine lassen. Doch er machte keine Anstalten wegzulaufen. Offenbar hatte ihn nur mein Schal gestört. Er war es eben nicht gewohnt, sich festbinden zu lassen. Daraus konnte ich ihm keinen Vorwurf machen.
„Guter Junge“, murmelte ich und versuchte ihn mit sanftem Kraulen zu beruhigen. Erfolglos. Brancos Knurren wurde lauter, er senkte den Kopf und sträubte das Nackenfell.
Die Geräusche kamen näher. Welches vernünftige Waldtier bewegte sich auf einen Spaziergänger zu? Sollte mein menschlicher Geruch nicht abschreckend wirken? Oder gab es hier noch echte Raubtiere, die dachten, ich könnte ein schmackhaftes Frühstück abgeben? War hier womöglich tollwutgefährdetes Gebiet? Ich beugte mich zu Branco hinunter und schlag meine Arme um seinen Hals. „Bitte, bleib bei mir.“ Ich hatte keine Ahnung, ob Branco geimpft war. Wenn er sich mit Tollwut ansteckte, würde ich mir das nie verzeihen. Ich legte meine Wange an sein Fell und spürte wie sein Körper unter dem tiefen Grollen aus seiner Kehle vibrierte.
Das Rascheln wurde immer lauter. Es mussten sehr große Tiere sein. Das Getrampel war erstaunlich gleichmäßig. Seit wann liefen Tiere im Gleichschritt? Verdammt, das waren Menschen. Instinktiv zog ich Branco ein Stück vom Waldpfad weg, verbarg mich hinter den Bäumen. Ich wollte von niemandem gesehen werden, bloß keine Hinweise hinterlassen, denen Rick folgen konnte. Einfach hinter diesem Baum bleiben, bis die Leute weg waren.
„Sei still, bitte“, flüsterte ich Branco zu.
Brancos Knurren wurde tatsächlich leiser und schließlich verstummte er. Ich ging in die Hocke und schmiegte mich an seinen großen warmen Körper. Ich versuchte so leise wie möglich zu atmen, verharrte bewegungslos. Die Schritte wurden schneller. Umso besser, dann waren sie auch schneller wieder weg. Vorsichtig lugte ich um den Baumstamm. Drei große Umrisse. Männer. Mit einigem Erstaunen stellte ich fest, dass sie Gewehre über den Schultern trugen. Jäger? Förster? Oder war hier ein Truppenübungsgebiet? Nein, es war schließlich ein Stadtpark. Ein Stadtpark, der direkt in das Naturschutzgebiet überging. Verflucht, wenn es Förster waren und sie einen vermeintlichen riesigen Hund wie Branco ohne Halsband und Leine sahen, steckten wir in Schwierigkeiten. Womöglich würden sie Branco einfach erschießen, ganz gleich, ob er tatsächlich wilderte oder nicht. Ich schlang meine Arme fester um Branco und betete, dass er ruhig blieb.
Einer der Männer, offenbar der Anführer, schritt voraus, die anderen beiden folgten ihm. Der Anführer war schätzungsweise fünfzig Jahre alt. Er hatte rötliche Haare, die akkurat gestutzt waren, eine verbogenen Nase und Hamsterbacken. Ein blonder, pickliger Riese mit verkniffenem Gesichtsausdruck lief pflichteifrig hinter ihm her. In einigem Abstand folgte der Dritte, ein Schwarzer. Er war athletisch gebaut und bewegte sich so anmutig wie ein Dressman aus einer Sportwerbung. Er passte nicht zu den anderen beiden, aber das lag nicht an seinem gepflegten Äußeren. Vielmehr waren es seine sanften Gesichtszüge, die in krassem Widerspruch zu seinem bewaffneten Aufzug standen. Die drei eilten im Stechschritt an mir vorbei. Ich wollte schon aufatmen, doch dann hielten sie plötzlich an.
„Wo ist sie geblieben?“, fragte der rotblonde Anführer.
„Gerade eben hatte ich die Spur noch“, antwortete der picklige Riese.
Sie drehten sich um und gingen wieder einige Meter zurück, genau bis zu der Stellen, an der ich mit Branco in den Wald eingebogen war. Mein Magen verkrampfte sich. Das konnte doch nicht sein. Weshalb sollten mich Förster verfolgen? Nur wegen Branco?
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen und die blanke Angst ergriff mein Herz.
„Los, rauskommen!“, befahl eine barsche Stimme und bestätigte meinen Verdacht.
Verfluchter Mist. Es waren tatsächlich SOLFs. „Bleib hier“, flüsterte ich Branco zu.
„Rauskommen, sagte ich“, ertönte die Stimme erneut.
Ich stand auf und machte einige Schritte auf die Männer zu, während ich vergeblich versuchte, Branco davon abzuhalten, mir zu folgen. Laut knurrend stellte er sich vor mich. Ich straffte meine Schultern und gab mich betont selbstbewusst. Nur nicht einschüchtern lassen.
„Was wollen Sie?“, fragte ich herausfordernd und krallte meine Hand fester in Brancos Fell.
„Mitkommen! Und halt deinen Hund zurück“, blaffte der rotblonde Anführer mit den Hamsterbacken.
„Nein“, antwortete ich ruhig.
Hamsterbacke stutzte. Er war es offenbar nicht gewohnt, dass man sich seinen Befehlen widersetzte. Er winkte den anderen beiden zu. Sie nahmen ihre Gewehre in Anschlag und zielten auf mich. Ich schluckte, rührte mich aber keinen Millimeter von der Stelle.
„Hierher! Sofort!“ Hamsterbacke wurde ärgerlich.
„Nein.“
„Wir können dich auch erschießen!“
„Sie werden mich nicht erschießen, sonst hätten Sie das längst getan. Sie wollen mich lebend“, gab ich mit einer Kaltblütigkeit zurück, die ich keineswegs empfand. Meine Hände zitterten und ich hatte das Gefühl, als könnten meine Knie jederzeit unter mir nachgeben. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie ich aus dieser Zwickmühle wieder rauskommen sollte, aber ich wusste instinktiv, dass ich mir meine Angst nicht anmerken lassen durfte.
Hamsterbacke betrachtete mich abschätzend, dann wandte er sich an seine Begleiter. „Holt sie“, befahl er den Männern.
Noch bevor die beiden seinem Befehl Folge leisten konnten, stürmte Branco los und riss den Anführer zu Boden. Blindlings rannte ich ihm hinterher, doch der Picklige war schneller. Ein schwerer Stiefel traf meine linke Hüfte und ich fiel zu Boden. Pickelgesicht stürzte sich auf mich und wollte mich niederdrücken. Doch wie die meisten Menschen unterschätze er meine vom Schwimmen trainierte Armmuskulatur. Ich rammte meinen Ellbogen gegen seinen Kehlkopf und verschaffte mir eine kurze Atempause. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Branco über dem Anführer stand, bereit seine scharfen Zähne in dessen Kehle zu rammen. Ich wand mich unter dem nach Luft schnappendem Pickligen hervor und trat ihn in den Bauch. In Bruchteilen von Sekunden schätzte ich die Lage ein. Nur der schwarze Dressman stand noch aufrecht. Reichlich orientierungslos beobachtete er das Handgemenge und wusste offenbar nicht, wem er zuerst zur Hilfe eilen sollte. Er war von der Situation völlig überfordert. Das war meine Chance zu flüchten.
„Branco, komm!“, schrie ich und rannte los. Doch Branco machte keine Anstalten mir zu folgen. Er stand noch immer auf dem Anführer, hatte sich in dessen Arm verbissen. Ich wurde langsamer und wollte erneut nach ihm rufen. Zur Hölle, was machte Branco da? Wollte er mir etwa auf diese Art einen Vorsprung verschaffen?
„Knall den Köter ab“, befahl der Anführer, der sich vergeblich gegen Branco wehrte.
„Nein!“ Erschrocken blieb ich stehen.
Der Dressman hielt das Gewehr auf Branco gerichtet.
„Nein! Nicht!“, schrie ich erneut und lief wieder zurück, stellte mich genau vor den Gewehrlauf. Verblüfft starrte mich der Dressman an und ließ sein Gewehr sinken.
„Ruf deinen beschissenen Hund zurück oder ich werde ihn erschießen.“ Der Picklige sah mich voll Hass aus zusammengekniffenen Augen an und zielte von der Seite auf Brancos Kopf.
Ich eilte zu Branco und konnte ihn nur mühsam vom Anführer wegzerren. Dabei achtete ich darauf, immer in der Schusslinie zwischen dem Soldaten und Branco zu stehen. Mich wollte sie offenbar lebendig fangen, aber Branco schwebte in Todesgefahr. Der Anführer sprang auf, traute sich jedoch nicht, mich zu packen. Sein Arm blutete von Brancos Zähnen.
„Lasst meinen Hund gehen und ich komme freiwillig mit“, versuchte ich zu verhandeln. Ich hatte sowieso keine Chance zu entkommen, aber ich musste wenigstens Branco retten. Abschätzend blickte ich die Männer reihum an. Mordlust in den Augen des Anführers, Verachtung und Wut bei dem Pickligen. Nur beim schwarzen Dressman glaubte ich eine Spur von Mitleid zu entdecken. Doch ausgerechnet er ging auf mich los. Mit einer unerwartet schnellen Bewegung knallte er Branco den Gewehrkolben gegen den Kopf und fast zeitgleich verdrehte er mir den Arm auf den Rücken.
„Branco! Nein!“ Ich trat um mich, versuchte verzweifelt, mich aus dem Griff des schwarzen Dressmans zu befreien. Er verdrehte meinen Arm noch ein Stück weiter. Brennender Schmerz durchzog meinen Arm und ich glaubte, er würde brechen. Mit den sanften Gesichtszügen hatte ich mich gründlich geirrt.
„Sei still, sonst erschießen sie deinen Hund wirklich noch“, raunte mir der Dressman ins Ohr. Dann rief er lauter. „Ich hab die Schlampe, lasst uns endlich gehen, bevor hier noch irgendein Spaziergänger auftaucht.“
Der Anführer nahm mit dem unverletzten Arm seine Waffe und zielte auf Branco. Doch bevor er abdrücken konnte, mischte sich Dressman ein.
„Sir, mit allem Respekt, ich habe ihm den Schädel gebrochen. Wir sollten keinen unnötigen Lärm machen.“
Ich schrie erneut auf. Sofort presste mir der Dressman seine Hand auf den Mund.
Der Anführer gab Brancos leblosem Körper einen Tritt. „Fessle sie und dann Abrücken“, befahl er barsch und schritt voran. Pickelgesicht folgte ihm. Der schwarze Dressman lockerte kurz seinen Griff und zog Handschellen hervor. Er ließ sich auffallend viel Zeit oder kam mir alles nur so langsam vor? Ich machte keine Anstalten mehr, zu flüchten. Meine Augen brannten, mein Mund war trocken. Ich weinte nicht, nicht jetzt, nicht hier, nicht vor den Augen der SOLFs.
Eisige Kälte erfüllte meinen Körper. Branco war tot. Durch meine Schuld. Widerstandslos ließ ich mir Handschellen anlegen, wehrte mich auch nicht, als man mir den Mund verband. Der Knebel saß eng und schnürte sich unangenehm in meine Mundwinkel. Ich sah den schwarzen Dressman hasserfüllt an. Doch er schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich stutzte, dann blickte ich zu Branco. Bildete ich mir das ein oder ... Nein, tatsächlich, Branco bewegte sich, seine rechte Vorderpfote zuckte, sein Kopf hob sich kaum merklich, fiel dann wieder zurück auf den gefrorenen Boden.
„Kein Wort“, warnte mich der schwarze SOLF mit gesenkter Stimme.
Als wenn ich mit diesem Knebel noch viel reden könnte. Trotzdem nickte ich, wusste nicht, was ich davon halten sollte. Forschend sah ich in seine Augen, er erwiderte meinen Blick, jedoch keineswegs freundlich.
„Young, wo bleibst du denn?“, hörte ich die näselnde Stimme von Pickelgesicht.
„Ich komme ja schon“, rief Dressman zurück.
Mit einigen geübten Handbewegungen verband Dressman meine Augen und führte mich ab. Ich stolperte neben ihm her. Mit verbundenen Augen konnte ich noch nicht einmal wegrennen, ohne über den nächstbesten Baum zu stolpern. Also versuchte ich, mir wenigstens den Weg einzuprägen. Zunächst liefen wir die gleiche Strecke zurück, die ich gekommen war. Das konnte ich mir merken. Der schwarze Dressman, Young, trieb mich zur Eile an, zerrte mich unsanft hinter sich her, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich immer wieder strauchelte. Die Schritte der anderen beiden wurden lauter und schließlich schienen wir sie eingeholt zu haben. Wenn mich mein Orientierungssinn nicht täuschte, hatten wir gerade mal die Hälfte des Weges zurückgelegt, als wir stehen blieben. Ich fragte mich, weshalb, denn ich hatte keine Wegkreuzung in Erinnerung. Plötzlich wirbelte mich Young unvermittelt einige Male im Kreis, bis mir schwindlig wurde. Jede Chance, mir den Weg einzuprägen war dahin. Dann zerrte er mich weiter. Wir verließen den Wanderweg, unbefestigter Waldboden unter meinen Füßen, ich stolperte mehr als dass ich lief. Streng genommen wurde ich einfach hinterhergeschleift. Falls Young-Dressman auf meiner Seite war, dann konnte er es ziemlich gut verbergen. Aber weshalb hatte er Branco verschont? Das musste doch einen Grund haben. Oder hatte er ihn gar nicht verschont? War das Zucken nur ein letzter Reflex gewesen? Starb Branco gerade? Alleine in der Kälte. Meinetwegen ...
Mein Fuß verfing sich in zähem Gestrüpp und ich knallte der Läge nach auf den Waldboden. Ich konnte meinen Sturz mit nichts mildern, da meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Ein stumpfer Ast rammte sich in meinen Bauch. Meine Wange zerschrammte, mein rechtes Knie schlug auf etwas Hartes und mein Scheinbein brannte wie Feuer. Ich wurde wieder auf die Beine gezerrt. Zwei Hände klammerten sich wie Schraubstöcke um meine Oberarme. Ich humpelte verbissen weiter, in meinem rechten Knie ein heller Schmerz. Ich konnte spüren, wie es dicker wurde. Nach einigen hundert Metern hatte die Querfeldein-Rennerei schließlich ein Ende.
Ich wurde in einen Wagen gestoßen, landete auf einem metallischen Boden. Wahrscheinlich war es ein Kleinbus. Einer der Soldaten, ich vermutete, dass es Young-Dressman war, kam mir hinterher und knallte die Tür zu. Ich wurde auf eine Sitzfläche gestoßen. Kurze Zeit später fuhr der Wagen los, dann wurde mir der Knebel abgenommen. Ich spuckte einige Stofffasern aus und bewegte meinen Unterkiefer, um das taube Gefühl loszuwerden.
Denk nach, du musst dir etwas einfallen lassen, ermahnte ich mich selbst. Mit wem war ich hier im Wagen? Nur mit diesem Dressman? Oder konnten mich auch Anführer Hamsterbacke und das Pickelgesicht hören?
„Young?“ fragte ich probeweise. „Du heißt doch Young, oder?“ Keine Ahnung warum ich ihn duzte.
„Schnauze.“
Es war Young-Dressman, ich erkannte seine Stimme.
„Sind das Pickelgesicht und die Fettbacke auch da?“
„Wenn sie dich hören könnten, hättest du jetzt vermutlich eine kleine Abreibung bekommen. Das ist doch deine Überlegung, oder?“
Der Typ war gar nicht so dumm.
„Mein Hund“, begann ich und versuchte Worte zu finden, mit denen ich ihn nicht verraten würde, falls uns die anderen doch belauschten. Immerhin bestand die winzige Chance, dass er vielleicht für mich Partei ergriff. „Wieso hast du das mit meinem Hund getan?“
„Hör zu, du Dämonen-Flittchen. Ich habe für euch Abschaum nicht das Geringste übrig. Ihr seid einen Dreck wert! Aber ich werde nicht zulassen, dass wegen jemand wie dir ein unschuldiges Tier abgeschlachtet wird.“ Er sprach sehr leise, doch die Verachtung in seiner Stimme jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Und wenn du nicht willst, dass ich zurückgehe und deinen Köter doch noch abknalle, dann halte lieber dein Maul.“
Ich schluckte. Das war deutlich. Er hatte Branco also nur verschont, weil er ihn für einen unbeteiligten Hund hielt. Aber er hatte ihn verschont! Branco war am Leben!
Hoffentlich.
Das sprach zwar für seine Tierliebe und in gewisser Weise sogar für eine Art Gerechtigkeitssinn, aber ... Nein, von Young-Dressman konnte ich definitiv keine Hilfe erwarten. Ich sank in mich zusammen und hielt mich an dem Gedanken fest, dass Branco lebte.
Young-Dressman ließ mich in Frieden und wir redeten der Rest der Fahrt kein einziges Wort mehr. Das Schweigen machte mir mehr zu schaffen als alles andere, denn es gab meinen Gedanken zu viel Raum, was mich nun erwartete. Fast schon wünschte ich mir, Young würde mir drohen, mit irgendetwas, egal was. Schlimmer als meine blutrünstige Fantasie konnte es kaum sein. Aber immerhin hatte sich mein Wunsch erfüllt, lieber tot als ohne meine Romane, dachte ich in einem Anflug von Galgenhumor. Die SOLFS konnten mir wenigstens nicht das Gedächtnis löschen, insofern hatte sich meine Flucht ausgezahlt. Da sollte noch mal jemand behaupten, ich würde nicht positiv denken.
Wir fuhren schätzungsweise eine Stunde lang kreuz und quer durch die Gegend, teilweise hatte ich sogar das Gefühl, wir bewegten uns im Kreis. Falls mich das verwirren sollte, funktionierte es. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, nicht einmal, ob wir die Stadt verlassen hatten. Mein Knie und das aufgeschrammte Schienbein schmerzten, daneben verblasste die Hitze der Schürfwunde auf meiner Wange. Auch meinen geschundenen Knöchel nahm ich kaum noch wahr. Bevor ich mich endgültig meinem Selbstmitleid hingeben konnte, hielt der Wagen plötzlich an und Young zerrte mich hoch. Er hob mich aus dem Wagen und drückte, mich gegen eine Wand.
„Bring sie weg“, hörte ich Hamsterbackes Stimme. „Ich geh zur Krankenstation und lass mir was gegen Tollwut geben. Und du nutzloser Volltrottel kümmerst dich um den Bericht! Los doch, was steht ihr hier noch rum!“
Young-Dressman packte meinen Arm und schubste mich wieder vor sich her. Der Widerhall unserer Schritte hörte sich dumpf an, als würden wir durch eine Röhre laufen. Ich nahm entferntes Stimmengewirr wahr, dann ein herrisches Brüllen. Noch mehr Schritte. Der Lärm wurde lauter, wir bewegten uns darauf zu. Es roch nach Öl, Schießpulver und Autoreifen. Brachten sie mich in ihre Zentrale oder war das nur einer ihrer vorübergehenden Schlupfwinkel? Plötzlich wurden die Geräusche leiser.
„Wo bringst du mich hin?“, fragte ich.
„Maul halten.“ Young rammte mir die Mündung seines Gewehrs in die Rippen. „Oder ich stopf es dir wieder mit dem Knebel.“
Ich zuckte unter dem Stoß zusammen. Unwillkürlich dachte ich an Rick. Er war zwar auch ein grober Mistkerl, aber momentan wünschte ich mir nichts mehr, als dass er hier wäre. Kein besonders vernünftiger Wunsch. Denn rein logisch betrachtet sollte ich vor Rick viel mehr Angst haben als vor den SOLFs. Solange die Soldaten davon ausgingen, dass ich über Informationen verfügte, die sie haben wollten, würden sie mich am Leben lassen. Und mein Gedächtnis lag ihnen ganz besonders am Herzen. Für Rick und seine Freunde war es jedoch am sichersten, wenn ich tot war. Tot oder hirnlos. Am besten beides. Ich hielt zwar keinen der Magier für einen kaltblütigen Mörder, aber ich wusste auch, dass Rick für die Sicherheit seiner Freunde über Leichen ging, vor allem, wenn Gefahr von den SOLFs drohte. Und aus Ricks Sicht war genau das der Fall, wenn eine vermeintliche Verräterin wie ich bei den SOLFs war. Die SOLFs hatten Sammy ermordet, der für Rick wie ein großer Bruder gewesen war. Rick würde alles tun, um zu verhindern, dass etwas Derartiges nochmal geschah. So betrachtet war es am besten für mich, wenn Rick mich nicht fand. Andererseits würden mich die SOLFs früher oder später auch umbringen. Der einzige Unterschied war, dass sie mich vorher folterten.
„Stopp!“, befahl Young.
Ich blieb stehen und hörte, wie sich rechts vor mir eine Tür öffnete. Young zerrte mich am Arm und stieß mich heftig gegen eine Wand. Da meine Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt waren, konnte ich mich nicht rechtzeitig abfangen und knallte mit dem Hinterkopf gegen Beton.
„Sachte“, hörte ich eine fremde Männerstimme. „Wir wollen doch nicht, dass unser Täubchen sich weh tut.“
Täubchen? Der anzügliche Tonfall war unheimlich und jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Endlich wurde mir die Augenbinde abgenommen. Ich blinzelte. Eine einzelne grelle Glühbirne an der Decke blendete mich. Es dauerte eine Weile bis ich etwas erkennen konnte. Der Raum war klein, ohne Fenster und fast vollständig leer. Nur ab und an ragte ein Haken aus den kahlen Betonwänden. Auch an der Decke bemerkte ich gewundene Metallverstrebungen, an einigen hingen schwere Ketten. Ich wollte lieber nicht wissen, für was die ganzen Vorrichtungen gedacht waren. Aber ich fürchtete, dass ich es schon sehr bald erfahren würde.
Außer Young-Dressman waren noch zwei andere Soldaten anwesend. Dann entdeckte ich einen vierten Mann. Er trug ebenfalls Uniform, jedoch kein Maschinengewehr, lediglich eine Pistole am Gürtelhalfter. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig, auch wenn sein verlebtes Äußeres ihn älter wirken ließ. Er war schlecht rasiert, hatte fettig glänzende Haut, buschige Augenbrauen und Schweinsaugen. Ich hatte einen vagen Verdacht, wer da vor mir stand, betet jedoch inständig, dass ich diesmal mit meiner Vermutung falsch lag.
Schweinsauge lächelte mich süffisant an und bewegte sich langsam auf mich zu. „Hallo, mein Täubchen. Wer hätte gedacht, dass sich hinter dem Namen Daryll ein so hübsches Gesichtchen verbirgt.“
Prüfend betrachtete er mich und zog mich mit seinen Blicken aus. Ich grub die Fingernägel in meine Handballen und nutzte den aufkeimenden Wutausbruch, um meine Angst in den Griff zu kriegen. Ich hasste es, mit Verniedlichungen benannt zu werden. Ich war weder ein Täubchen noch hatte ich ein Gesichtchen – und wenn ich irgendetwas nicht ausstehen konnte, dann waren es Männer, die mich wie ein Stück Fleisch anstarrten.
Sein Blick fiel auf die Schürfwunden auf meiner rechten Wange. „Sie sind wohl ein wenig grob mit dir umgegangen. Wenn ich gewusst hätte, was für eine kleine Schönheit mir meine Jungs hier anschleppen, hätte ich dir natürlich eine bessere, sanftere Behandlung zukommen lassen. Aber das lässt sich schließlich noch nachholen“, fügte er hinzu. „Doch zunächst sollte ich mich dir vorstellen. Gestatten: Dixon. Kenneth Dixon. Wenn du brav bist, darfst du mich Ken nennen.“
Ich merkte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. Es war tatsächlich Dixon – und dass er mir so freizügig seinen Namen verriet, konnte nur eines bedeuten: Ich kam hier nicht mehr lebend raus. Und auch nicht in einem Stück. Dixon war nicht nur der berüchtigte Truppenanführer der SOLFs in Aston, er war auch der Intimfeind der Magier rund um Rick. Durch meine Romane wusste ich, wozu er fähig war. Ich hatte etliche Szenen über ihn geschrieben, die zu brutal gewesen waren, um sie zu veröffentlichen.
Dixon griff nach meinem Kinn und drehte mein Gesicht zu sich. Ich wand meinen Kopf aus seiner Hand, vermied es jedoch zurückzuweichen. Dieser schleimige Typ sollte sich bloß nicht einbilden, ich hätte Angst vor ihm. Auch wenn es so war.
„Das Täubchen will den Helden spielen?“, amüsierte er sich. „Das könnte interessant werden.“ Er zog ein Messer hervor und schob die Klinge hinter mein Ohr. „Wollen wir stückchenweise testen wie mutig zu bist? Du darfst dir sogar aussuchen, womit wir anfangen. Ein Ohr? Oder lieber ein Finger? Die Augen hebe ich mir gerne bis ganz zum Schluss auf, damit du auch alles gut beobachten kannst.“
Irgendwie schaffte ich es, regungslos zu bleiben.
„Keine Vorlieben? Oder überlässt du mir die Wahl?“ Er drückte die Klinge fest gegen mein Ohr, fixierte meinen Kopf und ritze die Haut. Nur ganz leicht, nicht mehr als ein Kratzer.
Ich wusste, dass es ein Test war, ein beschissener Test, um herauszufinden, womit er mich am meisten quälen konnte. Ich hatte fest vor, diesen Test zu bestehen. Ja, ich hatte Angst, wahnsinnige Angst sogar. Doch diesen Triumph wollte ich ihm nicht gönnen. Wenn ich ihm meine Angst zeigte, machte ich damit alles nur noch viel schlimmer. Nur nicht bewegen. Ich biss die Zähne zusammen. Ich wollte nicht verstümmelt werden. Aber es machte letztendlich keinen Unterschied, versuchte ich die aufsteigende Panik mit kalter Vernunft in den Griff zu kriegen. Dixon würde mich foltern, in Stücke schneiden und am Ende umbringen. Die Schmerzen würden mich um den Verstand bringen, aber nichts, was ich sagte, konnte daran etwas ändern. Foltern, Zerstückeln und Töten. Das war mein besiegeltes Schicksal. Für Angst war es zu spät. Ich sah Dixon fest in die Augen. Meine einzige Waffe gegen ihn war es, mir meine Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.
Dixon kniff seine Schweinsaugen zusammen, wirkte enttäuscht und verärgert. Er ließ die Klinge sinken und steckte sie wieder ein. Dann drehte er sich um und lief gemächlich in dem kleinen Raum auf und ab. „Wie du dir denken kannst, haben wir dich nicht nur zum Teetrinken hierher gebracht.“
„Verschleppt ist wohl der treffendere Ausdruck“, rutschte es mir heraus.
„Na sieh mal einer an, das Täubchen kann reden. Sehr gut, genau das wollen wir, mit dir reden.“
Ich presste die Lippen aufeinander und schwor mir, von nun an kein einziges Wort mehr zu sagen.
„Nun, mein Täubchen“, fuhr Dixon fort. „Ich bin ein großer Bewunderer deiner literarischen Fähigkeiten. Sehr authentisch und um Realitätsnähe bemüht, wenn ich das so sagen darf. Allerdings kommen meine Jungs und ich bei deinen Geschichten ein bisschen schlecht weg, meinst du nicht?“ Plötzlich wurde sein Tonfall auffallend sanft. „Aber ich bin nicht nachtragend.“ Wieder trat er dicht vor mich. Sein Gesicht kaum eine Handbreit von meinem entfernt. Er stank nach Schweiß und ranzigem Bratfett. „Vielleicht musst du mich erst ein wenig näher kennen lernen, bevor du mich zu schätzen weißt.“
Seine Lippen streiften mein Ohr. Ich machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Ein Fehler. Ein verdammt großer Fehler. Nun hatte er sein Testergebnis.
Dixon grinste. „Wer wird denn so schüchtern sein.“ Seine Augen starrten mich gierig an. Verstohlen warf ich einen Blick zu den anderen Soldaten. Ob geheim oder nicht, als Soldaten einer Regierungsbehörde konnten sie doch nicht einfach zusehen, wie eine Gefangene vergewaltigt wurde, dachte ich verzweifelt – und wusste zugleich, dass diese Hoffnung reines Wunschdenken war.
Dixon bemerkte meinen Blick. Er ließ von mir ab und lächelte seine Untergebenen an. „Mach dir um meine Jungs keine Sorgen. Sie sind überaus loyal.“
Daran hatte ich keinen Zweifel. Vergewaltigung war in ihren Augen ein harmloses Kavaliersdelikt, lediglich Vorspiel der eigentlichen Folter. Die Mienen der Soldaten blieben ausdruckslos, fast gelangweilt. Lediglich Young schien nervös zu werden, aber das war wohl auch nur eine wunschgeleitete Fehleinschätzung.
„Was wollen Sie eigentlich von mir?“, fragte ich und stellte mit Erleichterung fest, dass meine Stimme nicht zitterte.
„Du meinst außer meinem rein privaten Interesse?“ Er leckte sich über die Lippen. „Wir wollen nur ein wenig mit dir plaudern, an deinem umfangreichen Informationsschatz teilhaben. Wenn du mit uns zusammen arbeitest und uns erzählst, was wir wissen wollen, wird dir nichts Schlimmes passieren.“
Ich glaubte ihm kein einziges Wort. Gleichgültig, was ich sagte oder tat, er würde mich in jedem Fall foltern und umbringen. Früher oder später. Ganz abgesehen davon, dass ich nichts wusste. Was sollte ich ihnen denn erzählen, was nicht schon in meinem Roman stand?
„Also?“, fragte Dixon lauernd. „Was hältst du von meinem Vorschlag?“
Ich schwieg.
„Du willst erst die Details kennen, bevor du zustimmst?“ Dixon lächelte mich an, während er fortfuhr „Das kann ich natürlich verstehen. Es ist ganz einfach. Wir haben ein paar gemeinsame Bekannte, für die ich mich sehr interessiere. Du erzählst mir alles, was du über sie weißt. Wenn du meine Fragen brav beantwortest, dann kommst du hier auch völlig unbeschadet wieder raus. Andernfalls ... Sagen wir mal, es ist besser für dich, wenn du auf meinen Vorschlag eingehst.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach. „Uns ist zu Ohren gekommen, dass du vor kurzem ein kleines Rendezvous mit einem dieser Bastarde hattest.“
Anscheinend hatte jemand meine Entführung durch Rick beobachtet. Rick hatte sicherlich Fegleave-Staub eingesetzt, um die Spuren zu verwischen, sie konnten also nicht wissen, wo er mich hingebracht hatte. Wollte er darauf hinaus?
„Du solltest dich nicht mit solchem Gesindel rumtreiben“, sagte Dixon mit gespielt väterlichem Kopfschütteln. „Aber wir alle machen schließlich Fehler, nicht wahr?“ Seine Miene verhärtete sich. „Also, Täubchen, wo haben sich diese kleinen Scheißer versteckt?“
Überrascht stellte ich fest, dass ich tatsächlich Informationen besaß, die er haben wollte. Die Bibliothek würde ich ohne weiteres wieder finden. Den Versuch, Dixon davon zu überzeugen, dass ich nichts wusste, konnte ich mir sparen, eine so gute Schauspielerin war ich nicht. Außerdem hätte er mir sowieso nicht geglaubt.
Auf einmal überkam mich eine eisige Ruhe. Ich kannte dieses Gefühl. Ein gutes Gefühl. Kalt und rational. Ich war dankbar dafür. Meine Entscheidung war längst gefallen. Es war absolut klar, was ich tun musste. Kein Nachdenken, kein Grübeln. Ich hatte nichts mehr zu verlieren. Der Rest war reine Sturköpfigkeit.
Dixon betrachtete mich abschätzend, dann lächelte er mitleidig. „Nein, Täubchen, so wird das nichts, du musst schon den Mund aufmachen.“
Ich rührte mich nicht, schwieg. Dixon wandte sich ab, als hätte er das Interesse verloren. Doch plötzlich drehte er sich mit einer blitzschnellen Bewegung um und rammte mir seine Faust in den Magen. Ich krümmte mich zusammen und fiel vornüber auf die Knie. Keuchend und würgend rang ich nach Luft. Er packte mich an der Jacke, riss mich hoch und schlug mir links und rechts mit der flachen Hand ins Gesicht. Ein dumpfes Dröhnen erfüllte meinen Kopf, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen. In nächsten Moment schleuderte er mich gegen die Wand. Mein Kopf schlug hart gegen den glatten Stein und einer der Metallhaken rammte sich in meinen Rücken.
Dixons linker Unterarm presste sich unter mein Kinn. „Rede“, zischte er.
Ich würgte noch immer, sein Arm an meinem Hals erschwerte mir das Atmen. Selbst wenn ich hätte sprechen wollen, hätte ich es nicht gekonnt. Dixons Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, sein Gesicht kam näher. Angewidert drehte ich den Kopf weg. Ich hustete, versuchte mich aus seinem Griff zu befreien. Sein Unterarm entspannte sich wieder, stattdessen fixierte er mich mit seinem Körper. Etwas Steifes drückte gegen meine Hüften. Dieses Schwein geilte sich daran auf, mich zusammenzuschlagen. Zum ersten Mal wurde ich richtig panisch. Ich hatte keine Angst vor Schmerzen, sollte er mich ruhig totprügeln. Aber nicht das. Ich riss an den Handschellen in meinem Rücken und spürte, wie sich die harten Stahlkanten in meine Haut gruben.
Er grinste, seine Augen bekamen einen gierigen Glanz. Verzweifelt sah ich mich um. Ich versuchte, mich aus seiner Umklammerung zu winden. Der Druck gegen meine Hüften verstärkte sich und er rieb sich an mir. Seine linke Hand umschloss meinen Hals, seine rechte fasste grob an meinen Hintern. Ich versuchte zu treten, doch seine Beine pressten sich so fest gegen meine, dass ich mich kaum bewegen konnte. Er ließ meinen Hintern los und machte sich am Verschluss meiner Hose zu schaffen.
„Sir“, hörte ich plötzlich Youngs Stimme.
Dixon drehte sich um und ließ mich los. Meine Beine gaben nach und ich sank zu Boden. Instinktiv kroch ich in die nächstgelegen Ecke und rollte mich dort zusammen.
„Was ist?“, wandte sich Dixon unwillig an Young.
„Sir, mit allem Respekt, aber laut unserer Dienstanweisung ...“
„Dienstanweisung?“ Dixon trat drohend einen Schritt auf Young zu und der schwarze SOLF verstummte.
Die beiden anderen SOLFs schienen über die Szene belustigt zu sein. Dixon betrachtete Young ausgiebig. „Sie sind noch nicht lange bei uns, oder?“
„Nein, Sir.“
„Dann hören Sie mir gut zu, denn ich werde es nur einmal sagen. Diese beschissene Dienstanweisung interessiert hier niemanden. Die einzige Dienstanweisung, die zu befolgen ist, bin ich. Und was diese Paragraphenscheißerei betrifft: das bezieht sich nur auf Menschen. Haben wir uns verstanden?“
„Ja, Sir.“
„Gut. Und wenn Sie mir noch ein einziges Mal widersprechen oder auch nur zögern, einem meiner Befehl Folge zu leisten, dann werden Sie am eigenen Leib erfahren, was in dieser Dienstanweisung für Befehlsverweigerer vorgesehen ist. Ist das klar?“
Young zuckte zusammen. „Ja, Sir.“
„Jetzt raus hier, alle drei“, brüllte er. „Und schafft mir dieses Nigger-Weichei vom Hals.“
Die Soldaten salutierten und bewegten sich Richtung Tür. Ich warf Young einen verzweifelten Blick zu, doch er ignorierte mich und folgte den anderen beiden. Mühsam richtete ich mich auf. Ich hielt mich an der Wand fest und versuchte Richtung Tür zu kommen.
Dixon versperrte mir den Weg. „Nein, du bleibst hier.“ Er stieß mich auf den Boden zurück und nahm sich die Zeit, die Tür in aller Ruhe abzuschließen.
Ich kämpfte mich erneut auf die Beine, zitternd und geschockt, musste mich an der Wand festhalten, um aufrecht stehen zu können. Dixon wandte mir den Rücken zu, er war sich seiner Überlegenheit sicher. Leider zu Recht.
Ganz langsam drehte sich Dixon wieder um und schritt auf mich zu. „Endlich alleine, Täubchen.“
Ich überlegte fieberhaft, wie ich ihn ablenken konnte. „Sie denken doch nicht wirklich, dass ich irgendwelche magische Kräfte besitze“, brachte ich schließlich hervor. „Ich bin nur ein harmloser Mensch.“
„Na sieh mal an, du redest ja wieder mit mir. Das ist ein Anfang.“ Er lächelte überheblich als er unaufhaltsam näher kam. „Was deine Kräfte betrifft: Du trägst jetzt Ascorren, schon vergessen?“
Meine Handschellen waren also entsprechend behandelt worden. Ascorren unterbanden jede Zauberkraft, doch vermutlich war das sowieso die Standardausrüstung der SOLFs. „Sie wissen ganz genau, dass ich nicht zaubern kann“, sprach ich weiter, um Zeit zu gewinnen während ich an der Wand entlang vor ihm zurückwich. „Sonst hätten Sie mehr als diese drei schlecht ausgerüsteten Clowns losgeschickt, um mich gefangen zu nehmen.“
„Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht so genau, was du drauf hast, Täubchen. Aber wenn du Zauberkräfte hast, dann kannst du entweder nicht damit umgehen oder sie sind nicht besonders stark.“
„Das war also nur ein kleines Experiment? Sie hätten es einfach darauf ankommen lassen, drei Soldaten zu verlieren?“
„Zwei Idioten und ein übereifriger Nigger. Wäre kein großer Verlust gewesen“, meinte Dixon lapidar. „Dafür weiß ich jetzt, wie ich dich einzuschätzen habe.“
„Für was dann die Ascorren?“
„Wie gesagt, Täubchen, ich bin mir noch nicht sicher, was du bist. Aber ich will nicht das Risiko eingehen, dass du ausgerechnet dann deine Kräfte entdeckst, wenn ich mit dir ein bisschen Spaß haben möchte.“
Mein Magen hatte sich von dem Fausthieb erholt und ich brachte es fertig, aufrecht zu stehen ohne mich festzuhalten. Das Zittern hatte nachgelassen. Meine Beine gehorchten mir wieder. Verzweifelt sah ich mich um. Keine Fenster, verriegelte Eisentür. Ich war hier mit Dixon eingesperrt, es gab keinen Fluchtweg.
Dixon machte einen Schritt auf mich zu und wollte mich in die Ecke treiben, ich konnte gerade noch unter seinem Arm hinwegschlüpfen, lief zur gegenüberliegenden Wand. Er drehte sich um, ging erneut auf mich zu, ohne große Eile, ein siegessicheres Grinsen im Gesicht. Meine sinnlosen Fluchtversuche schienen ihn zu amüsieren. Ich täuschte einen Schritt nach rechts an, rannte dann nach links. Er fiel darauf rein, stieß ein Knurren aus, doch sein Grinsen blieb.
„Du bist wirklich süß, Täubchen. Du weißt, dass ich dich jederzeit erschießen könnte, oder?“
„Das tun Sie aber nicht, eine Tote kann nicht reden.“ Ich ballte die Fäuste, lange würde das nicht mehr gut gehen.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass du mir lebendig etwas erzählen willst.“
Er machte einen großen Ausfallschritt. Ich sprang zur Seite, doch nicht schnell genug. Er krallte sich in meine Haare und brachte mich zum Stolpern. Ich fiel schräg gegen die Wand und heller Schmerz schoss durch meine rechte Schulter. Dixon zerrte mich an meinen Haaren zu sich und schleuderte mich dann erneut gegen die Wand. Wieder knallte mein Kopf auf Beton. Es knirschte. Warme Flüssigkeit rann über meine Nacken. Mein Kopf dröhnte. Alles verschwamm. Einen Moment lang hoffte ich, ohnmächtig zu werden. Vergeblich.
„Hast du es dir nun endlich anders überlegt?“, fragte Dixon und packte mich an der Gurgel. „Willst du jetzt doch mit mir plaudern?“
Statt ihm eine Antwort zu geben, versuchte ich, ihn zu treten, streifte jedoch nur seinen Oberschenkel. Zur Hölle, wenn ich wenigstens die Hände frei gehabt hätte.
„Du bist ein ganz schön kratzbürstiges Täubchen“, raunte Dixon. „Aber ich mag das. Wehr dich nur weiter, das macht mich erst so richtig geil.“
„Feiges Schwein“, fluchte ich.
„Na, na, wer wird denn so schmutzige Worte in den Mund nehmen.“
Vergeblich versuchte ich, mich aus seiner Umklammerung zu befreien, wand mein Gesicht zur Seite. Seine linke Hand legte sich wie ein Schraubstock um meinen Kiefer und drehte meinen Kopf von Neuem zu ihm. Sein Gesicht kam näher, stinkender Atem streifte meine Haut. Wieder spürte ich sein steifes Glied an meinem Körper. Dann presste er seinen Mund grob auf meine Lippen und einen winzigen Moment ließ der Griff um meinen Kiefer nach. Sofort drehte ich mich weg und riss meinen Kopf dann schräg nach oben. Meine Stirn knallte gegen seine Nase. Mit einem wütenden Heulen ließ er mich los und hielt sich seine Nase. Blut rann unter seinen Fingern hervor.
Ich hastete zur Tür, trat dagegen, obwohl ich wusste, dass es zwecklos war. Panisch drehte ich mich zu ihm um. Sein Gesicht war blutverschmiert und dunkle Sturzbäche rannen aus seiner Nase. Sie war schon jetzt geschwollen und ein wenig krumm. Ich hatte ihm die Nase gebrochen. Ein Zufallstreffer – mit dem ich alles nur noch schlimmer gemacht hatte. Dixon schritt auf mich zu, kein überhebliches Grinsen mehr, nur noch blanke Wut. Ich versuchte auszuweichen, doch er war schneller und bekam meinen Arm zu fassen. Er war schon die ganze Zeit schneller gewesen, schoss es mir durch den Kopf, er hatte nur mit mir spielen wollen. Und nun war das Spiel zu Ende.
Grob stieß mich Dixon zu Boden und bevor ich auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte, kniete er über mir und setzte sich auf meine Beine. Ich zappelte wie wild, doch es war sinnlos. Ich wusste, dass es sinnlos war. Er würde mich vergewaltigen und ich konnte nichts dagegen tun. Rein gar nichts.
„Ja, beweg dich“, knurrte er. „Das fühlt sich gut an.“ Er beugte sich nach vorne und drückte seine Erektion fester gegen mich. Seine Augen blitzen mich an. Aus seiner Nase floss Blut, tropfte auf meine Jacke. Seine Hände legten sich um meinen Hals, wanderten tiefer. Mit seiner Rechten stützte er sein ganzes Gewicht auf mich, seine Linke zerrte meine Jacke beiseite.
„Nein“, flüsterte ich. „Nein, nicht. Bitte nicht.“
„Na sieh mal einer an. Jetzt bist du wohl nicht mehr so mutig, was?“ Ein bösartiges Lächeln spielte um seine Lippen. Er grabschte nach meinen Brüsten und rammte seine Fingernägel durch den dünnen Stoff meines Shirts.
„Loslassen! Widerliches Schwein!“ Ich hörte die Verzweiflung in meiner Stimme. Ich musste mich wieder unter Kontrolle bringen, ich durfte mir meine Angst nicht anmerken lassen, das machte alles nur noch schlimmer. Ich bäumte mich auf und biss nach ihm.
Er wich meinen Zähnen aus und lachte. „Wir werden sicher eine Menge Spaß zusammen haben, mein Täubchen.“ Seine Hand riss an meinem Shirt und zog es aus meiner Hose. Mit einem groben Handgriff zerrte er mir Shirt und BH gleichzeitig nach oben. Seine rechte Hand drückte meinen Hals zu Boden, seine Linke griff nach hinten. Dann hatte er plötzlich wieder das Messer in der Hand. Er hielt es an meine Kehle, ritzte meine Haut und schob es dann nach unten zu meinen Brüsten. „Ich denke, ich weiß nun, womit wir anfangen. Ist auch viel hübscher als dein Ohr.“
Ich schrie, brüllte aus Leibeskräften. Angst, Wut und Ekel vermischten sich mit blanker Hilflosigkeit. Das war der Moment als ich plötzlich neben mir stand, als würde mein Innerstes versuchen, sich von meinem Körper zu lösen. Ich hörte meinen eigenen Schrei als stammte er von jemand anderem. Ein unartikulierter Laut. Schrill. Irgendwie unmenschlich, wie von einem Tier. Es war so sinnlos, völlig umsonst. Da war niemand, der mir zur Hilfe kommen könnte. Trotzdem schrie ich weiter.
Plötzlich krachte die Tür auf und helles Licht durchflutete den Raum. Dixon ließ mich los und wirbelte herum. Mir stockte der Atem und mein Schrei verstummte. Die Tür hing lose in den Angeln und eine große Gestalt stand darin, hob sich als scharfgeschnittenen Silhouette vom Gegenlicht ab.
„Lass sie los.“ Ricks Stimme klang rau und dunkel. Ein drohender, hasserfüllter Unterton mischte sich mit mühsam unterdrückter Wut. Obgleich ich seine Stimme erkannte, kam sie mir fremd vor.
Noch immer auf mir sitzend zog Dixon mit seiner freien rechten Hand seinen Revolver und zielte auf Rick.
Rick streckte den Arm aus. Ein lautes Zischen war zu hören. Die Pistole wurde in hohem Bogen aus Dixons Hand geschleudert. Das Messer an meiner Kehle verschwand, flog quer durch den Raum und fiel scheppernd zu Boden. Dixon fluchte, sprang auf und riss mich mit hoch, hielt mich wie ein Schutzschild vor sich.
„Du bekommst sie nicht lebend“, rief Dixon. Er zog mich vor sich her in die Richtung, in die sein Revolver geflogen war. Ich wehrte mich, trat mit den Füßen nach ihm und biss nach seinem Arm. Er fluchte, schleuderte mich zu Boden und stürzte sich auf seine Waffe. Entsetzt sah ich zu Dixon. Er hatte seine Pistole wieder und schoss damit auf Rick.
„Nein!“, schrie ich und glaubte mein Herz würde zerspringen.
Doch Rick konnte ausweichen. Wieder streckte er seinen Arm mit einem fauchenden Geräusch von sich. Dixons Waffe landete zum zweiten Mal auf dem Boden. Noch bevor er sie aufheben konnte, war Rick bei ihm. Seine Faust rammte sich in Dixons Gesicht, eine Blutfontäne spritze quer durch die Luft. Dixon ging zu Boden. Rick stürzte sich auf ihn, schlug wieder und wieder auf ihn ein. Ricks Augen glühten vor Wut als wäre er in Raserei verfallen. Dixons Gesicht war blutüberströmt, er wehrte sich nicht mehr, schien das Bewusstsein verloren zu haben, aber Rick ließ nicht von ihm ab.
Von draußen kamen Geräusche auf uns zu. Man hatte den Schuss bestimmt gehört. Ich rollte mich zur Seite und schlüpfte mit meinen Beinen über meine Arme, um meine gefesselten Hände vor meinen Körper zu bringen. Gut, dass ich Gelenke wie aus Gummi hatte. Ich sprang auf und zerrte mir Shirt und Büstenhalter wieder nach unten, um mich zu bedecken.
„Rick!“, rief ich.
Rick schien mich nicht zu hören, prügelte immer weiter auf Dixon ein. Mit seiner Linken hielt er Dixons Hals und quetschte den bewegungslosen Körper gegen den Boden, seine rechte Faust schlug unablässig in Dixons Gesicht. Dixon sah aus wie durch den Fleischwolf gedreht, seine Augen verquollen, Platzwunden an Lippe und Schläfe, seine Nase eine breiige Masse.
„Rick!“ Ich bewegte mich vorsichtig auf die beiden zu. Rick schien jede Kontrolle verloren zu haben, ein Berserker hätte nicht furchterregender aussehen können. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich mir selbst einen Kinnhacken einfangen. Ich war jetzt so dicht bei ihnen, dass ich Ricks angestrengtes Atmen hörte, dazwischen die klatschenden Geräusche, wenn seine Fäuste in Dixons Gesicht prügelten.
„Rick. Bitte! Wir müssen hier weg.“
Ich ging in die Knie, streckte meine gefesselten Hände zu ihm aus, berührte Rick vorsichtig an der Schulter. Endlich hielt er inne und drehte sich langsam zu mir um. Ich fing seinen Blick auf, versuchte ihn bei mir zu halten. „Rick, wir müssen gehen, die anderen SOLFs kommen.“ Seine Augen glühten mich an wie zwei Kohlen. Ich fragte mich, ob er mich überhaupt wahrnahm. „Wir müssen gehen, sonst sind wir verloren. Rick, hörst du, was ich sage?“ Ich fixierte seine Augen und hoffte, es würde ihn davon abhalten, sich wieder abzuwenden. Ich schüttelte leicht seine Schulter. „Bitte, Rick!“
Plötzlich veränderte sich sein Ausdruck, als würde er aus einer Art Trance erwachen. Die hasserfüllte Glut in seinen Augen erstarb. Er ließ abrupt von Dixon ab, sprang auf und zog mich auf die Beine.
„Kannst du laufen?“, fragte er mit sanfter Stimme. Kaum zu glauben, dass es dieselbe Stimme sein sollte, die gerade noch vor Hass gebebt hatte.
„Ja.“ Ich schluckte, keine Zeit für Wehleidigkeit.
Er nahm mich beim Arm, sah meine gefesselten Hände. „Ascorren“, zischte er verächtlich. Plötzlich drückte er mich fest an sich, hielt mich einen Moment lang einfach nur im Arm. Ich schloss die Augen und schmiegte mich an ihn. Am liebsten wäre ich so stehen geblieben und hätte hemmungslos geweint. Doch der Lärm von draußen wurde lauter. Auch Rick hörte es und ließ mich wieder los. Er nahm meinen Arm, zog mich Richtung Tür und spähte vorsichtig durch den Türrahmen. Dann zerrte er zwei bewusstlose Soldaten in den Raum. Ich erkannte sie wieder, es waren die Männer, die Dixon raus geschickt hatte. Nur Young fehlte.
Rick führte mich nach draußen und verschloss notdürftig die Tür. Das Schloss war zerschmettert, man konnte die Tür lediglich anlehnen, doch wenn man nicht genauer hinsah, würde man es nicht bemerken. Rick führte mich den Gang hinunter, blieb immer wieder stehen und lauschte. Wir bogen abwechselnd nach links und rechts ab, ich kam mir vor wie in einem ausweglosen Labyrinth. Plötzlich schubste Rick mich in eine kleine Kammer und legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen. Er wühlte in seinen Taschen, holte einen schmalen länglichen Gegenstand aus Metall hervor und nahm meine Hände. Der Metallstift glitt wie Butter in das Schloss der Ascorren. Das musste Moiras magischer Universalschlüssel sein, ein unscheinbar wirkendes Ding, das jedes Schloss öffnen konnte. Vorsichtig drehte Rick den Stift um und löste meine Handschellen. Seine Hände waren blutverschmiert. Ich wusste, es war nicht sein eigenes Blut. Ich rieb meine Handgelenke, formte ein tonloses Danke mit den Lippen und sah ihn mit
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 27.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2611-0
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