Gehe nicht in den Wald, hatten sie immer wieder gesagt, denn dort leben die Geister. Entferne dich nicht zu weit von unserem Haus, hatten sie Benedikt geduldig erklärt, denn ansonsten kommen sie dich holen und tun dir weh. Doch Benedikt war bereits ein großer Junge. Gestern hatte er seinen elften Geburtstag gefeiert und er wusste, dass die Erwachsenen Kindern gerne solche Märchen erzählten, damit sie nicht zu weit von zu Hause wegliefen. Das hatte Leo ihm erklärt und Leopold musste es wissen. Immerhin war er schon vierzehn und der Anführer der Dorfgang, zu der Benedikt so gerne gehören würde. Doch bisher sahen die großen Jungs in ihm nur das Baby. Heute würde er es ihnen zeigen – allen würde er es zeigen!
„Komm schon, Kleiner! Gib zu, dass du die Hosen voll hast.“ Tobias lachte ihn aus – so wie eigentlich immer. „Noch kannst du aufgeben.“
„Habe ich ja gar nicht! Und überhaupt … ich gebe nicht auf“, entgegnete Benedikt heftig, aber wenn er ehrlich zu sich selbst sein wollte, musste er sich eingestehen, dass der Anblick des Waldrandes ihm Schauer über den Rücken trieb. Die dunklen Bäume hatten etwas Unheimliches.
Die Sonne stand bereits tief am Himmel und verlieh dem vertrockneten Gras der Wiese einen rötlichen Schimmer. Zwischen den nahen Bäumen tanzten jedoch dichte Nebelschwaden, die auf Benedikt nur wenig einladend wirkten. Er schluckte und ballte die Hände zu Fäusten.
Diese eine Mutprobe noch – nur noch diese eine, dann würde er zur Gang gehören, und das wünschte er sich sehnlicher als alles andere. Wie oft hatte er am Rand des Sportplatzes gestanden und den großen Jungs beim Spielen zugesehen. Immer, wenn er mitmachen wollte, hatten sie ihn ausgelacht und davongejagt. Und dann gab es Tage, an denen sie ihn gequält hatten. Weil er klein war, weil er schmächtig war und weil sein Haar so orange wie eine Karotte war – was ihm den Spitznamen Rübe eingebracht hatte. Das hier war seine Chance und die würde er ergreifen. Er durfte es nicht vermasseln.
Benedikt dachte an die beiden vorangegangen Prüfungen. Witwe Pankoeter vier Eier aus dem Hühnerstall zu klauen, war noch relativ einfach gewesen und die Jungs hatten ihn angefeuert, also hatte er auch keinen Gedanken daran verschwendet, dass die alte Frau ihn erwischen könnte. Herrn Oberbichl, dem Opa seiner besten Freundin Mina, den geliebten Koi-Karpfen aus dem Teich zu holen und ihn bei seinem ärgsten Feind, dem Leiter der Feuerwehr, wieder auszusetzen, war dagegen bedeutend schwerer. Aber es war nichts gegen die dritte und letzte Mutprobe.
Benedikt dachte an den Moment, in dem Leo ihm sagte, was die Gang sich für ihn ausgedacht hatte. Seine letzte Aufgabe würde darin bestehen, in den Wald zu gehen, der Spur zu folgen, die die Jungs gelegt hatten, um am Ende etwas zu finden, was er als Beweis vorzeigen konnte.
Ganz kurz meinte er, seine Großmutter zu hören, die mit mahnend erhobenem Zeigefinger vor ihm stand und ihm einbläute, dass zwischen den Bäumen der schwarze Mann hauste und mit Vorliebe kleine, neugierige Kinder holen kam, um sie in sein Reich zu ziehen. Aber den schwarzen Mann gab es ebenso wenig wie den Nikolaus, die Feen und andere Märchengestalten. Es waren nur Geschichten, das wusste Benedikt mit Sicherheit.
„Komm schon, Rübe! Zeig uns, was du draufhast!“ Leopold gab ihm einen Stoß und Benedikt stolperte nach vorne. Jetzt oder nie, dachte er. Die Jungs würden ihn danach mit anderen Augen sehen, da war er sich sicher.
Benedikt hatte keine Schwierigkeit, die ausgelegte Spur zu finden. Die hellen Steine waren auf dem dunklen Waldboden nicht zu übersehen, und ehe er sich versah, hatte er die ersten Bäume bereits hinter sich gelassen und befand sich mitten im Unterholz. Es war kühl, sehr viel dunkler als auf der Wiese vor dem Wald und beunruhigend still. Ein paar Vögel zwitscherten, hier und da knackte ein Ast – das war aber auch schon alles, was er hören konnte. Das Gelächter der Dorfjungen drang kaum noch zu ihm durch und plötzlich schienen ihn die mächtigen Stämme der Bäume erdrücken zu wollen. Äste wurden zu klauenartigen Tatzen, die sich auf ihn stürzen wollten. Am liebsten wäre er umgekehrt, doch dann würden die Größeren ihn nie akzeptieren und für den Rest seines Lebens wäre er der armselige Feigling.
Benedikt bahnte sich seinen Weg durch dichtes Gestrüpp, stieg über Wurzeln und umgestürzte Baumriesen. Der Nebel um ihn herum wurde mit jeder Sekunde dichter und er beeilte sich. Leo hatte ihm versprochen, dass er nur wenige Minuten brauchen würde, um zu der Lichtung zu gelangen, auf dem die Gang den Gegenstand zurückgelassen hatte, den er holen sollte. Doch bisher führte die Spur nur immer tiefer in den Wald und Benedikt kam es vor, als wäre er bereits seit Stunden unterwegs. Dann jedoch lichteten sich die finsteren Tannen und rötliches Sonnenlicht beleuchtete eine kleine Lichtung, auf der ein einzelner Baum stand. Die goldgelben Blätter raschelten verheißungsvoll, und als Benny genauer hinsah, erkannte er am Fuß des dicken Stamms eine leuchtend rote Taschenlampe. Er hatte sein Ziel erreicht.
Hastig stolperte er vorwärts und dabei dachte er nur daran, dass er es geschafft hatte. Niemand würde ihn jemals wieder Baby nennen. Er griff sich die Lampe, wandte sich schnell um und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Er drückte sich an derselben Stelle durch die dichte Brombeerhecke wie zuvor, blieb dann jedoch wie erstarrt stehen. Vor ein paar Sekunden hatten hier noch die hellen Steine auf dem Boden gelegen, da war er ganz sicher. Jetzt waren sie allerdings fort. Benedikt schaltete zur Sicherheit die Taschenlampe ein und leuchtete die nähere Umgebung ab, doch die Steine fand er nicht. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, um sicherzugehen, dass er wirklich an derselben Stelle die Lichtung verlassen hatte, doch es gab keinen Zweifel. Er war richtig hier, aber wo war die Spur?
Sein Herz schlug mit jeder Sekunde schneller und er wusste nicht, was er machen sollte. Er war nie zuvor im Wald gewesen, kannte sich hier nicht aus und würde auf keinen Fall allein den Weg zurückfinden. Leo und die anderen hatten die Wegmarkierung entfernt, um ihm einen bösen Streich zu spielen. Auch wenn er nicht wusste, wie er nach Hause kommen sollte, rannte Benedikt los, denn es wurde langsam dunkler. Nicht mehr lang und er würde nichts mehr sehen können. Dann musste er am Ende die Nacht im Wald verbringen. Der Gedanke beflügelte seine Schritte und er rannte einfach in die Richtung, in der er den Waldrand vermutete. Er rannte und rannte. Dornige Äste schlugen ihm ins Gesicht und verfingen sich in seinen Haaren. Er übersah eine aus dem Boden ragende Wurzel und stürzte. Hart schlug er mit beiden Knien auf und beißender Schmerz tobte durch sein rechtes Bein. Die Taschenlampe ging aus und rollte weit außerhalb seiner Reichweite ins Unterholz.
Benedikt schluchzte laut, weil es so fürchterlich wehtat. Tränen liefen über sein Gesicht und er schniefte, während warmes Blut aus seinem kaputten Knie sickerte. Er drückte sich mit den Händen vom Boden ab und versuchte sich aufzurichten, aber der Schmerz ließ ihn zurücksinken.
„Hilfe!“, schrie er verzweifelt, als ihm klar wurde, dass er nicht weiterlaufen konnte. „Bitte …“, schickte er flüsternd hinterher. Doch außer dem leisen Rascheln der Bäume und einem weit entfernten Lachen hörte er nichts. Leo und die Gang hatten ihn in eine Falle gelockt. Sie hatten das hier geplant, um ihm eine Lehre zu erteilen und weil sie ihn nicht dabeihaben wollten. Er hatte nie eine Chance gehabt, er war nur zu dumm gewesen, es zu kapieren.
Ein weiteres Mal versuchte Benedikt auf die Füße zu kommen. Er hielt sich an einem nahe gelegenen Baumstamm fest und schaffte es nach zwei weiteren Anläufen, sich hochzurappeln. Zitternd lehnte er sich an das warme Holz und lauschte ins Dunkle. Mittlerweile war die Sonne fast untergegangen und der rötliche Schimmer kaum mehr als ein Hauch, der gerade eben ausreichte, um seine nähere Umgebung zu erkennen. Die Angst schnürte seine Kehle zu und trotz der einsetzenden Kälte schwitzte er.
Da! Hatte da nicht gerade etwas geraschelt? Und hatte er nicht ein Knacken gehört? Wie das Brechen eines trockenen Zweiges unter schweren Tritten? Benedikt lauschte angestrengt in die Dunkelheit, hörte jedoch nichts mehr. Auch die Vogelstimmen verstummten plötzlich und die einsetzende Stille war so gruselig, dass er den Atem anhielt. Ganz eng presste er sich gegen den Baumstamm und hoffte, dass dieser ihn verbergen würde.
Die Nebelfetzen, die zwischen den Bäumen tanzten, schienen seinen Augen Streiche spielen zu wollen. Mal waberten sie dichter, um gleich darauf durch einen leichten Luftzug wieder zu zerfasern. Manchmal konnte er die Gesichter scheußlicher Monster in ihnen ausmachen und plötzlich spürte er, wie Nässe seine Hosenbeine tränkte. Wie ein Baby hatte er sich in die Hose gemacht.
Benedikt schrie jämmerlich, doch keiner antwortete ihm. Vorsichtig hangelte er sich von Baum zu Baum und versuchte, das verletzte Bein so wenig wie möglich zu belasten, doch nach wenigen Minuten versperrte dichtes Gestrüpp seinen Weg. Das war vorhin noch nicht da gewesen und ihm wurde klar, dass er sich hoffnungslos verirrt hatte. Ein Baum sah aus wie der andere. Benedikt drehte sich um und dann stieß er einen gellenden Schrei aus.
Mitten zwischen den Bäumen stand er – der schwarze Mann, vor dem seine Großmutter ihn immer wieder gewarnt hatte.
Die Scheibenwischer arbeiteten bereits auf Hochtouren, trotzdem konnte Katja nicht viel erkennen. Der Regen prasselte heftig gegen die Windschutzscheibe und lief in wahren Sturzbächen darüber hinweg. Als sie sich auf den Weg machte, war im Radio die Rede von leichten Niederschlägen gewesen, aber keinesfalls von einer Sintflut. Das Wetter passte allerdings zu ihrer Stimmung, denn ihre Laune war auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Point Zero war erreicht und das lag nicht nur am unberechenbaren Wetter in dieser Gegend.
Während der letzten Stunden hatte sie sich immer wieder gefragt, wie das passieren konnte. Was sie an diesem gottverlassenen Ort machte. Natürlich war sie nicht freiwillig hier und sie hatte es ihrem Vorgesetzten zu verdanken, dass sie in etwas mehr als einer halben Stunde die Grenze zu jenem Kaff passieren würde, das sie niemals mehr betreten wollte. Ein Dorf, das irgendwo im Nirgendwo lag.
Die Straße war in einem miserablen Zustand und die Nässe machte es nicht besser. Mehr als einmal kam der schwere Wagen ins Schlingern und Katja musste gegenlenken. Wald – nichts als Wald um sie herum. Nur vereinzelt lagen Wanderparkplätze an der Straße. Zumeist Schotterplätze, die eher Buckelpisten glichen und nur wenig einladend wirkten. Katja kam sich vor, als wäre sie der einzige Mensch auf der Welt. Das war nicht weiter verwunderlich, denn um diese Uhrzeit, war hier so gut wie niemand mehr unterwegs.
Dreizehn Jahre war sie gewesen, als ihr Vater sie aus dem Haus jagte. Einundzwanzig Jahre war das jetzt her und sie erinnerte sich noch immer an jene schreckliche Nacht, in der ihre Schwester starb. An das heftige Gewitter, den sintflutartigen Regen und die Rufe der Männer, die nach Lisa suchten.
Katja fror, als sie an ihre Schwester dachte und automatisch griff sie zum Regler, um die Heizung höher zu drehen. Nur eine Sekunde lag ihr Blick nicht auf der regennassen Straße, und als sie ihn wieder hob, erkannte sie im Licht der Scheinwerfer etwas Großes. Ein waberndes Schemen, das mitten auf der Fahrbahn stand und dessen Augen zu glühen schienen. Katja hämmerte den Fuß auf die Bremse und der Wagen schlingerte vorwärts. Einen Meter … zwei … viel zu schnell raste sie auf den kapitalen Hirsch zu, der sich ausgerechnet diese Stelle ausgesucht hatte, um die Nationalparkstraße zu überqueren. Sie fluchte, denn der Audi rutschte weiter und immer weiter. Dann, Katja hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, machte das große Tier einen Satz und der Wagen glitt um Haaresbreite an ihm vorbei. Nur wenige Millimeter trennten Hirsch und Karosserie, als die Bremse endlich griff. Katja konnte noch sehen, wie das Tier auf der anderen Straßenseite in die Büsche sprang. Dann war es fort und sie ließ den Audi zitternd ausrollen. Ihre Finger umklammerten noch immer das Lenkrad, während ihr Herz hämmernd in der Brust pochte. Das war verdammt knapp gewesen – zu knapp für ihren Geschmack.
Heftig atmend ließ sie den Kopf auf das Sportlenkrad sinken. Nur ein paar Sekunden. Sie würde nur ein paar Sekunden brauchen, um sich von dem Schreck zu erholen. Das brauchte sie jetzt, auch wenn sie dadurch Zeit verlor. Heute würde sie eh nichts mehr unternehmen können und sie hatte es auch keineswegs eilig, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen.
Dabei dachte sie an den Moment, als ihr Boss ihr eröffnete, dass er einen Fall auf dem Schreibtisch liegen habe und sie das Team anführen sollte, das man nach Waldhäuser schicken würde. Sie erinnerte sich mehr als gut an den Schock, den der Name des Ortes in ihr auslöste und auch daran, dass sie starr vor Entsetzen wurde. Gleichzeitig wusste sie, dass es keinen Sinn machte, ihren Chef zu bitten, einen anderen Ermittler zu schicken, denn sie war die Einzige, die momentan keinen Fall bearbeitete. Die Kollegen standen nicht zur Verfügung. Der Albtraum begann aber erst richtig, als sie hörte, was der Grund für ihren Einsatz war. Ein Kind! Ein toter Junge. Gequält, missbraucht und schrecklich zugerichtet. Die Bilder des Fundortes hatten ihr den Magen umgedreht und sie daran erinnert, warum sie niemals wieder nach Waldhäuser zurückkehren wollte.
Als Katja nach mehreren Minuten den Kopf wieder anhob, lag die Straße verlassen vor ihr. Der Regen hatte in der Zwischenzeit nachgelassen. Stellenweise konnte sie den Sternenhimmel zwischen den dunklen Wolken ausmachen und lediglich leichter Niesel benetzte die Scheibe. Sie brauchte unbedingt frische Luft. Eine kurze Pause war genau das, was ihr Kraft geben würde und so öffnete sie die Tür des Wagens. Kalte Abendluft strömte ins Innere und Katja nahm den Geruch vermodernder Pflanzen ebenso wahr wie den typischen Duft, der die kleine, malerisch gelegene Stadt von jeher umgab. Kräuter, Wiesen, Wald und Wasser schufen eine raue, unverwechselbare Note und sie atmete tief durch. Sie mochte die Menschen des Ortes nicht vermisst haben, nicht den Aberglauben und auch nicht das Geschwätz, doch dieser Geruch, er schlich sich schmeichelnd in ihre Nase und erinnerte sie daran, dass sie hier nicht nur schlimme Dinge erlebt hatte. Ihre frühe Kindheit war wunderschön gewesen. Mit den Freunden aus dem Dorfes hatte sie am Ufer der Kleinen Ohe gespielt. Sie waren über Zäune geklettert, hatten bei Bekannten Äpfel stibitzt und sich kaputtgelacht, wenn einer der Beklauten hinter ihnen herlief, um sie der gerechten Strafe zuzuführen. Im Sommer hatte sie mit ihren Geschwistern auf der Wiese vor dem Haus in einem Zelt geschlafen und sie hatten sich Gruselgeschichten erzählt. Keiner von ihnen konnte damals ahnen, dass ihre Kindheit so abrupt und schrecklich enden würde.
Katja lief ein einige Meter über die Straße, die schnurgerade durch die Baumriesen verlief. Rechts und links – nichts als dichter Wald, der nachts besonders unheimlich wirkte. Ein paar Mal atmete sie tief durch und versuchte dabei alles, um die Vergangenheit nicht zu sehr an sich heranzulassen. Das fiel ihr allerdings nicht leicht, zumal sie nach wie vor das Bild des toten Jungen so deutlich vor Augen hatte. Als Hauptkommissar Berger ihr die Unterlagen reichte und ihr als erstes die Bilder des Leichnams in die Finger fielen, wären sie ihr fast entglitten. Sie waren abscheulich, sie waren blutig und für Katja war es fast so, als würde sie auf das Bild ihrer toten Schwester starren.
Benedikt Richter hieß das Opfer und er war nur elf Jahre alt geworden. Ohne den Bericht zu lesen, wusste sie bereits beim Anblick der Fotos, dass das Kind gelitten hatte, bevor es starb. Der Mörder hatte es in der Art des Gekreuzigten nackt an eine Astgabel genagelt, die Augäpfel waren entfernt und anschließend die Lider mit schwarzem Zwirn zugezogen worden. Blutige Tränen liefen über die bleiche, wächserne Haut und zahlreiche Stichwunden zeugten davon, dass der perverse Bastard das Kind hatte ausbluten lassen wie ein Lamm. Beim Lesen des Berichtes war ihr schlecht geworden. Während ihrer Arbeit für das Landeskriminalamt hatte sie schon einiges gesehen – auch sehr grausame Dinge –, doch das hier war etwas anderes. Es handelte sich um ein Kind und ihr ging die Sache besonders nah, weil ihre Schwester damals auf dieselbe Weise zugerichtet wurde wie der kleine Benedikt.
Katja ballte die Hände zu Fäusten und lief ein paar Mal die Straße hoch und runter. Es mochte Zufall sein, dass der Tod des Jungen und der ihrer Schwester wirkten, als hätte der Täter von damals wieder zugeschlagen. Sie glaubte jedoch schon lange nicht mehr an Zufälle. Aber sollte es sich wirklich um denselben Serientäter handeln, der damals den Sommer in einen nicht enden wollenden Albtraum verwandelte? Und warum war er jahrelang nicht aktiv gewesen und tauchte ausgerechnet jetzt wieder auf? Ein Nachahmungstäter? Eher unwahrscheinlich, denn nachdem Katja den Bericht gelesen hatte, war sie sicher, dass der Killer von damals wieder auferstanden war. Was auch immer ihn dazu brachte, über zwanzig Jahre die Füße stillzuhalten, jetzt tötete er wieder und es war an ihr, ihn aufzuhalten. Doch dazu musste sie sich erst einmal überwinden und nach Altschönau fahren. Sie wurde bereits im Landhotel Waldesruh erwartet. Dort hatte man in Ermangelung einer größeren Polizeistation eine provisorische Einsatzzentrale eingerichtet. Eilig hatte Katja es allerdings nicht. Vor allem graute es ihr vor der Begegnung mit ihrer Verwandtschaft und die würde sie nicht vermeiden können.
Seufzend ging Katja zurück zum Wagen, setzte sich hinters Steuer und startete den Motor. Als sie die Stadtgrenze von Altschönau überquerte, ergriff ein unangenehmes Gefühl von ihr Besitz. Es fühlte sich an, als würde sie beobachtet, doch außer einer streunenden Katze und ein paar Kühen, die über das Gatter einer Wiese auf die Straße lugten, war keine Menschenseele unterwegs. Im Ort angekommen, stellte sie fest, dass sich kaum etwas verändert hatte. Es war nach wie vor so verschlafen wie früher und ähnlich wie Waldhäuser nur im Sommer wirklich lebendig – dann, wenn zahlreiche Touristen den Ort unsicher machten.
Hinter den Fenstern der Häuser brannte nur selten ein einladendes Licht und Katja beeilte sich jetzt tatsächlich, um schnellstmöglich zum Ziel zu kommen.
Ein paar Minuten später stand sie endlich vor dem Hotel, in dem sie und einige Kollegen untergebracht waren.
Sie schaltete den Motor ab und atmete erleichtert auf, denn zumindest das Landhotel war hell erleuchtet. Der davor abgestellte Polizeiwagen verriet ihr zudem, dass sie bereits erwartet wurde. Im Stillen hatte sie Matthias nämlich zugetraut, dass er lieber nach Hause ging, um sich ein Bier zu genehmigen, statt auf sie zu warten. Matthias Wagner! Als Hauptkommissar Berger ihr mitteilte, mit wem sie zusammenarbeiten sollte, war ihr die Kinnlade nach unten gesackt. Wagner war der letzte Mensch auf Erden, mit dem sie sich eine Zusammenarbeit auch nur vorstellen mochte. Früher war er ein Windhund, ein Aufschneider und leider auch ein Feigling. Das Bild, das sie von ihm abgespeichert hatte, war nur wenig schmeichelhaft. Bevor sie Waldhäuser verließ, war Matthias ein pickeliger, großgewachsener und schlaksiger Bursche gewesen, was ihm auch den Namen Mr. Bean einbrachte. Das lag allerdings weniger an seiner Größe als an den übergroßen Froschaugen. Nein! Man konnte nicht behaupten, dass Katja sich auf diese Zusammenarbeit freute. Gar nichts an diesem Ort freute sie.
Nach wie vor stand sie vor dem Gebäude und überlegte, ob es nicht besser wäre, wieder in den Audi zu steigen, um schnellstmöglich das Weite zu suchen. Eine Krankmeldung würde sie vor all dem hier bewahren, doch bevor sie handeln konnte, wurde die Tür zum Hotel bereits aufgerissen und ein Hüne stand im Eingang. Mit den breiten Schultern schluckte er das Licht, das von hinten auf den gepflasterten Weg sickern wollte und Katja zuckte zurück.
„Katja? Bist du das?“ Die brummige, raue Stimme wollte auf keinen Fall zu ihren Erinnerungen passen, denn dort war sie fistelig und unangenehm hoch gewesen. Das hier konnte nicht Matthias Wagner sein, zumindest glaubte sie es nicht. „Komm doch rein. Lass dich ansehen!“ Sie war so perplex, dass sie der Aufforderung folgte, als der riesige Schatten den Weg freimachte.
Ihre Augen mussten sich erst einmal an die plötzliche Helligkeit gewöhnen, doch dann erkannte sie, dass es sich tatsächlich um „Mr. Bean“ handelte. Von dem einstigen Jungen war kaum noch etwas geblieben. Ein Riese mit breiten Schultern war aus ihm geworden. Die dunkelbraunen Haare waren etwas zu lang, um ihr zu gefallen und die hellbraunen Augen zu stechend. Er durchbohrte sie regelrecht mit seinen Blicken, sodass Katja sich gezwungen sah, genauso frech zurück zu starren. Auf keinen Fall würde sie ihm zeigen, dass sein Aussehen sie angenehm überrascht hatte – was man allerdings vom Rest seines Auftretens nicht behaupten konnte.
Matthias lief vor ihr her und dirigierte sie zu dem provisorisch eingerichteten Arbeitszimmer, wo er die Tür hinter ihnen schloss.
„Setz dich. Möchtest du einen Tee oder doch lieber etwas Stärkeres? Du hast dir ja ein beschissenes Wetter ausgesucht, um die Heimat zu besuchen.“
„Es handelt sich nicht um einen Besuch, das dürfte dir wohl klar sein“, stellte sie trocken fest und warf ihm dabei einen tadelnden Blick zu, weil er im Begriff stand, sich eine auf dem Schreibtisch stehende Wodkaflasche zu greifen. „Und ich trinke nicht, wenn ich im Dienst bin.“ Genau genommen war sie nicht mehr im Dienst, aber es erschien ihr vernünftiger, einen klaren Kopf zu behalten. Immerhin hoffte sie, von Matthias noch mehr zu dem vorliegenden Fall zu erfahren. Mehr, als es der Bericht hergab. Außerdem wollte sie die sichergestellten Beweismittel in Augenschein nehmen. Mit dem restlichen Team und den Forensikern würde sie sich allerdings erst morgen auseinandersetzen. Heute fühlte sie sich dazu nicht mehr in der Lage.
„Komm schon! Wir müssen doch auf unser Wiedersehen anstoßen. Wie lange ist es jetzt eigentlich her?“ Matthias ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen und legte die Füße in Wild-West-Manier auf den Schreibtisch. Jetzt fehlte eigentlich nur noch die Zigarette zwischen den Lippen und Katja würde kotzen. „Ich habe schon gehört, dass du Karriere gemacht hast. Das LKA wäre auch mein Traum gewesen, aber ich bin nie über die Grenzen unserer Heimat hinausgekommen.“ Was kein Verlust ist, dachte Katja entsetzt, denn er schüttete tatsächlich Wodka in sein Wasserglas und nahm gleich darauf einen großen Schluck.
„Wie du weißt, bin ich nicht zu meinem Vergnügen hier und erst recht nicht, um über mich zu plaudern. Viel mehr interessiert mich, was ihr bisher unternommen habt.“ Sie wollte dem Gespräch eine andere Note geben, denn Matthias schien ihr zu sehr an privaten Dingen interessiert zu sein und darüber würde sie garantiert nicht mit ihm reden.
„Immer noch genauso zugeknöpft wie damals. Du hast dich kein bisschen verändert.“ Das „du auch nicht“ lag ihr bereits auf der Zunge, aber sie schluckte es eisern hinunter.
„Also! Was ist jetzt? Was habt ihr am Tatort gefunden?“
„Nichts!“
„Nichts? Das ist nicht möglich!“ Sie hatte sich zwar keine allzu großen Hoffnungen gemacht, dass die Beamten der winzigen Polizeidienststelle in Neuschönau sauber arbeiten würden, aber dass sie gar nichts gefunden hatten, wollte nicht in ihren Kopf. „Benedikt Richter wurde im Wald gefunden. Es war feucht, es hatte seit Tagen geregnet, es muss zumindest Fußspuren gegeben haben, die ihr hättet sicherstellen können. Also erzähl mir nichts.“ Katja merkte, dass sie langsam wütend wurde und ein leichtes Ziehen hinter ihren Schläfen verriet ihr, dass sich eine heftige Migräneattacke ankündigte.
„Wenn ich es dir doch sage: Wir haben nichts gefunden und wenn ich nichts sage, dann meine ich auch nichts.“
„Der Mörder kann nicht über den Waldboden geschwebt sein. Er muss etwas hinterlassen haben, ihr habt es nur übersehen.“ Matthias zog die Füße vom Tisch, setzte sie auf dem Boden ab, dann beugte er sich vor und in seinen Augen lag ein gefährliches Glitzern.
„Ich hoffe, du bist nicht hergekommen, um mir zu erzählen, wie ich meinen Job zu erledigen habe. Wir haben den Tatort akribisch untersucht und es gab keine Spuren. Nur die an Benedikts Leichnam. Es ist mir scheißegal, ob sein Mörder über Wasser gehen oder fliegen kann – ich will ihn nur in die Finger kriegen und ihm dasselbe antun, was er dem Jungen angetan hat.“ Er lehnte sich zurück und gleich darauf konnte Katja beobachten, wie sein Blick noch eine Spur dunkler wurde. „Ich befürchte fast, dass auch die Forensiker keine Spuren an der Leiche finden werden. Irgendetwas sagt mir, dass es so kommt und bisher konnte ich mich auf meine Intuition stets verlassen.“
„Woran ist das Kind gestorben? Wurden ihm die Augäpfel post mortem entfernt oder …“ Katja wagte es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen. Sie wollte nicht einmal darüber nachdenken, weil es einfach zu abscheulich war.
„Wir wissen nichts Genaueres und müssen den Bericht der Forensik abwarten. Wie du sicher weißt, wird das Kind in München obduziert. Was wir mit Sicherheit sagen können: Der Junge ist verblutet. Das hat der hinzugezogene Mediziner bereits festgestellt. Welche Wunde allerdings die tödliche war …“ Matthias zuckte mit den Achseln.
„Es gibt also keine Beweisstücke. Habt ihr denn schon Befragungen bei den Anwohnern durchgeführt? Hat jemand etwas gesehen oder gehört?“
„Ich habe den Dorfkindern ein bisschen auf den Zahn gefühlt, aber die haben nichts mitbekommen.“
„Kann ich das Protokoll sehen?“ Katja streckte die Hand aus, um die Papiere in Empfang zu nehmen, doch Matthias schüttelte den Kopf.
„Mein Gott, Katja! Das sind Kinder! Ich habe sie gefragt, ob sie Benedikt gestern Nachmittag gesehen haben und sie haben verneint. Wozu sollte ich da ein Protokoll schreiben. Zumal der Kleine bei den meisten auch nicht sonderlich beliebt war.“
„Das ist nicht dein Ernst!“ Katja kniff die Augen zusammen, weil der Schmerz hinter ihren Schläfen immer heftiger wütete. „Du weißt, dass jede Befragung protokolliert werden muss – erst recht, wenn es dabei um Kinder oder Jugendliche geht. Bis morgen früh habe ich die Namen der Beteiligten, ihre Adressen und alles, was du an Informationen für mich hast. Anscheinend ist es besser, wenn ich jetzt gehe, bevor ich vergesse, dass ich in dieser Angelegenheit deine direkte Vorgesetzte bin.“ Sie sprang hastig auf und bevor ihr Gegenüber etwas sagen oder tun konnte, hatte sie das Besprechungszimmer bereits türenknallend verlassen.
Falls das alles war, was sie hatte, um den Mord aufzuklären, würde das hier der schwerste Fall ihrer bisherigen Laufbahn werden. Und dabei einen Beamten an der Seite zu haben, der seine Arbeit nicht sonderlich ernst nahm, würde ihr das Leben keinesfalls leichter machen. Das war der Moment, in dem Katja zum ersten Mal seit langer Zeit betete. Sie konnte nur hoffen, dass die nächsten Wochen nicht so blutig werden würden wie der Sommer vor einundzwanzig Jahren.
Gleich nachdem Katja Strömer den Raum verlassen hatte, öffnete Matthias den Laptop, der auf dem Schreibtisch stand, und rief ihre Personalakte auf. Mittlerweile kannte er sie fast auswendig, trotzdem musste er sie noch einmal lesen, weil er es nicht glauben konnte. Katja war zwar schon damals eine Streberin gewesen und ein verdammt heißes Gerät, trotzdem erschien es ihm seltsam, dass sie so schnell die Karriereleiter emporgeklettert war. Garantiert ging das nicht mit rechten Dingen zu. Das wollte er sich zumindest einreden.
Als er den Mord an Benedikt Richter ans LKA München meldete und man ihm dort sagte, dass ihm eine Mordkommission an die Seite gestellt würde, hatte er nicht damit gerechnet, dass ausgerechnet Katja die Leitung innehaben könnte. Dieselbe Katja, die von ihrem Vater vor einundzwanzig Jahren mit Schimpf und Schande und samt ihrer Mutter aus dem Haus geworfen worden war. Der alte Strömer war kein Mensch, mit dem man sich anlegte und Matthias erinnerte sich noch genau, wie überrascht er war, als er plötzlich mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass das Objekt seiner Begierde nicht mehr greifbar war. Ja, er war damals in die Kleine verschossen, wie fast alle Jungs auf der Schule. Katja interessierte sich jedoch weder für ihn noch für einen anderen, was wohl daran lag, dass sie einfach noch zu jung war. Das hielt allerdings niemanden davon ab, ihr den Namen „Eisprinzessin“ zu geben. Man hielt sie für arrogant und unnahbar. Damals ging an der Schule sogar das Gerücht um, sie könne auf andere Frauen stehen. Doch das glaubte Matthias nicht.
Die Zusammenarbeit mit ihr würde in vielerlei Hinsicht interessant werden. Sie könnte zu einem Sprungbrett für seine eigene Karriere werden und er würde dafür sorgen, dass auch das Private nicht zu kurz kam. Als sie ihm gegenüberstand, hatte er sehr schnell gemerkt, dass sein Puls in die Höhe schnellte und er hatte sie genau gemustert. Da steckte kein Ring an ihrem Finger. Katja schien – ebenso wie er selbst – solo zu sein. Er musste sie ja nicht gleich heiraten, aber gegen einen heißen Flirt hätte er nichts einzuwenden.
Dass er selbst geschieden war, spielte keine Rolle. Melanie und er, das war Vergangenheit. Sechs Jahre waren sie verheiratet gewesen und hatten eine gemeinsame Tochter, aber das war auch schon alles. Das Kribbeln und die Schmetterlinge im Bauch waren bereits nach kurzer Zeit dem Alltag gewichen und sie hatten nur noch des Kindes wegen ihre Ehe weitere vier Jahre aufrechterhalten. Verschwendete Jahre, denn sie hatten sich nichts mehr zu sagen und gingen meist ihrer eigenen Wege.
Matthias lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm, auf dem ihm Katja entgegen blickte. In Ruhe betrachtete er die langen schwarzen Locken, die sie nach wie vor im Nacken zusammenband. Das hatte sie früher schon so gemacht und auch die grauen Augen funkelten noch genauso kühl wie zu ihrer beider Schulzeit. Gut, sie war nicht mehr so jung wie damals, nicht mehr ganz so zierlich, aber immer noch eine Frau, der alle Männer nachstarren würden. Die kleinen Fältchen um die Augen verrieten, dass sie gern und viel lachte, wobei sie in der alten Heimat wohl kaum etwas zu lachen haben dürfte.
Der alte Strömer war noch immer derselbe Kotzbrocken wie damals. Vielleicht war er im Laufe der Jahre sogar noch schlimmer geworden. Zumindest schien es Matthias so, und er fragte sich nach wie vor, wie man sein eigenes Kind aus dem Haus werfen konnte. Die Ehefrau war eine Sache, doch das Kind? Er hatte damals nicht verstanden, was den Alten geritten hatte, und heute verstand er es noch sehr viel weniger. Immerhin wusste er in der Zwischenzeit, wie es sich anfühlte, Vater zu sein. Die kleine Marie war sein ganzer Stolz. Sein kleiner Sonnenschein, dem er jeden Wunsch von den Augen ablas. Da spielte es keine Rolle, dass er sich mit der Mutter nicht mehr verstand. Das Kind konnte schließlich nichts dafür. Das schien Katjas Vater anders zu sehen. In den vergangenen Jahren hatte er niemals auch nur den Namen seiner Tochter in den Mund genommen. Tat es ein anderer in seinem Beisein, spuckte er verächtlich auf den Boden und ging davon. Man musste kein Hellseher sein, um zu wissen, dass der Kerl seine Tochter abgrundtief hasste.
Soweit Matthias sich erinnern konnte, war das nicht immer so. Katja war zwar nicht das Lieblingskind des Alten, aber er erinnerte sich an viele Gelegenheiten, in denen Strömer mit ihr gemeinsam in Neuschönau war und sie beide eisessend durch den Ort schlenderten. Das Verhältnis änderte sich schlagartig mit dem Tod von Lisa Strömer – Katjas jüngerer Schwester. Sie war das letzte Opfer eines Serientäters, der den Sommer zweitausendeins zu einem Horrortrip werden ließ. Mit Katjas Weggang endete die Mordserie und man konnte durchaus auf den Gedanken kommen, sie hätte etwas damit zu tun gehabt. Doch Katja schied definitiv als Täterin aus. Sie war damals viel zu klein und zart, als dass sie Fabian Ertl, eines der neun Opfer, hätte umbringen können. Der Kerl war ein Hüne und hätte sie einfach ausgeknockt. Trotzdem gab es einige Dumme in Altschönau und auch in Waldhäuser, die nach wie vor Katja in Verdacht hatten. Und der alte Strömer tat nichts, um die dumme Quatscherei zu beenden. Er schwieg einfach zu allem, was seine Ex oder seine Tochter betraf. Fast, als hätte es die beiden niemals gegeben. Sie existierten augenscheinlich für ihn nicht mehr.
Matthias betrachtete ihr Bild noch eine Weile, doch natürlich würde er hier auf keinen Fall des Rätsels Lösung finden und Katja würde schweigen. Sie würde ihm garantiert nicht verraten, was damals geschah und warum ihr Vater solch einen Hass gegen sie hegte.
Er drückte ein paar Tasten an dem hochmodernen Rechner und das Bild des Opfers tauchte auf. Benedikt Richter. Ein unscheinbarer Bub, bei dem nur das leuchtend rote Haar auffällig war. Ein Kind, das laut Aussage der Dorfbewohner niemals Schwierigkeiten gemacht hatte. Jetzt war der Junge tot.
Matthias betrachtete das Foto genauer und öffnete gleich darauf ein weiteres. Lisa Strömer – ebenso kalt, tot und übel zugerichtet. Auf den ersten Blick wirkten die beiden Fotos wie aus einem Guss. Als hätte sich derselbe perverse Irre an dem Mädchen zu schaffen gemacht, der auch für die jüngste Tat verantwortlich war. Nur dass zwischen den beiden Aufnahmen einundzwanzig Jahre lagen. Auch bei Lisa hatte der Killer die Augäpfel entfernt und die Lider mit schwarzem Zwirn zugezogen. Selbst die blutigen Tränen verliefen auf fast identische Weise über die bleichen Wangen. Nur waren bei Lisa zusätzlich die Lippen zugenäht worden, als hätte der Täter das tote Mädchen daran hindern wollen, etwas zu verraten. Das musste etwas zu bedeuten haben. Nur was?
Matthias switchte zwischen den beiden Fotos hin und her und dabei fielen ihm winzige Abweichungen auf. Auf den ersten Blick mochten es unbedeutende Details sein, doch nachdem er ein weiteres Bild aus der Datenbank aufrief, war er sicher, dass er sich nicht irrte. Während der Killer damals anscheinend sehr viel Wert auf eine saubere Näharbeit legte, waren die Stiche bei Benedikt recht grob und wirkten eher unbeholfen.
Das Wort professionell wollte sich in sein Hirn schleichen, doch Matthias verdrängte es sofort wieder. Allerdings glaubte er nicht mehr daran, dass es sich um denselben Täter handelte. Irgendetwas war anders, das sagte ihm sein Instinkt. Ein Nachahmungstäter schien ihm sehr viel wahrscheinlicher zu sein und tief in seinem Inneren bildete sich ein eisiger Klumpen. Er glaubte nämlich auch keine Sekunde, dass der kleine Benedikt das einzige Opfer dieses Perversen bleiben würde. Die Leute in den umliegenden Dörfern glaubten es wahrscheinlich eben so wenig.
Der Tod des Jungen hatte sich in Windeseile herumgesprochen, was nicht anders zu erwarten war. Immerhin war es Julia Fuhrländer, die Benedikt auf ihrem morgendlichen Gassigang mit dem Hund gefunden hatte. Nur ein paar Stunden vorher hatten die Eltern ihn als vermisst gemeldet.
Der Beagle von Julia – normalerweise eher einer der gemütlichen Sorte – hatte sich mit lautem Kläffen losgerissen und war in den Wald gestürmt. Die gottesfürchtige Frau hatte Mühe, ihm zu folgen – das sagte sie zumindest aus, als er sie befragte. Sie fand ihr heiß geliebtes Tierchen erst, nachdem sie eine halbe Stunde durch den Wald gestolpert war, ihre Leggins in Fetzen hingen und sie kaum noch Luft bekam. Was in Anbetracht ihrer Leibesfülle kein Wunder war. Ihr Hund saß unschuldig auf einer kleinen Lichtung, direkt unter dem Baum, in dem der kleine Benedikt hing.
Matthias hatte sie noch am Tatort verhört und die gute Seele wäre beinahe unter den schrecklichen Eindrücken zusammengebrochen. Sie heulte, zitterte und weder die ihn begleitenden Kollegen noch er selbst hatten ihr Gestammel verstehen können. Sie sahen sich schließlich gezwungen, einen Rettungswagen zu bestellen, weil niemand einen Kollaps riskieren wollte. Man teilte ihr zwar mit, dass sie aus ermittlungstechnischen Gründen Schweigen bewahren müsste, doch als man sie vom Ort des Geschehens entfernte, wusste Matthias, dass ihnen nicht viel Zeit blieb, die Eltern vom Tod ihres Kindes in Kenntnis zu setzen. Und richtig! Zwei Stunden später wusste der halbe Bezirk Bescheid. Und am nächsten Morgen wussten es alle. Die Buschtrommeln funktionierten hier noch immer hervorragend und genau das war das Problem. Was auch immer hier passierte, machte so schnell die Runde, dass es Matthias schwindelte.
Katjas Auftauchen würde ebenfalls nicht lange geheim bleiben und er befürchtete, dass man sie nicht unbedingt freundlich empfangen würde. Die meisten Menschen vergaßen nur wenig – die Menschen dieser Region vergaßen überhaupt nichts. Und dass man Katja mit dem Schwarzen Mann in Verbindung brachte, war nichts Neues. Dass es Blödsinn war, wollte einfach nicht in die Köpfe der Leute. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass es sich um einen Serienkiller handelte und nicht um einen Berggeist. Schwarzer Mann … Das war einfach nur lächerlich.
Matthias schaltete den Laptop aus und lehnte sich zurück. Dabei fiel sein Blick auf das Wasserglas, in dem noch immer ein guter Schluck Wodka darauf wartete, getrunken zu werden. Natürlich hatte er Katjas entsetzten Blick gesehen, als er sich vorhin den Alkohol genehmigt hatte. Vielleicht hätte er ihr sagen sollen, dass er schon längst Dienstschluss hatte und sich nur noch im Hotel aufhielt, weil er neugierig war. Neugierig auf die Kleine, die ihm damals den Kopf verdrehte. Matthias lächelte, als er das Glas erneut an die Lippen hob und leerte. Dann gähnte er. Es wurde Zeit, nach Hause zu gehen und sich aufs Ohr zu hauen. Heute würde er nichts mehr reißen können und morgen war schließlich auch noch ein Tag.
Den Wagen ließ er sicherheitshalber stehen. Er hatte es nicht weit und die paar Meter konnte er laufen. Vielleicht würde ihm das helfen, besser einzuschlafen. Schlaf brauchte er momentan mehr als alles andere, denn die kommenden Wochen würden wahrscheinlich nervenaufreibend werden.
Katjas Nacht war unangenehm und vor allem unruhig. Bereits bevor sie sich hinlegte, war ihr klar gewesen, dass die Vergangenheit wieder lebendig werden würde. Auf eine sehr unschöne Weise. Sie hatte es bereits gespürt, als sie die Grenzen zu jenem Gebiet überquerte, in dem sie aufgewachsen war. Es waren die verstörenden Bilder in ihrem Kopf, die lange geschwiegen hatten, jetzt aber mit geballter Kraft auf sie einhämmerten. Wenn sie nur wüsste, was sie zu bedeuten hatten. Das Dumme war, dass sie sich kaum an den Tag erinnern konnte, an dem Lisa starb. Nur an den Moment, in dem ihr Vater sie aus dem Haus jagte. Auch auf die Zeit der Morde konnte sie sich nur schlecht besinnen. Vereinzelte Bilder, die sie immer wieder peinigten, Albträume, die sie aus dem Schlaf rissen und die am nächsten Morgen bereits im Nebel des Vergessens verschwunden waren. Das war dieses Mal jedoch anders.
Als Katja erwachte, war der Traum noch so lebendig, dass sie sich sogar an den Duft der Blumenwiese erinnern konnte. An die wilden Kräuter, die am Ufer des Waldhäuser Bachs wuchsen. Sie spürte sogar noch die Sonnenstrahlen, die im Traum ihre Haut wärmten. Lisa und sie hielten sich an den Händen und drehten sich wild im Kreis, bis sie heftig atmend ins hohe Gras sanken. Der Tag war wunderschön.
Ein heiterer, unbeschwerter Sommertag mit einem klaren blauen Himmel, an dem ein paar Schäfchenwolken träge ihre Bahnen zogen. In ihrem Traum hatte sich der Himmel allerdings jäh in eine dunkle, kochende Suppe aus Grau verwandelt, und als Katja ihren Kopf drehte, um ihre Schwester anzuschauen, hatte diese auf einmal kein Gesicht mehr. Da war nur noch eine glatte Fläche ohne Konturen. Keine Augen, kein Mund – nichts, was noch an ihre Schwester erinnerte. Das war der Moment, in dem Katja aufwachte und ruckartig in die Höhe fuhr. Liebend gern hätte sie die Bilder verdrängt und wie früher wieder vergessen, doch aus irgendeinem seltsamen Grund war es ihr diesmal nicht möglich.
Seufzend stand sie auf und wankte ins Bad. Es war früh am Morgen, die Dämmerung hatte noch nicht eingesetzt und trotzdem wusste sie, dass es keinen Sinn machte, im Bett liegen zu bleiben. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Stattdessen kletterte sie unter die Dusche, stellte das Wasser eher kühl ein und genoss die belebenden Strahlen auf der Haut. Dabei dachte sie darüber nach, was heute alles auf dem Plan stand. Die Mordkommission würde sich erst am späten Nachmittag treffen, denn erst dann war mit dem Ergebnis der Obduktion zu rechnen. Der kleine Benedikt war in die Pathologie nach München gebracht worden und niemand geringerer als Prof. Dr. Marten würde die Obduktion vornehmen. Bei ihm konnte Katja sicher sein, dass er nichts übersah, und falls es Spuren gab, diese auch finden würde. Es bliebe also genügend Zeit, den Fundort der Leiche aufzusuchen, um sich ein Bild der Lage zu machen.
Seufzend trocknete sie sich ab und schlüpfte in bequeme Kleidung. Außerdem stand heute auch noch eine Unterredung mit den Eltern des Jungen an. Frau Richter hatte einen Schock erlitten, als man ihr mitteilte, dass ihr Sohn einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen war. Ob sie überhaupt in der Lage war, irgendwelche Fragen zu beantworten, blieb abzuwarten. Trotzdem mussten die Eltern schnellstmöglich befragt werden, denn wenn sie überhaupt eine Chance haben wollten, den Mörder zu fassen und weitere Morde zu verhindern, mussten sie so schnell wie möglich alle Fakten zusammentragen. Abermals schoss ihr der Vergleich mit der Vergangenheit durch den Kopf. Ein Serientäter, der über viele Jahre nicht mordete, war äußerst ungewöhnlich. Hatten die Täter einmal Blut geleckt, weckte das eine Gier in ihnen, die nicht zu stillen war. Meist war es eher so, dass sie sich in immer kürzeren Abständen weitere Opfer suchten. Trotzdem endete die Mordserie damals abrupt. Und zwar genau an dem Tag, als sie mit ihrer Mutter Waldhäuser verließ. Bis dahin hatte es neun Tote gegeben, bei denen der Täter kein erkennbares Muster bei der Wahl seiner Opfer an den Tag gelegt hatte. Er tötete junge Frauen und Männer ebenso wie kleine Jungs und Mädchen. Alle auf dieselbe bestialische Weise.
Während Katjas Arbeit im LKA München hatte sie öfters die Akten der Mordserie in der Hand gehabt. Immer in der Hoffnung, dass sie etwas finden würde, um den Mörder doch noch zu entlarven. Doch da war nichts. Genau wie bei dem kleinen Benedikt hatte es auch damals keine erkennbaren Spuren am Tatort gegeben. Nichts, was einen Hinweis auf den Täter liefern konnte. Als wäre er ein verdammtes Phantom.
Als Matthias ihr gestern Abend eröffnet hatte, dass es keine verwertbaren Spuren gab, war ihr heiß und kalt geworden, und der Gedanke, dass sie es mit demselben Killer zu tun hatten, der damals bereits die Gegend unsicher machte, drängte sich ihr förmlich auf. Doch Katja war noch nicht bereit, daran zu glauben. Trotzdem befanden sich sämtliche Unterlagen zu den alten Fällen in Kisten, die nach wie vor in ihrem Wagen darauf warteten, dass sie gebraucht wurden.
Im Frühstücksraum angekommen, bekam sie einen ersten Eindruck davon, was ihr in den kommenden Wochen bevorstand. Kaum hatte sie den geräumigen Saal betreten und sich einen Kaffee am Büffet geholt, als es hinter ihr schepperte. Sie flog herum und entdeckte einen älteren Hotelangestellten, der sie entsetzt anschaute. Zu seinen Füßen lag eine Kaffeekanne aus Metall, wie sie in den meisten Hotels üblich waren. Der Inhalt hatte eine braune Pfütze auf den hellen Fliesen hinterlassen, doch das schien den Mann nicht zu stören. Stattdessen hatte er nur Augen für Katja. So sehr sie sich auch anstrengte, sie verband nichts mit dem Mann oder konnte sich zumindest nicht an ihn erinnern. Dafür schien er sie umso besser zu kennen, denn er starrte sie an, als wäre sie ein verfluchter Geist. Etwas, das es eigentlich nicht geben dürfte. Genauso hatte sie sich die Ankunft in der Heimat vorgestellt.
Sie wusste genau, dass es jetzt nur noch eine Frage der Zeit war, bis alle Einwohner im Umkreis von zwanzig Kilometern wussten, dass das schwarze Schaf der Familie Strömer wieder im Lande war. Und damit dürfte auch ihr Vater Wind davon bekommen. Auf ein Zusammentreffen mit ihm legte sie absolut keinen Wert, auch wenn sie genau wusste, dass es sich Zuge der Ermittlungen kaum vermeiden ließ. Obwohl das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, zog sie ihren Kopf ein, lud eilig ein Brötchen und den Belag auf einen Teller und marschierte damit in die hinterste Ecke des Speisesaals. Der Appetit war ihr zwar vergangen, doch sie musste etwas essen, wenn sie den Tag irgendwie überstehen wollte.
Als Matthias wenig später den Frühstücksraum betrat, war von dem kleinen Malheur nichts mehr zu sehen und der ungeschickte Angestellte war verschwunden. Matthias ließ sich auf den freien Stuhl fallen und musterte Katja mit unergründlichem Blick.
„Gibt es was Neues?“ Ein Guten Morgen wollte ihr nicht über die Lippen, denn an diesem Morgen war nichts Gutes.
„Nein! Oder doch“, antwortete er. „Wir haben das Go vom Doc bekommen, den Richters heute Mittag einen Besuch abzustatten. Frau Richter steht zwar nach wie vor unter Beruhigungsmitteln, aber nach Auskunft ihres Arztes sollte es möglich sein, dass wir ihr ein paar Fragen stellen. Sicherheitshalber wird er aber auch anwesend sein.“ Das passte Katja zwar nicht, sie konnte es jedoch nicht ändern. Was den Tratsch anging, waren diese Dörfler unschlagbar. Es beruhigte sie allerdings, dass der Arzt die Schweigepflicht beachten musste, ansonsten würde er sich strafbar machen. „Bist du immer noch wild entschlossen, den Fundort des Kleinen aufzusuchen?“ Katja nickte und nahm einen letzten Schluck des mittlerweile kalten Kaffees. Dann sprang sie auf.
„Von mir aus können wir los. Bis wir zu den Richters können, sind wir dreimal bis zum Fundort und wieder zurück. Willst du fahren oder soll ich?“ Benedikt wurde mitten im Wald zwischen Neuschönau und Waldhäuser gefunden und es würde Zeit sparen, ein Stück mit dem Auto der Nationalpark-Straße zu folgen. Matthias kannte den Weg. Was das anging, würde sie sich auf ihn verlassen müssen.
„Ich fahre!“, sagte er auch prompt und stand ebenfalls auf. Allerdings schien er es dabei nicht eilig zu haben. In Seelenruhe schaute er sich um und warf der jungen Bedienung, die das Büffet auffüllte, ein anerkennendes Zwinkern zu.
Katja verdrehte genervt die Augen. Nichts hatte sich geändert. Matthias war nach wie vor der gleiche Möchtegern-Womanizer wie früher und anscheinend glaubte er noch immer, er würde unwiderstehlich auf das weibliche Geschlecht wirken. Wie sehr man sich doch täuschen konnte.
Ein paar Minuten später saß sie neben ihm im Dienstwagen und klammerte sich am Haltegriff fest. Dabei betete die Kommissarin zu allen Göttern, dass sie diesen Trip überleben möge und sie schwor sich, beim nächsten Mal selbst hinterm Steuer zu sitzen. Wagner fuhr wie ein Rallyefahrer und dass, obwohl jederzeit ein Tier zwischen den Bäumen hervorspringen konnte. Der Beinahe-Zusammenstoß mit dem Hirsch war ihr eine Lehre gewesen und Katja wollte gerade etwas zu seinem Fahrstil sagen, als er auch schon bremste und das Auto auf dem Seitenstreifen parkte. Einen erleichterten Stoßseufzer konnte Katja sich nicht verkneifen, bevor sie aus dem Wagen kletterte und einmal tief durchatmete. Zwischen ihnen und dem Fundort des Kindes lag nicht mehr als ein Kilometer, dafür aber jede Menge Bäume und Gebüsch. Sie erreichten ihr Ziel bereits nach fünfzehn Minuten und Katja sah sich angespannt um.
Die Lichtung war unscheinbar und vor allem klein. Sie maß vielleicht fünf mal fünf Meter. Sofort fielen ihr die zahlreichen Schilder auf, die im Gras standen und der markierte Baum, an dem der Junge aufgehängt war.
„Es gab kein Blut vom Opfer, sodass wir davon ausgehen müssen, dass Benedikt nicht hier getötet wurde. Fund- und Tatort können nicht identisch sein. Dazu können dir aber die Spezialisten mehr sagen. Ich gebe nur wieder, was ich aufgeschnappt habe.“
Katja schaute sich suchend um, ohne auf Matthias Bemerkung einzugehen. Der Täter hatte den Ort sehr gut gewählt. Jetzt wurde ihr auch klar, warum es keine Spuren gab. Es gab auf der Lichtung keinen weichen Erdboden, auf dem er Spuren hätte hinterlassen können. Der Untergrund war felsig und nur ein paar armselige Pflanzen hatten sich in den wenigen Spalten im Stein breitgemacht. Aber er hatte das Kind nicht vor Ort getötet. Also musste er es hergeschafft haben. Wahrscheinlich wurde es getragen, sinnierte Katja. Dabei musste er durch den Wald und der Boden dort war weich. Ohne Spuren zu hinterlassen ging das nicht.
„Ich will mindestens zehn Beamte hier vor Ort, die in einem Umkreis von mindestens zwei Kilometern den Boden nach Spuren absuchen. Der Täter hat das Kind irgendwie hergebracht und es muss etwas zu finden sein.“
„Du weißt aber schon, dass man vor einundzwanzig Jahren auch keine Spuren fand?“ Matthias schaute sie an und Katja nickte. Er hatte also auch schon darüber nachgedacht, dass sie es mit einer ähnlichen Mordserie zu tun bekamen wie damals.
„Trotzdem will ich auf Nummer sichergehen. Wir dürfen keine Fehler machen – auch keine kleinen. Falls es sich wirklich um den Täter von damals handelt, will ich ihn zur Strecke bringen.“ Dabei dachte sie an ihre Schwester und daran, dass es da draußen jemanden gab, der ihren Lebensfaden aufs Brutalste durchtrennt hatte. Einen Killer, der für seine Taten niemals gebüßt hatte.
Matthias zückte sein Smartphone, wählte eine Nummer und gab ihre Anweisungen durch. Katja hörte nur mit halbem Ohr hin. In der Zwischenzeit war sie näher an den Baum herangetreten, an dem das Opfer gefunden wurde. Der Baum hatte tatsächlich die Form eines perfekten Kreuzes. Ein gerader Stamm, von dem die beiden unteren Äste fast waagerecht abstanden. Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche, rief eines der Bilder auf, die den kleinen Benedikt zeigten, wie er aufgefunden wurde. Seine Arme waren mit Hanfseilen am Baum befestigt gewesen, den Kopf hatte der Täter ebenfalls mit Stricken fixiert, sodass jeder auf den ersten Blick die blutigen Tränen erkennen musste. Das Kind war nackt gewesen und nur ein Stück Tuch verdeckte die Genitalien. Katja schluckte. Sie wusste, dass es sie nicht so mitnehmen durfte, aber sie konnte den Zorn und den Ekel auch nicht einfach abstreifen.
„Wurden die Stricke bereits untersucht?“ Matthias hatte sich ein Stück weit von ihr entfernt, und als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass er tatsächlich akribisch den Boden absuchte.
„Ja. Handelsübliche Seile, wie man sie in jedem Baumarkt zwischen hier und Hamburg erwerben kann. Die bringen uns nicht weiter.“
„Und wie sieht es mit dem … Zwirn aus? Und dem Tuch?“ Matthias zuckte mit den Schultern.
„Genauso!“ Er kam langsam näher und baute sich neben ihr auf. Dabei vermied er es allerdings, den Baum anzusehen. „Alles Dinge, die man überall kaufen kann. Trotzdem habe ich zwei meiner Beamten auf die Geschäfte in der näheren Umgebung angesetzt. Die sollen sich erkundigen, ob irgendjemand in der letzten Zeit etwas in der Art gekauft hat.“ Katja hörte ihm an, dass er nicht an den Erfolg der Kollegen glaubte. Sie tat das allerdings auch nicht.
Aus den alten Unterlagen ging hervor, dass es damals wohl ähnlich gelaufen war. Keine Spuren und auch keine Hinweise auf die Utensilien, die der Killer benutzt hatte. Der damalige Täter war nicht dumm, der heutige anscheinend auch nicht. Katjas Instinkt sagte ihr, dass es sich nicht um denselben Irren handelte und Matthias schien ihre Meinung zu teilen.
„Ich bin mir sicher, dass du auch schon in der Vergangenheit gewühlt hast, aber irgendwie …“ Er ließ den angefangen Satz unausgesprochen. Erst als Katja ihm aufmunternd zunickte, redete er weiter. „Ich habe gestern die Opferbilder miteinander verglichen. Auf den ersten Blick würde es wohl nicht auffallen, aber derjenige, der in der Vergangenheit hier wütete, war ordentlicher.“
„Wie meinst du das?“ Katja schaute ihn abwartend an. Wieder zuckte er mit den Schultern und machte den Eindruck, als wüsste er nicht genau, wie er die Sache werten sollte.
„Die Näharbeit …“ Matthias schluckte mühsam. „Sie war sauberer. Die Stiche akkurat und gleichmäßig. Wie mit einer Maschine gezogen. Wenn du die Bilder der Opfer nebeneinanderlegst, siehst du den Unterschied genau. Bei Benedikt wirkten sie, als ob ein Kind sich an einer Naht versucht hätte. Es sieht stümperhaft aus oder wie bei jemandem, der unter Zeitdruck stand.“ Das würde sie überprüfen müssen, sobald sie zurück im Hotel war. Falls Matthias recht haben sollte, bewies das, dass sie es mit einem Nachahmungstäter zu tun hatten. Das machte es zwar nicht weniger schlimm, aber für Katja erträglicher.
„Wenn wir rechtzeitig bei den Richters sein wollen, müssen wir zurück zum Wagen.“ Matthias nickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Der Doc wird nicht ewig auf uns warten und ich traue ihm zu, dass er uns nur in seinem Beisein zu ihnen lässt. Er ist ein guter Arzt, aber leider auch ein alter Knochen, der es niemals zulassen würde, dass seinen Patienten Schaden zugefügt wird. Erst recht nicht durch die Polizei. Das hat er mir übrigens unumwunden an den Kopf geworfen, als ich ihn danach fragte, wann wir die Eltern des Opfers befragen können.“
„Warum wurde das Verhör nicht sofort …“ Matthias ließ sie nicht aussprechen.
„Weil Frau Richter einen Schreikrampf bekam und wir alle Hände voll zu tun hatten, sie ruhigzustellen, bis der Arzt endlich eintraf.“
Katja nickte. Zu oft hatten sie den Hinterbliebenen schon die Nachricht vom Tod ihrer Lieben überbringen müssen. Aus Erfahrung wusste sie, dass jeder anders darauf reagierte. Die einen schrien sich die Seele aus dem Leib, andere weinten still und wieder andere verfielen in brütendes Schweigen, aber eines hatten sie alle gemeinsam: Sie litten Höllenqualen.
„Wie heißt der Arzt, der die Familie betreut? Kenne ich ihn?“
„Eher unwahrscheinlich. Dr. Hauser ist erst vor knapp zehn Jahren nach Altschönau gezogen und hat die Praxis des alten Landarztes übernommen. Vorher hat er jahrelang die Leitung eines großen Krankenhauses in Frankfurt innegehabt. Irgendwann hat er mal erzählt, dass ihm der Stress und der Klinikalltag dermaßen auf den Magen schlug, dass er kurzerhand alles hinschmiss und nur noch wegwollte. Gestrandet ist er hier bei uns.“
In der Zwischenzeit hatten sie den Wagen erreicht und Matthias startete den Motor, während Katja angestrengt aus dem Fenster starrte. Auf dem Rückweg hatte sie zur Kenntnis genommen, dass der Boden unter ihren Füßen so weich war, dass sie bei jedem Schritt tiefe Abdrücke im Waldboden hinterließ. Das ließ natürlich erneut die Frage aufkommen, warum rund um den Fundort keine Fußspuren zu finden waren.
Schweigend saßen sie nebeneinander, während sie Waldhäuser immer näher kamen. Dort war sie aufgewachsen – dort lebte ihre Familie noch immer. Zumindest der größte Teil davon. Es gab zwei Tanten – Schwestern ihrer Mutter –, die in Neuschönau lebten, mit denen sie aber schon als Kind kaum Kontakt hatte. Ihre Mutter hatte immer behauptet, die beiden wären nicht in Ordnung. Dabei hatte sie sich mit ihrem Finger an den Kopf getippt, was wohl bedeuten sollte, dass die beiden nicht ganz richtig tickten. Abergläubische Hühner hatte sie sie genannt und ihre Fragen nach der Familie mit einer ungeduldigen Handbewegung abgetan. Irgendwann hatte sie nicht mehr gefragt, und dann war ihre Mutter plötzlich und überraschend gestorben und es war niemand mehr da, der sie hätte aufklären können.
Als Matthias vor dem Haus der Richters anhielt, bemerkte Katja den silbergrauen VW-Kombi, der in der Auffahrt stand. Als sie die Klingel betätigte und ein älterer Mann mit grau meliertem Haar und wachen braunen Augen die Tür öffnete, ahnte sie bereits, dass es der Arzt der Familie war. Den Unterlagen entsprechend war Herr Richter etwa in Matthias‘ Alter – also weitaus jünger als der Mann, der sie leise begrüßte.
Sie stellte sich vor und lauschte dann angestrengt den Anweisungen und auch Vorhaltungen des Arztes. Er beschwerte sich darüber, dass sie die Angehörigen so schnell befragen wollten, dass sie ihnen keine Zeit gaben, den erlittenen Schock zu verarbeiten und dass er das Ganze unerhört finden würde. Ja! So konnte man die Sache durchaus sehen. Er musste allerdings auch nicht ihren Job machen. Trotzdem gefiel ihr der Mann. Er setzte sich für seine Patienten ein und das fand man heute nur noch selten. Allerdings musste sie ihm auch in aller Deutlichkeit sagen, dass die Chance auf einen Ermittlungserfolg nur dann gegeben war, wenn sie möglichst schnell Fakten sammeln konnten. Das sah er ein. Trotzdem ließ er sie nur widerwillig ein, was Matthias lächeln ließ. Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht missverstehen konnte. Ja! Er hatte sie gewarnt.
Im Wohnzimmer war es dunkel. Die Jalousien waren trotz des hellen Sonnenlichts heruntergelassen und nur eine kleine Beistelllampe spendete ein bisschen Licht. Herr und Frau Richter saßen auf der Couch und Katja vernahm leises Schluchzen, als sie den Raum betrat. Wie schon so oft kam sie sich auch jetzt wie ein Eindringling vor und wie immer schlug der Schmerz der Angehörigen mit voller Wucht auf sie ein. Wie gerne hätte sie die beiden in Ruhe trauern lassen, aber wie sie dem Arzt bereits erklärt hatte, war das nicht möglich.
Leise trat sie näher und während Matthias sich im Hintergrund hielt, setzte sich Katja auf den freien Stuhl direkt neben dem kleinen Beistelltisch. Erst jetzt hob Frau Richter den Kopf und Katja zuckte zurück vor dem Zorn, der in den Augen der Frau flackerte. Dunkle Schatten lagen auf dem blassen Gesicht, doch der Hass in ihrem Blick war es, der Katja fesselte.
„Versprechen Sie mir, dass Sie ihn kriegen … Den Bastard, der meinen Benedikt getötet hat.“ Ihre Finger zitterten, aber ihre Stimme war voller Kraft. „Stellen Sie Ihre Fragen. Alle! Ich will, dass das Schwein geschnappt wird und für seine Tat in der Hölle schmort.“
Als die Oberkommissarin ihr Verhör begann, war es nicht Benedikts Vater, der ihr die benötigten Antworten gab, sondern seine Mutter. Und Frau Richter hatte einiges zu erzählen.
Tag der Veröffentlichung: 13.10.2022
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