Cover

Mein größter Wunsch

Mein größter Wunsch ist es, dass Kinder niemals so leben sollten.

Eine Geschichte über Kinder, die in die Fänge von gewissenlosen Menschen geraten.

So etwas gibt es nicht, sagen Sie. Das wollen wir stark hoffen...

Die Namen, Orte, das Geschehen und die Handlungsabläufe, sind frei erfunden.

Niemand sollte sich angesprochen fühlen...

 

Ich weiß nicht ob ich Spaß beim Lesen wünschen kann, aber ich wünsche euch eine gute Zeit.

Eure Katja Neumann

*** Vorwort ***

… wütende und erschrockene Schreie erklangen hinter mir. Ich brauchte nur Sekundenbruchteile, um zu realisieren, dass gerade etwas Furchtbares geschah. So schnell schrie keiner von uns auf. Auf dem Hof hinter mir, brüllte nicht nur einer meiner Kameraden erschrocken, sondern alle. Mit den Schreien schossen die Gefühle in mir hoch, wie so oft in letzter Zeit, konnte ich die Wut und den Zorn in mir nicht bändigen. Meine Gefühle ließen mich für einen kurzen Moment erstarren. Ich war dadurch nicht in der Lage, auch nur eine korrekte Endscheidung zu fällen oder gar eine genaue Ansage zu geben. Im gleichen Augenblick, in dem mich meine Gefühle übermannten, wollte ich mich umdrehen, um nachzuschauen, was hinter mir schon wieder los war. Das alles zusammen dauerte nur den Bruchteil einer Sekunden. In einer Gefahrensituation also viel zu lange. Die Zeit reichte einfach nicht mehr aus, um aktiv zu werden. Ich brauchte nicht mehr nach der Ursache zu forschen, da ich in diesem Moment zu spüren bekam, was los war.

Ohne jegliche Vorwarnung, bekam ich einen Wasserstrahl seitlich ins Gesicht. Es hätte mir das Genick weggedreht, wenn ich nicht aus einem Instinkt heraus, all meine Muskeln angespannt hätte. Die Wucht des Strahls riss meinen Kopf einfach zur Seite. Da ich halbschräg zur Wand stand und auf unsere Jungs konzentriert war.

Wie so oft in letzter Zeit, hatten sich zwei von ihnen, in die Wolle bekommen. Wie oft hatte ich ihnen in den letzten sechs Wochen gesagt, sie sollen ihre Streitigkeiten in meinem Beisein klären, um solche eine Eskalation zu verhindern. Aber die Nerven lagen bei uns allen seit Wochen blank. Der Zorn über diese sinnlose Warterei wurde mit jedem Tag größer. Mit jedem Tag der Warterei, fiel es mir schwerer meine Gruppe ruhig zu halten. Wir alle hassten es, nicht zu wissen, was auf uns zukam. Meistens, so unsere Erfahrung, bedeutete das nichts Gutes.

Die Wucht des Strahles, der mich traf, hätte mich fast umgeworfen. Zu meinem Glück oder musste man besser sagen, zum Unglück stand ich seitlich zur Wand in meiner Lieblingsecke. Ohne die Wand hinter und neben mir, würde ich jetzt am Boden liegen. In dem Moment als mich der Schlag des Wassers traf, fuhr ein unerträglicher Schmerz durch meinen Nacken und es knackt bedenklich, als mein Kopf gegen die Mauer knallte. Nur gut, dass ich, als es laut wurde, meine gesamte Muskulatur angespannt hatte. Ansonsten hätte es mir in diesem Moment das Genick einfach weggeschlagen. Andere aus meiner Gruppe hatten nicht so viel Glück wie ich. Sie traf der Strahl aus den Wasserkanonen ohne jegliche Vorwarnung. Die Verletzungen, die durch den Druck des Wassers entstand, waren nicht ungefährlich. Viele aus unserer Gruppe, waren noch mehr als ich, auf den Streit konzentriert, der zwischen den Jungs ausgebrochen war. So wie ich es immer machte, hörte ich erst einmal zu, ohne etwas zu sagen.

Mühsam kämpfte ich gegen den schlimmen Schmerz, in meinem Kopf und Nacken, vor allem aber gegen die immer größer werdende Atemnot an. Ich durfte auf keinen Fall, das Bewusstsein verlieren, denn dann wäre ich völlig wehrlos. Deshalb versuche ich mit aller Kraft, die Augen, den Mund und die Nase, durch meinen Armen zu schützen und schob die Schmerzen erst einmal beiseite. Durch das Schützen meines Gesichtes, konnte ich um einiges besser atmen. Vor allem konnte ich durch den Schutz meiner Augen etwas sehen, um die Situation besser einschätzen zu können. Durch die Mauerecke, in die ich durch die Wasserkraft von 15bar gedrückt wurde, also etwa 15kg/cm² die auf mich einwirkten. Daher konnten wir nach keiner Seite ausweichen. Man konnte dem Wasser nicht entkommen.

Normaler Weise benutzte man diese Wasserwerfer, nur mit einem Abstand von circa fünfundsechzig Metern, sonst war die Verletzungsgefahr viel zu hoch. Selbst aus dieser großen Entfernung, holte die Kraft des Wassers jeden, der unerwartet von diesem Strahl getroffen wurde, von den Füßen. Was hatten wir da für einen Chance. Keine! Es war zwecklos, wenn man aus nur fünfzehn Metern Entfernung, mit drei Wasserwerfern gleichzeitig gegen uns vorging. Und es war unmenschlich, was sie mit uns machten. Nur weil wir uns einmal im Jahr in die Haare bekamen und uns etwas stritten. Hoffentlich, so schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, konnten sich meine Kameraden besser schützen, als ich. Sonst gab es hier gleich ein großes Unglück.

Neben mir sah ich aus den Augenwinkeln, meine Freundin Kari zu Boden gehen. Verzweifelt versuchte ich sie zu rufen, was mir nicht gelang. Sobald ich den Mund nur einen Spalt öffnete, war alles voller Wasser und wegdrehen konnte ich mich nicht. Kari reagierte nicht mehr auf mich. Trotz der Kraft des Wasserstrahls, versuchte ich zu ihr zu gelangen, um sie zu mir und wieder auf die Beine zu ziehen. Alle von uns wurden an die Mauer gedrückt und hatten genug mit sich selbst zu tun, um ja nicht auch noch das Bewusstsein zu verlieren. Da blieb keine Möglichkeit, jemanden zu Hilfe zu eilen. Kari lag nur wenige Zentimeter von uns entfernt und niemand kam zu ihr. Sie war bewusstlos und in größter Gefahr, da sie völlig wehrlos war und mit dem Gesicht nach unten in einer Pfütze lag. Verdammt Kari komme zu dir, ich kann dir nicht helfen.

Meine Freundin hatte keine Chance gehabt, sich zu schützen. Denn sie stand mit dem Rücken zur Hoftür und einige Zentimeter weiter von der Mauer weg. Kari war noch mehr auf die Jungs konzentriert und sah die Betreuer genauso wenig kommen wie ich. Sie bekam den Strahl genau an den Hinterkopf und wurde mit dem Gesicht genau auf die Mauer geschleudert. Genau wie uns alle, hatte sie die Wucht des Wasserstrahls voll erwischt. Nur hatte ich das Glück, dass ich die Tür gehört hatte und mich im selben Moment, zu dem Geräusch um drehen wollte.

Immer waren es zehn bis zwölf Betreuer, die mit zwei bis drei Wasserwerfern, die auf einer Mauer befestigt waren, auf uns losgingen. Verdammt, warum taten sie das? Diese gottverfluchten Schweine. Ich hasste diese Menschen, mit jedem Tag mehr. Was hatten wir denen eigentlich getan, dass sie so sauer auf uns waren. Auch wir wollten hier nur noch weg. Aber wir hatten nicht die geringste Chance herauszubekommen, warum man uns nicht gehen ließ. Eigentlich sollten wir schon seit zwei Wochen zu Hause und nicht mehr hier sein. Keiner von uns wusste, warum wir hier noch festgehalten wurden. Aus diesem Grund lagen ja bei unseren Leuten die Nerven so blank. Könnte man uns nicht einfach sagen, warum und vor allem wie lange man uns hier noch festhalten wollte, damit wir uns seelisch darauf einstellen konnten. Alle aus der Gruppe wollten doch nur ein paar Tage zu ihren Familien, um wenigstens noch ein wenig Fuß zu fassen, bevor der Stress richtig losging.

Natürlich war es nicht richtig, dass die Jungs angefangen hatten sich zu streiten. Ich hatte ja versucht, sie zu beruhigen und sie darum gebeten sich ruhig zu verhalten. Diese verdammte Warterei, zerrte allerdings auch an meinen Nerven. Ein falsches Wort und schon explodierten alle in der Gruppe. Es gab vor allem keine Möglichkeiten, die Leute von ihrem Frust abzulenken. Wir hatten kein Training mehr und vor allem keine wirkliche Aufgabe. Das bisschen Bügeln, Waschen und Putzen, sowie das Betten bauen, war in zwanzig Minuten erledigt. Das Rumsitzen im Zimmer und auf dem Hof machte die Lage auch nicht besser.

Bereits seit Anfang März zählten wir nun schon die Tage, bis dass dieser Alptraum vorüber war. Das einzige Verbrechen, dass wir uns zu Schulden kommen ließen, war dass wir uns ein wenig in die Haare bekamen. Es war nicht einmal eine richtige Prügelei. Die Jungs hatten sich nur ein wenig geschuppst und sich gegenseitig geknufft. Mehr war da nicht! Müssen sie uns deshalb gleich mit Wasserwerfern auseinander treiben. Meine Freunde schrien alle durch... ein... an...  

Irgendetwas Ungewohntes, hatte mich aus meinem Alptraum gerissen. Ich war in Schweiß gebadet und atmete heftig und stoßweise. Diesmal hatte ich mich nicht selbst geweckt. Etwas, dass ich zugegebener Maßen des Öfteren tat. Was war das eben? Was war da gerade passiert? Was hatte mich geweckt. Jeder Muskel in meinem Körper war gespannt.

Etwas nicht ganz Leichtes, war auf meinen Oberkörper gefallen oder wurde auf mich geworfen. Im Anschluss bekam ich etwas Feuchtes und Warmes in mein Gesicht. War das Geschehene real oder gehörte es noch zu einem dieser verfluchten Träume, der mich seit Jahrzehnten verfolgten. Nein, für einen Traum, war es zu real. Das kann also eigentlich kein Traum gewesen sein.

*

Völlig desorientiert, versuchte ich die Situation für mich zu analysieren. Vermischten sich da wieder einmal Träume? Wie es mir so oft passierte oder drohte mir eine Gefahr? Wo war ich überhaupt? Verschlafen und völlig verunsichert, versuchte ich meine Augen zu öffnen.

Das war gar nicht so einfach. Meine Augen waren völlig verklebt und angeschwollen: Nach einer, selbst für meine Verhältnisse, schlechten und viel zu kurzen Nacht. Krampfhaft versuchte ich den Weg zurück in die Realität zu finden. Ich bemühte mich ganz bewusst, keine noch so winzige Abwehrreaktion zu machen. Zum Glück konnte ich das heute steuern. Trotzdem stellte ich mich seelisch schon auf einen Kampf ein. Ich konnte das einfach nicht steuern. 'Beruhige dich', sagte ich mir immer wieder. 'Erst einmal muss du herauszufinden, wo du eigentlich bist.' Verdammt nochmal, steckte ich noch mitten in meinem Alptraum fest oder war ich schon wach. Das war für mich nie einfach zu unterscheiden. Jedenfalls dann nicht, wenn ich auf diese Weise aus dem Schlaf gerissen wurde. Nicht nur einmal, war es mir in der Vergangenheit passiert, dass ich jemanden im Halbschlaf verletzt hatte. Ich hatte Jahre gebraucht, bis ich diese Abwehrreaktionen, aus dem Schlaf heraus, einigermaßen kontrollieren beziehungsweise unterdrücken konnte. Diese Bewegungen konnte ich nicht steuern, da die Abläufe der Bewegungen über Jahre antrainiert wurden und nur vom Unterbewusstsein gesteuert wurden. Jedenfalls solange ich noch im Halbschlaf war. Deshalb schloss ich mein Schlafzimmer immer ab, damit so etwas nicht passieren konnte. Meine Freunde und Kollegen sprachen mich, wie auch die meisten aus meiner Familie, immer erst an, bevor sie mich berührten. In meinem Umfeld gab es nur ganz wenige Personen, die das nicht machten. Diese Personen ging ich sofort namentlich durch. Im gleichen Augenblick atmete erleichtert auf. Ich war seit gestern Abend, bei meinem großen Sohn zu Besuch. Damit lösten sich mit einem Schlag, alle Rätsel in Luft auf. Mir fiel ein, dass ich gestern Abend meine Tür nicht zuschließen konnte, weil mein Schlüssel verschwunden war. Deshalb hatten meine Enkel auch Zutritt in mein Schlafzimmer. Heute früh war ich viel zu müde, als dass ich noch nach dem Schlüssel suchen wollte.

Das Plumpsen auf meinem Körper, konnte demnach nur eines meiner Enkelkinder gewesen sein, das zur Oma ins Bett gesprungen war, um mich zu wecken. Und dass Feuchte in meinem Gesicht, war bestimmt ein dicker Guten-Morgen-Knutscher, wie ich ihn immer bekam, wenn ich einmal zu Hause war. Endlich wurde ich etwas wacher und öffne mühsam meine Augen. Verschlafen sah ich in das rundliche und vor Freude strahlende Kindergesicht, meiner zweitjüngsten Enkelin Mia. Langsam drang auch ihr Geplapper, bis in mein Gehirn vor.

"Ooomaaaa... Ooomchen.... Ooomiiilein ... Ooommmmaaa, duuu muuusst aufwaaacheeen ...", dabei zwirbelte ihr kleiner Hintern, auf meinem Bauch hin und her. "Ooomaaa, wir müssen doch in die Schuuule. Wach doch eeendlich aaauf", quälte mich die Kleine in die Realität.

"Guten Morgen, meine kleine Hexe. Hast du schön geschlafen? …", erkundigte ich mich gähnend und immer noch etwas durcheinander. Rieb mir nervös, mein verschwitztes Gesicht. "… Hexe, verdammischt nochma, du sollst mich nicht auf diese Weise wecken. Wenn ich dir nun ausversehen weh getan hätte. Dann gäbe es jetzt ganz viel Tränen und das Omchen wäre ganz traurig. Das willst du doch nicht."

Endlich war ich ganz munter und hörte die verblüffende Antwort meiner Enkelin.

"Hast du aber nicht Omchen. Du tust mir nie weh und außerdem: Ich heule nie. Das weißt du doch. Klar hab ich gut geschlafen. Komm wir wollen endlich duschen gehen. Ich muss doch in die Schuuule", forderte sie mich zum wiederholten Male zum Aufstehen auf und zwiebelte mit ihren kleinen Popo, auf meinen nicht vorhandenen Bauch hin und her.

Ich schielte nach hinten auf das Regal, wo immer ein Wecker stand. Zum Einem, weil es draußen immer noch dunkel war. Zum Anderen, weil es mich wunderte, dass ich den Wecker nicht gehört hatte. Selbst nach einer so schlechten Nacht, war ich immer vor dem Klingeln des Weckers munter. Meine innere Uhr hatte mich in meinem ganzen Leben, noch nie im Stich gelassen. Auch, wenn wir heute früh erst kurz vor 2 Uhr ins Bett gegangen waren, war das ungewöhnlich. Verdammt, ich hatte nicht einmal zwei Stunden geschlafen. Es war also kein Wunder, dass mir das Aufwachen so schwer fiel. Obwohl ich meiner kleinen Hexe dankbar sein sollte, dass sie mich aus dem Traum herausgerissen hat, wurde mir bewusst, dass es ein sehr langer Tag werden würde. Langsam aber sicher normalisierte auch mein Herzschlag wieder und ich konnte mich wieder entspannen.

"Ach Hexi, es ist noch nicht einmal 4 Uhr. Komm, wir kuscheln noch eine halbe Stunde. Die Anderen erschlagen uns, wenn wir um diese Uhrzeit schon Krach im Haus machen", versuchte ich meinen kleinen Zwieselhintern, noch etwas zu beruhigen. "Komm, lass Oma erst einmal richtig munter werden", bat ich sie um etwas Nachsicht. Ich zog meine Enkeltochter zu mir herunter und gab ihr erst einmal einen Kuss. "Du hast mich mitten aus meinen schönsten Traum gerissen. Das ist doch nicht fair. Ich war gerade mit Schneewittchen und dem Prinzen unterwegs. Eben habe ich noch gegen die sieben Räuber gekämpft, um die Beiden zu retten", versuchte ich noch ein paar Minuten Ruhe herauszuschinden.

Meistens halfen mir solche Sätze, meine Enkel etwas zu beruhigen. Diesmal jedoch half das alles nichts, verständlicher Weise. Meine erst sechsjährige Enkeltochter, war völlig neben der Spur und völlig überdreht. Heute war ihre Schuleinführung. Deshalb wurde es mir nur mit viel Mühe und Überredungskunst gelingen, die Kleine zu beruhigen. Völlig aufgeregt erzählte sie mir, dass sie Angst hatte, an ihrem ersten Schultag zu spät zu kommen, und dass Mama und Papa auch noch tief und fest schliefen. Vor allem aber, dass sie die Beiden, nicht munter zu bekommen hätte. Also war Oma wieder einmal an der Reihe, für Ruhe im Haus zu sorgen.

Ich zog Mia in meine Arme und griff hinter mich, um mir den Wecker zu angeln.

"Komm Kleines, schau bitte einmal auf den Wecker, von der Oma. Ich möchte dir etwas erklären. Mia, erst wenn der große Zeiger ganz oben steht und der kleine Zeiger hier auf der Fünf, erst dann müssen wir aufstehen. Wir haben also noch eine ganze Stunde Zeit. Der große Zeiger muss erst noch einmal ganz herum wandern. Erst dann können wir drüben im Schaumhafen vor Anker gehen und gemütlich in den Tag starten. Wir müssen erst, wenn der kleine Zeiger ganz nach links guckt und der große Zeiger ganz oben ist, zur Schule fahren. Hexi, du willst doch nicht etwa die Drachen wecken? Du weißt, was dann passiert?", neckte ich Mia ein wenig und brachte sie damit zur Ruhe. Die Drachen wecken, war etwas das Ärger einbrachte und das tat, keines der Kinder mit Absicht.

Die ganze Zeit über versuchte mir meine kleine Hexe, eigentlich die Ruhigste der fünf Kinder, die Decke wegzuziehen und mich zum Aufstehen zu bewegen. Das konnte und wollte ich nicht zulassen.

Meine Schwiegertochter würde sonst, mit einem doppelten Salto Mortale, aus dem Bett und aus dem Anzug springen. Hier im Haus gab es nur wenige festgeschriebene Regeln, aber die sollte man lieber nicht brechen. Tat man das, war schlimmer Ärger vorprogrammiert. Das wussten die Kinder und hielten sich zu neunzig Prozent an die von den Eltern festgelegten Verhaltensregeln. Meine Schwiegertochter, Eva, war eine wunderbare Mutter, streng, aber herzensgut, konnte allerdings auch böse werden. Bei fünf lebhaften Kindern, wie meinen Enkeln, musste man konsequent bleiben, sonst würde die Familie im Chaos untergehen. Wenn man Eva, am frühen Morgen mit Krach aus dem Bett holte, dann konnte sie schon sehr ungehalten werden. Selten konnte die fünffache Mutter, länger als bis um 6 Uhr schlafen und meistens kam sie erst weit nach Mitternacht zur Ruhe. An solch einem bedeutungsvollen Tag, wie der Schuleinführung, sollte man das erst Recht unterlassen. Der Tag sollte schließlich für alle, ein besonders schöner Tag werden.

"Oh, oh ... Ach Manne, Omchen...", Mia zog eine so süße Schnute, dass ich mir das Lachen nur mühsam verkneifen konnte. Krampfhaft versuchte die Kleine einige der frechen Strähnen, ihres langen, schwarzen und lockigen Haares, hinter die Ohren zu bekommen. Ein sinnloses Unterfangen, wie ich nur zu gut wusste. "...an die Drachen habe ich gar nicht gedacht", kam es jetzt ziemlich kleinlaut von ihr.

Drache, war in unserer Familie kein Schimpfwort und schon mal gar nicht böse gemeint. Jeder in der Familie hatte seinen Spitznamen. Da wir sehr oft selbst erfundene Geschichten nachspielten. Also schlüpfte jeder in eine Rolle und spielte diese nach. Daher waren meine Schwiegertochter und mein Sohn, die Drachenkönige, die lieb und nett waren, aber auch rigoros durchgriffen, wenn es sein musste. Diese Geschichten halfen die lebhafte Rasselbande unter Kontrolle zu halten und ihnen bestimmte Verhaltensnormen zu lernen und zu erklären, ohne ständig mit erhobenem Finger dazu stehen.

"Schlafen denn die anderen Räuber noch?", erkundigte ich mich deshalb vorsichtshalber, um nicht gleich früh am Morgen, Ärger im Haus heraufzubeschwören.

"Klar Omchen. Das sind doch alles Schlaftüten", erklärte mir mein Hexi, etwas geknickt. "Was machen wir denn jetzt? Ich kann nimmer schlafen. Erzählst du mir eine Geschichte?"

Im selben Moment huschte ein Lächeln in ihr liebes Gesicht und sie schaut mich mit einem Blick an, dem man einfach nichts abschlagen konnte. Ich hatte da schon mal keine Chance, als Oma.

Jetzt kuschelte sich meine kleine Hexe, doch noch einmal an mich und schielte mit ihren großen wasserblauen Augen zu mir hoch und fuhr vorsichtig mit dem Finger über eine lange Narbe, die ich am Hals hatte. Ich nickte ihr lächelnd zu und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn.

Natürlich konnte ich mir vorstellen, dass sie vor lauter Aufregung nicht mehr schlafen konnte. Ich war jetzt vollkommen munter und an weiterschlafen war nicht mehr zu denken. Es lohnte sich einfach nicht mehr. Eine Geschichte half meinen Enkeln immer am besten, um mit ihrer Aufregung fertig zu werden. Ach wie ich solche Momente in meinem Leben liebte. Am liebsten bräuchten sie nie vergehen. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, ich hätte mir niemals träumen lassen, einmal so etwas Friedliches erleben zu dürfen. Das waren Streicheleinheiten für meine Seele und ich brauchte davon eine ganze Menge. Diese Momente halfen mir mit meinem Leben klar zu kommen. Wie ein böses Omen, legte sich ein Schatten über mein Gesicht. Zum Glück bemerkte Mia nichts davon. Meine kleine Hexe, war viel zu sehr mit sich selber beschäftigt, als dass sie auf mich achten würde, zum Glück. Schnell schob ich die schlimmen Erinnerungen wieder zurück, in die Ecke des Vergessens und lächelte wieder.

"Na dann wollen wir mal", sprach ich und holte tief Luft. "Hhhmmm, sag mal Hexi...", überlegte ich kurz. "... wo waren wir eigentlich stehen geblieben, mit der Geschichte? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern", stellte ich mich, als vergessliche Oma hin.

"Omchen, bei dem Drachenkind waren wir. Weißt du nicht mehr, das, was weggelaufen ist. Da hast du das letzte Mal aufgehört zu erzählen", half mir Mia sofort, den Faden der Geschichte wiederzufinden. Und das, obwohl fast zwei Monate vergangen waren, seit dem ich das letzte Mal zu Hause gewesen war.

"Ach ja, stimmt. Also hör genau zu … Oben in den dunklen Drachenbergen, lebte mitten im Wald ein einsames Drachenkind, mit dem Namen Koncilia. Sie war feuerrot und hatte riesige schwarze Flügel. Hungrig und durstig, hatte sie sich im Wald verirrt. Wieso die Kleine so einsam war und wo ihre Familie geblieben war, fragst du dich bestimmt. Dazu musst du folgendes wissen...", aufmerksam hörte mir Mia zu.

Wie bei allen Geschichten die ich erzählte, amüsierte ich mich auch heute, über meine kleine Hexe. Es war immer das Gleiche bei ihr, sie war in einer anderen Welt. Auch meine anderen Enkel hörten gern die Geschichten aus den Drachenbergen, bei Mia allerdings, war das etwas völlig anders. Sie verschwandt völlig aus dem Raum und tauchte vollkommen in die Geschichte hinein. Sie hörte die Geschichte nicht, sondern erlebte sie. Mit großen runden Augen hing sie an meinen Lippen. Ihr Mund stand halb offen und sie hörte mir ganz konzentriert zu, um ja nicht ein einziges Wort oder eine Betonung zu verpassen. An spannenden Stellen, hielt sie sich oft, die Hand vor dem Mund, manchmal fing sie sogar an zu zittern und ihre Augen drohen heraus zu kullern. Wurde es einmal zu traurig, dann konnte es schon einmal passieren, dass sie bittere Tränen vergoss. War eine Stelle besonders lustig, lachte sich meine kleine Hexe halb tot und wir hatten dann oft Mühe, sie wieder zu beruhigen. Dies war einer der Gründe, warum mir die Kleine besonders an Herz gewachsen war.

Ich mochte alle meine Enkel gleich lieb, aber Mia war für mich etwas ganz Besonderes. Ich könnte nicht einmal genau erklären, warum. Ich vermute stark, dass es daran lag, dass sie so verträumt war und eine unendliche Fantasy besaß. Sie neigte dazu, sich von Problemen wegzuträumen. Allerdings fand sie genau in diesen Träumen, oft Lösungsansätze oder Lösungen für ihre Probleme: Genauso, wie ich es als Kind oft getan hatte. Wieder wollten einzelne Erinnerungen nach oben kommen, diesmal schob ich sie sofort wieder zurück. Mia beobachtete jeden meiner Gesichtszüge, da konnte ich mir solche Gedanken, einfach nicht leisten.

Nach einer kurzen und von meiner Enkelin so geliebten Geschichte, aus dem Reich der Drachenberge, wurde es langsam unruhig im Haus. Also konnten wir Beide nun endlich auch aufstehen und hinüber in den Schaumhafen schippern, wie im Haus meines Sohnes, das Bad liebevoll genannt wurde.

Mein Sohn hatte sich bei der Planung und dem Bau des Hauses sehr viel Mühe gegeben, um seiner Großfamilie ein schönes und vor allem praktisches Hause zu bauen. Selbst für seinen Vater, der ja fast das ganze Jahr alleine wohnte und mich fand er eine akzeptable Lösung. Wir hatten ein kleines Häuschen, auf der anderen Seite des großen Anwesens, nur wenige Gehminuten vom Haus unseres Sohnes entfernt.

Der kleine aber feine Bungalow, war ebenerdig und ermöglichte es meinem Mann, sich einmal komplett zurückzuziehen, wenn er seine Ruhe brauchte oder haben wollte. Er umfasste vier geräumige Zimmer und eine wunderschöne Terrasse, die zum Garten hin erbaut war. Das Wohnzimmer mit offener Küche, hatte einen wunderschönen Kamin, an dem ich gern saß und las. Die Glasfront der Terrasse, konnte man bei schönem Wetter vollständig öffnen. Allerdings nutzte Erwin diese Möglichkeit genauso selten, wie ich, wenn ich einmal Zuhause war. Ein großer Garten verband beide Häuser und ermöglichte meinen Enkeln sich zahllose Abenteuer auszudenken und sie konnten jeder Zeit zu ihren Großeltern gehen. Mein Mann pflegte die Grünanlagen des großen Grundstückes mit Hilfe eines Gärtners und hatte auf diese Weise, viele Verstecke für seine Enkel geschaffen. Selbst ein großes Baumhaus, das mehr einem kleinen Schloss glich und ein großer Swimmingpool fehlten nicht, in dieser großzügigen Anlage. Das war eine Arbeit die ihm wahnsinnig viel Spaß machte und er brachte sehr viele gute Ideen ein, die auch unseren Enkeln Freunde bereiteten. Ob es nun der kleine Feenwald war oder die Märchenwiese, auf denen winzige Häuser standen, alles war auf die Fantasie und die Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten und sollte es ihnen ermöglichen, sich auszuleben.

Die Faszination für solche Gartenarbeit, die meinen Mann völlig in ihren Bann zog, konnte ich nie wirklich verstehen und noch weniger verstand ich, wie er das alles zustande brachte. Ich brauchte Pflanzen nur anzusehen, schon gingen sie zugrunde. Wenn ich Beete bepflanzte, sah es hinterher einfach nur chaotisch aus und die wenigsten Pflanzen wurden groß. Deshalb hielt ich mich aus der Gartenpflege vollkommen heraus und jeder im Haus schrie auf, wenn ich nur einmal eine Gießkanne in die Hand nahm, aus Angst alles würde zugrunde gehen. Es war einfach etwas, dass ich nicht konnte und auch absolut kein Interesse hatte. Mein Mann dagegen hatte einen super grünen Daumen und war in dieser Hinsicht ein Genie. Mein Sohn unterstützte seinen Vater, bei all seinen Projekten und Ideen, holte sich auch schnell einmal externe Hilfe bei der Planung eines der Projekte, die sich Erwin, mein Mann, ausgedacht hatte. Sein Vater sagte ihm stets genau, was realisierbar war und was nicht.

Um aber auf das Haus meines Sohnes zurückzukommen, muss man eins sagen: Carl hat bei der Planung des Hauses wirklich an alles gedacht. Als erfolgreicher und sehr gefragter Architekt, hatte er viele tolle Ideen verwirklichen können. Durch seinen Beruf hatte er zum Glück auch die finanziellen Mittel dazu, um die Ideen auch umzusetzen. Dadurch wurde es nicht nur möglich, ein großes Bad mit einer riesigen Badewanne einzubauen, in der die gesamte Familie Platz hatte, ohne dass es eng wurde, sondern auch alle möglichen Raffinessen. Die ovale Badewanne, mit ihren Abmessungen von drei mal fünf Metern, würde ich nicht mehr als Wanne bezeichnen, sondern eher als einen kleinen Swimmingpool. Ich liebe diese Wanne über alles und es verging kein Besuch bei meinen Kindern, an dem ich diesen Luxus nicht nutze. In die Wanne wurden sogar Whirlpool- und Schaum-Düsen eingebaut und damit machte das Baden, gleich doppelt so viel Spaß. Die Düsen ermöglichen es immer, dass hier mehrmals in der Woche, eine Schaumschlacht stattfinden konnte. Vor allem, wenn die Oma zu Hause war. Die hatte für solche Kindereien, fast immer Zeit und Lust. Meine Schwiegertochter hatte mich nicht nur einmal dafür verflucht, weil wir bei solch einer Schaumschlacht, ihr bestes Duschgel verwendeten, um hinterher auch ja gut zu riechen. Aber auch dafür fanden wir, schnell eine Lösung, mit der wir alle leben konnten.

Kaum das Mia und ich das Bad betreten hatten, stürmten auch schon meine anderen vier Enkel herein und stellten sich in Reih und Glied auf, um sich der immerwährenden Schaumschlacht hinzugeben, die stets stattfand, wenn die Oma im Haus war. Ein Spaß, den sich selbst die beiden Großen nicht entziehen konnten. Von allen Seiten kam ein mehr oder weniger munteres "Guten Morgen" und schon kletterten alle in die noch leere Wanne. Schnell wurden von den Großen, die Schotten sorgfältig verschlossen und schon kann es losgehen. Es dauerte wie immer nicht lange, bis die Bande richtig munter war. Die Schotten, war eine Wand aus Sicherheitsglas, die man vor die Wanne ziehen konnte. Die musste mein Sohn, nachträglich einbauen lassen, damit nicht jedes Mal das ganze Bad unter Wasser stand. Seit dem machten unsere Schaumschlachten, natürlich noch mehr Spaß, weil wir nicht mehr aufpassen mussten.

Nach reichlichen zwanzig Minuten, in denen keines der Kinder trocken blieb und meckerte, wegen Seife in den Augen oder im Mund, war die komplette Bande richtig munter und vor allem aber, sauber gewaschen: die Haare und alle Matrosen waren ordentlich ab geschruppt. So wie es sich gehörte.

Auf einmal hörten wir ein Brummeln, vor unseren Schotten. Wir mussten erst einmal von den Scheiben den Schaum und Dampf abwischen, um wieder klare Sicht zu haben. Schlagartig wurde uns klar, dass es Zeit war, mit der Schaumschlacht aufzuhören. Mein Sohn und seine Frau, standen schon eine ganze Weile, vor der Glaswand und beobachten uns sechs Schaummatrosen kopfschüttelnd. Ich drehte also die große Regenwalddusche auf, um den Schaum zu bändigen und von den Kindern und mir abzuspülen. Mein Sohn konnte sich wie immer, das Lachen nicht verkneifen, als er die weißen Haare und Bärte unserer Schaumcrew sah. Meine Schwiegertochter muss allerdings eine kleine Beschwerte los werden.

"Mutsch, es ist immer das Gleiche mit dir. Wenn du da bist, ticken unsere Kinder vollkommen aus. Wie machst du das nur? Nicht mal die Lüdde beschwert sich über die Seife. Ich hab das auch mal versucht. Wenn ich nur mit der Shampoo-Flasche in die Näh der Wanne komme, gibt es jedes Mal heftige Schreiattacken? Bei dir lacht sie und spielt sogar mit dem Schaum. Ich fasse es einfach nicht."

Jetzt musste ich auch lachen. "Tja Eva, auf hoher Schaumsee, kann man als Matrose halt nicht zimperlich sein. Wenn das Schaummeer stürmt und wellt, da bekommt man halt mal etwas Schaum ab. Außerdem halten wir Seemänner und -frauen stets zusammen, gell", breit grinse ich meine Crew und die beiden Eltern an. Leise setzte ich nach. "Ich erkläre dir das noch einmal in Ruhe."

Eva schüttelte nur mit dem Kopf und fing jetzt auch an zu lachen. Wie ein Piratenkapitän befahl sie im strengen Ton: "So ihr Schaummatrosen, nun aber raus mit euch. Ich habe Hunger, außerdem ist das Frühstück fertig und Omchens Kaffee wird kalt", kommandierte uns meine Schwiegertochter aus der Wanne und winkte immer noch lachend ab.

"Ey ey, Mam", kam wie auf Kommando, sechs Antworten gleichzeitig.

Dabei wurde gelacht und keiner war traurig oder wurde böse, dass es mit dem Toben ein Ende hatte. Sie wussten morgen fand eine neue Seeschlacht statt, außerdem machten diese Piratenkämpfe immer richtig hungrig. Die Eltern schnappten sich die beiden Kleinsten, Macy und Mia, und die anderen Drei, blieben wie stets an mir hängen: wenn ich einmal zu Hause war. Ich machte das stets gern, viel zu selten hatte ich die Gelegenheit und etwas von meinen Enkeln.

Micha, Mara und Marcel, die drei Großen, halfen sich sonst immer gegenseitig. Allerdings, wenn Oma zu Hause war, übernahm ich stets Marcel. Die Altersspanne der Großen war sehr breit, dreizehn, elf und acht Jahre und so brauchte ich nur Marcel etwas zur Hand zu gehen und Mara bei den Haaren helfen. Denn die Lockenpracht der drei Mädchen, war nicht einfach zu bändigen. Der kleinere der beiden Buben, brauchte immer noch etwas Hilfe und vor allem, musste man bei ihm genauer hinsehen, dass er sich wirklich richtig abgetrocknet hatte. Marcel war zwar schon acht Jahre, aber auch das Sorgenkind der Familie, da er in seiner Entwicklung stark eingeschränkt war. Durch seine geistige Behinderung brauchte stets sehr viel Aufmerksamkeit und oft Unterstützung bei den täglich anfallenden Arbeiten. Durch die Arbeitsteilung, waren die Kinder schnell abgetrocknet und angezogen. Vor allem waren die Haare der Mädchen schnell in Ordnung gebracht. Einmal durchgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, war die Lockenpracht gebändigt, so gut es halt ging.

Fast gleichzeitig mit meinem Mann, der gerade über die Terrasse ins Esszimmer kam, erreichten auch wir den Raum und setzten uns an den schon fertig gedeckten Frühstückstisch. Wie immer schlief mein Mann drüben in seinem Bungalow, während ich im Gästezimmer übernachtet hatte. Schon seit vielen Jahren, schliefen wir nicht mehr in einem Raum, da Eric sonst keine Ruhe fand. Es war die bessere Lösung, für uns beide.

Ich liebte die Mahlzeiten bei meinen Kindern. Bei meinem Sohn und der Schwiegertochter, durften die Kinder auch am Tisch reden: Für mich war das am Anfang sehr ungewohnt und gewöhnungsbedürftig, denn das kannte ich vorher nicht. Die einzige Bedingung am Tisch war und die Regel wurde mittlerweile immer eingehalten, dass der Mund beim Sprechen leer zu sein hatte.

Durch seine Arbeit, hatte mein Großer, sehr wenig Zeit für seine Kinder und das Frühstück, bis auf wenige Ausnahmen, war die einzige Zeit am Tag, an denen die Familie zusammen am Tisch saß und miteinander reden konnte. Meist schliefen die Kinder schon, wenn Carl nach Hause kam und so hatte man im Laufe der Zeit, diese Möglichkeit des Austausches gefunden. Ich fand die Lösung einfach toll und hatte mich sehr oft geärgert, dass ich bei meinen Kindern, diese Möglichkeit nie genutzt hatte.

Bei Carl hieß es immer. "Lieber verzichte ich auf eine Stunde Schlaf und stehe mitten in der Nacht auf, als schon am frühen Morgen Stress zu haben. Vor allem, habe ich dadurch wenigstens etwas Zeit für meine Kinder."

Recht hatte er. Ich liebte diese Zeit am Tisch und genoss jede einzelne Minute, die ich mit meiner Bande zusammen sein konnte. Bei mir gab es Frühs meistens nur einen Kaffee, eine Dusche und schon war ich fertig und ging auf Arbeit. Mit den Wänden zu reden, machte nicht wirklich Spaß. Deshalb frühstückte ich immer erst auf Arbeit. Heute saßen wir, und das war etwas ganz seltenes, wieder einmal zu Elft am Tisch. Es war eine wirklich seltene Gegebenheit, dass wir einmal alle zusammen hier frühstücken konnten. Meistens ließen es unsere Terminpläne einfach nicht zu.

Allerdings hatte sich Mia dieses Geschenk, zum Schulanfang gewünscht. Als wir sie gefragt hatten, was sie denn gern haben möchte, zögerte sie nicht eine Minute und gab uns zur Antwort: "Ich wünsche mir, dass zu meinem Schulanfang, der Räuberhauptmann und Omchen da sind. Mehr möchte ich gar nicht haben."

Jedes andere Kind wünschte sich ein Fahrrad, eine Puppe, ein Puppenhaus oder irgendetwas gekauftes, unsere Mia allerdings, wünschte sich ihre Familie zum Schulanfang. Das machte sie in meinen Augen, zu etwas ganz Besonderen. Egal was Eva und Carl versucht hatten, sie bekamen die Kleine nicht dazu, sich etwas anderes zu wünschen. Deshalb hatten wir alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Max, der Räuberhauptmann und ich, hatten für heute sogar eine Sondergenehmigung bekommen und konnten unsere Handys ausschalten. Und das, obwohl wir beide Bereitschaftsdienst hatten. Die Handys lagen für Mia gut sichtbar, auf der Kommode. Mias erster Gang, als wir das Esszimmer betraten, war zur Kommode, um zu kontrollieren, ob die Handys wirklich ausgeschaltet waren. Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht und ließ auch unsere Herzen höher schlagen. Nun wusste die Kleine, dass ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging: Heute holte niemand, ihren Räuberhauptmann und ihr Omchen von ihr weg. Die beiden Personen, die sie sich so sehnsüchtig gewünscht hatte, würden den ganzen Tag bei ihr bleiben und ihren ersten Schultag mit ihr verbringen.

Nur zu gut, wissen meine Enkel, was es bedeutet, wenn diese beiden oder eins der Handys klingelten. Dann waren Max oder ich, fast immer, sofort verschwunden und sie sahen uns beiden, dann eine Ewigkeit nicht mehr. Zum Glück hatte es diesmal geklappt, dass wir alle gemeinsam Urlaub machen konnten. Auch wenn wir auf Bereitschaft standen, würde man uns dieses eine Mal nur im schlimmsten Notfall holen. Das hatte es seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben. Das Schlimmste, was uns jetzt noch passieren konnte, war, das ein Streifenwagen kam, um uns abzuholen. Aber dann war wirklich Land unter, das würde nicht geschehen. Max und ich genossen jede Minute des Zusammenseins, auch wenn mir vor dem heutigen Tag etwas graute. Nicht nur die Kinder, sondern auch wir Erwachsenen, freuen uns über die gemeinsamen Stunden.

Das war auch ein Grund, weshalb wir schon um 5 Uhr aufgestanden waren, obwohl wir erst um 10 Uhr in der Schule sein mussten. Das Frühstück war für uns alle, die schönste Zeit und es dauerte fast zwei Stunden, ehe alle satt und zufrieden waren.

Mein Mann, Max, Eva und Carl gingen nach dem Essen, erst einmal nach draußen in den Garten, um eine Zigarette zu rauchen. Immer noch nicht, konnte ich den Vieren dieses Laster abgewöhnen. Aber ich war schon froh, dass sie wenigstens nicht im Haus und vor den Kindern rauchten. Meine Räuber und ich, nutzten die Zeit, um den Frühstückstisch abzuräumen. Wir waren halt ein eingespieltes Team, in dem jeder seinen Aufgabenbereich kannte. Dadurch waren wir Zeitgleich mit den Rauchern fertig.

Langsam aber sicher wurde Mia immer unruhiger und schaute ständig auf die Zeiger der Uhr, immer öfter kam die Frage von ihr. "Omchen, wie lange dauert es denn noch?", eine Frage, die man verstehen konnte. Ich hatte es ja bei den drei Großen schon erlebt und wusste daher, dass es aufregend war, den ersten Tag in die Schule zu gehen. Der erste Schultag, bleibt, so glaube ich jedenfalls, jeden Menschen für immer in Erinnerung: Egal wie er abgelaufen ist. Ich für meinen Teil würde meinen ersten Schultag nie vergessen.

*

Egal was ich versuchte, immer wieder wollten die Erinnerungen an meinen ersten Schultag in mir hochkommen. Ich konnte es einfach nicht verhindern, dass sie mit aller Gewalt versuchten, in mein Gedächtnis zu erscheinen. Vielleicht lag es daran, dass mir Mia so sehr glich. Nur mit Mühe konnte ich diese Erinnerungen verdrängen. An solchen Tagen, wie heute, war es besonders schlimm. Egal was ich ausprobiert hatte, ich kam nicht dagegen an. Eigentlich, sollte ich mich darüber freuen, dass es meinen Kindern und Enkeln, so gut ging. Trotzdem schoss mir bei solchen Feierlichkeiten, immer die gleiche Frage durch den Kopf. "Warum durfte ich so etwas nicht erleben?" Ich hatte darauf immer noch keine Antwort gefunden und das ärgerte mich ungemein.

Plötzlich spürte ich, wie vorsichtig ein Arm um meine Schultern gelegt wurde. "Alles in Ordnung mit dir?", wollte Max, mein Jüngster, von mir wissen.

Ich nickte und schaute meinem Jüngsten in die Augen. "Entschuldige, ich war in Gedanken. Was wolltest du, Max?", erkundigte ich mich, in der Annahme, dass ich etwas nicht mitbekommen hatte.

"Es ist nichts. Du sahst auf einmal so traurig aus. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?"

Ich nickte nochmals und holte tief Luft. Verdrängte die dunklen Gedanken in meinem Kopf und setzte, das immer lächelnde Gesicht auf, mit dem mich alle kannten.

Ich ärgerte mich, über mich selber. Das durfte mir heute nicht mehr passieren: Das hatte sich Mia nicht verdient. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich meinen Enkeln den Tag vermiesen würde. "Oma hat nie schlechte Laune und lacht immer, egal was passiert", waren die Worte die meine Enkel immer benutzen, wenn sie mich beschreiben sollten. Auch dieser Tag würde irgendwann zu Ende gehen. 'Also reiße dich zusammen Charlotte', wies ich mich gedanklich selber zu Recht und lächelte Max tapfer an.

Lange sah mir mein Sohn in die Augen und forschte nach, wie es mir wirklich ging. Durch seinen Beruf, war er sehr wohl in der Lage, Menschen gut einschätzen zu können. Er war ein sehr guter Psychologe geworden, das musste ich ihm lassen. Mit seinen siebenunddreißig Jahren, hatte er es schon sehr weit gebracht. Ich konnte auf meine beiden Jungs, verdammt stolz sein, auch wenn sie als Kinder nicht immer einfach waren. Max besaß sehr viel Menschenkenntnis und ich glaube, er wusste besser als alle anderen in meiner Familie, wie schwer mir solche Feiern wirklich fielen. Seine Beobachtungsgabe, hatte er glaube ich von mir geerbt. Ich konnte Menschen auch sehr gut einschätzen. Ich hatte das bereits als Kind lernen müssen. Meine Kollegen sagten immer von mir, ich schaue den Menschen tief in die Seele. Max hatte diese Gabe von mir geerbt. Obwohl ich mir nicht wirklich sicher war, dass es eine Gabe war, in meinen Augen war es eher ein Fluch. Als Personenschützer brauchte Max diese Gabe dringender als ich. Die Fähigkeit, Menschen innerhalb von Sekundenbruchteilen zielsicher einschätzen zu können, konnte Lebensrettend sein. Eine Fehleinschätzung, kostete nicht nur ihm, sondern auch seinen Mandanten das Leben.

Max war der ruhiger von meinen Söhnen und sagte nie viel. Meistens saß er ruhig in der Runde und beobachtete uns alle. Aber wenn er einmal etwas sagte, hatte es stets Hand und Fuß. Das war auch der Grund, weshalb ihn Mia so sehr mochte. Es verging kein Telefonat mit meiner Enkeltochter, an dem sie nicht nach ihrem Räuberhauptmann fragte. Dieses stille Beobachten, zeichnete Max aus. Immer auf der Hut und immer wissen, was in seinem Rücken vor sich ging. Das kam mir so verdammt bekannt vor. Ich glaube weder er noch ich, konnten aus der Rolle des stillen Beobachters, noch ausbrechen. Sie lag uns einfach im Blut. Deshalb fiel es mir bei Max immer besonders schwer, mein wirkliches Befinden zu verbergen. Zum Glück, hatte ich sehr viel Übung darin, mein wirkliches Ich zu verbergen.

Erleichtert, dass er sich keine Sorgen um mich machen musste, atmete Max auf und gab mir einen Kuss auf die Wange. Er ließ mir meinen Freiraum und die paar Minuten Luft, die ich im Moment noch hatte. Er half, statt mich mit Fragen zu nerven, lieber den Kindern beim Anziehen der Festtagssachen.

Auch ich musste mich schnell noch umziehen, denn ich war immer noch im Trainingsanzug. Eilig verschwand ich im Gästezimmer und zog meine Uniform an. Auch wenn ich wusste, dass ich wieder einmal einen bösen Blick meiner Schwiegertochter ernten würde. Wie oft hatte sie mich schon gebeten, in ziviler Kleidung zu solchen Feierlichkeiten zu kommen. Aber ich wollte und konnte das nicht. Ich war nun einmal Polizist und das konnte auch jeder wissen. In zivilen Anziehsachen, kam ich mir völlig deplatziert vor. Das war einfach nicht ich. Mein Mann und meine beiden Söhne hatten mittlerweile gelernt, mit dieser meiner Eigenart zu leben. Solange ich denken konnte, hatte ich Uniform oder Overall getragen. Warum sollte ich jetzt damit anfangen, andere Kleidung zu tragen? Außerdem musste ich wenn ich ehrlich war gestehen, besaß ich außer einer Jeans und zwei Pullovern, keinerlei Zivile Kleidung. Nicht weil ich sie mir nicht leisten konnte, sondern weil ich sie mir einfach niemals kaufen würde. Sie würden ungetragen in meinem Kleiderschrank vergammel. Die einzige zivile Kleidung dich ich trug und in der ich mich auch wohl fühlte, waren Trainingsanzüge. Schallend lachte ich vor mich hin und ich glaube, meine Ohren bekamen in dem Moment Besuch. Was Eva wohl sagen würde, wenn ich mit Trainingsanzug zur Schuleinführung von Mia ginge. Das würde ich lieber bleiben lassen. Ich fühlte mich in den anderen Sachen einfach nicht wohl. Außerdem trug auch unser Räuberhauptmann seine Uniform. Er hatte halt nur Glück, dass die aus einem schwarzen Anzug und einem weißen Hemd bestand. Lachen ging es mir durch den Kopf, dass ich wohl die einzige Frau auf der Welt war, deren Anziehsachen in einem Rucksack passten und die nur drei Paar Schuhe besaß: Ein Paar Stiefel, ein Paar Sportschuhe und ein Paar Galastiefel. Nicht einmal Hausschuhe nannte ich mein eigen, da ich fast immer Barfuß lief, wenn ich die Schuhe auszog. Zu was also brauche ich zehn Paar Schuhe, wenn ein Paar kaputt ging, holte ich mir ein Paar neue, aus der Kleiderkammer meiner Dienststelle. Meine Enkel waren stolz auf ihre Oma. Nicht jeder hatte eine Polizistin zur Oma, also konnte ich auch in Uniform zur Schuleinführung gehen.

Mia aufgeregt und zappelig wie sie heute war, konnte es kaum erwarten, dass wir losfuhren und in der Schule ankamen. Stolz wie Oskar, lief sie an meiner Hand und ihrem pinkfarbenen Schulranzen, auf das Schulgebäude zu. Die Augen weit aufgerissen, dass man Angst haben musste, dass diese gleich aus den Höhlen kullerten, schaute sie sich um. Noch nie hatte sie so viele Kinder auf einem Haufen gesehen. Die Lehrerin begrüßte uns und nahm Mia lächelnd entgegen und dann hieß es für uns warten, bis Mia aus ihrer ersten Unterrichtsstunde kam.

Ich glaube es war uns gelungen, der kleinen Hexe, einen unvergesslichen Tag zu gestalten. Die Feier in der Schule war wunderschön. Die Lehrerin machte auf mich einen sehr netten und kompetenten Eindruck und das Schönste war, Mia hatte gleich Anschluss in der Klasse gefunden. Das war gar nicht so selbstverständlich, da die Kleine nie in einem Kindergarten war und den Umgang mit anderen Kindern nicht kannte. Sie kannte also keines der Kinder, die sie heute das erste Mal traf. Trotzdem sah man der kleinen Hexe an, dass sie glücklich war. Nach der gelungenen Feier, waren wir in einem Freizeitpark und die Kinder konnten sich richtig austoben. Wir hatten die richtige Eingebung für einen tollen Tag gehabt. Der Freizeitpark bot für alle genügend Attraktionen: Nicht nur für die kleinen sondern auch für die größeren Kinder. Die beiden Großen, genossen die Möglichkeiten, die ihnen hier geboten wurden und dass sie einmal nicht auf die Kleinen aufpassen mussten. Gegessen wurde, das, was die Kinder sich wünschen und ihnen schmeckte: so wie wir es immer an solchen Tagen machten, wenn es um die Feierlichkeiten der Kinder ging. Das waren solche Tage, wo sich die Kinder einmal rundherum wohl fühlen sollten: an ihrem besonderen Tag. Es ging schließlich um den schönsten Tag, während der gesamten Schulzeit und an den sollten sie immer gern zurück denken.

Am Abend wurde noch gegrillt und da das Wetter schön war, durften die Kinder noch in den Pool springen. Den ganzen Tag wurde viel gelacht, gesungen und erzählt. Kaum, dass wir mit dem Abendessen fertig waren, zogen sich die beiden Großen in ihre Räume zurück und genossen die Ruhe in ihren Zimmern. Die Kleinen kuschelten noch mit Opa, Max und mir, aber das würde nicht mehr lange währen. Die Kleinen waren von dem herumtoben völlig geschafft, vor allem aber unser neues Schulkind. Mia konnte kaum noch die Augen offen halten und suchte nach Ruhe. Zu einer, für die Kinder, ungewöhnlichen Zeit, nämlich schon kurz nach 18 Uhr, zog Ruhe ins Haus ein. Meine kleine Mia, kletterte zu mir auf den Schoss und wollte nur noch kuscheln. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie kurz vor dem Einschlafen war. Der kleine Zwieselpo, der sonst nie still saß, suchte jemanden der ihr beim Runterfahren half und es dauerte keine fünf Minuten, bis man gleichmäßiges, ruhiges Atmen von ihr hörte und sie tief schlafend in meinen Armen lag. Auch Macy und Marcell, kuschelten nicht lange, schnell hörten wir auch bei den beiden Kindern, tiefe und gleichmäßigen Atemzüge. Ein Zeichen, dass sie in einer anderen Welt verweilen. Eva brachte die Drei, mit Hilfe von Carl, Max und dem Opa ins Bett, sodass sie sich ins Land der Träume verabschieden konnten. Endlich hatten auch wir Erwachsenen Zeit und der Tag konnte in Ruhe ausklingen. Wenn ich ehrlich war, muss ich gestehen, dass ich froh war, diesen Tag geschafft zu haben. Ich war am Ende meiner Kräfte angelangt.

*

Endlich bekam ich die Gelegenheit, von den Kindern unbeobachtet, herunterzufahren. Das war mehr als bitter nötig. Alles in mir zitterte und vibrierte. Dieser Tag machte mir, mehr als gut war, zu schaffen. Ich brauchte einfach frische Luft und vor allem, etwas Ruhe.

Solche Tage, wie Schulanfang oder Geburtstage, machten mir immer schwer zu schaffen. Sie hatten immer etwas an sich, dass mich komplett herunterzog. Ich brauchte danach oft Tage, um meinen inneren Frieden wiederzufinden. Vor allem kostete mich diese Tage unwahrscheinlich viel Kraft. Es war nicht immer einfach, gute Miene zu machen und stets zu lächeln, obwohl man am liebsten schreiend wegrennen würde. Keiner kann etwas für meine Befindlichkeiten und niemand hatte es sich verdient, meine Stimmungsschwankungen, an solchen Tagen, ausbaden zu müssen. Deshalb versuchte ich immer, diese Befindlichkeiten mit mir selber auszumachen. Dazu brauchte ich vor allem Zeit und Ruhe. Bei solchen Gelegenheiten überrollte mich meine Vergangenheit regelrecht und ich hatte dem nichts entgegen zu setzen. Ich hatte in all den Jahren noch keinen Weg gefunden, das alles abzustellen.

Wie oft schon hatte ich mich gefragt, warum mir nicht solch eine schöne Zeit vergönnt war. Wer gab meinen Eltern, oder sollte ich lieber Erzeuger sagen, das Recht, mich um diese wunderschönen Erinnerungen zu bringen? Was habe ich nur verbrochen, dass man mir all diese schöne Zeit nicht gegönnt hat? Ist es Selbstmitleid so zu denken? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Wenn ich meine Kindheit, mit der meiner Kinder und Enkel vergleiche, war dort nur Grauen, Verzweiflung und sehr viel Angst. Es gab nur wenige schöne Momente, die ich mir erhalten konnte und nicht von Grauen und Horror überschattet wurden.

Mir war schon klar, dass man sich nicht im Selbstmitleid baden sollte, das bekam einen nicht gut. Ich schaffte es fast immer, einen großen Bogen, um das Selbstmitleid zu schlagen. Aber es gab halt im Leben Momente, in denen man es nicht verhindern konnte und man, in eben diesem verdammten Selbstmitleid zu versinken drohte. Die Kunst des Lebens, besteht in meinen Augen darin, dass man es schaffen musste, sich dort heraus zu wühlen, um nicht für immer darin zu versinken. Mein Mann und meine Kinder wissen, dass es solche Momente, immer wieder einmal in meinem Leben gab. Sie hatten über die Jahre akzeptieren gelernt, dass sie mich in solchen Momenten einfach in Ruhe lassen mussten. Ich brauchte, nach solchen Feiern, immer eine gewisse Zeit, bis ich mich beruhigt hatte. Mir konnte niemand dabei helfen, meine Vergangenheit wieder in die äußerste Ecke meines Gedächtnisses zu drängen. Sprach man mich in solch einer Situation an, konnte ich sehr heftig reagieren und im schlimmsten Fall, auch schon mal handgreiflich werden. Vor allem dann, wenn man mich bewusst in die Ecke drängte. Das tat ich nie in böser Absicht, ich konnte in solchen Momenten oft nicht wirklich einschätzen, wo ich mich in diesem Augenblick gerade befand. Es vermischten sich Vergangenheit und Gegenwart in solch einem Maße, dass es in diesen Momenten, kein Hier und Jetzt mehr gab. Ich konnte diese massiven Gefühlsausbrüche, bis heute nicht steuern, obwohl ich das gern lernen möchte. So ließen mir meine Männer stets die Zeit, die ich brauchte, um mich zu beruhigen und wieder herunter zu fahren.

Genauso gegen diesen Gefühlsausbruch kämpfte ich im Moment, mir war mit einem Schlag, alles zu viel. Eva, Carl und Max standen an der Terrassentür und beobachten mich schon eine ganze Weile. Etwas, dass ich eigentlich gar nicht mochte und unter normalen Umständen, auch gar nicht zulassen würde. Allerdings bekam ich dieses Beobachten gar nicht mit. Da ich in einem völligen Gefühlschaos versunken war. Meine Emotionen waren derart hochgeschaukelt, dass es mich in den letzten Stunden große Mühe gekostet hatte, nach außen hin, ruhig und gelassen zu bleiben. Das Lachen meiner Enkel und deren strahlenden Augen halfen mir immer dabei, ruhig zu bleiben. Allerdings war im Moment, als dieses Lachen verschwunden war, der Schutzwall fast vollständig entzwei gebrochen. Wohl hatte ich die besorgten Blicke meines Mannes und meiner Söhne wahrgenommen, aber gekonnt ignoriert. So wie ich es immer tat. Der Wall brach erst in dem Moment vollständig zusammen, als die Kinder den Raum verlassen hatten. So schlimm wie dieses Mal, war es lange nicht gewesen. Ich floh regelrecht aus dem Haus, um niemanden zur Last zu sein.

Nach dem Eva zurück gekommen war, fiel es auch ihr auf, dass es mir nicht sonderlich gut ging und irgendetwas mit mir nicht stimmt.

"Carl, was ist denn mit Mutsch los?", fragte Eva ihren Max besorgt.

Mein Sohn der hinter seiner zierlichen Frau stand, legte seine Arme um ihre Taille und zog sie behutsam an sich heran. Gemeinsam beobachten sie mich, wie ich völlig geschafft am Tisch saß und meinen Kopf auf die Hände gestützt habe. Erschrocken stellt Eva fest, dass ich heftig atme, meine Hände zitterten und ich ständig den Kopf schüttle.

"Eva, lass Mutsch ein paar Minuten alleine. Der Tag war anstrengend, nicht nur für uns. Sie braucht ein wenig Zeit zum Herunterfahren. Du weißt, sie hat an solchen Tagen immer ein paar Schwierigkeiten. Solange die Kinder da sind, kann sie das verbergen. Aber irgendwann, hat sie dazu einfach keine Kraft mehr. Ich glaube, an solchen Tagen, holt sie irgendetwas aus ihre Vergangenheit wieder ein. Ein guter Freund von ihr, du kennst ja Onkel Micha, hat mir einmal gesagt: Lasst eurer Mutti einfach ein paar Minuten in Ruhe, wenn sie so drauf ist. Sie bekommt sich dann am Schnellsten wieder ein", lieb streichelte Carl seiner Frau über die Wange.

Max erklärte seiner Schwägerin weiter. "Das ist wirklich so. Mal geht es ganz schnell, manchmal dauert es länger. Aber meistens hat sie sich nach ein paar Minuten wieder beruhigt und ist dann wieder die Alte", nach einem kurzen Zögern, setzte er nach. "Ich habe vor einigen Jahren einmal versucht, in sie einzudringen. Ich war damals glaube ich so um die zwanzig und gerade mit meiner Ausbildung fertig. Ich wollte unbedingt wissen, was mit ihr, in solchen Momenten los ist. Denn das ist schon seit dem ich denken kann so. Wie du weißt habe ich eine Zusatzausbildung als Psychologe und da dachte ich, wende dein Wissen mal an, vielleicht kann ich es aus ihr ja heraus kitzeln. Das war ein schrecklier Irrtum. Den ich nie wieder machen werde. Damals ist Mutsch vollkommen ausgeflippt. Hinterher begriff ich erst, dass ich gegen alle Regeln der Psychologie verstoßen hatte und meine „Patientin“ völlig in die Ecke getrieben habe, mit meinen Fragen. Ich bekam von ihr so eine geknallt, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war und was mir da gerade passiert war. Danach ist Mutsch aus dem Haus gerannt und war für Stunden verschwunden. Ich hab damals Blut und Wasser geschwitzt, weil ich dachte, sie tut sich etwas an und habe sie stundenlang gesucht. Erst am nächsten Morgen, kam sie völlig aufgelöst wieder. Sie war völlig fertig mit den Nerven, weil sie mich geschlagen und dermaßen die Kontrolle über sich verloren hatte. Glaube mir, das war wirklich heftig. Du kannst dir nicht vorstellen, was unsere Mutsch für einen Schlag drauf hat, wenn sie ohne Kontrolle zu haben zuschlägt. Ich möchte mich mit ihr, nicht wirklich anlegen und einmal richtig gegen sie kämpfen. Du weißt Carl und ich wir haben früher immer mit ihr Judo, Ringen, Boxen und Aikido mit ihr trainiert. Glaube mir eins, Mutsch hat uns nie zärtlich angefasst. Trotz meiner jahrelangen Erfahrung im Kampfsport, hätte ich selbst heute keine Chance gegen sie. Damals war meine komplette rechte Gesichtshälfte, war innerhalb von wenigen Minuten dunkelblau verfärbt und ich hatte alle fünf Finger von ihr im Gesicht. Ich konnte wochenlang, kaum etwas hartes Essen, obwohl Mutsch sich bemüht hat mir zu helfen. So eine geballert, habe ich nie wieder in meinem ganzen Leben bekommen. Und du weißt, ich habe schon öfter einmal richtige Dresche bezogen, das bleibt in meinem Job nicht aus."

Erschrocken schielte Eva hoch zu ihrem Mann und dann zu Max.

"Glaube mir, wir dringen nie wieder, so in sie ein und treiben sie derart in die Ecke", bestätigte nun auch Carl, was Max über mich erzählt hatte. "Solange ich zurückdenken kann, Eva, hat uns unsere Mutter nie geschlagen. Du weißt ich war kein einfaches Kind. Ich selber hätte mit mir nicht die Geduld gehabt", ergänzte Carl seine Erzählung.

Das konnte Eva sich gar nicht vorstellen. Die von ihrer Schwiegermutter wusste, wie sehr sie Gewalt verabscheute und die schon regelmäßig ausflippte, wenn sie Eltern dabei beobachtete, die an ihren Kindern rumzerrten und diese anbrüllten.

"Das kann ich dir nicht glauben, Max."

"Doch Eva. Sie geht in solchen Momenten von uns weg, um uns zu schützen. Hat sie uns nach dem Vorfall mit Max erklärt. Das ist der Grund, warum wir Mutsch in solchen Momenten einfach in Ruhe lassen. Sie ist dann nicht wirklich ansprechbar. Lassen wir sie einfach eine Weile zur Ruhe kommen. Wenn sie sich beruhigt hat, kommt sie von alleine wieder rein und ist wieder die Alte", versicherte Carl seiner Frau und bestätigte noch einmal Max Worte.

"Aber warum? Das ist doch nicht normal", Eva konnte und wollte das alles nicht hören.

Diesmal mussten die beiden Jungs ahnungslos mit ihren Schultern zucken, denn darauf hatten sie keine Antwort.

Erwin hatte die Drei schon eine ganze Weile an der Terrassentür beobachtet und ahnte, um welches Thema es da wieder einmal ging. Deshalb stand er auf und ging kurz entschlossen auf seine Kinder zu. Dadurch bekam er die letzten Sätze seiner Schwiegertochter und seines Sohnes mit.

"Eva, keiner von uns kann dir sagen, was in solch einem Moment, in Charlottes Kopf vor sich geht. Sie spricht nie darüber. Glaube mir, ich habe in den letzten vierzig Jahren nicht nur einmal versucht, mit ihr darüber zu reden. Sie lässt in solchen Situationen niemanden an sich heran. Selbst Micha, ihr bester Freund, der sie schon seit ihrer Rückkehr nach Deutschland kennt, also seit fünfundvierzig Jahre, hat es nie geschafft sie zum Reden zu bringen. Er hat bei Charlotte vieles erreicht, bei dem ich mir vergeblich die Zähne ausgebissen habe. Egal was du versuchst, sie redet nie über die Zeit. Auch dann nicht, wenn sie super gut drauf ist. Alles was vor ihrer Rückkehr nach Deutschland liegt, blockt Charlotte kategorisch ab. Das Einzige, was ich über ihr Leben in dieser Zeit weiß oder besser gesagt, von der Zeit bevor ich sie kennen gelernt habe, ist, dass sie eine Großvater hatte. Leider habe ich diesen Mann nicht mehr kennen gelernt, er ist ein halbes Jahr bevor ich mit Charlotte zusammen gekommen bin, gestorben. Von ihm sagt deine Schwiegermutter immer, er wäre der liebste Mensch gewesen, den sie je kannte. Mehr bekam ich nie aus ihr heraus. Nicht einmal seinen Namen kenne ich. Fragst du sie etwas, das in der Zeit vor ihre Rückkehr nach Deutschland lag, blockt sie komplett ab. Drängst du sie dann noch in die Ecke, kann es schon mal sein, dass sie richtig ausrastet. Auch ich habe einige Male diese schmerzliche Erfahrung machen müssen. Ich lebe jetzt schon so lange mit ihr zusammen, aber diese Zeitspanne ist ein absolutes Tabuthema. Glaubst du wir schlafen umsonst in zwei verschiedenen Räumen? Es gibt keine einzige Nacht, in der Charlotte acht Stunden am Stück schläft. Mir ist bis heute schleierhaft, wie sie mit so wenig Schlaf auskommt. Spätestens nach zwei bis drei Stund wurde sie früher schreiend munter und schlug wie wild um sich. Heute schreit sie zum Glück nicht mehr, trotzdem schreckt sie ständig aus dem Schlaf. Frage sie dann einfach, wenn sie wieder reinkommt, was los war. Du wirst die gleichen Antworten bekommen, die wir sie all die Jahre von ihr bekommen haben... "Lasst diese Zeit einfach ruhen, es ist besser so. Sie tut mir und euch nicht gut. Ende im Gelände."... Nervst du sie mit Fragen, zieht sie sich an und geht, oder du bekommst eine Tracht Prügel, die sich gewaschen hat", verlegen grinste Erwin seine Schwiegertochter an und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

Eva, Carl, Max und Erwin wendeten sich von mir ab und setzten sich ins Esszimmer. Mittlerweile blies draußen auf der Terrasse ein hässlicher kühler Wind, da war es im Haus angenehmer. Erwin begriff an Hand meines Verhaltens sehr schnell, dass ich heute etwas länger brauchte und lenkte die Kinder durch ein Kartenspiel, vom Thema ab, um sich die Zeit bis zum Schlafengehen, mit etwas Spaß zu vertreiben. Auch wenn die Blicke meiner Familie immer wieder in Richtung Terrassentür wanderten, wurde gelacht. Carl holte eine Flasche Wein aus dem Keller und man stieß auf den gelungen Tag an. Traurig sahen die Vier auf die Uhr, denn es ging schon langsam auf 21 Uhr zu und ich war immer noch nicht mit mir im Reinen gekommen.

*

Oh wie Recht Erwin hatte, mit dem was er Eva erklärte. Unsere ersten Jahre, waren oft die Hölle, weil er einfach ein Nein von mir nicht akzeptieren wollte. Wie oft gerieten wir aneinander, bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen, weil er mich derart in die Ecke gedrängt hatte, dass ich mir nur noch mit einem Angriff zu helfen wusste. Mein Mann hielt trotz der vielen Probleme, die wir vor allem am Anfang unserer Beziehung hatten, immer zu mir. Oh Gott, wie viele Tränen flossen in diesen ersten fünf Jahren und wie viele Entschuldigungen sprachen wir uns gegenseitig aus. Wie oft mussten Rudi und Micha, in dieser Zeit bei uns Vermittler spielen. Nichts nur einmal war von Trennung die Rede, wir hatten uns immer so akzeptiert wie wir halt waren. Ich bin ihm dankbar dafür, dass es ihn für mich gibt. Nur durch ihn, hatte ich im Laufe der Jahre gelernt hier klar zu kommen und vor allem meine Emotionen einigermaßen kontrollieren zu können.

Mit seinen einundsiebzig Jahren war Erwin immer noch ein gutaussehender und attraktiver Mann. Nicht gerade sehr groß, was ihn immer etwas ärgerte, aber er war muskulös und gut durchtrainiert. Das fesselndste an ihm, war schon immer seine wasserblauen Augen, die an einen tiefen Bergsee erinnerten und in die ich mich damals sofort verliebt habe. Sie erinnern mich an die Augen meiner Großmutter, deren Augen wie ein Seelenfenstern waren. Man kann in diesen Augen, bis tief in seine Seele blicken, es gibt dort keinerlei Geheimnisse. So viele Jahre kannte ich Erwin nun schon, noch niemals hatte er mich belogen. Stets war sein Blick voller Wärme und offen gewesen. Sein ehemals dunkelblondes volles Haar, war über die Jahre schneeweiß geworden, genauso wie sein Vollbart. Ich glaube ich trug meinen Teil dazu bei, dass er so früh schon weißes Haar bekam. Trotzdem sah man Erwin sein wahres Alter nicht an und schätzt ihn höchstens auf fünfundfünfzig bis sechzig Jahre. Er war immer noch topp fit, obwohl er in den letzten fünf Jahren ein kleines Bäuchlein bekommen hatte. Seit dem er seinen Ruhestand genoss und vor allem in der Nähe unseres Großen lebte, hatte er wesentlich mehr Zeit zum Essen und zum Kochen, dass sah man ihm langsam an. Sein Sport allerdings hielt ihn jung. Das war jedenfalls seine Meinung und als Trainer einer Jugendgruppe, hatte er alle Hände voll zu tun. Drei bis viermal in der Woche trainierte er seine Schwimmer. Die jungen Leute hielten ihn auf Trapp und ließen nicht zu, dass er ein alternder Kauz wurde: körperlich wie geistig.

Es war ähnlich wie bei mir. Ich glaube die wenigsten in meinem Umfeld wussten, dass ich mittlerweile schon einundsechzig Jahren war. Ich war halt auch nicht mehr ganz so jung. Allerdings stand ich noch voll im Berufsleben und war berufsbedingt, sportlich noch sehr aktiv. Jeden Tag drehte ich in den frühen Morgenstunden und abends, meine Runde und lief immer noch Stunden am Stück, im hohen Tempo. Absolvierte auf diese Weise, mein tägliches Trainingspensum, um fit zu bleiben. Dadurch, dass ich meine Haare immer noch schwarz färbte, sonst wäre ich schon mit zwanzig schneeweiß gewesen, nahm mir jeder, die Anfang fünfzig ab. Auch wenn sich das Alter immer mehr meinen Knochen bemerkbar machte.

*

Tief in meine Gedanken versunken, bekam ich von dem, was um mich herum geschah, nichts mit. Ich brauchte heute eine verdammt lange Zeit, um mein Gefühlschaos in den Griff zu bekommen. Früher dachte ich immer, dass es mit den Jahren besser werden würde. Leider war das nicht der Fall. Im Gegenteil, je älter ich wurde, umso schlimmer machten mir all diese Erinnerungen zu schaffen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich mit steigender Lebenserfahrung, immer mehr begreifen musste, was man uns damals eigentlich angetan hatte.

Als ich jung war, hatte ich das nie für schlimm empfunden. Obwohl, das nicht wirklich stimmte. Es war schlimm, aber es war für mich auch das Normalste auf der Welt. Ich habe es nie für gerecht empfunden, wie man uns behandelt hatte. Aber ich konnte es nie begründen. Ich dachte immer, dass etwas in meinen Kopf nicht stimmen würde, weil sich alles in mir gegen diese Behandlung sträubte. Ich suchte immer den Fehler bei mir, statt bei den Anderen. Aber das Gefühl, dass man uns ungerecht behandelte, ließ mich nie los. Also verdrängte ich es irgendwann aus meinem Kopf, da es mir nur Strafen einbrachte und ich mein Temperament dadurch noch weniger Kontrollieren konnte. Für uns, war es damals eine völlig normale Welt. Es war weiß Gott keine schöne Welt, aber es ließ sich nun einmal nicht ändern. Wir dachten, es lebten alle Kinder auf der Welt so. Erst viele Jahre später, als ich selber Kinder bekam und großzog, merkte ich, dass in meiner Kindheit einiges schief gelaufen sein musste. Ich hatte genauso, wie alle anderen Kinder, aus meiner Schule, keinerlei andere Kontakte. Geschwister hatte ich nicht, oder besser wusste nicht von ihnen. War ich einmal zu Hause bei meinem Großvater, hatte ich so mit mir selber zu tun und der Umstellung auf dieses Leben, dass er führte, dass da keine Zeit blieb, um Kontakte zu knüpfen. Außerdem musste ich mir ehrlich eingestehen, dass ich mit den anderen Kindern bereits mit sechs Jahren nicht mehr umgehen konnte. Wir waren so völlig anders als diese Kinder, die schon schrien, als müssten sie gleich sterben, wenn sie einmal hinfielen. In dem Moment, als mir bewusst wurde, wie ungerecht man all die Jahre zu uns gewesen war, betrat ich dieses Gefühlskarussell, aus dem ich mit immer größeren Problemen herauskam.

Es war ein Gefühl, als würde aller Hass, alle Wut, aller Zorn auf die Anderen und eine nicht enden wollende Traurigkeit, die sich all die Jahre aufgestaut hatte, mit einem Male auf mich hereinbrechen. Das alles nahm mir die Möglichkeit zu atmen und normal zu denken. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie Eltern so etwas ihren Kindern antun konnten. Wie oft hatte ich mich nach meiner Rückkehr nach Deutschland gefragt, wie sehr mich meine Erzeuger wohl gehasst haben mussten, dass sie mir so eine Kindheit zugemutet hatten. Ich wünschte mir so, dass sie das nur einmal fragen könnte. Denn ich verstand bis heute nicht, ob sie dies alles aus Gedankenlosigkeit taten oder aus Hass. Aus Hass auf ein Wesen, dass sich nicht wehren konnte und die Frechheit besaß, als Wunschkind geboren zu werden und dass die Frechheit besaß, von einem Geschlecht zu sein, mit dem man so reinweg gar nichts anfangen konnte.

Was hätte ich denn machen sollen? Ich war nun einmal kein Junge. Gab es meinen Erzeugern das Recht, mich deshalb wie den letzten Dreck zu behandeln? Was konnte ein Kind, für das Fehlverhalten seiner Eltern? Auch damals gab es schon Verhütungsmethoden und sogar Abtreibung. Außerdem hätten meine Erzeuger, auch die Freigabe gehabt, mich zur Adoption frei zu geben. Sie hatten also die freie Entscheidung, ob sie mich bekommen und behalten wollten oder nicht. Ich hatte diese Entscheidung nicht. Ich musste nur ausbaden, was diese Unmenschen mir eingebrockt hatten.

Es gab für mich, keinen entschuldbaren Grund, ein Kind dermaßen zu verraten und zu verkaufen. Obwohl ich wusste, dass diese Gedanken, nicht ganz stimmten, denn ich war selber beinah so geworden, wie meine Erzeuger. Es waren schlimme Erfahrungen nötig, um mir das vor Augen zu halten. Mühsam kämpfte ich gegen diese verdammte Wut in mir und diesen gottverfluchten Hass. Versuchte mich durch ruhiges und gleichmäßiges atmen, aus dem Chaos in meinem Kopf herauszuwinden. Lange brauchte ich diesmal dazu. Langsam bekam ich mich wieder ein und konnte wieder normal atmen. Vor allem aber konnte ich wieder normal denken. Nur gut, dass es so kühl geworden war und mir der Wind, um die Nase pfiff. Ich glaube mit dem frieren, kam endlich mein Verstand wieder und kühlte die Wut in mir etwas ab.

Zum Glück gelang es mir, die immer lächelnde Charlotte wiederzufinden und ich stand auf, um zu meiner Familie zu gehen. Meine Angst allerdings blieb. Die Angst irgendwann den Weg zurück nicht mehr zu finden und in diesem Gefühlschaos verrückt zu werden. Tief Luft holend, fuhr ich mir einmal durch mein kurzes Haar und rieb mir müde das Gesicht. Immer noch aufgekratzt, schüttelte ich über mich selber den Kopf.

"Verdammt nochmal", schimpfte ich mit mir selber. "Reiß dich zusammen Charlie. Was soll Erwin und die Kinder von dir denken", erschrocken sah ich auf die Uhr.

Entschlossen drehte ich mich in Richtung Terrassentür um, um zu meiner Familie zu gehen. Verfluchte mich wieder einmal selber. Was hatte ich mir nur dabei gedacht. Die Zeit die wir zusammen verbringen konnten, war viel zu kostbar, um sie mit trüben Gedanken zu vergeuden. Lächelnd betrat ich das Esszimmer und setzte mich zu meiner Familie an den Tisch. 'Schluss jetzt mit den Grübeleien', schimpfte ich mit mir. '... das alles brachte doch nichts, als Kopfschmerzen und verlorene Zeit.'

"Kann ich mitspielen?", bat ich ins Spiel einsteigen zu können.

Fast zwei Stunden unserer kostbaren Zeit, hatte mich dieses Gefühlschaos gekostet. Das war verlorene Zeit, die ich nie zurück bekommen würde. Also machte ich das, was ich am besten konnte, ich verdrängte alles. Ich ging, so wie ich es immer machte, einfach zum Alltag über. Das war etwas, dass ich schon als kleines Kind lernen musste, meine Gefühle vor den Menschen zu verstecken und so zu tun, als wenn alles in bester Ordnung wäre.

Selbst mein Großvater, der mich von allen Menschen, die mich als Kind kennen gelernt hatten, am besten einschätzen konnte, bekam nur ganz selten mit, wie es mir wirklich ging. Zu zeigen wie man mich verletzen oder in ein Gefühlschaos stürzen konnte, bekam mir als Kind gar nicht gut. Es bedeutete für mich zusätzliche Schmerzen und Leid. Ich glaubte solche Dinge legt man nie wieder ab.

*

Mit Absicht ignorierte ich die besorgten Blicke meiner Familie, auch wenn es mir wie immer fast das Herz zerbricht. Ich mochte es gar nicht, wenn sie sich Sorgen um mich machten. Aber in manchen Situationen, konnte ich nicht dagegen ankämpfen, dazu fehlte mir einfach die Kraft. Dann kam es meistens zu einem handfesten Streit und das mochte ich noch weniger, als die sorgenvollen Blicke. Meine Männer, wie ich meinen Mann und meine beiden Söhne immer gern nannte, grinsten mich nach einer Weile breit an. Sie kannten das Spiel von mir schon und wussten, ich hatte mich wieder beruhigt. Einfach zur Tagesordnung übergehen und dort weitermachen, wo ich vor meinem Rückzug, aufgehört hatte. Es ist nicht besonders schön, aber statt einen Streit vom Zaun zu brechen, die bessere Alternative.

Meine Schwiegertochter allerdings, konnte und wollte, das so nicht akzeptieren. Verständlich, da sie diese extreme Situation das erste Mal miterleben hatte. Selten nahm ich die Gelegenheit wahr, so lange wie heute an Feierlichkeiten in der Familie teilzunehmen. Meistens bekam ich schon nach wenigen Stunden einen Anruf und wurde aus dem Urlaub zurück beordert. Dadurch blieben Eva meine Ausraster, wie ich sie immer nannte, verborgen. Da ich mich dann stets im Auto, ungesehen von ihr, abreagieren konnte. Meistens holte mich Micha ab oder ich werde von einem Einsatzfahrzeug abgeholt. Zum Autofahren wäre ich in diesem Zustand gar nicht in der Lage gewesen oder aber Erwin fuhr mich zurück auf die Dienststelle. Diesmal hatten wir extra abgesprochen, dass mich niemand holen sollte. Dadurch blieb Eva mein Verhalten aber nicht verborgen. Ich ahnte, dass gleich eine schlimme Diskussion auf mich zukam. Ich kannte meine Schwiegertochter jetzt fast achtzehn Jahre. Vorsichtig auf einen Anpfiff von mir gefasst, tastete sich Eva Schritt für Schritt vor.

"Mutti, was war denn gerade los mit dir. Ich habe mir Sorgen gemacht", bat sie um eine Erklärung, meinerseits.

"Eva, lass es gut sein. Es ist alles in Ordnung mit mir. Jeder hat mal seine schlechten Momente. Lass den Tag mit guten Gedanken ausklingen. Ich will mich nicht noch mit euch zanken ... Bitte ... Der Tag war so wunderschön. Aber er war auch sehr anstrengend für mich. Lasse mir die schönen Erinnerungen. Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern. Nur das was wir jetzt tun, kann Einfluss auf die Zukunft nehmen. Die Zukunft kann man ändern, nicht das, was vorbei ist. Also höre auf zu bohren. Ich bin alt genug, um das auch bei mir einschätzen zu können, ob alles in Ordnung ist. Außerdem bin ich dir gegenüber, zu keiner Rechenschaft verpflichtet", schob ich rigoros und einem wütenden Ton, einen Riegel vor das Thema, über das ich so absolut nicht reden wollte.

Auch wenn ich Eva damit Unrecht tue. Erwin sah mich traurig an und schüttelte ein wenig den Kopf. Bat mich auf diese Weise darum, mich zu beruhigen. Eva die es nicht gewohnt war, so abgespeist zu werden, konnte und wollte das nicht als Antwort gelten lassen. Da sie schon immer alles ganz genau wissen musste. Sie dachte nicht im Traum daran, meinen Standartsatz als unabänderlich anzusehen. Sie muss nachharken.

"Alles in Ordnung. Ich weiß nicht, was du darunter verstehst, Mutsch. Für mich sah das eben nicht gerade danach aus, als ob mit dir alles in Ordnung ist. Das kannst du deinen Männern erzählen, aber nicht mir. Du kannst die Vergangenheit nicht immer vor dir herschieben, du weißt, dass dich deine Vergangenheit immer wieder einholt. Du solltest endlich einmal darüber reden. Du bist psychologisch genauso gut geschult, wie ich oder Max. Mutsch du weißt genau, dass ich richtig liege."

Sie hatte ja irgendwo Recht, aber ich konnte einfach nicht darüber zu reden. Ich hatte das Gefühl, wenn ich darüber sprechen musste, als wenn ich über glühende Stahlplatten laufen muss. Der Schmerz in mir, wurde so groß, dass ich nicht mehr sprechen konnte und das Fieber fing in mir an zu brennen. Als ob sich all meine Wut, in Fieber verwandelte.

"Ich weiß, dass du Recht hast Eva. Aber du weißt auch, dass es Dinge gibt, über die man einfach nicht sprechen kann. Selbst mit Hypnose, können manche Patienten, über bestimmte Sachen, die sie erlebt haben, nicht reden. Der Körper weigert sich, diesen Schmerz noch einmal zu durchlaufen und schaltet einfach ab oder Schlimmeres. Muss ich dir hier und jetzt eine Psychologische Schulung abhalten, nur damit du Ruhe gibst. Ich kann und will darüber nicht reden, akzeptiere das. Sonst ziehe ich mich an und gehe. Es haben schon eine ganze Menge sehr guter Psychologen, vor dir versucht, in meiner Vergangenheit herumzuwühlen. Keiner hatte damit wirklich Erfolg. Zum Schluss erreichten sie nur, dass es mir gesundheitlich noch schlechter ging und ich wochenlang kaum ansprechbar war. Meine Vergangenheit selber verhindert, dass ich darüber reden kann. Eva, höre bitte auf zu nerven. Es tut mir und auch euch nicht gut, wenn du mich mit solchen Diskussionen in die Ecke drückst. Im Endeffekt passiert nur eins, dass wir uns streiten. Das hat sich Mia nicht verdient", beendete ich einfach dieses sinnlose Unterfangen, in mich einzudringen.

In dem ich ihr vor Augen führte, dass die Kinder über einen Streit traurig wären. Bei den letzten Worten wurde meine Stimme immer leiser. Dies war und ist, bei mir kein gutes Zeichen, denn dann stand ich kurz davor auszuflippen.

Eva allerding ließ nie zu, dass sie auf diese Weise abgeblockt wurde. Auch wenn sie den flehenden Blick ihres Mannes, Schwagers und Schwiegervaters wahrnahm. Hier prallen zwei Fronten aufeinander. Vor allem waren wir beide Dickköpfe, die von einer einmal gefassten Meinung nicht so schnell abließen. Wie immer suchte die ausgebildete Krankenschwester, die viele Jahre in der Psychiatrie gearbeitet hatte, nach einer Alternativen. Sie konnte glaube ich einfach nicht mehr aus ihrer Haut. Ein ... es geht nicht ... konnte und wollte sie einfach nicht akzeptieren.

"Mutsch, du schreibst doch viel und gerne. Hast du schon einmal versucht, deine Geschichte aufzuschreiben? Nur so für dich, damit du sie einmal loslassen kannst", entschuldigend sah sie mich dabei an.

Ich schüttele mit dem Kopf. "Nein, warum auch. Wen interessiert das schon, was damals geschehen ist? Es wird davon erstens nicht besser und zum anderen tut es niemanden gut, von so einen verdammten Schei...", nein ich wollte dieses Wort nicht aussprechen. Es zeigte nur zu deutlich, wie sehr ich mich in meine Wut hinein steigerte. Tief holte ich Luft, um mich zu beruhigen. Kämpfe gegen den Drang, in mir an, einfach den Raum zu verlassen oder etwas zu zerschlagen. Unternahm einen letzten Versuch, diese sinnlose Diskussion zu beenden. "Das würde sowieso niemand lesen und jetzt ist Ende im Gelände, wenn du nicht willst, dass ich mir ein Taxi kommen lasse und gehe", setze ich mit einer wütenden und für mich ungewohnt lauten Stimme nach. Erschrocken sehen mich meine Männer an. Nur selten werde ich laut.

"Charlie, bitte... ", flehte mich Erwin jetzt an. Er sah seine Schwiegertochter an und schüttelte den Kopf. Bat sie mit den Augen, darum ruhig zu sein.

"Komm beruhig dich Mutsch. Ich will dich doch nicht ärgern", Eva legte ihre Hand auf meine.

Das war ein verdammt großer Fehler, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich schüttelte mich und wütend ihre Hand ab. Mühsam, mich zum leise sprechen zwingend, fuhr ich sie an. Auch war mir klar, dass ich diese leise Sprechweise nicht lange beibehalten konnte, dazu war ich viel zu aufgewühlt.

"Dann lass es verdammt nochmal. Vor allem fasse mich nie wieder an. Du machst mich wahnsinnig wütend und glaube mir eins, Madame, das ist noch nie jemanden gut bekommen. Das letzte Mal, als man mich so wütend gemacht hatte, lag ich im Anschluss, fast ein Jahr im Koma. Höre auf Eva oder ich packe meine Sachen und gehe. Das Thema ist nicht gut für mich. Ende der Diskussion", brüllte ich sie jetzt, in einem harschen schrillen Ton, an.

Meine Stimme überschlug sich regelrecht. Selbst meine Männer waren einen solchen Ausbruch von mir nicht gewohnt. Der letzte der diesen Ton von mir gehört hat, war mein Vorgesetzter, Polizeirat Nerlich, als ich ihn an der Kehle packte und ihm einmal gründlich die Meinung sagte. Dann gab ich meinen Chef meine Dienstmarke und Waffen, keine zwei Minuten später, lag ich im Koma und das für Monate. All das kam in diesem Moment wieder in mir hoch. Diese verdammte Wut, hatte mich wieder im Griff. Das durfte mir kein zweites Mal passieren. Immer wieder sagte ich mir, dass ich mich beruhigen musste. Aber es war so schwer diese Wut in mir zu bändigen.

Ich konnte vieles wegstecken und verkraften, wenn ich so außer mir vor Wut war. Körperliche Nähe oder Berührungen, waren dann für mich der pure Horror. Das bedeutete nur eins für mich, schwere Strafen und die damit verbundenen Schmerzen. Ich konnte das auch nicht ausschalten oder gar steuern. War ich wütend, durfte mich niemand berühren. Körperkontakte, fielen mir sowieso schon immer sehr schwer. Es hatte Jahre gebraucht, ehe mich Erwin berühren konnte, ohne dass ich mich davor geekelt hatte. Noch länger brauchte ich, bis ich zugelassen hatte, dass mich meine Kinder berühren durften. Ohne dass ich jedes Mal in Panik geraten war. Immer noch hatte ich Angst, ihnen ausversehen Schmerzen zuzufügen. Und schon gar nicht, konnte ich in einer solchen extrem angespannten Situation, einen Körperkontakt, ohne Abwehrreaktion ertragen. Endlich begriff auch Eva, dass sie den Bogen überspannt hatte und unbedingt aufhören musste. Sie sah mir an, dass ich meine Worte ernst meine. Meine Halsschlagadern waren dick geschwollen, mein Nacken färbte ich immer röter und meine waren unnatürlich groß Augen. Mein Atem ging viel zu schnell und man sah mir an, wie schwer ich nach Luft rang. Meine gesamte Körperhaltung ging auf Abwehr. Mühsam versuchte ich mich zu beruhigen. Stützte meine Hände auf den Tisch. Als das nicht half, drehte ich mich um und stützte mich an die Wand. Als auch das half, lief ich die Hände hinterm Nacken verschränkt, einige Male hin und her. Nach Luft ringend stütze ich mich wieder mit den Händen an die Wand und hoffte inständig, dass meine Männer dafür sorgten, dass man mich in Ruhe lässt.

Eva hatte es geschafft, meine mühsam wiedergefundene Ruhe vollkommen zu zerstören. Ich glaube meine Schwiegertochter war selber erschrocken, dass sie mich dermaßen in die Enge getrieben hatte. Verlegen schwieg sie, bis sie merkte, dass ich mich wieder beruhigt hatte. Fast zehn Minuten brauchte ich, um wieder etwas klarer denken zu können. So lange herrscht betretenes Schweigen am Tisch. Die Blicke die Eva von meiner Männern entgegen geworfen bekam, waren alles andere, aber nicht freundlich. Endlich hatte ich mich wenigstens äußerlich wieder unter Kontrolle. Mein Atem ging wieder fast normal und ich konnte wieder klar denken.

"Will jemand von euch einen Kaffee?", fragte ich in die Runde und ging, so wie ich es immer handhabte, einfach zur Normalität über.

Als keiner etwas sagte, nahm ich meine noch volle Tasse und verschwand in der Küche. Ich musste einfach, einen kurzen Moment alleine sein.

Während ich in die Küche lief, trank ich meine Tasse aus, vielmehr stürzte sie hinter. Am Spülbecken hielt ich als erstes den Kopf unters kalte Wasser. Ich hatte das Gefühl, dieser würde jeden Moment platzen. Lange ließ ich das Wasser, erst über meinen Kopf, den Nacken und dann über meine Handgelenke laufen. Diese Unart, werde ich bestimmt auch nicht mehr los, ging es mir auf einmal durch den Kopf und ich musste über mich selber lachen. Endlich hatte ich mich vollständig beruhigt. Mit einer dampfenden Tasse und einem Lächeln im Gesicht, kehrte ich zurück ins Esszimmer.

"Tschuldigung Eva, ich wollte dich nicht anschreien. Du musst aber lernen zu akzeptieren, dass ich Nein meine, wenn ich laut und deutlich Nein gesagt habe. Sonst passiert das, was eben passiert ist, immer wieder. Wenn ich reden will, tue ich das. Wenn ich nicht reden will, akzeptiere das auch und jetzt Ende der Diskussion. Wenn du nicht willst, dass ich sofort meine Tasche packe und Abreise. Ich verlange nie etwas für mich, das weißt du genau wie jeder andere hier im Raum. Akzeptiere einfach, dass ich über bestimmte Dinge nicht reden werde. Das musste jeder andere hier in der Familie lernen. Vor dir akzeptierten viele dass es Dinge gibt über die ich nicht reden werde und diejenigen kannten mich alle schon viele Jahre länger als du. Glaubst du nicht, dass die mehr Erfahrungen mit mir haben, als du?"

Ernst blickte ich meine Schwiegertochter an. Noch nie hatten wir uns so in den Haaren bekommen.

"Mutsch sei nicht böse mit mir. Bitte. Ehrlich, ich wollte nicht dass du dich so aufregst. Darf ich noch etwas zu dem Thema sagen, ohne dass du mir gleich wieder an die Gurgel springst", flehend sah sie mich an und bat mich mit ihrer ganzen Körperhaltung um Verzeihung.

Ich konnte nicht anders und zog sie einfach zu mir herüber und gab ihr einen Kuss. "Wenn es denn sein muss", gab ich nach.

"Mutsch, weißt du mich würde es interessieren, warum du so ausflippst, wie gerade eben. Das bist doch nicht wirklich du."

Als ich etwas sagen wollte, schüttelte Eva mit dem Kopf.

"Mutsch, hör einfach einmal zu, ohne diese Wut in dir. Nicht nur mich, auch deinen Mann und deine beiden Jungs interessiert, was mit dir los ist. Wenn deine Enkel etwas älter werden, wollen auch die wissen, warum du manchmal so komisch reagierst. Weißt du wie oft uns die Kinder schon gefragt haben, was mit dir manchmal los ist. Nie habe ich eine wirkliche Antwort darauf. Mit der Antwort, Oma ist traurig, geben sich die Kids schon lange nicht mehr zufrieden. Die beiden kleinen vielleicht, aber nicht einmal Marcel glaubt uns das noch. Ich möchte einfach nur, dass du darüber einmal in Ruhe nachdenkst. Du musst das wirklich nicht jetzt und heute entscheiden. Aber eine gute Idee wäre das bestimmt. So wissen wir alle endlich einmal, was mit dir los ist und vor allem, warum dich solche Feiern immer aus der Bahn werfen. Am liebsten würde ich nie wieder einen Geburtstag, Weihnachten oder ein sonstiges Fest feiern. Oder denkst du vielleicht ich bin blind und bekomme nicht mit, wie beschissen es dir jedes Mal geht. Oder glaubst du wirklich ich bin so dumm und merke nicht, dass du vor unseren Feiern regelrecht fliehst. Ich will es doch nur verstehen", beendete Eva endlich diese sinnlose Debatte.

Ich sage nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen. Das Eva ihre Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken sollte. Ich konnte ihr ja schlecht sagen, dass ich lieber auf Arbeit war, statt an irgendwelchen Feiern teilzunehmen. In deren Anschluss es mir wieder wochenlang beschissen ging. Das ich jetzt am liebsten die volle Kaffeetasse an die Wand schmeißen und aus dem Zimmer und dem Haus meines Sohnes fliehen wollte. Mein Gesicht wurde zu einer erstarrten Maske und ich nahm die traurigen Augen meiner Söhne und meines Mannes wahr. Ich wusste, dass sie den Wunsch zu fliehen in meiner gesamten Haltung sahen. Also strafte ich meine Haltung, holte tief Luft und trank, statt meinen Kaffee zu werfen, diesen lieber aus. Ich verdrängte die Wut und ergab mich meinem Schicksal, dem ich nicht entfliehen konnte.

Am Anfang meiner Beziehung mit Erwin, hatte ich immer wieder versucht zu erklären, warum ich zu solchen Feiern nicht gehen wollte. Es verstand einfach nie jemand. Meine Schwiegereltern versuchten jedes Mal in mich einzudringen. Irgendwann hatte ich mir dann überlegt, meinen guten Willen zu zeigen und einfach aus der Feier zu verschwinden. Dank moderner Technik, war das heute um vieles einfacher geworden. Ein unverfänglicher Code, wie: "Hallo Micha, wie geht es dir? Ein zerbrochenes Herz und ein Affe der sich die Augen zuhält, genügten, um mich in den Dienst zu rufen. Es war nicht fair meiner Familie gegenüber, aber der einzige Ausweg, den ich für mich gefunden hatte, diesen Feiern zu entfliehen. Das Leben ist nun einmal nicht immer fair. So oft hatte ich darum gebeten, Geburtstage einfach nachzufeiern, wenn ich da war. Einen schönen Kuchen, eine Tasse Kaffee und gemütliches beieinander sitzen und reden. Das war für mich eine schöne Feier. Ich brauchte keine Geschenke, keine hundert Leute, die um mich herum standen, die ich nicht einmal kannte und von mir Sachen verlangten, die ich nach all den Jahren immer noch nicht konnte. Konversation war noch nie mein Ding gewesen und würde es auch nie werden. Es endete bei mir, immer in einem völligen Desaster und verstärkte meine Abneigungen gegen solche Feiern nur noch mehr. Ich wollte das einfach nicht. Mir war es völlig egal, wann ich geboren wurde, dieser Tag hatte in meinen Augen nichts, was man feiern musste.

Ich war froh darüber, dass wir dieses leidliche Thema endlich vom Tisch zu hatten und uns wieder den schöneren Dingen des Lebens widmen konnten. Langsam entspannte sich die Lage am Tisch wieder etwas. Erwin lächelte mich dankbar an und Carl und Max nickten mir lächeln zu. Für Eva, das sah ich an ihren Augen und ihrer gesamten Haltung, war dieses Thema noch lange nicht vom Tisch. Trotzdem wurde wieder gelacht und wir spielten noch eine Weile Karten. Im Anschluss noch eine Runde Monopoly, wobei ich wieder einmal Haus, Hof und Kinder verspielte. Ich hatte nie kapiert, wie das Spiel eigentlich funktionierte. Eva und meine Männer lachten herzhaft, als ich wieder einmal pleite war und im Gefängnis meine Schulden absitzen musste. Ich konnte wieder einmal meine Miete nicht mehr bezahlen und war auf Kredite meiner Männer angewiesen. Zum Schluss war es doch noch ein wunderschöner Abend geworden, an den man gern zurückdenken konnte.

*

Dessen ungeachtet hatten Evas Worte, irgendetwas in mir wach gerüttelt. Immer wieder einmal schnitt Eva das Thema in den darauffolgenden Tagen an. Ohne, dass es für Eva, zu einem befriedigenden Abschluss gebracht war. Es kam fast soweit, dass ich zwei Tage später vor den Kindern, damit drohen musste vorzeitig abzureisen, wenn sie mich weiter mit diesem Thema nervt. Ich ging in mein Zimmer, zog meine Trainingssachen an und verließ wütend das Haus. Stundenlang suchten Erwin und Carl mich, aus Sorgen, dass ich mir etwas antun würde. So ein Quatsch. Niemals würde ich meiner Familie derart in den Rücken fallen, das könnte ich schon gar nicht meinen Enkeln antun. Nur hatte ich einfach keine Kraft mehr für solche Art von Gesprächen. Ich war hier um Kraft zu tanken und nicht um das bisschen Kraft, dass ich noch besaß, zu vergeuden.

Selbst mein Mann, der sich sonst nicht in meine Sachen einmischte, weil ich so etwas hasste wie die Pest, redete seiner Schwiegertochter ins Gewissen. Genau, wie sich meine Söhne Eva zur Brust nehmen musste und ihr damit untersagten, immer wieder, in ein und dieselbe Kerbe zu schlagen. Dass sie mehr erreichen würde, wenn sie das Thema a acta legte. Sie waren sich sicher, dass ich in einer ruhigen Minute darüber nachdenken würde.

Klar hatte meine Schwiegertochter irgendwo Recht, und ich wusste auch, dass sie es nicht böse meinte. Leider kratzte sie mit ihrer ständigen Fragerei, an einer sehr dünnen Wand, die kurz davor war einzustürzen. Das Schlimme daran war, dass ich Angst davor hatte, meiner Familie mit der Wahrheit, über meine Vergangenheit, mehr zu schaden, als dass es einen Nutzen brachte. 'Zu was müssen sie sich diesen ganzen Mist anhören? Am Ende geht es dann allen nicht gut. Diese Sache bringt niemand einen Nutzen', ging es mir immer wieder durch den Sinn. Leider konnte mir bei dieser Frage niemand helfen. Da mir das Thema einfach nicht gut tat, konnte ich auch niemanden um Rat fragen. Ihren Kindern zu liebe, hörte Eva schließlich auf, dieses Thema anzuschneiden, denn durch mein Stundenlanges Verschwinden und die dadurch entstehende Unruhe, bekamen auch die Kinder mit, dass etwas mit der Oma nicht stimmte.

Die Kinder vermissten ihre Oma sowieso schon immer, denn oft konnte ich nicht nach Hause fahren. Über achthundert Kilometer, lagen im Moment zwischen meiner Dienstwohnung und meinem eigentlichen Zuhause. Mir fehlten einfach die Zeit und oft auch die Kraft dazu, nach Hause zu fahren. Eine frühere Abreise von mir, das wusste auch Eva, hätte sehr viele Tränen und Leid, bei den Kindern ausgelöst. Auch wenn es von mir nicht fair war, mit meiner Abreise zu drohen, bekam ich auf diese Weise meine Ruhe. Ich hatte die letzten Tage nicht nur Ruhe vor diesem Streitgespräch, sondern auch Erholung und die Möglichkeit meine Krafttanks wieder aufzuladen.

Trotzdem hatte Eva Erfolg mit ihrem Drängen. Das Resultat der ganzen Diskussionen war, dass es in meinem Kopf anfing zu rumoren. Meine Gedanken, drehten sich, wie in einem Hamsterrad und ließen mich nicht mehr zur Ruhe kommen. Eva brachte ihr Verhalten, mir gegenüber, nicht nur von Seiten ihres Mannes, sondern auch von Seiten meines Mannes eine böse Rüge ein. Denn ich schlief kaum eine Nacht mehr durch. Dementsprechend sah ich am Ende meines Urlaubs auch aus, müde, abgespannt und mit dunklen Augenringen. So dass mich sogar meine Enkel fragen, ob ich krank wäre. Leider ließ sich das jetzt nicht mehr ändern. Mein sowieso gestörtes Schlafverhalten, wurde durch Evas ständige Nerven nicht besser.

Völlig übermüdet saß ich zwei Tage später, schon kurz nach 3 Uhr in der Früh, auf der Terrasse. Der Alp der Nacht, hatte mich nach ein und einer halben Stunde aus dem Schlaf gerissen und an ein wiedereinschlafen, war nicht mehr zu denken. Mein Herz rast und mein Kopf dröhnt und ich fühle mich als hätten mich hundert Panzer überrollt. Aber ich konnte nichts dagegen machen. Deshalb hatte ich mir einen Kaffee und ein Buch genommen und mich an die frische Luft gesetzt, um wenigstens nicht noch ins Grübeln zu verfallen. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meinen Kopf gemacht. An Lesen war nicht zu denken, denn meine Gedanken drehten sich im Kreis und ich konnte mich nicht auf den Text konzentrieren. Auch weil mir mit jeder Stunde, die ich bei meiner Familie war, bewusster wurde, dass Eva irgendwo Recht hatte. An dem Satz, "Dass ich allen eine Antwort nach dem Warum schulde", fraß mich innerlich auf.

War da wirklich etwas dran? Ich verstand ihre Beweggründe. Wenn ich ehrlich war, sollte ich nach all den Jahren, endlich einmal darüber "reden" können. Nur war es für mich wirklich nicht möglich. Mich verbal zu Themen zu äußern, die nur meine eigene Person betrafen, hatte ich nie gelernt. Das war schon immer auf Arbeit schwierig, wenn ich wieder einmal auf eine neue Dienststelle und einem neuen Team zugeordnet wurde. Alleine mich irgendwo vorzustellen, war für mich ein Problem. Ich brauchte einfach zu den Dingen, über die ich sprechen musste, einen gewissen Abstand. Genau diesen Abstand hatte ich aber bei mir selber nicht. Schreiben dagegen fiel mir einfach leichter. Obwohl das so auch nicht wirklich stimmte. Denn schreiben habe ich erst sehr spät gelernt und das Geschichten schreiben, noch viel später. Vielleicht hat Eva ja Recht und dies war eine gute Möglichkeit, einmal mit meiner Kindheit abzuschließen und diese aufzuarbeiten. Wenn das überhaupt möglich war. Aber auf diese Weise konnte wenigstens meine Familie verstehen, warum ich ab und an einmal verrücktspielte. Ich musste zu Hause einfach einmal in Ruhe darüber nachdenken. Das konnte und wollt ich nicht hier entscheiden.

Eine Woche blieb ich noch bei unseren Kindern, ich verlängere sogar meinen Urlaub, um ein paar Tage. Wahrscheinlich nur, um die Entscheidung über mein Leben zu schreiben, noch etwas hinauszuschieben. Genug Überstunden hatte ich und es war einmal ein ruhiger Monat, bei uns auf der Dienststelle. Sodass ich endlich einmal etwas Ruhe und vor allem Kraft tanken konnte. Der Entschluss später einmal darüber nachzudenken, half mir sogar in den Schlaf und so wurde es doch noch ein erholsamer Urlaub. Es war wie immer, die schönste Zeit des Jahres, für mich. Eine reichliche Woche Urlaub, bei meiner Familie, war für mich schon immer die beste Medizin und brachte mir die meiste Erholung. Ich sog die Ruhe auf, wie ein Schwamm die Nässe. Ich brauchte kein Meer, keine Sonne und schon gar keine Hotels und das ganze Drumherum, um abzuschalten. Mir reichten meine Kinder, mein Mann und vor allem meine Enkel, um Stress und Probleme die es gab, völlig auszublenden.

Wie jedes Jahr fuhr mein Mann mich wieder zurück in meine Dienstwohnung und von dort aus, zurück zu meinem Sohn. Mich holte der Stress auf Arbeit schnell wieder ein, wie das bei jeden normalen Menschen der Fall war. Drei Tage Arbeit und der Job hatte einen wieder, spätestens dann, holte dich das tägliche Einerlei wieder ein. Job, Training und Haushalt, Telefonate mit meiner weit entfernt wohnenden Familie. Es war wieder alles beim Alten und doch hatte sich etwas geändert.

Evas Worte ließen mich nicht mehr los. "Wenn du nicht darüber reden kannst, dann versuche es aufzuschreiben. Wir möchten gern wissen, was mit dir los ist, wenn du plötzlich, ohne triftigen Grund, den Raum verlässt und dich völlig in dich zurückziehst."

Sie hatte Recht. Endlich hatte ich es begriffen.

*

Deshalb schreibe ich jetzt meine Lebensgeschichte auf. Nicht für meinen Mann, nicht für meine Kinder und schon gar nicht für meine Enkel, sondern einfach für mich alleine. Vielleicht konnte ich auf diese Weise, endlich mit meiner Vergangenheit abschließen und die Ruhe in mir selbst finden, nach der ich schon so lange suchte...

*

 

*** Schande über dich ***

***

Schon seit einigen Tagen saß ich nach meinem Dienst, in meiner kleinen Wohnung, vor dem Computer und grübelte darüber nach, wie ich das Buch weiter schreiben sollte. Wie es zu dem Buch kam, hatte ich schon aufgeschrieben, das war der einfachste Part. Aber in welcher Reihenfolge sollte ich jetzt fortfahren. Richtete ich mich stur nach einem Zeitstrahl und schrieb alle Geschehnisse chronologisch auf, oder ließ ich mich wie von einer Welle, zum nächsten Geschehnis tragen, auch wenn es nicht dem tatsächlichen Zeitablauf entsprach? Gab es überhaupt eine richtige und eine falsche Reihenfolge? Ich denke nicht. Im Endeffekt, kam es nur darauf an, sich einmal intensiv mit all diesen Dingen auseinander zu setzen und ich wusste, dass das verdammt schwer werden würde. Also würde ich mich von einem Ereignis zum nächsten tragen lassen, in der Hoffnung, beim Schreiben dieser Zeilen nicht verrückt zu werden.

Nach meinem Urlaub hatte ich einen ersten großen Schritt in diese Richtung getan, um mich mit meiner Vergangenheit bewusst auseinanderzusetzen. Das erste Mal, seit dem Tod meines Großvaters, hatte ich die Kiste geöffnet, in dem sich mein Erbe befand. Nur gut, dass meine Männer nie etwas von dieser Kiste erfahren hatten, da diese meine Dienstwohnungen nie verließ und sie, all die Jahre, unter meinem Bett geblieben war.

Vor fast fünfundvierzig Jahren, brachte mein Halbbruder, die Kiste zu uns auf die Wache und ließ mir ausrichten, dass mein Großvater und meine -großmutter gestorben waren und dass man ihn in der vergangenen Woche beerdigt hatte. Allerdings war ich zu diesem Zeitpunkt nicht auf der Wache und so nahm mein späterer Ziehvater, diese Kiste in Empfang, um sie an mich weiterzureichen.

Das Gesicht meines späteren Ziehvaters, war eine erstarrte Maske aus Wut und Hass, als er die herzlosen Worte meines sogenannten Bruders zu hören bekam. Wut darüber, das obwohl man wusste wo ich zu finden war, es niemand für nötig hielt, mich zur Beerdigung einzuladen. Vor allem, dass man mir dadurch die Möglichkeit nahm, mich von den beiden liebsten Menschen meines Lebens, ordentlich zu verabschieden. Micha mein bester Freund, erzählte mir Jahre später, dass mein Ziehvater in der Dienststelle fast Amok gelaufen wäre. So hatte ihn das Benehmen meines Halbbruders aufgeregt. Die Begründung warum man mich nicht bei der Beerdigung dabei haben wollte, war folgende: Mich hätte es die ganzen Jahre nicht interessiert, wie es meinen Großeltern gehen würde. Hätte es nie für nötig gehalten in den elf Jahren meines Schulbesuches, auch nur ein einziges Mal vorbeizukommen, auf einen Kaffee oder ein Gespräch. Dass ich mich nur hätte drei Wochen lang bedienen lassen habe, wenn ich Ferien hatte. Rudi, mein Ziehvater hätte danach stundenlang den Sandsack im Trainingsraum bearbeitet und ständig damit gedroht, dass er diese Unmenschen umbringen würde. Ich konnte seine Wut auf diesen Menschen nur zu gut verstehen. Ich sah meinen sogenannten Bruder in den ersten sechszehn Jahren meines Lebens genau zwei Mal. Er kam nie zu Besuch, wenn ich bei meinen Großeltern war und hat mich gehasst wie die Pest.

Auch ich war damals wütend. Aber nicht auf meinen Bruder, sondern auf Rudi, weil er diese Kiste einfach angenommen hatte, ohne mit mir Rücksprache zu halten. Ich war damals so böse auf meinen Ziehvater, dass ich ihm diese Kiste einfach vor die Füße schmiss und aus der Wache weglief. Stunden lang hatten mich danach meine Kollegen im näheren und dann weiteren Umkreis meiner Wache gesucht, aus Angst, dass ich mir etwas antun würde. Dabei saß ich im nahe gelegenen Park auf einen Baum und habe still vor mich hin geweint.

Eigentlich war ich nicht wirklich wütend auf Rudi. Ich war wütend auf die ganze Welt, weil der einzige Mensch, zu dem ich jemals eine gewisse Bindung aufgebaut und der mich wirklich geliebt hatte, mich nach nur sechs Wochen im Stich ließ. Der Einzige Mensch dem ich ein wenig Vertrauen geschenkt hatte, brach sein Wort. Obwohl er mir versprach, immer auf mich zu warten und immer für mich da zu sein. Ich war wütend auf meine Wache, da ich nach der Schulentlassung, nicht einmal zu meinen Großvater gehen durfte, obwohl er nur drei Straßen weiter wohnte. Ich war wütend auf Gott und alle Welt, weil man mir das Liebste genommen hatte, dass ich je besaß, meinen Ruhepol und mein einziger Halt. Am Abend kehrte ich hochfiebrig in die Wache zurück und sprach über Wochen kein Wort mehr. Nicken, Kopfschütten und Schulterzucken, waren die einzigen Äußerungen die ich noch machte. Nur wenn man mir dem Befehl gab zu sprechen. Sagte ich notgedrungen etwas, sonst zog ich mich immer mehr in mich selbst zurück. Das Fieber war am nächsten Tag zwar wieder verschwunden, aber mein sowieso schon angeschlagenes Schlafverhalten wurde für die Männer auf der Wache unerträglich.

Rudi, nahm damals der Kiste an sich und verwahrte sie fast vierzig Jahre lang für mich. Nur für den Fall, dass ich es mir vielleicht irgendwann einmal anders überlegen würde. Ich glaube er ahnte schon damals, dass ich mich eines Tages meiner Vergangenheit stellen würde und auch musste. Er erklärte mir, als er mir diese Kiste vor knapp zehn Jahren in die Hand drückte, dass er hineingesehen hatte, um zu sehen, was die Kiste enthielt. Er war der Meinung, dass ich eines Tages so weit sein würde, ebenfalls hineinzuschauen.  

Er gestand mir mit Tränen in den Augen, dass er alle die Bücher gelesen hatte, weil er so verzweifelt war und mir unbedingt helfen wollte. Erst nach diesem Geständnis, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wieso mich Rudi auf einmal so gut verstehen konnte. Wieso er damals wochenlang völlig mit den Nerven fertig war und sogar krankgeschrieben werden musste, weil er einen Nervenzusammenbruch erlitt hatte. Rudi brauchte sehr lange, bis er all das, was er aus den Tagebüchern meines Großvaters erfuhr, verarbeitet konnte.

Ich kann ihn da nur zu gut verstehen. Denn ich hatte diesen ganzen Mist bis heute nicht verarbeitet. Er hatte vieles aus den Tagebüchern erfahren, was ich meinen Großvater ab und an einmal erzählt hatte und erzählen musste, da mein Großvater wissen wollte, was mit mir los war. Durch die Informationen aus den Büchern meines Großvaters erhielt er einen ganz kleinen Einblick, in mein damaliges Leben und konnte mich dadurch ein bisschen besser verstehen.

Oft frage ich mich noch heute, lag sein Zusammenbruch nur daran, dass er hautnah mit meinen damaligen Problemen konfrontiert wurde, sodass er emotional noch mehr belastet war, als es normale Menschen war. Oder lag es daran, dass wir damals durch unseren Beruf so unter Stress standen, dass diese zusätzliche seelische Belastung einfach zu viel wurde. Darüber musste ich einmal in Ruhe nachdenken. Ich selber konnte das selbst nach den vielen Jahren, immer noch nicht richtig einschätzen. Genau, das war der Punkt, warum ich nur wenig über meine Kindheit sprach. Nicht um mich selber zu schonen, sondern meine Umwelt zu schonen. Denn war dieser Zusammenbruch nur durch die Berichte meines Großvaters verursacht wurden, sollte ich das mit dem Buch sein lassen. Denn es half niemanden, wenn er durch das Lesen des Buches zusammenbrach. Es reichte völlig, dass ich mit meinem Leben klar kommen musste. Kein anderer hatte es sich verdient, sich damit zu belasten. Denn eins wusste ich schon von klein auf, Mitleid bekam man schnell geschenkt, aber dieses Mitleid führte dazu, dass man noch mehr isoliert wurde. Nicht nur einmal bekam ich das im Laufe meines Lebens zu spüren. Mitleid verwandelte sich mit der Zeit in Hass und Wut, diese beiden Gefühle brauchte niemand in seinem Leben.

Auf alle Fälle behielt Rudi mit seiner Einschätzung Recht. Heute war ich soweit, dass ich mich mit dem Inhalt der Kiste auseinandersetzen konnte. Und ich glaube mein Ziehvater würde sich sehr darüber freuen, wenn er dies noch erleben könnte. Ich war ihm Dankbar für diesen kleinen Schatz

Nach meinem Streit mit Eva, wollte ich es wissen und stellte mich das erste Mal in meinem Leben, ganz bewusst meiner Vergangenheit. Ich freute mich sogar, über diese kleinen Gaben. Es befanden sich nur wenige Dinge, in der Kiste mit meiner Erbschaft. Allerdings ließen sie mein Herz höher schlagen. Als ich den Deckel von der Kiste hoch gehoben hatte, sahen mich als erstes zwei wunderschöne und königsblau lackierte chinesische Vasen an. Wie oft habe ich diese Vasen als Kind in der Vitrine meiner Großeltern bestaunt. Stundenlang hatte ich vor der Vitrine gestanden und diese Vasen angestarrt. Nie habe ich mich getraut zu fragen, ob ich sie einmal berühren dürfte.

Ich kannte mich mit Vasen etwas aus, da mich die Handwerkskunst der Töpfer sehr interessiert hatte, damals wie heute. Sie konnten aus Porzellan oder Ton sein, aber auch aus Glas oder Steingut. Ich habe allerdings bis heute, nie wieder Vasen aus Teak-Holz gesehen oder in der Hand gehalten. Diese Vasen waren so wunderbar leicht und dünnwandig und der blaue Lack, wurde mit einem goldenen-roten Drachen bemalt. Solange ich zurück denken konnte, hatten mich Drachen fasziniert und ich glaube diese Vasen, waren schon immer der Auslöser für diese Faszination gewesen. Sie regten meine Fantasie an und halfen mir mich wegzuträumen aus meinem verhassten Leben. Diese Vasen waren schuld an meinen Geschichten um die Drachenberge. Die ich früher meinen Freunden in der Schule und später meinen Kindern und jetzt meinen Enkeln erzählte. In meiner Fantasie, setzte ich mich einfach auf die Drachen und flog weit fort von den Orten, an denen ich nicht sein wollte. Sie gaben mir das Gefühl der Freiheit.

Außerdem enthielt die Kiste noch einen kleiner Donald Duck und zwölf gebundene Tagebücher. Dicht beschrieben mit der Handschrift meines Großvaters. Leider waren sie im Altdeutschen geschrieben, eine Handschrift die ich bis heute noch nicht lesen konnte. Zum Glück konnte mein bester Freund Micha, diese Schrift lesen. Er lernte es von seinem Großvater und hat mir die Tagebücher, in den letzten Tagen, übersetzt. Als er mir die Bücher zurückgab, nahm er mich nur wortlos in den Arm. Er war unfähig etwas zu sagen, drückte mir die Übersetzungen einfach in die Hand, drehte sich um und ging. Etwas dass ich von meinem hartgesottenen Freund nie erwartet hätte.

Heute war ich Rudi dankbar für diesen kostbaren Schatz. Damals hätte ich ihm am liebsten den Hals deswegen umgedreht, weil er sich immer in meine Angelegenheiten einmischen musste.

Alleine der nur fünf Zentimeter große und rosafarbene Donald Duck, mit seiner kleinen Schubkarre, weckte ein wunderschönes Gefühl in mir. Der sich durch ein Gewicht bewegende Donald, konnte über den Tisch laufen. Dieses kleine Plastespielzeug brachte mich in meiner Kindheit, nicht nur einmal zum Lachen und hatte mich damals regelrecht fasziniert. Lange versuchte ich herauszufinden, wieso er laufen konnte. Fast hätte ich ihn damals kaputt gemacht, weil ich ihn untersucht hatte. Zum Glück kam mein Großvater noch rechtzeitig ins Zimmer und nahm mir den Donald weg. Schließlich ließ er von einem Freund aus Holz einen Donald nachbauen, während ich in der Schule war und konnte mir so erklären, warum der kleine Kerl laufen konnte. Oft habe ich während meiner Schulzeit, von diesem Donald Duck geträumt und mir vorgestellt, ich würde in seiner Schubkarre sitzen und er würde mich weit weg bringen, von all dem Hass und dem Leid. Wie oft hatte ich mich nachts im Bett liegend, in meinen Schlaf geweint. Da half mir eben dieser Donald Duck, immer beim Runterfahren. Er schaffte mich, ins Land meiner Träume und meiner Fantasie, in dem ich mit Herr Bär und Donald Duck ein Abenteuer nach dem Anderen in den Drachenbergen erlebte. Den Geschichten, die ich heute meinen Enkeln erzähle und schon meinen Kindern erzählt habe.

Die Tagebücher, meines Großvaters, waren allerdings nicht mit Gold zu aufzuwiegen. Nach und nach hatte ich sie jetzt in den letzten Tagen, alle gelesen. Sie ermöglichen es mir, viele Dinge die damals geschehen waren, auch aus der Sicht meines Großvaters zu sehen und zu erzählen. Erinnerungen, von denen ich bis heute noch nichts wusste, weil sie nur mein Großvater erlebt hatte. Aber auch solche Geschehnisse, die wieder wachgerufen wurden, die ich schon längst vergessen hatte. Nicht weil sie bedeutungslos waren, sondern weil sie durch die vielen schlimmeren Ereignisse in meiner Kindheit überlagert wurden. Erlebnisse die viel gravierender waren, als die Lappalien, die mein Großvater durch mich, durchleben musste. Nur durch diese Tagebücher, wurden diese Erinnerungen wieder geweckt. Gut war, das denn es sind Erinnerungen, die zwar nicht schön sind, aber die mich nie wirklich belastet hatten. Sie erinnerten mich an eine schöne Zeit in meinem Leben, die bei meinem Großvater und meine Großmutter.

So verhielt es sich auch mit dem nachfolgenden Erlebnis, an die ich schon lange nicht mehr gedacht hatte.

*

Es ging turbulent in der Wohnung der Familie Krause zu. Das war etwas Ungewöhnliches, denn selten hörte man in dieser Wohnung ein lautes Wort. Natürlich wurde ab und zu einmal laut geschimpft. Meistens war es Klara, die schimpfen konnte wie ein Rohrspatz, wenn wieder einmal der Offen nicht angehen wollte oder irgendetwas nicht so funktionierte, wie es sich die Hausfrau und Mutter vorstellte. Streit in dem Sinne, kannte man bei den Krauses nicht. Meistens hörte man aus der Wohnung, nur das Singen der Hausfrau. Die Familie galt als ein sehr nettes und vor allem ruhiges und schon älteres Ehepaar, die eine Tochter von achtunddreißig Jahren und einen Nachkömmling von fünfzehn Jahren hatten. Beide Kinder waren höflich und zuvorkommend erzogen und es gab niemals Klagen. So ein Geschrei wie heute, hatte man bis jetzt, noch nie gehört. Niemals klang auch nur ein böses Wort aus der Wohnung, schon gar nicht, dass man sich auf diese Art und Weise anschrie. Die Hausbewohner waren schockiert und fassungslos, über dieses Ereignis, um das alles verstehen zu können, musste man sich die Familie allerding etwas näher ansehen.

*

Charly, das Oberhaupt der Familie, war ein Charmeur, ein Gentleman, der durch seine angenehme Art mit Menschen zu sprechen, jeden faszinierte und in seinen Bann zog. Daran war nicht nur seine dunkle und warme Stimme schuld, und sein eigenwilliger Akzent, sondern vor allem seinen tiefschwarzen Augen, die sich in jedes Herz einschlichen. Der Hauptgrund lag allerdings in seiner liebenswürde Art auf Menschen einzugehen, die dazu führte, dass ihn jeder mochte.

Seine Frau Klara dagegen, war eine ganz ruhige und eher unauffällige Person, die stets aus dem Hintergrund agierte. Das auffälligste an ihr, waren das volle weiße Haar, das akkurat in Wasserwellen gelegt war und ihre wunderschönen blauen Augen, in denen man bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnte. Sie strahlten so viel Lebensfreude und Wärme aus, wie man es in dieser Generation nur selten sah. Ihre Augen erinnerten an einen klaren Bergsee, in dem sich der blaue Himmel spiegelte. Klara, die eigentlich Klarissa hieß, hatte eine glockenklare Stimme, der man gern zuhörte, wenn sie bei der Arbeit sang und deren Repertoire an Liedern schien unerschöpflich zu sein. Selten hörte man ein Lied, dass sie sang, zweimal am gleichen Tag. Ihr Singen oder Summen wurde nur unterbrochen, wenn etwas nicht so funktionierte, wie sie das wollte. Dann konnte die kleine fast zierliche zu nennende Person, die nur hundertvierundfünfzig Zentimeter maß und frauliche Rundungen besaß, weit über sich hinauswachsen und fluchen, wie ein wütender Maurer.

Das Ehepaar galt bei allen, als hilfsbereit und zuverlässig. Charly und Klara Krause lebten seit 1942 in diesem Wohnhaus, das in einem gutbürgerlichen Stadtteil, der Stadt Gera lag. In dieser etwas gehoberen Wohnlage, lebten durch die Reihe weg, Angestellte der Keramischen Werke, der Webereien, anderer großen Firmen oder der umgebenen Bergbaubetriebe der Stadt. Keiner der kleinen Arbeiter, konnte sich diese Wohngegen leisten, dazu waren die Mieten hier viel zu teuer. Hier lebte der Mittelstand, meistens die etwas besser verdienenden Meister oder Vorarbeiter. Dadurch ging es in diesen Wohnanlagen und Mietshäusern des Viertels, gesittet zu und man lebte hier sehr ruhig.

Carlos Krause, der von allen nur Charly gerufen wurde, gehörte zu eben diesen Kreis der Angestellten, die eine solche Wohnung ihr Eigen nannten. Der bereits vierundachtzig Jahre alte Rentner, war im Arbeitsleben, wie auch in seiner Freizeit, immer noch sehr aktiv. Sein Alter sah man ihm nicht an. Begegnete man Charly auf der Straße, hätte man den stets gut gekleideten Rentner, auf sechzig oder fünfundsechzig Jahre geschätzt. Der leidenschaftliche Sportler, der im Turnen und Boxen immer noch aktiv trainierte, war ein athletischer Mann von nur hundertdreiundsechzig Zentimeter und fünfundsechzig Kilo. Jeden Morgen, lief er den sechs Kilometer langen Weg, zu seiner Arbeitsstelle hin und nachmittags auch wieder zurück. Obwohl unweit, von seiner Wohnung, die Straßenbahnen fuhren. Charly war Feuerwehrmann mit Herz und Seele und arbeitete in der Betriebseigenen Feuerwehr als Einsatzleiter. In seiner Freizeit dagegen, war er einer der obersten Hallenwarte der Sportanlage Pandorf-Halle. Hauptverantwortlicher für die Sicherheit, Instandhaltung und Säuberung sämtlicher Sportstätten, rund um die Pandorf-Hallen. Sämtliche anfallenden organisatorischen Arbeiten und alle Mitarbeiter mussten von dem agilen Rentner unter einen Hut gebracht werden. Die dieser mit einem gut durchorganisierten Tagesablauf stets zur Zufriedenheit aller erledigte. Oft fragten sich seine Kollegen von der Feuerwehr, wie auch des Hausmeisterteams der Sportstätte, wie der alte Herr das immer noch schaffte. Sprach man ihm darauf an, bekam man von dem weißhaarigen und immer braungebrannten Rentner zur Antwort.

„Organisation ist das halbe Leben und erleichtert die Arbeit. Dazu ein Schuss Disziplin, schon passt das alles.“

Die Tatsache, dass er beide Arbeiten sehr gut koordinieren und miteinander verbinden konnte, trug auch zu dazu bei, dass Charly die Doppelbelastung gar nicht belastete. Dadurch, dass Charly wirklich gern arbeitete, fiel ihm dies auch gar nicht schwer. Außerdem, arbeitete er bedingt durch sein hohes Alter, nur halbtagst auf beiden Stellen, sodass er eigentlich eine ganz normale Arbeitswoche hatte. Seine Art Menschen zu führen, ohne Druck auf diese auszuüben, erleichterte ihn seine Arbeit ungemein. Dadurch, dass die meisten Mitarbeiter, den alten Herren mochten und gern mit ihm zusammenarbeiteten, konnte dieser Verantwortung abgeben und sich auf seine Leute auch verlassen.

Dadurch, dass Charly als verschwiegen galt, konnte man ihn ohne Bedenken auch privat einmal um Rat fragen. Durch seine große Lebenserfahrung, sein hohes Alter brachte diese mit sich, wusste Charly fast immer Rat, egal um welches Problem es sich handelte. Wusste er einmal keinen Rat, verfiel er ins Grübeln und suchte gezielt nach Lösungen. Dadurch half er seinem Gegenüber, wenigstens einen Ansatz finden, das jeweilige Problem zu lösen. Vor allem fasste Charly stets dort an, wo Not am Mann war. Die Krauses waren bekannt dafür, mit wenigen zufrieden zu sein und das machte sie sympathisch.

Dass sah man auch an der Wohnung der Krauses, die schon lange Zeit, viel zu klein für die dreiköpfige Familie war. Aber man behielt diese, da ein Umzug für die beiden Rentner nicht wirklich in Frage kam. Zum Anderen war Wohnraum in Debschwitz sehr knapp und in eine dieser Satellitenstädte, wollte das Ehepaar nicht ziehen. Der Grund, dass das Rentner Ehepaar darüber nachdachte, war Jo. Wegen ihm hatten sie diesen Schritt, eventuell in eine etwas größere Wohnung ziehen, in Erwägung gezogen. Jo allerdings war nicht mehr oft zu Hause. Der nun schon fünfzehn Jahre alte Bub schlief immer noch im Schlafzimmer der beiden, sein Bett stand am Fußende des Ehebettes. Da die Krauses nur in einer Zweiraumwohnung wohnten und Jo, dadurch kein eigenes Zimmer hatte.

Jo Krause, war ein unkomplizierter junger Mann, der genau wusste, was er wollte und was nicht. Er beruhigte die Beiden immer wieder, dass ihm dies nicht stören würde und es ja nur eine Frage der Zeit wäre, bis er gänzlich die Wohnung verließ. Die wenigen Tage, die er in seinem Urlaub von der Lehrausbildung noch zu Hause schlafen würde, störte ihn diese Tatsache nicht. So blieb man dort wohnen, wo man schon seit dreiundzwanzig Jahren wohnte. Man war hier glücklich.

*

Wütend stand Charly an den Rahmen der Wohnzimmertür gelehnt und raufte sich seine Haare. Er konnte nicht fassen, was er hier zu hören bekam. Er sah abwechselnd seine Frau, seine Tochter und dann seine Enkeltochter an.

Die Letztere hatte sich ängstlich in die äußerste Ecke des Kanapees zurückgezogen. Die Kleine saß mit ihren Ärmchen, die Beine umschlingend da und sah ängstlich auf die Frau, die sich ihre Mutter nannte und ihren Großvater, den liebsten Menschen, den sie überhaupt kannte. Beide stritten sich so heftig, wie es das kleine Mädchen noch nie erlebt hatte. Sie hatte schon einige Dummheiten gemacht und der Opa war schon einige Male richtig böse mit ihr gewesen. Aber so böse wie heute, war er noch nie geworden. Vorhin hätte er dieser Frau fast eine Ohrfeige gegeben. Er stand schon mit erhobener Hand da und konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. Noch nie hatte Opa sie geschlagen oder nur versucht es zu tun. Noch nie hatte er sie so angebrüllt. Immer hatte er ruhig und in einem sachlichen Ton mit ihr über die Fehler gesprochen, die sie gemacht hatte.

Das, was hier im Moment geschah, machte dem Mädchen Angst und sie konnte es einfach nicht begreifen. So war ihr Großvater noch nie gewesen. Sie begriff einfach nicht, warum die Beiden sich so heftig stritten. Nur eins wurde ihr mit jedem Wort klarer, dass sie wieder einmal der Grund des Streites war. Wie so oft, stritten der Großvater und die Großmutter sich mit dieser Frau, wegen ihr. Aber sie hatte gar nichts gemacht, da war sie sich ganz sicher. Außerdem, was war so schlimm daran, dass sie in diese Schule gehen sollte? Es war egal, ob sie hier oder wo anders in die Schule gehen musste. Diese Frau würde sie so oder so, nicht haben wollen und sie mochte diese Frau sowieso nicht. Von daher spielte das wo, gar keine Rolle. Irgendwie freute sich die Kleine sogar darauf, in die Schule zu kommen, dann konnte sie, wie Jo auch Briefe und Karten an die Großeltern schreiben.

Charlotte fing an, am ganzen Körper zu zittern, solche Angst hatte sie. In dem sie sich klein machte und ihre Beine umklammerte, hoffte sie, dass sie die Frau nicht sah. Immer wieder einmal schielte zu den Erwachsenen hoch. Schließlich legte sie ihren Kopf auf ihre Knie und begann ganz still vor sich hin zu weinen. Sie wollte nicht, dass der Opa, wegen ihr, so böse wurde. Dann ging es ihm hinterher wieder nicht gut. Diese Frau, war ihr egal, sie mochte die sowieso nie leiden. Den Opa mochte sie allerdings sehr, ihm sollte es nicht schlecht gehen.

Es war nicht nur die laute Stimme, die das Mädchen dermaßen irritierte und verängstigte. Sondern es waren die Augen des Großvaters, die ihr solch eine Angst einjagten, dass sie anfangen musste zu weinen. So hatte sie ihn noch nie gesehen.

Mit einem Blick, der hätte töten können, sah Charly seine Tochter an. Er konnte absolut nicht glauben, was sein eigen Fleisch und Blut, da von sich gab und vor allem tat. Hatte er wirklich in der Erziehung seiner einzigen Tochter, so versagt? Wo hatte Gitta ihr Herz gelassen? Wann hatte sie ihr Herz verloren? Sein kleines Mädchen, das er immer so geliebt hatte, weil sie eben so ein gutes und großes Herz besaß. Wo war dieses kleine Mädchen geblieben? Wieso und wann wurde aus den wunderschönen blauen Augen, ein solcher eisigkalter Blick? Verzweifelt fuhr Charly sich immer wieder durch die Haare und starrte seine Tochter jetzt sogar hasserfüllt an. Die ihre Tochter einfach verkaufen wollte oder verschenken. Er verstand sie nicht.

„Kind, das ist nicht dein Ernst, was du da sagst, oder? Bist du dir darüber im Klaren, was das für deine Tochter bedeutet?", wandte er sich eindringlich an Margitta und zwang sich leise zum Sprechen. Er wollte seine Enkelin nicht noch mehr verschrecken. Trotzdem musste er Gitta, ihr unmögliches Verhalten vor Augen führen und vor allem, die damit verbundenen Konsequenzen ihres Handelns. Er war der festen Überzeugung, dass seine Tochter darüber noch gar nicht nachgedacht hatte. Die Antwort die er bekam, schockierte ihn noch mehr, als das bisher gesagte. Vor allem bekam er von seiner Tochter, nur ein hämisches Grinsen, als Reaktion und einen Satz, der ihn noch mehr in Rage brachte.

„Es ist mir völlig egal, was aus diesem Bastard wird“, ohne jegliche Emotionen, sprach seine Tochter diesen Satz. Sie meinte genau das, was sie sagte.

Charly sah verzweifelt zu seiner Frau, die wie so oft, wenn es um die Enkeltochter ging, absolut nichts sagte. Sie saß wie immer schweigend da.

"Verdammt nochmal Klara, sage bitte auch einmal etwas. Es geht auch um deine Enkeltochter, die gehandelt werden soll wie Vieh. Die man einfach beiseiteschiebt, als wäre sie ein störendes Möbelstück. Die man in die Hölle schicken will. Bitte Klara“, flehentlich blickte er seine Frau an.

Charly bat sie zum wiederholten Male, um ihre Meinung. Seine Frau rührte sich nicht und starrte in ihre Kaffeetasse, unfähig auch nur ein Wort zu sagen. Sie schämte sich für ihre Tochter. Schamröte stieg der alten Dame ins Gesicht, als sie hoch zu ihrem Mann sah. Kaum hörbar flüsterte sie, nur für ihn bestimmt.

„Charly, was soll ich deiner Meinung nach, dazu sagen? So schlimm wird es da schon nicht werden. Bitte rege dich nicht so auf, das tut dir doch nicht gut. Überlege bitte einmal, Gitta ist achtunddreißig Jahre alt, sie weiß genau, was sie tut. Da können wir uns nicht ständig reinhängen. Außerdem können wir nicht auch noch Charlotte großziehen. Charly, ich schaffe das wirklich nicht mehr. Bitte, du musst das verstehen. Ich bin keine dreißig mehr“, scheu blickte sie zu ihrer Tochter, die sie so innig liebte und die sie nicht auch noch verlieren wollte.

Die sie allerdings absolut nicht mehr verstehen konnte.

*

Oft fragte sich Klara in den letzten fünfzehn Jahren, was eigentlich falsch gelaufen war. Warum aus Gitta, so ein eiskaltes Luder geworden war. Ihre Gedanken wanderten zurück in eine Zeit, als sie mit ihrer Tochter noch klar kam und diese noch verstehen konnte.

Vor ungefähr achtzehn Jahren war die Welt, für die heute Achtundsiebzigjährige Hausfrau, Mutter und Rentnerin, noch in bester Ordnung. Glücklich war sie mit ihrem Charly, den sie innig liebte und mit ihrer Tochter. Wie waren alle Drei froh, den Krieg überlebt zu haben und man wollte ein neues, vor allem besseres Leben anfangen. Glücklich darüber, dass es nun vorbei war mit der Not, begann man die Trümmer wegzuräumen. Schuf damit wieder eine Zukunft für sich und das Kind. Die ersten Jahre waren hart, es gab kaum Kohle zum Heizen, auch das Essen war mehr als knapp. Sie nähten sich aus alten Decken Mäntel, um über den harte Nachkriegswinter zu kommen. Trotzdem war es schön damals, so friedlich und ruhig.

Die Zeit des Krieges war hart und man war froh, dass man nicht in eins dieser Lager musste. Dadurch, dass Charly schon viele Jahrzehnte bei der Feuerwehr an leitender Position war, wollte man nicht auf sein Wissen verzichten und er wurde weiter als Leiter der Feuerwehr geduldet. Obwohl sein Status als Arier nicht rein war und er sich vehement weigerte, in die Nazi-Partei einzutreten. Man akzeptierte ihn einfach, wegen seiner Art und vor allem seines ungeheuren Wissens.

Charly war ein gebürtiger Franzose. Er war damals mit seinen Eltern in einem Wohnwagen hier nach Gera gekommen, um zu überwintern. Und war, weil er sich in Klara verliebte, einfach hier blieb. Charlies Vater war Zigeuner und Schausteller, genau wie sein Sohn. Ihr Schwiegervater brach den Kontakt zu seinem Sohn vollkommen ab, als er sich dazu entschied, eine Deutsche zur Frau zu nehmen. Charly hatte seine Entscheidung niemals bereut. So viel Leid hatten sie überstanden, nun schon den zweiten Krieg durchlebt und waren froh, beide Kriege überlebt zu haben. Auch bei ihnen forderte der letzte Krieg schlimme Opfer. Drei der vier Kinder, von Klara und Charly, starben während des Krieges am Typhus. Deshalb waren sie froh, dass wenigstens Margitta überlebt hatte. Es waren schlimme und schwere Zeiten gewesen.

Umso stolzer waren sie auf ihre Margitta, als diese gleich nach dem Kriegsende, im September 1945, mit noch nicht einmal ganz zwanzig Jahren, anfing als Neulehrer zu arbeiten. Ach, wie musste ihre Tochter damals schuften, um das Studium, was sie neben ihrer Tätigkeit als Lehrerin, bewältigte, mit guten Leistungen abzuschließen. Wie glücklich waren Klara und Charly, als sie all ihre Prüfungen mit ausgezeichneten Noten bestand. Sie bekam sogar eine Auszeichnung, als Beste ihres Seminars. Kurz nach Beendigung des Studiums, begann der Kummer mit Gitta!

Von einer Weiterbildung, während der Herbstferien 1948, kam Gitta schwanger zurück. Sie hatte sich einfach mit einem verheirateten Mann eingelassen und sich ungeschützt, ihrem Spaß hingegeben.

Mein Gott hatte sich Klara geschämt für ihre Tochter. Wie lange hatten sie diskutiert, bis Gitta eine Idee hatte. Ein uneheliches Kind, das kam für Gitta nicht infrage. So kaschierte man den Umstand ihrer Tochter, so gut es ging. Im gleichen Atemzug tat Klara so, als wenn sie noch ein Kind bekäme. Die Leute tratschten zwar auch darüber, dass sie ihn ihrem Alter noch ein Kind bekam, aber besser so, als die Schande eines unehelichen Kindes. Darüber waren sich Mutter und Tochter einig. In den Ferien gebar ihre Tochter ganz heimlich das Kind, das Klara dann als, dass Ihrige ausgab. Die Hebamme, die ihnen als Betreuung zur Seite stand, würde niemals etwas verraten.

Für Gitta war die leidliche Angelegenheit, mit der Geburt des Jungen erledigt. Nicht einmal angesehen hatte sie den Buben. Die ganzen Jahre hatte sie sich nicht einmal um den kleinen Jo gekümmert. Dabei war das ein solch süßer Fratz, so unheimlich klug und so verständlich. Nie gab es Ärger mit ihm. Nun war er schon fünfzehn Jahre und machte seine Ausbildung als Schiffsmaschinisten. Er ähnelte vom Aussehen, so sehr seiner Mutter, die gleichen goldblonden Haare und diese wunderschönen himmelblauen Augen. Allerdings hatte er ein liebes Gemüt und ein reines Herz.  

Seit der Geburt von Jo, war das Verhältnis zu Gitta gestört. Sie kam zwar ab und zu einmal zu Besuch. Aber nie hörten die Eltern, ein Wort des Dankes oder dass Gitta Anstalten machte, nur ein einziges Mal mit ihrem Sohn etwas zu unternehmen. Jo fragte so oft, warum sie ihn nicht mochte. Wenn die Sprache auf dieses Thema kam, sagte Gitta immer genervt:

„Was wollt ihr denn von mir? Es ist euer Kind und nicht meines. Außerdem habe ich den ganzen Tag Kinder um mich herum. Ich brauche diese Quälgeister nicht noch nach Feierabend“, stets sah sie ihre Eltern dabei böse an.

Schon damals verstanden sie die Verwandlung ihrer Tochter nicht. Kein Mensch hatte sie dazu gezwungen. Von Gitta ging der Vorschlag aus, dass ihre Mutter das Kind als das Ihrige ausgeben sollte. Wie lange hatte sich Klara dagegen gewehrt und dann aber zugestimmt, um den Ruf ihrer Tochter zu wahren.

Vor sieben Jahren lernte Gitta dann Maximilian Dybas kennen. Ein Gentleman durch und durch, dachte Klara am Anfang. Vor allem, sah er umwerfend aus. Maximilian, der von allen nur Max gerufen wurde, war hilfsbereit und rücksichtsvoll. Ein Lächeln huschte über Klaras Gesicht. Verstehen konnte sie ihre Tochter schon. Ein Mann wie aus dem Bilderbuch, war der Max. Mit seinen hundertzweiundneunzig Zentimeter und den breiten Schulter, war er nicht zu dünn, aber auch nicht zu dick, mit fünfundneunzig Kilo. Muskulös und gut durchtrainiert, hatte er schon etwas Ähnlichkeit mit ihrem Charly, nur dass Max durch seine Größe wesentlich stattlicher wirkte. Vor allem war es ein sehr kluger Kopf, mit dem man sich gut unterhalten konnte. Schwarze gewellte Haare, mit Silberfäden durchzogen, genauso dunkle schwarze große Augen und war ein Mannsbild, das das Herz einer jeden Schwiegermutter höher schlagen ließ. Da konnte eine Frau nur schwach werden. Die elf Jahre, die er älter als Gitta war, sah man ihm nicht an. Die Tatsache, dass er schon zweimal geschieden war, aus einer dieser Ehen sogar zwei Kinder hervorgingen, war sein einziger Makel. Aber viele der Ehen waren in den Nachkriegsjahren kaputt gegangen. Irgendwo konnte man das verstehen und zum Teil nachvollziehen. In Gesprächen mit ihrem Schwiegersohn, die sich um Scheidung drehten, verstand sie Max sogar. Sie wollte nur sicher gehen das ihre Gitta glücklich wurde.

Akribisch beobachtete Klara diese Beziehung. Was hätten sie auch anderes machen sollen? Ihre Gitta war endlich glücklich, nur das zählte.

Kein Jahr nach der Hochzeit, kam dann ein weiteres Kind zur Welt. Wie groß war die Enttäuschung auf Seiten der Eltern, dass es kein Junge war. Mit einem Mädchen wollten sie sich nicht abfinden. Als ob das Geschlecht wichtig gewesen war. Gitta hatte doch schon einen Sohn und dieser könnte endlich in seiner richtigen Familie leben. Eine Tochter würde das Familienglück vollkommen machen, so die Meinung von Clara. Die Kleine war so süß, sahen sie das denn nicht? Wie konnte ihre Tochter und den Schwiegersohn das einfach ignorieren. Wenn man keine Kinder haben wollte, musste man sich schützen. Es gab heutzutage so viele Möglichkeiten.

Charly und sie, hatten sie sich so über die kleine Charlotte gefreut, rabenschwarzes Haar und genauso dunklen schwarzen Augen, wie der Papa und der Opa. Es war ein ausgesprochen hübsches Kind, so zierlich von der Gestalt. Sie kam ganz nach ihrem Großvater, ging es Klara durch den Kopf. Die Kleine war das komplette Gegenteil von ihrem Bruder, der schon immer groß und kräftig von seiner Statur war. Bereits jetzt, mit seinen gerade einmal fünfzehn Jahren, einhundert neunzig Zentimeter maß und gute achtundneunzig Kilo, auf die Waage brachte. Als dick konnte man Jo allerdings nicht bezeichnen.

Nach der Geburt des Mädchens, veränderte sich Gitta völlig zu ihren Ungunsten. Schon vier Wochen nach der Entbindung, schob sie die Kleine ab und gab sie in eine Wochenkrippe. Wenn sie als Großmutter für die Kleine Partei ergriff und darauf hinwiesen, dass es nicht richtig wäre, das kleine Mädchen ständig in fremde Hände zu geben, fing Gitta an zu lachen. Behauptete anfangs immer, dass sie sehr wohl viel Zeit mit ihr verbringen würden. Als die Wahrheit dann ans Tageslicht kam, sah Gitta ihre Mutter hämisch grinsend an.

"Zieht ihr sie doch groß. Wenn ihr so scharf, auf das Balg seid. Dann bin ich dieses nutzlose Ding endlich los. Nur Ärger und Stress habe ich mit dieser Kröte."

Auf diese Weise schob sie die Verantwortung, für das kleine Mädchen immer weiter von sich weg und anderen zu. Wie sie heute wussten, holten sie Ihre Tochter nur sehr selten aus der Betreuungsstätte. Die letzten vier Jahre holte Gitta ihre Tochter gar nicht mehr ab. Sodass die Großeltern ihre Enkeltochter seit über einem Jahr, montags in die Einrichtung brachten und freitags wieder zu sich holten. Einfach, weil ihnen das Mädchen leid tat.

Wenn Klara ehrlich zu sich selber war, wurde ihr das langsam alles zu viel. Charly feierte vorige Woche seinen vierundachtzigsten Geburtstag. Verdienten sie sich nicht auch endlich einmal etwas Ruhe. Ihr Charlottchen, war zwar ein ausgesprochen ruhiges Kind und beschäftigte sich viel alleine und machte dadurch wirklich wenige Arbeit. Trotz alledem, fühlte Klara sich mit der Erziehung des Mädchens überfordert. Sie wurde einfach zu alt für so ein kleines Kind. Sie hatten auch noch Jo, der zwar schon groß, aber auch noch nicht erwachsen war. Sie schaffte es einfach nicht mehr, auch noch Charlotte großzuziehen.

Deshalb sprach sie, vor reichlichen sechs Monaten mit Gitta, bat ihre Tochter, eine andere Lösung zu finden. Eine, wo Charlotte nicht ständig, bei ihnen bleiben musste. Auf Dauer war das einfach nicht mehr möglich. Weder für Charly, aber erst recht nicht für sie. Dass sie damit ihrem kleinen Liebling, so ein Leid zufügen würde, konnte sie nicht ahnen. Für so herzlos hatte sie ihre Tochter nicht gehalten.

Was war Gitta nur für ein Mensch geworden? Sie verstand ihre Tochter einfach nicht mehr. Wütend verließ ihre Tochter damals, nach dem Gespräch mit ihrer Mutter, die elterliche Wohnung und hatte sich fast fünf Monate nicht mehr blicken lassen.

Heute kam Gitta endlich wieder einmal zu Besuch. Ach, wie hatte sich Klara darüber gefreut. Aber ihre Tochter kam kurz vorbei, um den Großeltern mitzuteilen, dass Charlotte ab dem 1.September auf eine Kadettenschule gehen würde. Die Großeltern sich also nicht mehr, um das Balg zu kümmern bräuchten. Sie, Gitta, habe nach vielen Suchen und mit viel Mühe, diese, für alle optimale Möglichkeit gefunden. Ohne lange Vorrede fiel ihre Tochter mit der Tür ins Haus. Sie störte es auch nicht, dass ihre Tochter in der Ecke des Kanapees saß und alles mit anhören musste. Nicht einmal begrüßt, hatte sie ihre kleine Tochter. Tat so, als ob diese gar nicht existieren würde.

*

Fassungslos sahen Charly und seine Frau, die Tochter an. Die beiden alten Herrschaften konnten nicht glauben, was Gitta ihnen mitteilte. Vor allem in welch einem emotionslosen Ton, sie das alles erzählte. Auf eine Schule in der Nähe von Moskau, sollte die Kleine gehen. Über tausende Kilometer von Zuhause entfernt, ohne jemanden in der Nähe, den sie kannte. Die Kleine war noch nicht einmal sechs Jahre alt. Auf dieser Schule würde sie das ganze erste Jahr bleiben müssen. Ohne die Möglichkeit, Besuch zu bekommen und ohne ein bekanntes Gesicht und vor allem ohne ihre Großeltern.

Erst im darauf folgenden Sommer würde sie für zwei Wochen nach Hause kommen. Ab dem zweiten Jahr käme Charlotte dann regelmäßig für drei Wochen im Jahr nach Hause, eine Woche im Januar und zwei Wochen im August. Das würden sie, die Großeltern, dann schon irgendwie verkraften. So hätten Gitta und ihr Mann, das ganze Jahr Ruhe vor diesem nutzlosen Bastard. Aber auch die Großeltern hätten dann endlich die Ruhe, die sie sich so sehr wünschten. Das wollten sie doch, sie sollen jetzt nicht so erschrocken tun.

Gitta müsse allerdings in der Kadettenschule angeben, wo Charlotte in den Ferien bliebe und wer sie abholen würde. In diesen drei Wochen wäre die Schule geschlossen und diese Göre könne also nicht dort bleiben. Bei ihrem Mann und ihr ginge es auch nicht. Deshalb wollte Gitta von ihnen nur wissen, ob die Möglichkeit bestände, dass die Großeltern sich in den drei Wochen um dieses Balg, so Gittas Formulierung, kümmern könnten.

Was für eine Frage, natürlich würden sie das tun. Auf die Frage, warum Gitta die Kleine in den Ferien nicht nehmen wollte, beziehungsweise könnte, kam die Antwort:

„Wie denn Mutter? Im Januar ist noch Schule und im August habe ich immer Schulungen. Die kommt so blöd in die Ferien, da habe ich gar keine Möglichkeit die zu betreuen. Selbst wenn ich das wollte und sie in den Ferien kommen würde, ginge das nicht. Da bin ich mit Max im Urlaub. Mutter glaubst du wirklich, dass wir, Max und ich, dieses undankbare Ding mit in den Urlaub nehmen? Ständig ist die am Quengeln, die will doch gar nicht zu mir. Seht euch diesen Bastard dort an. Wie sie in der Ecke sitzt und heult. Jetzt schaut sie mich an, als hätte sie nicht alle Tassen im Schrank. Hast du sie schon ein Wort reden hören, mit mir? Wenn ich sie mal irgendwo mit hinnehme, blamiert die mich stets bis auf die Knochen. So ist die immer, wenn sie bei uns ist. So etwas brauche ich nicht, schon gar nicht im Urlaub. Ich hasse dieses Balg“, erklärte Gitta ihren Eltern.

*

Fassungslos sah der Vater immer noch auf seine Tochter, schüttelte ungläubig den Kopf. Immer wieder raufte sich der Rentner die Haare und musste sich dazu zwingen, nicht Dinge zu tun, die er am liebsten mit seiner Tochter machen würde. Wenn es nach ihm ginge, würde er seine Tochter nach Strich und Faden verprügeln, damit diese, endlich wieder ihr Gehirn wiederfand und es vor allem einschalten konnte. Dies konnte er allerdings nicht tun. Charly hatte sehr wohl den Blick seiner Enkelin gesehen, als ihm vorhin die Hand fast ausgerutscht wäre. Panische Angst stand in Charlottes Augen geschrieben. Noch nie in seinem Leben, hatte er seine Kinder geschlagen, aber dass was Gitta hier tat, war so ungezogen, dass er sich fast vergessen hätte. So hatte er seine Tochter nicht erzogen, so nicht.

„Gitta, so kannst du doch nicht über deine Tochter sprechen“, ermahnte sie der Vater. Charly erkannte seine Tochter, gar nicht mehr wieder. Diese menschenverachtenden Worte und dieses asozial Verhalten seiner Tochter, konnte er einfach nicht begreifen.

Tagtäglich hatte seine Tochter mit Kindern zu tun. Dabei waren auch einige, aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. Stets äußerten sich deren Eltern nur lobend über seine Tochter. Die Kinder liebten ihre Frau Dybas. Alle waren eindeutig der Meinung, dass er sehr stolz auf seine Tochter sein konnte. Sie sei eine so herzensgute Lehrerin, so ein Glück hätten nicht alle Kinder. Wieso sprach sie aber, in solchen abwertenden Worten, über ihr eigen Fleisch und Blut. Kopfschüttelnd stand der Vater, vor seiner Tochter. Charly starrte diese, mit zu Fäusten geballten Händen, ungläubig an.  

„Schande über dich, Gitta. Du bist nicht mehr unsere Tochter. Raus hier, ich will dich nicht mehr sehen. So haben wir dich nicht erzogen. Verlasse sofort unsere Wohnung“, wütend sah Charly seine Tochter an. Er konnte deren Anblick einfach nicht mehr länger ertragen. "Wir wollen dich hier nicht mehr sehen, bevor du dich bei Charlotte nicht entschuldigt hast."

Jetzt war es an Gitta, die ihren Vater ungläubig anstarrte. „Du schmeißt mich einfach raus? Dein eigenes Kind? Vater, das ist nicht dein Ernst? Du ziehst dieses Balg, deiner Tochter vor? Ich glaube es einfach nicht", verständnislos, sich keiner Schuld bewusst, musterte sie ihren Vater.

„Ja Gitta, weil dieses Kind, auch deine Tochter ist. Sie ist dein eigen Fleisch und Blut. Aber sie ist auch ein Teil von uns. Sie hat genau wie du, ein Recht auf Familie. Genauso, wie jedes andere Kind deiner Schule. Wieso hast du für fremde Kinder ein größeres Herz und mehr Liebe über, als für deine eigenen Kinder. Es liegt nicht daran, dass es kein Junge ist. Denn Jo gegenüber bist du genauso hartherzig. Du sprichst über deine Kinder, wie über Dreck. Schämst du dich eigentlich gar nicht?"

Ein überhebliches Lächeln, zog über Gittas Gesicht. Böse blickte sie ihre Eltern an. „Recht? Wenn wir gerade einmal über Recht sprechen. Mit welchem Recht, nimmt sich dieses Balg heraus, mir mein Leben zu zerstören? Du willst sie haben? Ich schenke sie dir! Ich will nicht mal ein Dankeschön dafür haben“, hämisch grinsend, sah sie zu ihren Eltern. Danach mit Hass in den Augen, auf dieses Kind, das leider ihrer Tochter war.

"Ihr könnt sie gern haben. Ich bin froh, wenn ich die los bin. Dann gehört euch das Balg. Aber an der Tatsache, dass die da, auf die Kadettenschule geht, wirst du nichts mehr ändern. Der Vertrag ist unterschrieben, daher ist dieses Balg, ab September Eigentum des Militärs. Der Vertrag, kann durch nichts mehr rückgängig gemacht werden. Da lernt diese Göre wenigstens Benehmen und Disziplin. Ich sage in der Schule Bescheid, dass dieser Bastard zu euch kommt in den Ferien. Seht zu, wie ihr mit dem Balg klarkommt. Mir ist das total egal. Sie ist nicht mehr mein Problem. Wenn ihr mich rausschmeißt, wegen diesem Balg, dann seid ihr selber schuld, wenn ihr eure Tochter auch noch verliert. Ihr habt es euch jetzt selber zuzuschreiben, dass sie in den Ferien an euch hängen bleibt. Ich werde mir bestimmt jetzt keine Mühe mehr geben, eine andere Lösung zu finden. Aber so wird es mir ein Vergnügen sein, diesen Bastard zu euch zu schicken. Das zum Einen und zum Anderen sollte euch eins klar sein, das Sorgerecht und damit das Aufenthaltsbestimmungsrecht über diese undankbare Göre, habe ich als Mutter und nicht ihr. Dieses Recht, werde ich euch auch nicht abtreten. Also findet euch damit ab. Bis 30. August könnt ihr das Balg behalten. Ich schenke euch diese Göre und ihr könnt mit der machen, was ihr wollt. Werdet glücklich mit der. Ab dem 1. September gehört die dem Staat“, wütend ging Gitta zur Tür und knallte diese ins Schloss.

Sie ließ ihre Eltern, aber auch ihre Tochter einfach zurück. Sie sah nicht die entsetzen Augen ihrer Eltern und nicht die Tränen der Drei, die sich auf einmal dem Weg nach draußen bahnten.

*

Klara starrte wie versteinert auf die zugeschlagene Tür. Sie war schockiert, enttäuscht und unglücklich über dieses Gespräch. Aus dieser Erstarrung heraus, fing Charlottes Großmutter plötzlich hemmungslos an zu weinen.

Die erst vor wenigen Wochen fünf Jahre alt gewordene Charlotte stand auf und ging zu ihrer Großmutter. Sie kletterte zu Oma auf den Sessel, dann auf deren Schoss. Die Kleine legte Klara ihre Ärmchen um den Hals und schmuste sich an sie, damit sie ihre Oma trösten konnte. Mit allem kam Charlotte klar, aber nicht damit, dass jemand wegen ihr weinte. Tapfer schluckte sie ihre eigenen Tränen herunter und versuchte zu lächeln.

„Nicht weinen. Ich hab dich doch lieb. Oma, ich wollte nicht, dass Mama wegen mir böse ist“, flüsterte Charlotte ihr ins Ohr. „Sei nicht traurig. Die Mama kommt bestimmt zurück. Das macht sie doch immer“, setzte die Kleine traurig nach und streichelte ihrer Großmutter über das Gesicht.

Charlotte blickte zu ihrer Oma hoch mit Tränen in den Augen. Nur mit Müh und Not, konnte das Mädchen ihre Tränen zurückhalten. Aber sie wollte nicht, dass ihre Oma weint. Sie liebte diese viel zu sehr und gab sich die Schuld, an deren Traurigkeit.

Klara konnte sich nicht so schnell beruhigen. Als Charly auf sie zukam, um sie zu trösten, stand sie wortlos auf, setzte Charlotte einfach auf den Sessel und verließ ebenfalls die Wohnung. Sie musste sich erst einmal beruhigen und wieder zu sich selber finden. Sonst würde sie sich auch noch mit ihrem Mann streiten. Das wollte sie unbedingt verhindern. Denn das hatte sich weder Charly noch Charlotte verdient.

Charly kannte seine Frau nur zu genau und ließ sie erst einmal gehen. Er hatte im Moment ganz andere Sorgen, die einer dringlicheren Lösung bedurften. Das war seine kleine Enkeltochter. In dem Moment als Klara auch noch die Wohnung verließ, fing Charlotte an zu weinen. Der Großvater nahm das kleine Mädchen auf den Arm und setzte sich mit ihr zusammen auf das Kanapee. Mühsam versuchte er sein Enkelchen zu trösten.

Charlotte war am Schluchzen. Die letzten beiden Stunden hatten ihr wieder einmal gezeigt, wie sehr sie von ihrer Mutter gehasst wurde. Sie verstand nur nicht warum. Es brachen die ganzen Tränen aus ihr heraus, die sie immer so mühsam zurück hielt. Wenn andere Mütter ihre Kinder aus der Tagesstätte abholten und sie, wie so oft dort bleiben musste, weil sie keiner haben wollte. Erst seit reichlich einem Jahr, holte sie der Opa von dort ab. Sie hatte nur Opa und Oma und vielleicht noch den Jo. Sie wollte nicht, dass die drei wegen ihr traurig waren. Aber irgendwann konnte auch Charlotte die vielen Tränen nicht mehr zurück halten, sie bahnten sich einfach einen Weg ins Freie. Deshalb liefen jetzt so viele Kummertränen, über das kleine Gesicht. Als wenn der Weggang der Großmutter, einen Damm gebrochen hätte.

„Meine Oma ... jetzt geht … Oma weg ... nur … wegen mir … geht sie weg … Ich bin … ein ganz … böses Mädchen“, schluchzte sie am Hals ihres Großvaters. „Wegen mir … geht sie weg … für immer … weg … und kommt … nimmer … wieder“, der kleine Körper zitterte ganz schlimm und Charlotte konnte sich nicht mehr beruhigen. Immer wieder vom Schluchzen unterbrochen, stammelte die Kleine diese Worte.

Charly brach es das Herz, seine Enkelin so weinen und vor allem so leiden zu sehen. Er konnte sie nur zu gut verstehen. Er schämte sich für seine eigen Fleisch und Blut, die ihrem Kind so ein Leid antat. Dieses erst fünfjährige Kind hatte mehr Herz und Verstand, als seine Tochter. Das Mädchen konnte die Zusammenhänge noch gar nicht alle begreifen und war deshalb ganz durcheinander.

„Hör auf zu weinen, Kleene. Oma kommt bald zurück. Dich trifft keine Schuld, meine Kleene. Weißt du, die Oma muss nur ihre Wut ablaufen. Sonst würden wir uns auch noch zanken. Lass deiner Großmutter Zeit, sich zu beruhigen. Komm Kleene, wir kochen uns eine Knobel“, damit bekam er seine Enkelin bis jetzt immer beruhigt.

Diesmal half es allerdings nicht, dass er ihre Lieblingssuppe, eine Knoblauch-Brotsuppe, kochen wollte. Viel zu durcheinander war sein kleiner Liebling und konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Immer schlimmer weinte sein kleines Mädchen. Charly fing an seiner Enkelin ein Lied zu summen, um sie zu beruhigen. Wie oft hatte er sie damit, in den Schlaf gesummt.

Die Wut in seinem Bauch, auf die Tochter, wurde immer größer. Wie konnte seine Tochter, das dem kleinen Mädchen antun? Vor allem, wie konnte sie ihrer Mutter so weh tun, die immer alles für Gitta getan hatte. Ratlos hielt er seine Enkelin auf dem Arm. Er stand mit dem Mädchen auf dem Arm auf und lief hin und her. Versuchte sich selber und damit das Kind zu beruhigen. Nach über einer Stunde, endlich, begann sich Charlotte wieder etwas zu beruhigen. Die Tränen wurden langsam weniger. Charly setzte sich wieder auf das Kanapee und begann damit seine Enkeltochter hin und her zu schaukeln, um das völlig verstörte Kind, wieder gänzlich zu beruhigen.

Nach zwei Stunden kam endlich auch seine Frau zurück. Völlig verweint sah sie aus, war aber wieder etwas ruhiger. Charly ging auf sie zu, nahm sie einfach in den Arm und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss.

„Verzeih mir bitte Klara. Aber ich kann nicht zulassen, dass Gitta, die Kleine so behandelt“, entschuldigend sah Charly seine Frau an.

Klara wurde an der frischen Luft bewusst, dass ihr Mann richtig handelte. So etwas konnte man Gitta nicht durchgehen lassen. So durfte sie ihre Tochter und ihre Enkelin nicht behandeln. Sie gab ihrem Mann in allem Recht, was er gesagt hatte. Sie selber konnte dem Gespräch gar nicht richtig folgen, sie war von Lottis Verhalten völlig abgelenkt. Hätte sie es gekonnt, dann wäre sie auch in die Luft gegangen und hätte es nicht so lange in Guten versucht. Klara war am Anfang des Gespräches viel zu sehr auf Charlotte fixiert und hatte nur mit einem halben Ohr zugehört, weil sie die Reaktion der Kleinen nicht verstand.

Kaum dass Gitta den Raum betrat, fiel die Kleine völlig in sich zusammen und verkroch sich am ganzen Körper schlotternd, ängstlich in die äußerste Ecke des Kanapees. Da saß sie dann, ängstlich zu den Erwachsenen schauend und verfolgte mit riesigen Augen, das Geschehen. Dann sah Klare nur, wie Charlotte panisch den Kopf einzog und im Seitenblich bekam sie mit, wie Charly die Hand gegen Gitta erhob. Lotte jedoch fiel noch mehr in sich zusammen und schaute panisch zu ihren Großvater. So als wenn sie genau wüsste wie weh, Schläge tun würden. So etwas konnte sie doch gar nicht wissen. In der WoKi die Tanten waren alle lieb. Hatte ihre Gitta die Kleine etwa geschlagen?

Klara war völlig durch den Wind. Vor allem, war es noch nie vorgekommen, dass Charly die Hand gegen Kinder erhoben hatte. Das war völlig untypisch für ihren Mann. Erst beim Laufen wurde ihr der volle Umfang des Gespräches bewusst. Dass auch Charly einmal der Kragen platzte, war nur zu verständlich. Dieses Theater ging nun schon seit sechzehn Jahren so und das Benehmen ihrer Tochter wurde von Mal zu Mal unverschämter.

Klara wollte nicht zulassen, dass Charlotte auf diese Schule ging, sie würde noch einmal in Ruhe mit ihrer Tochter reden. Sie würden Charlotte bei sich aufnehmen. Irgendwie würde sie das schon schaffen. Wenn Charly aufhörte zu arbeiten, dann wäre es auch für sie leichter. Sie konnte und wollte nicht zulassen, dass man Charlotte einfach abschob.

„Charly, bitte hör mir mal zu. Ich habe nachgedacht, als ich an der Elster spazieren ging. Wir nehmen Charlotte zu uns. Es geht nicht anders. Wir werden das schon irgendwie schaffen. Ich rede noch einmal mit Gitta. Die kann die Kleine doch nicht nach Moskau geben“, erklärte sie nach einiger Zeit, in der sie ihr Mann fest in den Armen hielt. Dieser nickte zustimmend, lächelte seine Frau traurig an.

„Klara, ich glaube aber nicht, dass dieses Gespräch noch einen Zweck hat. Du kennst Gitta. Die geht immer auf Nummer sicher, die lässt keine Hintertüren offen. Sei also nicht enttäuscht, wenn es sich nicht mehr ändern lässt. Falls nicht, kommt die Kleine wenigstens in den Ferien zu uns. Dann machen wir es ihr, in den Ferien besonders schön. Oder, was denkst du?“

Klara sah Charly traurig an. Dieser Gedanke war ihr auch schon gekommen. Deshalb stimmte sie Charly jetzt wortlos nickend zu.

Suchend sah sie sich nach Charlotte um.

„Wo steckt mein Mäuschen eigentlich?“, wollte sie von Charlie wissen.

„Ich habe sie ins Bett geschafft. Über eine Stunde habe ich gebraucht, um die Kleine zu beruhigen. Sie dachte, du bist wegen ihr weggegangen und kommst nun auch nicht mehr wieder. Ich habe ewig gebraucht, ehe sie mir geglaubt hat, dass du wieder kommst. Vor allem, dass dein Weggang nichts mit ihr zu tun hat. Sie gab sich die Schuld an dem Streit. Dann ist sie völlig erschöpft in meinen Armen eingeschlafen und hat sich wieder einmal in den Schlaf geweint. Ich hab sie hingelegt, lass sie schlafen, Klara. Aber sehe später einmal vorsichtig nach ihr, ich glaube sie hat Fieber bekommen, von der vielen Aufregung.“

Charly sah seine Frau beruhigend, aber auch besorgt an.

Traurig setzten sich die Eheleute an den Tisch, nach dem man neuen Kaffee gekocht hatte und beratschlagte, wie man nun weiter vorgehen würde. Klara schaute noch einige Male nach Charlotte, die tief und fest schlief. Im Schlaf allerdings immer wieder zu weinen anfing. Auch, weil das Mädchen Fieber hatte. Zum Glück war es nichts Bedenkliches. Jedoch machte sich die Großmutter Sorgen, da sie vermutete, dass dieses Fieber durch die nervliche Belastung kam. Nach zwei Stunden allerdings ließ die Temperatur nach, sodass die beiden Rentner aufatmen konnten. Man ließ die Kleine einfach schlafen, das war ihrer Meinung nach, bei solcher Aufregung, immer noch die beste Medizin.

Lange diskutierten die Beiden, wieso ihre Tochter so gemein, zum eigenen Fleisch und Blut war. Man kam auf kein befriedigendes Ergebnis. So beschlossen Charly und Klara, es des Friedens und der Ruhe willen, so zu belassen, wie es war. Es als nicht änderbar zu akzeptieren, schon um Charlotte weiteren Stress zu ersparen. Das kleine Mädchen tat ihnen nur noch Leid. Kein Kind, so die Meinung der beiden Rentner, hatte sich solch eine Mutter verdient. Dass diese Mutter auch noch ihre Tochter war, machte den beiden am meisten zu schaffen.

Deshalb nahmen sich die Krauses vor, die Zeit bis September, für das Enkelchen so schön, wie nur irgend möglich zu gestalten. Oft machten sich die Beiden zum Vorwurf, dass sie hätten viel eher eingreifen müssen. Aber jetzt war es zu spät, man konnte nur noch Schadensbegrenzung betreiben. Vor allem musste man Charlotte zeigen, dass sie hier bei ihren Großeltern, ein Heim besaß, wo man sie stets lieben und willkommen heißen würde. Damit das kleine Mädchen stets wusste, wo ihre Wurzeln lagen. Das war in den Augen der Großeltern am Wichtigsten. Ihr kleines Mädchen sollte immer wissen, wenn sie so weit weg in einem fremden Land zur Schule gehen musste, wo ihre Heimat war. Damit sie immer eine offene Tür vorfinden konnte. Dass sie einen Ruhepol in ihren Erinnerungen hatte. Denn das, beschlossen die Großeltern, würde ihre Enkeltochter, ab sofort bei ihnen haben. Wenn ihre Eltern sie nicht wollten, sie die Großeltern, wollten das Mädchen von ganzem Herzen.

So unternahmen die Drei viel zusammen. Es gelang den Großeltern nach einiger Zeit sogar, wieder ein Lächeln, auf das traurige Gesicht ihre Enkeltochter zu zaubern. Ein Kind von fünf Jahren sollte unbeschwert lachen, ging es den beiden Rentnern stets durch den Sinn. Es sollte keine Sorge, um die Zukunft haben.

Ganze vier Monate bekam Charlotte ein wirkliches Zuhause. Sie brauchte nicht mehr in die Wochenkrippe, sondern blieb tagtäglich zu Hause bei ihren Großeltern, die ihr das erste Mal in ihrem Leben ein Heim boten, in dem es ein Nest der Liebe gab. Es würde ein kleines Glück, auf kurze Etappen werden. Dies war allerdings besser, als gar kein Glück und gar keine Liebe.

*

Der liebste Ort von Charlotte und ihren Großeltern war der Tierpark im Martinsgrund. Dort verwandelte sich das stets nachdenklich wirkende Gesicht, von Charlotte, zu einem Lächeln. Vor allem, wenn Charly mit seiner Enkelin, vor dem Gehege der Wildpferde saß und von seiner Zeit auf dem Gestüt des Landgrafens erzählte. Von der Zucht der Pferde, die er dort betrieben hatte.

Eines der Pferde, hatte es Charlotte am meisten angetan, ein schneeweißes Pferd. Charly und Charlotte tauften dieses Pferd auf den Namen Klärchen. Nach der Oma, da dieses Pferd eine genauso weiße Mähne hatte, wie die Oma. Als die Beiden das der Großmutter erzählten, mussten alle Drei von Herzen lachen. Klara machte sogar ihre Haare auf, die sie sonst geflochten als Kranz im Nacken trug und zeigte, dass das wirklich stimmte. Wenn sie ihr Haar zu einem Pferdschwanz band, sah dieser aus, wie der Schweif vom Klärchen. So hatte Charlotte immer etwas zu lachen, wenn sie der Oma die Haare kämmen durfte und dies durfte sie oft. Schon weil sie dabei immer glücklich war. Das Lachen auf dem Gesicht des Mädchens zu sehen, war das schönste Geschenk, das sich die Großeltern wünschen konnten. So genoss man die Zeit, die einen noch blieb, im vollen Umfang. Man machte einfach das Beste daraus.

Viel zu schnell vergingen die Tage. Bis das wahre Leben, die Drei wieder einholte und mit unvermittelter Kälte traf.

Der August kam mit riesigen Schritten und unaufhaltsam näher. Damit rückte auch die Einschulung ihrer Enkelin in greifbare Nähe. Es ließ sich nicht mehr verhindern, dass man sie nach Russland schickte. Fast drei Monate hatte Charly, wie ein Löwe, um sein Junges gekämpft. Nur, um zu erreichen, dass man Charlotte hier auf einer Schule einschulte. All seine Bemühungen scheiterten an der Bürokratie. Den harten und nicht vorhandenen Herzen, der zuständigen Stellen, beim Militär. Stets bekam er zur Antwort, dieser Vertrag wäre bindend. Ein Rücktritt vom Vertrag, das wussten die Eltern bei Vertragsunterzeichnung, wäre nicht mehr möglich. Da diese noch lebten und außerdem das Sorgerecht hätten, gäbe es keinen Grund diesen Vertrag zu annullieren oder dagegen vorzugehen. Diese Kinder, wären ab sofort Eigentum des Militärs, da mit in Krafttreten des Vertrages, das Sorgerecht auf die zuständigen Stellen übertragen wurde. Bis zum Vertragsbeginn, hätten die Eltern noch das Sorgerecht. Sie wären für das Ja oder Nein verantwortlich und nicht er, als Großvater.

Auf Fragen, wann die Einschulung sei und wie diese vonstattenginge, bekam Charly nur die kurze, fast unhöfliche Antwort: Das ginge ihn nichts an und es müsse ihn nicht kümmern. Dafür wären ebenfalls Mutter und Vater zuständig, nicht die Großeltern.

Als sich Charlie danach erkundigte, wo er eine Zuckertüte hinschicken könnte? Pöbelte ihn der zuständige Mitarbeiter des Ministeriums regelrecht an. „So einen Unsinn brauchen sie nicht zu kaufen. So etwas gibt es auf der Schule zum Glück nicht. Auf der Schule herrschten Zucht und Ordnung. Die Kinder würde man nicht verweichlichen und verhätscheln. Er begrüßt den Entschluss und würde diesen Unsinn in allen Schulen abschaffen. Dann gäbe es endlich wieder Zucht und Ordnung in den öffentlichen Schulen, vor allem Disziplin“, sprach der zuständige Mitarbeiter, der Charly empfangen hatte. Mit dem Kopf schüttelnd hörte sich Charly die nicht gerade freundliche Erklärung an. Damit war für den Zuständigen der Abteilung Kader und Bildung, das Thema erledigt.

Also fuhr Charly wieder einmal, ohne etwas erreicht zu haben, nach Hause und berichtete Klara von dem Misserfolg. In dieser Nacht weinte sich Charly, nicht das erste Mal in den letzten Monaten in den Schlaf. Er konnte die Hartherzigkeit, dieser Menschen einfach nicht verstehen.

*

Am 27. August des Jahres 1964 informierte Gitta ihre Eltern, durch einen Brief, kurz und bündig darüber, dass sie Charlotte am 29. August abends gegen 20 Uhr abholen würde. Sie bräuchten nichts von dem ganzen Krimskrams des Mädchens in einen Koffer zu packen, da die Göre ohne irgendetwas nach Moskau fliegen würde. Die komplette Einkleidung würde über die Schule geschehen. Sie sollten pünktlich mit dem Balg, unten an der Tür stehen. Am frühen Morgen würde sie dann, zum Sammelpunkt schaffen. Auf die telefonische Nachfrage von Charly, ob er nicht seine Enkeltochter selbst dort hinbringen könnte, bekam der Großvater eine derbe Abfuhr. Gitta teilte ihn voller Abscheu mit. Sie wäre die Erziehungsberechtigte und nicht er, also müsse sie das Balg dort hinbringen. Leider. Zum Glück hätte sie dann endlich nach fünfeinhalb Jahren, dieses Problem, aus dem Weg geschafft. Endlich könnten sie und ihr Mann wieder in Ruhe leben. Abholen könne er sie dann im Sommer, den Termin würde er von der zuständigen Stelle rechtzeitig mitgeteilt bekommen. Das habe sie schon veranlasst. Nur dieses eine Mal müsse sie selber dort erscheinen.

Immer noch konnten die Eltern das Verhalten ihrer Tochter und des Schwiegersohns nicht verstehen. Sie mussten es notgedrungen akzeptieren. Auch, weil die Gespräche mit Max, dem Ehemann von Gitta, zeigten, dass dieser sich für seine Tochter nicht einsetzen würde. Da er für noch zwei weitere Kinder aus erster Ehe sorgen müsste, wäre ihm dieses Balg egal. Im Gegenteil, er wäre froh, dass Gitta es so engagiert einzufädeln verstand, das Charlotte ab Beginn des Schuljahres nicht mehr nerven konnte. Gitta dadurch für Ruhe im Leben, der Beiden gesorgt hatte. Mit seinen fast fünfzig Jahren, wäre ihm das alles zu viel. Er wünschte sich nur noch ein ruhiges Leben.  

Charly und Klara gaben es auf. Sie hatten beide einfach keine Kraft mehr, um gegen Windmühlen zu kämpfen. Sie fühlten sich zu alt für so viel Aufregung. Die Großeltern mussten einfach akzeptieren, wie es kam. Es blieben ihnen keine anderen Optionen mehr übrig. Sie erklärten Charlotte so gut es ging, was auf sie zukam, damit diese sich wenigstens seelisch, etwas darauf einstellen konnte.

Dieser kleine Engel sagte den Großeltern zum Abschied, mit einem Lächeln auf dem Gesicht. „Du brauchst nicht traurig sein Opa, du auch nicht Oma. Ich komme ja bald wieder. In den Ferien besuche ich euch. Das verspreche ich. Opa du passt auf Herr Bär auf“, bat sie ihn noch.

Das war ihre einzige große Sorge. Denn Herr Bär durfte sie nicht begleiten und so wusste sie nicht, was aus ihm werden würde, wenn sie jetzt so lange nicht zu Hause war. Lächelnd sah sie zu ihnen hoch und drückte beide noch einmal ganz lieb. Nicht eine Träne weinte Charlotte. Bewundernd sahen die Großeltern ihrer Enkeltochter hinterher, die so tapfer ihrem Schicksal entgegenging. Ein Jahr würde es dauern, bis sie ihre kleine Maus wiedersehen würden. Ein ganzes langes Jahr. Was wohl in dieser Zeit alles geschehen würde? Was sie erleben mochte? Traurig, aber auch ängstlich, sahen die Großeltern Charlotte hinterher. Wie gern hätten sie ihr kleines Mädchen zum Treffpunkt begleitet. Aber das wurde ihnen verboten. Den beiden alten Herrschaften blutete das Herz. Sie hofften so sehr, dass ihr nichts geschehen möge.

„Geb der Mutti den Herr Bär, morgen am Bahnhof. Die bringt ihn uns vorbei. Charlotte, der Herr Bär wartet hier auf dich. Keine Angst meine Kleine, wir passen auf ihn auf“, rief Charly seiner kleinen Enkeltochter hinterher.

Ein leichtsinniges Versprechen, dass er ihr gab. Nichts ahnend, dass er selbst dieses Versprechen nicht halten konnte. 

*

*** Erinnerungen ***

***

Aufmerksam lese ich die schon geschriebenen Zeilen noch einmal durch und eine unendliche Traurigkeit zieht in mein Herz ein. Das war der letzte Tag in meinem beschützten Leben. Keine zwölf Stunden später begann das Grauen über uns hereinzubrechen, dessen Horror mich nach fast fünfundfünfzig Jahre immer noch verfolgte und der wohl nie seine zerstörerische Kraft ganz verlieren würde. Diese Erinnerungen belasteten nicht nur mich, sondern auch meine Familie. Denn auch sie, müssen mit der Last meiner Vergangenheit leben, ob sie es nun wollen oder nicht. Immer wieder drängte sich die Frage in mir hoch, sollte ich wirklich weiterschreiben? Jetzt da ich einmal angefangen hatte, alles zu "erzählen", würde ich nicht mehr aufhören. Es wurde Zeit, dass auch andere diese Geschichte erfuhren. Vielleicht gelang es mir dadurch sogar, meine Kameraden eine Art Denkmal zu setzen und die Erinnerungen an sie, aufleben zu lassen.

Zurück zu meinen Erinnerungen: Wie schon gesagt, würde ich diesen Tag nie vergessen. Den Tag meiner Schuleinführung. Ein Tag, der der schönste Tag meines Lebens sein sollte und den ich immer in glücklicher Erinnerung behalten sollte.

Ich sehe das Bild meiner Großeltern immer noch überdeutlich vor mir, so als wenn es erst gestern geschehen wäre. Sehe sie auf der Straße und vor ihrem alten Wohnhaus stehen. Noch heute nehme ich den traurigen Blick meines Großvaters wahr, sehe das verdächtige Glitzern in seinen Augen und wie er Großmutter an sich heran zog, um ihr Halt zu geben. Ich weiß noch genau, dass meine Großmutter sich mit einem Taschentuch die Augen trocken wischte und auch das Gesicht meines Großvaters trocknete, und wie der Blicke der alten Herrschaften, dem davon fahrendem Auto folgten.

Auf der Rückbank des Trabants kniend, blickte ich zurück, zu den beiden liebsten Menschen, die ich je hatte. Niemand konnte es noch verhindern, dass ich die Beiden jetzt lange Zeit nicht wiedersehen würde. Hatte mir mein Großvater nicht versprochen, dass ich ihn immer sehen kann, wenn ich das wollte. Dieser Gedanke und die damit verbundene Traurigkeit, verließen mich nie wieder völlig. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich versuchte dieses Bild für mich aufzusaugen. Ich spürte nur zu gut, dass ich diese Erinnerung brauchte, wie die Luft zum Atmen. Ich durfte die Beiden um keinen Preis vergessen und das gegebene Versprechen: "Ich komme wieder nach Hause." Ich nahm das Geschehene dadurch um vieles intensiver wahr, als es mir damals bewusst war. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie die Zwei immer kleiner wurden. Eng aneinander gelehnt, winkten sie mir hinterher und versuchten zu lächeln. Dieses Lächeln brannte sich in meine Seele ein. Und immer, wenn ich Hilfe und Beistand brauchte, half mir dieses Lächeln, elf lange Jahre lang, wieder aufzustehen und dort weiterzumachen, wo ich zuvor aufgehört hatte. An der nächsten Kreuzung verschwanden Großvater und Großmutter, einfach aus meinem Blick und verließen mich genauso, wie alles was ich in der damaligen Zeit mehr als mein Leben geliebt hatte. Ich sah sie für eine sehr lange Zeit nicht wieder.

Ich war fünfeinhalb Jahre alt. Damals war für mich ein Jahr eine Unendlichkeit. Sie stellte ein Fünftel meiner Lebenszeit dar und diese verdammte Unendlichkeit verging einfach nicht. Ich sehnte mich nach den Armen meines Großvaters, nach seiner Stimme und seinen Augen, wie ein Verdurstender sich nach einem Glas Wasser sehnte oder ein Mensch der kurz vor dem Verhungern stand, nach einem Stück Brot. In der Unendlichkeit des Wartens, half mir dieses Bild, alles zu ertragen und bewahrte mich davor einfach aufzugeben.

Trotz allem war ich als ich sie wiedersah, ich ein völlig anderer Mensch. Von der kleinen ängstlichen, scheuen und introvertierten Charlotte war nichts mehr übrig geblieben. Ihr Lächeln war vollkommen verschwunden und auch die Tränen fanden nur ganz selten einen Weg nach außen. Die kleine Künstlerin die Ton so sehr mochte, war vollkommen verschwunden. Und von der Träumerin, war nur ein Schatten geblieben, den ich nur selten nach außen durchbrechen ließ. Die Träumerin sahen nur meine Freunde, vor Fremden verbarg ich sie schützend, tief in meiner Seele. Damit man mir, nicht auch noch dieses Stück meiner Seele wegnahm, so wie meinen Herrn Bär und meinen Opa.

*

Euch wird immer öfter in dieser Geschichte auffallen, dass ich immer nur von meinem Großvater und nie oder nur ganz selten, von meiner Großmutter spreche. Obwohl ich sie auch sehr geliebt hatte. Es war und ist immer ein eigenartiges Gefühl in mir, wenn ich an sie denke. Ich habe sie geliebt, das weiß ich ganz genau. Denn sie war ein grundanständiger Mensch, mit sehr vielen tiefen Gefühlen und Augen, in denen man bis ins innerste ihrer Seele blicken konnte. Aber erinnern kann ich mich nur noch an ihre Augen. Ich weiß noch, dass sie wundervolles Haar gehabt hat, aber müsste ich sie zeichnen, könnte ich es nicht. Ich liebte es, wenn meine Großmutter auf meinem Bett saß und mir Lieder vorsang, damit ich schlafen konnte oder es mir wieder besser gehen sollte. Aber ich kann mich nur sehr verschwommen an sie erinnern. Irgendetwas stand zwischen uns, dass ich nicht mit Worten erfassen kann und noch nie konnte. Ihr gegenüber, war ich immer sehr zurückhalten und verschloss mich fast völlig vor ihr. Gesprochen habe ich mit ihr nur das nötigste. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund, traute ich dieser Frau nicht. Ich kann es bis heute nicht wirklich erklären. Sie tat mir immer sehr gut, das ja, aber bewusst gesprochen habe ich nie mit ihr. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Bei meinem Großvater war das ganz anders, mit ihm konnte ich reden und zu ihm hatte ich etwas Vertrauen. Soweit ich das haben konnte. Manchmal denke ich, dass ich damals niemand wirklich vertraut habe. Meinem Doktor aus der Schule vielleicht ein wenig oder meinen Freunden aus der Klasse zu hundert Prozent. Aber aus meiner Familie schenke und schenkte ich bis heute, noch niemals jemanden zu hundert Prozent mein Vertrauen. Aber das wurde mir erst jetzt, durch das Schreiben hier bewusst. Weder meinem Mann, noch meinen Kindern, noch meinen Freunde vertraue ich völlig. Ich bin sehr vorsichtig geworden und zu oft enttäuscht wurden, dass ich noch vertrauen könnte. Manchmal denke ich, dass man damals alles Vertrauen in mir zerstört hatte und dieser Bruch bis heute nicht wirklich verheilen konnte.

*

Aber zurück zu meiner Abreise in die Schule. Kaum waren die Beiden nicht mehr zu sehen, setzte ich mich lieber ordentlich hin, um keinen Ärger mit meiner Erzeugerin zu bekommen. Haltsuchend, drückte ich Herr Bär an mich und mit einem Schlag, kam die Angst über mich hereingestürzt. Sie überrollte mich wie eine Lawine. Ich hätte am liebsten geweint, auch wenn ich wusste, dass ich das nicht durfte. Denn das würde mir viel Ärger mit der Frau einbringen und das wollte ich verhindern.

Nur gut, dass ich Herr Bär bei mir hatte, der gab mir Halt und Kraft. Noch heute kann ich meinen Teddybären auf das Genauste beschreiben. Sein türkisblaues Plüschfell, war durch das viele Waschen, schon ganz ausgeblichen und an einigen Stellen ganz dünn und abgenutzt. Hinten am Po, wo eigentlich das Stummelschwänzchen sein sollte, hatte er, aus rot-gelb kariertem Stoff, einen großen Flicken, weil dort irgendwann einmal ein großes Loch entstanden war. Das rechte Auge hatte er schon lange verloren und Tante Walli nähte ihm einen gelben Knopf an, dass ihm als Ersatzauge diente. So dass er wieder zwei Augen besaß.

Ach wie hatte ich damals geweint, als ich das Auge verloren hatte. Eine Ewig hatte ich das Auge im Garten gesucht. Ich war tagelang in der WoKi auf den Knien herumgekrabbelt, um Herr Bärs Auge wiederzufinden. Dass ich meinen Herr Bär eines Tages einmal nicht mehr haben würde, das war damals für mich undenkbar, vor allem aber unvorstellbar.

*

Von Emotionen überwältigt stehe ich auf, um mir einen Kaffee zu holen und versuche mich mühsam zu beruhigen. Ich muss unbedingt meine Gefühle wieder in den Griff bekommen. Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf: 'Wie in Teufels Namen, soll ich nur über all diese Dinge schreiben, wenn ich bei diesen banalen Sachen, schon so aus dem Gleichgewicht gerate.'

Seit dem ich hier an dieser Geschichte schreibe, habe ich keine Nacht mehr länger als zwei Stunden am Stück geschlafen. Im Augenblick habe ich ständig das Gefühl gleich durchzudrehen. Ich fühle mich, als wenn mich ein Duzend Panzer überrollt hätte. Sogar auf Arbeit fällt es schon auf, dass ich völlig fertig aussehe und die Kollegen wollen wissen, was mich so aus der Bahn geworfen hat. Dadurch ziehe ich mich immer mehr von allen anderen zurück. Wie soll ich ihnen erklären, was mit mir los ist. Zum Glück hat Micha im Moment frei und kann mir nicht ins Gewissen reden. Ich verstehe die Kollegen ja, sie machen sich nur Sorgen. Aber es nervt mich ungemein. Ihre Fragerei macht es nicht besser, sondern drängt mich immer mehr aus der Dienststelle und in meine selbstgewählte Einsamkeit. Von der sonst immer lächelnden Charly ist nicht mehr viel übrig. Klar, sonst bleibe ich auch, wenn ich Bereitschaft habe, oft zum Schlafen in der Dienststelle und fahre eigentlich nur in meine Dienstwohnung, wenn ich Wäsche waschen muss. Seit mehr als zwei Wochen verlasse ich sofort nach Feierabend die Dienststelle und ziehe mich in meine Wohnung zurück. Das alleine war schon ungewohnt für meine Kollegen und auch für mich. Ich suche einfach Ruhe und Geborgenheit, beides finde ich im Moment nur in meiner Wohnung. Hier kann ich heulen wenn mir danach zu Mute ist, ohne dass ich gleich wieder eine stundenlange Diskussion vom Zaun breche.

Nicht nur einmal kam mir in den letzten zwei Wochen der Gedanke, sollte ich dieses ganze Vorhaben nicht einfach abbrechen, und hier und jetzt aufhören mit der ganzen Schreiberei. Ich hatte den Beweis, dass ich es wirklich versuchen wollte. Hatte also meinen guten Willen gezeigt und Eva konnte nicht sagen: "Du hast es ja nicht mal versucht."

Ich kann also ohne schlechtes Gewissen behaupten, es geht einfach nicht. Ich kann es nicht. Aber das ist ein Satz, denn ich nie in meinem Leben akzeptiert hatte. Warum soll ich heute damit anfangen? Auch wenn es vielleicht besser oder vernünftiger wäre, damit aufzuhören, in dieser alten Wunde herumzustochern?

Ich weiß das erste Mal in meinen Leben nicht, was ich machen soll. Lange starre ich auf den Monitor meines Computers. Will ich es mir oder will ich es wirklich nur Eva beweisen? Ich kann diese Frage, im Moment wirklich nicht beantworten. Eins allerdings kann ich mit Gewissheit von mir behaupten: Noch nie in meinem Leben, habe ich irgendetwas nur deshalb beiseitegeschoben, weil es mir schwer fielen oder ich Angst davor hatte, mich diesen Dingen zu stellen. Gerade dann, wenn es schwer war und mich viel Überwindung gekostet hatte, packte ich diese Probleme an und zog es bis zum bitteren Ende durch. Ich würde also nicht jetzt, in meinem Alter, damit anfangen, vor Problemen wegzulaufen. Mir war klar, dass das alles nicht einfach werden würde, umso stolzer würde ich nach getaner Arbeit auf mich sein. Ich gab vor allem Eva Recht, das wurde mir in den letzen Wochen klar, meine Familie hatte ein Recht zu wissen, was so manches Mal mit mir los war. Auch war mir persönlich der Vertrauensbeweis wichtig, den ich meiner Familie gegenüber endlich erbringen musste. Aus vielen Gründen musste ich mir beweisen, dass ich es konnte. Wie immer in meinen Leben, werde ich auch diese Hürde nehmen, egal was es kostet. Und wenn es das letzte war, was ich tat. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, ich würde es schaffen, das wurde mir mit jeder Sekunde bewusster. Vielleicht hörten dann endlich diese verdammten Träume auf und ich konnte endlich wieder einmal in Ruhe schlafen.

Meine Gedanken wandern zu meinen Kindern und Enkeln. Das Lächeln auf meinem Gesicht wurde noch intensiver und tat mir einfach nur gut. Wie immer, halfen mir diese gedanklichen Bilder, meine Fassung zurückzugewinnen. Meine Familie, war und ist mein Ruhepol, meine Kraftquelle und mein Seelenankerplatz. Ich brauchte mir nur meinen Mann, meine Kinder und Enkel ins Gedächtnis rufen, sofort wurde mir warm ums Herz und meine vibrierenden Nerven beruhigen sich einigermaßen. In diesem Moment wurde mir wieder einmal bewusst, wie ähnlich meine Kinder und Enkel mir sahen.

Am größten war die Ähnlichkeit bei Mia. Sie war mir wie aus dem Gesicht geschnitten. Ich besaß in meinem Leben nur zwei Fotos von mir, als Kind. Auf einem war ich knappe fünf Jahre alt und auf dem anderen vierzehn. Das erste Foto ließ mein Großvater von einem Fotographen machen, im August 1964, damit er ein Erinnerungsfoto von mir hatte und immer mit mir reden konnte. Als ich meinem Großen dieses Bild von mir gezeigte, war er ganz verwirrt. Er konnte sich nicht erinnern, dass er mir dieses Foto von Mia gegeben zu hatte. Vor allem konnte er sich nicht daran erinnern, wo das Bild aufgenommen wurde. Im Gegensatz zu Mia, war ich immer ein sehr zierliches Mädchen, wogegen Mia eher als wohlgenährtes Bummelchen durchgehen würde. Trotzdem war die Ähnlichkeit von uns beiden schon verblüffend. Mia hatte die gleichen Gesichtszüge wie ich und dieselben schönen schwarzen Schillerlocken, die ich als kleines Mädchen hatte. Das war auf dem Foto genau zu erkennen. Sie hatte das gleiche volle Haar, wie man sie häufig bei Zigeunern fand. Vor allem diese großen dunklen Knopfaugen, wie ich sie damals hatte. Diese schwarzen Knopfaugen, die auch meine Söhne von mir geerbt hatten und den dunklen ins bronzefarbene übergehende Teint, der so typisch für unsere Familie war.

Auf meine Frage, warum wir so dunkle Augen, Haut und Haare hätten, erklärte mir mein Großvater, dass er aus Frankreich stammte und ein Manouches wäre, wie man die Zigeuner in Frankreich bezeichnet. Mein Großvater mochte die Bezeichnungen Zigeuner oder Sinti und Roman nicht, deshalb nutzte er nach all den Jahren, immer noch den französischen Namen, für unser Volk. Wieder huschte ein Lächeln über mein Gesicht, wie oft musste ich mich erklären, wenn ich mich als Manouches bezeichnete, weil nur wenige diesen Ausdruck kannten. Selten beschäftigen sich die Menschen, mit Völkerzugehörigkeiten und in Deutschland war das zur damaligen Zeit, sowieso nicht erwünscht. Also interessierte man sich nicht, für solche unwichtigen und ungebräuchlichen Bezeichnungen. Ich persönlich finde gerade solche Informationen sehr interessant und forsche sehr langem schon, um den Ursprung unseres Volkes zu erkunden.

Ich zwang meine Gedanken wieder zurück und versuchte mir vorzustellen, dass ich an der Stelle meines Großvaters gewesen wäre. Wenn ich mir überlege, dass Mia heute nur ein Jahr älter war, wie ich damals, als ich aus meinem behüteten Leben gerissen wurde, könnte ich schreien vor Wut. Bei dem Gedanken, dass Mia in dem Auto sitzen und man sie einfach von mir wegreißen und verschachern würde, würde es als Großmutter das Herz zerbrechen. Erst heute verstehe ich wirklich, wie sich meine Großeltern damals gefühlt haben mussten. Wie hilflos und entmündigt sie sich die Beiden vorgekommen waren? Ich konnte heute meine Erzeugerin immer weniger verstehen, obwohl ich immer versucht habe, ihr Verhalten mir gegenüber zu entschuldigen. Sie mochte mich nicht, da ich nicht dem entsprach, dass sie sich vorgestellt hatte. Das konnte ich ja irgendwo noch nachvollziehen. Aber ich konnte einfach nicht verstehen, warum sie ihren Eltern das alles antat. Selbst dieser Frau, die mich so verraten hatte, würde ich nie in meinem Leben, solch einen Schmerz antun. Niemals! Hasste sie im Endeffekt nicht nur mich, sondern auch ihre Eltern so sehr, dass sie uns alle quälen musste? Vor allem fragte ich mich, warum hasste sie uns so sehr? Oder war diese Frau einfach nur gedankenlos und vollkommen egoistisch, oder war sie psysisch so krank, dass ihr alle anderen Menschen, völlig egal waren. Ich fand auf diese Fragen einfach keine befriedigende Antwort und suchte sie auch nicht mehr.

Durch welche tausend Höllen mussten meine Großeltern gegangen sein, als sie begriffen, dass sie dieser Frau auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren und dass sie ihre Enkeltochter nur wiedersehen konnten, wenn diese Frau es zuließ. Denn das hatte ich heute Begriffen, sie waren auf deren Wohlwollen angewiesen. Wie sehr musste das Herz meines Großvaters geblutet haben, als er mich aus seiner Obhut gehen lassen musste, obwohl er so um mich gekämpft hat? Wie machtlos musste er sich vorkommen, da er trotz all der Bemühungen, dieses Leid von mir nicht abwenden konnte? Wie sehr muss er von seiner Tochter enttäuscht gewesen sein?

Denn er verlor nicht nur seine drei Söhne, sondern durch deren Handeln auch noch seine geliebte Tochter. Die Tagebücher zeugen davon, wie groß sein Schmerz wirklich gewesen sein musste. Alleine das zu lesen, zog mir mein Herz zusammen und ich hatte endlose Stunden geweint. So wie damals, weinte ich mich nicht nur einmal in den Schlaf. Das Schlimmste für mich war die Tatsache, dass mein Großvater, die Schuld bei sich gesucht hatte und nicht bei seiner Tochter. Dass er bis zu seinem Tod, die Frage nach dem, "Warum?", nicht beantworten konnte. Für mich grenzte es heute an ein Wunder, dass sein Herz damals nicht einfach stehen blieb. Wo nahmen, der schon vierundachtzigjährige Mann und seine Frau, die ungeheurere Kraft her, um weiterzumachen. Wie vor allem konnte er es schaffen, mir all die Jahre stets Mut zu machen und Kraft zu geben. Nur damit ich durchhalte und nicht an meinem Kummer erstickte. Denn eins wusste ich heute nur zu genau, ohne meinen Großvater und meine Großmutter, hätte ich schon das erste Jahr nicht überlebt. Der Gedanke an die Beiden ließ mich alles überstehen und zwang mich dazu, durchzuhalten. Ich gab den Beiden beim Abschied ein Versprechen, dass ich nicht brechen wollte. Deshalb musste ich im Sommer zu ihnen zurückkehren, egal wie.

*

Charly fand es grausam, dass Charlotte nicht einmal ihren Knuddelbären mit in die Schule nehmen durfte. Er konnte es einfach nicht nachvollziehen, wie hartherzig diese Menschen zu Kindern waren. Gerade Kinder in diesem Alter brauchten etwas, an dem sie sich festhalten konnten, wenn sie so weit entfernt von zu Hause leben mussten. So ein Stofftier, behütete die Seele eines Kindes, es war mehr als nur ein Stückchen Stoff. Oft war es ein Freund in der Not und der Seelendoktor eines Kindes. Derjenige, der all den Kummer und den Schmerz heilte, dem ein Kind alles erzählen konnte. Wie konnte man einem Kind, mit noch nicht einmal sechs Jahre, das Liebste nehmen, dass es besaß: seinen wertvollsten Besitz? So ein kleiner Gesell war mit keinem Gold der Welt aufzuwiegen.

Das Herz tat einem schon bei dem Gedanken weh, Charlotte und Herr Bär zu trennen. Wie oft schon, hatte er seine Enkelin dabei beobachtet, wie sie dem Bären ihren ganzen Kummer erzählte. Abends, wenn sie im Bett lagen, erzählte sie ihm oft selbst erdachte Geschichten, damit er besser schlafen konnte und gut träumte. Die beiden waren unzertrennlich und das sah man Herr Bär auch an. Herr Bär fehlte schon ein Auge und einen großen Flicken, hatte er auf dem Po. Dies alles tat der Freundschaft, allerdings nie schaden. Im Gegenteil, mit jeder Verletzung, die bei Herr Bär geheilt wurde, verstärkte sich das Band zwischen den beiden.

Traurig sahen die Großeltern, dem Mädchen hinterher und winkten ihr tapfer lächelnd zu. Klara schaffte es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Sie nahm ein Taschentuch und wischte sich verstohlen die Augen trocken und wischt dann auch ihren Mann die Tränen fort, die dieser nicht mehr zurückhalten konnte. Charly legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie an sich, um ihr Halt zu geben. Er tröstete seine Frau, obwohl ihm selber nach Heulen zu Mute war. Am liebsten würde er sich seine ganze Wut von der Seele schreien. Er konnte seine Tochter immer weniger verstehen. Wenn er ehrlich sein sollte, stieg das erste Mal in seinem Leben, richtiger kaum zu bändigender Hass in sein Herz.

Charlotte drückte Herr Bär fest an sich. Den kleinen Knuddelbären, den ihr Tante Walli in der Wochenkrippe geschenkt hatte. Fast fünf Jahre begleitete der circa dreißig Zentimeter große, ehemals türkisfarbene Bär, das Mädchen. Wie viele Tränen musste Herr Bär schon schlucken? Allerdings hat er um vieles öfter, auch mit Charlotte gelacht. Vor allem aber, hatten die Zwei schon viele gemeinsame Abenteuer erlebt und noch mehr gemeinsame Geheimnisse, die sie keinem erzählten. Niemals hatte Herr Bär Charlotte im Stich gelassen und dass war es, was zählte. Wenn der Teddy einmal verschwunden war, meist war er dann in der Wäscherei der Wochenkrippe, dann gab es große Tränen, bei der sonst immer tapferen Charlotte. Deshalb wuschen die Erzieherinnen Herr Bär immer heimlich in der Nacht, wenn Charlotte tief und fest schlief und föhnten ihn dann trocken. Keiner der Erzieherinnen brachte es über das Herz, dem Mädchen den Entzug des Bären anzutun, denn selbst Erklärungen halfen bei ihr nicht. Man hatte versucht Charlotte davon zu überzeugen, dass Herr Bär auch einmal baden musste. Aber diese Erklärung half nicht wirklich. Das Einzige, was danach geschehen war, dass der arme Herr Bär mit Charlotte in der Badewanne landete. Ein anders Stofftier, akzeptierte Charlotte nie und es half ihr auch nie beim Einschlafen. Lieber lag die Kleine mit einem nassen Stofftier im Bett, als ohne ihrem Herr Bär schlafen zu gehen.

*

Verzweifelt sah Charlotte ihren Herr Bär an. Sie wusste, dass sie die letzte Nacht mit ihm zusammen schlafen würde und das machte sie traurig. Nur mühsam unterdrückte sie die Tränen. Sie wusste, dass die Frau mit ihr wieder schimpfen würde, wenn sie jetzt anfing zu weinen und Ärger wollte sie mit der nicht schon wieder haben. Sie würde ihr nur Herr Bär wegnehmen, so wie sie es schon einige Male gemacht hatte. Sie bezeichnete Herr Bär immer als Dreckvieh und sagte, dass er in die Mülltonne gehörte. Dabei war er gar nicht schmutzig. Deshalb drückte Charlotte ihren Herr Bär, so fest sie konnte an sich und saß still im Fond des Wagens.

Die Fahrt zur Wohnung der Dybas dauerte nicht sehr lange. Sie waren nicht einmal eine halbe Stunde mit dem Auto unterwegs, um in den etwas abseits gelegenen Stadtteil von Gera zu kommen, in dem Gitta mit ihrem Mann wohnten.

Es handelte sich um eine Siedlung, vor den Toren der Stadt, in der zum großen Teil Bergleute wohnten. Dieser Stadtteil nahe der Zeche gelegen, bestand zum großen Teil aus Wohnblöcken mit drei Eingängen, in denen je sechs bis neun Familien wohnten. An die Häuser grenzten große Grünanlagen und Gärten, in denen die Kinder spielen und toben konnten. Es ließ sich hier, für Familien mit Kindern, herrlich wohnen. Dadurch, dass sie am Stadtrand der Großstadt lag, war es hier sehr ruhig und es gab wenig Verkehr. Die gute Verkehrsanbindung durch Straßenbahn und Bus, ermöglichten allerdings ein schnelles erreichen der Fabriken oder der im Nachbarort befindlichen Zeche. An Einkaufsmöglichkeiten, gab es alles was das Herz begehrte. Angefangen von einer großen Kaufhalle,  bis hin zu einer kleinen Ladenstraße, die viele Geschäfte in der Ortsmitte vereinte. So war man vom Stadtzentrum völlig unabhängig. Man hatte sogar ein eigenes Kino, Kulturhaus und eine eigene Poliklinik, die für die medizinische Versorgung des Stadtteils zuständig war.

Hier hätte sich Charlotte schnell heimisch fühlen können und vor allem gab es viele Spielkameraden in ihrem Alter. Kinder gab es in diesem Stadtteil mehr als genug. Sogar eine eigene Grundschule und eine Polytechnische Oberschule, waren in diesem Stadtteil vorhanden. Nur die Kinder die auf das Gymnasium gehen wollten, mussten in die Stadtmitte fahren. Es gab hier nicht nur einen Kindergarten, mehrere Krippen und sogar eine Wochenkrippe. Alles was eine Familie brauchte, war in der unmittelbaren Nachbarschaft vorhanden. Umso weniger konnte man die die Familie Dybas verstehen, die sich so vehement gegen das Kind wehrte. Selbst jetzt, da sie das kleine Mädchen nur für wenige Stunden betreuen sollten, war das nicht hinlänglich möglich. Den Tagesablauf ein wenig nach dem Kind auszurichten, kam diesen beiden Menschen nicht in den Sinn. Deshalb kam Charlotte nicht einmal zur gewohnten Zeit ins Bett. Erst kurz nach 21 Uhr kam die Familie in Gera Zwötzen an. Eine völlig übermüdete Charlotte, betrat mit ihren Eltern, deren Wohnung. So wie es immer war, wurde Charlotte sofort in das Büro von Gitta geschickt, denn dort stand ihr sogenanntes Bett.

Das Büro von Gitta, war in der Dreiraumwohnung ihrer Eltern, eigentlich das Kinderzimmer. Allerdings war dieser Raum vollkommen auf Gittas Bedürfnisse zugeschnitten und als Büro eingerichtet wurden. Unter dem Fenster stand ein wunderschön verzierter und in Mahagoni gehaltener Schreibtisch, davor ein gleichfarbiger und sehr bequemer Lehnstuhl. Der ganze Raum war vollgestellt mit Bücherregalen, die bis unter die Zimmerdecke reichten, sodass man nichts von den Wänden sah. An der Wand, die dem Fenster gegenüber lag, stand genau neben dem Kachelofen, ein großer Ohrensessel mit Decke und Kissen. Davor ein kleiner gepolsterter Hocker und ein niedlicher runder Tisch. Etwas schräg hinter dem Sessel stand eine Stehlampe. Das war die Leseecke von Gitta. Sehr bequem und gemütlich wirkte der Raum, durch den schönen einfarbigen fast weißen Teppich, der das Bild abrundete. Das einzige störende an dem Zimmer war, eine alte verrostete Campingliegen, auf der nur eine löchrige Decke lag. Diese Liege zerstörte die vollkommene Harmonie des Zimmers.

Selten hatte man in der damaligen Zeit, die Möglichkeit, sich einen solchen Raum einzurichten. Wohnraum war sehr knapp und nur wenige Menschen bekamen dieses Privileg, sich zu Hause ein Büro einrichten zu können. Deshalb bekamen nur Familien, eine solche Wohnung, wenn man mindestens ein Kind hatte. Gitta nutzte den eigentlich für Charlotte vorgesehenen Raum, als Büro. Dieses Zimmer war ihr Heiligtum, das niemand außer sie selbst betreten durfte. Hier her zog sich die Lehrerin zurück, wenn sie ihre Ruhe haben wollte oder zum Arbeiten: zur Vorbereitung des Unterrichtes, zum Korrigieren der Hausaufgaben oder Klassenarbeiten ihrer Schüler. Aber auch, um ihrem einzigen Hobby nachzugehen, um dort in Ruhe Lesen zu können. Nur dabei konnte sie dieser Welt entfliehen und sich wirklich entspannen.

Nur, wenn Charlotte da war, betrat jemand anderes, als Gitta, diesen Raum. Max kam höchstens einmal an die Tür, um Gitta ans Abendbrot zu erinnern. Seine Frau vergaß schnell einmal Raum und Zeit, wenn sie am Lesen war. Nur Charlotte musste notgedrungen, das Heiligtum ihrer Mutter betreten, da sie ja irgendwo schlafen musste. Sie durfte auf einem Gästebett darin campieren.

Diese Liege wurde zwischen die Regale und den Schreibtisch gequetscht. Lieblos schmiss Gitta dann ein kleines Kissen und eine dünne Decke darauf, nicht einmal einen Aufleger hatte sie für ihre Tochter übrig. Mit der Decke konnte sich das Mädchen in der Nacht zudecken. Oft fror die Kleine in diesem ungeheizten Raum, nur gut, dass sie so selten hier sein musste. Niemals, wenn sich Gittas Tochter in der Wohnung aufhielt, wurde der Ofen beheizt. Auch war es Charlotte verboten, irgendetwas in dem Raum anzufassen. Ihre Mutter wusste genau, wie sie alles hingelegt hatte. Lag hinterher irgendetwas anders, dann gab es richtig Ärger. Nur einmal hatte sich die Kleine ein Buch aus dem Regal genommen, danach hat sie es sich nie wieder gewagt, etwas in diesem Zimmer zu berühren.

Das Buch stand halb schräg im Regal und dadurch konnte sie einen wunderschönen Drachen sehen. Aber nur halb, deshalb konnte das Mädchen nicht wiederstehen und holte das Buch aus dem Regal. Charlotte liebte Drachen über alles und wollte sich nur den Buchumschlag einmal genau ansehen. Danach fasste sie nie wieder etwas aus diesem Raum an, außer ihrer dünnen Zudecke, aus lauter Angst, abermals bestraft zu werden.

Gitta hatte sie damals so angebrüllt und durchgeschüttelt, dass sie das niemals wieder vergessen würde. Drei Tage lang hatte sie danach schlimme Kopfschmerzen. Obwohl, Charlotte das bewusst war, wurde sie jedes Mal aufs Neue drauf hingewiesen, sodass sie es nicht vergessen konnte.

„Marsch ins Bett und Finger weg, von meinen Sachen“, war der einzige Satz, den Gitta in einem nicht gerade freundlichen Ton, zu ihrer Tochter sprach, seit dem sie die Wohnung der Großeltern verlassen hatten.

Wortlos ging die Kleine nach hinten, zu dem immer muffig riechenden Gästebett. Es war ein Klappbett, wie man es in Zelten benutzte, dass man platzsparend in den Keller stellen konnte. So roch es auch. Charlotte mochte dieses Bett gar nicht. Der Geruch machte ihr immer Angst. Am liebsten würde sie auf den kuscheligen Teppich schlafen, der viel weicher war, als das Bett. Artig zog sie ihre Anziehsache und Schuhe aus und legte diese ordentlich neben dem Bett, über die Lehne des Stuhles. Dann setzte sie sich auf das Bett, ziemlich mittig, dort war das Bett am weichsten und zog die Beine an den Körper, umschlang diese mit ihren Armen. Herr Bär hatte sie auf die Oberschenkel gelegt und sah ihn lange an. Ganz leise sprach sie zu ihrem Freund.

„Herr Bär, wollen wir einfach ausreißen? Irgendwohin, wo uns keiner finden kann? Dann verstecken wir uns solange, bis sie uns nicht mehr suchen“, traurig sah ihren schweigsamen Freund an. Natürlich wusste sie, dass er ihr nicht antworten konnte. Wie so oft hatte sie das Gefühl, er gab ihr trotzdem eine Antwort, als wenn er den Kopf schütteln würde. „Ja Herr Bär, du hast ja Recht. Der Opa wäre dann ganz traurig und die Oma würde weinen. Das können wir nicht machen. Aber Herr Bär, du musst, wenn ich nicht mehr da bin, auf Opa und Oma aufpassen. Versprich mir das. Ich kann das jetzt nicht mehr machen“, schwer kämpfte Charlotte bei den letzten geflüsterten Worten, gegen ihre Tränen. Plötzlich konnte Charlotte, so tapfer sie auch sein wollte, die Tränen nicht mehr zurückhalten. Völlig fertig legte sie ihren Kopf auf die Knie und weinte sich ihren Kummer von der Seele. Sie konnte nichts mehr dagegen machen. Unaufhaltsam kullerten Tränen aus ihren Augen.

Sie wünschte sich so sehr, zu ihren Großeltern zurück. Aber sie musste gehorchen, was blieb ihr anders übrig? Opa hatte ihr jede Woche erzählt, was er alles unternommen hatte. Auch wenn sie nicht alles davon verstand, begriff sie, dass er absolut nichts dagegen unternehmen konnte. Den Großvater waren einfach die Hände gebunden. Oh wie oft hatte der Opa geweint, wenn er dachte Charlotte würde fest in Jos Bett schlafen. Immer, wenn er dachte sie würde es nicht bemerken, weinte sich der Opa in den Schlaf. Deshalb gab sich Charlotte ja solche Mühe tapfer zu sein. Damit der Opa sich nicht noch mehr Sorgen machen musste. In letzter Zeit rieb er sich immer die Stelle, wo das Herz saß, hatte ihr die Oma erklärt. Die machte sich so große Sorgen und hatte Angst, dass sein Herz eines Tages einfach stehen blieb. Deshalb musste sie gehorchen und alles machen, was diese Frau von ihr wollte. Sie wollte nicht, dass ihrem Opa etwas geschah, dazu liebte sie ihn viel zu sehr. Langsam beruhigte sich Charlotte wieder. Sie hatte dem Opa versprochen tapfer zu sein. Das wollte sie auch halten. Noch nie hatte sie gelogen und den Opa würde sie schon gar nicht anlügen. Aus diesem Grund, begann sich Charlotte in eine andere Welt zu flüchten. Sie träumte sich, so wie sie es oft machte, in ihre eigene heile Welt, in der ihr niemand weh tun konnte. Aber es wollte ihr dieses Mal, nicht wirklich gelingen.

Die Straßenlaterne auf der anderen Seite der Straße, erleuchtete hell den Raum, so konnte sich Charlotte hier drinnen genau umsehen. Nichts hatte sich geändert, seit dem sie das letzte Mal hier war. Sogar die Decke lag wieder genauso auf dem Sessel, wie bei ihrem letzten kurzen Aufenthalt, hier in diesem Zimmer. Damals musste sie zwei Nächte und zwei Tage hier verbringen. Ach war sie froh, als sie ihren Großvater wiedersah und er an ihrem Bett saß.

*

Charlotte war damals krank und hatte Fieber. Aber die Großeltern waren noch im Urlaub und so musste sie von der Wochenkrippe aus, zu ihren Eltern. Egal wie sehr sie weinte und sich dagegen wehrte. Es ging dieses eine Mal nicht anders und Tante Walli konnte nichts dagegen machen.

In der Wochenkrippe war Scharlach ausgebrochen. Charlotte hatte sich zur gleichen Zeit eine schlimme Erkältung eingefangen und war dadurch noch mehr gefährdeter, gegen diese Krankheit, als die anderen Kinder. Es war nicht zu verantworten, sie in der Wochenkrippe belassen und dieser zusätzlichen Gefahr auszusetzen. Walli, der Leiterin der Wochenkrippe, blieben keine großen Optionen. Für das Krankenhaus war Charlotte nicht krank genug, aber für die Wochenkrippe schon und der Großvater war nicht so schnell erreichbar. Man informierte ihn zwar, über die Erkrankung seiner Enkeltochter, aber er würde mindestens zwei Tage für seine Rückkehr nach Gera benötigen. Erst dann könnte er sein kleines Mädchen abholen, da er in Ungarn im Urlaub war. Also rief Walli in ihrer Not, Charlottes Mutter an und verpflichtete diese dazu, ihr Kind zu holen. Nach einer langen Diskussion, holte diese dann, das Mädchen wütend und widerwillig ab.

Vor allem wollte die Erzieherin endlich erreichen, dass Frau Dybas, nur ein einziges Mal, ein bisschen Verantwortung für ihr Kind übernahm. Ein zweites Mal, würde Walli dieses Risiko nicht eingehen. Niemand aus der Wochenkrippe würde noch einmal einen solchen Versuch unternehmen. Fast wäre die ganze Sache, zu einem tragischen Ende gekommen. Charlotte konnte sich noch sehr gut an diese zwei Tage erinnern. Noch heute begann sie zu frieren und mit den Zähnen zu klappern, wenn sie an diese beiden Tage dachte. Es war damals so bitterkalt in diesen Raum gewesen.

Einige Tage zuvor war das erste Mal richtig viel Schnee gefallen und Charlotte hatte draußen, ganz alleine einen großen Schneemann gebaut. Nur bei dem aufeinandersetzen der großen Schneekugeln hatte ihr der Hausmeister geholfen. Der Schneemann bekam eine große Möhre als Nase, die sie von der Köchin bekam, einen Zylinder, den Charlotte auf dem Dachboden gefunden hatte und einen Hexenbesen. Davor stellte sie mit Hilfe des Hausmeisters einen Holzbock mit einem Brett mit Futter für die Vögel und Eichhörnchen. Sogar einen dicken Schal hatte ihr Walli gegeben. Der Schneemann war wirklich schön geworden. Allerdings hatte sie dabei ganz nasse Füße bekommen. Die Stiefeln waren nicht ganz dicht und so waren ihre Füße im Anschluss ganz nass, blau und kalt gewesen. In der Nacht kamen dann das Fieber, der Husten und der Schnupfen. Deshalb konnte sie nicht in der Wochenkrippe bleiben.  

*

Als die Frau sie dann abholte, hatte sie geschimpft, schlimmer als die Oma, wenn etwas nicht klappte. Charlotte hatte sich so geschämt, weil sie husten und niesen musste. Sie waren von der WoKi, wie sie immer die Wochenkindertagesstätte nannte, sofort hierher in die Wohnung gefahren. Den ganzen Weg über hatte sie die Frau angemeckert. Noch mehr schimpfte sie, als sie das Klappbett aus dem Keller holen musste, weil sie sich dabei einen Nagel eingerissen hatte. Wütend stellte die Frau das Klappbett in dem Zimmer auf, es war so kalt und roch noch komischer als sonst. Als wenn es ganz feucht wäre, so wie ihre Socken aus den Stiefeln. Dann musste sie sich hinlegen und bekam eine Tasse Tee. Sofort war die Frau wieder verschwunden, darüber war Lotti mehr als froh. Erst als es abends schon lange dunkel wurde, kam die Frau zurück. Es ging auf einmal das Licht im Zimmer an und die Frau erschrak sich fürchterlich.

„Was machst du denn hier? ... Ach ja, dich hab ich ja ganz vergessen. Nicht mal am Abend, hat man seine Ruhe vor dir“, schrie sie Charlotte an, obwohl die Kleine gar nichts gesagt hatte. Dann machte sie das Licht aus und war wieder verschwunden. Es dauerte lange, bis sie wieder kam. Sie stellte ihr einen Teller mit einer Butterschnitte hin und eine Tasse Milch.

„Esse das und krümle hier ja nicht rum“, grummelte sie ziemlich unfreundlich und verschwand sofort wieder aus dem Raum.

Die Schnitte aß Charlotte sofort, denn sie hatte großen Hunger, da sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Die Milch jedoch rührte sie nicht an. Milch konnte Charlotte für den Tod nicht ausstehen, von der bekam sie immer Bauchweh, Durchfall und musste ewig brechen. Deshalb brauchte sie auch in der WoKi keine Milch mehr trinken. Nach über zwei Stunden kam die Frau dann wieder und schimpfte sie aus, weil sie die Milch nicht getrunken hatte. Aber Charlotte mochte mit der Frau nicht sprechen, sie konnte sie einfach nicht leiden.

„Du trinkst sofort die Milch aus. Denkst du vielleicht, ich mache mir die viele Arbeit für umsonst“, wurde sie angeschrien.

Charlotte schüttelte den Kopf. Was hätte sie auch sonst machen sollen. Wenn sie die Milch getrunken hätte, würde es ihr noch schlechter gehen, als es ihr so schon ging. Ihr war so kalt, dass sie ständig mit den Zähnen klappern musste und die Milch war auch kalt. So wollte lieber einen warmen Tee, traute es sich aber nicht zu fragen.

„Wenn du die Milch nicht trinkst, bekommst du sie morgen früh noch einmal. Du spinnst wohl. Ich schütte doch die gute Milch nicht weg“, mit diesen Worten nahm Gitta die Tasse und den Teller, verließ wütend den Raum.

Charlotte rollte sich darauf hin, wieder in ihrem Bett zusammen und drückte Herr Bär an sich und versuchte zu schlafen. Aber es war so kalt in dem Raum und die Decke war nicht wirklich warm. Irgendwann schlief sie dann ein, weil sie Herr Bär gewärmt hatte. Am nächsten Morgen, als sie munter wurde, war die Frau nicht mehr da. Also schlich sich Charlotte leise ins Bad, um auf die Toilette zu gehen und Wasser aus dem Hahn der Badewanne zu trinken. Sie hatte schlimmen Durst und auf dem Boden vor dem Bett standen wieder die Milch und ein Brot. Essen mochte sie nichts, ihr tat der Kopf schlimm weh und selbst das Husten tat ihr weh. Sie war so müde und ihr war kalt. Also legte sie sich wieder ins Bett und kuschelte sich an Herr Bär. Irgendwann schlief dann wieder ein. Als sie erneut munter wurde, lag sie in einem schönen weichen Bett, mit einer dicken warmen Decke. Ach war sie da froh und als sie ihre Augen öffnete, saß der Opa neben ihr am Bett. Sie wusste gar nicht, wie sie in das Bett gekommen war und wo der Opa auf einmal herkam. Vor allem wusste sie nicht, wieso sie im Krankenhaus lag.

Charly wurde durch die Leiterin der WoKi, darüber informiert, dass seine Enkelin krank geworden war und dass er sie ein paar Tage bei sich aufnehmen müsste, bis sie wieder ganz gesund war. Auf Grund der großen Entfernung dauerte es einige Zeit, bis er von Budapest zurück nach Gera kommen konnte. Wie gern hätten Klara und er, Charlotte mit in den Urlaub genommen, leider hatte er als er die Reise gebucht hatte, noch nichts von Charlotte gewusst. Eine Nachbuchung, war leider nicht möglich gewesen. Deshalb fuhr er alleine mit Klara, das erste Mal, seit Jahren, in den Urlaub. Da er Charlotte in guten Händen wusste, konnte er sich das ungute Gefühl, dass er bei der Abfahrt hatte, nicht erklären. Nach dem Anruf von der WoKi wusste er sofort, warum er keine Ruhe fand. Charly und Klara vergingen fast vor Sorge, um ihre Enkelin. Trotzdem war es nicht möglich, schneller vor Ort zu sein. Da er seiner Tochter in punkto Betreuung von Charlotte, überhaupt nicht mehr vertraute, brach er, zu Charlottes Glück, seinen Urlaub ab und kam eine Woche eher aus Ungarn zurück. So schnell es die Eisenbahnverbindung zuließ, fuhren Klara und Charly zurück nach Deutschland und kamen sechsunddreißig Stunden nach Charlottes Ankunft, bei ihrer Mutter in Gera an.

Kaum das Charly seine Koffer in der Wohnung abgestellt hatte, gab er seiner Frau einen Kuss und verschwand mit den Worten. „Schatz, ich bin so schnell es geht zurück, ich muss nach unserer Kleinen sehen.“

Schon hatte er die wieder Wohnung verlassen und fuhr sogar mit einem Taxi nach Zwötzen, um schnellstmöglich bei Charlotte zu sein. Die elf Kilometer zur Wohnung seiner Tochter zu laufen, dazu fehlte dem Rentner einfach die Ruhe. Denn es war ein Fußmarsch von gut anderthalb Stunden, selbst für den gut durchtrainierten Rentner. Kaum dass er die Wohnung seiner Tochter erreicht hatte, klingelte er Sturm. Da diese nicht öffnete und er von einer Nachbarin erfuhr, dass seine Tochter auf Arbeit wäre, machte Charly noch größere Sorgen und rief aus einer Telefonzelle in der Schule von Gitta an.

Gitta war stinksauer auf ihren Vater, weil man sie aus dem Unterricht geholt hatte und fuhr ihren Vater böse an. „Was machst du denn schon wieder für ein Theater, Vater. Charlotte liegt im Bett und schläft. Sie wird ja wohl mit ihren fast fünf Jahren, mal sechs Stunden alleine bleiben können. Herr Gott nochmal, die Göre hat ein bisschen Husten. Davon ist noch niemand gestorben. Ich habe hier zweiunddreißig Schüler, die ich zu betreuen habe. Lass mich mit dieser Rotzgöre einfach in Ruhe“, schon schmiss sie den Hörer auf die Gabel.

Charly konnte nicht fassen, was Gitta da schon wieder abzog. Schnell lief er über die Straße und unter das Fenster des Kinderzimmers, was in Hochparterre lag, oder besser gesagt, des Büros seiner Tochter.

„Lotti, meine Kleene, bitte komme mal ans Fenster! Der Opa macht sich Sorgen“, rief er immer und immer wieder. So fest konnte das Mädchen gar nicht schlafen. Es war untypisch für seine Enkeltochter, dass sie nicht ans Fenster kam. Denn Charlotte hatte einen ganz leichten Schlaf und wurde bei jedem Geräusch munter. Die Sorgen, die sich der Großvater machte, wurden immer größer. Wenn sie ihn hören könnte, käme sie sofort an das Fenster da war er sich sicher, um ihm wenigstens zu winken.

In seiner Verzweiflung, rief der besorgte Großvater die Polizei an. Er hatte keinen Schlüssel zu Gittas Wohnung und sein Schwiegersohn war nicht erreichbar, da dieser Untertage, als Steiger, seiner Arbeit nachging. In die Wohnung, kam er also ohne Hilfe nicht hinein und einbrechen, wollte er nicht. Die Polizeibeamten wollten der Bitte, des völlig aufgelösten Rentners, erst gar nicht nachkommen. Als Charly dann richtig böse wurde und damit drohte sie wegen unterlassener Hilfeleistung zur Rechenschaft zu ziehen, gaben sie endlich dessen Drängen, um wenigstens einmal nach dem Rechten zu sehen.

Als Charly den beiden Polizeibeamten erklärte, dass er aus Sorge um seine Enkeltochter, seinen Urlaub in Ungarn extra abgebrochen hätte, erbarmte sich einer der beiden Beamten und kletterte, an der Hauswand nach oben, was gar nicht so einfach war. So kam er an das Fenster und konnte in den Raum hineinsehen. Sofort sprang er nach unten und befahl seinem Kollegen, die Mutter herzuholen. Telefonisch setzten sie sich mit dieser in Verbindung und baten sie sofort herzukommen. Stur wie Gitta nun einmal war, weigerte sie sich, dem Befehl der Beamten, Folge zu leisten. Sie gab als Begründung an, nicht nach Hause fahren zu können, da sie mitten im Unterricht wäre und ihre Schüler nicht alleine lassen könnte. Sie teilte den Beamten mit, dass ihr Vater sich wieder einmal nur aufspielen würde und dieser stets maßlos übertreiben würde. Nach einigen vergeblichen Versuchen, das Mädchen ans Fenster zu holen, durch Rufen, reichte es den beiden Beamten. Da sie mit Recht in der Annahme waren, dass hier Gefahr in Verzug war, beschlossen sie die Tür mit Gewalt zu öffnen. Erschrocken sah Charly den Polizeibeamten an, der zum Fenster hoch geklettert war. Der junge Mann, selbst Vater zweier Kinder, wurde richtig panisch und griff jetzt energisch durch. Der Beamte, der Charlys Vermutungen erst herunter gespielt hatte, übernahm jetzt die Initiative. Kurzentschlossen, schlug der Streifenführer eine Glasscheibe der Wohnungstür ein und griff nach innen, an die dort befindliche Klinke, um die Tür öffnen zu können. Zum Glück der drei besorgten Männer, war die Wohnungstür nur zugezogen und nicht abgeschlossen. So kam man ohne die Tür gänzlich zu beschädigen in die Wohnung.

Kaum, dass die Tür geöffnet war, stürmte Charly nach hinten in Gittas Büro, gefolgt von dem Beamten, um nach seiner Enkelin zu sehen. Fast drei Stunden versuchte der Großvater nun schon, die Kleine zu erreichen. Kopfschüttelnd sahen sich die Beamten in dem Zimmer um. Die Polizeibeamten, die selber beide Kinder hatten, konnten nicht glauben, was sie in Gittas Büro erblickten. Das Mädchen lag nur in einem Schlüpfer und einem Hemdchen bekleidet, unter einer dünnen Decke. In einem unbeheizten Raum von nur 8°C. Erschrocken stellten die Beamten und der Großvater fest, dass sich Charlotte im Fieberwahn auf ihrer Lagerstatt herumwälzte und nicht einmal mehr richtig zugedeckt war. Dass sie trotz des hohen Fiebers, blaue Lippen, eiskalte Hände und Füßchen hatte. Der jüngere der beiden Beamten, zog sofort seine Jacke aus und legte Charlotte in seine dicke Dienstjacke. Eilig lief er mit ihr in das warme und gut beheizte Wohnzimmer. Fassungslos darüber, dass man ein krankes Kind, in diesen eisigen Raum gelegt hatte, obwohl es einen wohltemperierten Raum in der Wohnung gab, kämpften alle drei Männer gegen ihre Wut. Dort angekommen massierte der Beamte dem Mädchen erst einmal, die völlig unterkühlten Hände und Füße. Sein Kollege informierte zeitgleich, über Funk, die Zentrale und forderte, sofort einen Notarzt und einen Krankenwagen an, um das Mädchen versorgen zu lassen. Der Notarzt ließ Charlotte mit Blaulicht und Sirene in ein Krankenhaus bringen, da diese in akuter Lebensgefahr schwebte. Keine zwei Stunden später, wäre Charlotte gestorben, so die Aussage des Arztes. Da ihr Herz, das hohe Fieber nicht mehr verkraftet hätte. Da es zusätzlich zu dem Fieber, auch noch gegen die Unterkühlung ankämpfen musste.

Fast fünf Wochen lag seine Enkelin auf der Intensivstation, bis es ihr wieder einigermaßen gut ging. Durch das hohe Fieber, die Unterkühlung und den Flüssigkeitsmangel war der Kreislauf vollständig zusammen gebrochen. Acht Wochen musste Charlotte im Krankenhaus bleiben, da sie an einer schweren doppelseitigen Lungenentzündung und einer Rippenfellentzündung erkrankt war. Charlotte hatte, wie sich bei der Untersuchung des Notarztes herausstellte, 41,9 °C Fieber. Dieses Fieber hatte sie schon seit den frühen Morgenstunden. Gitta hatte es also nicht einmal für nötig gehalten, bei ihrer Tochter am Morgen Fieber zu messen. Der Körper der Kleinen war völlig dehydriert und wurde schon über einen Tag, nicht mit genügend Flüssigkeit versorgt. Es konnte festgestellt werden, dass Charlotte über achtzehn Stunden, nichts getrunken hatte und zum Schluss dazu auch ohne Hilfe nicht mehr in der Lage gewesen wäre. Trotz des sehr hohen Fiebers hatte ihr Gitta, nicht einmal ihre vom Arzt verordneten Medikamenten, gegen das Fieber und die Erkältung gegeben. Obwohl sie dies nachweislich erhalten hatte. Vom Notarzt, aber auch von Charly und den Beamten des Streifenwagens, wurden gerichtliche Schritte gegen Gitta eingeleitet. Diesmal war sie zu weit gegangen.

Sie hatte nicht nur ihre Aufsichtspflicht, aufs Gröbste verletzt, sondern hätte als Lehrerin, die Gefahren erkennen müssen, der sie ihrer Tochter wissentlich ausgesetzt hatte. Bei der Gerichtsverhandlung entschuldigte sich Gitta, für ihr Fehlverhalten und bekannte sich in allen Anklagepunkten für schuldig. Gestand allerdings offen, dass sie sich mit der gesamten Situation überfordert gefühlt hatte. Deshalb wurde das Verfahren gegen sie eingestellt.

Gitta wurde ihr guter Leumund als Lehrerin, zu gute geschrieben und dass sie gestand, dass sie sich einfach entscheiden musste, zwischen dem Wohl eines und vieler Kinder. Sie hätte die Situation, aus mangelnder Erfahrung, völlig falsch eingeschätzt und hatte sich völlig überfordert gefühlt. Sie versprach dem Richter hoch und heilig, dass so etwas in Zukunft nie wieder vorkommen würde und sie sich, ab sofort in solchen Situationen, Hilfe holen würde, um sich besser um ihre Tochter kümmern zu können. Der Richter glaubte den Versprechungen der Lehrerin, bei dem auch sein Sohn zur Schule gegangen war und die er stets als sehr nette und immer hilfsbereite Frau, kennen gelernt hatte.

Keiner der an der Verhandlung teilnahm, verstand dieses Urteil. Resultierend aus dieser Erfahrung, vertraute niemand aus der WoKi, nach diesem Vorfall, der Mutter ihres Zöglings. Da die Verantwortung für die Kleine ganzjährig der WoKi oblag, verständigte niemand mehr Gitta in einem Notfall. Charlys Tochter, hatte also erreicht, was sie wollte. Man ließ sie in Ruhe, mit allem, was dieses Gör betraf. Die Leitung der WoKi holte sich von diesem Tag an, stets den Großvater zu Hilfe. Dort wusste sie Charlotte in guten Händen und vor allem, gut und liebevoll betreut.

*

Nach der Genesung Charlottes und kurz nach der Gerichtsverhandlung, bat die Leiterin der Woki den Großvater zu einem Gespräch und wollte von ihm genau wissen, was eigentlich geschehen war. Man verstand einfach nicht, wieso Charlotte so schwer erkrankt war. Sie hatten leicht erhöhte Temperatur, 37,2°C, es bestand wirklich kein Grund sich Sorgen zu machen. Vor allem weil die Kleine nur etwas Schnupfen und Husten hatte. Der zuständige Arzt der Wochenkindertagesstätte der Charlotte untersucht hatte, war sehr korrekt und bei dem kleinsten Verdacht auf eine Lungenentzündung oder einer leichten Bronchitis, hätte er das Mädchen sofort in ein Krankenhaus eingewiesen, dazu bestand wirklich keinerlei Grund. Die Erzieher konnten sich nicht erklären, wieso Charlotte innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden so schwer erkrankt war. Nach dem Bericht des Großvaters, wurde es der Erzieherin allerdings klar. Umso weniger verstand man im Nachhinein, die Entscheidung des Gerichtes, die Mutter straffrei ausgehen ließ.

Was die beiden Erwachsenen leider nicht mitbekamen war, dass ihr kleiner Zögling an der Tür lauschte. Auch wenn sie nicht alles verstand, was die Erwachsenen da besprachen, wurde ihr klar, dass die Frau, die sie noch nie sonderlich mochte, schuld daran war, dass sie solange krank gewesen war und vor allem, dass es ihr so lange schlecht ging. Die Frau war schuld, dass sie so viele Spritzen bekommen musste und dass ihre Oma und ihr Opa, so viel an ihrem Bett geweint hatte. Ab diesem Tag, mochte Charlotte diese Frau noch weniger als zu vor, wenn das überhaupt möglich war. Denn sie bekam auch mit, wie sehr ihr Großvater weinte, als er ihrer Tante, das alles erzählte und dass Walli ihn ganz lange trösten musste. Aber sie verstand nicht, dass ihr Opa sich die Schuld an dem Leid gab, welches Charlotte getroffen hatte. Obwohl er eigentlich nichts dafür konnte. Heimlich war sie unten zu ihrem Freund, den Hausmeister, geschlichen und hat sich vom ihm erklären lassen, was Budapest ist. Weil sie das Wort noch nie zuvor gehört hatte. Der zeigte ihr auf einer großen Karte, wo Budapest lag. Vor allem erklärte er ihr, dass man viele lange Stunden mit dem Auto fahren musste, um dort hin zu kommen. Ihr Opa hatte aber kein Auto, das sagte sie dem Hausmeister und der erklärte ihr dann, dass es mit dem Zug noch viele Stunden länger dauern würde, um wieder nach Gera zu kommen. Der Opa hatte sich also ganz sehr beeilt, um zu ihr zu kommen und konnte gar nicht schneller da sein.

Allen in der WoKi war klar, dass Charly alles in seiner Macht stehende getan hatte, um seine Enkeltochter vor Schaden zu bewahren. Das Vertrauen Charlys in seine Tochter, wurde durch diesen Vorfall völlig zerstört und es würde lange dauern, um dieses wieder aufzubauen, wenn dies überhaupt möglich war. Für Charlotte stand jedenfalls fest. Sie würde nie wieder zu dieser Frau gehen.

*

Aber, wer fragte schon ein Kind, was es wollte und was nicht. Ihr war klar, dass sie machen musste, was man von ihr verlangte.

Vergeblich versuchte Charlotte einzuschlafen. Viel zu viele Gedanken gingen Ihr durch den Kopf. Dadurch fand sie einfach keine Ruhe. Auch weil sie Angst vor dem hatte, was ab morgen auf sie zu kam. Sie fürchtete sich vor den vielen neuen Dingen, vor allem vor den fremden Menschen. Sie mochte keine Fremden, damit hatte sie nie gute Erfahrungen gemacht. Aber sie hatte auch Angst um ihren Großvater und die Großmutter, die jetzt völlig alleine waren. Jo kam nur noch selten nach Hause und konnte die Oma nicht beschützen. Sie hatte Angst davor, dass diese böse Frau wieder zu ihren Großeltern fuhr und dass die beiden sich dann wieder so aufregen würden.

Charlotte kuschelte sich so gut es, ging in ihre Decke ein und an ihren Herr Bär. Sie war so müde. Vielleicht half es ihr, sich einfach hier wegzuträumen, von hier. So weit weg, wie nur möglich, von diesem schlimmen Ort. In ihrer Fantasie besuchte mit Opa und Oma, Klärchen und ritt mit ihr einfach davon. Vor ihr im Sattel saß Herr Bär und jauchzte vor Freude. Charlotte träumte sich ihr Leben schön, so wie sie es oft machte, wenn es ihr nicht gut ging.

*

*** Erste Begegnung ***

***

Das Herz der beiden alten Menschen blutete schlimm, als sie wieder nach oben in den dritten Stock und ihre Wohnung gingen. Klara, die nur zu gut wusste, was in ihrem Mann vor sich ging, ließ sich neben Charly aufs Kanapee fallen und nahm ihn in den Arm.

Ganz leise versuchte sie ihn zu trösten. „Charly, deine Lotti kommt doch wieder. Es ist kein Abschied für immer. Wenn sie wiederkommt, dann machen wir ihr zwei richtig schöne Wochen. An denen sie lange zehren kann. Es bringt der Kleinen nichts, wenn du dich jetzt so hängen lässt. Sie braucht dann einen fitten Opa. Wir haben ihr versprochen, da zu sein, wenn sie wieder kommt“, ernst sah sie ihren Mann an.

Klara konnte sich genau vorstellen, welche Gedanken ihren Mann beschäftigten. Auch sie hatte Angst, um das kleine zierliche Mädchen. Ihr ging es genauso, wie ihrem Mann. Sie kam sich vor, wie eine Verräterin vor. Mehr noch, als sich Charly vorstellen konnte. Was hätten sie denn noch machen sollen? Alles, was in ihrer Macht stand, hatten sie versucht. Da sie nicht das Sorgerecht für Charlotte bekamen, selbst darum hatten sie gekämpft. Aber sie waren nicht in der Lage gewesen, etwas gegen die Entscheidung ihrer Tochter zu unternehmen. Klara war aber inzwischen auch klar geworden, dass sie einen Großteil der Schuld, an der Entscheidung von Gitta trug. Dadurch, dass sie ihrer Tochter immer wieder sagte, dass sie nicht auch noch Charlotte großziehen konnte. Sich jetzt mit Vorwürfen zu überschütten, war keine Lösung. Sie mussten einfach versuchen, für Charlotte das Bestmögliche, aus dieser verfahren Situation zu machen. Klara hatte nicht nur Angst um ihre Enkeltochter, sondern vor allem um ihren Mann. Die ganzen Aufregungen in den letzten Monaten, dieses ständige Hoffen und dann jedes Mal wieder, diese schlimmen Enttäuschungen, hatten Charly an die Grenze des Ertragbaren gebracht. Nicht nur einmal, hatte er in den letzten Wochen gesagt, dass das Leben so keinen Spaß mehr machen würde. Traurig hielt sie ihren, jetzt weinenden, Mann in den Armen. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Wochen, in den Schlaf geweint. Er fühlte sich verlassen und verraten, von der eigenen Tochter. Nicht einmal der Tod der drei Söhne, hatte ihn seelisch so fertig gemacht, wie dieser Verrat.

Charly hatte bei der Erziehung seiner Kinder, immer viel Kraft darauf verwendet, ihnen Werte zu vermitteln. Er wollte seinen Kindern immer den Sinn von Gemeinschaft, Freundschaft, Familien und die Einhaltung bestimmter Normen beibringen. Wie oft hatte Klara ihn darum beneidet, wie er mit seinen vier Kindern, durch die Welt lief und ihnen mit so einfachen Worten, die Wichtigkeit dieser Werte klarzumachen versuchte.

„Schaut euch einmal diese Herde an“, erinnerte sich Klara an einen Spaziergang, der kurz nach Kriegsbeginn stattgefunden hatte. „Seht ihr dort, ist der Leithirsch. Seht ihr, wie dieser ständig herumschaut, um dafür zu sorgen, dass es seiner Herde gut geht. Er ist ständig auf der Wacht, um jede mögliche Gefahr zu entdecken. Um seiner Herde sofort sagen zu können: Wir müssen hier fliehen. Es droht uns eine Gefahr. Genauso, müssen wir Männer, auf unsere Familien schauen. Gitta, siehst du das Muttertier dort?“, Carlos zeigte in dem Moment auf eine Hirschkuh, die gerade ein Kitz säugte. Gitta war bei dem Ausflug ungefähr elf Jahre alt. Wie alle ihre Kinder, war sie an der Natur interessiert und konnte stundenlang mit ihrem Vater im Wald herumstromern. „Siehst du, wie sie die Ohren bewegt. Obwohl sie ganz ruhig da steht, achtet sie genau auf jede Bewegung, die in ihrer Nähe geschieht. Sie würde niemals zulassen, dass ihrem Kind etwas geschieht. Kinder müsst ihr wissen, sind das Wertvollste, was es im Leben gibt. Familie ist wie eine Nussschale, die das Innere, das Weiche in der Nuss, beschützt. Genauso muss man es in einer Familie tun. Die Älteren beschützen die Jüngeren und die Eltern, ihre Kinder. Es gibt nichts Wichtigeres, im Leben eines Wesens und es spielt dabei keine Rolle, ob es ein Tier oder ein Mensch ist. Die Kinder der Natur sind alle gleich wichtig, für das Weiterleben und Weiterexistieren unserer Welt. Im Tierreich ist das genauso, wie bei den Menschen. All unsere Erfahrungen und all unsere Liebe, leben in unseren Kindern fort. Auch in euch. Deshalb, sollte man Kinder, als das Wichtigste überhaupt ansehen und diese so gut es geht beschützen und behüten.“

Immer wieder erklärte Charly seinen Kindern diese Werte und wie freuten sie sich, dass wirklich alle Vier, diese verinnerlichten. Weder sie noch ihr Mann begriffen, wieso Gitta auf einmal, einen völlig anderen Weg einschlug. Immer wieder fragten sie sich, was sie falsch gemacht hatten.

Charly stand auf, gab seiner Frau einen Kuss. „Klara, ich leg mich hin. Sei nicht böse, mir ist gerade alles zu viel“, bat er seine Frau leise um Verständnis.

Seine Frau nickte ihm lächelnd zu. Sie wusste, dass er alleine sein wollte. So war es immer gewesen, wenn er mit etwas nicht klar kam. Er zog sich zurück und suchte für sich eine akzeptable Lösung. Hatte er diese dann gefunden, war er wieder der Alte. Der immer strahlende und immer lächelnde Charly, der allen half und für jedes Problem, eine Lösung fand. Liebevoll streichelte Klara ihrem Mann über das Gesicht und lächelte ihn zu. So zog sich Charly zurück, ins gemeinsame Schlafzimmer und Klara ging in die große Küche, um die liegen gebliebene Wäsche zu bügeln. Sie ging wie so oft in ihrem Leben, zum Alltag über. Was hätte alles andere auch genutzt? Den Sorgen hinterher zu laufen, das musste Klara in ihrem Leben schnell lernen, brachte nur noch mehr Sorgen und noch mehr Leid. Es loszulassen, löste oft schon die halben Probleme. Deshalb fing sie an zu singen. Das Singen ermöglichte ihr, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. So sang sie eine traurige Volksweise nach der anderen und brachte damit ihre Stimmung zum Ausdruck.

Charly legte sich so wie er war, auf das Bett. Auch, wenn er wusste, dass das seiner Klara nicht gefallen würde. Die mochte nicht, wenn man sich auf die Tagesdecken legte. Denn die hatte sehr viel Arbeit gemacht. Normalerweise achtete er akribisch auf solche Kleinigkeiten, aber heute war es ihm egal. Er war emotional viel zu aufgewühlt, sodass er am liebsten etwas zerschlagen hätte.

Auch, wenn sein kleines Mädchen nicht geweint hatte, er sah ihr genau an, wie es ihr Herz zerriss. Wie genau er seine Kleine schon kannte. Es war erstaunlich, dass das kleine Mädchen, überhaupt noch zu jemand aus der Familie, Vertrauen hatte. Erst fünfeinhalb Jahre war sein kleiner Engel und wurde schon so oft verraten, betrogen und vergessen. Charly machte sich immer wieder Vorwürfe, sich nicht eher, um das Mädchen bemüht und sich das Recht einforderte, Charlotte sehen zu können. Er hatte am Anfang stets das Gefühl, dass es ihr bei den Eltern gut ging und bekam gar nicht mit, dass Gitta die Kleine einfach abgeschoben hatte. Dass sie Charlotte nie mitbrachte, hatte ihn nie stutzig gemacht. Er war traurig darüber, das ja, aber stets hatte Gitta eine plausible Ausrede. Einmal war es ein Fest in der WoKi. Das nächste Mal, war Max mit ihr bei seinen Kindern und sonst hatte Gitta niemals Zeit. Dass seine Tochter ihn ständig anlog, bekam er gar nicht mit. Er vertraute ihr und nahm das, was sie sagte, als eine Tatsache hin. Wie konnte er nur die ganze Zeit so blind sein? Er konnte es heute einfach nicht mehr begreifen. Nur durch einen dummen Zufall, war er dahinter gekommen, dass sich seine Tochter, zu einem solchen Charakterschwein mutiert war. Er schämte sich, für ihre Existenz. Was hatte er nur falsch gemacht in der Erziehung seiner Tochter. War es Vorsehung, dass er das Lügengerüst seiner Tochter aufgedeckt hatte? Er wusste darauf keine Antwort. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass er seiner Tochter nicht mehr vertrauen konnte, wenn es um die Enkeltochter ging. Vor allem, das seine Kleine durch so viel Einsamkeit musste.

Charly stand vom Bett auf und rieb sich, wie so oft in der letzten Zeit, die Brust. Ihm tat ständig sein Herz weh und es war ihm alles zu viel. Er lief zu seinem Ohrensessel, der am Fenster stand und setzte sich dort hinein. Lange sah nach unten zum Fluss und beobachtete die Menschen, die dort spazieren gingen. Er blickte den Familien hinterher, die lachend mit ihren Kindern am Fluss tobten oder einfach Hand in Hand entlang liefen. Warum so fragte er sich oft, war so ein kleines Glück nicht auch für seine Lotti möglich. Was hatte seine Kleine verbrochen, dass man sie so bestrafte. Er würde darauf nie eine Antwort finden, dass wusste er. Aber es tat schon weh, zu sehen wie die Kleine litt. So wie er es oft tat, wenn er in Gedanken einem Problem nachhing, für das er keine Lösung wusste, schaltete er alles um sich herum aus. Er kehrte zurück in die Vergangenheit, um den Ursprung des Problems zu finden.

*

Vor ungefähr zwei Jahren unterhielt sich Charly, mit einem seiner Untergebenen, aus Truppe der Feuerwehr. Sie saßen während einer Waldbrandbereitschaft, am Wochenende, zusammen im Bereitschaftsraum und unterhielten sich, über dieses und jenes. Sein Kollege erzählte von seiner Frau und davon, dass sie sich so selten sahen. Dass seine Frau in einer Wochenkindertagesstätte, als Leiterin tätig war. Charly musste sich erst einmal erklären lassen, was das überhaupt war, da er von so einer Einrichtung noch nie etwas gehört hatte. Sein Kollege kam richtig ins Schwärmen und erzählte ihm, wie viel Spaß seine Frau diese Arbeit machen würde. Er erzählte ihm von den Kindern, der Krippe und des Kindergartens, die er alle mit Namen kannte. Auf einmal, wurde sein Blick unglaublich traurig.

„Charly, stell dir einmal vor, da ist diese kleine Charlotte. Sie ist jetzt dreieinhalb Jahre alt. Sie wurde vor drei Jahren das letzte Mal abgeholt. Kannst du dir das vorstellen. Niemand holt die Kleine, einmal aus der Krippe ab, obwohl sie Eltern und Großeltern hat. Die ist seit ihrer vierten Lebenswochen in der WoKi und sagt zu den Erzieherinnen Mama. Ihre leibliche Mutter ist Lehrerin, der Vater war Polizist und arbeitet jetzt wieder als Bergmann und selbst die Großeltern, wollen die Kleine nicht. Stell dir mal vor, diese hartherzigen Großeltern, bezeichnen das kleine Mädchen, sogar als Bastard. Hat die Mutter der Kleinen meiner Frau erzählt. Dieses arme Mädchen, hat zwar eine Familie, aber ist trotzdem ganz alleine. Diese Frau, Mutter kann man sie nicht nennen, hat wirklich jedes Wochenende irgendeine andere plausible Erklärung dafür, warum sie ihre Tochter wieder nicht abholen kann“, bei den Worten Charlotte und Lehrerin wurde Charly hellhörig. Dachte aber erst, es wäre ein Zufall. Da er ja wusste, das Gitta und ihr Mann, sehr viel mit ihrer Tochter unternahmen. Charlotte war ja nun auch nicht gerade ein seltener Name.

„Jupp, sag mal. Du weißt, dass ich meine Enkeltochter nie zu Gesicht bekomme. Was hältst du davon, wenn ich mir die Kleene, am Wochenende einmal hole und mit ihr in den Tierpark gehe, so als Ersatz-Opa. Dann hat die kleine Maus auch einmal jemanden, der sie abholt und mit ihr alleine etwas unternimmt“, schlug Charly, aus einem spontanen Gedanken heraus, einfach vor. Wie gern würde er dies einmal mit seiner Charlotte machen. An seine Enkeltochter, kam er leider nie heran. Da seine Tochter und der Schwiegersohn es immer so einrichteten, dass sie am Wochenende nicht da waren. In der Woche allerdings, war diese auch in einer Einrichtung. Wo, wusste Charly damals noch nicht.

Sein Kollege zuckte mit den Schultern. „Charly, dazu kann ich nichts sagen. Aber ich rede einfach mal mit meiner Frau. Die Idee finde ich spitze. So als Patenschaft, das wäre eine gute Idee. Weißt du, wir richten unser ganzes Leben nach der WoKi. Ab und an, würde ich meine Frau auch gern mal für mich haben. Aber ich kann sie schon verstehen. Sie kann ja selber keine Kinder bekommen und geht in ihrer Arbeit völlig auf. Außerdem, was soll sie machen, wenn Charlotte nicht abgeholt wird, muss eine Erzieherin da bleiben. Die meisten haben ja selber Kinder, also bleibt meine Frau fast jedes Wochenende dort. Nur gut, dass ich rollende Woche arbeite und wir so, oft in der Woche einmal zusammen frei haben können. Sonst würden wir uns gar nicht mehr sehen“, traurig sah Jupp seinen Freund und Kollegen an, der ihm beruhigend auf die Schulter klopfte.

„Mach das, du weißt ich stehe zu meinem Wort.“

Schon unterhielten sie sich über andere Sachen.

Drei oder vier Wochen später, bekam Charly auf Arbeit einen Anruf von Waldtraut Simon, Jupps Frau. Diese bat ihn zu einem Gespräch in die Wochenkrippe zu kommen. Charly machte sich freudig auf den Weg, nichts ahnend, dass er dadurch eine Lawine ins Rollen brachte. Vor allem, dass er gleich, die schönste, aber auch schlimmste Überraschung seines Lebens erleben würde.

Charly kam pünktlich in der Wochenkindertagesstätte an und klingelte an der Tür, erbat an der Gegensprechanlage Einlass. Waldtraut Simon, die von allen nur Walli gerufen wurde, wartete am Treppenabsatz im ersten Stock, lächelnd auf ihren Besucher.

„Guten Morgen, Herr Krause. Kommens hoch, mein Mann hat mir schon so viel von ihnen erzählt. Ich freue mich, dass wir uns endlich einmal persönlich kennenlernen. Ich bin Waldtraut Simon, die Leiterin der WoKi „Kinderland“. Kommen sie bitte“, wurde Charly von der schlanken, dunkelhaarigen und noch sehr jungen Frau begrüßt, die ihn strahlend ansah.

„Guten Tag, Frau Simon. Sagen sie ruhig wie der Jupp, Charly zu mir. Es bleibt ja in der Familie, den Jupp habe ich ja auch schon halb adoptiert“, erklärte Charly in seiner offenen Art, der Frau seines Freundes und Kollegen.

Sie betraten das Büro der Leiterin und sie nahm an den großen Tisch Platz. „Setzen sie sich bitte, möchten sie Kaffee oder Tee“, fragte sie und umging die Anrede einfach. Sie konnte den netten älteren Herren nicht so einfach mit Vornamen anreden. Sie würde das mit der Zeit entscheiden, wenn ihr dieser Mann wirklich sympathisch war, würde das von alleine passieren.

„Ich würde gern einen Kaffee trinken“, Charly lächelte und setzte einen Satz nach, den er oft benutzte, um angespannte Situationen aufzulockern. „Schwarz, wie meine Seele.“

Dieser Satz brachte ein Lächeln, auf das auf einmal angespannt wirkende Gesicht, von Walli. Jupp, hatte ihr schon viel von seinem umgänglichen und stets hilfsbereiten Kollegen erzählt. Der stets da war, wenn man ihn brauchte. Dreimal schon erzählte ihr Mann, hätte dieser alte Herr, ihm das Leben gerettet. Sie könnte ihm voll und ganz vertrauen.

Das erste Mal bei einem Einsatz während des Hochwassers, vor sechs Jahren. Jupp war noch ganz neu auf der Feuerwache und gerade mit der Ausbildung zum Brandmeister fertig geworden. Er rettete ein Mädchen, aus dem Wasser. Als er ins Boot klettern wollte, geriet er in eine Strömung und einen Sog. Er kam dagegen nicht mehr an, da er am Ende seiner Kraft war. Das eisige Wasser, nahm ihm die Kraft und die Luft. Charly nahm ein Seil und sprang, mit seinen sechsundsiebzig Jahren, ohne zu zögern ins eisige Wasser und tauchte, holte seine Kollegen zurück. Ohne dessen Hilfe, wäre Jupp damals ertrunken. Das zweite Mal, als ein Haus nach einem Brand einstürzte. Damals wurde Jupp, von Charly im letzten Moment zur Seite gerissen und entging gerade noch so, einem herabstürzenden Trägerelement. Erst letztes Jahr, bei einem schlimmen Waldbrand, rettete er seinen Kollegen und sich das Leben, als sie vom Feuer eingeschlossen wurden. Die völlig in Panik geraden Kollegen, wollten versuchen durch das Feuer durchzubrechen. Das war allerdings viel zu gefährlich, da man nicht wusste, wie breit der Feuergürtel war. Deshalb schlug Charly etwas vor, was man im Krieg einige Male gemacht hatte. Sie gruben sich ein. Man hatte nur wenige Minuten Zeit, denn die Feuerwalze kam mit einer ungeheuren Geschwindigkeit, auf die fünf Feuerwehrleute zu. Als seine Kollegen nicht reagierten, brüllte sie Charly an und schubste die Kollegen einfach in einen Graben und warf Erde auf sie. Im letzten Moment konnte sich auch Charly noch eingraben und so überlebten die Fünf dieses Drama. Sie hatten zwar alle eine Rauchvergiftung und einige Blessuren und leichte Verbrennungen. Aber sie hatten, dank Charly, alle überlebt. Diese Dinge brachten Charly natürlich schon viele Sympathiepunkte, bei der Leiterin der WoKi ein. Denn ohne diesen Mann, wäre sie heute Witwe.

Nachdem der Kaffee durchgelaufen war, schüttete sie dem Rentner eine Tasse ein und stellte auch eine Schüssel mit Plätzchen auf den Tisch. „Lassen sie es sich schmecken. Die Kekse, haben wir mit den Kindern, heute extra für sie gebacken“, erklärte Walli ihrem Gast.

„Na dann, muss ich die Kekse gleich einmal probieren. Mal sehen, was ihr so zusammen gebacken habt“, bedankte sich Charly und griff nach den Keksen.

„Jupp hat mir erzählt, sie würden gern einmal etwas mit Charlotte unternehmen. Wieso? Sie haben, soviel ich weiß selber Enkel“, erkundigte sich Walli.

„Ach wissen sie Frau Simon. Es ist schwierig zu erklären. Wer spricht schon gern über unangenehme Dinge. Als Jupp mir erzählte, dass sie hier ein kleines Mädchen haben und dass man die Kleene nie abholt. Da kam mir diese spontane Idee. Wissen sie…“, Charly machte eine sehr lange Pause. Er wusste nicht, wie er sich erklären sollte. Selten war er um Worte verlegen. Aber er mochte auch nicht schlecht über seine Tochter reden. Ihm war aber klar, dass er offen zu der Leiterin sein musste, damit sie seine wahren Beweggründe verstehen konnte und nicht auf absurde Ideen kam.

„Ich sollte, was wissen?“, harkte Walli nach, der die Pause viel zu lang war.

Tief holte Charly Luft. Es nutzte nichts, er musste sich erklären. Charly rieb sich das Genick und sah die Frau seines Kollegen offen an. „Da muss ich jetzt wohl durch…", tief holte Charly Luft. "... Wissens, es ist schwer über Familienproblem zu reden. Sie müssen wissen, ich habe auch eine Enkeltochter. Leider verhindern meine Tochter und mein Schwiegersohn ständig, dass ich sie sehen kann. Dabei würde ich mich so gern, ab und zu einmal um die Kleene kümmern. Nicht jeden Tag, wie um meinen Enkel, der ja bei uns wohnt, aber wenigstens ab und zu einmal“, verlegen sah er Walli an. „Wissen sie Frau Simon, ich habe Charlotte, ja die Kleene heißt genauso, erst einmal kurz gesehen. Das war unmittelbar nach der Geburt. Über die Woche, ist sie in einer ähnlichen Krippe, wie diese hier und am Wochenende unternehmen meine Tochter und ihr Mann ständig etwas mit der Kleinen. So dass sie niemals Zeit haben, zu uns zu kommen. Ich kann das ja verstehen. Beide sind berufstätig, mit Berufen die sehr zeitintensiv sind und wo man auch nach Feierabend einmal ran muss. Aber könnten sie nicht wenigstens einmal auf einen Kaffee vorbei kommen, mit der Kleinen. Ich bin nicht mehr der Jüngste, mit meinen zweiundachtzig Jahren. Auch, wenn ich noch sehr rüstig bin. Lange werde ich Charlotte nicht mehr sehen. Mir zieht es das Herz zusammen, dass das Mädchen ihren Opa nicht einmal kennt. Dabei würde ich sie so gern einmal sehen“, Charly zuckte mit den Schultern und sah Walli verlegen an. „Ihre Charlotte dagegen hat keinen Opa oder besser gesagt, der will sie nicht haben und beschimpft sie sogar als Bastard, hat mir Jupp erzählt. Ich kann solche Menschen einfach nicht verstehen. Das arme Kind. Ich habe eine Enkelin, die ich nicht zu Gesicht bekomme, also kam mir die Idee. Ich könnte der Ersatz-Opa für Charlotte werden und Charlotte für mich der Ersatz-Enkel. So wäre uns beiden geholfen“, erleichtert atmete Charly auf.

Er war froh, sein Dilemma einigermaßen erklärt zu haben. Schon auf den Herweg hatte er überlegt, wie er sein Vorhaben am besten erklären konnte.

Kopfschüttelnd hörte sich Walli das alles an. Ihr kam da irgendetwas sehr spanisch vor. Sie sah Charly Krause lange an. Dann stand sie auf und ging zu einem Aktenschrank und zog eine Akte hervor. Setzte sich an ihren Schreibtisch und sah etwas nach. Denn ihr schwante da etwas, dass sie nicht glauben konnte und wollte. Wie oft hatte sie sich nach Telefonaten mit Charlottes Mutter, über diese Großeltern aufgeregt. Sollte es wirklich so sein, wie sie vermutete. Dann hatte sie denen oft Unrecht getan und die Mutter von Charlotte, war eine sehr gute Schauspielerin, vor allem eine exzellente Lügnerin. Die eine Vorstellung lieferte, die man sich in den kühnsten Träumen, nicht vorstellen konnte. Wie oft hatte diese am Telefon, geweint und ihr Herz ausgeschüttet, über die unhaltbaren Zustände mit ihren Eltern. Jetzt erscheint eben dieser Mann hier und klagte ihr sein Leid, dass er seine Enkeltochter nicht sehen durfte. So viele Zufälle konnte es bald nicht geben. Zugegebener Maßen Krause war kein seltener Name hier in der Region, auch Charlotte nicht. Der Nachname von Charlottes Familie war allerdings selten. Der Vater der kleinen Charlotte hatte griechische Wurzen. Deshalb schaute Walli lieber noch einmal in der Akte nach, ob sie sich vielleicht irrte. Wenn sie sich richtig erinnerte, war Frau Dybas eine geborene Krause. Sie hatte die Daten von Charlotte noch richtig im Kopf. Das konnte einfach bald kein Zufall sein. Immer wieder schüttelte sie den Kopf und fuhr sich, über das zusammengebundene lange Haar.

Fluchend saß sie am Schreibtisch. „Das gibt es doch nicht“, schimpfte sie vor sich hin. Drehte ihr Gesicht dem Mann zu, der gern für ein „fremdes“ Kind Großvater sein möchte, weil er seine „eigene“ Enkeltochter nicht sehen konnte.

„Können sie mir etwas über ihre Enkeltochter erzählen?“, harkte Walli nach.

Charly zuckte mit den Schultern. „Frau Simon, wie denn? Ich besitze kein Foto von ihr, nicht einmal das hat man uns zugestanden. Wie ich ihnen bereits gesagt habe, sah ich die Kleene nur einmal, das waren höchstens zwanzig Minuten. Danach habe ich sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich weiß nicht viel über meine Enkeltochter. Ich kann ihnen nur erzählen, was ich vom Hörensagen weiß.“

„Gut, dann erzählen sie mir etwas von ihrer Tochter. Verstehen sie mich bitte richtig. Ich kann nicht ein Kind aus meiner Obhut, an mir irgendeine fremde Person herausgeben. Dazu müsste ich schon einiges mehr über sie wissen und ich muss das auch mit den Eltern abklären. So einfach ist das nun einmal leider nicht. Sie sind ja nicht verwandt mit der Kleinen“, versuchte Walli ihrem Gegenüber, ihr Dilemma zu erklären, in dem sie steckte.

„Tja, also erst einmal zu mir. Mein Name ist Carlos Krause, allerdings werde ich von allen Charly gerufen. Ich bin eigentlich ein geborener Majoré, ich habe nach der Hochzeit hier in Deutschland, den Namen meiner Frau zuliebe, ihren Namen angenommen. Ich wurde dieses Jahr zweiundachtzig, meine Frau ist sechsundsiebzig und sie würde die kleine Charlotte auch gern kennenlernen. Sie leidet genauso darunter wie ich, dass wir unsere Kleine nicht sehen dürfen. Meine Tochter heißt Margitta Dybas und mein Schwiegersohn Maximilian Dybas. Beide sind berufstätig und ihre gemeinsame Tochter ist zweieinhalb, nein das stimmt nicht, sie ist jetzt schon dreieinhalb. Wie alt ist eigentlich ihre kleine Charlotte, danach habe ich Jupp gar nicht gefragt. Ich weiß gar nicht, ob er mir überhaupt gesagt hat, wie alt die Kleen ist. Aber das spielt auch gar keine Rolle“, wollte Charly auf einmal wissen. Irgendwie irritierte ihm das Verhalten von Jupps Frau.

„Tja“, meinte Walli da und sah Charly offen an. Denn dieser bestätigte mit seinen Worten, die Befürchtungen der Leiterin der WoKi. „da haben wir jetzt ein schwerwiegendes Problem. Ich darf ihnen Charlotte nicht heraus geben. Nicht bevor die Eltern mir das erlaubt haben.“

Charly sah Walli völlig durcheinander an. „Wieso das denn?“, rutschte es ihm heraus.

„Weil ihre Tochter mir ausdrücklich verboten hat, Charlotte an ihre Großeltern herauszugeben. Da ihr Vater, diesen Bastard umbringen würde. So waren die Worte, die mir ihre Tochter sagte, als ich sie bat, mit ihnen darüber zu sprechen, dass sie am Wochenende, Charlotte ab und an einmal nehmen könnten.“

Fassungslos starrte Charly die Frau seines Kollegen an. Er konnte ihr nicht folgen und schnappte nach Luft. „Ich habe ... was gesagt?“, fragte er deshalb noch einmal nach.

„Dass sie diesen Bastard umbringen würden, wenn sie ihn in die Finger bekommen. Sie würden solch einen griechischen Wechselbalg, wie das was ihre Tochter zur Welt brachte, nicht anerkennen und sie solle mit dieser Göre zur Hölle fahren. Dass sie mit diesem Bastard nicht zu tun haben wollen.“

Fassungslos starrte Charly, Jupps Frau an und schnappte schwer nach Luft.

Walli beobachtete wiederum jede der Reaktionen des älteren Herrn, der schneeweiß in Gesicht geworden war und nicht glauben konnte, was er gerade an den Kopf geschmissen bekam.

„Wie bitte? Was habe ich gesagt? Ich würde meine Enkeltochter töten, wenn ich sie bekomme in die Hände? Das muss jetzt eine Verwechslung sein. Frau Simon, ich bin gebürtiger Franzose, noch dazu ein Zigeuner, für mich ist die Familie wichtiger als mein eigenes Leben. Ich würde niemals in meine Leben, einem Kind auch nur ein Haar krümmen. Ich liebe Kinder über alles“, mit Entsetzen in den Augen sah der Großvater die Leiterin der WoKi an. Seine Augen waren riesig und man sah die Halsschlagader pulsieren.  

Walli schüttelte mitleidig den Kopf. Die Reaktion des älteren Herren auf das Gehörte, zeigten ihr dessen Unverständnis und seine Fassungslosigkeit. So gut konnte niemand schauspielern. Der jungen Frau tat es leid, dass sie solche Informationen herausgeben musste.

Um einen neutralen Ton bemüht, um Charly nicht noch mehr zu schockieren, sprach sie jetzt ganz leise und mit traurigen Augen zu ihren Gegenüber: „Nein Herr Krause, das ist bestimmt keine Verwechslung. So leid es mir für sie tut. Ihre Tochter heißt, wie sie mir gerade gesagt haben Margitta Dybas. Sie ist am 2. Oktober 1926 geboren? Charlotte am 14. Februar 1959, ihr Schwiegersohn am 9. November 1915. Ich glaube nicht, dass es sich hierbei, um eine Verwechslung handelt. Aber ich finde es nicht in Ordnung, als was ihre Tochter ihre Enkelin bezeichnet hat“, wurde Walli jetzt böse, weil sie einfach nicht glauben wollte, dass eine Mutter so von ihrem Kind sprach.

Wenn das überhaupt noch ging, verlor Charly das letzte bisschen Farbe aus seine braugebrannten Gesicht. Er starrte auf die Frau von Jupp, wie auf eine Aussässige. Er konnte einfach nicht fassen, was man ihm da an den Kopf warf. Er stützte seinen Kopf auf die Hände und starrte schwer atmend auf die Tischplatte. Das musste er erst einmal verarbeiten. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Charly schwieg, atmete stoßweise und völlig verkrampft. Plötzlich stand er auf und lief zu Fenster, um nach draußen zu sehen.

„Her…“, begann Walli zu sprechen, die sich ernsthaft Sorgen und den älteren Herrn machte, der schneeweiß im Gesicht war und immer schwer Luft holte.

„Geben sie mir bitte einen Moment, Frau Simon“, unterbrach sie Charly freundlich, leise, wenn auch schwer atmend.

Er musste sich erst einmal beruhigen. Die Frau seines Kollegen, konnte nichts für das unglaubliche, vor allem aber unmögliche Verhalten seiner Tochter. Er wollte Walli nicht böse anfahren. Deshalb brauchte er einfach einige Minuten Ruhe, um herunter zu fahren. In diesem Zustand konnte er sich mit niemand vernünftig unterhalten.

Walli die nur zu gut verstehen konnte, was in ihrem Gegenüber vor sich ging, schwieg und ließ ihn zur Ruhe kommen. Fast zwanzig Minuten brauchte Charly, um sich wieder vollständig zu beruhigen. Lange stand er am Fenster und sah den Kindern auf der Wiese, beim Spielen zu. Ganz hinten im Hof, abseits der anderen Kinder, stand an einer Art Töpferscheibe, ein kleines schwarzhaariges Mädchen. Das seinen Blick wie ein Magnet auf sich zog. Sie hatte einen kleinen Bär unter den Arm geklemmt und versuchte irgendetwas, aus einer Masse zu Formen. Charly riss sich von dem süßen Anblick los und drehte sich zu Frau Simon um.

„Entschuldigen sie bitte mein Verhalten, Frau Simon. Jetzt kann ich auch verstehen, weshalb sie mich weiter siezen und nicht mit dem Vornamen ansprechen. Sie halten mich für ein Charakterschwein, größten Ausmaßes…“

Walli wollte ihm Widersprechen.

Das ließ Charly nicht zu und schüttelte den Kopf. „... Frau Simon, ich würde das Gleiche von mir denken, wie sie. Sie müssen dazu nichts sagen. Ich denke, wir hören an dieser Stelle auf. Ich werde mit meiner Tochter, einmal ein verdammt ernstes Wort reden müssen. Dazu brauche ich einige Informationen. Vorher, hat ein Gespräch mit ihnen gar kein Zweck. Bitte, ich möchte, dass sie mir genau aufschreiben, wann Charlotte seit dem sie hier in der Wochenkrippe ist, von ihrer Mutter und ihrem Vater abgeholt wurde. Um mehr bitte ich sie erst einmal nicht. Ich bräuchte noch eine Rufnummer, unter der ich sie erreichen kann. Ich möchte dies erst mit meiner Tochter klären. Sonst würde ich hier etwas sagen, was ich hinterher bereue. Haben sie bitte dafür etwas Verständnis für meine momentane Gemütsverfassung. Auch dafür, dass ich dieses Gespräch, heute nicht mehr weiterführen kann und auch nicht möchte. Vielen Dank für ihr Verständnis. Schicken sie diese Informationen bitte Jupp mit, ich sehe ihn ja morgen. Wir haben zusammen Dienst. Alles Gute und auf Wiedersehen“, sprach er leise, bestimmt und brach urplötzlich das Gespräch mit der Leiterin der WoKi ab.  

Mit diesen letzten Worten drehte sich Charly um und verließ, ohne noch einmal auf Waldtraut Simon zu blicken, deren Büro und die Wochenkrippe. Die gesamte Haltung des älteren Herrns drückte Fassungslosigkeit aus. Er schüttelte ständig den Kopf und war regelrecht in sich zusammen gefallen. Carlos Krause schämte sich in Grund und Boden. Er musste weg von Frau Simon, bevor er etwas tat, was ihm hinterher leid getan hätte. Denn das, würde die falsche Person treffen und Walli hatte sich keine solche Reaktion verdient.

Sein erster Weg führte an eine Telefonzelle, von der aus er seine Tochter anrief. Nach einigen Malen klingeln, meldete sich Gitta am Telefon. „Bei Dybas“, erklang eine freundliche und angenehme Stimme, am anderen Ende der Leitung.

Charly zwang sich nett und freundlich am Telefon zu sein. „Hallo Kleene, hier ist dein Vater. Sag mal könntest du übermorgen, kurz auf eine Tasse Kaffee vorbei kommen. Ich hätte etwas mit dir zu besprechen. Es dauert nicht lange, ist auch nichts Schlimmes“, erklärte und beruhigte seine Tochter am Telefon. Er wollte einfach nicht, dass sie wusste, um was es ging. Damit sie sich nicht vorbereiten konnte. Er wollte ihre Reaktion, auf seine Worte sehen.

„Klar Paps, wann soll ich da sein. Ich habe zwischen der Dienstbesprechung und dem Unterricht, eine Stunde frei. Da könnte ich auf die Schnelle mal vorbeikommen. Ich wäre 13 Uhr 30 da. Dass würde gut passen“, erklärte Gitta ihrem Vater.

„Ist klar, dann machen wir das so“, bestätigte er den Termin und legte auf. Wählte gleich noch einmal, nachdem er zwanzig Pfennige in den Schlitz des Apparates steckte.

Diesmal meldete sich fast sofort, eine Männerstimme. „Bei Simon.“

„Jupp, hier ist Charly. Ich habe keine Telefonnummer von deiner Frau. Sei so lieb und rufe sie bitte sofort einmal an. Sie möchte nicht, mit meiner Tochter telefonieren. Ich erzähle dir morgen alles. Bitte Jupp, ich muss mich erst einmal beruhigen. Sag deiner Frau, sie soll nicht schlecht von mir denken. Ich will das mit meiner Tochter, alleine klären. Auf meine Weise und zwar so, dass es sich für Charlotte, zum Positiven wenden kann“, erklärte der Rentner, völlig durcheinander, seinem Kollegen. Der ja gar nicht wusste, was los war und sich aus dessen Worten, auch gar keinen Reim machen konnte. Aber Jupp merkte auch sofort, dass mit Charly nicht gut reden war und schwieg deshalb lieber.

„Geht klar Charly, ich rufe sie gleich an“, schon hatte Jupp aufgelegt, um mit seiner Frau zu telefonieren.

Charly legte nun auch auf und lief eine große Runde, um nach Hause zu kommen. Obwohl er eigentlich nur knappe dreißig Minuten Fußweg vor sich hatte, lief er den um vieles längeren Weg und war so fast zwei Stunden unterwegs. Er brauchte diese Zeit, um sich selber zu beruhigen. Seine Frau konnte nichts für das, was seine Tochter da angestellt hatte. Aber er musste es ihr erzählen, da sie bei diesem Gespräche dabei sein sollte und musste.

Klara sah ihrem Mann sofort an, dass irgendetwas Heftiges, in dieser Wochenkrippe passiert sein musste und sie ahnte schlimmes. Charly ließ sich aufs Kanapee fallen und starrte lange an die Decke. Ganz leise begann er, seiner Frau nach einer halbe Stunde Schweigen, alles zu erzählen. Diese sah ihren Mann fassungslosem und tränennassem Gesicht an.

Den einzigen Satz den Klara nach dem Gehörten, über ihre Lippen brachte war. „Charly, was haben wir bei Gitta eigentlich falsch gemacht?“, darauf lehnte sie sich an die Schulter ihres Mannes und fing an hemmungslos zu weinen. Es brach ihr das Herz, das ihre eigene Tochter, ihren Mann in ein so schlechtes Licht rückte und auf diese gemeine Art ihre Tochter behandelte. Vor allem, dass sie so über ihre Familie sprach. Lange diskutierten die beiden alten Herrschaften, über das Geschehene. Sie kamen zu dem Schluss, dass man in zwei Tagen mit der Tochter einmal richtig Klartext reden musste. So ging das absolut nicht weiter.

Zwei Tage später, zur vereinbarten Zeit, klingelte es bei den Krauses. Wie immer, hatte Klara einen leckeren Kuchen gebacken und Kaffee war auch schon gekocht. So dass man gleich Kaffee trinken konnte. Charly ließ Gitta eintreten und setzte sich an den Tisch. Die Begrüßung fiel diesmal recht kühl aus, dass schien Gitta allerdings nicht zu stören. Man vesperte und sprach über dieses und jenes. Nach einer Weile, sah Charly seine Frau an und diese erhob sich. Man hatte sich darauf geeinigt, dass er mit Gitta alleine reden wollte. Als Klara den Tisch abgeräumt hatte und mit dem Geschirr auf dem Tablett in der Küche verschwand, sah Charly seine Tochter sehr lange an.

Bis es Gitta unangenehm wurde und sie nachharkte. „Paps, was ist los? Warum siehst du mich so böse an?“

Der Angesprochene holte tief Luft, denn er wusste, dass seine Tochter gleich explodieren und alle Schuld von sich weisen würde. Wenn er die falschen Worte wählte. „Tja, was soll ich sagen, Kleene. Dass ich sehr enttäuscht von meiner Tochter bin. Ich nicht verstehen kann, wieso diese ihre Mutter und mich, bei wildfremden Menschen dermaßen in schlechtes Licht rückt. Oder, dass ich mich ernsthaft frage, was wir, deine Mutter und ich, falsch gemacht haben, in deiner Erziehung? Dass du so bist, wie du bist. Einer der herzlosesten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Suche es dir bitte aus“, sagte Charly mit leiser Stimme, der man allerdings die mühsam unterdrückte Wut auf seine Tochter, sehr wohl anmerkte. Dabei sah er seine Tochter offen an.

Diesen Blick kannte Gitta nur zu gut. Wie oft hatte ihr Vater sie, als Kinder so angesehen, wenn sie etwas ausgefressen oder ihn angelogen hatten. Sie wusste, dass leugnen keinen Sinn hatte. Deshalb ging sie zum Angriff über.

„Was willst du von mir, Vater? Komm zur Sache und rede nicht um den heißen Brei“, forderte sie ihren Vater auf Klartext zu reden.

„Du weißt also nicht, worauf ich hinaus will. Du kannst es dir also nicht denken. Dann werde ich dir einmal auf die Sprünge helfen, liebe Tochter“, Charly imitierte die Stimme seiner Tochter sehr gut. „Du sagtest in der WoKi, deiner Tochter. „Mein Vater bringt meine Tochter um, weil sie ein Bastard ist? Sie dürfen ihn das Mädchen nicht geben“ Wie kommst du eigentlich dazu, mich vor fremden Menschen dermaßen hinzustellen? Vor allem, warum Gitta lügst du mich an? Wie oft hatte ich dich gebeten, mir Charlotte einmal vorbei zu bringen. Wie oft hast du mich eigentlich, wenn es um Charlotte ging, schon angelogen? Ist überhaupt etwas, von dem wahr, was du uns erzählt hast? Was ihr angeblich alles mit Charlotte gemacht haben wollt?“ Ernst sah Charly seine Tochter an.

Bei diesen Worten wusste Gitta, dass ihr Vater alle Details kannte, so war es immer. Stellte er sie auf diese Weise zur Rede, hatte Leugnen keinen Zweck mehr. „Ich habe dich immer angelogen, wenn es um diesen nutzlosen Bastard ging. Ich hasse dieses Balg. Sie bringt mir nur Ärger ein. Du willst sie wie Jo ganz haben, dann bitte nimm sie dir. Sie ist für mich nur Ballast, mehr ist sie für mich nicht. Ich hasse dieses Balg, mit jeder Faser meines Herzens. Ich wollte einen Stammhalter für Max und kein verweichlichtes Baby. Dass ich verhätscheln muss. Wenn möglich noch Einstricken müsste, mit rosa Wolle und der ich ein rosa Tütü kaufen muss, weil sie zum Ballett will. Was willst du von mir hören, Vater? Eine Entschuldigung. Da kannst du lange darauf warten“, schrie Gitta ihren Vater voller Wut an.

Trotzig reckte Gitta ihr Kinn vor und sah ihren Vater dabei an. Denn sie wusste genau, dass sie im Unrecht war und dass er Recht hatte. Das machte sie so verdammt wütend. Aber sie kam nicht gegen ihre Gefühle an. Sie war so enttäuscht damals, dass das Baby, ein Mädchen war. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie den Balg zur Adoption freigegeben. Aber das ging leider nicht, dann hätte sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten können.

Sie liebte ihren Beruf aber von ganzem Herzen. Sie war gern Lehrerin. Ja sie mochte diese fremden Kinder, sie kam nur mit ihren eigenen nicht klar. Für die Bälger, war sie vierundzwanzig Stunden am Tag verantwortlich, für die Fremden nur sechs. Vor allem, konnte sie deren Eltern sagen, was sie alles falsch machen würden, bei der Erziehung ihrer Kinder. Bei ihren eigenen Fehlern, war sie sehr dagegen sehr empfindlich. Sie konnte mit ihren Ratschlägen hausieren gehen und vor allem, wusste sie theoretisch, wie es besser ging. Nur bei den eigenen Bälgern, war sie komplett überfordert. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich dabei, um Jo oder Charlotte handelt. Sie sah den Hass in den Augen der eigenen Kinder. Wenn sie diese Bälger, wirklich einmal auf den Arm genommen hatte, fingen diese immer an sich zu winden und zu schreien. Deshalb wusste sie so genau, die Kinder hassten sie. Warum sollte sie sich also noch bemühen?

Charly sah sein Tochter an und schüttelte den Kopf. „Das ist nicht dein Ernst“, stellte er traurig fest.

„Ist es doch Vater. Was soll ich denn machen? Liebe muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Meine Kinder hassen mich, wie soll ich sie dann lieben?“

„Gitta, deine Kinder lieben dich. Sie haben allerdings Angst vor dir. Weil sie spüren, dass du sie nicht willst. Verrate mir eins, wieso stellst du deine Mutter und mich in so einem Licht dar. Wieso behauptest du, solche Dinge von uns? Du weißt, dass wir deine Kinder und damit unsere Enkel immer lieben werden. Es ist mir nicht egal, ob du sie liebst oder hasst, darauf habe ich allerdings keinen großen Einfluss. Aber ziehe uns nicht in deinen Hass hinein. So habe ich dich nicht erzogen. Bleibe wenigstens ehrlich“, forderte Charly von seiner Tochter.

Gitta schaute verlegen auf ihren Vater. Er hatte ja irgendwo Recht. Aber, was sollte sie machen? Sie war in diesen Strudel hinein geraden und kam dort einfach nicht mehr heraus. Sie wollte nicht als herzlos da stehen. Das war sie nicht, jedenfalls am Anfang nicht. Manchmal hatte sie ja Sehnsucht nach Charlotte gehabt und ist extra zur Wochenkrippe gefahren. Aber, wenn sie diese holen wollte, gab es nur Ärger. Das Mädchen fing an, wie am Spieß zu brüllen oder sie machte sich ganz steif in ihren Armen. Diese Frau Simon meinte immer, das wäre völlig normal, das Fremdeln würde weggehen, wenn sie das Mädchen öfter holen würde und sich mehr Zeit für die Kleine nehmen würde. Aber es war jedes Mal so, ganze vier Wochenenden hatte sie es versucht, damals war Charlotte noch ganz klein. Noch kein halbes Jahr war sie damals alt. Es wurde einfach nicht besser. Da hatte sie einfach aufgegeben, sollte sie doch in dieser Grippe einfach vermodern. Sie hatte genug Kinder, die sie liebten und die sie liebte. Die sich freuten, wenn sie von ihr in den Arm genommen wurden und die mit ihr schmusten. Vor allem, hatte sie ihre Ruhe, wenn sie nach Hause kam und konnte sich zurückziehen, um zu lesen. Keiner störte sie. Max sah im Fernsehen, seinen Sport und sie konnte lesen oder Handarbeiten machen. Das genügte ihr.

Lange sah Gitta ihren Vater an. „Du hast ja Recht, es war nicht richtig, was ich dort gesagt habe. Aber …“, verlegen sah sie Charly an. „… es war wie ein Zwang, ich wollte nicht als Rabenmutter dastehen. Ich dachte ja nicht, dass du es herausbekommst, dass ich das gesagt habe. Es war nicht richtig“, gab sie nun gezwungener Maßen zu.

„Dann bringe das in Ordnung. Veranlasse, dass wir, deine Mutter und ich, die Kleene jederzeit holen und sehen können. Gitta, deine Tochter ist dreieinhalb Jahre alt und kennt durch dein Verhalten, ihre Großeltern noch nicht einmal, ganz zu schweigen, dass sie wüsste, dass sie sogar einen Bruder hat. Du hast sie in den dreieinhalb Jahren, ganze neun Mal für einige Stunden aus der Krippe geholt. Schämst du dich eigentlich nicht? Dieses Kind, ist dein eigenes Fleisch und Blut, und du lässt sie bei fremden Menschen groß werden. Was soll das? Charlotte ist ganz alleine auf der Welt, obwohl sie Eltern hat und Großeltern und sogar einen Bruder. Schämst du dich denn gar nicht?“ Nur mühsam hielt Charly seine Wut zurück. Am liebsten hätte er seiner Tochter übers Knie gelegt und verprügelt. „Ich will, dass du dieser Frau Simon die Wahrheit sagst und zwar die volle und ungeschönte Wahrheit. Dann sorgst du dafür, dass wir die Kleene ab sofort, jederzeit holen können. Sooft wir das wollen und gesundheitlich noch können. Habe ich das jetzt so ausgedrückt, dass du das verstanden hast, jeune femme?" Was französisch war und junge Frau hieß. "Das kann doch alles nicht wahr sein. Was haben wir dir eigentlich getan? Dass du uns so hasst und solche Sachen über uns verbreitest. Du gehst sofort hinüber in die Küche und entschuldigst dich wenigstens, bei deiner Mutter. Die hat sich so ein Verhalten von dir, nämlich nicht verdient. Die weint seit zwei Tagen ohne Unterlass. Schämst du dich nicht, ihr so etwas anzutun, enfant?“, ernst sah er seine Tochter an und vor allem fordernd. Wie so oft nutzte Charly unbewusst, immer noch französische Begriffe, wie halt enfant, das nicht anderes als Kind bedeutete.

Gitta stand auf und trat auf ihren Vater zu. Sie nahm ihn in den Arm. Auch weil sie wusste, dass sie ihre Lügen nicht aufrecht erhalten konnte und ihren Vater schwer verletzt hatte. Da musste sie jetzt durch. Irgendwo in ihren Herzen wusste sie, dass ihr Vater im Recht war. Aber seine Liebe hatte ihn nicht davor bewahrt, drei seiner Kinder zu verlieren. Wie sehr hatte er damals geweint und ihre Mutter gejammert, wie hart das Leben zu ihnen doch war. Hatte er das alles vergessen. Sie wollte diesen Schmerz nicht kennen lernen. Aber sie wollte auch, die Liebe ihres Vaters nicht verlieren. Oft war sie hin und her gerissen und wusste nicht mehr, was richtig und falsch war. Dieses hin und her, machte sie fertig. Lieber ließ sie die Liebe nicht zu, als verletzt zu werden, wie damals als ihre Brüder starben. Oder, als sie den Vater von Jo kennen lernte. Wie sehr hatte sie Richard geliebt und er sie. Dann, als sie ihm sagte, dass sie schwanger war, rückte er mit der Wahrheit heraus. Er gestand ihr, dass er verheiratet war und selber schon fünf Kinder hatte. Er wolle nicht noch ein Balg. Fünf, wären genau fünf zu viel. Irgendwo, hatte Richard Recht. Wenn man den ganzen Tag, fremde Kinder um sich herum hatte, konnte man danach einfach keine Kinder mehr ertragen. Es war dann irgendwann einfach zu viel. Sie hatte das bei Jo damals, sehr schnell gemerkt. Warum also, sollte das bei Charlotte anders sein? Lieber ein Ende mit Schrecken, als Schrecken ohne Ende, hatte Richard damals zu ihr gesagt. Er ließ sie stehen und hatte sich nie wieder gemeldet.

Gitta ging nach drüber in die Küche und nahm auch ihre Mutter in den Arm. Danach verabschiedete sich von den Eltern und verließ kurz darauf, ziemlich geknickt, die Wohnung.

*

Sie lief zurück in ihre Schule. Im Sekretariat, wandte sie sich an ihre Kollegin.

„Marlies, kann ich drüben bitte einmal einen privaten Anruf machen. Es ist wichtig. Ich muss etwas mit der WoKi von Charlotte klären“, erklärte sie der Sekretärin.

„Klar, mach das in Ruhe. Ich sage Bescheid drüben, dass du etwas später kommst.“

Gitta lächelte der jungen Frau zu und nahm sich das Telefon mit in den Nachbarraum, um in Ruhe zu telefonieren.

Gitta wollte dieses unangenehme Gespräch, so schnell es ging, hinter sich bringen. Es brachte ja nichts, es vor sich herzuschieben. Ihr Vater hatte viel Verständnis und sie konnte viel bei ihm erreichen. War er aber einmal so auf Brass, wie heute, sollte man sich nicht mit

ihm anlegen. Tief holte sie deshalb Luft und wählte die Nummer von Frau Simon.

„Guten Tag Frau Simon“, begrüßte Gitta die Leiterin der Wochenkrippe.

„Guten Tag Frau Dybas“, kam der Gruß zurück. „Was kann ich für sie tun?“

„Frau Simon, ich hatte ein sehr unangenehmes Gespräch mit meinem Vater. Wieso haben sie mich nicht sofort darüber informiert, dass er in der WoKi aufgetaucht ist?“, forderte Gitta eine Erklärung, in einem ziemlich gereizten Ton. Denn hätte sie davon Kenntnis gehabt, wäre das Gespräch ganz anders gelaufen, mit ihrem Vater. Das machte sie verdammt wütend.

„Entschuldigen sie Frau Dybas, ich sah keinen Grund, sie davon zu informieren. Da Herr Krause ja nicht wegen Charlotte direkt kam. Er wollte die Patenschaft über eins der Kinder übernehmen. Dass Charlotte seine Enkelin ist, hatte er bei Beginn seines Besuches nicht gewusst. Das ergab sich durch Zufall. Als ich ihm sagte, dass ich die Familie Dybas erst kontaktieren muss. Ich wusste nicht, dass es ihr Vater ist. Tut mir leid. Da fiel, ihr Vater aus allen Wolken und war entsetzt darüber, dass diese kleine Charlotte, seine Enkeltochter ist“, erklärte Walli, wie mit Charly abgesprochen, der Mutter von Charlotte.

Charly bat sie darum, um zu verhindern, dass die Frau seines Kollegen wegen ihm Ärger bekam. So war Walli aus der Schusslinie und es wurde als wirklicher Zufall hingestellt. Was ja eigentlich, auch den Tatsachen entsprach. Auch wenn sich Walli eigentlich nicht ganz korrekt verhalten hatte. Denn die persönlichen Daten ihrer Kinder hätte sie nicht bekannt geben dürfen. Aber auch die Leiterin der Krippe, war nun einmal nur ein Mensch und das Verhalten von Gitta, war alles andere als korrekt. So strafte man Gitta, mit ihren eigenen Lügen.

Tief holte Gitta Luft, dies war natürlich ein blöder Zufall gewesen, den niemand voraussehen konnte. „Na ja, das lässt sich jetzt nicht mehr ändern. Geben sie meinen Vater Charlotte einfach mit, wenn er wieder einmal auf die Idee kommen sollte, nach ihr zu fragen. Oft wird das wahrscheinlich, sowieso nicht vorkommen. Dazu sind die beiden schon viel zu alt“, bat sie Frau Simon darum, Charlotte an ihren Vater zu übergeben.

„Frau Dybas, haben sie sich das richtig überlegt? Sie meinten doch Charlotte wäre dort in Gefahr. Ich bräuchte das bitte schriftlich von ihnen, damit ich auf der sicheren Seite bin. Ich sage es ihnen, so wie es ist. Wohl ist mir nicht bei dieser Sache“, versuchte Walli, die Mutter von Charlotte davon zu überzeugen, mehr preiszugeben.

Charly Krause hatte ihr schon voraus gesagt, dass seine Tochter nicht zugeben würde, dass sie gelogen hat. Als sie gestern Abend Jupp von der Feuerwache abholte, setzten sich die Drei noch einmal, auf die Bitte von Charly in dessen Büro und sprachen über das Vorgefallene. Der alte Mann, den seine eigene Tochter als Unmensch dargestellt hatte, wurde ihr mit jeder Sekunde sympathischer. Da er sogar einräumte, einige Fehler bei Gitta Dybas, in der Erziehung gemacht zu haben. Ihm war bewusst, dass er seine Tochter, nach dem Tod der drei Söhne einfach zu sehr verwöhnt hatte. Anders konnte er sich das Verhalten seiner Tochter nicht erklären. So übernächtigt, wie der ältere Herr ausgesehen hatte, konnte sie sich vorstellen, dass dieser seit dem vorherigen Gespräch nicht geschlafen hatte. Deshalb wollte man wenigstens erreichen, dass Gitta ein wenig Mühe, wegen ihrer Lügerei hatte. Walli verlangte dieses Schreiben von ihr, um sie für ihre Lügen zu bestrafen und vor allem, um auf der sicheren Seite zu sein. Ganz so einfach wollten sie es ihr nun auch wieder nicht machen.

„Nein Frau Simon, ich glaube nicht das Charlotte bei meinem Vater in Gefahr ist. Ich habe das damals nur gesagt, damit sie wirklich die Kleine nicht herausgeben. Wissen sie meine Eltern sind schon sehr alt und ich wollte nicht, dass sie die Beiden vielleicht anrufen, wenn ich einmal nicht erreichbar bin. Deshalb habe ich da einfach etwas gesagt, was so nicht stimmt. Entschuldigen sie bitte diese Lüge“, gestand Gitta nun, dass sie gelogen hatte. Ihr blieb auch nichts erspart. Aber die ganze Wahrheit wollte sie dieser ihr völlig fremden Frau, nun auch wieder nicht sagen. Das hätte zur Konsequenz gehabt, dass ihr schönes Leben vorbei gewesen wäre. Sie hätte dann diese Charlotte, jedes Wochenende auf dem Hals und das wollte sie einfach verhindern. Dass Walli mit Charlottes Großvater schon abgesprochen hatte, dass er ab sofort Charlotte holen würde. Davon wollten beide der Mutter nichts sagen. Beide hegten die Hoffnung, das Gitta vielleicht doch noch eines Tages auf den Trichter kam und ihre Tochter wenigstens ab und zu einmal holen würde. In diesen Moment, sollte Walli unbedingt der Mutter das Mädchen aushändigen. Auch, wenn das bedeuten würde, dass Charly für umsonst in die Krippe kam. Er meinte, es wäre nicht schlimm, dann hätte er einen schönen Spaziergang gemacht.

Walli kochte innerlich über die Dreistigkeit Charlottes Mutter. „Ist in Ordnung. Aber richtig finde ich nicht, was sie da erzählt haben. Ihren Vater haben diese Worte schwer getroffen. Er wäre hier in meinem Büro fast zusammen gebrochen. Bitte bringen sie mir ein Schreiben vorbei, der die Erlaubnis beinhaltet. Da der gesamte Sachverhalt aktenkundig ist, benötige ich das schnellst möglich, um mich und unsere Einrichtung abzusichern. Ich brauche es schriftlich von ihnen, dass ich die Kleine herausgeben darf. Vorher kann ich das nicht machen. Ihr Vater kann dieses Schreiben mitbringen, wenn sie wie immer keine Zeit haben“, forderte die Leiterin von der WoKi von Charlottes Mutter und sagte ihr durch die Blume, dass Gitta selber, dieses Schreiben nicht vorbeibringen bräuchte. Machte ihr damit eine Hintertür auf, wie sie dieses leidliche Problem, ohne großen Zeitaufwand lösen konnte. Aber ihr so ermöglichte, Charlotte ihren Großvater geben zu können.

„Geht in Ordnung, Frau Simon. Dieses Schreiben gebe ich meinem Vater mit und das gilt bis auf Widerruf. Auf Wiedersehen“, froh dieses Telefonat hinter sich zu haben, ging Gitta zurück ins Sekretariat. Wandte sich nochmals an ihre Schulsekretärin.

„Marlies, sag mal könntest du mir mit der Schreibmaschine bitte einmal ein Schreiben aufsetzen. Sinngemäß in etwa so. „Werte Frau Simon, hiermit gestatte ich ihnen ausdrücklich meinem Vater Carlos Krause geb. Majoré 20.4.1881 verheiratet mit Klarissa Krause geboren am 30.4.1887, meine Tochter Charlotte Dybas geb 14.2.1959 jederzeit aus der Wochenkindertagesstätte „Kinderland“ abholen darf. Mit freundlich…“ blablablaaa, du weißt ja besser als ich, wie man solche Schreiben aufsetzt. Dann kann ich es heute Abend, meinen Vater gleich noch vorbeibringen. Ich muss rüber in die Dienstbesprechung, sonst würde ich dies selber schnell noch schreiben“, delegierte Gitte, wie immer, unangenehme die Arbeit um.

Marlies Franke lächelte, der sehr netten und hilfsbereiten Kollegin zu. „Klar mache ich dir das, Gitta. Ich lege es in dein Fach.“

„Danke“, rief sie ihr beim Verlassen des Raumes, über die Schulter zu und ging über den Gang in das Lehrerzimmer, um sich zu den Kollegen zu setzen. Dort hatte vor zehn Minuten schon die Dienstbesprechung begonnen. Nach der Dienstbesprechung machte Gitta einen kleinen Umweg, um noch einmal zum Haus ihres Vaters zu gehen und steckte ihm das Schreiben, in einem Umschlag, in den Briefkasten. Klingelte unten dreimal, das Zeichen, dass sie nicht hochkommen würde. Klara öffnete das Wohnzimmerfenster und sah heraus.

„Mutti, ich habe euch ein Schreiben in den Briefkasten gesteckt. Ich kann nicht noch einmal hochkommen. Meine Bahn ist sonst weg, ich muss nach Hause, habe noch viel Arbeit“, rief sie nach oben. Sofort drehte sich Gitta um und lief Richtung Straßenbahn davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Klara sah kopfschüttelnd, ihrer Tochter hinterher. Schloss das Fenster und stieg die drei Etagen nach unten, um an den Briefkasten zu gehen. Entnahm das Schreiben und trug es nach oben, um es Charly hinzulegen. Der heute Dienst hatte und erst nach 23 Uhr nach Hause kommen würde. Sie wusste, um was es in dem Schreiben ging und freute sich, es jetzt schon zu haben. Dadurch konnten die Großeltern ihre Enkelin, ab sofort jederzeit holen.

Charly, der drei Stunden später das Schreiben las, freute sich ebenfalls darüber, dass Gitta so prompt das Schreiben vorbeigebracht hatte. So konnte er sich endlich, um seine Enkelin kümmern. Auch, wenn ihm die Art und Weise der Zustellung missfiel. Das allerdings würde er beim nächsten Besuch seiner Tochter, noch einmal ansprechen. Er hatte allerdings auch Verständnis dafür, da Gitta seit dem frühen Morgen gegen 7 Uhr in der Schule war und einfach abends, um kurz nach 20 Uhr, endlich einmal nach Hause wollte.

Es war nicht selten so, dass Gitta erst so spät nach Hause ging. Einmal hatte sie Pioniernachmittag, das nächste Mal, Parteiversammlung oder Handarbeits-AG oder Schreib-AG. Diese Arbeitsgemeinschaften die zweimal die Woche stattfanden, fraßen unwahrscheinlich viel Zeit. Nicht nur die Vorbereitungen, sondern auch die Basare und die Ausstellungen, mussten vorbereitet werden. Dann ging es schon wieder, mit der Vorbereitung zu den Weihnachtsfeiern los. Dafür mussten Programme einstudiert werden. Man konnte es schon verstehen, dass Gitta manchmal zu nichts mehr Lust hatte. Auch, wenn er das nicht als Entschuldigung gelten ließ, denn es gab andere Frauen, die auch Kindern hatten und die alles gut miteinander vereinbaren konnten. Deren Männer arbeiteten allerdings nicht in rollender Woche, sondern gingen von 8 bis 16 Uhr zur Arbeit und hatten dadurch mehr Freizeit. Charly hatte einige Mal, die Wochenstunden von Gitta aufgeschrieben, als sie noch zu Hause wohnte. Nicht selten kam sie auf, sechzig bis siebzig Arbeitsstunden wöchentlich. Auch, wenn sie zwischendurch immer mal zwei Stunden frei hatte, lohnte es sich oft nicht nach Hause zu fahren, da Gitta am anderen Ende der Stadt wohnte und eine guten dreiviertel Stunde für den Heimweg brauchte.

Kein Wunder also, dass seien Tochter nicht noch einmal hoch gekommen war. Denn wäre Gitta erst noch einmal in die Wohnung, zu ihrer Mutter gegangen, dann wäre sie vor zwei Stunden nicht weggekommen. Ein Lächeln huscht über Charlys Gesicht. Er kannte seine Frau zu gut, die ihre Tochter gern viel öfter zu Gesicht bekommen würde. Klara hätte erst darauf bestanden, Gitta Abendbrot zu machen und hätte dann gern noch etwas reden wollen. So schenkte er dieser Tatsache, etwas Verständnis. Auch, wenn er es schon sehr dreist fand, es wäre einfacher gewesen, das Schreiben am morgigen Tag vorbeizubringen. Charly schob es einfach beiseite. Er wollte sich nicht schon wieder, in seine Wut hineinsteigern, deswegen ließ er es auf sich beruhen.

Seine Sorge galt jetzt erst einmal der kleinen Maus, die er zu sich einladen wollte. Dass Gitta das Schreiben heute schon brachte, hatte den Vorteil, dass er morgen schon zur WoKi gehen konnte. Vielleicht war es möglich, dass Charlotte schon am Wochenende die Großeltern besuchen konnte. Damit diese endlich einmal aus dieser WoKi heraus kam. Denn das Mädchen kannte nichts anderes.

*

Am nächsten Morgen rief Charly sofort in der Krippe an und keine zwei Stunden später, es war kurz vor 9 Uhr, stand er an der Tür vom "Kinderland" und klingelte. Walli öffnete dem Rentner die Tür. Sofort stieg Charly die Treppe nach oben und betrat das Büro.

„Guten Morgen Frau Simon“, begrüßte er freudig strahlend, die Frau seines Kollegen.

„Guten Morgen Charly, was habe ich angestellt, dass ich wieder Frau Simon bin?“, scherzte sie lachend.

„Ich … ich dachte, weil … na ja … weil wir hier dienstlich miteinander reden“, stotterte Charly verwirrt herum. In der Wache, waren Walli und er fast sofort zum Du übergegangen und hatten sich beim Vornamen genannt. Dass Jupp mit dabei war, hatte diesen Vorgang unwahrscheinlich beschleunigt. Nach dem Gespräch verabschiedete man sich fast wie alte Bekannte. Hier wollte er nun allerdings die Normen einhalten und sich vorschriftsmäßig verhalten. Es stand für seine kleine Charlotte, einfach zu viel auf dem Spiel. Erleichtert hörte er Wallis Worte.

„Nein Charly, ich denke wir können das hier schon beim du belassen. Menschen, die sich zum Wohl meiner Kinder einsetzen, duze ich immer, auch hier im Kinderland.“

„Da hab ich wohl Glück“, ging Charly auf das Geplänkel ein. Reichte Walli zur Begrüßung die Hand. Legte ihr das Schreiben seiner Tochter auf den Tisch.

„Da hatte es aber jemand eilig gehabt, die Verantwortung umzudirigieren“, konnte sich Walli nicht verkneifen zu sagen.

Charly zuckte mit den Schultern. „Ja, aber es hat den Vorteil, dass ich meine kleine Enkeltochter, nun endlich einmal zu Gesicht bekomme“, stellte er fest.

Walli sah den Rentner lächelnd an. Dieser machte heute, einen viel entspannteren Eindruck, als vor ein paar Tagen. Ein Wunder war es nicht. Walli dachte an das Gespräch in der Wache zurück, in dem Charly ihr erzählte, was Charlottes Mutter angeblich alles, mit ihrer Tochter gemacht hatte. Da hätte sie sich an Charlys Stelle, auch keine Sorgen, um die Enkeltochter gemacht. Die Begründung, dass es wichtig wäre, dass die Kleine viel mit ihren Eltern unternehmen müsse, am Wochenende und sie ihr nicht ständig fremde Gesichter zumuten wollten, hätte sie auch akzeptiert. Walli holte sich zurück aus ihren Gedanken und sah ihrem Gegenüber an.

„Jetzt müssen wir erst einmal mit Charlotte sprechen. Bitte Charly, lass mich das machen. Die Kleine ist sehr scheu. Sie kennte ja nur ihre Tanten hier aus dem Kinderland und dadurch ist Fremden gegenüber, nicht sehr aufgeschlossen. Wir haben schon immer Probleme, wenn bei Feiern die Eltern der anderen Kinder, einmal mit der Kleinen reden wollen. Dann lief sie regelmäßig weg und versteckte sich für Stunden. Charlotte ist ein kleiner Eremit“, erklärte sie Charly, dass man vorsichtig und mit viel Feingefühl an Charlotte heran gehen müsse.

Charly nickte traurig. Er konnte er sich denken, dass es für die Kleine ein Schock sein würde, auf einmal einem fremden Mann gegenüber zu stehen. „Mach nur Walli, du kennst die Kleene am Besten. Ich vertraue dir in dieser Hinsicht voll und ganz. Ich sitze nur hier und beobachte. Ich kann das gut“, erklärte er breit grinsend.

Es war immer eigenartig, egal, welches Kind er bei Veranstaltung auflas oder zu ihm gebracht wurde. Egal, wie laut die Kinder vorher schrien und nach ihrer Mama riefen. Wenn sie auf ihn trafen, war fast sofort Ruhe. Charly schaffte es immer, die Kinder zu beruhigen und vor allem, Zugang zu ihnen zu finden. Er machte sich da keine Sorgen, dass Charlotte ihn nicht mochte. Auch, wenn das kleine Mädchen, sehr vorsichtig war, würde sie ihn mit der Zeit an sich heranlassen. Jetzt hieß es Geduld zu beweisen und zu warten, bis sich die Kleine von alleine öffnen würde. Das würde sie tun, da war er sich sicher.

*

Walli stand auf und verließ das Büro. Nach ungefähr zehn Minuten, kam sie mit einem kleinen schwarzhaarigen Mädchen zurück. Charly erkannte die Kleine sofort wieder. Das Mädchen hatte er zwei Tage zuvor, am Ende des Gartens beobachtet.

„Guten Morgen“, grüßten die beiden, als sie das Büro betraten.

Charlotte ganz leise und schüchtern. Ängstlich versteckte sie sich hinter den Beinen von Walli und schielte an der Seite, nach der fremden Person, die sie nicht kannte. Wie immer machte die Kleine sofort dicht, wenn Fremde in der Nähe waren.

„Ach Lotti, was soll das denn? Komm hab dich nicht so. Ich passe auf dich auf“, schimpfte Walli mit der Kleinen.

„Ich will nicht mitgehen“, flüsterte Charlotte und schielte hoch zu Walli und hielt sich an deren Beine fest.

„Lotti, du musst nicht mitgehen. Wer hat dir das denn gesagt?“

„Dodo, sagt. Muss mit, wie mit der Frau“, antwortete Charlotte sofort.

Dorothea Grünbach war ein fünfjähriges Mädchen aus der Gruppe von Charlotte und war wie eine große Schwester für die Kleine. Die zwei Jahre die Dodo älter war als Lotti, nutzte diese natürlich immer, um die Kleinere zu beschützen. Es war immer niedlich zu beobachten, wie liebevoll Dodo auf die Jüngere aufpasste. Nur mit den Namen ihrer Freundin, hatte Charlotte so ihr Problem, sie konnte am Anfang nie Dorothea sagen. Also nannte sie diese Dodo und bei diesem Namen war es für immer geblieben.

„Ach Quatsch, Dorothea hat dir ein Märchen erzählt. Du musst heute nicht weggehen“, erklärte ihr Walli. „Komm setze dich auf meinen Schoß“, bat sie die Kleine und zog sie hoch zu sich auf die Beine.

„Schau bitte einmal meine Süße, der Mann der hier sitzt, ist dein Opa. Den haben wir jetzt durch Zufall gefunden. Der würde gern mal deinen Zoo sehen. Aber keine Angst nicht gleich heute. Du sagst einfach, wann du ihn deinen Zoo einmal zeigen willst. Weißt du, erst solltet ihr hier einmal etwas spielen und euch richtig kennen lernen. Wenn du den Opa magst und ihm vertraust, zeigen wir den Opa später deinen Zoo? Wollen wir es so machen?“, dabei lächelte sie Charly und dann Charlotte an.

Etwas erzwingen zu wollen, hatte bei Charlotte keinen Zweck. Sie musste verstehen, warum etwas war, wie es war. Dies versuchte Walli, dem erst viereinhalb Jahre alten Mädchen zu erklären. Charlotte war ein helles Köpfchen, sie wusste genau, was sie wollte und was nicht. Wollte Charlotte etwas nicht, dann war es verdammt schwer, sie davon zu überzeugen.

Walli sah zu ihrem Gegenüber. „Charly, du musst wissen, die kleine Charlotte, kann wunderschöne Tiere aus Ton basteln. Es ist erstaunlich wie geschickt sie dabei ist. Neulich haben wir uns ein Buch angesehen, über Elefanten und drei Tage später, hatte sie einen aus Ton gebaut. Ton musst du wissen, liebt unsere Lotti von ganzen Herzen. Nicht nur einmal hätten wir sie ausversehen gleich in den Ofen gesteckt, weil wir dachten, sie muss auch mit gebrannt werden. Stimmt´s Lotti?“, wandte sich die Erzieherin an die Kleine.

Charlotte nickte zögerlich. „Ich kann nichts dafür, der klebt so, Tante Walli.“

„Ja ich weiß Lotti, der mag dich halt“, dabei streichelte sie der Kleinen lieb über den Kopf.

Charly nickt zur Bestätigung dessen. „Ich weiß Walli. Ich habe sie stehen sehen, vor drei Tagen, hinten an dem Ofen. Da hatte sie irgendetwas unter den Arm klemmen und hat etwas geknetet“, erzählte Charly seine Beobachtungen. „Tja, ich wäre am liebsten hingegangen, um zu sehen, was sie da gemacht hatte.“

Charlotte blickte den Fremden an. Der Mann interessierte sich für das, was sie aus dem Ton machte. Das Mädchen verstand es nicht richtig. Die Frau, als die einmal kam, um sie abzuholen, sagte, dass sie nicht mit Dreck spielen sollte. Damals stand sie auch an dem Tonbecken, das hinten im Garten stand und baute einen Igel. Ach, wie hatte die Frau geschimpft, weil sie so schmutzig aussah und erst noch gebadet werden musste. Viel zu lange hatte ihr das gedauert. Als sie dann fertig war, schimpfte die Frau immer noch und sah sie genau an. Der Mann schimpfte nicht, dadurch mochte sie ihn gleich ein bisschen. Vor allem, hatte er eine schöne dunkle Stimme. Er sah irgendwie ganz lieb aus. Ganz anders als die Frau, die, wenn sie kam nur schimpfte.

Lange überlegte Charlotte hin und her und schielte immer wieder zu Tante Walli hoch. Auf einmal drehte der kleine Popo hin und her, Charlotte wollte nach unten. Walli die ihr kleines Sorgenkind ganz genau kannte, setzte sie auf den Boden und beugte sich zu ihr herunter. „Du kannst ruhig hingehen, ich pass auf dich auf“, machte sie Charlotte Mut.

„Soll ich dir mein Tiere zeigen?“, fragt Charlotte den weißhaarigen Mann.

„Gern, sagst du mir wie du heißt. Ich bin dein Opa oder der Charly Krause. Aber wenn du magst, darfst du auch Opa zu mir sagen“, stellte er sich erst einmal vor. Es waren die falschen Worte oder der falsche Tonfall, das merkte Charly sofort, denn Charlotte macht sofort wieder dicht.

Charlotte schielt hoch zu Walli und kuschelt sich an sie, sagt kein Wort mehr. Der Mut hatte sie wieder verlassen. Sie bliebe lieber bei ihrer Freundin. Walli beugte sich zu ihrem Schützling herunter und flüsterte ihr ins Ohr. „Lotti, ich hab mir den Mann genau angesehen, dem kannst du vertrauen.“

Das Mädchen musterte Charly sehr lange und mit schräg gehaltenem Kopf.

„Du magst nicht mit mir reden, gell? Na ja, verstehen kann ich das schon“, zeigte er Verständnis für Charlottes verhalten.

Ängstlich mit schiefgehaltenen Kopf, sah Charlotte hoch zu Walli und fragte ganz leise und verunsichert. „Tante Walli, was ist das?“

Walli die grade ihrem Schützling nicht folgen konnte, sah die Kleine an. „Was ist was, Lotti?“

„Was der Mann gesagt hat?“, kam schüchtern und ganz leise die Antwort.

Die Erzieherin musste die letzten Minuten noch einmal Revue passieren lassen und begriff jetzt die Frage von ihrem Schützling. „Du weißt natürlich nicht, was ein Opa ist. Ach Lotti, das ist nichts Schlimmes. Komm noch einmal auf meinen Schoss“, bat sie die Kleine. Es war ihrer Schuld, dass sie schon wieder unsicher wurde. Oft waren für Charlotte einfache Sachen, so unverständlich, weil sie noch nie damit in Berührung kam. Irgendwann sagte sie zu allen Tanten im Kinderland „Mama“, weil die anderen Kinder zu den Frauen die sie lieb hatten und abholten, auch Mama sagten. Es hatte ewig gedauert, bis Charlotte begriff, dass die Frau die sie so gar nicht mochte, ihre Mama war und dass die anderen Frauen, nur Tanten waren. Es war schon ein Kreuz mit der Kleinen. Genau die gleiche Sache, war es jetzt mit dem Opa passiert. Soweit hatte sie einfach nicht gedacht.

„Lotti, ich hatte dir doch erklärt, wie das mit der Mama ist. Weißt du das noch?“

„Tante Walli, das ist die Frau, die schon mal da war und immer mit mir schimpft“, erklärte Charlotte offen, wenn auch ganz leise.

Verlegen zuckte Walli mit den Schultern. „Charly, das ist Lottis Definition, nicht unsere“, schmunzelnd sah sie zu ihm. Der Rentner lächelte gequält, schwieg aber, um Walli nicht zu unterbrechen. „Na ja, ich weiß, was du meinst“, wandte sie sich dem Mädchen wieder zu. „Also die Mama, hat dich geboren. Aber genauso wie du geboren wurdest, kam ja deine Mama auch auf die Welt. Wie bei den Kätzchen vom Hausmeister.“

Charlotte nickte, das hatte sie verstanden.

„Also deine Mama, hat auch einen Papa und eine Mama.“

„Ist das dann der Papa-Papa und die Mama-Mama?“, erkundigt sich Lotti, die grübelnd zugehört hat.

Die Erzieherin musste lachen und gab ihrer kleinen schlauen Freundin, die sie immer wieder durch ihre Logik verblüffte, einen Kuss auf die Nase. „Nein Lotti, das heißt nicht Papa-Papa, sondern Opa und auch nicht Mama-Mama, sondern Oma.“

Charlotte wackelte mit ihren Füßen, die zappelnd von Wallis Schoss hingen. Als Charly etwas sagen wollte, schüttelte Walli den Kopf. Sie ahnte, was jetzt los war. Ihr kleines Mädchen überlegte, wie das funktionierte. Walli hatte schon einmal gesagt, wenn Charlotte so über etwas nachdachte, dann konnte man die Rädel in Lottis Kopf rattern hören. Oft dauerte es einige Minuten, unterbrach man deren Gedankengängen, bekam die Kleine regelrechte Wutanfälle. Deshalb ließ man sie dann auch überlegen. Oft waren die Antworten, für eine noch nicht einmal fünfjährige, verblüffend.

„Dann ist der Mann“, stellte Charlotte nach drei Minuten fest. „der Papa von meinem Papa? Dem großen Mann, der so schön singt? Der ist aber klein“, kam prompt eine Feststellung nach Lottis Art.

Jetzt musste Walli noch mehr lachen. Sie drückte die Kleine an sich und gab ihr einen dicken Schmatzer. „Lotti, Lotti, du bist mir schon eine. Warum soll der Mann denn der Papa vom Papa sein? Nein Lotti, der Mann ist der Papa von der Mama“, stellte Walli das richtig.

„Aber wie heißt dann der Papa von dem Papa?“, will sie jetzt wissen.

„Lotti, das ist auch der Opa, der eine Opa ist der Opa Krause und der andere der Opa Dyba, verstehst du.“

Charlotte steckte den Daumen in den Mund, das passierte ihr immer, wenn sie nervös war. Walli sagte nichts, obwohl sie das nicht gerne sah. Sie versuchten das schon seit Jahren zu unterbinden. Bei Charlotte stießen sie auf massiven Wiederstand. Also ließ sie es wie es war, die Kleine hatte genug Stress im Moment. Als Charly zu Walli hinübersah und diese fragend anblickte, nickte diese.

„Charlotte, ich weiß es ist schwer zu verstehen, darf ich dir eine kleine Geschichte erzählen?“ Die Kleine nickte. „Dann hör einmal zu…“, tief holte Charly Luft und hoffte, dass ihm sein Wesen den richtigen Weg wies. „Es war einmal ein alter Mann, der lebte in einer großen Stadt. Er hatte eine Tochter, die er sehr liebte und drei Söhne. Eines Tages kamen böse Menschen und fingen einfach einen Krieg an. Es wurden Menschen gehauen und verletzt und viele starben an Krankheiten oder Verletzungen. Auch die drei Söhne von dem Mann starben, gingen nach oben in den Himmel. Dorthin, wo die Englein fliegen. Der Mann war ganz traurig, weil ihm nur die Tochter geblieben war. Eines Tages, bekam seine Tochter einen Sohn. Kannst du dir vorstellen wie der Mann sich gefreut hat.“ Lotti nickte, fest an Walli gekuschelt hört sie aufmerksam zu. Dass sie nicht alles verstand, war nicht wichtig. Das Wichtigste war, dass sie Vertrauen fasste. „Aber die Tochter musst du wissen meine Kleene, war eigensinnig, aber der Mann verstand das nicht oder er wollte es nicht sehen. Sie mochte den Jungen nicht, also zog der Mann und seine Frau den Buben auf und nahm ihn einfach als Sohn an. Es war vielleicht auch so, dass er darin seine verlorenen Söhne wiederfand. Aber nach zehn Jahren bekam seine Tochter noch ein Kind. Wieder kümmerte sie sich nicht, um das Kind. Sie war enttäuscht, dass es kein Junge war, deshalb wollte sie das Mädchen nicht haben und schob es diesmal, ohne das Wissen des alten Mannes ab. Erzählte dem alten Mann immer wieder, wie viel sie mit dem Mädchen machen würde, dabei war das alles gelogen. Dabei wusste die Frau, dass man nicht lügen darf“, versuchte Charly zu erklären. In der Zeit in der Charly diese Geschichte erzählte gingen Charlotte so einige Gedanken durch den Kopf. „Eines Tages erfuhr der alten Mann davon, dass es seiner Enkeltochter, also der Tochter seiner Tochter nicht gut geht. Dass sie niemand besucht und sie keiner wirklich lieb hatte, außer den Tanten in dem Heim, indem sie lebte. Das wollte der alte Mann nicht und er beschloss, seine Enkelin zu suchen. Schließlich fand er sie und er wollte ihr vorschlagen…“, Charly wurde in seiner Erzählung unterbrochen, es passierte etwas völlig unerwartetes.

Charlotte die bis zu dem Zeitpunkt auf dem Schoss ihrer Tante Walli gesessen hatte, wollte herunter und lief auf Charly zu. Sie hielt beide Ärmchen zu ihm hoch und wollte auf dessen Schoss. Völlig perplex über diese Reaktion, zog dieser das kleine Mädchen sofort zu sich auf die Beine und erzählte einfach weiter, als ob dies das Normalste der Welt wäre.

„… schließlich fand er seine Enkeltochter und wollte ihr vorschlagen, dass sie an den Wochenenden bei ihm und seiner Frau leben könnte. Damit sie nicht immer in dem Heim leben musste. Am liebsten würden er und seine Frau, das Mädchen ganz zu sich holen. Dazu waren die beiden alten Herrschaften, einfach schon zu alt. Aber wenigstens an den Wochenenden, wollten sie sich, um das Mädchen kümmern. Damit diese lernt, dass es Menschen gibt, die sie lieben und bei denen sie ein schönes Zuhause hat. Kannst du das verstehen, Charlotte?“, fragt Charly seine kleine Enkeltochter.

Charlotte nickte, es kam eine Reaktion, die keiner der beiden Erwachsenen vorausgesehen hatte. Da keiner vermutete, dass Charlotte schon so viel von der Geschichte verstand und vor allem, dass eine viereinhalb jährige, schon so viel von ihren Schicksal begriffen hatte. Manchmal, verblüffte Lotti, sogar ihre Tante Walli noch.

„Das ist wie bei mir. Meine Mama will mich auch nicht, aber der alte Mann schon…“, plötzlich fing Charlotte an zu weinen. Sie steckte ihren Daumen in den Mund und schluchzte herzzerreißend. Kopfschüttelnd sahen sich die beiden Erwachsenen an. Sie konnten nicht glauben, was hier geschah. Beiden ging der gleiche Gedanke durch den Kopf. Charlottes Mutter sollte sehen, wie ihre kleine Tochter litt. Vielleicht würde das hier, den Stein in deren Brust, zum Schmelzen bringen. Nach einer Weile hörte das Schluchzen von Charlotte etwas auf. Die Abstände wurden immer größer. Sie sah mit tränennassem Gesicht, hoch zu Charly. „… Kommst du mich auch besuchen? So wie der alte Mann das Mädchen. Dann bin ich auch nicht mehr alleine“, wieder rollten die Tränen aus den Augen des kleinen Mädchens, der Rentner lächelte. Traurig strich er die Tränen mit einem Taschentuch aus dem Gesicht.

„Wein nicht mehr meine Kleene. Ich komme dich so oft besuchen, wie es geht. Das verspreche ich dir und ich breche nie ein Versprechen“, erklärte er offen.

Wieder kuschelte sich Lotti an ihren Opa. Die Angst, die sie vorhin noch hatte, schien vollkommen verschwunden zu sein. Als sie sich vollständig beruhigt hatte, zeigte sie ihrem Opa, am selben Tag noch, ihr Heiligtum, ihren Zoo. Der Rentner war begeistert, seine kleine Enkeltochter, hatte wirklich Talent. Jeden Tag, kam er Charlotte, die nächsten vierzehn Tage besuchen. Er hatte sich extra zwei Wochen Frei genommen, da seine Enkeltochter wichtiger war, als alles andere. Dann lud er seine kleine Maus, das erste Mal, zu sich nach Hause ein. Ab diesen Zeitpunkt, musste Charlotte, nur noch ganz selten am Wochenende im Kinderland bleiben. Sie wurde wie alle anderen Kinder, montags gebracht und freitags geholt. Es war eine wunderschöne Zeit. Nicht nur für Charlotte, sondern auch für die Großeltern.

*

Diese schöne Zeit war nun vorbei und man bekam jedes Jahr nur noch eine Gnadenfrist von drei Wochen. Die man zusammen verbringen konnte. Traurig legte der Rentner den Kopf in den Nacken und rieb sich müden das Gesicht. Er hatte Charlotte versprochen, dass er immer da ist, wenn sie aus der Schule kam. Dieses Versprechen musste er halten. Noch nie, hatte er in seinem Leben ein Versprechen gebrochen und jetzt würde er, mit vierundachtzig Jahren, nicht mehr damit anfangen.

Er konnte es sich nicht leisten, sich gehen zu lassen. Er musste für seine Kleine, stark sein. Er musste auf sich achten und sich gesund erhalten. Denn Charlotte brauchte in dieser Hölle, und diese Schule würde die Hölle werden, eine Platz, wo sie Geborgenheit und Liebe bekam. Diesen Platz hatte sie hier, bei ihren Großeltern und ihrem Bruder. Auf diese Weise, hatte seine kleine Prinzessin, eine Chance aus dieser Schule unbeschadet heraus zu kommen.

Charly kannte solche Eliteschulen nur zu gut. Dort zerstörte man die Seelen der Kinder, um sie danach wieder aufzubauen und sie zu gehorsamen Soldaten zu erziehen. Seine Tochter wusste doch gar nicht, was sie ihrem Kind antat. Er wusste das sehr wohl. Er hatte einige Jahre in solch einer Institution als Gärtner gearbeitet und hat genug von den teilweise harten Repressalien mitbekommen. Wie oft, hatte er dort mit den jungen Leuten gesprochen und sie wieder aufgebaut. Viel zu oft. Diese Jungs aus solchen Schulen waren allerdings mindestens elf Jahre alt und Charakterlich wesentlich gefestigter, als Charlotte mit ihren gerade einmal fünfeinhalb Jahren. Ihm tat das Mädchen so leid.

Tief holte Charly Luft. Er hatte für sich, mit dem Abschluss gefunden. Sein Herzschmerz in den Griff bekommen. Vor allem konnte er wieder klar denken. Er stand auf, ging nach draußen in die Küche und küsste seine Klara.

Klara lächelte ihn an. „Wieder alles klar Charly?“

Mit viel Traurigkeit im Gesicht sah er seine Frau an. „Ja, Klara. Es ist wieder alles klar. Wir machen es wie abgesprochen. Die Kleene, soll es schön haben, wenn sie wieder kommt. Das habe ich ihr versprochen.“

Zusammen setzten sich die beiden Rentner an den Tisch und tranken eine Tasse Kaffee. Wie immer, wenn sie alleine waren, in der Küche. Denn in der Stube saßen die Beiden nur selten, nur, wenn Gäste zu Besuch waren.

*** Abreise ***

 

***

Viele Jahre habe ich mir den Kopf zerbrochen, was im Kopf meiner Erzeugerin, all die Jahre wohl vor sich gegangen sein musste. Warum war eine Frau, die in ihrem Beruf, wirklich Anerkennung fand und von ihren Schülern innig geliebt wurde, zu ihren eigen Kindern so eine Furie. Etwas, dass ich als Frau, einfach nicht verstehen kann und bei allem Verständnis, heute auch nicht mehr verstehen will. Ihre Kinder wurden beide aus "Liebe" gezeugt. Egal ob es Jo war oder meine Wenigkeit, war diese Frau überhaupt in der Lage, so etwas wie Liebe zu empfinden? Ich weiß es wirklich nicht. Sie hatte die Frucht ihrer "Liebe", denn beide Männer liebte Gitta sehr, wie ich von meinen Großeltern erfuhr, neun Monde lang unter ihrem Herzen getragen und unter Schmerzen zur Welt gebracht. War es eine Wochenbett-Depression, die nie behandelt wurde? Da ich psychologisch sehr gut ausgebildet wurde, versuche ich heute noch in Fachgesprächen mit Kollegen herauszubekommen an, welcher psysischen Krankheit meine Erzeugerin litt. Ich möchte es wirklich verstehen und einen Grund finden, um ihr endlich verzeihen zu können. Ich kenne viele Frauen, die selbst durch Vergewaltigung gezeugten Kindern, mehr lieben und eine größere Bindung zu den, durch Gewalt gezeugten Kindern aufbauten, als meine Erzeugerin. Mein Leben lang, habe ich versucht es zu verstehen und bin trotz aller Bemühung jämmerlich gescheitert. Ich möchte mich hier auch bei allen Müttern entschuldigen, denen ich mit der Bezeichnung Erzeugerin, für die Frau die mir das Leben geschenkt hat, weh tue. Aber ich bin heute noch der Meinung, dass diese Frau, die Bezeichnung Mutter nicht verdient hat. Mütter lieben ihre Kinder, auf irgendeine Art und Weise, die eine mehr, die andere weniger. Aber verweigert sich eine Frau auf diesem Niveau, völlig der Liebe zu ihrem Kind, hat sie sich diesen Namen nicht verdient. Denn sie zerstört durch dieses Verhalten, nicht nur ihr Leben, sondern auch das der nachfolgenden Generation. Durch meine berufliche Tätigkeit, habe ich mit vielen misshandelten Kindern zu tun gehabt, alle durch die Reihe haben auf meine Frage: "Liebte dich deine Mutter?" Immer die gleiche Antwort gegeben. Ja, halt nur in bestimmten Situationen. Ich wüsste für meine Erzeugerin allerdings nicht eine einzige Situation, in der ich diese Frage mit ja beantworten könnte. Jedenfalls nicht so lange ich denken kann. Und meine Erinnerungen gehen bis zum dritten Lebensjahr zurück. Mein Herz weint, wenn ich an diese Frau denke, denn ich hätte sie gern geliebt, hatte jedoch nie eine Chance dazu, egal wie sehr ich mich bemüht hatte.

Immer häufiger komme ich zu der Ansicht, dass diese Frau eine psychische Störung hatte, um es einmal human auszudrücken. Diese Störung wurde, so vermute ich, durch den frühen Tod ihrer Brüder hervorgerufen, mit denen sie wohl eine viel innigere Beziehung hatte, als ihr selbst überhaupt bewusst gewesen war. Mir widerstrebt es immer noch, sie als das Monster zu sehen und darzustellen, dass sie eigentlich war. Ob es mir nun gefällt oder nicht, sie war bis zu ihrem Tod, meine Mutter. Also eine Frau, die ich eigentlich lieben und verehren sollte. Für die ich mein Leben geben sollte. Aber für die ich all die Jahre, nur abgrundtiefen Hass empfand. Leider musste ich immer wieder feststellen, dass diese Gedanken für viele Menschen nicht nachvollziehbar waren und man am Ende mich beschimpfte, weil ich ständig von meiner Erzeugerin, statt von meiner Mutter, sprach. Das Wort Mutter, wollte mir nie über die Lippen. Auch jetzt mag ich sie nicht so bezeichnen. Heute noch bin ich der Meinung, dass man sich den Titel Mutter verdienen muss und daran hat auch das Gespräch mit meinem Schulpsychologen nie etwas geändert. Die Frau hat sich diese Bezeichnung nie verdient. Hass, Abneigung, Verbitterung, man kennt viele Ausdrücke für das Gefühlschaos, dass ich ihr gegenüber empfinde. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob diese Worte wirklich stimmen, die ich verwende: ob es wirklich Hass war. Aber ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll, vielleicht Enttäuschung oder ein endlos dauernde tiefe Traurigkeit. Hass empfand ich deshalb, weil ich sie lieben wollte und sie mir diese Liebe nie zurück geben wollte. Als kleines Mädchen, fragte ich meine Tante Walli aus der WoKi immer, wenn ich sah, wie andere Mamas zu ihren Kindern waren: "War ich so böse, dass mich meine Mama nicht mag." Walli versuchte mir immer wieder klar zu machen, dass es nicht meine Schuld wäre, trotzdem suchte ich die Schuld immer bei mir.

Während meiner Schulzeit versuchte ich immer wieder, dass "Warum" zu ergründen. Unser Schularzt, war ein guter Psychologe und bildete uns auch in dieser Richtung aus. Sehr oft musste ich zusätzliche Stunden bei ihm aussitzen, da ich ständig wegen meiner Sturheit oder Widerspenstigkeit aufgefallen war. Ich ließ mich halt nicht verbiegen. Ich musste immer genau verstehen, warum ich etwas tun musste. Hatte ich das verstanden, gab es in dieser Hinsicht nie wieder Probleme mit mir. Immer wieder diskutierten Doktor Konrad und ich, über dieses Thema, Mutterliebe. Ich gebe es zu, zum Schluss konnte ich das Thema nicht mehr hören. Unendliche Male, versuchte er die Ursache für meinen Trotzkopf zu finden. Es fiel mir nie leicht, etwas zu tun, was ich nicht wollte. Vor allem sah ich nicht ein, dass ich diese Frau lieben sollte und schon gar nicht, dass ich für diese Frau mein Leben geben sollte. Für den Hausmeister, ja, für Tante Walli, ja, für meine Großeltern, JA, aber für diese Frau, NIEMALS IN MEINEM LEBEN.

Diesen verdammten Sturkopf stellte schon Tante Walli in der WoKi fest, da war ich noch keine drei Jahre alt. Ich musste verstehen, warum ich bestimmte Dinge tun sollte. Verstand ich das nicht, verweigerte ich die Mitarbeit. Das gewöhnte man mir auch in der Schule nicht ab. Es brachte mir nicht nur sehr viele Strafen ein, sondern auch viele Sitzungen bei unserem Doktor. Unser Doktor ging gerade auf solche Dinge, sehr bewusst und intensiv ein, gerade weil ich mit Abstand die Jüngste war. Auch er konnte mir diese Fragen nach dem Verhalten meiner Erzeugerin, nie wirklich beantworten: obwohl er sich, laut seinen Aussagen, mit meinem Großvater kurzgeschlossen hatte und viele Details kannte, die ich wahrscheinlich nie erfahren werde. Deshalb bin ich immer noch der Meinung, dass meine Erzeugerin nie über den Verlust ihrer Brüder hinweggekommen ist. Wenn mein Großvater ihr und ihren Brüdern, das Funktionieren einer Familie auf die gleiche Weise nahe gebracht hatte, wie er es bei mir tat, kann ich ihr Verhalten sogar, bis zu einem gewissen Grad verstehen.

Mein Großvater erklärte mir immer wieder, dass die älteren auf die jüngeren aufpassen müssten. Das hieße die Verantwortung würde in folgender Reihenfolge vonstattengehen: die Eltern passen auf ihre Kinder auf und die älteren Geschwister auf die jüngeren. Da Gitta das jüngste der vier Kinder war, kam sie sich, natürlich von ihren Geschwistern, aber auch von ihren Eltern verraten vor. Das, was ihr Vater, ihr immer wieder erklärt hatte, bis sie es verinnerlicht hatte, funktionierte nach ihrer Ansicht, im wirklichen Leben nicht. Ich bin derselben Meinung wie meine Erzeugerin. Es funktioniert nicht in jedem Fall. Trotzdem, war sie um einiges älter als ich und dumm war sie auch nicht, dass sie nicht begriff, dass niemand auf der Welt, gegen Krankheiten immun ist.

Weiß der Teufel, was sie sich da in ihren Kopf zusammen gesponnen hat. Obwohl sie mit vierzehn Jahren, so alt war sie, als ihre Brüder starben, ja kein kleines Kind mehr war. Passte das, was sie erlebt hatte, nicht mit dem überein, was man sie über Jahre hinweg lehrte. Anders kann ich mir nicht erklären, wieso diese Frau es nie geschafft hatte, eine Beziehung zu ihrem eigenen Fleisch und Blut aufzubauen. Sie als egoistisch abzustempeln, wäre zu einfach und käme der Wahrheit einfach nicht nahe genug. Ihr Verhalten war für mich ein Zeichen, dass sie eine unbeschreibliche Bindungsangst hatte oder sich ihrer Verlustangst nicht noch einmal stellen wollte. Dass sie sich dadurch, sehr viel mehr nahm, als dass sie etwas gewann, war und ist ihr glaube ich nie wirklich bewusst geworden.

Dies beiden Ängste, kann ich sehr gut nachempfinden und kann es verstehen. Da auch ich sehr viele Jahre meines Leben, dieses Gefühl hatte. Das alle Menschen, die ich wirklich liebte, einfach weggingen, ohne Abschiedsworte oder Erklärungen. Sie verschwanden, ohne erkennbare Anzeichen, für immer aus meinem Leben oder sie starben einfach, ohne dass ich es verhindern konnte. Ich kann das Verhalten meiner Erzeugerin, bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Auch wenn ich es niemals entschuldigen kann. Hätte ich nicht ein gewisses Verständnis für sie aufgebaut, wäre ich wohl an der ganzen Sache kaputt gegangen und der Hass, den ich für diese Frau empfand, hätte verhindert, dass ich meine Kinder und Enkel so innig lieben kann, wie ich es heute tue. Dieser Hass hätte beinah dazu geführt und mir beinah das gleiche Verhalten aufgezwungen, wie es bei meiner Erzeugerin der Fall war. Aber ich habe im Gegensatz zu meiner Erzeugerin, aus meinen Fehlern gelernt und diesen nur ein einziges Mal gemacht. Und glaubt mir eins, ich bereue es heute noch jede Minute meines Lebens.

Deshalb möchte ich in meiner Geschichte einmal versuchen, die Dinge aus Gittas Sicht darzustellen. Ob das der Wahrheit entspricht oder auch nur im Entferntesten nahe kommt, weiß ich nicht. Aber vielleicht hilft es mir ein wenig, ihre Sichtweise der Dinge zu verstehen und ihr vor allem zu verzeihen.

*

Keine Ahnung ob das wirklich möglich ist, dazu hat sie mich zu oft und viel zu sehr verletzt und verraten. Aber um meine Ruhe zu finden, muss ich es wenigstens versuchen. Sonst macht mich dieses Buch einfach kaputt. Nicht nur einmal, war ich in den letzten Wochen in Versuchung geraden, einfach das Handtuch zu schmeißen und aufzuhören. Dieses ganze Unterfangen abzubrechen, mit der Begründung: Ich habe es versucht, es geht einfach nicht. Denn es wird nicht besser, im Gegenteil...

*

 

** Gedanken einer Mutter **

 **

Kurz vor 4 Uhr in der Früh, wurde Charlotte sehr unsanft von ihrer Mutter, aus dem viel zu kurzen Schlaf gerissen. Müde rieb sich die Kleine die Augen, brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und ganz wach zu werden. Sie wusste im Moment gar nicht, wo sie war. Die Stimme kam ihr allerdings sofort bekannt vor, diese herrische, eiskalte Stimme. Diese machte ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie bei ihrer Mutter im Zimmer lag und sie heute in diese Schule fahren musste.

**

Gitta jedoch drängelte. Sie waren spät dran, sie hatten sich beim Frühstück mit ihrem Mann, einfach zu viel Zeit gelassen. In einer Stunde mussten sie am Bahnhof sein, dem Treffpunkt, an den sie diese Göre endlich abgeben konnte. Sie hatte mit ihrem Mann schon gefrühstückt. Max war gerade unterwegs, um aus der Garage das Auto zu holen und dieses Balg saß auf dem Bett herum, als hätte sie alle Zeit der Welt.

Eine unsagbare Wut stieg in ihr hoch, wie jedes Mal, wenn sie diese Rotzgöre ansah. Wie sehr sie dieses Balg hasste. In der Schule, war das etwas anders mit den Kindern, das war ihre Arbeit und sie wurde dafür bezahlt. Aber bei der da, brauchte sie sich nicht verstellen, mit der konnte sie zum Glück alles machen, was sie wollte - es war ihre eigene. Obwohl sag ganz stimmte das nicht, verstellen musste sie sich in der Schule gar nicht. Irgendwie liebte sie die Kinder dort. Sie wurde vergöttert von ihren Schülern. Genau diese Art Aufmerksamkeit brauchte sie. Dann fühlte sie sich wohl.

Wieder einmal fragte sie sich, warum sie sich nur von ihrem Mann hatte dazu überreden lassen, sich noch ein Balg anzuschaffen? Als ob dieser Jo, nicht schon ein Fehler gewesen war. Nein sie musste auf ihren Mann hören, nur damit der noch einen Stammhalter bekam, an den er seinen Namen weitergeben konnte. Vor allem aber seine Ideale. Er hatte neun Monate lang mit ihr geträumt, einen strammen Burschen zu bekommen, der einmal wie er selber Soldat werden würde um seine Heimat zu verteidigen.

Gitta schüttelte den Kopf, über sich selber und konnte einfach nicht begreifen, wieso sie sich darauf eingelassen hatte. Schon die Schwangerschaft war die absolute Hölle, fast die gesamte Zeit, musste sie sich übergeben. Sogar im Kreissaal war sie nur am Erbrechen. Die Geburt von dieser Göre war noch schlimmer, als die von Jo. Über drei Tage, lag sie in den Wehen und musste diese höllischen Schmerzen ertragen. Alleine dafür, dass sie durch diese Hölle gehen musste, hasste sie dieses Balg. Nur Problem hatte sie durch diesen verdammten Bastard. Aber statt, dass sie ihrem Liebsten einen Sohn schenkte, gebar sie diese Göre. Ach wie enttäuscht waren ihr Max und sie damals. Sie wussten beide nicht, was sie mit diesem Gör anfangen sollten. Am liebsten hätte es ihr Max gleich noch einmal versucht. Aber dieses eine Mal, hatte sie ihren Willen durchgesetzt. Erfolgreich redete Gitta ihrem Mann ein, dass sie schon viel zu alt, für so einen Wahnsinn wären. Dass dieses Kind schon ein großer Fehler war, der nur Unruhe in ihr Leben brachte.

Zum Glück fand sie schon kurz nach der Geburt eine Möglichkeit, sich dieses leidlichen Problems zu endledigen. Endlich nach fünfeinhalb langen Jahren, würde sie dieses unsägliche Problem, für immer ad acta legen. Vor allem bekam ihr Max doch noch seinen Willen. Schon bald würde ein Soldat aus dieser Göre werden und dann musste sie gehorchen. Bald ging sie dieser Fratz nichts mehr an und selbst in deren Ferien, brauchte sie sich nicht mehr darum kümmern. Dann war sie für immer frei. Sie war so froh, dass sie nach vielen Suchen, dieses Versuchsprojekt fand: "Kader für den Staat" nannte es sich. Wie viel Mühe und kostbare Zeit hatte sie in diese Suche investieren müssen. Gitta war durch einen puren Zufall, bei einer Weiterbildung darauf gestoßen. In diesem Projekt war dieses Balg gut aufgehoben und würde vor allem Disziplin und Achtung, vor ihren Eltern lernen. Sie hatte so viele Probleme gehabt das Gör in das Projekt zu bekommen. Sie war viel zu jung, mit ihren fünf Jahren und sechseinhalb Monaten. Trotzdem war es ihr geglückt. Zum Glück war die Göre einigermaßen intelligent und konnte den Aufnahme-Test bestehen. Endlich war es vorbei und der Drill in einer Kaserne würde sie hart und gehorsam machen. Wenn sie dann noch etwas mit diesem Balg zu tun bekam, dann würde sie ihr den nötigen Respekt zollen, genauso wie die Kinder in der Schule. So jedenfalls hatte es ihr der zuständige Verantwortliche erklärt. Man würde dort jeden noch so undisziplinierten Balg, Respekt und Achtung beibringen. Dann würde sie von ihrer Tochter geehrt und anerkannt, egal was vor der Schule gewesen war. Sie hatte dem Verantwortlichen, auf das Genauste von den Disziplinproblemen erzählt, die sie mit diesem Balg hatte und ihm, ihr Herz ausgeschüttet, dass sie es nicht mehr ertragen könnte, wie frech und ungezogen diese Göre ständig ihr gegen über war. Sie hätte so viel Zeit und Liebe in dieses Mädchen gesteckt und der Dank wäre nur Ungezogenheiten. Sie sähe ja ein, dass sie das Mädchen einfach zu sehr verwöhnt hätte, aber sie wüsste nicht weiter.

Oberst Senko, der Leiter des Projektes in der russischen Armee, hörte sich ihre Schilderung genau an und meinte, er würde ihrer Tochter schon Respekt beibringen und die nötige Achtung vor den Eltern, käme alleine durch diese Tatsache. Das kein Wort davon wahr war, konnte der Oberst nicht nachprüfen, wie hätte er das auch tun sollen. Ihm reichte der gute Leumund, den die Eltern besaßen. Sie war eine geachtete Lehrerin, mit dem besten Ruf. Sie war aktiv in der Partei und auch gesellschaftlich sehr engagiert. Ihr Max war ein ehemaliger Polizist, ein erfolgreicher Kriminalbeamter und hatte einige Zeit, sogar das Amt eines Polizeirates inne. Das alles schützte sie vor einer tieferen Überprüfung, das Gör betreffend.

Dass Max seinen Posten damals aufgegeben hatte, ärgerte Gitta immer noch. Aber Max kam einfach mit dem seelischen Stress nicht mehr klar und ging frühzeitig in Pension. Dadurch arbeitete er mit seinen fünfzig Jahren, wieder in der Wismut, als Steiger. Dort hatte er eine Einheit der Kampfgruppe unter sich. Eine Einheit die schon einige Auszeichnungen für gute Leistungen bekommen hatte. Max führte seine Einheit streng, aber kameradschaftlich. Animierte sie dadurch zu sehr guten Leistungen und wurde von seinen Untergebenen stets anerkannt. Vielleicht brachte diese militärische Ausbildung der Göre, sogar ihren Max dazu, diese als sein Kind anzuerkennen und half ihm zu akzeptieren, dass es zwar kein Junge war, aber trotzdem ein guter Soldat war. Das wäre etwas Positives, denn ihr Max litt sehr unter der Tatsache, keinen Stammhalter zu haben.

Alleine die militärische Laufbahn von Max, war ein guter Ausgangspunkt und würde zu dem positiven Bescheid beitragen, um in dieses Projekt einsteigen zu können. Da er als ehemaliger Angehöriger des russischen Militärs wusste, dass es bei der Ausbildung hart zur Sache ging, würde es auch keinerlei Beschwerten von ihrer Seite geben.

Gitta war es egal, wie hart man die Göre ausbilden würde, vor allem in was. Hauptsache sie war endlich gänzlich aus ihrem Leben verschwunden. Tausende Kilometer von ihr entfernt, konnte auch niemand mehr von ihr verlangen. 'Ach bringe doch einmal deine kleine Süße mit. Wir haben sie schon so lange nicht mehr gesehen', ging es Gitta durch den Kopf. Das war der einzige Grund, warum sie in den letzten Jahren überhaupt einmal, dieses Balg holen musste. Sie musste ja wenigstens so tun als ob sie die Göre liebte. Immer musste sie sich rechtfertigen, warum das Balg so ruhig war und nie mit jemand sprach. Ab Morgen war sie endlich so weit weg, dass niemand mehr von ihr dieses Opfer verlangen konnte und sie hatte dann immer eine gute Ausrede. Dass nicht alle damit klar kamen, dass sie ihre Tochter so weit weggab, damit konnte und würde sie leben können. Im Gegenteil, sie könnte sich in den Mittelpunkt rücken und tolle Geschichten, über ihre ach so tolle Tochter erzählen. Zu sagen, sie würde durch ihren schweren Verzicht, ihren Beitrag für die Sicherheit des Staates leisten, würde sie interessant machen. Ein paar Tränen herauszudrücken, war für sie noch nie ein Problem. Dadurch hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller, und niemand würde ihr mehr auf die Nerven gehen. Die Kollegen könnten mit ihren dummen Sprüchen bleiben, wo der Pfeffer wächst. 'Gitta bringe doch mal deine Kleine mit. Man hört und sieht sie ja so gar nicht', machte sie in Gedanken die Stimmen ihrer Kollegen nach. Endlich konnte sie mit ihrem Mann wieder in Ruhe leben.

Gitta riss sich aus ihren Gedanken und sah auf ihre Uhr. Erschrocken stellte sie fest, dass sie fünf lange Minuten verschenkt hatte. Sie musste sich sputen. Diese Göre sollte sich endlich einmal bewegen und langsam aber sicher beeilen. Sonst passierte es noch, dass sie wegen der da, den Bus verpasste. Wütend schnauzte Gitta deshalb ihre Tochter an.

**

** Abreise **

**

„Hoch mit dir. Los beeile dich. Wir kommen wegen dir, noch zu spät. Höre auf herumzutrödeln. Verdammt noch mal. Mache hinne! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Raus mit dir. Anziehen, los ein bisschen dalli, wenn ich bitten darf. Mach hinne! Wir sind spät dran“, pulverte die Gitta Charlotte unfreundlich an.

Kein freundliches Wort, kam über deren Lippen. Sie sagte nicht einmal „Guten Morgen“, und schon gar nicht, gab sie ihrer Tochter einen Kuss. Sie streichelte dem Mädchen auch nicht über das Gesicht oder die Haare. Sondern sie schmiss ihr Unterwäsche, Socken, einen schwarzen Overall und neue Schuhe aufs Bett.

"Zieh das an, los. Beeilung!", wurde die Forderung in einem noch schrilleren und lauteren Ton wiederholt. Wenn es überhaupt noch möglich war, Gittas herum Geschreie zu steigern. Schnell erhob sich Charlotte und kam den Befehlen der Frau nach. Sie wollte ihre Mutter nicht noch mehr reizen. Die war aus irgendeinem Grund, schon wieder stinksauer auf sie. Dabei hatte sie gar nichts gemacht. Schnell waren die Söckchen, Unterwäsche und der Overall angezogen. In die Stiefel führ sie allerdings nur hinein, da sie gar nicht wusste wie man diese zu binden musste. Sobald sie alles angezogen hatte, lief Charlotte aus dem Zimmer und hinüber ins Bad, um sich zu waschen und die Zähne zu putzen. Kaum, dass die Badezimmertür zu war, brüllte es schon wieder nach ihr. Ihre Mutter stand drängelnd in der Badezimmertür.

„Bist du immer noch nicht fertig? Mach hinne, wir haben keine Zeit mehr“, also ließ Charlotte das Zähneputzen einfach ausfallen. Um wenigstens ihre langen gelockten Haare, die bis zur Taille reichten, noch zähmen zu können. Mühsam bürstete sie ihre Haare durch, was bei den vielen Locken, nicht so einfach war. Es dauerte keine zwei Minuten, da stand Gitta wieder in der Tür.

"Bist du denn zu allem zu blöd. So kannst du doch nicht rumlaufen. Du siehst aus wie ein Zigeuner", wütend riss Gitta ihrer Tochter die Bürste aus der Hand. „Los komm her. Ständig habe ich Ärger mit dir und zu allem stellst du dich zu dämlich an“, bekam diese, wohl zum hundertsten Male zu hören.

Charlotte nahm diese Schimpftiraden ihrer Mutter, schon gar nicht mehr richtig wahr. So war es immer, wenn sie bei dieser Frau war. Egal, was sie machte, nie machte sie etwas richtig und nie ging etwas schnell genug. Sie hatte es aufgegeben, dieser Frau etwas Recht machen zu wollen. Deshalb schaltete sie einfach auf Durchgang und hörte nicht mehr auf das, was diese Frau sagte. Gitta, riss die Bürste durch das Haar und kämmte es durch. Ohne darauf zu achten, dass sie ihrer Tochter wehtat und ihr dabei büschelweise Haare ausriss. Danach flocht sie das lange Haar, zu einem dicken Zopf.

„Danke Mama“, sagte Charlotte daraufhin leise, so wie sie es gelernt hatte.

Wenn auch mit Schmerztränen in den Augen, kam sie der ihr anerzogene Höflichkeit nach. Jedoch gab sie beim Kämmen nicht einen Ton von sich, sie biss einfach die Zähne zusammen. Oft genug, bekam sie in dem letzten Jahr, für ein lautes „Auwa“, hinterher noch mehr Ärger. Dass alles passierte nur, weil der Opa der Meinung war, sie solle auch einmal zu dieser Frau gehen. Aber seitdem sie so krank geworden war, musste sie nicht wieder hierher. Opa hatte eingesehen, dass man dieser Frau nicht trauen konnte. Aber heute, so hatte er ihr erklärt, ging es leider nicht anders. Auch wenn er darüber ganz traurig war. Also biss Charlotte die paar Minuten tapfer die Zähne zusammen. Sie wusste, auf diese Weise, war es am Schnellsten vorüber. Kaum, dass der Zopf fertig geflochten war, der Gummi das Haar zusammenhielt, wurde sie in die Küche geschoben. Charlotte stolperte, durch die offenen Schuhe, konnte sie nicht richtig laufen, von der Mutter vorwärtsgedrängt an den Tisch. Bekam ein Glas Milch und einen Butterschnitte hingestellt.

"Hier iss, wir müssen los", forderte Gitta genervt.

Schnell schlang die Kleine, die lieblos geschmierte Butterschnitte herunter. Die Milch rührte Charlotte allerdings nicht an. Sie fragte sich immer wieder, warum ihr diese Frau immer Milch gab, obwohl sie wusste, dass sie keine Milch trinken durfte. Der Opa hatte es der Frau immer wieder gesagt, dass Charlotte davon ständig schlecht wurde und sie davon Durchfall bekam. Also aß sie nur die Schnitte. 'Nur gut', ging es Charlotte durch den Kopf. 'Das wenigstens die Butter nur auf die Schnitte geschmiert war.' Sonst hätte sie die Schnitte auch nicht essen können. Zu ihrem Glück kratzte die Frau die Butter immer nur auf die Schnitte, wenigstens das hatte sie sich gemerkt. Kaum, dass Charlotte, das letzte Stück Brot im Mund hatte, forderte die Frau von ihr, dass sie sich die Schuhe richtig anzuziehen sollte. Ganz leise und vorsichtig, bat Charlotte um Hilfe. Da sie solche Schuhe noch nie gesehen hatte.

"Kannst du mir bitte helfen, Mama?"

"Das kann doch nicht wahr sein. Bist du wirklich zu allem zu blöde? Kannst du nicht einmal alleine deine Schuhe anziehen." Gitta kniete sich vor ihre Tochter und versuchte die Schnürstiefel zu binden, kam aber selber mit der Schnürung nicht klar und band den Schaft einfach mit den Schnürsenkeln fest. "Los, gehe nochmals auf die Toilette", fuhr sie wütend das Mädchen an.

Charlotte beeilte sich, denn sie wollte hier nur noch weg. Ganz weit weg, von dieser bösen Frau. Überall konnte es nur besser sein, als hier. Ging es dem kleinen Mädchen durch den Kopf. Sie lief schnell ins Bad, trank sich im Bad, am Wasserhahn erst einmal satt und verrichtete ihre Notdurft.

„Fertig?“, kam schon die Frage, von Seiten der Mutter. Die schon wieder in der Tür stand und zur Eile antrieb.

Charlotte nickte, ohne ein Wort zu sagen.

„Dann los. Damit wir es hinter uns haben. Dann habe ich wenigstens noch ein paar Stunden Zeit, zum Schlafen“, maulte Gitta ihre Tochter an.

Charlotte lief schnell ins Büro ihrer Mutter und holte ihren Herr Bär, der ja noch auf dem Bett lag.

Max, ihr Mann, fuhr gerade mit dem Auto vor und hupte vor dem Haus. Sofort verließen beide die Wohnung. Charlotte wurde hinten in den Fond geschoben. Gitta setzte sich nach vorn, zu ihrem Mann und gemeinsam fuhr man zum Bahnhof.

**

** Die Betreuer **

**

Fast eine halbe Stunde fuhren die Familie Dybas, einmal quer durch die Stadt. Charlotte drückte ihren Herr Bär an sich und schielte vor zu der Frau. Die schimpfte ständig mit dem Mann, er sollte schneller fahren, sonst kämen sie noch zu spät.

Max beruhigte seine Frau. „Gitta, die warten schon. Wegen zehn Minuten werden die nichts sagen. Die sind froh, wenn überhaupt alle kommen. Außerdem, sind die sowieso nicht pünktlich da. Das wäre das erste Mal, dass ein Gruppentransporter pünktlich am Haltepunkt wäre. Dass die zu der Zeit da sind, die sie angeben haben, ist gar nicht möglich. Es gibt immer zeitliche Verzögerungen und die potenzieren sich. Das können auch die Fahrer nicht herausholen. Wir sind die Letzten die abgeholt werden. Beruhige dich endlich. Du hättest vorhin halt hinmachen müssen und nicht so spät aufstehen“, freundlich lächelnd, versuchte Max seiner Frau beim Herunterfahren zu helfen. "Was sollen die von uns halten, wenn du so in Rage bist."

Aber er gab trotzdem mehr Gas, um diese Uhrzeit konnte er sich das erlauben. Da schlief auch am Montagmorgen, die Stadt noch. Es war noch nicht einmal 5 Uhr. Kurz nach 5 Uhr begann erst die Rush-Hour. Da die meisten erst dann auf Arbeit fuhren. Also kam er gut durch die Innenstadt, um ans Gegenüber liegende Ende der Stadt und zum Bahnhof zu kommen. Schon vom weiten sah man den Ikarus-Bus, der zeitgleich mit ihnen vor dem Bahnhof ankam. Da mit dem Bus alle Kinder, aus dem Süden der Republik, einsammelt wurden, um sie nach Berlin-Schönefeld zu bringen. Also war man sogar noch pünktlich am Treffpunkt und niemand musste auf sie warten. Erleichtert atmete Gitta auf.

Max hatte wieder einmal Recht, da sie der letzte Haltepunkt des Busses waren, war eine gewisse Verspätung völlig normal. Dadurch, dass man schon in Suhl, Erfurt und Jena, Kinder einsammelt hatte und die Übergabe der Schützlinge sich verzögerte. Nur ein Ehepaar, das ebenfalls in Gera wohnte, unterschrieb diesen Vertrag. Gitta kannte die Familie den Namen nach. Zwei Kinder von denen, hatte sie schon unterrichtet. Die Familie hatte mittlerweile sieben Kinder. Das erfuhren Gitta und ihr Mann, beim ersten Elterngespräch in Berlin, das vor neun Wochen stattfand. Sie gaben ihre Tochter in diese Schule, um ihr eine gute Ausbildung zugutekommen zu lassen. Die sie sich sonst niemals hätten leisten können. Das muss man sich einmal vorstellen, sieben Kinder und die Frau ging auch noch voll Arbeiten, in einer Weberei. Als wenn nicht ein solches Balg schon genug war, ging es Max durch den Kopf. Auch diese Familie, kam zeitgleich, mit den Dybas, am Bahnhof an.

„Siehst du Gitta, wir sind gar nicht zu spät, die anderen kommen auch gerade an“, erleichtert sahen sich die Beiden an. Kein Wort hatten sie während der Fahrt, mit ihrer Tochter gesprochen. Auch jetzt, sagte keiner der Beiden einen Ton zu Charlotte. Gitta sprang, sobald der Wagen stand, aus dem Auto und lief auf den Bus zu.

„Margitta Dyba, mein Mann und ich bringen ihnen Charlotte. Wo soll wir unsere Kleine hinbringen?“, stellte sie sich, dem russischen Offizier vor.

„Guten Morgen, Frau Dyba. Gestatten, Oberstleutnant Petrow, ich bin verantwortlicher Transportoffizier. Schön, dass sie konnten so pünktlich hier sein. Wir seien schon viel zu sehr im Zeitverzug. Als wir niemanden hier stehen sahen, dachten wir schon, sie sind schon wieder weg oder nicht mehr kommen. Aber sie ja fast zeitgleich kamen, hier an“, machte dieser, Gitta trotzdem darauf aufmerksam, dass sie spät dran war.

„Tut mir leid Genosse Petrow, wir haben unsere Kleine nicht munter bekommen. Es ist ja auch eine ungewöhnliche Zeit, für ein Kind in dem Alter, zum Aufstehen“, säuselte Gitta in einen übertrieben freundlichen Ton. Reichte ihm die Unterlagen von Charlotte. Petrow nahm die Unterlagen entgegen, sah sie auf Vollständigkeit durch und reichte sie einem seiner Untergebenen, in den Bus hinein.

„Na dann, wir mal wollen. Wollen sie sich noch von ihrer Tochter verabschieden?“

„Das haben wir schon zu Hause gemacht, Genosse Petrow. Wir wollten es für die Kleine nicht noch schwerer machen, als es sowieso schon ist. Sie können also sofort los. Wir sind auch sehr in Eile. Mein Mann muss heute früh noch zum Dienst und er ist schon sehr spät dran“ versuchte Gitta das ganze Drumherum noch zu beschleunigen. Obwohl es nicht der Wahrheit entsprach, denn Max nahm sich heute extra frei, damit man sich dann noch in Ruhe ausschlafen konnte.

„Na dann. Frau Dyba am Besten sie geben mir die Kleine auf den Arm und fahren sofort los dann. Wir haben schon sehr schlimme Abschiedsszenen erlebt, heute. Also keine Szene große machen, das nicht gut tut den Kindern. Wir dann brauchen im Bus eine Ewigkeit, bis wir wieder beruhigt bekommen die Kleinen“, erleichterte der Oberstleutnant, der Mutter seines Schützlings, den Weggang.

Zügig und ohne auch nur ein Abschiedswort zu sagen, holte oder besser, zerrte Gitta ihre Tochter aus dem Auto. Riss den Teddy aus den Armen ihrer Tochter, den Charlotte fest umklammert hielt und schob sie dem Oberstleutnant vor die Füße. Kurz nickte Maximilian, dem Oberstleutnant zu und die Dybas stiegen wieder in den Wagen, fuhren sofort davon. Ohne sich auch nur ein einziges Mal, nach Charlotte, umzusehen. In dem Moment, in dem die Türen des Trabants zuschlugen und das Fahrzeug sich in Bewegung setzte, realisierte Charlotte erst, dass sie jetzt ganz alleine war. Panik stieg in dem kleinen Mädchen auf und Tränen liefen über ihre Wangen.

„Herr Bär … mein Herr Bär“, rief sie verzweifelt. „Herr Bär, lass mich nicht allein. Geh weg, du bist böse. Ich will nicht hierbleiben. Ich will zu meinem Herr Bär“, schrie sie, als Petrow sie anfassen wollte. Gewandt drehte sie sich aus dessen Griff und riss aus.

Charlotte rannte so schnell sie konnte, ihrem Herr Bär und dem davon fahrenden Auto hinterher. Sie hatte wahnsinnige Angst, vor dem fremden Mann, mochte nicht in den Bus einsteigen. Sie wollte zu ihrem Opa und zu ihrem Herr Bär. Ihrem einzigen Freund, der sie jetzt auch noch alleine ließ. Sie konnte nicht dorthin, wo man sie hin verschleppte wollte. Ihr Platz war hier bei Oma, Opa und Herr Bär. Auf einmal war sie völlig allein und Panik machte sich in ihr breit

**

Oberstleutnant Petrow reagierte blitzschnell und holte das Mädchen, innerhalb weniger Schritten ein. Schon einige von solchen nicht ganz ungefährlichen Situationen, hatte er heute erleben müssen.

Der Oberstleutnant der russischen Armee wusste, als er diesen Auftrag bekam, dass es nicht leicht werden würde. Aber, dass ihn solche Dramen erwarteten, hatte er nicht voraus gesehen. Dass er solche schlimmen Szenen beim Abholen der Kinder erleben musste, hätte er sich nicht träumen lassen. Nur gut, dass er jedem Bus, einen Arzt zugeteilt hatte. Sonst wäre es zu noch schlimmeren Horrorszenarium gekommen, als es so schon der Fall war. Er war froh, jetzt die letzten beiden Kinder eingesammelt zu haben, bald hatten sie es geschafft. Also fasste er sofort zu, als Frau Dyba, die seine Anordnungen wirklich hervorragend umsetzte, in ihren Wagen stieg. Er erwischte Charlotte nach fünf schnellen Schritten, gerade noch am Arm. Bevor sie auf die Straße und in ein Auto lief. Deshalb griff er härter zu, als er eigentlich wollte.

Egal, wie sehr Charlotte schrie, tobte und sich wandte, gegen den stählernen Griff des Betreuers, hatte das kleine Mädchen keine Chance. Sein Kollege kämpfte den gleichen Kampf, mit der kleinen Birgitt. Das kleine Mädchen schrie ebenfalls, wie am Spieß nach ihren Eltern. Petrow folgte dem Beispiel seines Kollegen und klemmte sich das strampelnde Bündel Kind, einfach unter den Arm, um ihr nicht noch mehr weh zu tun. Es half alles nichts, die Kinder mussten, ob sie wollten oder nicht, zur Schule gebracht werden. Der Offizier würde sich später mit den Kindern unterhalten. Erst einmal zählte nur, dass sie die kleinen Kerle in den Bus bekamen. Ohne, dass einen von ihnen etwas passierte. Deshalb lief er eilig zum Bus, um mit der tobenden Charlotte auf dem Arm einzusteigen. Erst dort, würde er die Kleine beruhigen und fürs erste ruhigstellen können. Der im Bus wartende Arzt, würde gleich dafür sorgen, dass die Kleinen zur Ruhe kamen. Eine Injektion mit einem starken Beruhigungsmittel, würde den Flug für die Kinder erträglicher machen. So bekam man im Flieger keine Probleme mit den Kindern. Die anderen elf Kinder, die er abholen musste, schliefen schon alle tief und fest.

Kaum das Charlotte auf dem Sitz des Busses gesetzt wurde, kam noch ein Fremder auf sie zu, sprach in einer Sprache auf sie ein, die sie nicht verstand. Charlotte schrie wie am Spieß, trat um sich und schlug auf alles, was sich bewegte. Sie wollte sich von diesem fremden Menschen nicht anfassen lassen. Sie mochte das überhaupt nicht. Auf einmal stach sie etwas und sofort wurde sie ganz müde.

Erleichter ließ Petrow das Mädchen los. Verdammt hat die Kleine Kräfte, er sah sie sich genau an. Das war gutes Ausgangsmaterial, schoss es ihm durch den Kopf. Erschrocken über seine Gedanken, schüttelte er den Kopf über sich selber. Aber irgendwo stimmte der Gedanke schon, schließlich musste er mit diesen Kindern arbeiten und aus ihr konnte man etwas machen. Auch, wenn sie sehr zierlich war, hatte sie jetzt schon eine sehr gut aufgebaute Grundmuskulatur. Er hatte ganz schön Probleme, diesen kleinen Teufel zu bändigen. Die anderen Kinder, waren bei weiten nicht so kräftig.

Erleichtert atmete Petrow auf. Endlich hatte man alle Kinder eingesammelt. Das Stück bis zum Flugplatz in Leumnitz, legte man in reichlichen zehn Minuten zurück. Dort wurden sie bereits ungeduldig erwartet. Die Kinder wurden schlafend und so vorsichtig es ging, immer zu zweit auf eine Trage gelegt und hinüber in den Mi4 gebracht: einen Militär-Transporthubschrauber der NVA, der bis zu vierzehn Kämpfer aufnehmen konnte. Mit dem Hubschrauber transportierte man die Kinder nach Berlin und von dort aus, ging es dann, in einer TU-114, weiter nach Moskau.

Das Schlimmste der Unternehmung hatte man endlich geschafft. Den Rest würde die Zeit mit sich bringen. Er hoffte nur, dass die Kinder dieses traumatische Erlebnis, schadlos überstanden. Ihm tat sein Herz weh, er könnte heulen vor Wut. Das erste Mal in seinem Leben, hasste er seinen Job. Aber da musste er jetzt durch, er war Soldat und musste tun, was man von ihm verlangte.

**

*** Wonnaja Akademia Shera ***

„Военная академия Шера“

MAY

***

Noch heute kann ich mich an meine sogenannten ersten Schultage erinnern. Ich habe das Gefühl, als wenn er erst gestern gewesen wäre, so klar sehe ich jedes einzelne Detail vor mir, und ich fühle wieder die gleiche Panik in mir, welche ich bewusst erlebt hatte. Ich vergaß vieles im Laufe der Jahre oder besser gesagt, verdrängte ich viele der Erlebnisse, aber ich schafft es nie diese Details zu vergessen. Es tut noch genauso weh und vor allem, belastet es mich von Jahr zu Jahr mehr. Mit jeder bewusst erlebten Schuleinführung, wurde es schlimmer. Weil ich mit jedem Jahr, dass ich älter werde, besser begriff, wie schlimm es wirklich war, was man uns damals antat. Egal wie alt ich werde, dieser Tag oder besser gesagt, diese Tage hatten sich in tief in meine Seele eingebrannt, als das Schlimmste, was ich je erleben musste.

Es gab noch einige wesentlich schlimmere Erlebnisse in meinem Leben, die konnte ich vollständig verdrängen. Keins der anderen Erlebnisse belastet mich so sehr, wie diese ersten Tage oder besser, diese ersten Wochen. Die anderen schlimmen Dinge, konnte ich schon immer vollständig ausblenden und sie belasten mich nicht in meinem Alltag, sondern nur in der Nacht, in meinen Träumen. Meine Familie war davor geschützt und bekam nie etwas davon mit, hatte keinen Kontakt mit diesen mich belasteten Erlebnissen. Da ich im Laufe meines Lebens gelernt hatte, meine Träume zu steuern, sonst wäre ich daran zerbrochen.

Das war einer der Gründe, weshalb ich so schlecht schlafen konnte. Ich weckte mich, sobald ich anfing zu träumen: Um mein Umfeld vor meinen Reaktionen, die durch diese Träume ausgelöst wurden, zu schützen. Nicht selten passierte es früher, dass ich schreiend und um mich schlagend aufgewacht war. Nicht selten war ich nach dem Aufwachen völlig desorientiert und griff jeden an, der mich berühren und beruhigen wollte. Zum Glück lernte ich nach meiner Rückkehr aus Russland, sehr schnell diese Träume zu steuern. Sie kamen nach einigen Wochen nur noch, wenn ich hohem emotionalem Stress ausgesetzt war.

Die Erlebnisse in den ersten sechs Wochen, in meiner sogenannten Schule, waren genau der Grund, warum ich an Tag der Schuleinführung von Mia, solche akuten Probleme bekam und weshalb ich so schwer mit mir kämpfen musste, um nicht durchzudrehen. Vor allem, aber war es der Grund, warum ich meine Schwiegertochter so angeschrien hatte. Sie brachte mich, durch ihr Drängen, zurück in dieses Gefühlskarussell, aus dem ich mich immer so schwer heraus kämpfen konnte. Wie soll ich meinen Kindern und Enkeln erklären, warum es mir nicht gut ging, ohne ihnen den schönsten Tag der Schulzeit zu verderben. Für mich war der Tag, von Mias Schuleinführung, auf der einen Seite wunderschön, auf der anderen Seite, der blanke Horror, weil ich das, was mit mir geschah, kaum kontrollieren konnte. Egal, wie sehr ich mich dagegen wehre. Das Hochkommen der Erinnerungen an Damals, lässt sich einfach nicht verhindern. Obwohl ich mich so bemüht hatte und ich diese Gefühle nicht zulassen wollte.

Bestimmte Gedankengänge und Gefühle steuert nun einmal das Unterbewusstsein, darauf hat man selber keinen Einfluss. Es genügen oft Gerüche, Töne oder Erlebnisse und schon sendet das Unterbewusstsein, mit aller Gewalt, Bruchstücke zur Oberfläche, die man als Erinnerungen wahrnimmt.

Jeder hatte schon einmal solch ein Erlebnis, die meisten Menschen lächeln dann still vor sich hin, weil es meistens schöne Erinnerungen sind und man gern daran denkt. Wie die Hochzeitskutsche, die an einem vorbeifährt und die einen an den schönsten Tag im Leben erinnert. Oder aber, das herauskommen der Kinder mit der Zuckertüte aus der Schule, so alt sind die meisten Eltern nicht und können sich daran noch gut erinnern. Aber was macht man, wenn diese Erlebnisse der blanke Horror sind? Menschen mit schlechten Erinnerungen, lernen ziemlich schnell diese zu verstecken. Denn niemand hat etwas davon, auch noch andere in dieses erlebte Leid zu ziehen. Also lernt man diese Dinge zu verdrängen oder nur dann auszuleben, wenn es niemand mitbekommt. Man lächelt, obwohl man liebsten weinen oder schreiend weglaufen würde.

Der Gedanke, dass meine kleine Hexe ähnliches erleben müsste, wäre für mich unvorstellbar. Ich glaube, wenn man das meinen Kindern oder Enkeln antun würde, würde ich zum Mörder werden. Unsere Kinder würden daran zerbrechen, ohne auch nur die kleinste Gegenwehr. Auch wenn mir Mia äußerlich sehr ähnelte, unterscheiden wir uns im Inneren, viel zu sehr.

Oder stimmt das etwa nicht? War ich vielleicht als Kind, Mia ähnlicher, als ich mir jetzt vorstellen wollte und konnte? Wenn ich zurück denke an die Zeit vor der Schule, war und ist in mir nur eine unendliche Leere. Sämtliche Gefühle von damals, wurden ausradiert. Selbst die Zeit bei meinen Großeltern nahm ich nur sehr verschwommen wahr. All die Ereignisse die im Zeitstrahl vor diesem Tag lagen, wurden zu Empfindungen ohne ein einziges Quantum an Gefühl. Es herrschte in mir nur eine vollkommen Leere die weh tat und die sich einfach nicht wieder füllen wollte, so sehr ich mich auch bemühte. Das Wenige, an was ich mich noch erinnern konnte, waren einzelne Fetzen, wie die Szene, an die erste Begegnung mit meinen Großvater oder die Szene mit dem Streit, im Wohnzimmer meiner Großeltern. Die Bilder waren noch da und ich bin heute dazu in der Lage, Gefühle hinein zu interpretieren, aber eine Erinnerung an diese Gefühle, habe ich nicht mehr. Vielleicht ist das der Grund, warum ich stets darauf geachtet hatte, dass solche Tage für meine Kinder, so schön wie nur irgend möglich wurden. Auch wenn das für mich jede Mal die Hölle war. Damit sie so viele Gefühle, wie nur möglich abspeichern konnten und sie niemals in ihrem Leben, diese endlose Leere fühlen müssen, wie ich.

Viele Jahre, nach diesem Tag, ich war damals schon dreizehn oder vierzehn, unterhielt ich mich einmal mit dem Genossen Petrow über diese Tage. Den russischen Offizier der mich in Empfang genommen hatte. Einem Lehrer, der mir am meisten ans Herz gewachsen war, weil man mit ihm, fast wie mit einem Freund reden konnte. Der stets versuchte unser Leben wenigstens etwas erträglicher zu gestalten und sich damit, nicht nur einmal, schlimmen Ärger einhandelt hatte. Petrow erzählte mir, wie schlimm dieser Tag für ihn und die meisten der Lehrer gewesen war. Dass viele von ihnen über Monate Alpträume gehabt hatten. Auch wenn einige der Lehrer, im Nachhinein zu unseren schlimmsten Alptraum mutierten, war auch für sie dieser Tag die Hölle. Vielleicht wurden diese Männer auch nur so schlimm zu uns, weil sie sich selber schützen mussten, um an dieser Arbeit nicht zu zerbrechen. Denn dass, was sie uns antaten, war nicht nur an diesem Tag die Hölle.

Aus meiner Sicht wäre es damals besser gewesen, das habe ich auch Petrow gegenüber immer wieder gesagt, wenn man uns hätte schreien lassen. Durch das Ruhigstellen, hatte keiner von uns die Möglichkeit, akzeptieren zu lernen, dass wir nicht wieder nach Hause konnten. Da die meisten von uns aus geordneten und liebevollen Familien stammten, war es für meine Kameraden noch schlimmer. Wir fuhren in nur wenigen Augenblicken, vom Himmel hinunter in die tiefste Hölle. Wir wachten auf und unser Leben wurde zum Alptraum. Wir waren umgeben von Menschen, die wir nicht einmal verstanden. Die eine Sprach sprachen, die hart und unbarmherzig war. Vor allem wurde es mit jedem Tag schlimmer. Wir wurden in unserer Hölle gefangen gehalten, ohne eine Möglichkeit daraus auszubrechen. Unsere Eltern hatten uns gesagt, wir würden in die Schule gehen. Keiner von uns war dumm und alle wusste was das bedeutet. Aber von uns verlangte man, sofort Soldaten zu sein, mit allen daraus resultierenden Konsequenzen. Man behandelte uns wie die Kadetten der MAM in Moskau, die waren allerdings doppelt so alt wie wir und wussten was auf sie zu kam. Denn die meisten von ihnen hatten diesen Weg selbst gewählt oder wurden seit ihrer Geburt auf diesen Tag vorbereitet. Wir wussten das nicht und ich behaupte hier aus tiefster Überzeugung, dass keiner der Elternteile (meine einmal ausgeschlossen) wusste, was auf uns zu kam. Aber wir waren Kinder von sechs Jahren und ich war noch über ein Jahr jünger als der älteste von uns. Ich war gerate einmal fünfeinhalb Jahre alt. Genau wie Mia, waren wir noch kleine Kinder und genau wie sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen musste, hätten wir das auch lernen müssen. Aber wir durften das nie. Die wenigstens, wagten sich so offen ihre Gefühle zu zeigen, wie ich es oft getan habe.

Schon so lange ich denken kann, war und bin ich sehr Emotionsgebunden gewesen. Auch in der WoKi ließ ich meinen Gefühlen immer freien Lauf. Ich hatte damit nicht nur einmal, meine Erzieherinnen zur Weißglut gebracht, weil ich irgendetwas nicht tun wollte. Oder weil ich irgendetwas als ungerecht empfand und dann böse mit einer Erzieherin war. Oft war dann Tante Walli die einzige in der WoKi die mich mit viel Geduld, wieder in die richtige Spur lenkte. Mein Gerechtigkeitssinn hat mich nicht nur einmal in Schwierigkeiten gebracht. Ich hatte nie gelernt meine Gefühle zu kontrollieren. Ich bin mittlerweile so alt geworden, aber das ist heute immer noch so. Mia ähnelte mir in dieser Hinsicht sehr, sie musste ihre Gefühle ebenfalls immer herauslassen. Sie lachte für ihr Leben gern und weinte niemals, wenn sie mal Hinfiel oder sich weh tat. Aber sie weinte sich die Seele aus dem Leib, wenn eine Geschichte sehr traurig war und war dann kaum zu beruhigen.

Umso schlimmer war die Reaktion Mias für mich, als man sie von Papa und Mama trennte. Wie sehr hatte meine Enkelin geweint. Unsere Mia die niemals weint, selbst dann nicht, wenn sie sich schlimm verletzt hatte. An ihren ersten Schultag weinte sie Rotz und Wasser, weil sie von Mama und Papa weg musste. Allerdings musste sie nur für eine Stunde und ohne die vertrauten Personen, der Lehrerin in das Klassenzimmer folgen.

Am liebsten wäre ich völlig ausgeflippt. Max sah mich an wie ein Alien, als meine Atmung auf einmal völlig verkrampfte und ich mit zu Fäusten geballten Händen da stand, denen man ansah, wie fest ich sie geballt hatte. Die Knöchel meiner Hände waren schneeweiß, mein Atem ging stoßweise und ich musste mich umdrehen und mich von meiner Familie entfernen. Mein Herz schrie regelrecht auf, es brannte wie Feuer und am liebsten wäre ich zu ihr gegangen und hätte sie in den Arm genommen, nur, um zu verhindern, dass sie diesen Schmerz kennenlernen musste. Auch wenn ich wusste, dass dies falsch war, hätte ich die Lehrerin am liebsten erschlagen. Es half nicht, dass ich mir ständig sagte, sie kommt gleich zurück, dann sieht sie, dass wir alle noch da sind. Die Schmerzen der Erinnerung, zerrissen fast mein Herz und ich kämpfte derart gegen meine Gefühle, dass meine Familie es mitbekam. Ich konnte die Gefühle, die in mir hochstiegen, einfach nicht beherrschen. In mir brüllte ein wildes Tier auf: Lass es nicht zu. Verhindere es. Egal wie. Du musst etwas tun.

Wie strahlend blickte uns Mia an, als sie nach der Unterrichtsstunde wieder aus der Schule gekommen war, mit einer Zuckertüte in den Armen. Nicht nur ihre Augen strahlten, sondern ihr ganzes Gesicht, ihr ganzer Körper. Glücklich war sie auf uns zugelaufen und berichtete uns, dass die großen Kinder für sie Lieder gesungen hatten und dass ihr eines der Mädchen versprochen hatte, ihr all die schönen Lieder zu lernen. Der kleine Mund wollte gar nicht mehr ruhig stehen, weil sie uns alles so genau, wie nur möglich erzählen musste und sich dabei regelrecht überschlug.

Ich lächelte notgedrungen, obwohl man den Puls in meinen Halsschlagadern pochen sah. Was hätte ich auch anderes machen sollen. Am liebsten wäre ich davon gerannt, hätte mir meinen Pein von der Seele gebrüllt und mich irgendwo hin verkrochen, wo mich niemand finden kann, so wie ich es als Kind immer gemacht hatte. Das konnte ich meiner kleinen Hexe nicht antun. Max wollte mich beruhigen und die Hand auf meine Schultern legen. Erschrocken sah er mich an, als ich mich aus seinen Armen heraus drehte. Ich musste mich beruhigen, deshalb ging ich weg von der Gruppe, um meine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen. Zum Glück lief mir niemand hinterher. Aber die Blicke meiner Männer, sprachen Bände. Gott sei Dank, bekam Mia von allem nichts mit und nach wenigen Minuten hatte ich mich wieder im Griff und konnte mich wieder lächelnd, meiner Enkelin widmen.

Wir gingen im Anschluss in einen Erlebnispark. Das ist ein Holzspielplatz, der schönsten Art. Wunderschöne Holzhäuser mit kleinen Cafés, hoch oben in den Bäumen. Seilbrücken führen von Baum zu Baum und von Holzhaus zu Holzhaus. Mitten in der Natur gelegen, war es ein herrlicher Platz zum Toben und Spielen. Ach wie hatten wir über Eva gelacht, die vor lauter Angst nicht über die Brücke laufen wollte. Mein Sohn trug seine Frau Huckepack über die Brücke. Kopfschüttelnd hatte ich ihm zugesehen und konnte nicht begreifen, dass meine Schwiegertochter solch eine Angst vor Höhen hatte. Nur zu gut kannte ich solche Brücken, aus meiner Kindheit. Schon mit sieben Jahren, mussten wir lernen, solche Seil-Brücken zu bauen. Wir mussten das können, um zu lernen, wie man Schluchten überwinden kann, in deren Nähe es keine Brücken gab.

Das Schlimme an diesem Erlebnispark war, dass wir ähnliche Parcours in unserer Schule überwinden mussten. Nur durften wir dort weder toben oder gar spielen. Wir mussten diese Parcours mehrmals am Tag, im Alter von Mia laufen und wurden dabei ständig angebrüllt, und ständig angetrieben, durch das Schlagen mit Rohrstöcken auf unseren Po oder die Oberschenkel, wenn wir nicht schnell genug waren.

Was für meine Enkel Spaß und Spiel darstellt, war für uns knallharter Drill gewesen. Alleine der Gedanke, dass man meine Enkel auf diese Weise drillt und abgerichtet wurden, kam mir an diesem Tag immer wieder hoch und es erleichtert mir nicht gerade, zu lächeln. Niemand musste mir sagen, dass das alles nicht vergleichbar war. Das wusste und weiß ich selber. Mir war auch klar, dass es keine Entschuldigung dafür gab, dass ich am Abend derart ausgerasten musste. Trotzdem erreichte jeder einmal ein Maß, an dem er nichts mehr ertragen konnte. Die Summe der Erinnerungen war es, die mir an diesem Tag so zu schaffen machte und dazu beitrug, dass ich einfach ab einem gewissen Zeitpunkt nichts mehr ertragen konnte. Es war wie eine Lawine aus Gefühlen, die immer größer wurde und unaufhaltsam den Berg hinunterrollte. 

Meine ersten Schultage, waren halt völlig anders verlaufen. Wenn ich ehrlich sein sollte, waren wir damals von einem Horror in den nächsten gefallen. Wir kamen das erste viertel Jahr, nicht eine Minute zur Ruhe und man zerbrach unsere Seelen in diesem Horror vollständig. Die Kinder die nach diesem ersten Jahr nach Deutschland zurückkehrten, waren nicht mehr dieselben. Alles was vor diesem Tag lag, ging für immer verloren und wurde überschattet von Erlebnissen, die sich so in unsere Seele eingebrannt hatten, dass selbst das Wort Gefühl verloren ging. Die Tränen versiegten irgendwann von allein, denn es waren keine mehr da. Selbst unser Lachen ging verloren. Wir wurden zu dem, was diese Militärs aus uns machen wollten, hohle Gefäße, die man vollkommen neu füllen musste.

Ich dachte damals, beim Aufstehen im Zimmer meiner Erzeugerin: Schlimmer als bei dieser Frau, konnte es nirgends werden.

Heute weiß ich, dass das mein größter Irrtum war. Es konnte noch um einiges schlimmer und schlechter kommen. Dagegen war meine Erzeugerin ein frommes Lämmchen, das nett und zärtlich zu mir war. Auch wenn es immer Betreuer und Lehrer in dieser Schule gegeben hatte, die anständig zu uns waren. War es trotzdem der blanke Horror den wir erleben mussten, auch wenn wir es damals nie so eingeschätzt hatten. Wir sogar dort auf dieser Schule lachen konnten. Denn Kinder machen sich das Leben immer schön.

So weiß ich heute, diese ersten Tage und Wochen, zerstörten unsere kindliche Seele, für immer. Nach dieser Zeit, waren wir erwachsen geworden, auch wenn wir lachten und so manchen Unfug getrieben haben, wir wurden Soldaten, die für den Kampf leben und sterben würden.

**

** Der Flug **

**

Erleichter atmeten die Betreuer und auch der Arzt auf, als sie im Helikopter nach Berlin saßen. Sie hatten es geschafft die Kinder unbeschadet abzuholen und konnten endlich auch etwas zur Ruhe kommen.

Als die Offiziere vor zwei Monaten den Befehl bekamen, die Kinder einzusammeln, ahnten sie nicht einmal im Entferntesten, auf welches Grauen sie sich da eingelassen hatten. Man sah den Männern an, was sie durchgemacht hatten. Sie saßen völlig fertig auf ihren Plätzen, mit tiefen Augenringen und zitternden Händen. Sie versuchten endlich ihre innere Ruhe wiederzufinden und den Alp hinter sich zu lassen. Tief atmeten einige der Offiziere durch, denn sie hatten begriffen, dass der Kampf um die Kinder, erst in einigen Stunden und in der Schule richtig begann. Von nun an musste man versuchen, für sich und die Kinder das Beste aus der gegebenen Situation herauszuholen. Man musste versuchen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die es gab, um den Kindern zu helfen, damit sie in der neuen Umgebung Fuß fassen konnten. Als Soldat hatte man oft keinen großen Handlungsspielraum. Befehle mussten befolgt werden, ob es einen gefiel oder nicht. Das wusste jeder der zum Militär ging. Oft gefiel es dem Soldaten nicht, was er tun musste, aber er tat es, aus einem an gedrillten Gehorsam heraus. Egal ob es einen nun gefiel oder nicht, man musste die Befehle auszuführen, solange sie nicht gegen jegliche Moral verstießen. Dieser Befehl, das war allen Beteiligten mehr als klar, lag verdammt nahe an der Grenze, zur Undurchführbarkeit oder besser gesagt der Unmenschlichkeit.

Allen im Helikopter anwesenden Erwachsenen wurde in den letzten Stunden bewusst, dass der größte Teil der Verantwortung, bei den Eltern der Kinder zu suchen war. Ob bewusst oder unbewusst versuchten die Offiziere die Schuld an diesem Dilemma von sich zu weißen. Irgendwie hatten sie damit auch Recht, denn sie bekamen nur die Befehle und gaben nicht ihr Einverständnis ab, die Kinder in Shera ausbilden zu lassen. Die Soldaten, die hier im Flieger saßen, waren nur diejenigen, die den Befehl, die Kinder einzusammeln, ausführen mussten. Nur die Eltern, hätten die Macht besessen, ihre Kinder vor dieser Tortur zu beschützen. Nur die Eltern, hätten das Abholen ihrer Kinder verhindern können, in dem sie nicht am Treffpunkt erschienen wären. Nur die Eltern, hätten dann mit den daraus resultierenden Konsequenzen, leben müssen. Nur die Eltern, hatten durch ihr Handeln, die Last der Verantwortung, auf die Schultern ihrer Kinder abgelegt. Ohne deren Zustimmung zu diesem Vertrag, müssten ihre Kinder jetzt nicht durch dieses Leid gehen. Die meisten der Männer verstanden die Handlungsweise der Eltern nicht. Keiner der Männer, hätte seinem Kind, diese Behandlung zugemutet.

Die meisten der in der Mi4 sitzenden Offiziere, wurden in ihrer Jugend durch die Militärakademie in Moskau geprägt und wussten nur zu genau, was auf die Kinder zu kam. Alle waren der Meinung, dass die Kinder noch viel zu jung für diese Art der Ausbildung waren. Da einige selber Kinder in diesem Alter hatten, bedrückte es die Soldaten umso mehr. Niemand hätte es über das Herz gebracht, sein Kind tausende von Kilometer von zu Hause entfernt, erziehen zu lassen. Aber, man kannte die Beweggründe der Eltern nicht und musste das Handeln der Eltern, daher akzeptieren.

Die Offiziere und Soldaten, hätten es nicht verhindern können, es gab keinen Spielraum im Befehl. Gegen diese Order zu verstoßen, konnte einen um Kopf und Kragen bringen. Dieses Risiko ging keiner von ihnen ein. Ihre Familien waren auf den Sold angewiesen. Vor allem ging niemand freiwillig in ein Militärgefängnis, nur um fremden Eltern eine Entscheidung abzunehmen. Also gehorchte man, wenn auch mit Widerwillen. Das Erlebte, darüber waren sie sich alle im Klaren, würde sie noch lange verfolgen. Müde und völlig fertig mit den Nerven, lehnten sich die Offiziere zurück und versuchten etwas zu schlafen. Alle im Mi4 anwesenden Offiziere waren Mitglieder des Lehrkorps der MAY, der neue gegründeten Militärakademie Yrksenky, die nahe der Ortschaft Shera lag. Obwohl die Offiziere durch ihren Beruf, hart im Nehmen waren, brachte sie dieses Erlebnis an den Rand des Ertragbaren. Das was sie in den letzten sechs Stunden durch machen mussten, war nicht nur eine psychisch Tortur für die Kinder, sondern auch für die Männer und Familienväter. Die verzweifelten Schreie der Kinder, die ihnen immer noch in ihren Ohren klangen, waren kaum auszuhalten. Ihnen graute vor dem Zeitpunkt an dem die Kinder wieder aufwachen würden. Es würde noch einmal richtiger Horror werden.

Die Kadettenschule der MAM, der Militärakademie Moskau, gab es schon seit über fünfzig Jahre. Allerdings wurde in diesem Jahr eine neue Zweigstelle, im Verwaltungsbezirk Yrksenky, nahe der Ortschaft in Shera Mir eröffnet. Diese Militärakademie würde für die nächsten vier Jahre, das neue Zuhause der heute abgeholten Kinder werden. Oberstleutnant Petrow war selbst ein Zögling der Moskauer Schule und wusste genauso, wie die meisten seiner Kollegen, was diese Ausbildung von den kleinen Kindern abverlangen würde. Die Schule in Shera lag reichlich fünfhundert Kilometer nordwestlich von Moskau, ihrer alten Schule. Am morgigen Tage würde die MAY, wie sie offiziell genannt wurde, ihre Pforten öffnen. Sie würde für die ersten vier Jahre, fünfundsiebzig Kindern, aus drei Nationen, Rumänen, Russen und Deutschen, ein Zuhause bieten. Erst dann würde man entscheiden, ob noch mehr Klassen in der MAY aufgenommen und ob diese Kinder im Anschluss nach Moskau wechseln würden. Die Entscheidung, wie es nach den ersten vier Jahren weitergehen würde, stand noch aus und hing von der Beurteilung des Lehrkörpers ab. Geplant war, dass man die Schule erweitern wollte, so dass die neuen Rekruten für elf Jahre in Shera verbleiben konnten. So dass man in den Rhythmus der MAM kam und mit dem dortigen Ausbildungszyklus gleichzog.

Petrow, der schon seit fünf Jahren auf der Moskauer Kadettenschule als Lehrer arbeitete, wusste von Anfang an, dass dieser Tag nicht einfach werden würde. Aber so schlimm, hatte selbst er sich das nicht vorgestellt. Jedes Jahr zu Schuljahresbeginn auf der MAM, war es das Gleiche: es gab Tränen ohne Ende. Seine bisherigen Schüler waren die ersten Tage, mache sogar über Wochen kaum ansprechbar. Allerdings waren ihre bisherigen Schüler, am ersten Schultag mindestens zehn Jahre alt und dadurch, um vieles verständiger und reifer, als die Kinder, die er heute abholen musste. Auch wussten seine bisherigen Schüler, durch Eignungstests, was auf sie genau zukam und traten der MAM mehr oder weniger freiwillig bei. Solche kleinen Würmchen, wie dieses Mal, hatte er noch nie. Sie taten ihm in der Seele leid und sein Herz blutete.

Für diese kleinen Kinder musste es die Hölle werden, noch schlimmer als für die anderen Rekruten. Als damals der Beschluss gefasst wurde, wollte er völlig anders an diese Geschichte herangehen. Aber wie immer, wussten man in der Führungsebene, alles besser. Er bekam einfach keinen Handlungsspielraum, sondern stets nur knallharte Befehle. Wenn es nach Petrow gegangen wäre, hätte diese ganze Prozedur völlig anders ablaufen müssen, um Schaden von den Kindern fernzuhalten. Gerade bei so winzigen Zwergen, wäre es wichtig gewesen, dass diese ihre zukünftigen Betreuer, schon vorher ein wenig kennenlernen konnten. Damit keine Ängste und vor allem kein Vertrauensbuch entstanden. Ein oder zwei Treffen von zwei bis drei Tagen, hätten vollkommen genügt, um die Kinder an die Betreuer zu gewöhnen. Vor allem hätten sich die Kinder untereinander kennen lernen können und das im Beisein ihrer Eltern. Auf dieses Weise, hätten sie Vertrauen zu ihren Lehrern fassen können, ohne durch dieses Hölle zu müssen. Selbst die Zöglinge in der MAM lernten während der Eignungstests, die jeweils eine Woche dauerten, ihre zukünftigen Lehrer kennen. Warum man das hier völlig anders anging, war Petrow bis jetzt nicht klar geworden. Mit dieser kleinen Aktion, hätte man so viel erreichen können und ein seelischer Schaden wäre von den Kindern abgewendet wurden. Vor allem hätte es viel Zeit gespart, da man sofort mit den Kindern hätte arbeiten können. So aber, wurden diese Würmchen, einfach ins tiefe Wasser geschmissen und mussten, ob sie wollten oder nicht, sofort schwimmen. Petrow hoffte nur von ganzem Herzen, dass keines dieser Kinder unterging. In seinen Augen, war das alles einfach unmenschlich und vor allem, aber unverantwortlich.

Müde rieb sich Anton Petrow das Gesicht, der heute vierunddreißigjährige Ukrainer, war ein gedrungener Mann, mit seinen nur einhundert zweiundsiebzig Zentimetern und neunzig Kilo, wirkte er eher dicklich als sportlich. Sein Körper bestand allerdings nur aus Muskelmasse, die er als Nahkämpfer auch einzusetzen wusste. Der zukünftige Nahkampftrainer von Charlotte, war flink wie ein Wiesel. Petrow war Leiter der Abteilung Nahkampf und würde die Nahkampfausbildung in der MAY koordinieren. Seine fünfzehn Mitarbeiter, waren die besten Trainer die er sich wünschen konnte. Petrow freute sich auf die Möglichkeit, hier Kinder zu trainieren, die noch so klein waren, dass sie ohne jegliche Vorkenntnisse zu ihm in die Ausbildung kamen. Dadurch hatte er die Möglichkeiten, diese Rekruten nach seinen Vorstellungen zu formen. Kampf hieß nicht nur seinen Gegner, durch das Töten, auszuschalten, sondern auch, mit Verstand seinen Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Auf diese Weise konnte man verhindern, dass unnötiger Weise, Menschen starben.

Petrow war seit fünfzehn Jahren verheiratet, wohnte mit seinen drei Kindern, im Alter von sechs, neun und elf Jahren und seiner drei Jahre jüngere Frau Dunja, in einem der vier Offiziersblöcke, vor der MAY. Sie waren vor einem Monat von Moskau nach Shera Mir gezogen. Erst waren seine Kinder nicht begeistert von dem Umzug, da sie ihre Freunde in Moskau zurücklassen mussten. Das änderte sich allerdings sehr schnell, als sie die wunderschöne Wohnung sahen, in dem jedes der Kinder ein eigenes Reich hatte und nicht wie in Moskau üblich, sich alle ein Zimmer teilen musste. Wohnraum in Moskau war sehr teuer und vor allem knapp. Selbst ein Büro hatte Petrow in seiner Wohnung und vor allem hatte man einen großen Garten vor dem Haus, in dem seine Kinder toben konnten. Es war kein Vergleich zu ihren Wohnverhältnissen in Moskau. Nur der Preis, den sie für diesen Luxus bezahlen mussten, gefielen weder Dunja noch Anton. Auch wenn sie hier im Projekt mietfrei wohnten. All dieser Komfort wurde mit dem Leid dieser kleinen Kinder bezahlt und Petrow war sich nicht sicher, ob er sich darüber freuen konnte. Seine Kinder besuchten ab dem morgigen Tag, ihre neue Schule in Shera. Ein Lächeln huschte in sein abgespannt wirkendes Gesicht, als er an seine Kinder dachte, die im letzten Monat richtig aufgeblüht waren. Das Landleben und die Möglichkeit hier frei und ohne Furcht herumzustromern, gefiel seinen Kindern sehr gut. Der, das Gelände der MAY, umgebende Wald und der nahegelegene See, war für die Großstadtkinder, der reinste Abenteuerspielplatz und luden zum Toben ein. Dadurch hatte die Phase des Einlebens, nicht einmal eine Woche gedauert und Freunde hatten seine Kinder schnell gefunden. Seine Frau tat sich da mit dem Eingewöhnen etwas schwerer.

Da Dunja in der Großstadt aufgewachsen war, konnte sie sich nur schwer damit abfinden, dass die nächste Einkaufsmöglichkeit in der Ortschaft Shera lag. Vor allem aber, dass es hier an der MAY überhaupt keine Möglichkeiten, für Entspannung gab: kein Kaffee, kein Kino, kein Theater und nicht einmal eine Einkaufsstraße. In die Ortschaft lief man gut fünfundvierzig Minuten und das war für Großstadtgöre etwas völlig Ungewohntes. Einen Garten hatte Dunja nie und konnte damit auch überhaupt nichts anfangen. Zum Glück hatte sich die Frau des Direktors der MAY sofort gut mit Dunja verstanden, dadurch lernte sie jetzt, wie man einen Garten bewirtschaftete. Vor allem bereitete ihr das großen Spaß. Selbst geerntetes Obst und Gemüse schmeckte halt wesentlich besser, als das gekaufte aus dem Supermarkt. Man konnte zuschauen wie es wuchs, eine völlig neue Erfahrung für seine Frau und seine Kinder. Sie fühlten sich rundherum wohl.

Dunja würde genau wie Anton, am morgigen Tag, ihre Tätigkeit in der MAY aufnehmen. Sie begann ihre Tätigkeit als festangestellte Krankenschwester, im medizinischen Bereich der Schule und als Sekretärin, des Schularztes. Ab diesen Zeitpunkt, darüber war sich das Ehepaar einig, hatte sie auch keine Zeit mehr sich zu langweilen und würde sich über jede Minute der Entspannung im Garten freuen. Zum Glück, würde sich der für die Schule zuständige Hausmeister und Gärtner, auch um ihren Garten kümmern, so dass sie nur die Früchte seiner Arbeit ernten brauchten. Den Pflanzen und Pflegen würde Pawel übernehmen, der genau über ihnen wohnte.

Für Petrow war es ein glücklicher Umstand, dass seine Frau hier ebenfalls eine Anstellung annehmen konnte, so blieb die Familie zusammen. Der Offizier riss sich zurück aus seinen Gedanken, er war froh, dass er seine Familie, in der Nähe hatte. Seine jüngste Tochter Sanja, war so alt, wie diese Kinder und kam auch dieses Jahr in die Schule. Es wäre ihm ein Grauen, wenn er sich vorstellen müsste, dass er sie für ein ganzes Jahr, von zu Hause wegschicken musste, um sie von fremden Menschen erziehen zu lassen. Petrow verstand die Eltern der Kleinen, noch weniger als seine Kollegen. Solche kleinen Kinder, gehörten zu ihren Familien, aber nicht auf seine Schule. Er war aus Überzeugung Soldat geworden, trotzdem fiel es ihm schwer, in diesem speziellen Fall zu gehorchen. Wie lange hatte er mit seiner Frau über dieses Projekt diskutiert und sie darum gebeten, hier eine Stelle anzunehmen. Er brauchte einfach den Ruhepol seiner Familie, um diese Aufgabe meistern zu können. Trotzdem verlangten seine Vorgesetzten, diesmal fast zu viel von ihm. Petrow stand kurz davor, sich diesem Befehl zu wiedersetzen. Auch wenn das für ihn bedeutet hätte, für Jahre ins Militärgefängnis nach Sibirien verbannt zu werden. Nur Dunjas Flehen, war es zu verdanken, dass er diesen Befehl ohne Murren ausgeführt hatte. Sie wollte ihren Mann nicht verlieren und den Kindern ihren Vater erhalten. Trotzdem hatte Petrow Angst, vor dem was noch auf ihn zukam und vor allem davor, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Viele solcher unmenschlichen Befehle, darüber war sich Petrow im Klaren, würde er nicht ausführen können. Das widersprach einfach seinem Berufsethos und seiner gesamten Lebenseinstellung.

Der sonst als ausgeglichen und besonnen geltende Petrow, hatte sich in den letzten Monaten, nicht nur einmal mit seinen Vorgesetzten angelegt und wäre fast degradiert wurden. Nur diesem deutschen Arzt, Doktor Konrad, hatte er es zu verdanken, dass ihm nichts geschehen war, da Konrad sich immer schützend vor Petrow gestellt hatte. Der Arzt gab Petrow in allem, was dieser an Bedenken vorbrachte, Recht. Auch wenn seine Kollegen der Meinung waren, dass sie das Schlimmste schon geschafft hatten, sah Petrow das alles etwas anders.

Der schwierigste Abschnitt der Abholung, stand den Kindern und auch den Lehrern noch bevor. Das Erwachen der Kinder würde nicht so problemlos vor sich gehen, wie sich das die feinen Befehlshaber auf der Führungsebene vorgestellt hatten. Davor hatte der Offizier noch mehr Angst, als vor dem Abholen selber. Dunja hatte ihren Mann immer wieder vor diesem Moment gewarnt, indem sie ihm die schrecklichsten Szenarien aufmalte. Sie versetzte Petrow damit regelrecht in Panik und Konrad, gab ihr in allem Recht. Er hoffte inständig, dass seine Frau und der Arzt, sich nur dieses eine Mal irren würde. Da die gelernte Kinderkrankenschwester sehr viele Erfahrungen mit Heimkindern sammeln konnte und psychologisch gut geschult war, vermutete Petrow, dass Dunja auch bei dieser Einschätzung richtig lag. Selbst die Szenarien bei der Abholung, hatten Dunja und Konrad, genau vorausgesagt und ihn davor immer wieder gewarnt. Gut dass er auf sie gehört hatte und jedem Bus einen Arzt zugeteilt hatte. Vor allem hatte er seine Untergebenen darauf hingewiesen, die Kinder bei der Übergabe nicht aus den Augen zu lassen. Sonst wären drei der Kinder schon beim Abholen von Autos überfahren wurden, da sie einfach blind vor Angst, ihren Eltern hinterher rannten. Petrow machte sich auf das Schlimmste gefasst und hoffte für die Kinder, dass er sich täuschen würde.

**

Zehn Minuten vor der Ankunft in Berlin, weckte Petrow seine Kollegen, die eingeschlafen waren. Auf dem Flugplatz Berlin Schönefeld, mussten die Kinder nochmals von den Betreuern umgelagert und auf Tragen, vom den Helikopter, in die extra für diesen Zweck umgebauten Tu-114 transportiert werden. Die für die Flugbegleitung zuständigen Ärzte kontrollierten die Infusionen, um die Kleinen weiterhin ruhigzustellen und vor allem, mit der nötigen Flüssigkeit zu versorgen. Auf diese Weise versuchte man, den Flug für die Kinder, einigermaßen human zu gestalten. Erst morgen nach der Ankunft in Shera Mir, würden die Kleinen aus einem tiefen Schlaf erwachen. Durch dieses Ruhigstellen, ersparte man den Kindern unnötigen Stress.

Traurig ging Anton Petrow den Gang in der Tu-114 entlang und sah nach seinen Schützlingen. Alle waren im Moment ruhig und schliefen tief und fest, wie ihm der zuständige Arzt mitteilte. Petrow bekam auch die Information, dass alle Kinder in einem guten gesundheitlichen Zustand wären. Also gab der leitende Transportoffizier, das Zeichen, dann man losfliegen konnte.

Petrow konnte sich nun auch etwas entspannen. Obwohl auf ihn noch jede Menge Arbeit zukam. Als nächstes flog man Bukarest an, um die dortigen fünfundzwanzig rumänischen Kinder aufzunehmen. Durch die Reihe weg, hatten die Rumänen, Heimkinder in dieses Projekt geschickt. Die Begründung war für Petrow gut nachvollziehbar. Diese Kinder hatten in Rumänien, keinerlei Zukunft. Die Kinderheime waren völlig überfüllt und die Zustände in diesen Heimen waren oft grauenvoll. Durch das Projekt, hätten die Kinder eine wesentlich bessere Kindheit, als in ihrer Heimat. Dunja die über Jahre in einigen rumänischen Kinderheimen gearbeitet hatte, bestätigte diese Aussagen, des rumänischen Oberst, mit dem er sich oft unterhielt. Auch hier in Russland, hatte man diesen Weg gewählt. Zwar waren die russischen Kinderheime um viel besser ausgestattet und die Betreuung der Kinder, war auch viel besser, als in Rumänen. Trotzdem war auch in Russland der Start ins Leben, für Heimkinder um vieles schwerer, als für andere Kinder. Durch das Projekt stand diesen Kindern eine glänzende Karriere offen und vor allem eine akzeptable Zukunft bevor. Beim Militär konnten diese Kinder alles erreichen, was sie wollten. Abgänger der MAM, waren in Russland gern gesehen, denn niemand sonst bekam eine solch umfassende Ausbildung, in allen Bereichen. Nur die Deutschen, nutzten diese Möglichkeit nicht, ihren Heimkindern die Möglichkeit einer militärischen Laufbahn zu öffnen. Petrow hatte sich mit Doktor Konrad darüber unterhalten, weil er nicht verstand, weshalb man ein Kind aus seiner Familie riss. Scheinbar ließ die Gesetzgebung in Deutschland dies nicht zu. Petrow schüttelte über sich selbst den Kopf, da er in seinen Gedanken schon wieder bei den deutschen Kindern gelandet war, um die er sich die meisten Sorgen machte.

Dabei wollte er Schritt für Schritt den Ablauf für sich noch einmal durchgehen, damit er keine Fehler machte. Nach dem Zwischenstopp im Bukarest, nahm er den Faden wieder auf, würde der Flieger mit seinen Passagieren, zurück nach Moskau fliegen. Auf dem Moskauer Airport, würden drei Helikopter auf sie warten und sie nach dem Umladen ihrer Passagiere weiter, in das fast fünfhundertfünfzig Kilometer entfernte, Shera Mir fliegen.

Durch den sehr langen Flug, war es zwingend erforderlich, unnötigen Stress für die Kinder zu vermeiden. Lange hatte man hin und her überlegt, wie man dieses Problem angehen könnte. Schlussendlich hatten sich Petrow und Doktor Konrad durchgesetzt. Man einigte sich mit den anderen Ärzten, auf diese Variante der Ruhigstellung. Kinder für fast dreißig Stunden ruhig zu halten, die völlig aufgelöst und verstört waren, konnte selbst bei der besten psychologischen Betreuung nicht gut gehen. Vor allem dann nicht, wenn sie auf engsten Raum zusammengepfercht waren. Das war einfach nicht zu verantworten. Seine Frau machte ihn immer wieder drauf aufmerksam, dass diese Prozedur für kleine Kinder, einen unglaublicher psychologischer Stress darstellte. Daraufhin sprach Petrow das Thema bei einer Planungsbesprechung an und bat die Ärzte, um eine humane Lösung für dieses Problem. Auch, wenn das Spritzen der Kinder nicht ganz unproblematisch war, stellte es eine gute Alternative, zu den sonstigen Optionen dar, die ihnen zur Verfügung standen. Petrow dankte Doktor Konrad für diese rettende Idee, die nur geringe gesundheitliche Risiken barg. Außerdem hatte es den Vorteil, dass auch die Betreuer ein wenige zum Schlafen kamen, die jetzt schon fast zwei Tage unterwegs waren. Die nächsten Tage würden bestimmt stressig werden und da brauchte man keine völlig überreizten Mitarbeiter, die bei dem kleinsten Problem an die Decke gingen. Darüber waren sich alle Beteiligten einig.

Deshalb nutze auch Petrow die ihm gegebene Zeit, um etwas zu ruhen. Schlafen konnte er nicht, da ihm einfach zu viele Probleme und Fragen durch den Kopf gingen, auf die er keine Antwort wusste. Er gab Doktor Konrad, den begleitenden deutschen Kinderarzt, den Auftrag, ihn bei Unregelmäßigkeiten oder Problemen, sofort zu wecken. Etwas beruhigter, ging der leitende Transportoffizier, weiter nach vorn in die erste Klasse, um sich auch etwas lang zumachen.

**

Petrows Angst vor den nächsten Tagen, war nicht unbegründet, wie ihn die drei Ärzte bestätigten. Doktor Konrad machte ihn wiederholt darauf aufmerksam, dass einige Kinder, mit schwerwiegenden psychische Probleme dabei waren und diese Kinder die Umstellung nicht so einfach verkrafteten würden. Denn trotz der hohen Dosierung des Beruhigungsmittels, schliefen acht der deutschen Kinder sehr unruhig. Diese Kinder mussten ständig kontrolliert und nachgespritzt werden. Einige schlugen trotz der hohen Dosierung, um sich und fingen sobald man sie berührte, immer wieder an zu schreien.

Da dieses Problem, schon bei den unzähligen Besprechungen, von Seiten der Kinderärzte vorgebracht wurde, orderte Anton Petrow zusätzliche Hilfs- und Pflegekräfte an. Damit die Betreuer und Lehrer, in den ersten vier Wochen, zusätzliche Hilfe bekamen. Er hoffte nur, dass man von Seiten der Schulleitung, seinem Wunsch nach gekommen war. Bis zum jetzigen Augenblick, hatte er noch keinerlei positive Rückmeldung bekommen. Etwas, dass Petrow sehr verärgerte, es zeigte ihm wieder einmal, dass seine Einwände und Bedenken, nicht ernst genommen wurden.

Nach der Zwischenlandung in Bukarest, wo man die fünfundzwanzig rumänischen Kinder aufnahm, ging der Flug ohne Zwischenlandung weiter nach Moskau. Auch bei den Rumänen gab es fünf Kinder sie nicht wie die anderen ruhig schliefen. Also musste man auch dort mit erheblichen Problemen nach dem Aufwachen rechnen.

Durch die Soldaten der in Moskau stationierten Sanitätskompanie, wurden die Kinder zügig in die Helikopter umgeladen und weiter in Richtung Shera Mir geflogen. Nach über achtundzwanzig Stunden, landeten die Helikopter, endlich vor der Schule. Man verteilte die Kinder sofort in die entsprechenden Schlafsäle, immer fünfundzwanzig Kinder, einer Nation in einen Raum.

Die dort schon bereit stehenden Ärzte und Sanitäter, überwachten den Aufwachprozess der Kinder. Im Anschluss sollte es mit den Untersuchungen und dem Einkleiden losgehen. Endlich hatte man den schlimmsten Teil, den Transport der Kinder, geschafft. Jetzt konnte man in Ruhe mit den Kindern arbeiten. Die Offiziere der Transportmaschinen übergaben die Verantwortung, an das Pflege- und Ärzteteam und legten sich geschafft in die Betten.

**

Es war kurz nach 5 Uhr am Morgen, des 31. August 1964, als auch Anton Petrow nach Hause zu seiner Familie ging. Sein erster Weg, führte ihm in die Zimmer seiner Sprösslinge. Völlig fertig, sah er auf die schlafenden Gesichter seiner Kinder, über die im Schlaf ein Lächeln huschte. Er musste heute einfach noch etwas Schönes sehen. Die Kinder die er hierher gebracht hatte, waren selbst im Schlaf alle unruhig und keines der Kinder lächelte im Schlaf. Müde rieb er sich das Gesicht und schmiss sich so wie er war, aufs Bett, zu müde um sich noch auszuziehen und war sofort eingeschlafen.

**

** Ankunft in der Schule **

**

In der Stube „Hемецкий“, Nemetskiy, wie der Schlafraum der deutschen Kadettenschüler der MAY genannt wurde, wechselten sich drei Teams im Vier-Stunden-Rhythmus in der Betreuung der Kinder ab. Das war notwendig, um bei den schlafenden Kindern Wache zu halten. Immer drei Ärzte und fünf Betreuer waren anwesend, um die Vitalfunktionen der Kinder, beim Aufwachen zu überwachen. Langsam wurden die ersten Kinder unruhig. Besorgt, aber auch erleichtert, sahen sich die Betreuer an.

Plötzlich fing Olaf Lorenz an, wie am Spieß zu schreien. Noch halb schlafend begann der Junge, um sich zu schlagen. Vergeblich versuchten die Betreuer den Jungen zu beruhigen. Leise sprachen sie auf den Buben ein. Statt dass die Betreuer ihn beruhigen konnten, wurde der Bub immer panischer und starrte die Betreuer mit schreckensweiten Augen an. Schließlich entschloss man sich, nach Doktor Konrad zu schicken, der bei den russischen Kindern eingeteilt war. Konrad war der einzige anwesende Arzt, der akzentfrei Deutsch sprach. Außer diesem Arzt sprachen, alle im Raum anwesenden Betreuer nur sehr wenig und auch nur gebrochen Deutsch. Zwar mussten sie sich deutsch verständigen können, jedoch war man bis zu diesem Zeitpunkt in der Annahme gewesen, dass die Kinder die hier auf die Schule gehen sollten, der russischen Sprache mächtig waren. Keiner hatte die Betreuer darauf vorbereitet, dass die Kinder die russische Sprache überhaupt nicht verstanden. Man sah ein riesiges Problem auf sich zukommen. Wie sollte man mit den Kindern arbeiten, wenn man sich nicht verständigen konnte? Man würde als erstes, den Kindern die russische Sprach beibringen müssen. Dies würde viel Zeit und Mühe kosten.

Doktor Konrad redete leise auf Olaf ein und gab ihm noch eine Spritze, um so dafür zu sorgen, dass der Bub erst einmal wieder zur Ruhe kam. Dass, was Konrad Oberst Senko, dem Leiter der Schule, immer wieder voraus gesagt hatte, wurde leider wahr. Die Kinder waren völlig durcheinander und mit der Situation völlig überfordert. Er gab dem Buben eine leichte Beruhigungsspritze, so dass sich seine Panik legen konnte. Kaum, dass Olaf sich einigermaßen beruhigt hatte, fing am anderen Ende des Schlafsaales, Johannes Sielber an zu schreien. Doktor Konrad übergab den jetzt ruhig gespritzten Jungen an einen Betreuer weiter und eilte zu Johannes. So dass er auch diesen Junger erst einmal zur Ruhe bringen konnte. Fast zur gleichen Zeit fing Birgitt Mühle, das Mädchen, das wie Charlotte aus Gera kam, an zu schreien und kläglich nach ihrer Mama zu rufen. Sofort nach dem er Johannes an einen Betreuer übergeben hatte, der den Buben einfach auf den Arm nahm und hin und her schaukelte, um diesen gänzlich zu beruhigen, eilte der Arzt zu Birgitt. Entsetzt stellte er fest, dass Birgitt hohes Fieber hatte. Aufs Genauste untersuchte er die Kleine, es war wie er vermutete, sie hatte Fieber durch die nervliche Überlastung. Er spritzte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel und etwas gegen das Fieber und legte das nun wieder schlafende Mädchen zurück ins Bett. Bat allerdings die Betreuer, regelmäßig nach Birgitt zu sehen.

Nach und nach, wurden alle Kinder munter. Über die Hälfte der deutschen Kinder, hatten hohes bis sehr hohes Fieber und waren kaum ansprechbar. Immer wieder sah Doktor Konrad nach Charlotte Dyba, um die er sich noch mehr Sorgen machte, als um die anderen Kinder. Das Mädchen war das jüngste und leichteste, der deutschen Kinder und hatte das meiste Narkotikum bekommen müssen. Da sie trotz der starken Medikamente ständig im Schlaf schrie und um sich schlug. Es war schon fast 15 Uhr als alle Kinder, außer Charlotte Dyba, munter geworden waren. Selbst die kleine Birgitt war munter und wieder ansprechbar. Langsam aber sicher hörte das Weinen der Kinder auf, nur ab und zu hörte man noch ein leichtes Schluchzen. Die Kinder begriffen, dass sie hier von Menschen umgeben waren, die für sie da waren und sie versorgten.

Ein Teil der Betreuer kümmerte sich um die Kinder, die immer noch in ihren Betten lagen und der andere Teil, versorgte die Kleinen mit Essen und Trinken. Die Kinder mussten unbedingt etwas zu sich nehmen, denn sie hatten seit ihrer Abholung, nichts mehr gegessen und getrunken. Das war jetzt fast sechsunddreißig Stunden her. Also versuchte man mit viel Liebe und guten Zureden, die Kinder dazu zu überreden, wenigstens etwas zu sich zu nehmen. Auch gab man sich keine Mühe mehr Deutsch zu sprechen, sondern sprach russisch mit ihnen, verband die Worte mit Gesten. Denn sie sollten sich an diese Sprache gewöhnen. Es war uninteressant, ob die Kinder die Worte verstanden. Es ging hier nur noch, um den beruhigenden Ton. Der half mehr als die Worte.

Nach über fünf Stunden fanden die ersten Kinder Ruhe, für einen erholsamen Schlaf. Erleichtert sahen sich die Betreuer an und atmeten tief durch. In einer kurzen Besprechung, beschlossen die Betreuer, den Kindern eine Woche zum Einleben zu geben. So konnte man nicht mit den Kindern arbeiten. Diese waren völlig verängstigt und liefen derart neben der Spur, dass an ein Arbeiten gar nicht zu denken war. Man wollte die Zeit nutzen, um wieder etwas Vertrauen aufzubauen. Deshalb wollte man mit den Kindern spielen, spazieren gehen, schwimmen und sich sehr intensiv mit ihnen beschäftigen. Man würde das machen, was Oberstleutnant Petrow von Anfang an vorgeschlagen hatte. Auch musste man versuchen, das völlig zerrüttete Vertrauen der Kinder wieder aufzubauen.

**

Doktor Konrad saß nun schon über eine Stunde, auf dem Bett der kleinen Charlotte. Diese wollte einfach nicht wieder munter werden. Langsam machte der Arzt sich ernsthafte Sorgen, um das Mädchen. Hatte er bei ihr die Dosierung der Narkotika zu hoch gewählt, oder wieso wurde das kleine Mädchen nicht munter? Es ging schon auf 22 Uhr zu und Konrad wurde immer nervöser. Er überlegte ernsthaft, ob er Charlotte ins hiesige Krankenhaus, auf die Intensivstation verlegen sollte. Plötzlich hörte oder besser erahnte der Arzt ein kaum hörbares Schluchzen, von dem Mädchen. Dass er nur durch Zufall mitbekam. Er sah eigentlich nur ihre Schultern ganz leicht zucken, so leise weinte sie in sich hinein.

„Charlotte, hörst du mich“, fragte er leise, um die Kleine nicht zu erschrecken. Plötzlich musste Konrad lachen, denn die Kleine schüttelte den Kopf. „Ach Mäuschen, du bist mir ja eine“, konnte er sich nicht verkneifen, laut fest zu stellen.

Konrad wollte sich das zierliche Mädchen auf den Schoss ziehen, um mit ihr besser reden zu können. In dem Moment, als er sie berühren wollte, sprang die Kleine, immer noch halb schlafend, aus dem Bett und kroch unters Bett. In einer Geschwindigkeit, die Konrad völlig überraschte. Charlotte kroch in die äußerste Ecke und versteckte sich so, vor seinem Zugriff. Verwundert sahen sich Konrad und, der gerade neben Charlottes Bett erschienene, Petrow an.

„Was sollen das denn werden?“, erkundigte sich der Oberstleutnant völlig perplex bei dem Arzt. Petrow verstand nicht, was das sollte. „Mein Gott ist die Kleinen schnell.“

Doktor Konrad sah den Betreuer offen an und versuchte ihm zu erklären, was diese Reaktion ausgelöst haben könnte. „Genosse Petrow, wie es scheint wurde die Kleine schon öfter in ihrem Leben, von Erwachsenen enttäuscht. Das ist ein typisches Verhalten von Kindern, die sehr ängstlich und scheu sind oder schon oft misshandelt wurden. Lassen wir ihr Zeit. Bitte lassen sie mich mit der Kleinen alleine. Vielleicht bekomme ich sie unter dem Bett hervor, ohne dass wir sie mit Gewalt hervor zerren müssen. Hier hilft nur Geduld.“

Konrad freute sich, dass Petrow sofort seinem Vorschlag folgte und ihn mit dem Mädchen alleine ließ. Traurig sah der Arzt auf das kleine Bündel Mensch. Dass sich so klein wie möglich machte und lautlos vor sich hin schluchzend und am ganzem Körper zitternd, in der Ecke an der Wand saß.

„Charlotte, bitte komm mal zu mir. Ich tue dir nichts. Ich möchte nur mit dir reden und dich kurz untersuchen. Hör mir bitte einmal zu, meine Kleine. Ich bin ein Doktor. Keine Angst, ich werde dir keine Spritze mehr geben. Ich will dich nur einmal abhören.“

Konrad erreichte mit seinen Worten nur eins, dass sich Charlotte noch mehr in die Ecke drückte und völlig verängstigt wirkte. Deshalb erhob sich Konrad, um ihr so die Möglichkeit zu geben, wieder unterm Bett hervor zu kommen. Außerdem kam in diesem Moment der Schul- und Projektleiter in den Raum, mit dem er dringend einiges bereden musste.

Trotzdem wandte er sich nochmals dem zitternden Mädchen zu. „Kleines, ich komme gleich wieder zu dir, ich muss nur kurz etwas besprechen. Komm setzt dich wenigstens aufs Bett. Ich fasse dich nicht mehr an, versprochen“, versprach er Charlotte und sah lächelnd zu der in der Ecke hockenden Kleinen. Dann ließ er sie alleine.

Charlotte schielte zu dem fremden Mann, der so lieb zu ihr sprach, sollte sie ihm vertrauen? Sie wusste es nicht. Sie wollte nur nach Hause, zu Opa und ihren Herr Bär.

 **

„Genosse Senko, haben sie einen Moment Zeit für mich“, bat Doktor Konrad, im fließenden Russisch, um ein Gespräch mit dem Direktor der MAY und dem Leiter des Projektes „Kader für den Staat.“

Senko nickte und sah den Arzt mürrisch an. Dem Direktor der MAY ging das hier alles nicht schnell genug. Er verstand einfach nicht, warum man diese Kinder so verzärtelte. Die sollten später einmal gute Soldaten werden und nicht heulende und verweichliche Wesen. Die bei dem kleinsten falschem Ton, anfingen zu knatschen.

„Was soll das, Doktor? Wieso sind die noch alle im Bett? Die sollten doch alles schon zur Schur und zum Einkleiden sein. Geht das hier nicht bald mal etwas zügiger voran?“, fuhr er deshalb den Schularzt an, in einem nicht sehr freundlichen Ton.

Senko mochte dieser Arzt einfach nicht. Vom ersten Tag, seit dem dieser deutsche Arzt in der Schule seinen Dienst antrat, erklärte Konrad ihm, dass man bei allem, was man täte, immer das seelische Wohl der Kinder im Auge behalten sollte. Sonst würden die Kinder, da sie noch sehr klein waren, an dieser Unternehmung kaputt gehen. So ein Quatsch. Er war auch auf so einer Schule groß geworden und war seelisch, alles andere, aber nicht zerbrochen.

Tief holte Senko Luft, um den Doktor aus Deutschland, wieder einmal einen Vortrag über die Erziehung von Kadetten zu halten. Da dieser, scheinbar immer noch nicht verstand, was das bedeutete und warum das so und nicht anders gemacht werden musste. „Genosse Konrad, ich bin genauso…“

Konrad unterbrach ihn einfach. „Genosse Senko, ich weiß, sie sind auch auf die MAM gegangen. Das reiben sie mir jedes Mal unter die Nase, wenn wir uns sehen. Aber ich erkläre ihnen das alles gern noch einmal. Sie waren fast doppelt so alt wie diese Kinder hier. Vier bis sechs Jahre, sind in diesem Alter, ein riesiger Entwicklungsunterschied. Sie waren damals elf Jahre alt, diese kleinen Kinder sind erst zwischen sechs und sieben Jahre alt, die kleine Charlotte ist gerade einmal Fünf. Sie müssen langsam verstehen lernen, dass man diese kleinen Kerlchen anders anfassen muss. Was nutzt hier die Hetz? Wenn wir jetzt ein wenig Zeit einbüßen, holen wir die hinterher umso schneller auf, weil wir besser mit den Kindern arbeiten können“, ernst sah er Oberst Senko an.

„So ein Quatsch, Genosse Konrad. Je eher diese Kinder lernen, dass sie gehorchen müssen, umso besser für sie. Es nutz doch niemanden hier Samthandschuhe anzuziehen, beim Militär geht es nun mal rau zu. Das ist hier nun mal keine Puppenstube. Hier hilft nur Disziplin und Ordnung und je eher diese Kinder das Lernen, um so besser für sie.“

„Genosse Senko. Es nutzt ihnen nichts, wenn ihnen diese Kinder in einer Woche gehorchen. Aber sie keinerlei Vertrauen in sie und ihre Lehrer haben, weil alles Vertrauen zerstört wurde …“

„Gen…“

„Sie unterbrechen mich gefälligst nicht. Hören sie mir jetzt mal zu und zwar genau. Sie sind Soldat und zwar kein schlechter, wie ich gehört habe. Aber sie sind kein Arzt und sie können nicht den vollen medizinischen Umfang, ihres Handelns abschätzen, weil sie die Hintergründe der kindlichen Psychologie nicht verstehen. Man hat mich hier nicht zum Spaß hingesetzt oder weil man der Annahme war, dass sie ständig Verletzte hätten, sondern weil ich Kinderpsychologie studiert habe und einer der Besten in meiner Branche und vor allem, für diesen Job bin. Ich unterstelle ihnen doch auch nicht, dass sie keine Ahnung von ihrem Job zu haben und würde mich da nicht einmischen, weil ich einfach von Strategien nichts verstehe.“

„Gen…“ wieder wurde Senko wütend vom Schularzt unterbrochen.

„Genosse Senko jetzt bin ich einmal dran und sie hören mir gefälligst aufs Genauste zu. Verdammt noch mal. Wenn wir auf ihre Art vorgehen, haben sie dann zwar Soldaten, die aufs Wort hören, aber diese Soldaten werden jahrelang ins Bett machen, werden Verhaltensgestört sein, wahrscheinlich sogar gespaltene Persönlichkeiten entwickeln und werden, wenn sie in der Pubertät kommen, nur noch schwer zu bändigen sein. Weil diese Kinder dann auf einmal verstehen, dass das, was sie von ihnen verlangen, nicht Rechtens ist. Von anderen psychischen Störungen abgesehen, die auftreten werden. Wie zum Beispiel Selbstmord, Selbstverstümmlung oder gar Selbstzerstörung? Ist das ihr Ausbildungsziel? Werden ihre Vorgesetzten es gutheißen, wenn sie ihnen zwar Soldaten anbieten, aber welche, die bei der kleinsten Belastung zusammenbrechen. Dass, was sie mir erklärt haben, dieses Ziel, einen Soldaten auszubilden der in jedem erdenklichen Einsatz, die maximale Leistung bringt, sich für sein Vaterland in Stücke reißen lässt. Ihr Ziel, würden sie, wenn sie jetzt mit Gewalt vorgehen, niemals erreichen. Dass sage ich ihnen schon, seitdem wir hier, das erste Mal aufeinander trafen. Hören sie endlich auf zu drängeln. Was wir jetzt an Zeit einbüßen, haben sie bis Weihnachten wieder aufgeholt. Wenn sie gleich auf mich und auf Petrow gehört hätten, dann hätten wir diese Probleme gar nicht. Dann wären die Kinder hier nämlich nicht so verstört. Wenn sie jetzt etwas langsamer vorgehen, können sie dann auf das Fundament Vertrauen aufbauen und mit den Kindern schneller arbeiten. Denn dann werden die kleinen Kerlchen ihnen zuhören und auf sie hören. Machen sie das nicht, müssen sie alles in diese Kinder hinein prügeln, bis sie deren Seelen vollständig zerstört haben. Das werden sie allerdings nicht mit mir zusammen machen können, denn dann bin ich schneller weg, als sie MAY sagen können.“

Konrad steigerte sich immer mehr in seine Wut. Er verstand das Verhalten dieses Mannes einfach nicht. Dazu musste man nicht studiert haben, das sagt einen der normale Menschenverstand. Auch, wenn er vom Militär war, müsste er wissen, dass bestimmte Sachen einfach Zeit brauchten.

Tief holte der Arzt Luft, um leise weiterzusprechen. „Gen…“

„Gen…“, ein drittes Mal unterbrach Senk Konrad.

Diesmal schwer atmend, denn es fiel ihm immer schwerer ruhig zu bleiben, fuhr er Senko böse an, zu oft stieß er mit Senko in den letzten Wochen, wegen dieses Themas zusammen. „Ruhe, jetzt spreche ich erst einmal. Verdammt nochmal Genosse Senko, bestimmte Ausbildungen, wie zum Beispiel das Fallschirmspringen, lernten sie auch nicht in einer Stunde“, dabei sah er Senko böse an.

Dieser nickte.

„Was würde passieren, wenn sie nach einer Stunde, jemanden aus dem Flugzeug schmeißen und sage zieh den Schirm.“

„Er würde zu neunzig Prozent tot auf der Erde aufkommen. Weil er gar nicht wüsste, wie er den Fallschirm öffnen kann.“

„Sehen sie, genauso ist es mit diesen Kindern. Sie verlangen von den Kindern genau das, was sie von einem Fallschirmspringer nie verlangen würden, da sie ihn damit umbringen würden. Diese Kinder, waren bis gestern bei ihren Eltern, wurden behütet und umsorgt. Sie kennen niemanden hier und wissen wahrscheinlich gar nicht, was hier eigentlich los ist. Sie verstehen ihre Welt nicht mehr. Sie begreifen nicht, wieso sie auf einmal hier sein müssen. Sie verstehen nicht einmal Russisch, wie ich heute mitbekam. Egal wie gut sie ihre Eltern vorgearbeitet haben, die Kinder konnten das gar nicht verstehen. Weil man nur etwas verstehen kann, was man auch kennt. Können sie sich noch an die ersten Tage auf der MAM erinnern? Als sie dort als Kadett angefangen haben?“, wieder musterte Konrad seinen Vorgesetzten und dieser reagierte wie erwartet.

„Nein so richtig nicht. Aber es war nicht so toll“, ein Schatten huschte über Senkos Gesicht, als er sich an diese Zeit erinnerte.

Konrad hatte irgendwie Recht, die ersten Tage, nein sogar Wochen in der Akademie, war für ihn die Hölle. Er hatte sich so nachhause gesehnt und das, obwohl sein Vater und seine Mutter soffen und er am liebsten nie wieder dorthin wollte. Erst nach einem halben Jahr, war er wirklich dort angekommen. Dann erst sah er die Akademie als sein Zuhause an, als das Beste was ihm je passiert war. Er hatte seine Ausbilder vergöttert. Er musterte den Schularzt. Hatte dieser vielleicht doch mit allem Recht?

Konrad beobachtete Senko genau und stellte an der Reaktion des Direktors fest, dass er den richtigen Punkt erwischt hatte. Er nickte. „Sehen sie, Genosse Senko, genau das meine ich. Sie waren damals allerdings mindestens vier Jahre älter, als diese kleinen Kinder hier und hatten bei weitem mehr Verstand. Dass sind doch noch halbe Babys. Sie kannten die Sprache, ihrer Lehrer und sie wussten, was auf sie zukam. Etwas Menschlichkeit, sollten wir uns, bei diesem unmenschlichen Projekt, immerhin behalten. Diese Kinder sind zwar jetzt Eigentum der Sowjetarmee, aber es sind Lebewesen aus Fleisch und Blut. Nicht zu guter Letzt, werden normalerweise die Kadetten, erst mit elf bis zwölf Jahren auf solchen Institutionen aufgenommen. Verdammt nochmal, schalten sie endlich ihr Gehirn dazu. Was sind zwei Wochen Zeit. Sie haben immer noch achtundvierzig Wochen, um das Ausbildungsziel des ersten Schuljahres zu erreichen. Und selbst wenn wir das Ausbildungszielt dieses Jahr nicht schaffen, können wir das in den nächsten Jahren kompensieren, weil wir vernünftig arbeiten können.“

Wütend sah Konrad seinen Vorgesetzten an, der ihn immer wieder unterbrechen wollte. Konrad ließ ihn aber nicht zu Wort kommen, sondern schüttelte immer wieder energisch den Kopf. Sehr laut wurde er mit den letzten Worten. Ihn regte die Sturheit des Direktors auf. Senko starrte den Schularzt entsetzt an, der zwar rangmäßig mit ihm auf einer Stufe stand, aber der ihm trotzdem, da er die Schul- und Projektleitung inne hatte, unterstellt war. Keiner seiner Mitarbeiter hatte das Recht, auf diese Weise mit ihm zu reden.

Senko drehte sich um und ließ den Schularzt einfach stehen. Er musste über das, was Konrad gesagt oder besser gesagt, zum Schluss herausgeschrien hatte, erst einmal in Ruhe nachdenken. Der Direktor trat ans Fenster des Schlafraumes und sah hinaus. Blickte von hier aus, über die mit Stacheldraht gesäumte Mauer und auf die dahinterliegende weite grüne Ebene. Auf der oft Wildpferde weideten und Rinder herumliefen. Er liebte diesen Flecken Erde, genauso wie seinen Beruf. Tief holte er Luft, vielleicht hatte der Doktor ja Recht und er ging die Sache wirklich von der falschen Seite an. Senko nahm sein Cappy ab und fuhr sich durch die Haare, klemmte gewohnheitsgemäß sein Cappy unter die Schulterklappe. Tief holte er Luft. Konrad beobachtete seinen Vorgesetzten genau und atmete erleichtert auf. Er hatte erreicht, was er wollte, das sah er an Senkos ganzer Körperhaltung. Er wusste, dass der Direktor noch einmal nachgedacht hatte. Als Senko auf ihn zukam, nahm er sich noch einmal das Wort.

„Entschuldigen sie Genosse Senko, dass ich so laut geworden bin. Aber ich musste das machen, denn es nutzt doch niemanden etwas, wenn sie die Kinder jetzt schon verheizen und kaputt machen. Wir haben doch alle ein gemeinsames Ziel. Ich soll ihnen doch helfen, dieses Ziel zu erreichen. Dann müssen sie auch auf mich hören.“

Senko sah den Arzt lange und sehr intensiv an, er wusste, dass diesem die Entschuldigung nicht leicht gefallen war. „Schon gut, Genosse Konrad. Aber schreien sie mich nicht noch einmal so an. Ich werde mir das nicht ständig gefallen lassen. Vielleicht haben sie Recht. Sie bekommen zwei Wochen. Sorgen sie dafür, dass ich dann zügig mit den Kadetten arbeiten kann“, ernst sah der Direktor den Arzt an, der erleichtert aufatmete.

„Jawohl, Genosse Senko.“

**

Senko drehte sich um und verließ, ohne nochmals nach den Kindern zu sehen, den Raum. Die Betreuer, wie auch Petrow atmeten auf. Jetzt hatten sie etwas Luft und konnten mit den Kindern in Ruhe arbeiten. Vierzehn Tage, war mehr als sie sich hatten träumen lassen. Konrad drehte sich um und nickte Petrow zu, ging wieder zurück nach hinten, zum Bett von Charlotte, die immer noch in die äußerste Ecke gequetscht saß und sich nicht vorgetraut hatte. Es blieb ihn also nicht erspart, die Kleine mit Gewalt hervor zu holen. Erst wollte er es noch einmal im Guten versuchen.

„Charlotte, kommst du bitte mal zu mir? Ich möchte nur kurz mit dir reden, dann lasse ich dich in Ruhe.“

Dass Mädchen allerdings kroch immer mehr in sich zusammen, umklammerte ihre Knie und machte sich ganz klein.

‚Verdammt nochmal, was haben sie nur mit dir gemacht, dass du solch einen Angst, vor Fremden hast‘, ginge es Konrad durch den Kopf.

Immer wieder rief er Charlotte und hielt ihr die Hand hin. Fast eine Stunde versuchte der Arzt durch gutes Zureden Charlotte, unter dem Bett hervor zu bekommen. Er weigerte sich einfach, die Kleine mit Gewalt zu holen. Petrow der ab und an vorbei kam und jedes Mal wieder durch ein Kopfschütteln von Konrad vertrieben wurde, begriff nicht, wieso der Arzt so viel Geduld hatte. Alle anderen Kinder waren nun einigermaßen beruhigt und wieder ansprechbar, nur die kleine Charlotte nicht. Nach zwei langen Stunden, es ging schon auf mit riesigen Schritten auf 1 Uhr in der Nacht zu, hatte Konrad endlich Erfolg.

**

Immer wieder rief der fremde Mann ihren Namen. Charlotte hatte schlimme Angst. Vorhin hatte der Mann so geschrien, dass machte ihr noch mehr Angst. Fest umklammerte sie ihre Beine und machte sich ganz klein. Dass hatte ihr immer in der WoKi geholfen, wenn der Hausmeister sie irgendwo herausholen musste. Oft hatte sie sich in der letzten Zeit versteckt, wenn die Frau kam und sie wieder mitnehmen wollte. Dadurch, dass sie sich ganz klein machte, bekam der Hausmeister, sie nie zu fassen. Aber der Mann hier war ganz anders, er hatte eine ganz liebe Stimme, fast so wie der Opa. Charlotte legte den Kopf schief und beobachte ihn genau. Konnte sie ihm trauen? Charlotte traute keinen fremden Menschen mehr. Nie brachte es ihr etwas Gutes, wenn sie jemanden Vertrauen schenkte. Stets folgten nur Beschimpfungen, Schläge oder sie wurde durchgeschüttelt.

Das erste Mal, als sie einem Fremden getraut hatte, das war, als diese Frau in die WoKi kam und sie mit zu sich nahm. Sie war damals noch ganz klein, sie konnte noch nicht einmal richtig laufen. Damals musste sie ein Kleidchen mit kratzenden Spitzen anziehen, das war so schlimm. Es hat überall gekniffen und gejuckt. Dazu weiße Strumpfhosen und bekam Schuhe an, die weh taten. Dann wurde sie in einen Sportwagen gesetzt und die Frau fuhr mit ihr weg. Weit fort von ihren Tanten und zu einer komischen Feier. Jeder fasste sie an und nahm sie auf den Arm. Aber Charlotte mochte das nicht und fing an zu weinen, da schimpfte die Frau einfach mit ihr und als sie nicht aufhören wollte, fing sie an sie zu schütteln. Danach hat ihr ewig der Kopf weh getan, aber sie konnte es niemanden sagen, weil sie nicht wusste, wie.

Immer wieder kam Tante Walli zu ihr und erklärte ihr, dass sie keine Angst vor Fremden haben bräuchte, dass ihr niemand etwas Böses tun würde. Das stimmte aber nicht, Charlotte mochte die Frau nicht. Die war immer so laut und vor allem stank sie immer so komisch aus dem Mund, wie der Hausmeister, wenn er seine Pfeife rauchte. Sie verlangte von Charlotte immer Sachen, diese nicht machen wollte, weil sie nicht verstand, warum. Machte sie nicht gleich, dass was die Frau von ihr verlangte, wurde sie ständig angemeckert. Die Frau schrie sie an oder sie bekam Schläge auf den Hintern. Noch schlimmer allerdings war es, wenn sie sich schmutzig machte. Da wurde die Frau richtig böse und schüttelte sie immer richtig durch. Sie fand, dass Charlotte ganz unmögliches Kind war. Jedenfalls sagte sie das immer zu ihr.

Deshalb mochte Charlotte keine Fremden, das hieß immer nur Ärger und tat meistens lange weh. Aber der Mann hier, war irgendwie anders. Er rief immer wieder nach ihr, obwohl er sie auch unterm Bett hervor jagen konnte. Das hatte der Hausmeister oft in seiner Verzweiflung getan, weil er sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Erklärte er ihr ein paarmal, als sie sich dann wieder vertragen hatten. Der Hausmeister war immer ihr Freund gewesen, auch dann wenn er sie jagen musste. Hinterher bekam sie von ihm immer eine Tafel mit Bambina Schokolade, als Versöhnung, damit sie ihm nicht mehr böse war. Der Mann hier hatte sie nicht unterm Bett vorgejagt, sondern bat sie immer noch leise redend zu ihm zu kommen. Vielleicht war er gar nicht so böse wie die Frau. Er hockte jetzt schon so lange vor dem Bett und bettelte, dass sie vorkommen sollte. Charlotte gab sich einen Ruck, schließlich konnte sie nicht für immer und ewig hier unten hocken. Außerdem hatte sie großen Durst und der wurde immer heftiger. Auch tat ihr vor Hunger der Bauch ganz weh. Aus diesem Grund entschloss sich Charlotte, unter dem Bett hervor zu kommen. Sie konnte ja wieder unters Bett kriechen, wenn sie sich geirrt hatte. Vielleicht bekam sie ja etwas zu trinken und zu essen. Ängstlich sah sie den Arzt, der schon solange nach ihr rief, an und lief in der Hocke, ein paar Schritte auf ihn zu.

Konrad hielt ihr die Arme hin. „So ist es gut meine Kleine. Du wirst sehen, ich tue dir wirklich nichts. Hast du Durst?“, erkundigte sich der Arzt ganz leise und nahm das kleine verschreckte Mädchen auf den Arm.

Charlotte nickte zögerlich. Konnte allerdings nichts, gegen das Zittern in ihrem Körper machen. Konrad stand auf und ging mit Charlotte auf dem Arm, hin zu dem Servicewagen, auf dem eine Kanne mit Milch stand. Er schüttete ihr ein Glas ein und wollte es ihr reichen. Charlotte machte sich sofort steif und drehte den Kopf zur Seite. Ängstlich schüttelte sie ihn und war darauf gefasst sofort Schimpfe zu bekommen. Sie mochte keine Milch.

„Ich denke du hast Durst?“, verwundert sah Konrad die Reaktion des Mädchens. Ging in Gedanken ihre Akte durch, dort stand nichts von einer Laktose Unverträglichkeit oder Nahrungsmittelallerie, das hätte er sich gemerkt. Aber das würde er später klären, das war im Moment unwichtig. „Möchtest du etwas anderes trinken?“

Darauf erhielt er ein zögerliches Nicken, gefolgt von einem ängstlichen Blick.

„Charlotte du musst keine Angst haben. Moment, irgendwo haben wir auch Tee.“

Endlich fand Konrad, nachdem er in fünf Kannen geguckt hatte die mit dem Tee und schenkte dem Mädchen einen Becher voll ein. Eilig griff sich Charlotte denn Becher und stürzte wie eine Verdurstende, den Tee herunter.

Lächelnd sah der Arzt ihr zu. „Ach herrje, du hast aber einen Durst. Trinke langsam Mäuschen. Möchtest du noch einen Becher?“

Wiederum erfolgte ein vorsichtiges Nicken.

„Hast du Hunger?“

Auch hier bestätigte Charlotte durch Nicken, dass es so war.

Sofort bekam sie einen Teller mit Schnitten und noch einen dritten Becher Tee. Beides trug Konrad mit dem Mädchen zusammen, hinter zu deren Bett und setzte sich mit ihr hin. Sie saß auf seinen Schoss, den Kopf an seine Brust gelehnt und zitterte wie Espenlaub. So als ob sie bei ihm Sicherheit suchte. Es war ein schönes Gefühl, ging es Konrad durch den Kopf.

„Charlotte, darf ich dich kurz untersuchen? Du musst keine Angst haben, ich tue dir nicht weh.“

Wiederum nickte Charlotte, nicht bereit auch nur ein Wort, mit dem Fremden zu reden.

„Das ist aber lieb von dir. Ich bin Doktor Konrad und ich bin hier der Schularzt.“

Fragend sah Charlotte den Arzt an, weil sie nicht wusste, was ein Schularzt ist.

„Was verstehst du nicht, meine Kleine? Du musst schon mit mir reden und mir sagen, was du nicht verstehst. Sonst kann ich dir deine Frage nicht beantworten“, versuchte sie Konrad zu sprechen zu animieren.

Dabei zog er das Fieberthermometer aus der Brusttasche und klemmte es der Kleinen unter den Arm. Die nahm das völlig gelassen hin, als ob sie das täglich machen würde. Rückte sogar das Thermometer zurecht, was wohl nicht richtig saß. Lächeln registrierte Konrad die Bewegung. Sie war also das Fiebermessen gewohnt. Ein Heimkind also, schlussfolgerte Konrad. Das zweite Mal wunderte sich der Arzt, denn solche wichtigen Sachen, wären ihm nicht entfallen. Er musste sich unbedingt Charlottes Kranken- und Personalakte noch einmal genau ansehen, dort stimmte etwas nicht. Charlotte war so viel er sich erinnern konnte, nicht in einem Heim gewesen. Nachdenklich sah er die Kleine an. Konrad legte das Mädchen hin und tastete sie ab, auch den Bauch, der völlig verspannt war. Auch diese Untersuchung ließ sich Charlotte ohne Gegenwehr gefallen, als wenn man das mit ihr schon viele hundert Mal gemacht hätte. Konrad nahm das Stethoskop und wärmte es etwas an, horchte seine Patientin schließlich gründlich ab. Die Lungen und das Herz der Kleinen waren frei. Jede Bewegung beobachtete Charlotte, die der Arzt macht. Ganz traute sie dem Frieden also noch nicht. Das registrierte Konrad sofort, dadurch war auch der Bauch völlig verspannt. Sie war bereit, sich sofort wieder zu verstecken, falls ihr etwas nicht geheuer war. Ihre ganze Haltung drückte unbeschreibliche Furcht aus, auch wenn sie sich vorhin Schutzsuchend an ihn gelehnt hatte. Umso vorsichtiger ging Konrad vor, er wollte das Mädchen nicht wieder so erschrecken. Immer noch zitterte die Kleine und schielte immer wieder auf den Teller mit den Schnitten. Sie traute sich nicht, sich einfach eine davon zu nehmen. Kaum, dass Konrad fertig mit der Untersuchung war, nahm er Charlotte wieder auf den Schoss.

„Nimm dir eine Schnitte. Ich kann mir vorstellen, dass du großen Hunger hast. Komm iss ruhig, dabei kann ich mich mit dir unterhalten“, Konrad hielt ihr den Teller hin und endlich nahm sie sich einen Schnitte und biss hinein.

Erleichtert stellte der Arzt fest, dass Charlotte nun langsam ruhiger wurde. Die Kleine hatte genau, wie viele der anderen Kinder hohes Fieber, mit 39,9°C war es erstaunlich, dass das Mädchen überhaupt noch etwas aß. Also musste sie großen Hunger habe, noch mehr als die anderen Kinder. Es war untypisch für in dem Maße hochfiebrige Kinder, dass sie etwas zu sich nahmen. Schnell war die kleine Schnitte aufgegessen. Konrad reichte ihr den Becher mit dem Tee, auch den trank Charlotte gierig aus.

Ganz leise und zu Konrad hochschielend, kam nun doch die Frage, die Charlotte wohl sehr beschäftigte. „Warum braucht eine Schule einen Doko?“, flüsterte sie kaum hörbar.

Erleichtert sah Konrad Charlotte an. „Die Schule braucht keinen Doktor. Aber die Schüler die darin leben, brauchen einen Doktor. So wie du. Charlotte kannst du mir sagen, wann du das letzte Mal etwas gegessen hast?“

„Bei der Frau eine halbe Schnitte mit Kratzebutter.“

„Welche Frau? Weißt du noch wann das war? Was ist Kratzebutter?“

„Die böse Frau, die schreit. Als... bevor... wir zu dem Ma…“, in diesen Moment kam wieder alles in Charlotte hoch. Sie begann zu schluchzen. Die Erinnerung an das, was geschehen war, war zu viel für das kleine Mädchen. Sie begann zu würgen und brach das eben gegessene wieder aus und noch dazu alles über die Hosen von Konrad. Erschrocken sah Charlotte den Arzt an und zog den Kopf ein. Darauf gefasst, gleich durchgeschüttelt zu werden.

„Ist nicht schlimm. Die Hose tun wir einfach in die Wäsche. Komm beruhige dich“, Konrad drehte sich etwas um und rief in russischer Sprache, nach Pavel, der kein Wort deutsch sprach.

„Pavel, kannst du uns mal kurz helfen? Charlotte hat gebrochen, mach das hier sauber.“

Immer noch schluchzend lauschte Charlotte, den fremd klingenden Worten und blickte den Arzt ängstlich an. „Charlotte, du musst keine Angst vor mir haben. Ich tue dir nichts. Dass was du gerade gehört hast, ist russisch. So spricht man hier. Ich habe den Pavel …“, er zeigte auf den Hausmeister, der gerade kam. „… gerade gebeten, hier sauberzumachen. Keine Angst, es ist nicht schlimm, dass du gebrochen hast. Bei der vielen Aufregung, ist das kein Wunder. Möchtest du noch einmal etwas essen?“

Charlotte schüttelte den Kopf.

„Aber ein Becher Tee trinkst du noch“, bat Konrad die Kleine.

Dankbar nahm Charlotte den Becher, den ihr ein Betreuer reichte.

„Charlotte ich würde dir gern eine Spritze geben, damit es dir morgen wieder besser geht“, Konrad legte das Mädchen auf das Bett und ging zu seiner Arzttasche, zog eine leichtes Fiebermittel und ein Beruhigungsmittel auf.

„Ich bin ganz vorsichtig, es tut nicht weh. Das verspreche ich dir.“

Ängstlich folgte Charlotte der Nadel. Konrad war froh, dass er den Zugang für die Infusion noch nicht entfernt hatte. Auf diese Weise ersparte er der Kleine, jetzt auch noch eine Spritze zu bekommen. Konrad spritze das Mittel, direkt in den noch liegenden Venen-Zugang. Nach wenigen Minuten setzte die Wirkung des Mittels ein. Endlich kam auch das letzte Kind zur Ruhe. Erleichterung machte sich breit. Das morgige Aufwachen würde nicht mehr ganz so schlimm werden. Alle waren sich darüber im Klaren, dass die nächsten Tage noch sehr viele Tränen fließen würden. Dass Schlimmste jedoch, hofften alle, hatte man jetzt geschafft.

**

Im Großen und Ganzen behielt Konrad Recht, sie hatten es geschafft. Die Kinder waren zwar alle noch verstört, aber das Fieber ließ nach. Einzig und allein Charlotte kämpfte gegen sehr hohes Fieber an. Der Arzt konnte sich dieses Fieber nicht erklären und ging deshalb auf Ursachenforschung. Er nahm Charlotte auf die Krankenstation, um auf diese Weise eine Ruhezone zu schaffen und so dafür zu sorgen, dass sie sich nicht noch mehr aufregte. Egal was sie versuchten, sobald ein Fremder auf Charlotte zukam, verkroch sie sich unter dem Bett und blieb dort über Stunden hocken. Nur Dunja fand nach kurzer Zeit Zugang zu ihr. Warum dass so war, konnte sich Konrad nicht erklären. Trotz aller Bemühungen, kam keiner der Männer, an Charlotte heran. Konrad verstand einfach nicht, wieso das Mädchen völlig dicht gemacht hatte. Keines der anderen Kinder reagierte auf diese Weise. Mit viel Mühe erreichte Konrad, dass Charlotte wenigstens etwas trank und nicht sofort alles wieder heraus brachte. Durch das hohe Fieber, was ständig zwischen 40,4°C und 41,3°C hin und herpendelte, war der Flüssigkeitsverlust viel zu hoch. Da sie sich im Fieber den Tropf herausgerissen hatte, wollte man die Kleine nicht schon wieder quälen, um ihr einen Tropf anzuhängen. Jegliche Annäherungsversuche, beantwortete das Mädchen mit Gegenwehr. Durch irgendeinen Umstand, kam seit zwei Tagen, nicht einmal Dunja an Charlotte heran. Obwohl sie sich vorher gut mit dem Mädchen verstanden hatte. Lange rätselten die Krankenschwester herum und versuchten dahinter zu kommen, was die Kleine so verschreckt haben könnte. Schließlich fiel es Dunja wieder ein.

„Doktor Konrad, ich weiß nicht ob es wichtig ist. Aber Anton hat mich gestern kurz hier auf der Krankenstation besucht, weil meine Mutter etwas wissen wollte. Seit dem hat Charlotte wieder vollkommen dicht gemacht“, entschuldigend sah sie den Schularzt an.

Konrad schlug sich gegen die Stirn. „Das ist es. Anton hat die Kleine in Gera in Empfang genommen. Das hat sie wieder so verschreckt oder an irgendetwas erinnert. Vielleicht gibt sie Anton die Schuld, dass sie jetzt hier sein muss. Mein Gott, wer soll denn auf so was kommen“, erklärte er der Schwester.

„Holst du bitte mal deinen Mann her, Dunja. Wir müssen hier endlich zu einem Abschluss kommen. Charlotte muss lernen, dass das Abholen nichts über einen Menschen aussagt. Du bleibst bitte mit deinem Mann solange vorn in meinem Büro, bis ich nach dir rufe.“

„Jawohl, Genosse Konrad“, sofort verschwand Dunja, um ihren Mann zu holen, der eigentlich frei hatte.

Erleichtert, dass er jetzt den Auslöser für Charlottes Verhalten kannte, ging er auf das Bett des Mädchens zu. Unterwegs macht er halt bei einem kleinen Rumänen, der seit zwei Tagen schlimmes Bauchweh hatte. Radu lag nur ein Bett vor Charlotte und weinte, wie das kleine deutsche Mädchen, still vor sich hin.

„Radu warum weinst du. Tut dem Bauch so weh“, erkundigte er sich leise auf Rumänisch.

Der Bub nickte weinerlich.

Konrad griff nach dem Tropf und erhöhte den Zulauf etwas, so dass der Junge keine Beschwerden mehr hatte. Kurz entschlossen kehrte er zu seinem Schreibtisch zurück und telefonierte mit der Klinik in Shera, um einem OP für morgen zu buchen. Es half alles nichts, der Blinddarm würde eines Tages sowieso entfernt werden müssen. Wenn der Bub solche Schmerzen hatte, sollte er es nicht auf die lange Bank schieben. Er quälte das Kind nur unnötig. Auch wenn es in dem jetzigen Zustand der Kinder nicht unbedingt gut war, eine solche Operation durchzuführen, da dies zusätzlichen Stress für den Kleinen bedeutete.

„Narciza, kümmerst du dich bitte mal um Radu. Halte ihm einfach die Hand und rede mit ihm. Lenke ihn ein wenig von den Schmerzen ab. Vielleicht kannst du ihm auch erklären, dass ich morgen mit dir und ihm zusammen in ein Krankenhaus fahre. Dann hört das Bauchweh auf. Der Blinddarm muss raus, es hilft nichts“, erklärte er der Rumänin auf Russisch, damit der Bub nicht gleich alles verstand.

„Jawohl Genosse Konrad“, nahm die Sanitäterin der Rumänischen Streitkräfte, die Anweisungen entgegen.

Narciza lief sofort zu Radu und begann mit ihm ein Fingerspiel.

Lächelnd beobachtete der Schularzt, diese seltsame Frau. Die Rumänin hatte bestimmt schon viel durchgemacht, in ihrem Leben. Konrad erinnerte sich an das erste Zusammentreffen mit Narciza. Damals kannte er nur ihren Namen und wusste, dass sie ihm als Sanitäterin für die Rumänischen Kinder, zugeteilt wurde. Wie er es immer machte, stellte er sich die Person vor, deren Namen er kannte. Bei ihr lag er aber so etwas von daneben, das war ihm noch nie passiert. Da er mit der Rumänin schon einige Male telefoniert hatte und ihre Stimme auch kannte, stellte er sich eine feingliedrige, fast zierliche Frau vor. Als er ihr dann gegenüberstand, musste er automatisch grinsen. Ihre Reaktion auf sein Grinsen, war ihm damals so unangenehm, um es nicht peinlich zu nennen. „Lachen sie nur, Genosse Konrad. Ich weiß ich entspreche nicht ihren Vorstellungen. Sie haben eine schlanke und attraktive Dame erwartet. So ein dicker und hässlicher Zwerg, wie ich, erschreckt sie eher. Aber ich bin halt wie ich bin. Ich überzeuge die meisten Menschen durch mein Tun. Ich bin nicht schlecht, in allem, was ich kann.“, dabei lachte Narciza schallend und ihre Ohren bekamen Besuch. Das offene Auftreten der Rumänin, machte sie ihm gleich sympathisch und das Eis war gebrochen. Auch hier in der MAY kam er super mit ihr klar, sie hatten ein überdurchschnittliches Fachwissen. Dabei spielte es keine Rolle, ob es den Bereich des Nahkampfes oder der Medizin betraf. Sie überzeugte wirklich durch ihr Können. Wieder musste er grinsen, als er an ihren Namen dachte. Wenn er je eine Person in seinem Leben getroffen hatte, die einen unpassenderen Namen hatte, dann war es diese gute Seele.

Obwohl, musste sich Konrad selber korrigieren, das war auch nicht ganz richtig. Der Name passte trotzdem, zu seiner Sanitäterin, wie kein anderer. Die Seele dieser Frau, war einer Narzisse, lieb, zart und bezaubernd. Das Äußere der Rumänin, war das eines Mannweibes, grobschlächtig und derb. Die Nase war einmal zu viel gebrochen und stand völlig schief in ihrem Gesicht, wie bei einem Boxer. Der Körper ähnelte mehr dem eines Gewichthebers, als dem einer Frau. Es gab Männer, die hatten mehr Oberweite als die Sanitäterin. Die breiten Schultern, die muskulösen Beine und Oberarme, und die ausgeprägte Nackenmuskulatur, unterstrichen den Typ eines Mannweibs noch mehr. Dagegen bildeten die sinnlich geschwungenen Lippen, die wunderschönen türkisfarbenen Augen, ihre leider viel zu kurzen goldblonden Haare und ihre wunderschöne Stimme einen Kontrast, den man sich kaum vorstellen konnte. Wenn Narciza mit den Kindern zu singen begann, blieb einen einfach der Atem weg. Die Rumänin hatte eine wunderbare Altstimme, um die sie jede Opernsängerin beneidet hätte. Konrad riss sich los von dem Bild, welches ihn immer wieder faszinierte und ging nach hinten zu Charlotte.

„Charlotte, darf ich mich etwas zu dir setzen und mit dir reden?“, erkundigte sich der Arzt bei seiner Patientin.

Sobald Konrad auch nur in die Nähe des Bettes kam, presste sich Charlotte in die Ecke ihres Bettes. Sie umschlang ihre Beine, mit den Armen und machte sich so klein wie nur möglich.

„Ach Kleines du weißt, dass ich dir nichts tue. Warum hast du solche Angst vor mir?“, ernst sah der Arzt sie an. Nahm sich ein Stuhl und setzte sich mit einigem Abstand vor das Bett. „Charlotte, hör mir mal genau zu. Du musst nicht mit mir reden, wenn du das nicht willst, aber hör mir wenigstens zu“, Konrad wartete auf eine Reaktion der Kleinen.

Ängstlich sah Charlotte den Arzt an und nickte zögerlich.

„Da freue ich mich aber. Pass mal auf Kleines. Ich weiß, dass du dich vor einer Woche schlimm erschrocken hast, als dich der Mann in den Bus gebracht hat und deine Mama und dein Papa einfach weggefahren sind...“, Konrad wurde unterbrochen in seiner Rede, da das kleine Mädchen zur Verwunderung des Arztes aufs heftigste ihren Kopf schüttelte. „... kannst du mir erklären, was du meinst, Charlotte. Ich verstehe nicht, warum du den Kopf schüttelst.“

Konrad beobachtete jede Reaktion seiner Patienten. Die Kleine stellte ihn seit einer Woche, immer wieder mit ihren Reaktionen, vor unlösbare Aufgaben. Statt, dass er Antworten auf seine Fragen fand, gab sie ihm immer mehr Fragen auf, die er nicht lösen konnte. Nicht eine Reaktion von ihr, kam so, wie er sie erwartet hätte. Er ging gestern Schritt für Schritt deren Unterlagen durch. Sie war in einer liebevollen Familie mit einem Bruder aufgewachsen. Ihre ihr Vater war ein ehemaliger Polizist und arbeitet wieder als Bergmann, die Mutter eine beliebte Lehrerin, wie aus den Beurteilungen ihres Vorgesetzten hervorging und der Bruder war ein angehender Maschinist auf der Völkerfreundschaft und wurde von seinem Vorgesetzten als sehr engagiert eingestuft. Laut der Eltern und des Bruders, war die Kleine verhaltensgestört, verwöhnt und sehr schwierig zu händeln. Die Eltern machten sich zum Vorwurf, dass sie den Nachzögling zu sehr verwöhnt hätten und wollten ihr durch die Schule in Russland eine Möglichkeit aufzeigen, ihr gestörtes Verhalten und die übertriebene Selbstsucht zu ändern und dadurch ein ordentliches Verhalten anderen Menschen gegenüber zu lernen. Durch Disziplin und Ordnung so waren die drei sich einig, würde sich auch das Verhältnis zur Familie verbessern.

Nichts von dem, was in der Personalakte der Kleinen stand, konnte er bis jetzt bestätigen. Jede Frage die er klärte, stellte ihn vor neue Probleme, die er nicht lösen konnte. Immer wenn er dachte, er war hinter das Hauptproblem des Mädchens gekommen, trat ein neues Problem auf. Genau wie jetzt, als sie den Kopf schüttelte. Er hätte keine Reaktion erwartet oder ein Nicken. Wieso schüttelte die Kleine ihren Kopf so heftig. Das war nicht in fünf Minuten erledigt. Deshalb wandte er sich an seine rumänische Kollegin.

„Narciza, sei so gut und laufe Dunja nach und sage ihr, dass du sie und Anton holst, wenn ich hier soweit bin oder ich mich melde. Sie soll solange bei ihren Kindern bleiben. Die haben sowieso nicht viel von ihren Eltern im Moment.“

Die Rumänin gab Radu einen Kuss, sagte etwas zu ihm und war aus dem Raum verschwunden.

Konrad drehte sich wieder zu dem Mädchen um. „Charlotte kommst du mal zu mir. Ich will wirklich nur mit dir reden“, fordernd hielt er ihr die Hände hin und setzte sich vorsichtig auf ihr Bett.

Fast eine halbe Stunde kämpfte Charlotte mit sich selbst, bis sie zu Konrad kam. Erleichtert dass er wenigstens das erreicht hatte, nahm er das zitternde Bündel von Kind, auf den Schoss und rutschte mit ihr an die Wand.

„Ach Mensch, hört denn das Zittern bei dir, gar nicht mehr auf. Das ist böse nicht wahr“, erkundigt sich der Arzt traurig.

Charlotte nickte. Ohne ersichtlichen Grund, kullerten auf einmal die Tränen.

„Wein ruhig, oft hilft es die Tränen raus zulassen. Dann geht es einen gleich besser“, die Kleine vorsichtig in den Arm haltend, schaukelte er sie hin und her. Dies half etwas gegen dieses verdammte Zittern. „Erklärst du mir, was du mir mit dem Kopfschütteln sagen wolltest. Ich verstehe es nicht. War es nicht schlimm, dass der Mann dich mit in den Bus genommen hat oder war es schlimm das Mama und Papa weggefahren sind?“, zeigte der Arzt dem Mädchen auf, was er nicht verstand.

Charlotte nickte erst und schüttelte dann den Kopf.

Konrad legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Er musste überlegen, wie die Kleine die Antworten meinte. „Es war also nicht schlimm, dass der Mann dich mit in den Bus genommen hat?“, fragte er jetzt nach, ob er es richtig verstanden hatte.

Die Kleine nickte.

„Aber du bist traurig, dass du nicht mehr bei Mama und Papa bist“, versuchte er eine Antwort zu bekommen.

Wild schüttelte sie den Kopf.

„Warum bist du dann so traurig, dass du weinen musst?“

Endlich kam einen Antwort, aber Konrad verstand sie nicht. „Wegen Herr Bär?“, hauchte sie.

Für Konrad völlig unerwartet, fing Charlotte an zu weinen, so herzzerreißend, wie er es nur selten bei Kindern erlebt hatte. Dort also steckte Charlottes größtes Problem. Nur wer in Himmels Namen war Herr Bär? Das Herzchen schlug wie verrückt und der kleine Körper wurde regelrecht vom Weinen hin und her gerissen. Beruhigend redete Konrad auf sie ein und fing an sie hin und her zu schaukeln. Er summte sogar ein Lied, nur um zu erreichen, dass sie sich wieder etwas beruhigte.

„Komm beruhige dich doch wieder. Sonst kommt das olle Fieber wieder“, versuchte Konrad sie zu beruhigen.

Ewig weinte die Kleine in seinen Armen, bis sie schließlich eingeschlafen war. Als ob durch die Tränen der Druck von ihr gewichen war und die Tränen die nervliche Anspannung weggewaschen hätte, ging es Charlotte nach zwei Stunden Schlaf etwas besser, das wurde durch die Vitalwerte angezeigt. Noch einmal suchte Konrad, das Gespräch mit seiner Patientin. Diesmal setzte er sich einfach aufs Bett und zog sie in seine Arme und bekam das erste Mal keine Gegenreaktion von ihr.

„Kannst du mir erklären, wer Herr Bär ist. Was hat er dir getan, dass du so schlimm weinen musst“, versuchte der Arzt heraus zu finden.

Seit dem Charlotte eingeschlafen war, grübelte der Arzt, wieso der Herr Bär so wichtig für das Mädchen war. In den Unterlagen fand er keine diesbezüglichen Angaben. Er kam zu keiner befriedigenden Antwort. Deshalb setzte sich der Gedanken in ihm fest, dass dieser Herr Bär, dem Mädchen etwas angetan haben musste. Anders konnte er sich deren Reaktion einfach nicht erklären.

Das erste Mal seit Charlottes Ankunft in Shera, sprach sie mit dem Arzt, auch wenn sie ständig vom Schluchzen unterbrochen wurde. „Herr Bär ist mein Freund und die Frau und der Mann sind böse. Sie haben ihn einfach mitgenommen. Der Mann im Bus hat mir weh getan. Das macht man nicht. Ich wollte doch nur meinen Herr Bär holen.“

Konrad kam auf einmal eine Idee. „Charlotte, ist der Herr Bär groß und stark?“

Die Kleine schüttelte den Kopf und zeigte dem Doktor, die Größe von Herr Bär.

„Herr Bär ist also dein Teddy gewesen?“

Wieder brachen Tränenströme aus den Augen des Mädchens und sie fing an zu schluchzen, dass es dem Arzt fast das Herz zerriss. Mühsam beruhigte er das Mädchen wieder, durch hin und her schaukel. Langsam ließ auch das Zittern etwas nach. „Verdammt nochmal, was haben die mit dir gemacht, dass du an einem Teddy mehr hängst, als an deinen Eltern. Dass es dir fast das Herz bricht, das man dich von ihm getrennt hat. So etwas ist doch nicht normal“, ging es dem Arzt durch den Kopf. Vorsichtig streichelte er Charlottes Gesicht. Diesmal ließ sie es sich gefallen.

„Charlotte, ich kann dir leider deinen Herr Bär nicht wieder bringen. Aber warum ist es schlimmer, dass der Herr Bär weg ist, als das deine Mama und dein Papa weg sind. Ich verstehe es wirklich nicht“, wieder bekam der Arzt von Charlotte eine völlig andere Reaktion, als er erwartet hatte.

„Er war doch mein Freund und er war immer für mich da“, erklärte sie ihm ganz leise und mit tränennassen Augen.

„Aber die Mama und der Papa, doch auch.“

Heftig schüttelte die Kleine den Kopf. „Ich mag die Frau nicht, die schüttelt mich immer und schreit mich an. Die Frau und der Mann stinken“, kam eine unerwartete und trotzige Antwort.

„Wie du magst die Frau nicht? Sie ist doch deine Mama. Und der Mann ist dein Papa.“

Das Schütteln von Charlottes Kopf wurde immer stärker. „So was hab ich nicht. Ich hab nur Herr Bär, Opa und Oma und die Tanten aus der WoKi und den Hausmeister“, gestand sie und schniefte ganz leise.

Mit einem Schlag lösten sich allen Fragen, die Konrad im Kopf hatte, in Wohlgefallen auf. Er hatte das Rätsel um Charlotte endlich gelöst. WoKi, Wochenkindertagestätte, ein Heim auf Zeit, in dem werktätige Eltern, ob alleinstehend oder verheiratet spielte dabei keine Rolle, ihre Kinder auch über Nacht abgeben konnten, um im Schichtsystem arbeiten zu können. Daher kannte Charlotte also das täglich Fiebermessen und die Untersuchungen der Ärzte. Konrad hatte sich extra kundig gemacht, ob die Meldeadresse von Charlotte die eines Kinderheimes war. Das Mädchen war in einer Wohnsiedlung, der Wismut gemeldet und lebte dort schon seit ihrer Geburt. Die WoKi erklärte allerdings einiges. Deshalb fremdelte die Kleine so schlimm und hatte solche verheerende Angst vor Fremden Menschen. Wahrscheinlich, war sie mehr in der WoKi als bei ihren Eltern. Lebte also dort sehr isoliert. Fremde, die sie aus dem vertrauten Umfeld holten, bedeuteten für das Mädchen also Schmerzen und Leid. Die Eltern nutzten die WoKi also dazu, um ihr Kind abzuschieben. Da sie entweder keine Lust auf die Kleine hatten oder mit dieser völlig überfordert waren und mit der Kindererziehung nicht klar kamen.

„Aber dein Opa und deine Oma waren lieb zu dir?“

Das erste Mal huschte so etwas wie ein Lächeln über Charlottes Gesicht, als sie unsicher nickte.

"Der Opa und die Oma, haben dich also immer aus der Woki geholt?"

Wieder schüttelte sie den Kopf, erklärte es aber diesmal gleich. "Nein, nicht immer. Erst als mich der Opa gefunden hat."

Verwundert hörte Konrad zu. "Wie gefunden?"

Charlotte zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht wie sie es erklären sollte, deshalb schwieg sie und schielte ängstlich zu dem Arzt. Da sie damit rechnete, gleich Schimpfe zu bekommen.

"Ist nicht schlimm dass du mir das nicht erklären kannst. Das bekomme ich schon noch heraus. Weißt du wie deine WoKi heißt und deine Tanten aus der WoKi? Oder weißt du wo dein Opa wohnt, dass ich ihm einen Brief schreiben kann?"

Konrad hoffte sehr, dass er über die Namen der WoKi etwas mehr über seine Patientin erfahren würde. Denn die Unterlagen der Eltern, waren mehr als dürftig. Er brauchte einfach mehr Informationen über sie, um ihr gezielter helfen zu können. Sonst würde die Kleine hieran zerbrechen. Charlotte war das mit Abstand jüngste Kind hier in der Schule und noch zerbrechlicher als die anderen Schüler. Konrad verstand absolut nicht, dass man sie hier aufgenommen hatte. Denn das Mindestalter, war auf sechs Jahre festgelegt wurden. Charlotte allerdings war gerade einmal fünfeinhalb Jahre alt. Also viel zu jung.

Wiederholt zuckte die Kleine mit den Schultern. "Das weiß nur Tante Walli und der Opa. Aber ich weiß der Opa arbeitet bei der Feuerwehr am Fluss."

"Na das hilft mir doch weiter. Dann finde ich deinen Opa auch. Charlotte, du musst wegen dem Opa und der Oma nicht traurig sein, du wirst die Beiden bald wiedersehen. In den Sommerferien nächstes Jahr, kannst du sie besuchen. Bis dahin passen wir hier in der Schule auf dich auf, damit dir keiner etwas Böses tut. Ich verspreche dir, dass wir nicht zulassen, dass sie dich wieder durchschütteln", versprach er der Kleinen aus tiefster Überzeugung. Hoffte inständig, dass er nicht zu viel versprochen hatte.

Lange sah Charlotte den Arzt an. "Wirklich? Das tut immer weh im Kopf", stellte sie traurig fest.

„Ich werde es auf alle Fälle versuchen. Solange ich in der Nähe bin, lasse ich nicht zu, dass dich jemand schüttelt", korrigierte er seine Aussage ein wenig. "Kleines hör mir mal genau zu. Ich möchte versuchen dir etwas zu erklären, damit du das, was am Bus vor einer Woche geschehen ist, aus unserer Sicht siehst. Aber ich weiß wirklich nicht, ob du dass schon richtig verstehen kannst. Du bist ja noch so klein. Der Anton, also der Mann der dich am Bus gefangen hat, ist ein ganz Lieber. Ich kenne ihn schon eine ganze Weile. Er wollte dir ganz bestimmt nicht weh tun. Sondern nur verhindern, dass du in ein Auto läufst oder auf die Straße. Weißt du, wir Männer merken manchmal gar nicht, dass wir so fest zufassen und tun euch dann ausversehen weh. Kannst du das verstehen“, fragend blickte er das Mädchen an.

Als Charlotte mit einem winzigen Lächeln nickte, wusste Konrad er hatte es geschafft.

„Du kennst doch die kleine Schwester, die Dunja. Sie ist die Frau vom Anton. Glaube mir, die hätte niemals den Anton geheiratet, wenn der böse wäre. Du musst wissen, Anton und Dunja haben auch drei Kinder und die Kleinste, die Sanja ist so alt wie du. Anton würde nie jemanden mit Absicht weh tun oder es zulassen, dass man Kinder verletzt. Glaubst du mir?“

Lange sah Charlotte den Arzt an, dann nickte sie zögerlich, zuckte aber sofort mit den Schultern, da sie sich nicht sicher war.

„Wollen wir Beide mal gucken, wo die Dunja und der Anton stecken? Damit du Anton sagen kannst, dass er dir weh getan hat.“

Schulterzucken und Nicken folgten dieser Frage.

Konrad ahnte, was in dem Mädchen vor sich ging. Auf der einen Seite wollte die Kleine ihm vertrauen, aber sie konnte es nicht. Dazu waren in ihrem kurzen Leben, einfach zu viele schlimme Dinge passiert.

Kurz entschlossen, setzte er Charlotte mit den Worten aufs Bett. „Ich komme gleich wieder“, und streichelte ihr kurz über den Kopf.

Sofort lief Konrad nach vorn zum Schreibtisch und wählte die 481, die Nummer der Petrows und hoffte, dass die beiden das Klingeln des Telefons hörten.

Kaum hatte er die letzte Zahl gewählt, meldete sich Petrow. „Oberstleu…“

Weiter ließ ihn Konrad nicht sprechen. „Anton, hier ist Frank. Entschuldige, dass ich dich unterbreche … sag mal, darf ich mit Charlotte einmal kurz zu euch kommen? Sind deine Kinder da?“

„Ich weiß nicht ob das geht. Wenn der Oberst im Haus ist, würde ich das an deiner Stelle nicht machen, das gibt Ärger“, wies Petrow den Arzt darauf hin, dass es den Kindern verboten war, ohne ausdrücklich Genehmigung, das Schulgelände zu verlassen.

„Anton, das verantworte ich schon. Das ist eine Art Therapie. Senko will doch, dass es endlich vorwärtsgeht. Ich bin endlich an Charlotte herangekommen und muss jetzt einen Weg finden, wie sie mit euch klar kommt. Ich habe das Problem herausbekommen. Wahrscheinlich hast du ihr damals am Bus ziemlich weh getan und ich will ihr zeigen, dass das nicht mit Absicht war. Wo ginge das besser, als bei euch zu Hause?“

„In Ordnung, dann kommt schnell mal rüber.“

Erleichter über die Reaktion von Petrow, legte Konrad auf und lief nach hinten zu seiner Patientin. Am Bett des kleinen Radu, der schon vor einiger Zeit eingeschlafen war, blieb er kurz stehen. Leise flüsternd, wandte er sich an die Sanitäterin. Narciza hatte ihn schon eine Weile beobachtet und schmunzelnd zugesehen, wie er sich mit Charlotte unterhielt. Sie beneidete den Arzt nicht, um seine Arbeit. Wie ein Blinder musste sich dieser bei dem Mädchen herantasten, da die Angaben in dem Elternprofil, alle nicht stimmten. Er hatte dadurch, keinerlei Basiswissen über das Kind.

 „Narciza, ich bin drüben bei den Petrows. Ich komme so schnell es geht wieder. Ich muss die Gunst der Stunde einfach nutzen, um wenigstens etwas wie Vertrauen zu schaffen. Du weißt, was ich meine. Wenn man uns sucht, sage denen irgendetwas und rufe sofort bei den Petrows an. Es muss niemand wissen, wo wir sind“, erklärte er der Pflegekraft auf Rumänisch, die nickte verstehend. An Charlotte gewandt. „Komm Kleines, wir gehen mal nachsehen, wo Dunja bleibt.“

Konrad hielt seiner Patientin die Arme hin und hob sie hoch. Er würde sie nicht laufen lassen, da Charlotte immer noch 39,8°C Fieber hatte. Draußen war allerdings ein schöner warmer Spätsommertag und die frische Luft würde seiner Patientin nicht schaden. Wie er die Petrows kannte, saß die Familie am Tisch unter dem Küchenfenster und spielte. Die kurze Entfernung, zum Haus der Petrows, hatte der Arzt schnell überwunden. Auch die am Tor stehende Wache machte zum Glück keine Probleme. Nur wenige Minuten nach dem Anruf, lief Konrad auf den Eingang des Hauses der Petrows zu und ans Ende des Blockes, in dem die Familie wohnte.

„Schau mal Charlotte, dort vorn sind Dunja, mit Anton und ihre drei Kindern. Wollen wir den Fünfen einmal Guten Tag sagen?“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Als Charlotte Petrow erblickte, ging ihr gesamter Körper, automatisch auf Abwehr.

„Ach Charlotte, geb dem Anton eine Chance. Der hat dir wirklich nicht mit Absicht weh getan. Du wirst sehen, der ist ganz lieb.“

Konrad ließ seiner Patientin die Zeit, die sie zum Fällen ihrer Entscheidung brauchte. Hier half keine Hetz. Hier kam er nur mit ganz viel Geduld weiter. Lange sah das Mädchen dem Mann zu, der sie so derb angefasst hatte und wie ein Stück Vieh unter den Arm geklemmt hatte. Der sah lieb aus, wie er mit den Kindern spielte. Genau wie der Hausmeister in der WoKi. Der packte auch immer so tolle zu, fiel ihr auf einmal ein. Er hatte ihr mal erklärt, das käme von der schweren Arbeit, er würde das gar nicht merken. Immer wieder schielte die Kleine hoch zu dem Arzt und dann zu dem Mann, zu Dunja und den Kindern. Schließlich nickte sie.

„Na dann komm. Du wirst sehen, der Anton ist ganz lieb.“

Langsam und vorsichtig näherten sich die Zwei dem Tisch. Dunja war die Erste, von der sie bemerkt wurden. Dann kam ein pummelig wirkendes Mädchen, mit langen braunen Haaren, auf sie zugelaufen und begrüßte den Arzt auf Russisch.

„Guten Tag, Onkel Frank, wollt ihr mit uns spielen“, interessiert schaute sie nach oben, zu dem Mädchen mit den schönen schwarzen Locken. „Du hast aber schöne Haare“, erklärte sie Charlotte. Konrad übersetze Charlotte das Gesagte, damit sie auch wusste, was gesprochen wurde.

„Guten Abend Sanja. Meine kleine Freundin hier versteht noch kein Russisch, ich übersetze es ihr deshalb. Ich glaube nicht, dass wir heute spielen können, Sanja. Ich habe gar nicht viel Zeit. Außerdem ist das Mädchen immer noch krank. Lass uns erst einmal alle begrüßen.“

Da endlich bemerkte auch der Rest der Petrows die Besucher. Anton stand auf und wollte auf die Beiden zulaufen, wurde aber von seiner Frau am Hosenbund zurück gehalten. Irritiert schaute er sie an. Ganz vorsichtig schüttelte sie den Kopf, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkte. Also blieb er, wo er war und lehnte sich an den Tisch.

„Hallo Fedor, Hallo Dima, hallo Anton. Ich habe euch Besuch mitgebracht. Das ist Charlotte. Sagst du auch allen Guten Tag", begrüßte er alle auf Deutsch.

Zögerlich schüttelte die Kleine den Kopf.

Petrow übersetzte für alle. "Nicht schlimm, wenn du nicht mit uns reden magst", er war ja schon froh, dass Charlotte nicht wieder, wie am Spieß schrie. "Aber ihr sagt Charlotte alle Guten Tag", forderte er seine Kinder auf.

Nach einander begrüßten alle den Arzt und das Mädchen. Dunja näherte sich dem Arzt und fragte ihn mit den Augen, ob sie das Mädchen nehmen könnte. Konrad wartete Charlottes Reaktion ab. Als diese auf Dunjas Näherkommen, keine Abwehrreaktion zeigte, gab er sie einfach in Dunjas Arme.

„Gute Tag“, versuchte Dunja ihre kleine Patientin auf Deutsch zu begrüßen.

Das Lächeln, was sie von Charlotte bekam, war mehr wert als eine Begrüßung. Diese lehnte sich an die Schwester, die sich schon die ganze Zeit, so um sie gekümmert hatte. Ganz leise und zögerlich hauchte sie der Frau ins Ohr „Guten Tag, Tante Dunja.“

Dafür bekam sie ein Küsschen auf die Wange. Die Schwester nahm sie mit zum Tisch und setzte sich, als wäre es das selbstverständlichste neben Petrow, der auch wieder saß. „Anton, wärst du so lieb und würdest für Charlotte einen Becher holen und einen Teller mit Kekse und Pralinen? Die mag sie ganz sehr“, bat sie ihren Mann auf Russisch, obwohl sie auch eins der Kinder hätte schicken können.

**

Petrow verstand sofort, was seine Frau erreichen wollte. Er hatte genau wie der Doktor bemerkt, dass sich die Kleine in Petrows Nähe, sofort wieder versteifte und den Kopf einzog. Deshalb stand er auf und lief um den Tisch herum, in die Küche. So hatte Charlotte Zeit sich zu entspannen. Seine Frau wusste, dass man Kinder mit ihren Keksen wunderbar bestechen konnte. Oft halfen bei Kindern solche kleinen Tricks, um Vertrauen zu schaffen, auch wenn er sich da bei diesem Mädchen nicht sicher war. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht vorstellen, dass sie bestechlich war. Egal wie ängstlich Charlotte auch wirkte, sie wusste genau, was sie wollte und was nicht. Das hatte der Lehrer sehr schnell gemerkt. Petrow ließ sich extra etwas Zeit und schlich leise an das Küchenfenster. So konnte er alles beobachten, wurde aber von Charlotte nicht gesehen. Seine Kinder wie stets offenherzig, unterhielten sich mit der deutschen Schülerin. Obwohl die Kleine kein Wort verstehen konnte, schien sie genau zu zuhören. Wieder fiel dem Petrow auf, dass Charlotte alles registrierte, was um sie herum geschah. Sogar zum Küchenfenster drehte sie sich um, als ob sie seinen Blick gespürt hätte. Die Kleine war für ihn ein Phänomen. Schon auf der Krankenstation, war ihm das aufgefallen.

Er saß gestern, fast zwei Stunden, am Schreibtisch der Krankenstation, weil er in Charlottes Unterlagen etwas nachsehen wollte. Ihm war bei dem Mädchen einiges unverständlich und er musste wissen, was bei ihr nicht stimmte. Seit fünf Jahren liefen alle neuen Rekruten der MAM durch seine Hände und lernten bei ihm das Einmaleins einer Militärakademie. Über hundert Kinder hatte er in dieser Zeit betreut und ausgebildet. Keines der Kinder, zeigte bis jetzt, solche Verhaltensmuster. Viele der Kinder waren über die ersten Wochen verstört, bis sie sich eingelebt hatten. Aber das waren andere Verhaltensstörungen und völlig andere Ängste. Er hatte noch nie ein Kind erlebt, das auf diese Weise reagierte. Deshalb beobachtete Petrow von Konrads Büro aus, das Mädchen über so lange Zeit. Sobald jemand sich im Raum bewegte, registrierte Charlotte das. Egal wie leise sich derjenige bewegte. Selbst in der Zeit, als sie Dunja beim Singen zuhörte, schnellte ihr Kopf herum, als sich Radu in seinem Bett bewegte. Das war etwas Ungewöhnliches für diese Altersstufe.

Seit Tagen beschäftigte er sich in Gedanken mit dem deutschen Mädchen. So vieles stimmte nicht mit deren Unterlagen überein. Die Mutter schrieb in das Profil, dass sie über ihre Tochter anfertigen musste, dass sie frech, ungezogen wäre, Erwachsenen ständig ins Wort fiel und fortwährend im Mittelpunkt stehen müsste. Sie würde laufende herumschreien und würde überhaupt nicht hören. Wenn sie ihren Willen nicht bekäme, wäre sie bockig und widerspenstig. Nichts davon, konnte ihm der Doktor oder Dunja bestätigen. Im Gegenteil, hatten alle festgestellt, dass Charlotte es gewohnt war, sich alleine zu beschäftigen. Sie war ein sehr in sich zurück gezogene Persönlichkeit, die scheinbar sehr gern vor sich hin träumte und es gar nicht mochte, wenn man sie in den Mittelpunkt rückte. Vor allem schätzte Petrow Charlotte als eher schüchtern ein. Sie traute sich kaum etwas von sich aus zu sagen oder sich gar etwas zu nehmen. Nichts von dem, was er in dem mehrseitigen Profil stand, stimmte mit der Charlotte überein, die er in der letzten Woche kennengelernt hatte. Auch wenn es sich um einen Ausnahmesituation handelte, in der sich die Kleine im Moment befand, müsste es Eckpunkte im Profil geben, die stimmig waren. Die gab es aber nicht. So sehr konnte auch ein Schock, ein Kind nicht über Nacht verändern.

Deshalb zog der Russe seine Erinnerungen zu Rate, die er von der Mutter hatte. Noch nie hatte ihn seine gute Menschenkenntnis im Stich gelassen. Diesmal versagte die allerdings komplett. Seine Beobachtungen bei dem Elternabend und bei der Abholung stimmten überhaupt nicht überein. Er konnte weder Charlotte richtig einschätzen, noch deren Eltern. Egal welche Erinnerungen er abrief, irgendetwas stimmte daran nicht. So etwas machte den Russen verrückt, der klare und überschaubare Linien mochte. Deshalb ging Petrow noch einmal Schritt für Schritt die Übergabe in Gera durch. Es hatte sich eine Idee in seinem Kopf festgesetzt, die ihn nicht mehr losließ. Damals war ihm das alles gar nicht so bewusst aufgefallen oder er hatte es in dem Stress nicht registriert. Was ihm erst so vorkam, als würde die Mutter, seine Anordnung wortgetreu befolgen, kam ihm heute komisch vor. Diese Frau Dyba hatte Charlotte nicht, wie es die anderen Mütter taten, aus dem Auto geholfen. Sondern hatte das Mädchen, falls ihn sein Gedächtnis keinen bösen Streich spielte, regelrecht herausgezerrt und in seine Arme gedrückt. Danach war sie, ohne sich auch nur einmal umzudrehen oder ein Zeichen von Traurigkeit, zum Auto gegangen, eingestiegen und weggefahren. Wenn er sich an die anderen Eltern erinnerte, weinten meist beide Elternteile, zu mindestens aber die Mutter. Es wurde gewunken und man merkte wie schwer den Eltern der Abschied fiel. Auch Birgitts Eltern, hatten schwer am Abschied zu kämpfen. Irgendetwas an der ganzen Sache, kam ihm spanisch vor. Aber er kam nicht dahinter. Er musste sich einmal in Ruhe mit Konrad darüber unterhalten. Petrow riss sich los von seinen Gedanken und schnappte sich den Teller mit Keksen und Pralinen und ein Glas, ging zurück zu den Anderen.

**

Lächelnd sah er die Charlotte an und fragte sie auf Deutsch. „Charlotte möchtest du haben Tee oder Saft?“ Er stellte den Teller vor seine Besucherin und sah sie fragend an.

Charlotte schielte zu Dunja und dann zu dem Arzt, wieder traute sie sich nichts zu sagen.

Dunja lächelte sie an. „Zeigen mir“, bat sie, mit den wenigen deutschen Wörtern, die sie in der einen Woche gelernt hatte.

Kaum sichtbar zeigte sie auf die Karaffe mit dem Tee.

„Keine Saft“, fragte Dunja nach.

Charlotte schüttelte den Kopf.

„Kleines du kannst ruhig auch Saft trinken“, sprach ihr Konrad Mut zu und hockte sich neben die Bank.

Leise kaum hörbar, flüsterte sie in die Richtung, in der Konrad hockte. „Der Saft brennt im Mund. Ich möchte bitte Tee trinken.“

Lächelnd nickte Konrad und übersetzte Dunja, das Gesagte. Bat Petrow ihr Tee zu geben. „Anton, gebe ihr Tee und nehme bitte mal in ihre Akte auf, dass sie keine Säfte bekommen darf. Ich glaube wir müssen mit Charlotte einmal einen Allergietest machen. Das ist schon das zweite Lebensmittel, das sie scheinbar nicht verträgt. Wieso sagt uns das die Mutter nicht. Das sind doch wichtige Sachen, die wir wissen müssen. Ich verstehe das alles nicht“, erklärte er seinem Kollegen auf Russisch.

Petrow antwortete ihm auf die gleiche Weise. „Ist mir auch schon aufgefallen. Wir unterhalten uns darüber später“, dabei goss er Charlotte Tee ein und reichte ihr den Becher.

"Danke", kam leise von Charlotte, die schlimmen Durst hatte und den Becher gierig austrank.

Langsam entspannte sich das Mädchen und schaute immer offener in die Runde. Petrow beobachtete die Kleine genau. Registrierte aber auch, dass Charlotte ihn genauso beobachtete. Immer wieder kamen seine Kinder heran und unterhielten sich mit Charlotte. Da die Kleine keine Schuhe anhatte und immer noch hochfiebrig war, wollte und konnte sie nicht mit den Kindern durch den großen Garten toben. Man merkte, nach einer reichlichen viertel Stunden, wie angeschlagen Charlotte wirklich noch war. Immer wieder fiel das Köpfchen nach unten und es fiel Charlotte immer schwerer munter zu bleiben.

„Na Kleines, du bist wohl müden? Willst du dich wieder hinlegen“, erkundigte sich Konrad.

Er bekam nur ein müdes Nicken von der Kleinen.

„Na dann komm“, forderte Konrad sie auf und sah sie fragend an.

Charlotte hielt ihm ihre Arme hin und nickte.

„Verabschiedest du dich von den Petrows? Du musst nur … do svidaniya … sagen. Das heißt auf Wiedersehen oder du sagst … poka poka … das heißt Tschüß“, versuchter er ihr zu erklären.

Einen Moment lang, sah Charlotte ihn an und probierte scheinbar das Gehörte aus. „Poka poka“, sagte sie ganz leise, dies schien ihr die leichtere Variante zu sein.

Erfreut registrierten die Erwachsenen diese Verabschiedung, die mehr ein Hauchen, als ein Reden war. Aber es war ein erster großer Erfolg, den man bei Charlotte erreicht hatte. Konrad war mehr als zufrieden, seine Therapie war ein voller Erfolg.

„Bis später, wenn ich es schaffe, komme ich heute am späten Abend noch einmal vorbei“, sofort lief Konrad los. Schon fast am Tor zur Schule angekommen, erkundigte er sich bei Charlotte. „Glaubst du mir nun, dass Anton ein ganz Lieber ist und dir nicht mit Absicht weh getan hat.“

Endlich bekam er ein Nicken von der Kleinen.

Völlig entspannt und sichtbar geschafft, lehnte sie sich an Konrads Schulter. Noch bevor Konrad das Hauptgebäude der Schule betrat, in dem sich auch die Krankenstation befand, war sie auf seinen Armen eingeschlafen. Nur fünfundvierzig Minuten waren die Beiden unterwegs, das genügte allerdings, um seine Patientin völlig fertig zu machen.

Narciza die heute die Spätschicht übernommen hatte, bekam von Konrad die Auflage, Charlotte schlafen zu lassen. Auch wenn sie kein Abendbrot gegessen hatte, sie hatte bei den Petrows genug getrunken, so dass sie, wenn es sein musste, ohne Bedenken bis zum nächsten Morgen durchschlafen konnte. Gleichmäßige und ruhige Atemzüge, zeigten dem Arzt, wie auch der Sanitäterin, dass Charlotte endlich angekommen war. Nun würde auch sie sich akklimatisieren und sich endlich vom Fieber erholen. So ruhig wie heute, hatte das Mädchen noch nie geschlafen.

„Narciza lass sie schlafen. Wenn sie Hunger hat und dadurch munter wird, machst du ihr einfach eine Schnitte. Aber nur wenn sie von alleine wach wird. Getrunken hat sie bei den Petrows genug.“

„Jawohl, Genosse Konrad. Radu hat etwas gegessen, wenn auch nicht viel, aber genug getrunken. Ich habe ihm erklärt, dass wir morgen in ein anders Haus fahren und wir dort seine Bauchschmerzen weg machen. Er hat seitdem nicht mehr geweint. Ich glaube, er hat es verstanden. Auch wenn er Angst hat, vertraut er ihnen und mir“, berichtete sie, von dem was sie bei dem kleinen Rumänen in der Zwischenzeit erreicht hatte. „Senko weiß, dass sie bei den Petrows waren. Er hat sie gesehen und wollte nur wissen, ob es Fortschritte bei Charlotte gibt. Er erklärte mir, dass er mit der Überlegung spielt, ob er sie nach Deutschland zurückschicken sollte, falls es mit ihr nur Probleme gäbe. Er hätte allerdings mit Charlottes Mutter gesprochen. Diese Frau wäre eine Furie und hätte ihn angeschrien, wieso wir ihr Kind nicht mehr haben wollen. Dabei wollte er sie nur fragen, ob Charlotte zu Hause auch so kompliziert wäre. Daraufhin bekam er zur Antwort. Deshalb würde sie die Göre ja hier an unsere Schule schicken. Damit sie endlich Disziplin lernen würde. Oberst Roslow wüsste über deren Disziplinprobleme Bescheid und er hätte ihr versichert, dass das kein Problem darstellte. Er hätte ihr in die Hand versprochen, dass sie in einem Jahr ihren Eltern aufs Wort gehorchen würde. Sie verstände seinen Anruf nicht", wütend holte Narciza Luft. "Doktor, sie können sich nicht vorstellen, wie der Oberst auf Prass war. Furie, alte Schreckschraube und Poltergeist hat er sie genannt. Er war noch ganz rot im Gesicht, als er hier reinkam. Ich soll ihnen ausrichten, sie sollen Charlotte schultauglich machen, egal wie. Wenn nötige mit einer gehörigen Tracht Prügel“, wütend sah sie ihren Chef a. "Der spinnt doch. So kann man doch nicht mit Kindern umgehen."

„Ach herrje“, rutschte es Konrad auf Deutsch heraus, schnell fuhr er auf Rumänisch fort. „Der Arme, hatte dann bestimmt keinen angenehmen Abend. Aber es passt genau zu dem Bild, welches ich mir von den Eltern der Kleinen gemacht habe. Langsam zeigen sie ihr wahres Gesicht.“

Nickend hörte Narciza zu und grinste breit, denn dieser Gedanke ist ihr auch schon gekommen. Auch wenn sie nicht alles verstanden hatte, was Konrad mit dem Mädchen besprochen hatte, reichte es doch aus, um sich ein Bild von deren Mutter zu machen. Stark erinnerte es sie an ihre Mutter. Eine Frau, die nur an sich dachte und der völlig egal war, was aus ihrem Kind wurde. Narciza hatte die Kleine sofort in ihr Herz geschlossen und nahm sich vor, besonders auf sie zu achten.

„Genosse Konrad, machen sie ruhig Feierabend. Wenn etwas sein sollte, informiere ich sie oder hole sie dazu. Sind sie in ihrer Wohnung oder bei den Petrows?“, erkundigte sie sich immer noch breit grinsend. Da Konrad seit einiger Zeit, immer dort zu Abend aß. Alleine würde das Essen nicht schmecken, meinte er mal zu Dunja, worauf diese ihn einlud, zu ihnen zu kommen.

„Na wie immer Narciza, ich bin erst einmal drüben bei den Petrows. Ich muss dort noch einiges klären, wegen Charlotte. Wenn ich wieder da bin, sage ich Bescheid. Ruf an, wenn du nicht klar kommst oder etwas mit den Kindern ist. Idina löst dich um 22 Uhr ab. Also ruhigen Dienst“, verabschiedet sich der Arzt. Im Gehen drehte sich Konrad noch einmal um. "Narciza bitte kümmere dich einmal darum, dass wir für Charlotte einen Allergietest bekommen und zwar schnellst möglich. Bitte notiere gut sichtbar in ihrer Akte, die Allergie gegen Milch und wie es scheint auch gegen Säfte. Am besten, wir testen bei ihr alles durch. Nicht nur Lebensmittel, sondern auch Chemikalien und Arzneien. Nicht, dass wir hier böse Überraschungen erleben. Ich traue den Angaben der Eltern nicht mehr", kurz überlegte Konrad, was er noch machen wollte. "Sag mal, hast du eine Ahnung wie ich an eine Adresse von einer Kindereinrichtung komme, deren Name ich nicht kenne. Ich weiß nur, dass sie in Gera ist und eine Wochenkindertagesstätte ist. Dort arbeitet eine Tante Walli. Von Charlottes Opa weiß ich nur, dass er in einer Feuerwehr arbeitet, die an einem Fluss liegt. Ich habe keine Ahnung an wen ich mich da wenden kann. Die Mutter der Kleinen werden wir nicht fragen brauchen."

Narciza atmete verlegen aus. "Genosse Konrad, ich habe keine Ahnung, aber ich lasse mir etwas einfallen. Fragen sie einfach einmal den Genossen Petrow, der hat gute Beziehungen zum KGP. Sein Bruder arbeitet dort. Vielleicht können die mit den wenigen Angaben etwas herausbekommen. Auf alle Fälle haben sie doch den Namen der Mutter. Darüber müsste sich einiges heraus bekommen lassen", sie nickte Konrad verlegen zu, da sie auch keine Lösung für dessen Problem hatte.

Konrad nickte und verließ den Raum. Narciza lief zu Charlotte, um nach der Kleinen zu sehen und diese vorsichtig auszuziehen. Liebevoll deckte sie das Mädchen zu und gab ihr, so wie sie es immer machte, einen Kuss auf die Stirn. Erleichtert, ging sie nach vorn, an den Schreibtisch und machte einige Notizen in die Krankenakten der Kinder.

**

*** Charlotte fasst Vertrauen **

***

Ich überflog noch einmal die letzten Zeilen des letzten Kapitels und war mit dem, was ich gelesen habe, zufrieden. Ausgiebig streckte ich mich und ließ, durch das Rechts und Links legen meines Kopfes, die Nackenwirbel krachen. Eine dumme Angewohnheit, die ich mir bis zum heutigen Tage nicht abgewöhnen konnte. Meine Nackenmuskeln waren wieder einmal völlig verspannt und durch das lange Sitzen, vor dem Laptop, wurde es nicht besser. "Seit wann machte ich das eigentlich", ging es mir durch den Kopf. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich damit angefangen hatte. Ich glaube in der ersten oder zweiten Klasse begann ich damit. Irgendwann sah ich mir das von unseren Betreuern ab und stellte fest, dass das gut gegen die Verspannung im Nacken half.

Breit grinsend stand ich auf und ging hinüber zur Kaffeemaschine, die bei mir immer gefüllt war und wenn einmal nicht, sofort wieder neu bestückt wurde. Plötzlich musste ich lachen. Mir schoss gerade ein Gedanke durch den Kopf, der mich an eine Situation erinnerte, als ich zum Blutabnehmen gehen musste: Irgend so ein Kontrolltest, nach einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Einsatz. Oh Manne, wie lange war das her? Zehn oder fünfzehn Jahre waren das jetzt bestimmt. Es konnte sogar schon länger her sein. Es war irgendwann im Oktober. Wir hatten in den Tagen zuvor, einen schweren Einsatz nach dem anderen gehabt und der letzte Einsatz war eine Lappalie, trotzdem lief alles schief was schief laufen konnte. Wir konnten vor Müdigkeit einfach nicht mehr klar denken. Ans Schlafen war, wie immer in solchen Situationen, absolut nicht zu denken. Dadurch war bei uns wieder einmal Literweise Kaffee geflossen und wir pumpten dieses schwarze Gesöff Eimerweise in uns hinein, um wach zu bleiben. Damals sagte ich zu der Laborantin, die sich wunderte, dass ich ständig wegnickte, dass sie sich bei mir das Blut abnehmen sparen sollte und sie sich die Blutprobe gleich aus der Kaffeemaschine holen könnte. Oder sie fülle sich mein Blut in die Kaffeetasse, dann könnte sie sich das Kaffee kochen sparen. Sie bräuchte nur mein Blut trinken, da wäre mehr Coffein enthalten, als rote Blutkörperchen.

Ich schüttele den Kopf über mich selber. Leider war es aber wirklich so. Ich trank viel zu viel Kaffee, irgendwie konnte das nicht mehr so ganz gesund sein. Nicht nur einmal kam mir der Gedanke, wieder grinste ich in mich hinein, dass ich bestimmt Kaffeeholiker oder Coffein süchtig war. Keine Ahnung ob es so etwas überhaupt gab. So wie andere süchtig nach Zigaretten oder Alkohol waren, war ich mittlerweile süchtig nach dem schwarzen Gebräu. Ich musste wirklich langsam meinen Coffein Verbrauch etwas senken. Normal war das bei mir nicht mehr, ich trank fünf bis sechs Kannen Kaffee am Tag und da war das noch wenig. Wenn wir Einsätze hatten oder viel Stress, wurde es oft noch mehr. Eigentlich, ging es mir wieder einmal durch den Kopf, könnte ich auch einmal etwas Wasser oder Tee trinken, wenn ich Durst hatte, aber Kaffee schmeckte nun mal, um einiges besser. Gegen die Müdigkeit, half der Kaffee bei mir schon lange nicht mehr wirklich, dazu trank ich viel zu viel, von dem Zeug. Es war halt eine dumme Angewohnheit.

Jetzt stand ich schon wieder an der Maschine, klopfte mit meinen Fingern auf dem Schrank herum und zählte die Minuten bis der endlich Kaffee durchgelaufen war. Hilfe, was sollte ich dazu nur noch sagen.

Endlich war es soweit, der Kaffee war durchgelaufen, ich konnte mir eine neue Tasse eingießen und setzte mich wieder vor den Laptop und versuchte den verlorenen Faden wieder zu finden.

Was passierte eigentlich am Tag, an dem Radu operiert wurde? Lange starrte ich den Monitor an und ging meine Erinnerungen durch…

*

Narciza und auch Idina, die Dienst auf der Krankenstation taten, hatten in dieser Nacht wenig zu tun. Deshalb legte sich Narciza gegen 24 Uhr in eines der Krankenbetten, um im Notfall sofort erreichbar zu sein. Narciza wohnte wie die meisten Betreuer im Schulgebäude, sie hatte dort ein Zimmer. Man brauchte, auch wenn man rannte, gute zehn Minuten von ihrem Zimmer bis auf die Krankenstation. Da Radu, kein Russisch konnte, wollte die Sanitäterin, einfach zusätzlichen Stress von den Buben fernhalten. Idina konnte nur wenige Brocken Rumänisch und genauso wenig Deutsch, war deshalb auf die Hilfe der sprachbegabten Narciza angewiesen. So war die Rumänin bei Problemen sofort zur Stellen. Es wurde eine ruhige Nacht, denn Radu schlief ruhig und ohne Schmerzen. Scheinbar hatte der Gedanke genügt, dass er ab morgen keine schlimmen Bauchschmerzen mehr haben würde. Der Atem des Jungen ging ruhig und gleichmäßig.

Auch Charlotte schlief das erste Mal, seit dem sie in der Schule war, tief und erholsam. Entweder war sie nun endlich auch angekommen, oder ihr Körper hatte sich einfach das genommen, was er brauchte, etwas Ruhe. Die beiden Schwestern, die während der Nacht bei den Kindern Wache hielten, registrierten das mit Erleichterung und hofften sehr, dass Charlotte endlich angekommen war. Nicht nur Dunja und Konrad, hatten sich ernsthafte Sorgen, um das Mädchen gemacht, sondern auch die beiden Sanitäterinnen. Da die kleine Deutsche, nun schon über eine Woche kaum etwas aß, musste auch hier langsam einmal Ruhe einkehren. Die Gesamtsituation, zerrte an den Kräften des zierlichen Mädchens, die Zusehens dünner wurde. Alle hofften sehr, dass endlich zur Ruhe eingekehrt war. Kurz nach 1 Uhr in der Nacht, wurde Charlotte zwar einmal kurz munter und hatte großen Durst. Idina gab ihr einen Pot zu trinken. Kaum dass sie den Tee ausgetrunken hatte, schlief sie einfach weiter. Das war ein sehr gutes Zeichen und bestätigte die Vermutung, dass Charlotte hier langsam Fuß fasste.

Am nächsten Morgen hatte auch Charlotte endlich begriffen, dass weder der Arzt, noch die Schwestern ihr etwas Böses wollten. Langsam öffnete sich die Kleine und nahm vor allem Hilfe an. Sie aß und trank, ohne sich zu Übergeben. Vor allem fanden die Schwestern heraus, warum die Kleine nichts essen wollte. Sobald, dick Butter auf der Schnitte war, lehnte sie diese komplett ab. Auch wenn Charlotte immer noch hochfiebrig auf der Krankenstation lag, sah man an diesem Öffnen, dass sie auf dem Weg der Besserung war. Das Mädchen sprach ab und zu leise mit den Schwestern und dem Arzt und bat vor allem selber um Hilfe. Das ließ die Hoffnung in allen wachsen, dass in den nächsten Tagen das Fieber endgültig verschwinden würde und man Charlotte von der Krankenstation entlassen konnte.

*

Konrad lief nach dem er sich von Narciza verabschiedet hatte, hinüber ins Büro der Projektleitung, um sich von Senko so genau wie möglich, berichten zu lassen, was dieser, mit der Mutter von Charlotte besprochen hatte.

Oberst Senko war immer noch völlig in Rage, über das Verhalten der Deutschen und gestand Konrad, dass er diese Charlotte am liebsten aus dem Projekt schmeißen würde. So viel Ärger hätte er mit keinem der anderen Kinder. Der Schularzt fragte den Projektleiter, was das Mädchen für das Verhalten ihrer Eltern könnte und bat ihn, seine Wut, die er verständlicher Weise auf Frau Dyba hatte, nicht auf das Mädchen zu projizieren. Schlussendlich gab Senko dem Arzt wieder einmal Recht. Aber das Verhalten von dieser Frau Dyba, regte den fünfundsechzigjährigen maßlos auf. Da diese Frau ihm überhaupt keinen Respekt zollte, etwas, dass der Oberst für den Tod nicht ausstehen konnte.

Konrad amüsierte das Verhalten seines großen Chefs sehr. Er hatte schon einige böse Auseinandersetzungen mit Senko in den letzten Monaten gehabt. Dadurch hatte er ihn wirklich gut kennen gelernt. Der Oberst war ein sehr strenger Chef, trotzdem hatte er Verständnis für Unarten seiner Mitarbeiter. Das war etwas Seltenes in der russischen Armee. Je höher die Offiziere im Rang stiegen, so die Erfahrung die Konrad während seiner militärischen Laufbahn gemacht hatte, umso verbissener und sturer wurden sie. Sie ließen andere Meinungen nicht mehr gelten, sondern beharrten auf ihrem Recht, Recht zu haben. Senko war da anders, er wurde zwar wütend, wenn man seine Vorschläge nicht so annahm wie er das vorstellte, aber er dachte über das Gesagte wenigstens nach, wenn man ihn oft genug auf die Füße trat. So konnte man mit viel Mühe, doch noch erreichen, was man wollte, wenn man nur hartnäckig genug blieb. Senko war schon etwas Besonders. Konrad mochte ihn von den russischen Offizieren am meisten, da er sich etwas Menschlichkeit erhalten hatte.

Freundlich verabschiedete sich der Arzt, von seinem Chef und teilte ihm mit, dass wenn er gebraucht würde, drüben im Haus 4 zu finden wäre. Er ermahnte ihn, dann auch Feierabend zu machen, da es schon mit riesen Schritten auf 21 Uhr zuging. Die beiden Männer verabschiedeten sich freundlich und Konrad verließ das Verwaltungsgebäude der Schule, in dem sich auch die Krankenstation befand, durch den Haupteingang. Lief an der linken Seite um das Gebäude herum und verließ das Schulgelände über das Tor 4, um das zweite Mal am heutigen Tag, zu den Petrows zu gehen. Endlich hatte er auch etwas Ruhe und konnte den Abend genießen.

Vielleicht hatte Anton Lust mit ihm eine Runde zu schwimmen, ging es dem Arzt durch den Kopf. Er könnte ein wenig Bewegung gebrauchen, denn morgen würde er wieder zu nichts kommen, da ihm ja die Operation des kleinen Rumänen bevorstand, den er dann nicht alleine lassen würde. Durch den Stress den die Kinder schon eine Woche ausgesetzt waren, konnte sich die Narkose, die er bei der Operation geben musste, negativ auswirken. Da wollte der Arzt lieber ständig in der Nähe seines Patienten bleiben. Von seiner Wohnung die ebenfalls auf der zweiten Etage des Verwaltungsgebäudes lag, war er in zwei Minuten bei dem Jungen. Er musste nur den Flur überqueren.

Keine achthundert Meter waren es zum Haus der Petrows, diese hatte Konrad in zehn Minuten zurückgelegt. Am Tor wurde er dieses Mal nicht aufgehalten, da er ja keines der Kinder bei sich hatte. Freundlich begrüßte er Dunja. Auch deren Eltern, Adam und Tasha, waren zum Abendbrot erschienen. Gemeinsam aß man und immer wieder kam das Gespräch auf Charlotte. Dunjas Eltern hatten sich am Nachmittag extra zurückgezogen, um die Kleine nicht schon wieder zu schocken. Konrad bedankte sich für diese Liebenswürdigkeit der beiden Rentner.

Der Arzt erzählte seinem Kollegen, was er von Senko über die Mutter und deren Verhalten erfahren hatte und teilte ihm seine Überlegungen mit. In den meisten Überlegungen stimmte ihm der Lehrer zu. Vor allem bat der Arzt Petrow, der ebenfalls Mitglied der Projektleitung war, sich um den Allergietest zu kümmern und er sprach diesen darauf an, ob er seine Beziehungen nutzen könnte, um einige Kontaktadressen in Deutschland zu heraus zu bekommen.

Petrow verschwand deshalb kurz, um mit seinem Bruder zu telefonieren. Nach einer halben Stunde konnte er dem Arzt, mit Gewissheit sagen, dass er in den nächsten Tagen genauere Daten zu Charlottes Eltern bekommen und man diese undurchsichtigen Deutschen etwas gründlicher durchleuchten würde. Da Petrow auch der Meinung war, dass hier irgendetwas nicht stimmen konnte. Dieses Projekt, da waren sich der Arzt und der Lehrer einig, diente nicht dazu, ungeliebte Kinder abzuschieben, weil man keinen Bock hatte, sich um diese zu kümmern.

Erfreut nun endlich etwas über das Mädchen in Erfahrung bringen zu können, beendete Konrad das Thema, indem er Petrow fragte, ob er Lust hätte noch eine kleine Runde im See zu schwimmen. Kurz darauf verließen die drei Männer den Raum, denn Dunjas Vater wollte die beiden begleiten, da er auch etwas Bewegung bräuchte. Es tat gut ein wenig zu schwimmen und sich mit Petrow und dessen Schwiegervater im Wasser zu balgen. Kurz nach Mitternacht, kamen die drei Männer zurück und Konrad verabschiedete sich von den Petrows. Nachdem er noch einmal nach dem Rechten auf der Krankenstation gesehen hatte, ging er schlafen.

Kurz nach 5 Uhr, weckte ihn Idina. Er frühstückte mit den beiden Schwestern und verließ kurz nach 6 Uhr mit Radu und Narciza, das Schulgelände, um den Buben den Blinddarm zu entfernen. Damit sein kleiner Patient endlich zur Ruhe kam.

Erfreut hatte er bei der Frühvisite festgestellte, dass Charlotte, nur noch 38,5°C Fieber hatte und endlich auch auf dem Weg der Besserung war.

*

Bei den Petrows war das Thema Charlotte allerdings noch nicht vom Tisch. Anton erzählte seiner Frau von den Gedanken die er sich im Laufe des Tages gemacht hatte und berichtete Dunja, dass er wahrscheinlich deren Eltern völlig falsch eingeschätzt hatte. Er ließ auch seiner Wut freien Lauf, die er auf diese unmöglichen Eltern hatte.

Anton kam immer wieder auf das eigenartige Verhalten der Mutter zu sprechen, als er am Bahnhof die Kleine in Empfang nahm und diese unglaubwürdigen Angaben im Fragebogen von Charlotte, die nichts mit der Realität zu tun hatten. Er gestand seiner Frau auch, dass er seinen Bruder darum gebeten hatte, diese Familie Dyba einmal richtig zu durchleuchten, um Klarheit über die Kleine zu bekommen. Auch war er Konrad dankbar, dass er heute die Möglichkeit bekam, Charlotte einmal unbeobachtet von den Kindern der Schule und den Betreuern kennenzulernen. Aus den Reaktionen des Mädchens, konnte er heute ganz andere Schlüsse ziehen, die ein rundherum positives Bild Charlottes zeigten. Er bat seine Frau deshalb, seine Beobachtungen in ihre Überlegungen einzubeziehen. Denn Petrow musste sich auch um die anderen Kinder in der Schule kümmern, denn Charlotte war nicht das einzige Kind mit akuten Problemen. Auch die russischen und rumänischen Kinder waren vollkommen mit der Situation überfordert. Nicht nur die großen Sprachschwierigkeiten der deutschen und rumänischen Kinder, stellten die Betreuer vor schier unlösbare Probleme. Man ging dazu über eine Mischung aus Deutsch-Russisch und Rumänisch-Russisch zu sprechen, da man sich nur auf diese Weise verständigen konnte. Die Betreuer redeten mit Händen und Füßen, genau wie die Kinder. Aber man begann langsam eine Vertrauensbasis aufzubauen und das war gut so.

*

Doktor Konrad der auch eine Ausbildung als Chirurg hatte und am folgenden Tag in die Klinik fuhr, um den Buben selbst zu operieren, überließ Charlotte den Schwestern. Dadurch hatte Dunja Zeit, sich intensiv, um ihr Sorgenkind zu kümmern. Konrad dagegen wusste Charlotte in guten Händen, dadurch stellte seine kurze Abwesenheit kein Problem dar. Die paar Stunden kam seine diensthabende Schwester, alleine mit dem Mädchen klar. Idina wurde von Dunja ins Bett geschickt, dass die ja Nachtwache hatte.

Dunja und Charlotte waren deshalb, alleine und völlig unbeobachtet, auf der Krankenstation. Endlich war die Temperatur der Kleinen etwas gesunken, sie hatte nur noch 38,7°C Temperatur. Das erste Mal seit Tagen, war sie unter 39°C gefallen. Diesmal war Charlotte über eine lange Zeit ansprechbar. Das war sie die vorangegangen Tage zwar auch, allerdings legte sie sich oft hin und schlief einfach wieder ein. Länger als eine viertel Stunde am Stück, war das Mädchen einfach nicht wachzuhalten. Zur Verwunderung Dunjas, die ja selber drei Kinder hatte und eine Menge Berufserfahrung besaß, war das Mädchen, trotz der immer noch hohen Temperatur, schon seit Stunden wach. Weder war Charlotte quengelig oder wehleidig. Schon die gesamte Woche, wunderte sich die russische Krankenschwester über das Verhalten von Charlotte. Nicht ein Wort sprach sie, im wachen Zustand, ohne dass man sie etwas fragte. Nur während des Schlafes, riefe sie, immer wieder weinend, nach einem Herr Bär und bat ihn, sie nicht alleine zu lassen: wie ihr Konrad, das Gesagte übersetzte.

Das Verhalten von Charlotte war sehr ungewöhnlich, bei fiebrigen Kindern. Dunja setzte sich auf das Bett von Charlotte und sang ihr einige Lieder vor. Nach über zwei Stunden endlich, fasste die Kleine etwas Vertrauen und taute auf. Wie oft hatten sie das diese Woche bei ihr erlebt. Auch wenn Charlotte ihr gestern etwas vertraut hatte, musste sie sich heute wieder beweisen. Wie oft wurde das Mädchen wohl schon enttäuscht, dass sie so wenig Vertrauen fassen konnte. In einer Familie, dass stand für Dunja fest, war das Mädchen nicht groß geworden.

Nach dem Frühstück holte Dunja ein Mensch-Ärgere-Dich-Nicht Spiel aus dem Regal, einfach um zu sehen, ob ihre Patientin so etwas überhaupt kannte. Erfreut stelle die Krankenschwester fest, dass sich Charlotte sofort im Schneidersitz hinsetzte und begann sich die roten Figuren aufzubauen. "Wenigstens das gemeinsame Spielen kennst du", ging es Dunja durch den Kopf.

Über eine Stunde spielten die Zwei und hatten eine Menge Spaß. Sogar lachen konnten beide. Auch wenn Charlotte die Sprache Dunjas nicht verstand und Dunja nicht verstand, was Charlotte sagte, lachten alle beide, weil Charlotte die Krankenschwester ständig herauswarf. Dunja ging so weit, dass sie so tat als ob sie weinte und wurde von Charlotte sogar getröstet, damit sie nicht mehr weinen sollte. Sie verstand, dass die Schwester nur Spaß machte und als sie ebenfalls geschmissen wurde, tat sie es der Schwester gleich. Endlich war das Eis gebrochen. Charlotte hatte begriffen, dass ihr Dunja nichts tun würde. Nach einer Stunde rieb sich das Mädchen immer öfter die Augen. Das lange Fieber hatte seinen Tribut gefordert. Deshalb fragte Dunja sie mit Zeichensprache und in der russischen Sprache, ob sie etwas schlafen wollte. Charlotte nickte und rollte sich, so wie sie es immer tat, einfach zusammen, um etwas zu schlafen. Dunja deckte die Kleine lieb zu und gab ihr, so wie sie es mit ihren Kindern auch immer machte, einen Kuss auf die Stirn.

„Spokoynoy nochi“, wünsche die Schwester ihr, was nichts anderes heißt als „Schlaf schön.“

 *

In diesem Moment knallte die Tür gegen die Wand der Krankenstation und einer der Betreuer kam herein gestürmt. Erschrocken fuhr Charlotte hoch, war sofort hellwach und zog sich in die äußerste Ecke des Bettes zurück. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen und schaltete sofort wieder auf völlige Abwehr. Ein Verhalten, dass Dunja schon einige Male mit Besorgnis, bei Charlotte festgestellt hatte. Sie verstand, dieses Verhalten eines fünfjährigen Kindes absolut nicht.

Fremdeln war ein typisches Verhalten von Kindern im Alter von acht Monaten bis zu anderthalb Jahren. Für solche "alte" Kinder, war es ein Zeichen, dass sie sehr misstrauisch gegenüber Erwachsenen waren und dadurch keinerlei gesundes Vertrauen, gegenüber fremden Personen aufbauen konnten. Ein Zeichen davon, dass Kinder entweder sehr isoliert gelebt hatten oder sehr oft enttäuscht wurden. Immer wieder einmal, hatte das Dunja während ihrer Zeit als Krankenschwester beobachtet. Das war ein typisches Zeichen für Heimkinder, die ständig nur mit ein und denselben Personenkreisen zu tun hatten. Dies war oft eine Panikreaktion dieser Kinder, die vertraute Personen nicht gehen lassen wollten und vor allem sehr schlechte und einprägsame Erfahrungen in dieser Richtung gemacht hatten. Auch beobachtete Dunja immer wieder, dass Charlotte sich nicht gern anfassen ließ. Sie in den Arm zu nehmen, um das Mädchen trösten zu können, ließ sie einfach nicht zu. Lieber kroch sie unter das Bett und schaukelte hin und her.

Dunja stand deshalb auf und lief auf den Betreuer zu, um ihn davon abzuhalten, einfach auf Charlotte zu zugehen. Sie hatte heute fast drei Stunden gebraucht, um das Mädchen etwas zu öffnen. Eigentlich wollte sie ihr damit nur Gutes tun, merkte aber sofort, dass Charlotte das völlig falsch interpretierte. Nun war es allerdings zu spät. Wieder einmal würde sie, im Anschluss, um das Vertrauen der Kleinen kämpfen müssen.

"Ivan, was kann ich für dich tun", erkundigte sich die Krankenschwester, auf Russisch, bei dem zukünftigen Nahkampftrainer der Kinder und jetzigen Betreuer.

"Die Kinder sind alle bei der Schur. Ich soll Charlotte holen, es werden keine Ausnahmen geduldet. Bei den Rumänen, haben wir schon Läuse, wir müssen das Eindämmen. Anweisung Senko, von unserm großen Boss", gab Ivan Ranjow bereitwillig Auskunft.

Der untersetzte und sehr muskulöse Ivan, hatte eine eisige Stimme und sprach im gewohnten Befehlston mit Dunja. Alleine diese Stimme reichte Charlotte, um sich völlig zurückzuziehen. Ängstlich wie sie war, verkroch sie sich in die äußerste Ecke unterm Bett und machte sich so klein es nur ging. Dunja die das im Seitenblick beobachtete, schüttelte leicht den Kopf. Sie wollte und konnte das nicht zulassen.

"Ivan, ich schneide Charlotte selber die Haare. Bitte, wenn du sie jetzt mitnimmst, zerstörst du alles, was wir in den letzten Tagen bei dem Mädchen erreicht haben. Ich verspreche dir, heute Abend sind die Haare runter. Auch wenn es mir in der Seele weh tut, dieses schönen Haare abzurasieren. Bitte bringe mir, wenn ihr in der Stube fertig seid, die Sachen einfach her. Doktor Konrad befahl mir, dass Charlotte auf der Krankenstadion bleiben soll. Nur Konrad kann dir die Erlaubnis geben, die Kleine mitzunehmen. Bis er wieder hier ist, gelten seine Befehlen! Egal, was ihr für Befehle habt. Sie hat immer noch hohes Fieber und ich soll Aufregung von ihr fern halten", ernst sah Dunja den Betreuer an, der als sehr grobschlächtig, unter den Lehrern galt.

"Ist mir egal, was Konrad sagt. Ich habe einen Befehl und den führe ich aus. Basta. Geh zur Seite", mit diesen Worten, schob er die Krankenschwester zur Seite.

Zielstrebig lief Ivan auf das Krankenbett zu, dass in der Ecke des Raumes unter dem Fenster stand. Er machte kurzen Prozess und schob das Bett einfach zur Seite. So wie Ivan die Reaktion der Kleinen vorausberechnet hatte, versuchte diese auszureisen, in dem sie versuchte, wieder unter das Bett zu kommen. Charlotte versuchte, mit einer unvorstellbaren Geschwindigkeit, im Schutz der Wand weg zu krabbeln. Ivan bückte sich nur kurz und erwischte Charlotte noch am Fuß. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass er dem Mädchen weh tat, zog er sie an sich heran und klemmte sie, wie ein Stück Vieh, unter den Arm. Als Dunja versuchte, das Mitnehmen, der jetzt wie am Spieß schreienden Charlotte, zu verhindern, schrie der Betreuer die Krankenschwester wütend an.

"Höre auf rumzuheulen, Dunja. Ich muss sie vorbringen. Das hier dauert mir alles viel zu lange. Dunja, ich habe da vorn noch vierundzwanzig andere Kinder, auf die ich aufpassen muss. Was soll das hier? Wir sind hier nicht im Urlaub. Zur Seite mit dir", energisch schob Ranjow Dunja weg und verließ mit der um sich tretenden und schlagenden Charlotte den Raum.

Kopfschüttelnd sah Dunja den Betreuer hinterher. Tränen stiegen ihr in die Augen, so konnte man nicht mit Kindern umgehen. Langsam konnte sie die Kleine verstehen, wenn diese schon einige solche Erfahrungen, in ihrem kurzen Leben gemacht hatte, dann war klar, warum sie Fremden gegenüber so misstrauisch war. Leider konnte die Schwester nicht verhindern, dass Ivan die Kleine mitnahm. Anton und der deutsche Doktor, hatte ihr extra gesagt, sie soll sich nicht gegen die Betreuer stellen, da sie durch ihre geringe Größe keine Chance hatte, gegen die durchtrainierten Soldaten. Der Krankenschwester zog sich das Herz zusammen, als sie kurz in die panischen Augen des Mädchens sah. Weinend lief sie nach vorn zum Schreibtisch, um ihren Mann anzurufen. Da ihr Mann allerdings in einer Besprechung war, in der Moskauer Akademie, konnte sie diesen nicht erreichen. Konrad war noch im OP und so konnte Dunja nur auf den Rückruf der Beiden warten.

*

Ivan hatte alle Hände voll zu tun, um Charlotte zu bändigen. Zweimal hätte es die Kleine fast geschafft, sich aus seinen Armen zu winden und wäre auf den Boden geknallt. Im letzten Moment konnte sie der Betreuer auffangen.

"Verdammt nochmal, höre auf", schrie er die Kleine auf Russisch an.

Das Anbrüllen verstärkte nur den Widerstand des Mädchens und sie wehrte sich noch mehr gegen ihren Betreuer. Mit dem schreienden Bündel Kind, dass er jetzt in eine Zwangshaltung genommen hatte, überquerte er den Hof und ging in das auf der rechten Seite liegende Schulgebäude, das etwas getrennt von der Krankenstadion lag. Charlotte schrie jetzt nicht nur aus Panik, sondern auch wegen der Schmerzen in den Armen. Dass Ranjow, dem Mädchen mit den nach hinten gedrehten Armen weh tat, war den erst dreiundzwanzigjährigen Kadetten der Moskauer Militärakademie völlig egal. Er kannte diese Umgangsformen aus eigener Erfahrung. Auch er hatte sich zu Beginn seiner Ausbildung mit Händen und Füßen gegen seine Betreuer gewehrt. Sein Vater, ein General der Sowjetischen Luftstreitkräfte, hatte ihn nicht gefragt, ob er zum Militär wollte oder lieber ein Arzt geworden wäre. Er befahl und er, Ivan, hatte zu gehorchen. Alles Toben der Kleinen würde ihr nichts helfen, je eher sie das begriff, umso leichter würde sie es auf der Schule haben. Das war auch der Grund, warum er so rigoros durchgriff und sie obwohl, er das gar nicht musste, jetzt zum Haare schneiden holte. Je eher die Kleine die Prozedur hinter sich gebracht hatte und aussah, wie alle anderen Kadetten, um so eher begriff sie, dass Widerstand zwecklos war. Dieses zärtliche Anfassen, was der Doktor hier durchsetzen wollte, würde es den Kindern nicht leichter machen, sich einzugewöhnen. Diese Charlotte, war das beste Beispiel dafür. Vor allem begriff sie dann, dass Widerstand gleichzusetzen mit Schmerzen war. Eine Erfahrung, die Ivan Ranjow sehr schmerzvoll lernen musste. Endlich hatte er das Zimmer der deutschen Kinder erreicht und befahl mit eisiger Stimme.

"Los Tonja, hier ist die Letzte. Mache hin, ich will endlich meinen Tee trinken", wies er seinen Untergeben Artemij Bobrow an.

"Halt sie gut fest, so kann ich ihr die Haare nicht rasieren", bat Bobrow seinen Freund und Saufkumpanen.

Die beiden kannten sich aus der MAM und waren zusammen in einer Klasse aufgewachsen. Ivan Ranjow war einer der besten Nahkämpfer, den Bobrow kannte und er hatte von seinem Freund, viele Stunden Nachhilfe im Nahkampf bekommen. Bobrow wollte einfach nicht kapieren, wie dieser Kampf Person gegen Person funktionierte. Er war ein ganz guter Schütze, aber Nahkampf war etwas, dass er einfach nicht konnte. Eins musste man Ivan Ranjow allerdings hoch anrechnen, wenn es darum ging jemanden den Nahkampf beizubringen, hatte er eine Engelsgleiche Geduld. Das rechnete Bobrow seinem Freund immer zugute, obwohl er mit dessen brutaler Art, oft nicht klar kam. Bobrow dagegen war ein brillanter Taktiker und konnte zu jeder Kampfsituation eine Lösung finden. Er würde hier an der Schule, den Kindern von klein auf Strategie und Taktik lehren. Erst durch Spiele und später, wenn die Kinder genug Russisch konnten, durch gezielten Unterricht. Bobrow hatte ein Händchen für die Kleinen und konnte gut auf Schüler zugehen. Das war der Grund, warum er hier auf dieser Schule trotz seiner erst 23 Jahre unterrichten durfte, obwohl er für kein anderes Ausbildungsfach tauglich war. Ranjow dagegen wurde hier als Lehrer eingesetzt, weil man ihm nachsagte, dass er keine Gnade kannte und im Nahkampf, einfach ein überzeugender Lehrer war. Trotz seiner Jungend, konnte er seinen Schülern mehr beibringen, als mancher der älteren Nahkampfasse, auf der MAM. Es gab im Kampf mehr als die üblichen Griffe, zählen tat nur der Sieg und Ranjow, hatte eine eigene Technik entwickelt, die einen beim Überleben im Kampf half. Als Lehrer im Nahkampf, war Ranjow eine Ikone. Menschlich war Ranjow, in Tonjas Augen, ein riesiges Arschloch. Schon als Kadett im ersten Schuljahr, zeichnete er sich dadurch aus, dass er durch pure Gewalt, gegen seine Kameraden vorging.  Ranjow, lernte sehr schnell, dass er nur durch Brutalität anderen Gegenüber und absoluten Gehorsam überzeugen konnte. Man hatte ihn auf der Militärakademie in Moskau gebrochen und sein ehemals sanftes Gemüt, völlig zerstört und ihn zu einem knallharten Kämpfer gemacht, der keinerlei Erbarmen kannte. Das alles ging Bobrow durch den Kopf, als er versuchte, Charlotte die Haare zu schneiden.

Das Mädchen wehrte sich dermaßen, dass Ranjow mit roher Gewalt, gegen die Kleine vorgehen musste. Er setzte sich auf den Hocker und stellte das Mädchen so vor sich, dass er mit seinen Beinen, ihre um sich tretende Beine umklammern konnte. Charlotte nur auf den Hocker zu setzen, wäre unmöglich gewesen. Er musste das Mädchen festhalten, sonst wäre sie ihm sofort entwischt. Ranjow drücke das Gesicht des Mädchens, mit brutaler Gewalt, gegen seinen Bauch und justierte mit seinen rechten Arm, ihren Oberkörper und drückte ihre hinter den Rücken zusammen gehaltenen Arme, in Richtung Nacken. Charlotte schrie vor Schmerzen auf.

"Ronja, halte ihren Kopf", wies Ranjow einen weiteren Betreuer an, ihm beim Bändigen des Mädchens zu helfen, da er Schwierigkeiten hatte, das Mädchen alleine zu halten. "Verdammt halte still, du kleines Biest", schrie er Charlotte an, die sich immer heftiger gegen drei Männer wehrte und immer lauter schrie.

Im Raum der deutschen Kinder, war es totenstill geworden, keines der anderen Kinder sprach einen Ton. Alle Kinder sahen mit vor Angst geweiteten Augen, auf die drei Männer und die sich immer heftiger wehrende Charlotte. Bobrow tat das Mädchen leid, vor allem riss es ihm die Seele aus dem Leib. Es schmerzte ihn mit anzusehen zu müssen, wie Ranjow mit der Kleinen umging. Deshalb beeilte er sich, so schnell es ging, mit der Schere erst einmal die Haare so gut es ging zu kürzen.

"Meine Haare ... meine Haare", brüllte Charlotte jetzt auch noch, unterbrochen, von ihren Angst und Schmerzschreien. Als sie bemerkte, was die Männer mit ihren Locken machten. Sie konnte sich wehren so viel so wollte, Charlotte kam gegen die Kräfte der Männer einfach nicht an. In ihrer Panik bullerte sie sich jetzt auch noch in die Hosen, weil sie nicht mehr an sich halten konnte. Nicht einmal fünf Minuten brauchte Bobrow, um die Haare grob zu kürzen, jetzt konnte er mit dem Rasiermesser die restlichen Haare von Charlottes Kopf holen. Mitten in der Rasur schrie Ranjow auf, da ihm das Mädchen in ihrer Verzweiflung in den Bauch gebissen hatte.

Wütend schrie er sie an. "Spinnst du jetzt total. Was soll das?"

Heftig schlug er auf Charlottes Hinterkopf ein. Dadurch rutschte Bobrow ab und schnitt ihr mit dem Rasiermesser in die Kopfhaut.

"Sag mal spinnst du Ivan. Soll ich die Kleine gleich umbringen. Halt sie gefälligst richtig fest, verdammter Blödmann", beschimpfte er seinen Freund.

So schnell es ging, entfernte Bobrow die letzen Haare und versuchte dann, die Blutung zu stoppen. Fertig damit, klebte er ein Pflaster auf die Wunde.

"Lass sie los", bat er Ranjow, um einiges freundlicher und darüber erleichtert, dass er mit der Kleinen fertig war.

"Verdammt hat die Kräfte. Schau dir das mal an, die hat mir den Overall zerbissen. Ich kann es nicht fassen. Die Kröte hat sie doch nicht mehr alle", schimpfte Ranjow und ließ Charlotte los, um sich den Biss an seinem Bauch anzusehen.

Charlotte rannte jetzt, endlich frei, weg von den Männern, die ihr so weh getan hatten und verkroch sich unter dem Bett, ganz hinten im Schlafraum: dort wo sie schon einmal geschlafen hatte. Am ganzen Körper zitternd und immer noch panisch schreiend, klemmte sie sich in die äußerste Ecke. Als ihr Ranjow hinterher wollte, wurde er von Bobrow aufgehalten.

"Ivan lass sie. Die Kleine muss sich jetzt erst einmal beruhigen. Hast du ihr Gesicht gesehen. Dieses kleine Mädchen ist völlig in Panik. Hast du ihr nicht erklärt, was wir hier mit ihr machen wollen?" Fragend sah Bobrow ihn an.

Ranjow schüttelte den Kopf. "Nein, warum auch, die versteht mich doch sowieso nicht."

"Echt Ivan, du bist der größte Blödmann, den ich kenne. Kannst du dir vorstellen, wie es der Kleinen jetzt geht. Stell dir mal vor, dass hätten die damals mit dir so gemacht. So kann man doch nicht mit Kindern umgehen", fassungslos blickte er zu seinem Freund, den er so manches Mal nicht verstehen konnte.

"Ist mir doch egal. Tonja, die kleine Kröte kann etwas erleben. Warte es ab, wenn ich sie noch mal in die Finger bekomme, der breche ich jeden Knochen einzeln. Die hat mich gebissen. Ich glaube es echt nicht. Schau dir das mal an. Alle Zähne, habe ich als Andenken von ihr auf meinem Bauch. Ich blute wie ein Schwein", fassungslos sah sich Ranjow seinen Bauch an und wollte sich Charlotte schnappen.

"Du bleibst hier. Das solltest du dem Doktor zeigen. Komm her ich desinfiziere es und mache dir erst einmal ein Pflaster drauf. Hab dich nicht so", befahl Bobrow und wollte den Freund davon abhalten, Dummheiten zu machen. "Ivan, bleibe hier. Du machst es noch schlimmer."

Ranjow jedoch ließ sich nicht aufhalten. Er war wütend auf die Kleine und musste seine Wut loswerden und wer war da geeigneter, als dieses kleine Miststück. So eine kleine Kröte, verletzte ihn nicht ungestraft. Mit roher Gewalt zog er das Bett über Charlotte weg und griff nach dem brüllenden Mädchen. Erwischte sie am Ohr und da das fast abriss, fasste er sie grob im Genick und zog sie sich einfach über sein Knie und schlug ihr einigen Male heftig auf ihren Hintern. Danach nahm er sie an den Armen und schüttelte richtig durch. Die gesamte Zeit schimpfte der Betreuer mit dem Mädchen auf Russisch, was diese ja gar nicht verstehen konnte und schmiss sie im Anschluss einfach vor sich auf den Boden, um nun noch nach ihr zu treten.

*

In dem Moment, als Ranjow begann auf Charlotte einzutreten, öffnete sich die Tür und Doktor Konrad kam in den Raum hereingerannt, schmiss seine Tasche auf das erst beste Bett und lief auf Ivan und das Mädchen zu. Frank Konrad blieb fast das Herz stehen, als er eins der Kinder, schon an der Einfahrt zum Schulgelände schreien hörte. Als der Arzt sah, was Ranjow mit dem Mädchen machte, ging er mit brutaler Gewalt dazwischen, indem er den Betreuer einfach mit einem linken Haken zur Seite stieß. Ranjow, der mit keinerlei Gegenwehr hier in diesem Raum rechnete, wurde von dem Angriff völlig überrascht und stürzte ungebremst auf das Bettgestell. Er knallte mit der Schulter, dass es nur so krachte auf das Gestell des Bettes.

"Spinnst du jetzt völlig Ivan. Willst du die Kleine umbringen? Drehst du jetzt völlig durch. Höre sofort auf, das Mädchen ist gerade einmal fünf Jahre", schrie Konrad schon beim Betreten des Raumes, den Betreuer auf Russisch an.

Charlotte die jetzt zusammengekrümmt auf den Boden lag und aus dem Mund, der Nase und dem rechten Ohr blutete, rührte sich nicht mehr. Eilig lief der Arzt zu der Kleinen, um sie gründlich zu untersuchen. Fassungslos sah er auf das zerschlagene Mädchen und hob sie vorsichtig hoch.

"Tonja, helfe mir. Nehm meine Tasche. Ivan, das hat für dich ein böses Nachspiel. Du verlässt sofort den Raum und dass ein bisschen Dalli", bat er um Hilfe.

Drohte Ranjow, im gleichen Atemzug eine Strafe an und schmiss ihn aus dem Raum.

Die Kinder im Raum hielten den Atem an, keines der Kinder sprach, weinte oder rührte sich. Völlig starr vor Angst, hatten sie sich in eine Ecke zurückgezogen und drückten sich aneinander. Viele hatten sich, wie Charlotte, vor Angst in die Hosen gemacht. Ängstlich und mit Entsetzen in den Augen, beobachteten sie zusammen diese Szene.

Ranjow hatte durch seine Handlung den Kindern gezeigt, was sie erwarten würde, wenn sie, so wie Charlotte nicht sofort gehorchten. Die Angst, die sich im Raum breit gemacht hatte, war körperlich spürbar. Auch wenn sie nicht alles verstanden, was hier geschehen war und gesprochen wurde, die Handlungen der Männer verstanden die Kinder sehr wohl. Das bisschen Vertrauen, dass einige von ihnen geschöpft hatte, wurde durch Ivans Handlungen, wieder komplett zerstört.

Konrad registrierte das nur im Unterbewusstsein, darum musste er sich später kümmern. Im Augenblick hatte er schlimmere Sorgen, er musste sich erst einmal um Charlotte kümmern, die es böse erwischt hatte. Notdürftig säuberten Dunja und Konrad das Mädchen und versorgten die Verletzungen, der Kleinen erst einmal provisorisch, auf der Krankenstation. Die Vitalwerte der kleinen Maus, wurden immer schlechter, so dass sich der Arzt mit der Notversorgung beeilen musste. Im Anschluss fuhr Konrad, mit Dunja und der verletzten Charlotte, dieses Mal jedoch mit Blaulicht und Sirene ins nahegelegene Krankenhaus, um das zweite Mal am heutigen Tag zu operieren. Er musste sie erst röntgen, erst dann konnte der Arzt mit Sicherheit sagen, was Ranjow, in seinem Wutanfall bei der Kleinen wirklich für Schaden angerichtet hatte.

*

Charlotte hatte großes Glück, im Unglück gehabt. Sie kam mit einigen Platzwunden, Prellungen und angebrochenen Rippen davon. Die schlimmste Verletzung allerdings war an ihrem rechten Ohr, das völlig zerstört wurde. Zum Glück war es zu keinem Schädelbruch gekommen. Wenn man bei solchen Verletzungen, überhaupt noch von Glück reden konnte. Das Mädchen war am Rücken, bis hinunter zu den Knien vollkommen mit Hämatomen übersät. Die davon zeugten mit welcher enormen Kraft, Ranjow auf das Mädchen eingeschlagen hatte und auch noch eintrat. Ebenso, war die gesamte rechte Körperseite blutunterlaufen und hatte eine riesige Platzwunden an der Hüfte, die durch Tritte hervorgerufen wurde. Genau wie an der Stirn des Mädchens eine riesige Platzwunde klaffte. Das äußere Ohr hing nur noch an einem Hautstück und das innere Ohr war vollkommen zerstört. Das rechte Knie war ausgerenkt und die Kniescheibe verschoben. Mehrere angebrochene Rippen hatte sie am Rücken und ihrer rechten Brustseite. Zu Konrads Erleichterung, stellte er fest, dass Charlotte wenigstens keine inneren Verletzungen oder schlimmen Knochenverletzungen am Kopf abbekommen hatte. Das war seine größte Angst. Wenn man von der schweren Gehirnerschütterung absah, die durch den harten Tritt des Betreuers entstanden war. Das Blut aus dem Mund, stammte zum Glück, nur von der durchgebissenen Zunge. Das Nasenbluten, so vermutete der Kinderarzt, wurde durch die Ohrenverletzung verursacht. Die Nase war zum Glück völlig in Ordnung.

*

Die größte Sorge bereitete Konrad die Tatsache, wie Charlotte reagieren würde, wenn sie wieder munter wurde und bei vollem Bewusstsein war. Fürs Erste, hatte er das Mädchen vollkommen ruhig gestellt, sie in ein künstliches Koma gelegt, um ihr Schmerzen und unnötige Aufregung zu ersparen.

Völlig aufgelöst, half Dunja dem Schularzt bei der Versorgung, der Verletzungen. Die Schwester gab sich die Schuld, dass das Mädchen jetzt so schwer verletzt war. Hätte sie sich nur intensiver bemüht, die Anweisungen ihres Chefs durchzusetzen, dann wäre die Kleine gar nicht verletzt wurden. Auch Konrad standen Tränen der Wut in den Augen. Er konnte nicht fassen, was er hier erleben musste. Er verstand die Handlungsweise des Betreuers nicht. Was konnte Charlotte Schlimmes getan haben, dass dieser dermaßen ausrastete. Konrad wurde Himmelangst und Bange, wenn er an die Zukunft der Kinder dachte. Der Arzt war sich darüber im Klaren, dass er früher oder später einmal, solche Art von Verletzungen behandeln musste, das blieb nicht aus, wenn man jemand im Nahkampf trainierte und an das Limit gehen wollte. Das allerdings ein Lehrer bereits in der ersten Woche, eins der Kinder derartig Krankenhausreif schlagen würde, hatte er sich nicht träumen lassen. Auch als Soldat, hatte man einen Kodex, den man sich verschrieben hatte und an den sich jeder normale Soldat hielt.

Am liebsten würde der Arzt sofort das Handtuch werfen und dieses, in seinen Augen, unmenschliche Projekt verlassen. Allerdings war ihm klar geworden, dass die Kinder ohne ihn keine Chance, auf eine faire Behandlung hatte. Petrow war der einzige Lehrer der sich intensiv für das Wohlergehen der Kinder einsetzte. Die anderen Lehrer befolgten stur die gegebenen Befehle.

Erleichtert fuhren Dunja und Konrad, mit der nun ordentlich versorgten Charlotte zurück in die Schule. Auch wenn Charlotte noch nicht wieder bei Bewusstsein war, konnte Konrad mit Gewissheit sagen, dass sie stabil war und in den nächsten vier bis sechs Wochen wieder genesen würde. Jedenfalls körperlich, würde sie dann wieder gesund sein. Was Ranjow seelisch alles in dem Mädchen kaputt gemacht hatte, konnte Konrad jetzt noch nicht beantworten. Dazu musste er warten, bis sie wieder bei Bewusstsein war. Allerdings würde er sie mindestens eine Woche ruhig stellen müssen. Durch die schwere Gehirnerschütterung, konnte er keine zusätzliche Aufregung mehr zulassen. Der Arzt war wütend auf die Betreuer, vor allem aber auf Ranjow. 

*

Nach dem man Charlotte in das Krankenbett gelegt und mit einem Flüssigkeitstropf versorgt hatte, ließ man das Mädchen schlafen. Um den Heilungsprozess für seine Patientin erträglicher zu gestalten, hatte er sich mit seinem russischen Kollegen aus der Klinik besprochen, dass er außer einem starken Schmerzmittel, auch ein starkes Beruhigungsmitte über den Tropf verabreichen sollte. Das sowieso schon völlig verstörte Mädchen, musste unbedingt ruhig liegen. Mit der schweren Gehirnerschütterung, die Charlotte hatte, war nicht zu spaßen. Sie musste also dafür Sorge tragen, dass Charlotte sich erst von den Verletzungen erholte, sonst würde sie für den Rest ihres Lebens, starke Kopfschmerzen zurück behalten.

Der Kollege aus dem nahegelegenen Krankenhaus fragte Konrad verwundert, während der OP-Saal für Charlotte vorbereitet wurde, mit was für einem Fahrzeug die Kleine einen Zusammenstoß gehabt hätte. Die Kleine sähe aus, als wäre sie von einem Panzer überfahren wurden. Als der Deutsche ihm dann wütend gestand, dass einer der russischen Betreuer die Kleine so zugerichtet hatte, konnte der russische Arzt ihm das kaum glauben. Konrad, der auch in der Zukunft dazu gezwungen war, oft mit der ortsansässigen Klinik zu kooperieren, entschloss sich deshalb, offen und ehrlich mit dem Kollegen zu sein. Konrad brauchte in der Klinik einige Belegbetten, um im Notfall sofort seine Patienten dort behandeln zu können. Es blieb dem Schularzt also nicht anderes übrig, als dem Russen, reinen Wein einzuschenken. Auch wenn er diesen an seine Schweigepflicht binden musste. Nicht alle Verletzungen, konnten auf der internen Krankenstation versorgen werden. Er hatte hier zwar einen kleinen Operationssaal, für die erste Notfallversorgung, aber keine Röntgenapparate oder Spezielle Gerätschaften für intensive Untersuchungen oder komplizierte Operationen. Dafür musste er mit seinen Patienten, ins Krankenhaus, dass ja nur wenige Fahrminuten entfernt lag. Fassungslos sah der Russe seinen deutschen Kollegen an und fragte Konrad, wieso er sich als Arzt, auf solch eine unmenschliche Sache eingelassen hätte. Bitter lachte der deutsche Kollege auf und fragte seinen Kollegen, ob er wirklich so verrückt aussehen würde, dass er diese Arbeit freiwillig verrichtete. Als der Russe mit den Schultern zuckte, weil er es weder bejahen noch verneinen wollte. Klärte ihn Konrad auf. Freiwillig hätte er sich niemals auf dieses Projekt eingelassen, sondern er wäre per Befehl hierher zitiert wurden. Als Arzt, der sein Medizinstudium, über das Militär finanziert bekommen hatte, bekam er leider keinen großen Spielraum. Ihm wurde befohlen, hier für vier Jahre Dienst zu tun. Die Option NEIN zu sagen, blieb ihm nicht. Wäre er ungebunden, hätte er es vielleicht gemacht, aber er hat Familie. Seine Frau und die beiden Kinder vierzehn und sechszehn Jahre, leben immer noch in Deutschland. Eine Alternative hatte er nicht, sonst würde er bestimmt nicht tausende Kilometer von zu Hause entfernt leben. Da beide Kinder ja Schulpflichtig wären, kam ein Umzug für seine Familie nicht in Betracht. Er würde sie also lange Zeit nicht sehen. Nur zweimal im Jahr bekäme er Urlaub, einmal im Dezember und einmal im Juli, für je einen Monat. Traurig sah Konrad seinen russischen Kollegen an. Das war nun mal beim Militär so. Aber er hätte die letzten zwei Monate auch bemerkt, dass seine kleinen Patienten jemanden bräuchten, der für sie kämpft, also würde er auch durchhalten, bis zum bitteren Ende. Egal, was noch alles passierte. Der Russe klopfte dem Schularzt, der ziemlich verzweifelt aussah, auf die Schulter und half diesen die Platzwunden, die Verletzung des Ohres zu nähen und vor allem, das ausgerenkte und verdrehte Knie zu richten. Konrad war dankbar für die Hilfe des Kollegen, so war die Versorgung von Charlotte, um vieles einfacher gewesen.

*

Erleichtert, dass das alles so gut ausgegangen war, versuchte sich der Schularzt, zu beruhigen. All die Gedanken, die ihm gerade durch den Kopf gegangen waren, trugen nicht gerade dazu bei, dass er ruhiger wurde. Der sonst immer ausgeglichene Arzt, lief wie aufgezogen, vor seinem Schreibtisch herum. Er musste sich unbedingt beruhigen, so konnte er nicht klar denken. Frank Konrad fuhr sich aufgeregt durch seine kurzen dunkelblonden Haare, die zu einer Bürste geschnitten waren, so wie es beim Militär üblich war. Der Arzt stützte sich schwer atmend, auf die Stuhllehne seines Stuhles und versuchte krampfhaft herunterzufahren. Auf dieses Weise konnte er nicht arbeiten. Als er bemerkte, dass er seine Emotionen so nicht in den Griff bekam, griff er zur Zigarettenschachten, um sich eine Karo anzuzünden. Er ging zur Balkontür, um diese zu öffnen und trat hinaus ins Freie. Mit den Rücken an die Brüstung gelehnt inhalierte er den Rauch seiner Zigarette. Langsam beruhigte er sich.

„Sag mal kann das wahr sein?“, wandte er sich an seine Kollegin, die schon eine Weile weinend auf den Balkon saß. Kopfschüttelnd sah er Dunja an.

„Es ist meine Schuld, ich hätte besser auf Charlotte aufpassen müssen“, gab die Schwester völlig geknickt zu. „Aber ich konnte sie nirgends erreichen, Genosse Konrad. Ich habe es so sehr versucht. Weder sie, noch Anton, noch Senko waren ihm Haus. Was hätte ich denn machen sollen“, versuchte sie zu erklären, warum sie nichts tun konnte.

„Dunja es ist nicht ihre Schuld. Ranjow hat völlig überreagiert. Nichts gibt ihm das Recht, die Kinder so zu behandeln“,  Konrad sah verlegen seine Pflegekraft an, auf die er sich schon seit über zwei Monaten stets verlassen konnte. „Sag mal Dunja, sind deine Kinder immer noch versorgt, wenn du hier bist? Könntest du einige Überstunden machen?“

Die Schwester nickte, immer noch kämpfte sie gegen ihre Tränen und sah traurig auf das Mädchen, mit dem sie vor wenigen Stunden so gelacht hatte. „Meine Mutter kümmert sich um die Kinder, wenn ich nicht da bin. Sie bleibt noch den ganzen Monat bei uns, bis sich hier alles eingespielt hat. Ich kann bleiben, müsste nur jemanden vorbeischicken, dass Mutter Bescheid weiß.“

„Das ist gut. Du bleibst dann erst einmal bei Charlotte. Ich muss zu Senko. Ich glaube mein Schwein pfeift gerade auf den letzten Loch.“

Als  Dunja ihn fragend ansah, bemerkte Konrad dass er Deutsch gesprochen hatte und übersetzte er das Gesagte auf Russisch. „Entschuldige Dunja, ich glaube, das wird mir noch öfters passieren. Manchmal merke ich gar nicht, dass ich Deutsch spreche. Ich verstehe Ranjow nicht. Hast du ihm nicht gesagt, dass Charlotte hier bleiben sollte?“, fragte der Arzt nun doch nach. „Erzähle mir bitte einmal genau, was hier los gewesen ist. Verdammt, ich habe Charlotte schon im Auto, als wir vorne durchs Tor gefahren sind, schreien hören wie am Spieß. Hatte ich dir nicht gesagt, sie soll hier auf Station bleiben.“

„Genosse Konrad, ich habe es Ranjow mehrmals gesagt. Auch, dass Charlotte noch immer hohes Fieber hat und dass ich den Befehl von ihnen bekommen habe, das Mädchen hierzubehalten. Ich komme doch gegen die Lehrer nicht an. Er schubste mich einfach zur Seite, ich wäre fast gestürzt und konnte mich gerade so abfangen“, erklärte sie ihrem Chef unter Tränen. „Was hätte ich denn machen sollen? Ich habe in allen Bereichen nachgefragt, ob jemand wüsste, wie man sie erreichen kann. Sogar im Krankenhaus habe ich angerufen. Die sagten mir, dass sie gerade losgefahren sind. Ich kann doch nicht gegen Ranjow kämpfen. Das schaffe ich doch nicht.“

„Dunja es ist nicht deine Schuld, höre auf zu weinen. So habe ich das auch gar nicht gemeint. Komm beruhige dich. Selbst ich hätte gegen Ranjow keine Chance gehabt. Ranjow ist ein Spezialist im Nahkampf. Dass ich ihn vorhin ausgeschalten konnte, war reines Glück. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich ihm eine verpasse. Ich begreife diesen Menschen einfach nicht. Wir machen es wie folgt. Du passt bitte auf Charlotte auf und lässt niemanden mehr an die Kleine heran. Das ist ein Befehl. Wenn etwas ist, rufst du oben auf der SECHSZEHN an, egal was ist“, tröstend nahm Konrad, Dunja in den Arm. „Komm höre auf zu weinen. Charlotte brauch dich jetzt umso mehr.“

Dunja versuchte sich zu beruhigen und nickte. „Geht klar, Genosse Konrad.“

Mit den Daumen wischte der Arzt, die Tränen seiner Mitarbeiterin weg und nickte. „Ich gehe mal hoch zum Chef, das kann eine Weile dauern. Rufe lieber einmal zu oft an, als dass hier noch einmal etwas passiert“, ermahnte er seine Kollegin und nickte ihr aufmunternd zu.

Endlich hatte sich der deutsche Arzt einigermaßen beruhigt. Er musste ja. Vorsichtshalber rief er seinen rumänischen Kollegen an, der unten bei seinen Kindern war und bat ihn, nach kurzer Schilderung des Vorgefallenen auf die Krankenstation. Dunja die das Gespräch ungewollt mithören musste, atmete erleichtert auf, sie bekam also Verstärkung und musste nicht alleine auf das kleine Mädchen aufpassen. Aufmunternd lächelnd nickte Konrad ihr nochmals zu und ging hoch zu Senko.

Dunja zog sich ein Stuhl an Charlottes Bett und beobachtet ihre Patientin eine ganze Weile. Davon bekam die Kleine allerdings nichts mit. Die Medikamente die ihr Konrad gab, würden dafür sorgen, dass sie eine ganze Weile tief und fest schlief. Nach einer Stunde stand Dunja auf, um die Krankenakte von Charlotte zu vervollständigen. Ständig unterbrach sie ihre Arbeit um nach ihren beiden Patienten zu sehen. Radu wie auch Charlotte schliefen an diesem Tag durch.

*

Oberst Senko, der erst vor wenigen Minuten aus Moskau zurückgekommen war, sortierte seine Unterlagen, als es an seine Tür klopfte. "Verdammt nochmal, können die mich nicht erst einmal ankommen und einen Tee trinken lassen", ging es Senko durch den Kopf.

"Herein, wenn es denn sein muss", gab er ungehalten zur Antwort. Als er den Kopf hob und sah wer den Raum betrat, schüttelt er wütend den Kopf. "Konrad, können sie mich nicht erst einmal ankommen lassen, bevor sie mich schon wieder wegen der Kinder nerven. Kommen sie Morgen früh, dann können wir alles regeln."

Senko versuchte den Arzt gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Er verstand diesen ja irgendwo. Ihm unterstanden fünfundsiebzig Kinder denen es zurzeit nicht sonderlich gut ging. Er hatte allerdings fast hundert Leute um die er sich kümmern musste und das war auch nicht ohne.

"Genosse Senko, ich würde sie jetzt unter Garantie nicht stören, wenn es nicht nötig wäre. Ich weiß sehr wohl, wie man sich benimmt", konterte der Arzt und konnte nur mühsam seine Wut unterdrücken.

"Konrad, was war denn schon wieder los?"

"Ranjow, Genosse Senko, einer der Nahkampftrainer schlägt eines der Kinder fast tot. Noch dazu das jüngste, zierlichste und wehrloseste Kind der Deutschen. Ist das ein Grund für sie, dass ich sie stören darf. Ich habe sie vor Ranjow gewarnt und ihn als unfähig für dieses Projekt eingestuft. Aber auf mich hört ja hier niemand", informierte Konrad ihn wütend.

"Wie was hat Ivan gemacht? Mal langsam und von vorn."

"Ivan zerrte Charlotte ohne meine Erlaubnis von der Krankenstation und schor ihr die Haare. Er gab ihr keinerlei Vorinformationen. Klar, dass sich das Mädchen da erschrocken hat, denn sie wusste ja gar nicht was los ist. Dunja bot ihm an, der Kleinen die Haare zu schneiden, so dass sie heute am Abend genau wie die anderen Kinder ohne Haare gewesen wäre. Aber nein, Ivan musste es auf die brutalste Art und Weise machen. Resultat dieser Aktion ist, dass alle deutschen Kinder völlig unter Schock stehen und gar nicht mehr ansprechbar sind. Denn Ivan musste sich vor den Kindern profilieren und zeigen, zu was er fähig ist. Laut Tonja lassen die Kinder niemand mehr an sich heran. Es geschah ein völliger Vertrauensbruch. Wir werden Tage brauchen, wenn nicht sogar Wochen, ehe wir das Vertrauen der Kinder zurück gewonnen haben. Charlotte liegt oben auf der Krankenstation im Koma, mit einem Schädelhirntrauma, zwei Serienrippenfrakturen, einem kaputten Ohr und einem kaputten Knie. In drei oder vier Tagen, hätten wir sie so weit gehabt, dass sie am laufenden Unterricht hätte teilnehmen können. Jetzt Senko wird es Wochen dauern bis sie überhaupt wieder einsatzfähig sein kann", Konrad versucht ruhig zu sprechen, was ihm allerdings, mit jeder aufgezählten Verletzung Charlottes, sichtlich schwer fiel. Ranjow hatte die Arbeit der Betreuer und auch seine Arbeit mit dieser Aktion völlig kaputt gemacht. So konnte der Arzt einfach nicht arbeiten.

Senko sah seinen Untergebenen fassungslos an. Da er in Moskau am heutigen Tag bei der Besprechung wieder einmal zusammengestaucht wurde und für den mangelnden Fortschritte der Kinder zur Brust genommen wurde, konnte er sich keinerlei Verzögerungen mehr leisten. Wie erschlagen ließ er sich auf seinen Sessel fallen und starrte seinen zu Recht wütenden Kollegen an.

"Was machen wir nun?"

"Schmeißen sie Ranjow raus. Er ist nicht der einzige Experte im Nahkampf, im Warschauer Pakt. Oder setzten sie ihn bei den Rumänen und Russen ein. Aber halten sie diesen Idioten von Charlotte und den deutschen Kindern fern, wenn sie nicht noch mehr solche Probleme haben wollen. Charlotte bleibt bis zu ihrer vollständigen Genesung auf der Krankenstation, danach sehen wir weiter, ob sie überhaupt im Projekt verbleiben kann. Das dauert mindestens vier bis sechs Wochen. Vor allem sorgen sie dafür, dass solche Vorfälle nicht mehr passieren. Ich muss runter zu den Kindern, mal sehen ob ich dort noch etwas retten kann. Vor allem bestrafen sie Ranjow ordentlich, damit er begreift, dass er so mit seinen Schützlingen nicht umgehen darf. Niemand hier im Projekt kann etwas für seine Vergangenheit und dass er mit seinem Leben nicht klar kommt."

Konrad drehte sich um und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal kurz stehen.

"Vor allem schicken sie ihn endlich zu einem Psychologen und zwar außerhalb des Projektes, damit er seine Aggressionen unter Kontrolle bekommt. Die nächsten zwei Wochen, will ich ihn hier im Projekt nicht sehen: weder im Speisesaal, noch in den Turnhallen. Sie wollen die Kinder einsatzbereit sehen, dann sorgen sie dafür, dass wir unsere Arbeit machen können und nicht ständig wieder bei null anfangen müssen."

Konrad sprach zwar leise, doch voller Wut und knallt hinter sich die Tür ins Schloss. Auf dem Flur versuchte er wieder ruhiger zu werden, so konnte er weder vor seine beiden Patienten noch vor die deutschen Kinder treten. Fast zehn Minuten brauchte der Arzt, um sich vollständig zu beruhigen. Noch während er auf dem Flur stand, kam ihm Ranjow im Laufschritt entgegen gelaufen und betrat den Raum des Projektleiters, in dem es sehr schnell laut und danach ungewohnt ruhig wurde.

Der Arzt stieß sich von der Wand ab und lief nach oben in den zweiten Stock und auf die Krankenstation. Als erstes sah er nach Radu, der tief und fest schlief. Zum Glück hatte der Bub die Operation gut überstanden und seine Vitalwerte waren gut. Narciza kümmerte sich rührend um den Kleinen. Sie schielte aber ständig nach hinten zu Charlottes Bett, wo das Mädchen verbunden und mit Schläuchen übersät lag. Mittlerweile hatte sich das Gesicht der Kleinen, soweit es nicht verbunden war, dunkelblau verfärbt und Dunja die sich um die Patientin kümmerte, war ständig am Weinen.

"Doktor, was ist denn mit der Kleinen passiert?"

"Später", kam die kurzangebundene Antwort von Konrad. "Dunja komm höre auf zu weinen. Es bringt Charlotte nichts, wenn du dich so fertig machst. Du hättest es nicht verhindern können. Nicht einmal ich wäre dazu körperlich in der Lage gewesen", tröstet er die Krankenschwester.

Da alles nichts half und sich Dunja überhaupt nicht mehr beruhigen konnte, ging er noch einmal zu seinem Schreibtisch und rief Idina und Petrow an. Er bat beide auf die Krankenstation.

Dann erst ging er zu Charlotte und kontrollierte die Vitalwerte und den Wundfluss der Kleinen.

Petrow und Idina waren innerhalb weniger Minuten auf der Krankenstation. Konrad nahm sich die Schwestern und Petrow zur Seite und unterrichtete sie über die Geschehnisse der vergangenen Stunden. Dann entließ er Dunja nach Hause, die völlig aufgelöst war und übergab die Betreuung der kranken Kinder an Idina und Narciza.

Eilig beendete er die kurze Dienstbesprechung und ging nach unten ins Zimmer der Deutschen Kinder. Was er dort erlebt, brachte ihn an die Grenze des Ertragbaren. Der Arzt und Petrow konnten nicht fassen, was Ranjow durch sein Verhalten ausgelöst hatte.

*

*** Die Angst ist greifbar ***

***

Heftig setzten mir diese Erinnerungen zu. Müde rieb ich mir das Gesicht. Irgendwie spürte ich heute noch diese Angst und die Schmerzen, die ich damals erlitten hatte. Ich konnte das, was damals geschehen war, einfach nicht verdrängen und es hatte mich für den Rest meines Lebens geprägt. So viel war danach noch passiert und trotzdem, holte mich dieses Erlebnis immer wieder ein. Auch nachts, wenn ich schlief. Es war nicht nur der Schmerz, den mir Ivan zufügte, der mir so zu schaffen machte, sondern dieses nicht Verstehen können, warum. Vor allem aber der völlige Vertrauensbruch, den ich damals erlitt. Mein sowieso gestörtes Verhältnis Fremden gegenüber, wurde noch mehr durch Ivans Verhalten geprägt.

Es war nicht das Haare schneiden allein, dass mir so zu schaffen machte. Sondern das wie. Irgendwann in meiner Kindheit, hatte ich akzeptiert, dass man uns die Haare schor. Es hatte auch seine Vorteile. Ich hatte nie Frisuren Probleme. Vor allem tat mir das Haare kämmen nie mehr weh. Wie denn auch, wenn da keine Haare waren.

Als ich nach Deutschland zurück kehrte, dauerte es ziemlich lange bis ich anfing meine Haare nicht mehr völlig abzurasieren. Gewohnheitsgemäß nahm ich immer ein Messer mit zum Duschen und rasierte mir die Haare bis auf die Kopfhaut ab. Ich glaube, erst nach vielen endlosen Diskussionen mit meinen Kollegen, ließ ich meine Haare etwas wachsen und ließ mich auf einen Kurzhaarschnitt ein. Es war etwas Ungewohntes für mich, solch langes Haar zu haben.

Damals, glaube ich heute zu verstehen, brach mir das Herz, als man mir einfach meine Haare nahm. Ich kann nicht einmal genau erklären, warum? Für mich waren meine Haare wie ein Körperteil, den man mir einfach abgetrennt hatte. Sie gehörten zu mir, sie waren ein Teil von mir. Diese Körperverletzung, die man mit äußerster Gewalt an mir verübte, brach meine Seele. Man nahm mir damit mehr, als nur meinen Stolz. Nach dieser Aktion Ivans, war ich ein anderer Mensch, nicht nur äußerlich, sondern auch tief in mir drin. Es war, als hätte jemand die Verbindung, zu meinen vorherigen Leben durch geschnitten.

Ich würde nicht einmal behaupten, dass es besser gewesen wäre, wenn man mir vorher gesagt hätte, dass man mir meine Haare abschneiden muss. Der Schock wäre der Gleiche geblieben. Denn auch meinen Kameraden ging es nicht anders als mir. Viele Jahre später, haben wir uns in der Gruppe einmal über dieses Thema unterhalten: Wie es für die anderen war, wie sie dieses Haare abschneiden empfunden hatten? Ich weiß gar nicht mehr wie wir damals darauf kamen, wir waren so um die zehn Jahre alt. Auch für die anderen war es ein Schock, für die Mädchen brach eine Welt zusammen, aber auch die Jungs hatten ihre Probleme damit, auf einmal mit einer Glatze herumzulaufen.

Doktor Konrad hat mit mir immer wieder über solche Vorfälle gesprochen. Er wollte wissen, warum ich so heftig reagiert hatte. Warum ich mich so verbissen gewehrt habe und schließlich Ivan sogar in den Bauch gebissen hatte. Vor allem wie ich das geschafft habe, einen Mann mit einer gut durchtrainierten Bauchmuskulatur, blutig zu beißen. Ich konnte diese Frage nie wirklich beantworten.

Auch heute überlege ich noch, wie ich das hinbekommen habe. Einen Overall durchzubeißen, war gar nicht so einfach. Wie sehr muss mich Ivan Ranjow an sich gedrückt haben, um mich zu justieren, dass ich ihn derart beißen konnte. Ich verstehe es einfach nicht. Ich weiß noch wie heute, dass ich kaum atmen konnte, da mir Ranjow ja mit dem an sich heran drücken, regelrecht die Luft nahm. Irgendwann war meine Atemnot so groß, dass ich ein Loch in das beißen wollte, was mich am Atmen hinderte. Das war nun mal der Mann der mich festhielt.

Was ich allerdings verstehe, ist die Tatsache, warum es für mich so schlimm gewesen ist, meine Haare zu verlieren. Ich hatte solange ich denken konnte, lange Haare und habe diese immer gepflegt. Das klingt komisch für ein Kind mit fünfeinhalb Jahren. Bei mir standen die Haare für mehr, als nur gutes Aussehen. Meine Freundin Dodo aus der Woki, hat mir immer meine Haare gebürstet und geflochten, jeden Abend und jeden Früh. War sie einmal nicht da, machte das eine der Tanten, meistens Tante Walli. Diese langen Haare waren für mich ein Symbol für menschliche Nähe und Geborgenheit. In der Zeit, wo meine Haare gepflegt wurden, war ich nicht alleine und ich bekam die ungeteilte Aufmerksamkeit. Dieses Abschneiden so vermute ich heute, war das Besiegeln der Tatsache, dass ich nun ganz alleine war und nie wieder jemand kommen würde und nur für mich da sein würde. Ich glaube, das war das Schlimmste, das man mir damals antun konnte.

Ich war schon immer viel alleine, das hatte mich nie sonderlich gestört. Ich war schon als Kind ein Einzelgänger, der sich gut mich sich selber beschäftigen konnte. Aber es gab einige Sachen, um dich ich die anderen Kinder beneidete. Die Anderen wurden von ihren Eltern abgeholt, aber ich nie. Die Anderen hatten ein Zuhause, aber ich nie. Die Anderen hatten eine Mama die sie liebte, aber ich nie. Die Anderen wurden immer gut behandelt, aber ich nie. Jedenfalls nicht auf diese Art. Ich kann endlos Dinge aufzählen, die die Anderen hatten und ich auch gern gehabt hätte, aber nie bekam.

Das Einzige, was die Anderen nicht hatten, aber ich, waren meine Haare. Um diese langen blauschwarzen Schillerlocken, haben mich die anderen Kinder und auch viele Erwachsene, immer beneidet und auf die war ich stolz. Ja, ich glaube das ist es. Ich war fünfeinhalb und ich fing gerade einmal an, ein bisschen, was in der Welt um mich herum geschah, zu verstehen und dann kam dieser Mann, nahm man mir meine Geborgenheit, meine Zuwendung und schnitt mit den Haaren, auch meinen Stolz einfach ab. Man konnte das anderen Mensch nur sehr schwer erklären, wenn der Gegenüber so etwas nie erlebt hatte.

Ich vermisse heute meine langen Haare nicht mehr. Im Gegenteil, ich liebe meine kurzen Haare, sie sind pflegeleicht und ich bin in einer Minute fertig, nach den Duschen. Noch heute trage ich meine Haare zu einer acht Millimeter Bürste geschnitten. Damals jedoch war das anders. Mit dem Verlust meiner Haare, hielt eine unendliche Leere in mir Einzug. Ich weiß selber, dass das dramatisch klingt, aber es fühlt sich heute noch so an. Jemand der das nicht kennt, denkt wahrscheinlich, mein Gott es sind nur Haare, die wachsen wieder. Aber so einfach war das damals nicht für mich. Selbst Dunja, Narciza und Idina kümmerten sich um meine Haare. Sie kämmten sie und waren für zehn Minuten nur für mich da. Ich bekam die Körperwärme eines anderen Menschen zu spüren und konnte mit diesem Menschen kuscheln. Es waren nur zehn Minuten, aber diese wenigen Minuten am Tag brauchte ich, um gegen diese eisige Kälte in mir anzukämpfen.

*

Lange starrte ich auf den Monitor, meines Laptops und suchte nach einer Möglichkeit weiterzuschreiben. Es war schwierig für mich, die darauffolgenden Wochen zu erzählen. Denn viel weiß ich davon nicht. Ich lag oben auf der Krankenstation und schlief, während Doktor Konrad und die Betreuer im Raum "Nemetskiy", versuchten das verloren gegangene Vertrauen wiederaufzubauen. Alles was ich davon noch weiß, erfuhr ich später von meiner besten Freundin und Doktor Konrad. Deshalb ist es schwierig darüber zu berichten und ich werde dies auch sehr kurz halten.

*

Die Stille, die aus dem Raum "Nemetskiy" strömte, verwunderte Konrad sehr. Auch wenn es in den vergangenen Tagen, nie sehr laut war, man hörte stets ein leises Gemurmel. Am gestrigen Tag, erklang sogar ab und zu einmal ein Lachen. Man war auf den besten Weg gewesen, das Vertrauen der Kinder zu erlangen. Wie viel Zeit und Mühe hatten die Betreuer in die Kinder gesteckt, um dieses bisschen Vertrauen aufzubauen und nun war alles wieder zerstört. Im Augenblick als der Arzt die Tür öffnete, hätte man eine Nadel auf dem Boden aufschlagen hören, wie einen Donnerschlag. Die Kinder drängten sich in der hintersten Ecke des Raumes zusammen und atmeten vor Angst kaum noch.

In der Zeit in der Charlotte versorgt wurde, hatten Tonja und der Hausmeister zwar das Blut aufgewischt und das Bett von Charlotte wieder an seinen Platz gestellt und wieder ordentlich hergerichtet. Das war allerdings die einzige Normalität die in dem Raum eingekehrt war. Die von Tonja herbeigerufenen Betreuer und Hilfskräfte, hatten über Stunden hinweg versucht, die Kinder aus der Ecke zu bekommen. Jedoch vergeblich, die Kleinen rührten sich nicht vom Fleck. Sie verweigerten sich vollkommen und mittlerweile, hatten sich alle Kinder eingenässt. Näherten sich die Betreuer den Kindern, auch nur eine Handbreit, fingen diese sofort an zu schreien. Die Angst die in diesem Zimmer herrschte, war körperlich spürbar.

Seit einer Ewigkeit weinten die Kinder still vor sich hin und hatten sich eng aneinander geschmiegt, auf den Boden gesetzt. In dem Raum roch es nach Erbrochenen und Urin, in dem die Kinder saßen. Denn keines der Kinder traute sich die schützende Ecke und die Gemeinschaft der Gruppe zu verlassen.

Sobald sich jemand den Kinder näherte, fingen diese an, sich noch mehr in die Ecke zu drängen und ihre Blicke wurden immer panischer. Also beschlossen die Betreuer sich zurückzuziehen, in der Hoffnung, dass die Kinder von selber wieder aus der Ecke kommen würden. Das geschah allerdings nicht. Deshalb schickte man immer wieder nach Doktor Konrad, dem einzigen Mitarbeiter der Schule, der fließend Deutsch sprach und vor allem, gut mit den Kindern klar kam. Weder der Arzt, noch Petrow, noch Narciza waren in der Schule zu finden oder auf irgendeine Art zu erreichen. Alle diejenigen, die Deutsch sprachen, waren nicht aufzutreiben.

Da der Doktor erst in der Klinik war und dann bei Senko, konnte er sich erst einmal nicht um die Kinder kümmern. Außerdem musste sich der Schularzt erst einmal beruhigen, so konnte er nicht vor die Kinder treten. Die Betreuer hofften, dass Konrad einen Weg finden würde, die Kinder zu beruhigen und ihnen das Geschehene zu erklären.

*

Als der Arzt den Raum betrat, bekam er einen Schock. Vor fast neun Stunden, hatte er mit der zusammen geschlagenen Charlotte den Raum verlassen und die Kinder saßen immer noch an derselben Stelle, in einer Schockstarre gefangen. Konrad könnte schreien vor Wut. Das was Ranjow den Kindern angetan hatte, war nicht wieder gut zu machen. Dieses Erlebnis würden die Kinder, nicht nur die kleine Dyba, ihr Leben lang belasten. Verdammt wie sollte er das wieder gerade biegen. Hier würde er mit ganz viel Geduld und vielen Gesprächen arbeiten müssen, wenn er bleibenden Schaden verhindern wollte.

Langsam lief er auf die Betreuer zu und er sah, wie die Kinder ihn mit den Augen verfolgten, die Panik darin, sprach Bände.

"Bobrow", sprach er Tonja auf Russisch, mit leiser Stimme an. Am liebsten wäre er mit Fäusten und Schlägen auf ihn losgegangen. Aber das konnte man später alles klären. Deshalb zwang er sich mit ruhiger Stimme und zum leisen Sprechen. "Bitte, geh mit allen Betreuern, die bei der Schur dabei waren, erst einmal aus dem Zimmer. Ich möchte euch hier heute nicht mehr sehen. Vielleicht, kann ich auf diese Weise versuchen, hier mal einiges zu klären. Dabei kann ich niemanden Gebrauchen, der den Kindern vorhin weh getan hat, sie angebrüllt hat oder der bei der Sache mit Charlotte dabei gewesen ist. Raus mit euch. Mir reicht schon wieder, was ihr hier alles verbockt habt", scheuchte er alle, die an der Schur beteiligt waren, aus dem Raum.

Tonja hatte in seiner Verzweiflung, die Betreuer aus dem Zimmer der Rumänen um Hilfe gebeten, da er alleine der Lage in diesen Raum nicht mehr Herr werden konnte. Er war genauso verzweifelt wie der Schularzt. Vor allem aber machte er sich riesige Vorwürfe Ivan nicht mehr daran gehindert zu haben, das kleine Mädchen zu misshandeln. Nur kam seine Einsicht zu spät. Deshalb zog er sich mit allen Betreuern, sofort ohne Wiederworte, aus der Stube "Nemetskiy" zurück.

Jetzt waren nur noch die drei rumänischen Helfer in der Nähe der Kinder, von denen keiner ein Wort Deutsch konnte. "Ihr Drei seid bitte so liebe", wandte der Arzt sich an die verbleiben Rumänen. "Und legt den Kindern Handtücher und trockene Sachen auf die Betten. Das müsste alles in den Spinden sein, sonst holt ihr von euren Kinder Sachen in diesen Raum. Versucht bitte, den Kindern möglichst nicht zu nahe zu kommen. Ignoriert sie am besten, auch dann, wenn sie anfangen sollten zu schreien", bat er die Betreuer auf Rumänisch, ihm zu helfen. "Dann zieht ihr euch soweit es geht, von den Kindern zurück. Es wurde heute genug Schaden angerichtet. Bleibt bitte alle im Raum, ich weiß nicht, wann ich eure Hilfe benötige. Das kann heute ein wenig dauern, ich muss erst das kaputte Vertrauen der Kinder reparieren, wenn das überhaupt noch möglich ist. Dass dauert nicht nur fünf Minuten. Hier wurde viel zu viel Porzellan zerschlagen."

*

Konrad raufte sich ohne Unterlass die Haare. Er war ebenfalls der Verzweiflung nahe. Petrow hatte mit den Betreuern zusammen, ebenfalls das Zimmer verlassen, um von denjenigen Betreuern, die bei der Schur anwesend waren, eine genaue Schilderung über das Vorgefallene zu erhalten.

Das was heute geschehen war, musste ernste Konsequenzen für alle Beteiligten haben. Die Betreuer hatten genauste Anweisungen bekommen, wie sie mit den Kindern umzugehen hatten. In der gestrigen Dienstbesprechung, die noch keine zwölf Stunden her war, wurde der genaue Ablauf der Schur besprochen. Als erstes sollten sich die Betreuer ihre Haare abrasieren lassen, dann sollten die Jungen geschoren werden und erst zum Schluss die Mädchen. Damit sich diese auf die Schur vorbereiten konnten. Für die Mädchen, die fast alle langes Haar hatte, war das ein einschneidendes Erlebnis. Aber man musste die Ausbreitung der Läuse-Epidemie an den Wurzeln packen und unbedingt eine Weiterverbreitung verhindern, sonst bekamen sie dieses Problem nicht in den Griff. Allerdings hatten alle Betreuer der deutschen Kinder, noch ihre Haare auf dem Kopf. Sie waren der genauen Anweisung, die er gestern in der Dienstbesprechung gegeben hatte, also nicht gefolgt. Komischer Weise, gab es bei den Rumänen und Russen keinerlei Probleme, denn die Betreuer aus diesen beiden Stuben, waren der Dienstanweisung entsprechend vorgegangen. Petrow war in allen beiden Kinderzimmern, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Keins der dortigen Kinder war verstört oder verletzt. Radu, der kleine Rumäne mit dem Blinddarm, würde man, sobald er von der Krankenstation entlassen werden konnte, ebenfalls die Haare abrasieren. Genauso wie es für die kleine Charlotte geplant war. Warum hatte es also im Raum der deutschen Kinder nicht geklappt? Die Befehle waren die gleichen und wurden klar und deutlich ausgesprochen. Der Abteilungsleiter für die Rekruten und die Nahkampflehrer, konnte doch nicht alle Befehle die er gab überprüfen und kontrollieren, dann würde er mit seiner eigentlichen Arbeit gar nicht mehr um die Runden kommen. Er war für alle Materialien, die in der Schule benötigt wurden verantwortlich. Aber auch für die genaue Stundenplanung und Tagesabläufe. Er musste, ob er wollte oder nicht, Verantwortung abgeben. Wie sonst sollte er das alles unter einen Hut bekommen, wenn er jeden seiner Befehle auch noch kontrollieren musste.

Wütend schaute er die Betreuer der Stube "Nemetskiy" an, die richtigen Bockmist gebauten hatten. "Mitkommen, alle ins Besprechungszimmer, nu davay", was so viel wie komm macht hin, bedeutete.

Den Betreuern war anzusehen, dass ihnen Himmelangst und Bange wurde, so wütend war ihr Vorgesetzter in den letzten acht Wochen noch nie geworden. Sie machten sich auf das Schlimmste gefasst.

In dem Moment, als sich die Tür vom Zimmer der Deutschen öffnete und der Arzt nach Petrow rief, ging die Gruppe geschlossen los. Dem Abteilungsleiter war klar, dass der deutsche Arzt, ein riesen Problem hatte. Wie sollte er sich zeitgleich mit vierundzwanzig Kindern alleine arbeiten. Weshalb er sich Petrow zu Hilfe holen wollte, um wenigstens noch eine Person in seiner Nähe zu wissen, die einigermaßen Deutsch sprach. Petrow jedoch war so wütend auf seine Mitarbeiter, dass er dem Arzt versprach sofort zu kommen, nach dem er sich seine Untergebenen vorgeknöpft hatte. Er wollte und musste verhindern, dass sie sich gegenseitig absprachen und Rückendeckung gaben. Vor allem musste er einige disziplinarische Maßnahmen sofort durchsetzen, um eine Wiederholung solcher Missstände und Befehlsverweigerungen in Zukunft zu vermeiden. Das war genauso wichtig, wie der Wiederaufbau des Vertrauens der Kinder. Sonst würden solche Sachen in Zukunft immer wieder geschehen.

*

Konrad war also auf sich alleine gestellt, mit den Kindern und mit seinen Problemen. Er würde vorerst keine Hilfe bekommen im Raum der Kinder. Vorsichtig lief er Schritt für Schritt auf die deutschen Kinder zu, immer auf die Reaktionen der Kinder achtend.

"Kinder, ihr kennt mich doch alle. Ihr wisst, dass ich euch nicht weh tun würde", versuchte er an das Vertrauen anzuknüpfen, dass er schon einmal von den Kindern bekommen hatte. Aber er sah in dem Verhalten der Kinder, dass selbst das Vertrauen zu ihm, bis in die Grundmauern zerstört war. Obwohl er mit der Sache die hier passiert war, nichts zu tun hatte. Wachsam beobachteten die Kinder, den Arzt und verfolgte jede seiner Bewegungen. Je näher er an die Gruppe herankam, umso größer wurden die Angst und die Panik in den Augen der Knirpse.

Kurz entschlossen setzte sich Konrad, dort wo er gerade gestanden hatte, auf den Boden. Schon deshalb, um die Kleinen nicht noch mehr in die Ecke zu treiben. Hier half jetzt nur eins, er musste versuchen sechs- und siebenjährigen Kindern, in verständlichen Worten zu erklären, was geschehen war und das mit sehr viel Feingefühl und noch mehr Geduld.

"Kinder habe ich euch schon einmal weh getan?", stellte er die in seinen Augen wohl wichtigste Frage, an die zitternde Gruppe.

Lange sah der Arzt die Kinder an und wartete auf eine Reaktion. Fast eine halbe Stunde, musste er warten, bis der erste seinen Kopf schüttelte und einigen andere wenigstens mit den Schultern zuckten.

"Da bin ich aber froh", gestand er ehrlich, da er einige der Kinder ja spritzen musste und die ihm das als Schmerz anrechnen konnten. "Was vorhin, hier im Zimmer geschehen ist, war absolut nicht in Ordnung. Empfindet ihr das auch so?"

Wieder dauerte es eine Ewigkeit, ehe eine Reaktion von den Kleinen kam. Einer der mutigsten in der Gruppe war Sebastian Schulze, einer der ältesten in der Klasse mit seinen fast sieben Jahren, wollte er die kleineren Kameraden beschützen.

"Man darf niemanden hauen", kam kaum hörbar von ihm und er drückte die jüngeren hinter sich an die Wand. "Der Mann ist böse", sprach er jetzt mit etwas lauterer Stimme und einem Anflug von Trotz. Zog aber sofort den Kopf ein. Ihm war klar, dass er auch gleich Schläge bekommen würde, weil er so vorlaut war.

"Ich werde euch nicht verhauen, Sebastian. Du musst dich vor mir nicht fürchten", versicherte der Arzt dem Jungen. "Ich würde nie jemanden mit Absicht weh tun. Das kann ich euch bei meinem Leben schwören. Na ja, ab und an mal eine Spritze, die wird sich nicht vermeiden lassen, aber nur wenn es sein muss. Sebastian, ich bin Arzt. Ich bin da um euch zu beschützen", offen sah er zu den Kindern hinüber. "Wisst ihr, wenn ich vorhin da gewesen wäre, dann hätte niemand der kleinen Charlotte weh getan." Wieder sah der Arzt seine kleinen Patienten offen an. "Aber sag mir einmal, Sebastian", wandte sich Konrad wieder an den Jungen. "Was hätte ich deiner Meinung nach machen sollen. Ich war mit Radu, einem der rumänischen Kinder, im Krankenhaus. Dort musste ich ihn mit einem Auto hinbringen, weil er schlimmes Bauchweh hatte. Im Krankenhaus habe ich seinen Bauch heile gemacht. Ich hätte dem Mädchen nicht helfen können. Ich war ja gar nicht auf der Krankenstation, als Ivan die kleine Charlotte geholt hat", ernst sah er den Jungen an, der sich tapfer vor seine Kameraden gestellt hatte. "Als ich hörte, dass jemand schreit, bin ich so schnell ich konnte, zu euch gekommen. Ich kam gerade vom Krankenhaus mit Radu. Nicht einmal ins Bett konnte ich den kleinen Jungen legen, obwohl er gerade operiert wurden war. Ich bin wirklich sofort gekommen. Was hätte ich denn machen sollen, kannst du mir das sagen, Sebastian."

Lange sahen die Kinder ihren Doktor an, der richtig geknickt vor ihnen saß und die Schultern hängen ließ. Man sah ihm an, dass er sich ärgerte, dass das alles passieren konnte. Durch die Erklärung von Konrad, ließ die Spannung im Raum langsam nach. Die Augen der Kinder waren nicht mehr ganz so weit aufgerissen und deren Atmung wurde langsam besser.

"Wisst ihr ich werde nicht immer in eurer Nähe sein können. Aber wenn ich es bin, werde ich nie zulassen, dass euch jemand weh tut", versprach er den Kindern. "Wollt ihr nicht zu mir kommen. Ihr könnt doch nicht den Rest eures Lebens dort in der Ecke stehen und euch ängstigen", bat er die Kinder zu sich heran. "Ich weiß ja, dass ihr euch mächtig erschrocken habt. Aber wollt ihr nicht alle aus der stinkenden Ecke kommen? Vor allem, dass wir euch trockene und saubere Anziehsachen geben können. Dann bekommt ihr alle etwas zu trinken und wir setzen uns hin und reden alle zusammen, über das was heute passiert ist", versuchte der Arzt mit einem Vorschlag die Kinder aus der Ecke zu locken.

Lange musste Konrad warten, so schnell waren die Kinder nicht bereit ihren Schutz aufzugeben.

Also setzte der Arzt nach. "Kinder ich verspreche euch, dass heute niemand mehr in den Raum kommt, vor denen ihr Angst habt. Ich werde euch fragen, wer uns helfen darf", machte Konrad noch einen Vorschlag.

Immer mehr entspannten sich die Kinder und ein erstes zögerliches Nicken, kam von Sebastian. Nach und nach sah der Arzt alle Kinder an und holte sich eine Zustimmung. Fast drei Stunden versuchte Konrad nun schon die Kinder mit gutem Zureden aus der Ecke zu holen und langsam merkten die Kleinen auch, dass sie der Arzt zu nichts zwingen würde, was sie nicht selber wollten. Langsam krabbelten die Kinder auf ihn zu und er nahm sie vorsichtig in den Arm. Die Meisten fingen an zu weinen und ließen ihren Kummer heraus. Konrad wurde in ihren Kreis aufgenommen. Die Kleinen hatte etwas Vertrauen zu dem am Boden sitzenden Erwachsenen gefasst. Einige jedoch wie Sebastian, Birgitt und Olaf, beobachteten die im Raum verbliebenen Betreuer genau. Sie waren bereit, sofort wieder in die Ecke zurück zu gehen und die jüngeren Kinder mit sich zu nehmen.

Tief holte der Arzt Luft und hoffte die richtigen Worte zu finden. "Dürfen mir die drei und der Pavel helfen, um euch neu anzuziehen? Und Pavel muss die Ecke säubern, damit es nicht mehr so schlimm riecht", fragend sah er Sebastian, Birgitt und Olaf an.

Genau musterten die Drei die Betreuer, deshalb erklärte Konrad ihnen das Problem dass er hatte. "Kinder, ich habe ein großes Problem. Ich bin der einzige hier im Raum, der eure Sprache versteht. Die drei die vorn an der Tür warten", erklärte er den Kindern. "Sprechen nur Rumänisch, da sie eigentlich die Betreuung der rumänischen Kinder übernehmen mussten. Die Betreuer aus eurem Raum, bekommen gerade alle Schimpfe vom Genossen Petrow, weil sie euch schlecht behandelt haben. Versteht ihr das was ich euch sagen will."

Sebastian nickte, nach einer Weile auch Birgitt und Olaf.

"Darf ich die drei Betreuer heranholen, damit ihr aus den schmutzigen und stinkigen Sachen heraus kommt und endlich etwas trinken könnt."

Lange dauert der Kampf, den die Kinder mit sich kämpften, aber alle hatten Durst und Hunger und wollt endlich sauber Sachen anziehen und schlafen. Denn vielen der Kinder, die sich an Konrad kuschelten, fielen ständig die Augen zu. Die viele Aufregung heute, war einfach zu viel. Einige der Kinder hatten auch wieder hohes Fieber und zwei der Kinder brachen durch die ganze Aufregung ständig Galle. Hier musste Ruhe in den Raum kommen und wieder eine ordentliche Betreuung her.

Nach einer langen Zeit, mittlerweile hatte Konrad jegliches Zeitgefühl verloren, aber draußen war es schon dunkel geworden, nickten die drei Kinder und Konrad winkte die Rumänen heran.

"Könnt ihr mir helfen, die Kinder zu duschen und in die Betten zu bringen. Einer von euch, müsste schnell den Pavel holen, zum säubern des Zimmers. Ich möchte die Kinder jetzt nicht alleine lassen. Bitte stellt euch mit Namen vor und sprecht mit den Kindern auf Rumänisch. Es kommt nicht auf die Worte, sondern die Stimme an. Erklärt ihnen mit Gesten und Worten, was ihr wollt. Wenn ihr Hilfe braucht, holt mich, bevor es wieder eskaliert. Die Kinder haben genug durch, für einen Tag", erklärte er den Betreuern auf Rumänisch und übersetzte dann seine Worte für die Kinder. "Kinder ich habe den Betreuern gesagt, sie sollen euch ihren Namen sagen und euch beim Duschen helfen, beim Abtrocken und Anziehen. Dann bringen sie euch in eure Betten. Wenn ihr Angst habt, sagt ihr mir Bescheid. Die Betreuer zeigen euch mit Gesten und Worten, was ihr machen sollt. Habt Vertrauen. Ich bin hier und lasse nicht zu, dass euch jemand weh tut. Versprochen", er hoffte sehr, dass er sein Versprechen einhalten konnte.

Nach nicht einmal ganz einer halben Stunde, waren alle Kinder duschen, sauber angezogen und hatten etwas getrunken. Kaum, dass man die Kleinen in das Bett gelegt hatte, schliefen die meisten ein. Gegessen hatte keiner der Kinder etwas, aber wenigstens hatten sie etwas getrunken. Konrad lief zu Sebastian ans Bett, der Junge war noch munter und kam einfach nicht zur Ruhe.

"Sebastian, ich habe nicht vergessen, dass wir noch reden wollten. Das machen mir morgen Vormittag. Schau mal die kleineren von euch sind so fertig, die schlafen schon fast und dir tut doch bestimmt auch der Kopf weh", genau musterte der Arzt den kleine tapfere Kerl der sich so für seine Kameraden stark gemacht hatte.

Der nickte nur und rieb sich die Augen. "Morgen?"

Konrad nickte ihm zu." Ja, wir reden morgen, wenn es euch wieder besser geht. Sebastian ich nehmen Petro, Andrea und Jurina mit auf die Krankenstation. Sie haben ganz hohes Fieber und brechen laufend. Wundere dich also nicht wenn sie morgen früh nicht da sind. Schlaf gut mein Junge. Du warst heute sehr tapfer", Konrad wollte sich nach unten beugen und den Buben einen Kuss auf die Stirn geben, der drehte sich allerdings weg. Ein Zeichen, dass er dem Arzt nicht vollständig traute. Also beließ es der Arzt bei einem Letzten Gruß. "Schlaf gut mein Junge."

"Bringt ihr bitte Petro, Andrea und Jurina hoch auf die Krankenstation und erkundigt euch wie es unseren Frischoperierten geht? Ich mache mir große Sorgen um die kleine Charlotte", bat er auf Rumänisch die Betreuer, da er warten wollte bis alle Kinder schliefen.

Ohne eine Diskussion liefen die Drei auf je ein Kind zu und sprachen mit ihnen ganz lieb auf Rumänisch und die Drei hochfiebrigen Kinder gingen ohne zu murren mit. So als wenn sie keine Kraft mehr hätten und einfach alles über sich ergehen ließen, egal was mit ihnen geschah.

Es dauerte keine halbe Stunde, als die Betreuer zurück im Raum "Nemetskiy" kamen. Nochmals musste sich Konrad an die Rumänen wenden. "Könntet ihr heute Nacht hier bei den Kindern bleiben. Ich denke wir werden noch einige Probleme heute bekommen", bat er die Kollegen um Hilfe.

Da er kein Personal zur Verfügung hatte. Er hatte zwei Frischoperierte und drei hochfiebrige Kinder auf der Krankenstation, er konnte niemanden nach unten schicken. Ein Lächeln auf den Gesichtern und ein Nicken bestätigten ihm, dass er auch jetzt schnelle Hilfe bekam. Mittlerweile schliefen alle im Raum verblieben einundzwanzig Kinder einigermaßen ruhig. Wenn das nach so einen Tag überhaupt möglich war. Wie er erfuhr ging es Charlotte nicht besonders gut und er musste erst einmal nach seinem Sorgenkind sehen.

*

Petrow war fix und fertig, als er am Abend gegen 22 Uhr in der Stube "Nemetskiy" erschien, um dort Doktor Konrad etwas unter die Arme zu greifen. Allerdings war der Arzt, wenige Minuten zuvor nach oben in die Krankenstation gegangen. Deshalb folgte er dem Arzt, denn in der Stube war alles im grünen Bereich.

Er war dankbar dafür, dass der in Psychologischen Fragen gut ausgebildete Kinderarzt, die Kinder wieder einigermaßen beruhigt hatte. Soweit sich das zum jetzigen Zeitpunkt sagen ließ. Er hoffte sehr, dass er jetzt endlich mit den Kindern arbeiten konnte. Nicht nur Senko, sondern auch er bekam von ganz oben tüchtig Druck gemacht.

Petrow war deshalb stinksauer auf seine Untergebenen, die nicht einsehen wollten, dass sie mit ihren Verhalten das gesamte Projekt zum Einsturz bringen würden. Noch wütender machte den Abteilungsleiter Nahkampf allerdings, die Begründung, warum man so brutal gegen die Kinder vorgegangen war. Viele der Betreuer ließen ihre Wut, die sie auf die Deutschen hatten, an den Kindern aus. Was bitte konnten die Kinder, für das Verhalten ihrer Eltern im zweiten Weltkrieg. Die waren damals noch nicht einmal geboren. Der Krieg war neunzehn Jahre zuvor beendet wurden. Die meisten Eltern der Kinder, waren damals selber noch Kinder und hatten mit den Kriegsgeschehnissen nichts zu tun. Petrow verstand seine Untergebenen einfach nicht und er musste sich Rat bei Konrad holen, wie er mit diesen Lehrern umgehen sollte. Er wusste sich keinen Rat.

Ja auch er hatte Angehörige im Krieg verloren. Sein Vater fiel an der Front, kurz vor Berlin und seine beiden großen Brüder, starben vor Stalingrad. Aber diese Kinder stammten alles samt aus Ostdeutschland, dem Teil Deutschlands der durch die Sowjetunion besetzt wurden war. Diejenigen die Anteil an der Ermordung und dem Leid vieler russischen Menschen, die Kriegsverbrechen begangen hatten, wurden und werden noch heute verfolgt und bekamen den Prozess gemacht. Es gab genügend russischen Soldaten und Offiziere, die sich genauso wie die Deutschen, am Volk vergangen hatten. Es wurden auf beiden Seiten große Fehler gemacht. Deshalb aber die Kinder hier leiden zu lassen, war genauso ein Verbrechen, wie das, was die Deutschen begangen hatten. Langsam lief er hinüber ins Hauptgebäude und schüttelte immer wieder seinen Kopf, über die verfahrene Situation.

Als der die Krankenstation betrat, blieb er mit Entsetzen in den Augen stehen, als er nach hinten in das Bett der kleinen Charlotte blickte. Vorhin bei der kurzen Dienstbesprechung mit Konrad, hatte er das Ausmaß der Verletzungen gar nicht so deutlich wahr genommen. Er sah in dem Bett der Kranken, eine mit Schläuchen überdeckten Patientin liegen, die an Überwachungsmonitore angeschlossen war. Petrow schlug das Herz bis hoch in den Hals und er schluckte schwer an dem was er da sah. Sofort drehte er sich um und lief noch einmal nach unten in die Mensa. Kaum, dass er die Mensa betreten hatte, die um diese Zeit von den Betreuern als Freizeitraum genutzt wurde, machte er eine Klare und laute Ansage.

"Alle Betreuer der deutschen Kinder sofort zu mir, nu davey", ließ er einen für ihn ungewohnten Brüller von sich. Der dafür sorgte, dass alle Angesprochenen sofort aufsprangen und auf ihn zueilten. "Mitkommen, sofort", machte er eine konkrete Ansage. Petrow war so wütend auf seine Untergebenen, dass er nicht mehr freundlich sein konnte.

Eilig lief er nach oben auf die Krankenstation und hielt einmal kurz davor an, um denjenigen die der Meinung waren, man könne seine Wut an diesen Kindern ruhig abreagieren, die selbige zu sagen.

"Ihr seid also der Meinung, dass man einem fünfjährigen Mädchen ruhig ein paar Schellen geben könnte. Damit die lernt zu spuren. Dass an ein paar Schellen nichts Schlimmes wäre. Das waren doch eure Worte? Korrigiert mich ruhig wenn ich euch falsch verstanden habe. Dann, seht euch bitte das Ergebnis dieser paar Schellen an. Und vor allem sagt mir, dass sie sich das wirklich verdient hat. Seht euch euren gottverfluchten Mist einmal selber an und denkt heute Nacht einmal darüber nach. Wie hättet ihr reagiert, wenn man eure Kinder so behandeln würde?" Tief holte Petrow Luft um sich zu beruhigen. "Seid bitte leise in der Krankenstube."

Petrow öffnete die Tür zur Krankenstation und ließ die sieben Betreuer in den Raum treten. Auch wenn er das nicht mit dem Arzt abgesprochen hatte, hoffte er sehr, dass Konrad ihm dabei half, den Männern den Kopf wieder gerade zu rücken.

"Hinten zum letzten Bett mit euch", befahl er leise.

Er hörte schon am tiefen Luftholen seiner Männer, dass diese nicht mit dem Ausmaß an Verletzungen des Kindes gerechnet hatten. Leise trat Petrow an den Schularzt heran und bat ihn, den Betreuern die erlittenen Verletzungen des Mädchens zu erklären.

Bobrow drehte sich nach dem Arzt herum und sah ihn mit Tränen in den Augen an. "Doktor, wird die Kleine wieder gesund?" Erkundigte er sich mit zitternder Stimme.

Was die Männer so erschreckte, waren die vielen Schläuche die in und aus Charlottes Körper hinein und heraus führten, die nötig waren um das Mädchen mit Blutkonserven, Nahrung und Flüssigkeit zu versorgen. Aber auch die Wundflüssigkeit aus den operierten Körperteilen abführen musste. Die komplette rechte Körperhälfte des Mädchens war bandagiert und der Rest des Körpers war dunkelblau verfärbt. Petrow sah seine Männer ernst an.

"Das hat sich diese Deutsche verdient? Ist das ehrlich eure Meinung? Die Kleine ist fünfeinhalb Jahre alt und hat sich diese schweren Verletzungen verdient. Entschuldigt bitte, aber ihr habt sie doch nicht mehr alle. Meine Tochter Sanja ist ein halbes Jahr älter, als die Kleine. Wenn jemand mein Kind so behandeln würde, würde ich ihn töten", tief atmete Petrow durch, um hier weiter leise sprechen zu können. "Doktor, erklären sie bitten diesen Unmenschen, die der Meinung sind, man könnte die Deutschen so behandeln, was an Charlotte noch heil ist. Denn das glaube ich geht schneller", ernst sah er den Arzt an und hoffte dass dieser den Wink mit den Zaunpfahl verstand.

"Bobrow, ich weiß noch nicht ob die Kleine wieder gesund wird. Sie ist jung und Kinder erholen sich physisch, meistens schneller als wir Erwachsenen. Schlimmer, als das was sie an Verletzungen im Moment sehen, sind die psysischen Verletzungen, die sieht man nicht. Wir müssen abwarten, wie Charlotte reagiert, wenn sie aus dem Koma erwacht. Folgt mir bitte in mein Büro. Mir ist das hier zu laut, die Kinder müssen Ruhe haben", bat Konrad die Männer ihm zu folgen.

Eine reichliche Stunde später, verließen sieben sehr geknickt wirkenden Betreuer, dass Büro von Konrad und man sah ihnen an, dass sie keine Lust mehr auf die Mensa hatten. Genau wie Petrow und Konrad, waren sie geschockt über das Ausmaß der Verletzungen, die das Mädchen durch Ranjow erlitten hatte.

Petrow teilte dem Schularzt mit, dass man ein Zusammentreffen von Ranjow mit den deutschen Kindern, für dieses Schuljahr unterbunden hätte. Außerdem wurde Ranjow zu Mladschi Leitenant, also zum Unterleutnant degradiert und für ein Jahr nach Moskau strafversetzt. Dafür würde Leutnant Narciza Narlow, das Training der deutschen Kinder, im Nahkampf übernahm. Für die Rumänen wäre ein weiterer Lehrer, für ein Jahr angefordert, der nächste Woche hier erscheinen würde.

Nochmals sahen Petrow auf der Krankenstation nach dem Rechten und in der Stube der deutschen Kinder, dann machte Petrow erst einmal Schluss, denn er war seit für um 4 Uhr auf den Beinen und konnte vor Müdigkeit kaum noch aus den Augen sehen. Man hoffte, dass die Lehrer nun verstanden hatten, dass sie auf diese bestialische Art und Weise nicht an einer Schule arbeiten konnten. Der Rest musste die Zeit ergeben.

***

*** Isolation ***

***

Ich könnte heute gar nicht mehr sagen, wie lange ich damals auf der Krankenstation gelegen hatte. Laut der Aussage von Doktor Konrad waren es neun Wochen. Für mich war es wie eine ewig andauernde Gefangenschaft, zwischen Verbandswechsel und Untersuchungen. Radu wurde nach einer Woche entlassen, genau wie Petro, Andrea und Lurina. Es wurde sehr einsam für mich auf der Krankenstation. Besuch von meinen Mitschülern bekam ich keine. Wie sollten sie auch, sie kannten mich ja gar nicht. Hatte dadurch auch keinerlei Möglichkeiten Kontakte zu meinen eigenen Kameraden zu knüpfen. Konrad wollte mich noch länger da behalten, weil ich psysisch viel zu angeschlagen war und er Angst hatte, mich nach unten in den Raum zu schicken.

Lange Zeit habe ich ihn für dieses Verhalten gehasst, denn er nahm mir damit die Möglichkeit, mit meinen Kameraden zusammen, in die Situation hinein zu wachsen. Ich begann bei dem Punkt, als ich nach unten in die Stube "Nemetskiy" kam, an dem die Kinder am Tag meiner Verletzungen waren. Ich hatte kein Vertrauen zu niemand mehr und was für mich am schlimmsten war, ich war in der Gruppe ein völliger Außenseiter und ich würde durch mein Verhalten den Betreuern gegenüber, noch sehr viel Ärger bekommen. Für mich begann nach der Rückkehr in das Schulprojekt, ein Kampf an zwei Fronten, der mich sehr viel Kraft und Energie kosten würde.

 *

Es war kurz nach 22 Uhr, als Konrad endlich nach den Kindern auf der Krankenstation sehen konnte. Erschrocken sah er, dass sich Charlotte selbst mit der hohen Dosis Beruhigungsmittel, noch in ihrem Bett hin und her wälzte. So vorsichtig wie möglich untersuchte Konrad seine Patientin und erhöhte noch einmal die Dosis des Beruhigungsmittels, damit sie endlich die Ruhe fand zu schlafen und sich zu erholen.

Kurz kam Petrow ins Krankenzimmer und verschwand nach einem Blick auf das sich im Bett wälzende Kind, sofort wieder von der Bildfläche. Nur zehn Minuten später, kam er noch einmal mit sieben der acht Betreuer, aus der Stube "Nemetskiy", in den Raum, um den Betreuern ihre Unterlassene Hilfeleistung vor die Augen zu halten.

Kurz vorher hatte Konrad durch die Tür gedämpfte Ansagen von Petrow wahrgenommen. Er konnte sich vorstellen, was der Abteilungsleiter für Nahkampf damit bezwecken wollte. Nach einem sehr langen und intensiven Gespräch mit den Lehrern, hoffte der Arzt in Zukunft nicht mehr ein solches Ausmaß an Verletzungen zu bekommen. Auch er begab sich, nach diesem Gespräch, zur Ruhe, denn er war am Ende seiner Kräfte und war nicht einmal mehr in der Lage seinen Bericht für Senko zu schreiben. Dass musste er morgen früh machen.

Bevor Konrad in seinem Zimmer verschwand, bat er Narciza und Indina, ihn bei Verschlechterung der Gesundheitszustände, der kranken Kinder zu holen. Nach dem er auch in der Stube "Nemetskiy" nach dem Rechten gesehen hatte, ging der Arzt duschen und nahm sich ein Buch, um sich etwas von seiner Arbeit abzulenken. Es dauerte gar nicht lange und der Arzt schlief wie so oft, in seinem Lesesessel ein.

 *

Ganze drei Wochen ließ Konrad Charlotte in einem künstlichen Koma. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass alle Verletzungen des Mädchens in der Heilungsphase waren, dass sie sich nicht selber Schaden zufügen konnte, holte er die Kleine langsam ins wirkliche Leben zurück.

Dunja die beim Aufwachen des Mädchens Dienst hatte, ging Konrad zur Hand. Im Gegensatz zu dem, was der Arzt und auch Dunja erwartet hätte, ging dieser Prozess ohne Panikattacken vor sich. Erleichtert holte er Luft und ließ sie erst einmal in Ruhe. Konrad setzte sich an seinen Schreibtisch und beobachtete seine Patientin aus der Ferne. Leider bewahrheiteten sich die schlimmsten Befürchtungen des Arztes, dass Charlotte sich vollkommen in sich selbst zurückgezogen hatte. Äußerlich sah das Mädchen völlig ruhig und ausgeglichen aus, allerdings zeigte sie typische Angstreaktionen, wie einnässen in angespannten Situationen und sprach kein einziges Wort mehr. Sie aß nur wenn man sie dazu zwang und war völlig apathisch.

Lange beratschlagte sich Konrad mit seinem Team, ob er Charlotte völlig aus dem Projekt herausnehmen sollte, um ihr ein normales Leben zu ermöglichen. Das was er allerdings durch Petrows Bruder über die Familie des Mädchens erfuhr, erleichterte ihm die Entscheidung sehr. Sämtliche im Personalbogen der kleinen Dyba angegebenen Daten, entsprachen Lügen. Charlotte war nicht in einer Familie groß geworden und hatte keinerlei Rückhalt durch ihre Familienmitglieder. Die beiden großen Geschwister waren neunzehn und siebzehn Jahre älter, als die Kleine und wussten nicht einmal, dass es noch eine Schwester gab. Der jüngste Bruder wollte mit dem verwöhnten Balg, was nur Ärger machte und ihm seine Großeltern weggenommen hatte, nichts zu tun haben. Der fünfzehnjährige Bruder von Charlotte, war froh, dass er diese kleine Kröte, so seine Worte nicht mehr sehen musste. Er gab seiner Mutter recht, dass sie nur Ärger machte.

Die einzigen Menschen die gut von Charlotte sprachen, waren die Erzieherinnen der WoKi "Kinderland" und deren Großeltern. Laut Aussagen der Erzieherinnen, beziehungsweise der Leiterin der Wochenkindertagesstätte, wurde seit ihrem ersten Tag in der Einrichtung nur zehnmal von ihrer Familie, also Mutter, Vater und Bruder, abgeholt. Erst seit dem der Großvater von dem Schicksal der Kleinen erfahren hatte, bemühte sich ihre Familie darum, der kleinen Charlotte ein zu Hause zu bieten und die letzten vier Monate, bevor sie nach Shera musste, behielten die Großeltern die Kleine bei sich. Die älteren Herrschaften hatten alles versucht, die Teilnahme des Mädchens an dem Projekt zu verhindern. Endlich bekamen auch Konrad und Petrow, brauchbare Informationen über Charlotte. Nicht nur über die vorhandenen gesundheitlichen Probleme, die das Mädchen hatte, sondern auch über deren Charakter und deren Schwächen. So konnten der ausgebildete Kinderpsychologe und der Chefbetreuer der Kinder, endlich eine Basis für ihre Arbeit schaffen.

All diese kleinen Puzzelteile brachten das medizinische Team schlussendlich dazu, Charlotte in dem Projekt zu belassen. Denn so die Meinung aller Anwesenden, ein zurückschicken nach Deutschland, würde dem Mädchen nur noch mehr schaden. Da die Großeltern schon weit über die achtzig Jahre alt waren, würde die Kleine früher oder später nur in einem der vielen deutschen Kinderheime landen und hätte beruflich gesehen im späteren Leben nur wenig Chancen. Ein zurückschicken zu diesen Unmenschen von Eltern würden der Kleinen nicht wirklich helfen, sondern höchstwahrscheinlich, im jetzigen gesundheitlichen Zustand eine Einweisung in eine Psychiatrische Klinik zur Folge haben. Konrad beschloss intensiv mit der Kleinen zu arbeiten, damit sie ihr Trauma überwinden konnte. Das vertrat er auch in einer Dienstbesprechung der Schulleitung, in dem es um den Ausschluss von Charlotte Dyba aus dem Projekt ging.

"Genosse Senko, was verlangen sie eigentlich von der kleinen Dyba? Dass sie so reagiert wie eine erwachsene und voll ausgebildete Soldatin? Wie soll das möglich sein? Dass Mädchen ist fünfeinhalb Jahre und wurde von einem unserer Lehrer lebensgefährlich verletzt. Sie verdankt nur mir ihr Leben, da ich Ivan fast sofort von ihr weg ziehen konnte. Noch ein oder zwei Tritte mit dem Stiefel und auch ich hätte ihr nicht mehr helfen können. Dann Genosse Senko, hätten sie ihren ersten Todesfall. Sie verlangen von der Kleinen einfach zu viel. Geben sie ihr etwas Zeit und vor allem mir, dass ich mit ihr arbeiten kann", Konrad holte tief Luft, um sich zu beruhigen. "Wollen sie alle Kinder, die seit dem Vorfall in der Stube "Nemetskiy" in die Hose bullern, jetzt nach Hause schicken? Sie haben sich doch die Probleme selber geschaffen, die sie im Moment haben. Diese Probleme werden auch noch einige Jahre bestehen bleiben. Das Vertrauen, dass die Betreuer unten in der Stube geschaffen hatten, ist völlig zerstört. Dass ihnen die Kinder gehorchen, ist die pure Angst davor, dass sie die gleiche Behandlung bekommen würden, wie die kleine Dyba. Genau davor habe ich sie von Anbeginn des Projektes gewarnt. Beschweren sie sich also jetzt nicht, dass sie mit den Ergebnissen der Misshandlungen leben müssen. Die Kinder in der Stube "Nemetskiy" tragen keinerlei Schuld an dem, was vor 1945 geschah. Prügeln sie das endlich in ihre Untergebenen ein. Bevor diejenigen, ihre Wut, wieder an einem der deutschen Kinder auslassen und wir noch mehr verstörte Kinder bekommen. Nicht nur Charlotte ist völlig verstört auch Anne-Katrin, Arnold und Sebastian, weisen schlimmer psychologische Verhaltensstörungen auf", wies der Arzt Senko noch einmal darauf hin, dass solche rabiaten Methoden zu nichts guten führen würden.

Lange wurde an diesem späten Herbsttag, vier Wochen nach dem Vorfall mit Charlotte, über das Benehmen der Ausbilder gestritten. Leider nur mit mäßigen Erfolg, wie die darauffolgende Zeit beweisen würde. Aber davon bekam die kleine Dyba nichts mit.

 *

Charlotte lag unten auf der Krankenstation und starrte Löcher in die Wände und die Decke, sie war nach dem Erwachen aus dem Koma, kaum ansprechbar. Das Nervenfieber hatte sie wieder voll im Griff und wenn sie einmal schlief, schrie sie nach wenigen Minuten, nach ihrem Herrn Bär, dem Einzigen den sie noch traute. Dunja und die Sanitäter versuchten alles, um das Seelenleid des Mädchens zu lindern. Sie ließ keinen Erwachsenen mehr an sich heran. Bis Narciza eines Tages einen Einfall hatte, der das dick ummauerte Herz Charlottes, wenigstens etwas öffnete und ihr ein wenig Zugang zu dem Mädchen schaffte. Nein Öffnen wäre zu viel des Guten, dieses Öffnen schafften nur die Kinder aus der Stube. Die Erwachsenen hatten lange Zeit, eine völlige Außenseiterrolle bei Charlotte eingenommen. Sie vertraute niemand mehr. Allerdings erzeugte, der kleinen Bestechungsversuch der Rumänin, in den darauffolgenden Monaten einen kleinen Vertrauensvorteil. Scheinbar hatte sich die kleine Dyba, die Sache mit der Puppe gemerkt. Sie kam der Rumänin immer etwas entgegen. Narciza hatte eine kleine Holzkugel gefunden. Etwa zwei Zentimeter groß und bastelte der Kranken einen kleinen Seelentröster. Mit einem Herrentaschentuch und einem Draht, stellte sie für Charlotte ein Püppchen her.

"Schau mal was ich hier habe", sprach sie Charlotte, zwei Wochen nachdem diese aus dem Koma erwacht war, an. "Es ist zwar nicht ein Herr Bär, aber vielleicht kann dich die kleine Figur etwas trösten", versuchte sie wohl zum tausensten Mal, einen Zugang zu Charlotte zu finden.

Wie immer starrte die Kleine nach oben an die Decke und ignorierte die Sanitäterin vollkommen. Kurz entschlossen legte Narciza das Püppchen auf den Bauch des Mädchens und ging auf Distanz, nach vorn an den Schreibtisch. Von dort aus konnte man die kleine Deutsche sehr gut beobachten, ohne dass sie das mitbekam.

Oft, so hatte Narciza in der letzten Zeit beobachtet, weinte Charlotte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, leise vor sich hin. Ohne eine einzige Träne zu vergießen. Auch die anderen Mitarbeiter, hatten das in letzter Zeit des Öfteren beobachtet. Die Kleine zeigte nur keinerlei Reaktionen, wenn ein Erwachsener in der Nähe war.

Was Narciza jetzt erlebte, war im ersten Moment eine große Enttäuschung für sie. Sie hatte gedacht, wenn sie sich von Charlotte entfernt, würde sie das kleine Püppchen wenigstens einmal ansehen. Aber das Mädchen ließ sich nicht bestechen. Sobald sie sich unbeobachtet fühlte, schmiss sie das Püppchen ohne es anzufassen von ihrer Decke und aus ihrem Bett, drehte sich zur Wand, um und fing an zu weinen.

Traurig sah die Rumänin zu der Kleinen ins Bett. Sie hatte so sehr gehofft einen Zugang zu dem Mädchen zu finden. Wieder einmal stellte Narciza fest, wie ähnlich Charlotte ihr war. Genauso hätte sie damals reagiert, wenn sie jemand mit einer Puppe bestochen hätte. Innerlich musste sie grinsen. Sie wusste jetzt wie sie an Charlotte herantreten musste oder besser gesagt, wie man dem Mädchen helfen konnte. Es musste Normalität in das Leben der Kleinen zurückkehren. Sie musste hier von der Krankenstation herunter und in das normale Leben der Schule integriert werden. Erst dann konnte sie sich etwas erholen. Sie würde mit Konrad über ihre Beobachtungen reden, auch wenn sie dann, viel von ihrem eigenen Leben preisgeben musste. Etwas dass sie nicht gern tat.

Trotzdem hoben die Schwestern, diese kleine Puppe noch duzende Mal auf, um sie wieder in das Bett zu legen. Sie gaben die Hoffnung nicht auf, dass die Puppe ein Seelentröster für Charlotte sein könnte. Nach dem gefühlten hundertsten Mal, ließ das Mädchen die Puppe einfach liegen und mitten in der Nacht, als sie sich völlig unbeobachtet fühlte, nahm sie das aus einem Herrentaschentuch gebaute Püppchen in die Hand und ließ sie nicht mehr los.

 *

Nach dem Narciza ihren Dienst auf der Krankenstation beendet hatte, ging sie zur Wohnung des Schularztes, die ja ebenfalls auf der zweiten Etage des Hauptgebäudes lag. Zaghaft klopfte sie an dessen Tür und hoffte sehr, dass Konrad schon zurück von seinem Rapport in Moskau war.

"Herein", erklang der dunkle warme Bass des Schularztes. "Ach du bist es Narciza, wie geht es dir und unserem Sorgenkind?" Erkundigte er sich sofort.

"Mir geht es gut, na bei der Kleinen hat sich nichts geändert. Sie blockt immer noch alles ab. Deshalb komme ich ja zu ihnen, mir sind da einige Ideen gekommen. Wann hätten sie denn Zeit, dass ich einmal darüber mit ihnen sprechen könnte. Das dauert ein wenig und lässt sich nicht unter Zeitdruck machen", schildert sie ihr Problem.

"Haben sie jetzt noch Zeit oder müssen sie nach unten zum Training?" Erkundigt sich der Arzt, sofort bei seiner Sanitäterin.

"Ich hätte Zeit bis morgen früh", lächelnd sah sie den Arzt an. "Wir können zurzeit noch nicht viel mit den Kindern arbeiten."

"Na dann, nimm Platz und lasse endlich das Sie in meinen Räumen weg. Ich heiße immer noch Frank und mag immer noch das Sie nicht, das bringt nur Distanz zwischen uns", bot der Arzt ihr nochmals das Du an.

Konrad mochte dieses Herumgesiezte nicht sonderlich. Zwischen Kollegen schuf es nur eine unüberwindbare Distanz, die verhinderte, dass man offen seine Meinung äußerste. Zur freien Meinungsäußerung brauchte man absolutes Vertrauen und das war nicht da, wenn man den Gegenüber mit "Sie" ansprach.

Narciza nahm in der Zwischenzeit Platz und Konrad bediente sich an seinem Samowar, den Pavel vor einer Stunde für ihn fertig gemacht hatte. Immer noch kam er mit diesem Gerät nicht klar. Er verstand einfach nicht, wie dieses Teil funktionierte.

"Auch einen Tee, Narciza?"

Verlegen nickte sie, zur Bestätigung und wurde sich im gleichen Moment bewusst, wie unhöflich das war. Sie war allerdings schon völlig auf das bevorstehende Gespräch vertieft, dass sie mit dem Arzt führen wollte. Da Konrad nicht auf ihre Unhöflichkeit reagierte, beließ sie es beim Nicken und sah den Arzt ernst an, der jetzt zwei Gläser mit Tee auf das Tischchen stellte und ebenfalls Platz nahm.

"Was haben sie denn auf der Seele, Narciza? Kann ich ihnen irgendwie helfen."

Tief holte die Nahkampftrainerin Luft und nutzte das angebotenen Du und den Vornahmen einfach. "Frank, es ist etwas kompliziert und ich weiß nicht so richtig, wie ich anfangen soll. Es geht darum, dass ich viele Parallelen von Charlottes und meinem Leben feststelle. Ich bin nicht immer dieser muskelbepackte Zwerg mit der schiefen Nase gewesen. Auch ich war früher ein sehr stilles und ruhiges Kind. Charlotte ähnelt mir in vielen, müssen sie wissen", verlegen hob Narciza ihren Kopf und sah Konrad verlegen an. "Weißt du, es ist für mich nicht einfach über meine Kindheit zu sprechen. Ich schäme mich heute noch für meine Mutter. Du musst wissen, meine Mutter war eine Prostituierte und bewohnte in Bukarest eine Einraumwohnung, in der sie auch gearbeitet und mit mir zusammen gelebt hatte. Wenn Freier kamen, musste ich mich in einem der Küchenschränke verstecken und mucksmäuschenstill sein, bis sie fertig war mit ihrer Kundschaft. Das hat mich als Kind geprägt. Nicht alle Freier waren lieb und nett, musst du wissen. Viele verprügelten meine Mutter nach Strich und Faden. Wenn sie dann fertig mit ihr und gegangen waren, ließ meine Frau Mama ihre ganze Wut an mir aus. Ich bekam dann die Prügel zurück, die sie von ihren Freier bekam. Irgendwann wurde sie dann von einem der Freier erschlagen und ich sah dabei zu. Ich war damals genauso alt, wie Charlotte heute ist. Die Polizei durchsuchte die Wohnung und fand mich zusammen gekauert in einem Eckschrank der Küche. Man zerrte mich aus der Wohnung und in ein Waisenhaus. Dort blieb ich, bis ich elf Jahre alt war. Irgendwann kamen Soldaten und befahlen den Mitarbeitern des Waisenhauses, die Jungs die im Alter ab vierzehn Jahre waren, zu ihnen zu schicken. Ich stellte mich damals einfach dazu und die Mitarbeiter des Waisenhauses, sagten nichts. Ich glaube sie waren froh, dass ich wegkam.

Du musst wissen, die Rumänischen Kinderheime sind übervoll und jeder der eher abhaut oder fortgeholt wird, macht Platz für neue Kinder. Ich wurde nicht mit ausgesucht, da ich ja ein Mädchen war. Also schlich ich den Soldaten hinterher und versteckte mich auf einen der drei LKWs, die vor dem Heim standen. Zwei davon waren unbewacht und schon voller Jungen. Ich bin einfach hochgeklettert und habe mich zwischen die Jungs gesetzt. Es fiel nicht einmal auf, da ich kurze Haare hatte und von der Statur den Jungs auf der Ladefläche sehr ähnelte", verlegen sah Narciza von ihren Füßen hoch, auf die sie ständig beim Reden gestarrt hatte. "Keine Ahnung, was ich mir damals dabei gedacht hatte. Ich glaube bei mir zählte nur ein Gedanke, schlimmer als hier, kann es nirgends sein. Erst ein Jahr später, wir waren mit unserer Grundausbildung fertig, stellten die Sanitätsärzte, bei einer Untersuchung, die damals durchführen mussten, weil ich verletzt war, fest, dass ich ein Mädchen war. Irgendwie hatte ich es bis dahin geschafft diese Tatsache, vor unseren Ausbildern, zu verheimlichen. Da man ja so viel Arbeit und Mühe in meine "Ausbildung" gesteckt hatte, beließ man mich in der Armee. Obwohl es damals noch nicht der Norm entsprach, auch Mädchen auszubilden. Ich war halt nicht ganz schlecht, in dem was ich machte. Ich gehörte immer zu den Frontkämpfern und denjenigen, die vorn gelaufen sind. Ich wusste, was mir ein Versagen einbringen würde", tief holte die Rumänin Luft. "Ich glaube, dass auch Charlotte genau in dieser Phase steckt. Sie hat begriffen, was ihr blüht, wenn sie nicht das macht, was sie machen soll. Sie kann aus dieser Situation genauso wenig heraus, wie ich damals. Glaub mir, ich habe nicht nur einmal bereut, dass ich auf diesen LKW gestiegen bin. Aber es gab kein Zurück mehr für mich. Genauso wenig, gibt es ein Zurück, in die Normalität des Alltags, für Charlotte. Das ist jedenfalls mein Gefühl. Ich hatte damals einen Ausbilder, der mich sehr in sein Herz geschlossen hatte. Der gab mir damals eine Puppe zum spielen, damit ich wenigstens etwas Mädchen sein konnte. Das sagte er mir später einmal. Ich schmiss ihm die Puppe vor die Füße und fragte ihn, was ich damit sollte. Er solle mir lieber ein Gewehr geben. Als er mich fragte, warum ich das Gewehr wollte, sagte ich ihm, dass ich damit jemanden töten wollte. Und zwar denjenigen Offizier, der meine Mutter getötet hatte und mich in mein Unglück gestoßen hatte. Wie du dir denken kannst, hielt mich der Offizier sehr, sehr lange von Waffen fern und machte mich dadurch zu dem Nahkampfspezialisten der ich heute bin", Narciza musste laut lachen. "Als ob das etwas ändern würde, an der Tatsache, dass ich diesen Unmenschen heute töten könnte, der meine Mutter aus Spaß an der Freude einfach umbrachte. Heute stehe ich über diesen Dingen, aber damals war es pure Wut, auf diesen Menschen, der mich dazu bewegt hat, als Mädchen zur Armee zu gehen", lange sah Narciza den Arzt an. "Glaube mir Frank, diese Wut ist immer noch in mir, zum Glück, kann ich das heute steuern und habe mich unter Kontrolle. Noch heute weiß niemand, dass mein Geburtsdatum in meinem Dienstausweis falsch ist. Denn ich bin drei Jahre jünger als man dort hinein geschrieben hat. Bei uns steht ja bei allem nur das Geburtsjahr im Ausweis, da die Wenigsten von uns wissen, wann sie geboren wurden", verlegen zuckt die junge Frau, mit den Schultern. "Als ich vorhin bei dem kleinen deutschen Mädchen war, habe ich ihr eine kleine Puppe geschenkt. Aus einer Holzkugel und einem Taschentuch gebaut. Ich hatte so sehr die Hoffnung, an die süße kleine Maus herauszukommen, der man schon so viel mitgespielt hat. Aber sie reagierte genau wie ich damals, sie schmiss die Puppe einfach aus ihrem Bett. Ich denke, sie hat genau wie ich damals begriffen, dass sie verloren hat. Dass sie nur weiter leben kann, wenn sie sich dem Leben stellt. So wie ich mich damals einfach neben die Jungs gestellt habe, um aus dem Waisenhaus heraus zu kommen. Charlotte hat begriffen, was ihr blüht wenn sie sich nicht einordnet. Jeden Tag den sie länger auf der Krankenstation verbleibt, nehmen sie ihr ein Stück Zeit, die sie dazu nutzen könnte, sich in ihre Gruppe zu integrieren und machen den Abstand zwischen ihren Kameraden und ihr noch größer. Vor allem machen sie es Charlotte noch schwerer die Distanz zwischen sich und ihren Stubengenossen aufzuholen. Das wollte ich versuchen ihnen irgendwie zu erklären. Allerdings kann ich es nicht besser in Worte fassen", Narciza nahm sich ihr Glas Tee und trank einen Schluck, um das Zittern ihrer Stimme in den Griff zu bekommen.

Konrad hatte sich ruhig angehört, was ihn die Rumänin erzählt hatte. Er saß nachdenklich in seinem Sessel und grübelte über das nach, was er gerade zu hören bekam. Schritt für Schritt ging er das, was er über Charlotte wusste durch und er gab seiner Sanitäterin Recht, in allem was sie ihm gerade versucht hatte zu erklären.

Das Aufwachen der kleinen Dyba, hatte den Arzt keine Ruhe gelassen. Er hatte so viele Kinder in Ausnahmesituationen erlebt und keines hatte wie dieses Mädchen reagiert. Sie war im Moment in einer Art Trotzphase, in der sie sich gegen alles Unbekannte wehrte. Aber trotzdem nahm sie unbewusst, wie er vermutete, bestimmte Informationen wahr, die für sie nötig waren. Er musste an ein Gespräch mit Senko auf der Krankenstation zurückdenken, das er vor vier Tagen geführt hatte. Es ging bei dem Gespräch darum die hoch fiebrigen Charlotte nach Deutschland ausfliegen zu lassen, um damit das Projekt in ihrem Fall als gescheitert abzubrechen. Am nächsten Tag, hatte die kleine Deutsche wieder sehr hohes Fieber und erbrach wieder alles, was man ihr zu essen und zu trinken gab. Allerdings war am darauffolgenden Morgen, das Fieber fast verschwunden. Das Essen blieb dort wo es bleiben sollte und Charlotte war wieder ansprechbar. So als ob sie akzeptiert hätte, dass sie nun hier bleiben wollte. Achteinhalb Wochen waren die Verletzungen von Charlotte nun her und er musste langsam entscheiden, was er mit dem Mädchen machen wollte. Es war unumgänglich endlich eine Entscheidung zu treffen, da gab er Narciza recht.

"Ich glaube du hast den wunden Punkt genau getroffen. Auch wenn mir nicht wohl ist bei dem Gedanken, die Kleine nach unten zu schicken. Ich denke ich muss es tun, damit sie auch endlich einen Abschluss hinbekommt. Vielleicht können ihre Kameraden ihr besser helfen, als ich es zurzeit kann", lange musterte Konrad seine Sanitäterin. "Lassen wir sie noch zwei Tage, auf der Krankenstation. In der Hoffnung, dass sie das Fieber endlich in den Griff bekommen hat. Obwohl mir nicht wohl bei der ganzen Geschichte ist, werde ich sie nach unten schicken. Du hast in allem Recht. Danke für deine Ehrlichkeit. Ich denke dieses Gespräch war für dich auch nicht einfach."

Narciza nickte und hoffte, dass sie das Richtige getan hat. Verlegen sah sie Konrad an.

"Keine Angst, das was hier gesprochen wurde, bleibt bei uns, ich werde niemanden von deinen Gedanken erzählen. Du weißt ich bin an die Schweigepflicht gebunden und würde niemals dagegen verstoßen."

Erleichtert atmete Narciza auf. "Dann wünsche ich ihnen noch einen schönen Abend und gute Nacht", verabschiedete sich die Rumänin von ihrem Vorgesetzten und erhob sich sofort, um ins gegenüberliegende Haus zu verschwinden. Denn ihr Zimmer lag in der zweiten Etage, des Schulbaus, genau wie die der anderen Betreuer.

 *

Die Kinder aus der Stube "Nemetskiy" waren seit der Verletzung Charlottes, etwas ruhiger und umgänglicher geworden. Obwohl die Betreuer, selbst nach neun langen Wochen, nicht wieder an das Vertrauen der ersten Tage anknüpfen konnten. Trotz dem man über die ganzen Wochen Sprachtraining mit den Kindern machte und viel mit ihnen gespielt hatte, ob nun draußen vor den Toren der Schule oder am See, die Kinder wurden einfach nicht mehr so aufgeschlossen, wie in der ersten Woche. Viele der Betreuer gaben einfach auf und akzeptierten, das nicht mitmachen der Kinder. Die Ausbildung wurde anspruchsvoller und vor allem aber härter. Die Kleinen bekamen keine Bitten mehr ausgesprochen, sondern es wurde Befehle gegeben, deren Nichterfüllung eine Strafe für die gesamte Gruppe nach sich zog. 

Zwei Tage, nach dem Gespräch zwischen Narciza und Konrad, stieß auch Charlotte zu ihren Kameraden. Sie war völlig neu in der Gruppe und damit ein totaler Außenseiter. Keiner wollte etwas mit der Neuen zu tun haben, die nie sprach und sich immer von der Gruppe isolierte. Die Neue musste und sollte sich ihren Platz in der Gemeinschaft erst erkämpfen. Das Problem, dass sie die Sprache der Ausbilder nicht sprechen konnte und damit gar nicht verstehen konnte was die Ausbilder von ihr wollten, würde sie noch einige Wochen in der Isolation festhalten. Keiner ihrer Kameraden wagte sich, wenn ein Betreuer in der Nähe war, Charlotte zu helfen. Viele der Kinder gaben diesem kleinen Mädchen die Schuld, dass die einst lieben Betreuer, jetzt böse mit ihnen umgingen. Während der Spiele- und Sprachlernwochen wurden viele Grundlagen für die späteren Ausbildungen gelegt, von denen die kleine Dyba, noch gar nicht wusste, dass es solche wichtigen Dinge gab.

Grüßte Charlotte nicht ordnungsgemäß, wurde sie angebrüllt. Das Ergebnis war, dass das kleine Mädchen vor Angst in die Hose machte. Vor allem vor Panik schlotternd, stundenlang unterm Bett saß und nicht wieder hervorkam. Jedes Mal ging der Kampf um Charlotte von neuen los. Sie nässte wieder tagelang ins Bett und erbrach sämtliche Nahrung. Vor allem aber verweigerte sie tagelang sämtliche Befehle. Deshalb nahm Konrad sie nach drei Wochen noch einmal nach oben in die Krankenstation mit, um mit ihr einen von Petrow aufgestellten Crashkurs, in der Sprache und den Verhaltensmustern anzutrainieren. So hatte das Mädchen wenigstens die Chance unten in der Gruppe Fuß zu fassen. Da die Kinder jetzt mit dem Training im Nahkampf anfingen, konnte Narciza in ihrer Freizeit intensiv mit Charlotte üben und ihr einzeln zu erklären, was sie wann machen sollte. Nach nur drei Wochen, also kurz vor Neujahr, hatte Charlotte durch viel Geduld der Sanitäter und Dunja, nur noch kleinere Defizite gegenüber ihren Kameraden. Man hatte schnell gemerkt, dass die kleine Dyba hochintelligent war und eine Auffassungsgabe besaß die alle in Erstaunen versetzte. Nur einmal musste man ihr etwas erklären, sofort konnte sie das Erklärte für sich umsetzen. Obwohl, dass nicht so ganz stimmte. Es gab viele Bereiche, in dem diese Formulierung stimmte. Aber einige Bereiche bekam man einfach nicht in das Mädchen hinein. Kartenlesen und Sprachen waren etwas und würden es für Charlotte für sehr lange Zeit, ein Buch mit sieben Siegeln, bleiben. Da man sehr intensiv mit ihr arbeiten konnte. Langsam gewöhnte sich das Mädchen, auch an die ständig wechselnden Betreuer und fand sich auch mit dem harschen Ton der Betreuer ab.

 *

Am 22. Dezember machten die Betreuer, einen ersten kleinen Härtetest mit den Kinder der Stube "Nemetskiy", um zu sehen, was die Kinder von dem gelernten, schon umsetzen konnten. Wütend wie die Betreuer der Deutschen, auf Charlotte waren, übertrugen sie der Jüngsten in der Gruppe, die Verantwortung für die Gruppe. Etwas, das so nicht funktionieren konnte. Da Charlotte weder ihre Klassenkameraden, noch deren Stärken oder Schwächen kannte. Diese Bestrafung Charlottes, ging durch deren gesamten Charakter, nach hinten los. Die kleine Dyba war es gewohnt, sich in allem alleine durchzubeißen und nahm, nachdem die anderen Mittglieder aus der Gruppe versagt hatten, einfach das Zepter in die Hand und führt die Gruppe, ohne ein Wort zu sagen, einfach nach Hause.

Die Betreuer allerdings erreichten dadurch, dass sie dieser Nervensäge die Verantwortung der Gruppen übergaben, genau das Gegenteil von dem, was eigentlich erreichen wollten. Die Verantwortung die Charlotte wortlos übernahm und ihr Einsatz in der Gruppe, nötigten unbewusst, den Kindern Respekt ab. Sie stärkten ihr den Rücken und der Kampf an zwei Fronden hörte langsam auf. Auch nutzte keiner der deutschen Kinder, die ständig Extrawürste die Charlotte vom Schularzt gebraten bekam, mehr gegen sie aus. Die Kinder bekamen sehr schnell mit, dass sie einen Nutzen aus dem zogen, was Charlotte zugestanden bekam. Die kleine Dyba, teilte alles mit ihren Kameraden. Sie hatte durch Taten bewiesen, dass sie dieser Verantwortung gerecht werden konnte und vor allem eine von ihnen war. Schnell suchten einige der Kinder Charlottes Nähe, um zu erfahren, wie sie das kleine Husarenstück zustande gebracht hatte, um deren Kenntnisse ebenfalls nutzen zu können. Charlotte teilte ihr Wissen mit ihren Kameraden und so wuchs die Gruppe als Einheit zusammen. Ohne es so wollen oder es bewusst zu merken übernahm die jüngste in der Gruppe die Position, der Führerin. Sie animierte auch die anderen dazu, ihr Wissen zu teilen. Dadurch wurden die Stube "Nemetskiy" schnell zur besten Gruppe auf der Schule und der Rückstand zwischen den Leistungen der Deutschen, Rumänen und Russen, schmolz schneller dahin, als sich Schnee in der Sonne verflüchtigt. Durch das Zusammenwachsen als Gruppe, gingen die Deutschen gestärkt aus dem ersten Test hervor. Ohne bewusstes Zutun und ohne Worte, wurde Charlotte von ihren Kameraden akzeptiert und rang sogar den Betreuern ein Lob ab. Niemand aus dem Lehrer- und Trainerkollegium, hatte diese Bravourleistung dem Mädchen zugetraut.

 *

Für ein erst fünfjähriges Mädchen war es eine beachtliche Leistung, den zehn Kilometer langen Weg, vom Startpunkt bis zur Schule, zu finden. Man setzte die Kinder, nach einem Schneesturm, mitten in der Natur aus. Die anderen Kinder hatten schon einige, solcher kleineren Tests in den vergangen zwölf Wochen gemacht und sie sollten wissen, wie sie sich orientieren konnte. Die kleine Dyba, allerdings, nahm an keiner dieser Übungen teil.

Der Zweck der Übung war, zu sehen, ob die deutschen Kinder, das Gelernte umsetzen konnten. Allerdings spielten die anderen Kinder das Spiel der Betreuer nicht mit. Sie zankten sich fast eine Stunde darum, wer die Gruppe anführen sollte. Obwohl sie eine eindeutige Ansage bekommen hatten, dass Charlotte die Gruppe zu führen hatte. Alle Kinder waren der allerdings der Meinung, dass die Neue das gar nicht konnte. Deshalb wollte keines der deutschen Kinder, ihrer jüngsten Kameradin folgen. Die Kinder blieben einfach dort, wo man sie von der Ladefläche des Transporters herunter geholt hatte. Keines der Kinder traute der Kleinsten aus der Klasse zu, dass sie den Heimweg finden würde. Man versuchte denjenigen an die Spitze der Gruppe zu schicken, der sie schon die ganze Zeit beschützt hatte. Sebastian, war eins der ältesten Kinder und von der Figur her der kräftigste. Charlotte dagegen, war klein und zierlich. Dass die Kinder von weiten, bei ihrer Diskussion, beobachtet wurden, bekamen sie gar nicht mit.

Charlotte machte das einzig Richtige, sie überließ widerstandslos die Führung Sebastian, der die Gruppe allerdings ständig im Kreis herum führte. Als man das zweite Mal feststellte, dass man im Kreis lief, fragte man die kleine Außenseiterin doch um Rat. Denn alle waren fertig und hatten keine Kraft mehr durch den tiefen Schnee zu laufen.

Als man Charlotte um die Führung der Gruppe bat, übernahm sie die Verantwortung wortlos und lief ständig an der Spitze, durch den tiefen Schnee. Obwohl das für sie wesentlich anstrengender war und sie die Großen aus der Gruppe um Hilfe hätte bitten können. Führte sie all ihre Kameraden, mit einer Sicherheit in Richtung Schule, die ihr niemand zugetraut hatte. Allerdings hatte man, durch das Herumirren im Schnee, schon viel zu viel von der Energie verbraucht, die eigentlich für den Rückweg gerade so gereicht hätte, so dass einige kaum noch laufen konnten.

Der 22. Dezember 1964 war einer der stürmischsten und kältesten Tage in der Region um Shera Mir. Nach nicht einmal einer halben Stunde, waren die Kinder bis auf die Knochen durch gefroren und konnten, vor Kälte zitternd, kaum noch weiterlaufen. Charlotte allerdings jagte die Kinder immer wieder auf und stützte diejenigen, die nicht mehr alleine laufen konnten, die letzten drei Kilometer. Sie lief ein Stück mit einem Kind, setzte es ein Stück weiter auf den Boden und ging zurück, um den nächsten zu holen. Das alles machte das kleine Mädchen, ohne ein Wort zu sagen oder die anderen Kameraden, um Hilfe zu bitten. Sie machte es einfach, ohne Worte. Bald verstanden ihre Kameraden, warum sie ständig ein Stück zurück ging, um den anderen zu helfen. Die Stärksten in der Gruppe fingen an zu helfen und dem stillen Mädchen einige Wege abzunehmen. Immer wieder brach Charlotte kurz vor der Schule zusammen, blieb einige Minuten liegen und rappelte sich wieder auf, um den Anderen zu helfen. Dankbar nickte sie ihren Helfern zu und so schafften es alle aus der Gruppe, zurück in die Schule. Wenn sie auch mit fast zwei Stunden Verspätung ankamen. So kamen alle Kinder heil in der Schule an. Niemand war zurück geblieben, wie es in den Gruppen der Russen und Rumänen geschehen war. Auch wenn sie alle halb erfroren waren und die meisten in den nächsten Tagen eine schlimmer Erkältung hatten. Alle hatten den Test bestanden.

Zum Glück Charlottes, löste dieser stille Einsatz, die in der Gruppe bestehenden Spannungen auf und die kleine Dyba, wurde auf einmal mit anderen Augen angesehen. Vor allem aber wurde sie nach dem Test, von allen akzeptiert. Das, was die Betreuer eigentlich als Strafe angesehen hatte, in der Annahme, dass Charlotte dazu niemals in der Lage war, beendete den Zweifrontenkrieg, der vergangen Wochen. Die Gruppe anzuführen, war das Ausbrechen aus der absoluten Außenseiterrolle, die sie hatte. Selbst den Betreuern nötigte Charlotte damit ein wenig Respekt ab, da man einem Großstadtkind, wie der kleinen Dyba, solche Kenntnisse zugetraut hätte.

 *

Was die Betreuer dabei gern und oft vergaßen, war die Rolle die ihr Großvater, in dem kurzen Leben Charlottes gespielt hatte. Der rüstige Rentner hatte zwar nur ein reichliches halbes Jahr Zeit seiner Enkelin etwas beizubringen, aber diese Zeit nutzte er sehr intensiv. Er gab ihr mehr, als nur etwas Liebe, einen warmen Platz zum Schlafen und ein Heim. Er gab ihr, als absehbar wurde, dass er das Abschieben seiner Enkeltochter nicht verhindern konnte, auch viele nützliche Hinweise, wie man durch das Leben kommen konnte. Wissen, dass Charlotte in ihrer Ausbildung noch sehr viel nutzen würde. Da sie auch immer genau auf das hörte, was man ihr beigebracht hatte. Konnte sie viel von dem gelernten auch anwenden. Es war tief in ihrem Unterbewusstsein abgespeichert und wartete nur darauf abgerufen zu werden. Ihr Großvater hatte ihr im Martinsgrund immer wieder gezeigt, wie sie sich in der Natur zu Recht finden und ohne Hilfsmittel überleben konnte. Ein Wissen, dass jeder Manouches, in sehr frühen Jahren von seinen Eltern oder Großeltern lernte. Dieses Wissen half ihr, sich in dem ihr fremden Gebiet zu Recht zu finden.

 *

Da die Kinder mit dem LKW, am frühen Morgen immer Richtung Süden gefahren waren, hatten sie ständig die Sonne von der linken Seite. Deshalb wusste Charlotte, dass sie ständig in Richtung Norden laufen musste. Sie ließ die Sonne also erst im Rücken, da es schon Mittag war, als die Kinder von der Ladefläche des Transporters kletterden. Da viel Zeit verging, bis Charlotte am frühen Nachmittag die Führung der Gruppe übernahm, schwenkte sie etwas nach links ab, so dass sie die Sonne wieder an ihrer linken Seite hatte. Dadurch lief sie schnurstracks nach Norden und auf die Schule zu. Keine vier Stunden später standen die Kinder völlig erschöpft und halb erfroren vor dem Haupttor der Schule und wurden von den Betreuern in Empfang genommen. Völlig durchgefroren schüttelten die Betreuer den Kopf, über das Mädchen und schickten alle erst einmal in die Sauna, denn das hatten sich die Kinder verdient. Von den fünfundsiebzig Rekruten der Schule hatten es nur fünfundzwanzig, als geschlossene Gruppe zurück zum Haupttor geschafft. Von den Rumänen, kamen nur vier Kinder alleine an und von den Russen zehn Einzelgänger. Weder bei den Russen, noch bei den Rumänen, war ein einziger auf die Idee gekommen, seinen Kameraden zu helfen. So, dass die Gruppe geschlossen am Ziel ankam.

 *

Das Ergebnis des Härtetestes, änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass Charlotte weiterhin das Zielobjekt Nummer 1, durch die Betreuer war. Egal wie sehr sie sich anstrengte, den Anforderungen der Betreuer gerecht zu werden, Charlotte machte den Betreuern nie etwas Recht. Das störte die Kleine allerdings nicht, denn die Gruppe und das war ihr nur wichtig, nahm sie so wie sie war.

 

*** Das erste Jahr vergeht ... ***

***

 

Das erste Jahr verging wie im Flug. An Einzelheiten erinnere ich mich nicht mehr. Wir lernten viel in diesem ersten Jahr. Egal ob es der Nahkampf war, dass Zusammensetzen und Auseinander bauen einer Waffe oder aber das Knoten von Seilen. Die Vielzahl der Informationen erlauben es mir nicht auf Details einzugehen, die aus meiner Sicht auch unnötig wären für das Buch.

Diese Vielzahl an Informationen die wir damals bekamen und im Laufe der darauffolgenden Jahre, immer wieder abrufen mussten, war dafür Verantwortlich, dass meine Erinnerungen an diese Zeit zu einer grauen Masse verschwammen. Eins wäre vielleicht wichtig zu erwähnen, dass jede Tätigkeit die wir erlernten oder beigebracht bekamen, mit dem Kampf ums Überleben zu tun hatte und mit der militärischen Ordnung. Bereits am Ende des ersten Schuljahres konnten wir unsere Spinde bauen, wie wir das ordentliche Einräumen unserer Schränke immer nannten. Wir konnten das Bett bauen und unsere Stiefeln putzen, dass sie glänzten. Uns selbstständig und akkurat anziehen. Genauso gut konnten wir Bügeln. Unsere Overalls waren immer ohne jeglichen Makel. Wir lernten es Knöpfe an die Hemden der Offiziere zu nähen und an deren Uniformjacken, so dass sie dauerhaft fest saßen. Wir gingen morgens, mit einem Messer in die Dusche und schoren uns selber die Haare. Wir waren in der Lage, uns der Witterung entsprechende zu kleiden, ohne dass uns jemand sagen musste, dass wir uns warm anziehen mussten. Dafür sorgte alleine schon unser Raum. Der besaß damals noch keine Heizung. Waren es draußen tiefen Minusgrade, froren wir den ganzen Tag, in unseren Overalls. Ich glaube diesem Umstand war es zuzuschreiben, dass wir nie lernten ruhig dazusitzen und uns einmal zu entspannen. Wir waren den ganzen Tag in Bewegung, weil wir sonst in unseren Räumen erfroren wären.

Nicht nur wir froren, sondern auch die Kinder aus den anderen Stuben. Wir waren lieber draußen im Schnee und konnten uns bewegen, als dass wir uns in unserem Raum aufhielten. Dort durften wir uns nur sehr eingeschränkt bewegen. Ein setzen auf das Bett, über den Tag, war uns verboten. Also saßen wir meistens neben dem Bett auf den Boden. Dort war es noch kälter, als wenn wir draußen waren.

Ich bin immer noch der Meinung, dass nicht nur wir froh waren, dass der Winter irgendwann zu Ende war. Sondern auch die Betreuer, denn die froren genauso, wenn sie in unseren Räumen waren. Die zogen sich immer dicke Jacken an, um der Kälte ein wenig zu entgehen. Leider durften wir das nie.

 *

Völlig übermüdet rieb ich mir mein Gesicht. Mir wurde mit jedem Tag, den ich an diesem Buch schrieb, klarer, dass ich mit diesem Schreiben über meine Vergangenheit aufhören musste. Die fragenden und zum Teil bösen Blicke meiner Kollegen, die mich jeden früh trafen, wenn ich die Dienststelle betrat, sprachen Bände. Die vielen Gespräche, die ich in den letzten Wochen mit meinem besten Freund Micha geführt hatte, dem Einzigen der den Grund wusste, warum ich so bescheiden aussah, zeigten mir sehr deutlich, dass ich damit aufhören sollte. Eigentlich hatte ich ja schon genau erklärt, warum mir diese Familienfeiern so zu schaffen machten und ich nach der Schuleinführung von Mia so extrem reagiert hatte. Aber ich besaß immer noch das Bedürfnis einiges zu klären.

Allerdings machte es mir meine Familie nicht einfacher weiter zu schreiben. Bei meinen täglichen Telefonanrufen zu Hause, bekam ich ständig die Frage gestellt, warum ich nicht mehr nach Hause kommen würde. Die Antwort, dass es zurzeit sehr stressig auf Arbeit war, akzeptierte meine Familie nicht mehr. Vor allem weil sie wussten, dass Micha regelmäßig nach Hause fuhr und nur ich meine Familie mied, wie die Pest. Beim letzten Gespräch mit meiner Schwiegertochter, wurde ich deshalb bitter böse, denn sie war schuld an meinem momentanen Gemütszustand. Nur gut, dass es damals noch kein Telefon mit Videoübertragung gab. Ich glaube, dann hätte Eva nicht nur von mir eine Ansage bekommen, sondern auch von ihren und meinem Mann. So war ich es nur, die ihr die Meinung sagte und dass ziemlich deutlich.

"Was willst du eigentlich von mir, Eva? Erst drängst du mich dazu, dass ich für dich und unsere Männer meine Lebensgeschichte aufschreiben soll. Dann beschwerst du dich und bist du wütend auf mich, weil ich nicht nach Hause komme. Jede Medaille meine liebe Schwiegertochter, hat zwei Seiten. Das müsstest du als Krankenschwester, die lange Zeit in der Psychiatrie gearbeitet hat, eigentlich wissen. Frag einfach einmal Micha wie ich aussehe, dann erledigt sich deine Frage von alleine. So kann und darf ich nicht bei euch aufkreuzen, denn dann würden meine Männer vor Sorge um mich vergehen. Dir machen Kindheitserinnerungen nicht zu schaffen, mir schon. Ich schlafe seit Wochen nicht mehr, geschweige denn, dass ich etwas im Magen behalte. Muss ich dir noch mehr erklären oder unterlässt du ab jetzt deine Nerverei, davon wird es für mich nicht einfacher", wütend auf Eva, schmiss ich den Hörer einfach auf die Gabel und zog mein Trainingsanzug an, um laufen zu gehen und mich damit wenigstens etwas zu beruhigen.

Dieses Gespräch war nun schon drei Tage her und ich hatte nicht wieder zu Hause angerufen, das war ungewohnt für mich. Aber ich hatte keine Kraft mehr, für solch eine Art Streit. Lieber schwieg ich und sage gar nichts mehr.

Diese meine Reaktion, machte mir mehr als deutlich bewusst, wie blank meine Nerven wirklich lagen. Auch auf Arbeit rastete ich des Öfteren einmal aus, bei Sachen über die ich sonst nur geschmunzelt hätte und kein Wort verlieren würde. Wie immer, wenn ich am Grübeln war, ging ich zur Kaffeemaschine, um mir einen neuen Kaffee zu holen.

Selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte nicht nach Hause fahren können. Dadurch, dass ich nicht mehr in der Dienststelle schlief, hatte ich auch keine regelmäßigen Mahlzeiten mehr und das wenige was ich mir rein ekelte, behielt ich meistens nicht lange in mir. Man sah mir langsam an, dass ich das Maß des Ertragbaren schon lange überschritten hatte. Mein Overall hing mehr an mir herum, als dass ich ihn trug und mein gesamtes äußeres Erscheinungsbild reichte, um zu zeigen, lasst mich alle am Besten in Ruhe. Die Tatsache, dass ich wieder mit einem Messer duschen ging, erschreckte sogar mich selber. So viele Jahrzehnte waren seit meiner Schulzeit vergangen und ich fing wieder mit diesem Mist an. Zum Glück sich schaltete mein Gehirn noch rechtzeitig wieder ein und ich konnte das Messer wieder in den Halfter stecken, bevor ich mir auch noch meine Haare abrasiert hatte. Eigentlich, musste ich vor mir selber zugeben, war ich gar nicht mehr einsatzfähig. Ich betete jeden früh beim Kaffee trinken, dass keine schlimmen Einsätze kommen würden. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen, ob ich den überleben würde. Nicht in meinem jetzigen Zustand.

*Trotzdem wurde mir mit jedem Tag bewusster, dass ich dieses Buch zu Ende schreiben musste. Noch nie in meinem Leben, hatte ich etwas nicht beendet und auch, weil ich wusste, dass Eva Recht hatte. Mit jedem Tag, den ich weiter in mein altes Leben, wie ich meine Vergangenheit nannte, eindrang wurde mir vor Augen gezeigt, dass ich es richtig machte, einmal mit jemanden über den ganzen Mist zu "sprechen". Auch wenn dieser Jemand nur mein PC war. Selbst das war schon schlimm genug. Denn ich schrieb nur die Sachen auf, die nicht allzu sehr belasteten. Über die wirklich schlimmen Dinge, konnte und wollte ich nicht sprechen. Diese Erinnerungen lagen wohl verpackt in der Ecke 'Anrühren verboten', tief in meinem Gedächtnis vergraben. Sie kamen nur nach oben, wenn es mir richtig bescheiden ging und ich nichts mehr steuern konnte. Wenn ich zum Beispiel hohes Fieber hatte. Eigentlich hatte ich bis jetzt nur die Oberfläche angerissen und selbst das drohte mich langsam zu zerstören, weil ich darüber gar nicht mehr nachdenken wollte.

Micha der das Buch bis zum fertiggestellten Kapitel 13, das ich bis jetzt niedergeschrieben hatte, lesen durfte, war völlig fertig und fragte mich, was noch schlimmer sein könnte, als dass was ich bis jetzt geschrieben hätte. Ich antwortete ihm, dass was ich immer sagte, wenn die Sprach auf bestimmte Themen kam, die mir nicht gut taten. "Das willst du nicht wirklich wissen", klar war dieser Satz einfach in den Raum zu stellen. Aber ich konnte nicht darüber nicht sprechen, es ging einfach nicht. Zu meinem Glück akzeptierte er diese meine Ansage. Ich glaube er ahnte, dass ich ansonsten völlig ausgerastet wäre.

Die tiefen dunklen Augenringe, sagten mehr über mein Wohlbefinden aus, als die Tatsache, dass ich in den letzten 9 Wochen über zwanzig Kilo abgenommen hatte. Zurzeit brachte ich nur noch fünfundsiebzig Kilo auf die Waage, viel zu wenig für meine Muskelmasse. Ein Zeichen, dass ich viel zu wenig aß. Das war nun mal so. Es gab schon immer Zeiten in meinem Leben, in dem ich einfach nicht essen konnte. Das würde sich wieder ändern, wenn ich hiermit fertig wurde. Deshalb zwang ich mich weiterhin, jeden Tag und in jeder freien Minute, weiterzuschreiben. Ich wollte das Buch endlich zu Ende geschrieben haben, um dieses Kapitel in meinem Leben, als erledigt abzuhaken. Ein vor sich hinschieben, würde es nicht leichter machen, weiter zu schreiben.

 *

Wo war ich eigentlich stehen geblieben? Ach ja...

Der Winter 1964 zog ins Land und das Frühjahr des Jahres 1965 hielt Einzug. Mit der warmen Jahreszeit, verlagerte sich das Training von uns Kindern wieder mehr nach draußen, in die Natur. Wir Kinder lernten im eisigen Wasser des Sees, der sich unmittelbar hinter unserer Schule befand, schwimmen und tauchen. Auch lernten wir, zu Beginn des Frühjahrs, das Klettern, an den Felswänden, um unsere Schule herum.

Es war eine unbestrittene Tatsache, dass die Schule an einem idealen Standort erbaut wurde. Hier gab es alles, was sich ein Ausbilder an geographischen Unbilden wünschen konnte. Es gab tiefe und kaum überwindbare Schluchten, es gab Moore, Wälder, riesige Ebenen und ein Flussdeltamit vielen schwierig zu überwindenden kleineren Flussarmen. Genauso wie es hohe Überhänge an den Bergen und glatte kaum überwindbare hohe Felswände gab. Selbst ein Gletscher war in erreichbarer Entfernung, um dort das Überleben zu trainieren.

Es verging keinen Tag und keine Nacht im Leben der Stube "Nemetskiy", an denen wir Kinder nicht kilometerweit mit unserer Ausrüstung laufen mussten. Noch war die Ausrüstung minimal, sie wog um die 20 kg, plus minus 5 kg und war zweckgebunden, da wir ein mehr an Gepäck mit unseren Alter, gar nicht hätten bewältigen können. Aus den medizinischen Unterlagen unseres Schularztes wusste ich, dass wir damals zwischen 21 und 31 kg wogen. Wir trugen also unser eigenes Körpergewicht auf dem Rücken. Dass sah man uns am Ende des ersten Schuljahres auch an. Denn aus den zierlichen und zum Teil dicklichen Kindern, waren durchtrainierte Athleten geworden, die vor Muskulatur nur so strotzten. Die Ausrüstung wurde immer an die jeweilige Situation angepasst und das Gewicht an unsere Körpermaße. Auch die Ansprüche ans Gelände, wurden mit jeden Mal höher. Wenn wir nach draußen gingen und oft ging es dabei für die Gruppe nicht ohne Verletzungen ab, wurde der Schwierigkeitsgrad täglich um ein Minimum angehoben, so dass wir das kaum bemerkten. Waren wir verletzt, mussten weiter mitmachen, nachdem wir verbunden wurden oder man uns das Bein oder den Arm geschient hatte. Da es sich unsere Gruppe zur Aufgabe gemacht hatte, alles gemeinsam zu bewerkstelligen, halfen wir uns stets gegenseitig durch eine Verletzungsphase. Es interessierte niemanden, wie wir Kinder es schafften, am Ziel anzukommen. Das war für die Betreuer und Lehrer stets uninteressant, nur das wir alle ankamen zählte für uns und schlussendlich auch für die Offiziere.

Na gut, ganz stimmte diese Aussage nicht. Doktor Konrad und Oberstleutnant Petrow hielten, so gut es halt ging, zu uns und verhinderte viele Dinge, die für uns schädlich gewesen wären. Erst im Laufe der Jahre und mit unserer immer weiter hochgeschraubten Abhärtung, konnten sie vieles nicht mehr verhindern. Die Beiden versuchten uns halt auf andere Weise zu helfen, in dem sie uns Mittel zur Verfügung stellte, die unsere Gesundheit schützte: Wie zum Beispiel Tabletten die unseren Körper vor dem Auskühlen bewahrte, wenn es draußen zu eisig war oder wir im Winter wieder einmal ins Wasser mussten. Oder in dem man uns erlaubte, etwas zu schummeln. Aber das nahmen wir nur dann war, wenn einer unserer Kameraden dadurch geschützt wurde. Wir wollten nicht, dass die einzigen Menschen die nett zu uns waren, bestraft wurden, nur weil sie uns schützen wollten.

 *

Nicht alle von uns, standen diese Abhärtungsmaßnahmen unserer Ausbilder, schadlos durch. Es gab einige von uns, die damit gar nicht klar kamen. Diese Kameraden zu schützen, war Charlottes dringlichstes Anliegen, als Gruppenführer und in solch einen Fall, fragen wir dann auch einmal nach Hilfe.

Obwohl Charlotte die jüngste aus der Gruppe war, nahm sie oft Strafen in Kauf, um zu verhindern, dass ihre Leute krank wurden. Kein anderer aus der Gruppe "Nemetskiy" traute sich das Wort "Net Tovarishch" auszusprechen. Immer noch war es am Ende des ersten Schuljahres ein schwerer Kampf, den Charlotte oft gegen ihre eigenen Leute führen musste. Warum ist einfach zu klären. Die meisten aus der Gruppe, hatten einfach aufgegeben zu kämpfen. Sie nahmen alles was die Betreuer sagten, für unabänderliches Gesetzt und hätten ohne Charlottes zutun gar nicht versucht, etwas anderes durchzusetzen. Die kleine Dyba allerdings hatte ein gutes Einschätzungsvermögen, was durchführbar war und was nicht. Alles was sie als jüngste konnte, konnten auch alle anderen Gruppenmitglieder mehr oder weniger gut schaffen. Wenn sie selber einschätzen konnte, dass sie es nicht schaffen würde, bat sie erst den Schularzt und wenn das nichts half, Oberstleutnant Petrow um Hilfe. Wenn der Oberstleutnan das auch nicht beeinflussen konnte, holten die beiden Offizieren dann meistens Senko ins Boot, der sich mehr oder weniger für uns Kinder einsetzte.

 *

Das Schlimmste, was im ersten Jahr Charlottes Ausbildung immer wieder einmal passierte, war die Bestrafung mit dem Hof. So auch im Frühjahr 1965, Charlotte war gerade sechs Jahre alt geworden und hatte beim Härtetest im alten Jahr die Gruppenführung übernehmen müssen.

Zum Glück der Gruppe, war Charlotte fast immer in der Lage, die jeweiligen Lehrer oder Betreuer einzuschätzen. Sie konnte von den meisten Ausbildern sagen, sobald sie auf die Gruppe zukamen, was die Gruppe zu erwarten hatte. Oft sah man an deren Haltung, ihrer Gangart und dem entsprechenden Gesichtsausdruck oder dem Zustand der Kleidung, wie der jeweilige Ausbilder gelaunt oder gerade drauf war.

Im Gegenteil zu den Kindern der Stube "Nemetskiy", durften die Betreuer und Lehrer oft ihre Kleidung vernachlässigen. Sie bekamen dann zwar beim nächsten Rapport, eine klare Ansage von Senko, aber das störte die meisten Untergebenen nicht. Nur die Kinder durften niemals ihr Aussehen vernachlässigen. Ein falsch gebügelter Overall, konnte eine schlimme Bestrafung zur Folge haben.

Wie immer, wenn es um den Schutz ihrer Gruppe ging, stellte sich Charlotte hin und sagte ihre Meinung: "Net Tovarishch." Obwohl die kleine Dyba gerade einmal sechs Jahre alt war, hatte sie mehr Verstand, als so mancher Betreuer. Das sprach sich bald unter den Betreuern herum: Charlotte befahl dann ihrer Gruppe, zu bleiben wo sie ist und würde den gegebenen Befehl nicht ausführen. Egal wie sehr die Lehrer dann tobten, die Gruppenführerin ließ ihre Gruppe dann auf dem Exerzierplatz stehen.

So auch Anfang April 1965, als Hauptmann Titow den Befehl erteilte, in zehn Minuten mit Schwimmsachen, zum Abmarsch bereit zu stehen. Birgitt, die mittlerweile beste Freundin von Charlotte, sollte am Schwimmen im See teilnehmen, genauso wie Olaf und Phillip. Das ließ die Gruppenführerin nicht durchgehen. Die drei Rekruten hatten schon seit Tagen hohes Fieber und plagten sich mit einer schweren Erkältung herum. Alle Drei husteten ständig und früh um 6 Uhr bei der Frühvisite des Doktors, hatten alle drei schon über 39°C Fieber und sollten sich umgehend auf der Krankenstation einfinden. So erkältet wie die Drei waren, sollten sie ins Wasser, das nur eine Temperatur von 6°C hatte, das war nicht zu verantworten.

Kapitan Titow, wie der Russe gern genannt wurde, war wenn er abends etwas getrunken hatte, ein bärbeißiger Ausbilder, mit dem man allerdings an guten Tagen sehr viel Spaß haben konnte und der ihnen viele Tricks und Kniffe beibrachte. Das Schlimmste an ihm, war die Tatsache, dass man nie genau einschätzen konnte, wie er in dieser Sekunde reagieren würde. Erst nach seinem ersten Satz wusste man, welche Laune er an diesem Tag hatte. Dieses Nicht einschätzen können, machte Kapitan Titow so gefährlich. Erwischte man ihn auf den falschen Fuß, konnte man sich böse Strafen einhandeln. Die Bestrafung Hof, war immer noch die angenehmste, die einen erwischen konnte. Titow war oft uneinsichtig, was den gesundheitlichen Zustand seiner Schützlinge anging. Deshalb kämpften der Doktor und Charlotte oft vergeblich gegen dessen Befehle. Vor allem dann, wenn er am Abend zu vor mit seinen Kumpanen einen heben war. So wie an diesem Morgen.

"Towarisch Titow, Stube "Nemetskiy" mit zweiundzwanzig Mann wie befohlen, zum Abmarsch bereit. Rekruten Mühle, Lorenz und Kronberger befinden sich auf der Krankenstation, können wegen hohen Fiebers nicht am Schwimmunterricht teilnehmen", machte Charlotte wie es sich gehörte Meldung.

Es waren die falschen Worte, und die falsche Meldung, das merkte die Gruppenführerin sofort. Denn Titow sprang sofort aus dem Anzug. Genau davor hatte sie Angst gehabt. Aber, was nützte es diese zu zeigen. Charlotte biss die Zähne zusammen und spannte ihre Muskulatur an. Hier half jetzt nur das Abblocken und das konnte sie gut.

"Dyba, was hatte ich vor zehn Minuten gesagt?"

"Kapitan Titow, sie befahlen, in zehn Minuten, pünktlich vor der Mensa, mit Badesachen zu erscheinen. Das haben wir gemacht", wiederholte sie die gemachte Ansage, ließ mit Absicht das Wörtchen "alle" unerwähnt.

"Denk noch einmal nach, Dyba", forderte Titow sie auf.

Es blieb ihr also nichts übrig, als es wortwörtlich zu wiederholen. "Kapitan Titow, sie befahlen wortwörtlich, dass Alle in zehn Minuten, pünktlich vor der Mensa, mit Badesachen zu erscheinen hätte. Da Lorenz, Kronberger und Mühle sich auf der Krankenstation, mit einer beginnenden Lungenentzündung befinden, haben wir ihren Befehl wortgetreu und vollständig ausgeführt und sind wie gewünscht, pünktlich angetreten", mühsam versuchte Charlotte sich ihre Wut nicht anmerken zu lassen. Was ihr jedoch nicht gänzlich gelang.

"Warum bist du wütend, Dyba?"

"Kapitan Titow, ich bin nicht wütend. Aber ich bin verunsichert, wieso sie verlangen, dass drei meiner Leute die schwerkrank sind mit zum Schwimmunterricht erscheinen sollen. Lassen wir sie jetzt einfach einmal ein paar Tag auf der Krankenstation, dann sind sie in einer Woche wieder fit, hat mir Doktor Konrad erklärt. Wenn wir sie mit zum Schwimmen nehmen, fallen sie wahrscheinlich für mehrere Wochen aus oder sterben ihm unter den Händen weg. Das wäre nicht so gut für die Statistik, waren seine Worte, Genosse Titow", versuchte sie die Wut des Ausbilders einzudämmen und mit Konrads Worten zu erklären, warum ein Schwimmen für die Drei ausfallen musste.

Wütend brüllte Titow nun los. "Was glaubst du eigentlich, wer du bist, Dyba? Dass du besser als ich einschätzen kannst, wer tauglich ist am Schwimmunterricht teilzunehmen, als ich. Die Drei schwänzen den Unterricht, in Ordnung. Du bekommst drei Tage Hof dafür, dass du dich gegen meine Anweisung stellst. Abmarsch, im Laufschritt, nu davay."

Erleichtert atmete Charlotte auf, dass den Dreien das Schwimmen heute erspart blieb. Auch, wenn es für sie wieder eine Strafe einbrachte. Aber mit drei Tagen Hof konnte sie Leben. Solange ihre kranken Leute sich erholen konnten.

Drei Tage Hof heiß nichts anderes als dass Charlotte sich barfuß nur mit dem Overall bekleidet, nach dem Unterricht, neben den Fahnenmast stellen musste und dort bis zum nächsten Morgen stehen musste. Diese Strafe war hart, da man diesen Ort zu keiner Zeit verlassen durfte. Egal, ob man auf die Toilette musste oder Durst hatte oder sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Vor allem war es im April eine harte Strafe, da es nachts sehr kalt wurde und man sich nicht bewegen durfte. Aber mittlerweilen wusste Charlotte nur zu gut, dass es schlimmere Strafen gab, die Kapitan Titow aussprechen konnte. Das Mädchen hoffte inständig, dass es Doktor Konrad aus Angst um sie, für sie nicht noch härter machen würde. Denn schon einigemal in diesem Schuljahr hatte der Arzt mit solchen Einmischungen, die Strafe noch verschlimmert. So schlimm wie Titow heute drauf war, würde es ihr die schlimmste Strafe einbringen die es für sie gab.

Leise flüsterte sie deshalb zu ihrer Nachbarin, "Kati, bitte wenn wir zurück sind vom Schwimmen, kümmer dich um die anderen und sorge dafür, dass der Doc sich nicht wieder einmischt." Im gleichen Atemzug gab sie das Kommando. "Achtung, in Doppelreihe aufschließen und Abmarsch. Ruhe im Glied und Laufschritt marsch."

Ohne zu murren, schlossen die hintersten elf Mitglieder der Gruppe auf und man lief die zwei Kilometer zum See, in einem hohen Tempo. Schon alleine deshalb, weil es um die frühe Uhrzeit, es war gerade einmal 8 Uhr, noch frisch war und man schon seit fast einer halben Stunde auf den Exerzierplatz stand und fror. Das Thermometer zeigte gerade einmal 10°C an.

Froh wenigstens die drei Kranken zurücklassen zu können, liefen die Kinder zum See und ergaben sich ihrem Schicksal. Titow war mit dem Jeep schon vorgefahren und saß im Boot, dick angezogen, mit warmen Stiefeln und Shapka bekleidet, saß er im Trockenen und machte es sich mit seinem Saufkumpanen, bei einem Schluck Wodka gemütlich.

Kaum, dass die Kinder am Ufer des Sees angekommen waren, wurden sie ins Wasser gejagt. Mussten ständig vom Ufer zum Boot und wieder zurück schwimmen. Wenigstens gab es am Ufer ein Feuer, an dem sich die Kinder aufwärmen konnten. Nach vier Stunde beendete Titow diese Tortur für die Kinder, da ihm selber kalt war und er nur noch zurück in die Schule wollte. Ab und an, kam sogar das gute Herz Titow einmal durch, denn er ordnete an, die Sauna für die Kinder frei zu schalten. Auf den Boot hatte er sich mit seinen Begleiter Major Dan kurzgeschlossen, als er sah wie durch gefroren die Kinder waren und gab ihm Recht, dass es nichts nutzte, wenn alle morgen krank auf der Krankenstation liegen würden. Deshalb konnten sich die Kinder in der Sauna richtig aufwärmen.

Alle außer Charlotte, die sobald sie in der Schule zurück gekommen waren, die Schuhe auszog und sich auf den Hof, neben den Fahnenmast stellen musste. Da Charlotte wie immer die Strafen sofort ohne Verzögerung annahm, kehrte Titow nach sechs Stunden noch einmal zu Charlotte zurück. Das Abendessen für die Kinder war schon vorbei und Titow war auf dem Weg in die Mensa, um dort sein Abend zu verbringen. Es ging mit riesen Schritten auf 20 Uhr zu. Mittlerweile zitterte das Mädchen am ganzen Körper und verfluchte Titow wie noch nie im Leben.

"Was ist los Dyba, dir ist doch nicht etwa kalt", fragte der mittlerweile angetrunkene Titow.

"Genosse Kapitan, mir war schon wärmer", gab sie ihn eine ausweichende Antwort.

"Wärst wohl auch gern in die Sauna gegangen?" Fragend blickte er auf die Kleine.

"Genosse Titow, ja das wäre ich gern, aber Strafe muss sein. Aber sagen sie mir, was ich hätte machen sollen. Würden sie ihre Freunde, wenn sie krank sind ins kalte Wasser schicken. Das kann ich doch nicht machen. Sie würden mir sterben, Genosse Kapitan. Also muss ich die Strafe, für das nicht befolgen eines Befehls, in Kauf nehmen", zitternd sah sie hoch zu dem in einer dicken Jacke steckenden Lehrer.

"Du wusstest also, dass es falsch war meinen Befehl nicht korrekt auszuführen?"

"Da, Tovarishch Titow", antwortete die Kleine ordnungsgemäß auf Russisch. Mit den wenigen Worte die sie auf Russisch sprechen konnte. Noch immer beherrschte sie die russische Sprache sehr unzureichend. Zum Glück sprach Titow, fließend Deutsch, so dass Charlotte nicht immer jemanden fragen musste, was der Lehrer von ihr wollte.

"Dann denkst du, dass du das nächste Mal meinen Befehlen gehorchst?"

"Net, Tovarishch Titow. Wenn ich in die gleiche Situation noch einmal kommen würde, Genosse Kapitan, dann würde ich wieder so entscheiden. Die Gesundheit meiner Gruppe ist mir mehr wert, als meine eigene."

Lange musterte Titow, das Mädchen, dass er sehr mochte. Die Kleine hatte Mut, nicht einer der anderen Gruppenführer, hätte sich so offen gegen einen Befehl gestellt. Gerade diese offene Geradlinigkeit, machte es möglich Charlotte in bestimmten Situationen einzuschätzen. 'Obwohl das gar nicht so wirklich stimmte', ging es Titow wieder einmal durch den Kopf. 'Man konnte die kleine Dyba nur genau einschätzen, wenn es um die Gruppe ging. Was sonst in diesem kleinen Kopf vor sich ging, konnte man nicht erraten.' Immer wieder überraschte sie durch ihre Handlungen und er entdecke Seiten an ihr, die ihn freuten. Er mochte ihr Verhalten, das immer Kameradschaftlich war und deshalb hatte er dieses Mal ein einsehen.

"Verschwinde in die Sauna, nu davay. Dieses eine Mal will ich dir das durchgehen lassen. Doktor Konrad hat mir deine drei Kameraden gezeigt und ich muss dir leider Recht geben. Die Drei hätten den heutigen Tag nicht überlebt. Deshalb und wirklich nur deshalb, erlasse ich dir dieses Mal die gesamte Strafe. Aber reize dein Glück nicht noch öfter aus. Ab in die Sauna mit dir, nu davay", gab er Charlotte die Erlaubnis in die Sauna zu gehen.

Vorschriftsmäßig salutierte das Mädchen und drehte sich um hundertachtzig Grad, um in die Sauna zu laufen. Erleichtert und mit den Zähnen klappernd, war sie zehn Minuten später in der Sauna an und konnte sich endlich aufwärmen.

Erleichtert sah das auch Konrad, der oben in seinem Büro am Fenster stand. Mittlerweile zeige das Thermometer nur noch 4°C an und es wurde Zusehens kälter. Vor allem blies ein eisiger Wind aus Richtung Norden. In der Nacht würden es Minusgrade geben und das hätte die sowieso, vom Schwimmen, völlig ausgekühlte Charlotte nicht überlebt. Deshalb hatte er sich Titow, in einem seiner guten Momente zur Brust genommen und ihn gebeten die Kleine in die Sauna zu entlassen. Denn auch Charlotte war tüchtig erkältet und musste endlich ins Warme. Zum Glück ließ sich Titow nach den dritten Cognac erweichen. Aber dafür hatte er gern seinen besten Tropfen geopfert.

Immer wieder bewunderte Konrad das Verhalten des Mädchens, was er erst als nicht für dieses Projekt tauglich eingestuft hatte. Er behielt die Kleine nur hier, weil es ihn in der Seele schmerzte zu sehen, wie sie von ihrer Familie behandelt wurde.

Erst in den Wochen, die sich Charlotte unten in der Gruppe "Nemetskiy" aufhielt, zeigte sich das wahre Potential des Mädchens. Die kleine Dyba war stets ein abendfüllendes Thema, bei den Petrows. Egal wie oft er bei den Petrows zu Abend aß, immer wieder kamen sie auf die Kleine zu sprechen. Wie oft hatte Konrad in den letzten Wochen beobachtet, wie sich Charlotte schützend vor ihre Kameraden stellte. Wenn er seine Patientin zu sich auf die Krankenstation bestellte, weil er wieder einmal, ihr eiterndes Ohr behandeln musste, bekam er stets die gleiche Antwort auf seine Fragen: "Warum sie sich ständig für ihre Kameraden einsetzen würde?"

"Was soll ich denn machen, Genosse Konrad. Die Machen doch alles was die Lehrer sagen. Egal ob sie hinterher sterben müssen. Den meisten unten in der Stube ist es doch egal, ob sie Leben oder sterben. Wenn ich nicht auf sie aufpasse, dann sind bald alle tot. Willst du das? Komm mache mein Ohr heil, ich muss wieder runter zu den Anderen", bat sie ihn, obwohl sie immer Angst vor der Behandlung hatte.

 

 

Das Abreißen des Ohres, durch Ranjow hatte schwere Schäden am Innenohr Charlottes verursacht, die einfach nicht ausheilen wollten. Deshalb bestellte Doktor Konrad auch einen Ohrenspezialisten für Charlotte in die Schule, der sich das Ohr einmal genauer ansehen musste. Nach einer langen und ausführlichen Diskussion, mit Senko, der dem Mädchen keine vierwöchige Pause gönnen wollte, musste dieser allerdings einsehen, dass das nicht behandeln dieser ständigen Entzündungen von Charlottes Ohr, zu dauerhafter Schädigung des gesamten Körpers führen würde. Also beschloss man, bei der heutigen Stabssitzung in Moskau, dass die Kleine morgen nach Moskau ins Militärhospital fliegen würde und so lange dort verblieb, bis die Ärzte dort, die Entzündung in den Griff bekamen.

Damit Charlotte, die ja der russischen Sprache noch nicht mächtig war, nicht alleine fliegen musste, flog Dunja, deren deutsch Kenntnisse in der Zwischenzeit beachtlich waren mit. Sie sollte die Zeit des dortigen Aufenthaltes von Charlotte nutzen, um ihr die Sprache beizubringen und ihr einigen der wichtigsten Verhaltensregeln beizubringen, die sie in der Zukunft brauchen würde. So dass das Defizit, dass die kleine Dyba durch ihre lange Krankheit hatte, vollständig beseitigt wurde und sie durch den Aufenthalt in der Moskauer Klinik nicht noch mehr Rückstand bekam. So würde Dunja ihr das russische ABC beibringen und das kleine Einmaleins. Denn diese Dinge waren für die nächsten fünf Wochen geplant.

Die Operation die Charlotte bevorstand, war nicht ganz ungefährlich, denn der Knochen hinter dem Ohr musste entfernt werden, da durch das ständige Eitern des Ohres, das jetzt schon über Monate ständig hochgradig entzünden war, völlig zerfressen war. Charlotte würde für diesen Knochen einen Stahlplatte in den Kopf bekommen und musste für vier Wochen, fest liegen. Nach sechs Wochen würde sie in die Schule zurückkehren und so hoffte der Arzt sehr, sofort wieder ins Training einsteigen können. Alles hing davon ab, wie zügig man die Kleine operieren konnte und vor allem wie gut, Charlotte die Operation vertrug. Konrad war sich darüber im Klaren, dass eine Erkältung, die Chance einer zügigen Operation verhindern würde. Das alles hielt er Titow heute vor Augen.

Zum Glück für Charlotte, wusste sie davon noch nichts, denn keiner der Lehrer oder Betreuer hatten mit dem Mädchen über die geplante Operation gesprochen.

 *

Am frühen Morgen des 9. Aprils 1965 wurde Charlotte beim Morgenappell, völlig von der Tatsache überrascht, dass sie ihre Reisetasche packen sollte und in fünfzehn Minuten fertig in Ausgehmontur vor der Mensa erscheinen musste. Verwundert schielte sie ihre Nachbarin in der Reihe an, weil sie der Meinung war, etwas nicht richtig verstanden zu haben. Kati übersetzte wie immer die Ansagen, die beim Morgenappell gemacht wurden, für die der Sprache noch nicht mächtigen Gruppenführerin.

"Wieso soll ich mit Tasche und Montur vor die Mensa? Ich hab doch gar nichts angestellt?"

Charlotte suchte den Blick Konrads, von dem sie mit den Augen Hilfe erbat, weil sie den Befehl nicht verstand. Erleichtert stellte sie fest, dass er ihr das Zeichen fürs Abwarten gab. Deshalb konzentrierte sie sich wieder auf Katis Übersetzungen, damit sie genaue Anweisungen an die Gruppe geben konnte. Als der Befehl kam abzutreten, ging sie mit allen zurück in ihr Zimmer. Doktor Konrad würde in den Raum kommen und ihr erklären, was und warum sie wieder für eine Strafe zu erwarten hatte.

Sie ahnte schon gestern Abend, dass Titow seine Strafe nicht so einfach fallen lassen würde. Das war absolut nicht die Art des Lehres für Schwimmen und Tauchen, dass er seine Befehler korrigierte. Noch nie hatte ein Lehrer eine Strafe einfach zurück genommen. Tief holte Charlotte Luft, um sich zu beruhigen. Sie wollte nicht schon wieder Fieber bekommen und das wusste das Mädchen genau, das würde kommen, wenn sie sich in ihre Angst hinein steigern würde.

Deshalb nahm sie die Tasche, die vor dem Raum der deutschen Kinder stand und lief lieber sofort an den Spind und packte alles, was sie für einen Marsch brauchte, in ihre Tasche. Kaum hatte sie mit Packen angefangen, ging auch schon die Tür auf und Dunja erschien, mit dem Schularzt zusammen im Raum.

Lachend schüttelte Konrad den Kopf. "Charlotte, bitte räume alles wieder in deinen Spind. Du brauchst nur Unterwäsche und Overals und Socken. Alles andere kannst du hier lassen. Du fährst mit Dunja zusammen nach Moskau in eine Klinik, damit man dein Ohr endlich heilen kann. Dazu brauchst du keine Ausrüstung", teilte er dem Mädchen mit.

Der verwunderte Blick Charlottes, sagte dem Arzt sehr viel. Wieder einmal hatte niemand mit der Kleinen gesprochen und sie wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Wütend fuhr sich der Arzt durch die Haare. Dass konnte doch einfach nicht wahr sein. Wieso gab es eigentlich tägliche Dienstanweisungen, wenn sie niemand einhielt. Musste er denn alles selbst überprüfen und kontrollieren.

In dem Moment erschien Oberst Raduew im Raum, derjenige der Charlotte am gestrigen Tagen von der Tatsache unterrichten sollte, dass sie nach Moskau in die Klinik musste.

"Genosse Raduew, warum haben sie Charlotte nicht von der Tatsache unterrichtet, dass sie nach Moskau fliegt?" Erkundigt sich Konrad auf Rumänisch bei dem Offizier.

"Das braucht die kleine Rotznase doch nicht wissen. Es reicht, dass die schon wieder wochenlang das Training verpasst", sprach der im laschen Ton, gegenüber dem Stabsarzt.

Raduew und Konrad hatten, so die Formulierung des Schularztes, aufeinander die gleiche Wirkung wie eine Feuermelder bei einem Brand. Wo die Beiden aufeinandern trafen, wurde es gefährlich. Konrad holte tief Luft und wandte sich Charlotte zu, die zusammen mit Dunja die Sachen fürs Krankenhaus packte.

Charlotte die in dem Moment den Oberst im Raum stehen sah, rief laut in den Raum.

"Achtung, stillgestanden", sofort standen alle wie es verlangt wurde, zwanzig Zentimeter vom Bett entfernt, im Gang. "Genosse Ratuew, Stube "Nemetskiy" ist bereit weitere Befehle entgegen zu nehmen. Wir haben drei Kranke auf der Krankenstation und ich muss wie ich gerade erfuhr nach Moskau, warum weiß ich nicht", machte sie ordentlich Meldung.

"Wer übernimmt die Gruppe in deiner Abwesenheit, du Heulsuse. So schlimm kann dein Ohr doch gar nicht sein. Du stehst ja noch auf deinen eigenen Füßen."

"Genosse Oberst, dass kann ich ihnen nicht beantworten. Ich bin gerade ratlos. Ich wusste doch nicht, dass ich weg muss", unsicher schielte Charlotte zu Konrad, weil sie nicht wusste wie sie sich verhalten sollte, in diesem Moment.

Kurzentschlossen lief sie zu Kati und bat Sebastian zu sich, kurz berieten die Drei sich und keine zwei Minuten später, trat Charlotte vor den Oberst. "Genosse Ratuew, Rekrut Kraus übernimmt die Gruppenführung in meiner Abwesenheit und Rekrut Schulze nimmt den Platz des Stellvertreters ein. Alles weitere müssten sie bitte mit den Beiden klären, ich muss in zwei Minuten vor der Mensa sein."

Charlotte hoffte, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten. Denn nicht alle hörten auf das was Kati sagte. Aber auf die Schnelle, war ihr keine andere Option eingefallen. Den Birgitt lag krank auf der Krankenstation und zu den anderen in ihrer Gruppe, hatte sie noch weniger Vertrauen als zu Kati. Scheinbar waren es die richtigen Worte, die sie gewählt hatten, denn Ratuew fing nicht wie sonst immer, mit seiner Herumbrüllerei an. Erleichtert nickte Charlotte ihren Kameraden zu, die sie jetzt viele Wochen nicht mehr sehen würde. Traurig schnappte sie sich ihre Tasche, sah zu Konrad, der nickte ihr zu und verließ mit ihr und Dunja zusammen den Raum.

Auf den Weg nach draußen nahm Konrad das Mädchen kurz in den Arm. "Charlotte, vertraue dem Arzt in Moskau, der ist wirklich gut und kann dir helfen", verabschiedete er sich von der Kleinen. "Gute Besserung und pass auf dich auf."

"Doc, passt du auf meine Gruppe auf", war die einzige Sorge die das Mädchen im Moment hatte.

"Klar ich passe auf und ich helfe Kati, so gut ich kann und darf. Kati schafft das schon", beruhigte er sein Mädchen.

Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ Charlotte im Laufschritt das Gebäude um rechtzeitig zur Treppe der Mensa zu kommen. Dass sie Dunja dadurch stehen ließ, die ja auch mit einer großen Tasche bepackt war, wurden dem Mädchen gar nicht bewusst. Das Einzige was zählte, war die Tatsache pünktlich am bestellten Ort zu stehen. Wenn Dunja später kam, hatte das keine Folgen, bei ihr schon. Am liebsten hätte sie losgeweint, weil sie ihre Kameraden im Stich ließ, aber das konnte sie niemanden zeigen. Deshalb schluckte sie wieder einmal die Tränen herunter und stellte sich an die Treppe zur Mensa, um das was auf sie zukam über sich ergehen zu lassen.

***

*** Nach der Klinik ***

***

Tja, was soll ich zu den nachfolgenden Wochen sagen. Es waren die schönsten und zugleich die schlimmsten Wochen, seitdem ich in der Schule war. Zwar hatte ich Schwester Dunja für mich ganz alleine und genoss es, umsorgt zu werden, regelmäßige warme Mahlzeiten zu bekommen und vor allem in einem warmen und trockenen Raum zu leben. Auf der anderen Seite, fehlten mir die Bewegung und meine Kameraden. Außerdem hatte ich bei all dem Luxus den ich hier genoss, ständig ein schlechtes Gewissen, wenn ich an meine Kameraden dachte.

Seit über einen halben Jahr, war ich ständig in Bewegung und in der Klinik musste ich, nach den Operationen wochenlang ruhig liegen und durfte mich nur wenig und dann nur sehr vorsichtig bewegen. Die Platte in meinem Kopf musste erst richtig einwachsen, das würde einige Wochen und bis zum Ausheilen einige Monate dauern.

Das Schlimmste an der ganzen Situation, war für mich, wieder in dieser absoluten Isolation zu sein. Getrennt von meinen Kameraden, mit denen ich seit einem halben Jahr, rund um die Uhr zusammen war. Mir fehlten vor allem nachts ihre Atemgeräusche, die mir in den Schlaf und damit zu etwas Ruhe verhalfen. Dieses Tuscheln und Geflüster um ich herum, das mir anzeigte, da war jemand, der auf mich aufpasste und mich beschützen würde, wenn es hart auf hart kam. Meine Freunde und Kameraden, waren zu meiner Familie geworden und ohne sie fühlte ich mich einfach nur einsam und allein. Da half auch Dunjas Anwesenheit, über den Tag nicht wirklich. Denn nachts war ich alleine, denn Dunja schlief bei einer Freundin, um Kosten zu sparen. Da ich in einem Beobachtungsraum lag, war ich nie wirklich allein. Aber das Licht verhinderte, dass ich einschlafen konnte.

Vor allem traute ich den Menschen, die größer waren als meine Freunde und ich, einfach nicht über den Weg. Hier in der Klinik waren alle größer als ich, wie also sollte ich denen trauen. Ich kannte sie ja nicht. Vor allem braucht Vertrauen Zeit zum Wachsen und Zeit hatte ich am Anfang nicht wirklich. Nicht nach dem, was der Professor gemacht hatte, bei meiner Aufnahme. Ich glaube, ich konnte dieses Misstrauen, nie wirklich wieder abgelegt. Noch heute tue ich mich schwer damit, Vertrauen zu mir fremden Menschen zu fassen. Dieses Gefühl, wieder verraten und verlassen zu werden, hatte mich nie wieder los gelassen.

Ich brauchte schon damals, keine imaginären Freunde mehr, wie meinem Herrn Bär oder der Puppe aus einem Taschentuch. Aus diesem Alter hatte mich die Schule sehr schnell herausgerissen. Ich weinte deshalb meinem Herrn Bär, schon lange nicht mehr hinterher, ihn hatte ich schon lange verloren. Er war und blieb für mich unerreichbar. Herr Bär bekleidete mich nur noch in meinen Träumen und niemand, wirklich niemand, konnte mir diese Erinnerungen nehmen. Ich flüchtete mich in dieser Zeit, oft in meine Traumwelt, wenn es mir schlecht ging. Aber selbst dort schaffte es die Realität, leider zu oft, mich einzuholen. Trotzdem blieb es meine geheime Welt, in die ich nie jemand hinein ließ, außer meine allerbeste Freundin Birgitt. Dort fanden später auch viele meiner Freunde einen festen Platz, die nicht mehr am Leben waren, die ich aber nicht vergessen wollte. Sie waren dann meine Drachen, die in den Drachenbergen, meiner Fantasie, gegen alles Böse kämpften.

Allerdings waren es nur die Erwachsenen, denen ich kein solches Vertrauen mehr entgegen bringen konnte, so sehr sie das auch verdient hätten. Sie bekamen vielleicht sechzig Prozent meines Vertrauens. Aber ich blieb immer auf der Hut. Meine Erfahrung sagte und bestätigte mir immer wieder, wenn es mir gut ging, würde es bald wieder die Hölle auf Erden werden. Selten trog mich dieses ungute Gefühl, dass sich in meinem Bauch einnistete.

 *

Ich glaube, das war auch heute noch so. Wenn ich es mir Recht überlegte, traute ich nicht einmal meinen Kameraden, meiner eigenen Einheit zu hundert Prozent. Ständig kontrollierte ich alles und sah mich immer wieder um, ob in meinem Rücken keine Gefahr war und das, obwohl mich mein Rückenmann deckte. Eine Dumme Angewohnheit aus meinen Schuljahren. Selbst zu Hause, setzte ich mich immer so, dass ich die Wand im Rücken und den Blick und den Weg frei zur Tür habe. Vor allem setzte ich mich immer auf den gleichen Platz. Meine Kameraden hatten diese meine Macke irgendwann einfach akzeptieren gelernt. Ich wurde selten böse, setzte sich jemand auf meinen Platz, konnte ich in meinen Anfangsjahren richtig ausrasten. Mich mitten in einer Gaststätte an einen Tisch zu setzen, mit lauter mir nicht bekannten Leuten, um mich herum, hatte ich noch nie gekonnt. Lieber blieb ich Pflichtveranstaltungen fern oder stand in einer Ecke, aus der ich alles beobachten konnte. Kein Anpfiff meiner Vorgesetzten, hatte daran etwas geändert. Schnell wurde diese meine Macke akzeptiert und man setzte meine Leute immer so, dass ich nicht mit dem Rücken zur Tür und in den Saal sitzen musste. Manche Macken haben halt auch seine Vorteile. Aber ich schweife ab, vom Thema. Mir wurde das nur eben bewusst.

 *

Auch, wenn es mir nach den Operationen, oft nicht gut ging und es einige Komplikationen gab, die so nicht eingeplant waren, konnte ich die Zeit in Moskau genießen. Die einzelnen Operationen waren deshalb schwer, da durch Ranjow Tritte mehr als nur mein Ohr kaputt gegangen war. Meine gesamte rechte Kopfseite war buchstäblich auseinander gebrochen und zertrümmert. Sie bestand aus vielen Einzelteilen, die nicht richtig zusammen gewachsen waren. Das erklärte wiederum, meine ständigen schlimmer Kopfschmerzen, die Konrad auf die Entzündung des Mittelohres geschoben hatte, da ich mir bei diesen Schmerzattacken immer die rechte Gesichtshälfte hielt.

Bei allem Können unseres Schularztes in Diagnostik, hätte es Konrad nicht besser feststellen können. Im Krankenhaus von Shera, gab es nur ein sehr alten Röntgenapparat aus den frühen 1920 Jahren, dass dem Arzt zur Verfügung stand. An den nicht sehr scharfen Aufnahmen des Apparates, konnte man diese Art eines Trümmerbruchs meiner Schädeldecke, gar nicht erkennen.

Die in Moskau festgestellten Kopfverletzungen waren wesentlich schlimmer, als Doktor Konrad und der Arzt der Klinik in Shera erst gedacht hatten. Bei dem Untersuchungsmarathon, den ich über mich ergehen lassen musste, wurde festgestellt, dass nicht nur mein Schädel etliche Brüche mehr abbekommen hatte, sondern auch mein Jochbein und der Unterkiefer waren falsch zusammen gewachsen. Deshalb, so erklärte mir Saizew, hatte ich immer Schmerzen, nicht nur beim Kauen. Auch die Schmerzen beim Essen, hatte Konrad immer auf die schlimme Entzündung des Ohres geschoben, weil er sich anders, die Schmerzen nicht anders erklären konnte. Die mich so manches Mal einfach zusammengerollt und schreiend im Bett liegen ließen. Ein Diagnostiker war und ist halt nur so gut, wie die Mittel die ihm zur Verfügung standen. Konrad macht sich noch viele Jahre Vorwürfe, diese schweren Verletzungen übersehen zu haben. Hätte er geahnt dass die Verletzungen so schlimm waren, hätte er mich schon viel früher nach Moskau überwiesen.

Dank der guten Diagnostik, die dem Moskauer Krankenhaus zur Verfügung standen, konnten alle Schäden, an meinen Kopf beseitigt werden. Ich konnte von Glück reden, dass ich keine schlimmeren bleibenden Schäden zurückbehalten hatte, als ab und an einmal etwas Kopfschmerzen. Na gut alle Schäden wurden nicht behoben. Aber alle die Schäden, die nach meiner ersten Woche in der Schule entstandenen Schäden, wurden beseitigt. Na gut auch das stimmt auch nicht ganz. Sagen wir einfach, alle die Knochen betreffenden Schäden, dass kommt der Sache am Nächsten. 'Jetzt musste sogar ich lachen, beim Schreiben dieser Zeilen.'

Der russische Spezialist Professor Saizew, der auch Chefarzt der Moskauer Klinik war, war auf Kopfverletzungen spezialisiert und konnte bei meiner Aufnahme in die Klinik, nicht verstehen, wie ein sechs Jahre altes Kind, solche schweren Trittverletzungen am Kopf davon tragen konnte. Auch heute noch staune ich darüber, dass der Arzt sofort von Trittverletzungen sprach.

Mir wollte einfach die erlebte Szene nicht aus dem Kopf gehen, wie Saizew wutendbrand auf Dunja losstürzte und sie anschrie, wie ein Irrer. Der Arzt den ich später, immer als einen meiner liebsten Ärzte beschrieb, schüttelte Dunja durch und schimpfte wütend auf Russisch mit ihr, wie sie so etwas zulassen konnte. Ich hatte Angst, um meine Schwester, einer der liebsten Menschen in meiner Schule und fing an, wie eine Irre zu schreien. Aus reiner Panik und weil man meine Dunja so schüttelte.

Nur zu gut wusste ich, wie weh das Schütteln tat. Denn so hatte mich meine Erzeugerin immer durchgeschüttelt. Ich verlor vollkommen die Kontrolle über mich, biss, schrie und schlug um mich, aus purer Angst, um meine kleine Schwester, die dem Arzt kaum bis unter die Achseln reichte. Erst in diesem Moment wurde dem Arzt sein Fehler bewusst und beherrschte sich.

Professor Saizew hatte keinerlei Erfahrungen mit Kindern, als Patienten, daher wusste er gar nicht, was er mit seinem Verhalten bei mir auslöste. Er war ein reiner Militärarzt, gewohnt erwachsene Menschen zu behandeln, die alles was er sagte verstehen konnten. Es war ihm nicht bewusst, wie sehr er mich mit seinem Verhalten erschreckt hatte. Als er es begriff, ließ er Dunja sofort los und kam auf mich zu. Leise russisch auf mich einreden, mit Worten die ich nicht verstand und wollte mich beruhigend in den Arm nehmen. Bei mir war er aber in diesem Moment unten durch. Er hatte meiner Dunja weh getan und ich konnte seine Worte ja überhaupt nicht verstehen. Leider wusste ich nur zu gut, wie weh das Schütteln tat. Da nicht nur meine sogenannte Mutter, mich immer auf diese Art durchgeschüttelt hatte, sondern auch Ranjow, als er mich damals so verletzte. Alle Bilder, die von dieser Behandlung durch Ranjow, in meinem Gedächtnis eingebrannt waren, kamen in mir hoch und lösten den totalen Widerstand in mir aus. Schreiend und wild um mich schlagend, tretend und beißend, brüllte ich meine Wut über diese Behandlung dem Arzt entgegen.

"Du bist böse!... Lasst meine Schwester Dunja los!", brüllte ich so laut ich konnte, den Arzt und die Pflegekräfte an. Als mich Saizew anfassen und mich so beruhigen wollte, schlug ich nach ihm und biss ihn in meiner Wut und Angst, sogar in die Hand. "Fass mich nicht an! ... Geh weg! ... Du bist böse!... Schütteln tut doch weh", schrie ich ihm entgegen und fing zwischen durch immer wieder an zu schreien, um ihn von Dunja fernzuhalten.

Sollte er mich schlagen und treten, aber nicht meine Dunja. Etwas anderes fiel mir in diesem Moment nicht ein. Denn gegen den großen, wenn auch schlanken Arzt, hatte ich keine Chance. Aber ich musste Dunja beschützen, das hatte ich doch den Genossen Petrow versprochen. Außerdem hielten mich zwei Pfleger und eine Schwester fest, um zu verhindern, dass ich vom Untersuchungstisch sprang. Deshalb, konnte ich Dunja nicht zu Hilfe eilen.

Vergeblich gaben sich der Arzt und die Pflegekräfte der Mühe hin, mich zu beruhigen. Dunja war von allem so geschockt und konnte sich nicht rühren. Keiner rechnete mit so einer massiven Gegenwehr von mir. Sie wollten einfach weiter machen mit ihren Untersuchungen. So etwas war bei mir allerdings nicht möglich. In meiner Panik, ließ ich mich von niemand mehr anfassen. Es brauchte Stunden, um mich tobendes Bündel Kind, wieder soweit zu beruhigen, dass ich wieder einigermaßen ansprechbar war. Vor allem, weil ich einen Moment der Unachtsamkeit der Pflegekräfte ausnutzte und frei kam. Mich aus der dunklen Ecke, unter dem Schrank hervor zu holen, war ohne Gewalt anzuwenden kaum möglich. Erst als sich Dunja soweit beruhigt hatte und vom Telefonieren zurückkam, bekamen sie mich etwas in den Griff.

Dunja, die ja meine Ängste nur zu gut kannte, kam langsam auf mich zu und legte sich auf den Boden und sprach beruhigend auf mich ein. Langsam hörte ich auf zu schreien und nach jeder Hand zu treten, die nach mir griff. Nach über vier Stunden gelang es Dunja dann endlich, mich unter dem Schrank hervorzulocken und nahm mich auf den Arm. Sie brachte mich auf das Zimmer, das die nächsten Wochen mein Zuhause sein sollte. In diesem Zustand konnte keiner bei mir noch irgendwelche Untersuchungen vornehmen oder gar Blutabnehmen. Ich wäre sofort wieder unter irgendein Möbel gekrochen und wäre über Stunden hinweg dort nicht wieder hervorgekommen.

Es war viel gutes Zureden von Dunja nötig, dass ich Saizew noch eine Chance gab und er überhaupt in das Zimmer kommen konnte. Ohne, dass ich mich gleich wieder, schreiend in einer Ecke verkroch. Erst am späten Abend hatte mich unsere Krankenschwester soweit beruhigt, dass ich etwas trank und sie vernünftig mit mir reden konnte. Essen lehnte ich vollkommen ab, denn das, was auf dem Teller war, kannte ich nicht und mochte ich nicht essen. Geduldig wie es nur Dunja war, gelang es ihr, mir im Laufe der späten Abendstunde zu erklären, warum der Doktor so böse mit ihr geworden war. Dass der Arzt dachte, dass sie zugelassen hatte, dass ich so schwer verletzt wurde. Auch erzählte sie mir, dass sie dem Doktor erzählt hatte, wie es wirklich zu den Verletzungen von mir gekommen war. Der Doktor würde mir das gern selber erklären, wenn ich ihm das erlauben würde. Ich bräuchte keine Angst vor ihm haben, er würde nicht wieder schimpfen.

Am Morgen des nächsten Tages, versuchte Saizew mir dann zu erklären, warum er so wütend auf Dunja war. Dass es sich einfach um eine Anhäufung von Missverständnis gehandelt hatte. Dass er nur deshalb mit Dunja so geschimpft hat, weil er dachte, dass sie schuld an meinen schlimmen Verletzungen sei. Dass sich auch ein Doktor einmal irren kann und er mich einfach nur beschützen wollte, damit mir nie wieder jemand so weh tat. Saizew hatte die von Konrad geschickte Krankenakte von mir, noch gar nicht bekommen. Die Akte war auf den Weg nach Moskau irgendwo liegen geblieben.

Saizew allerdings war der Annahme, dass Dunja meine Mutter sei und dass diese zugelassen hatte, dass mich jemand so getreten hatte. Dem Chefarzt lagen ja nur die schlechten Aufnahmen aus Shera vor, die ihn Dunja gegeben hatte, mit den Worten:

"Das sind die Aufnahmen von Doktor Konrad aus der May, die Krankenakte meiner Kleinen haben sie ja schon."

Da diese Aufnahmen nicht brauchbar waren, musste Dunja mit mir als erstes Röntgen gehen. Erst nach dem Dunja mich unter dem Schrank hervor geholt hatte, konnte sie dem Arzt, mich fest an sich drückend, die Zusammenhänge erklären. Dann erst beruhigte sich Saizew gänzlich und entschuldigte sich bei Dunja. In der Zwischenzeit hatte Dunja auch ihren Mann und dem Schularzt darüber informiert, dass die medizinischen Unterlagen von mir wahrscheinlich verschwunden waren, sie jedenfalls noch nicht in Moskau angekommen waren und sie gerade eine mächtige Standpauke des Chefarztes bekommen hätte. Ob Konrad die Unterlagen noch einmal nach Moskau schicken bzw. eine Suchmeldung nach den Unterlagen herausgeben könnte. Wie sich später herausstellte, lagen die Unterlagen noch im Helikopter und waren schon unterwegs in die Klinik und würden in den nächsten Stunden auf den Tisch von Professor Saizew liegen. Trotzdem holte sich Dunja von ihrem Mann und Doktor Konrad die Erlaubnis, zu erzählen, was damals wirklich vorgefallen war.

Der Professor machte ihr sehr deutlich, dass er nur dann dem Mädchen wirklich helfen konnte, wenn er genau wüsste, nach welchen Verletzungen er suchen musste. Nach dem Dunja den Professor in meinem Beisein und mit viel Tränen erzählt hatte, was mir vor einem halben Jahr zugestoßen war und was der Schularzt alles versucht hatte, um Schaden von mir abzuwenden, wurde der Professor ihr gegenüber freundlicher. Vorsichtshalber ordnete Saizew noch mehr Untersuchungen per Röntgendiagnostik an, um sicher zu gehen, dass nicht noch mehr Brüche übersehen wurden. Gemeinsam versuchten die beiden Erwachsenen dann, mir zu erklären, warum der Doktor so sehr mit Dunja geschimpft hatte.

Denn ich war dem Professor gegenüber anfangs sehr zurückhaltend. Wenn er in den Raum kam, fing ich am ganzen Körper an zu zittern und verkroch mich, so wie ich es oft machte, wenn ich Angst hatte, in irgendeine dunkle Ecke und ließ niemanden, außer Dunja mehr an mich heran.

Saizew hatte eine wahnsinnige Geduld mit mir und versuchte mein Vertrauen durch Offenheit zurückzugelangen. Dass er so um mein Vertrauen kämpfen musste, verstand er nach Dunjas Erzählung nur zu gut. Er schrieb sich die Probleme, die er jetzt mit mir hatte selbst zu. Durch seine Offenheit und vor allem durch seine Art, mir Verständnis entgegen zubringen, bekam er nach einigen Tagen etwas Vertrauen von mir. Aber auch deshalb, weil er viele der notwendigen Voruntersuchungen, die sehr schmerzhaft waren, um die Größe und Form der Stahlplatte zu ermitteln, die in meinem Kopf sollte, unter Narkose anordnete. Vor allem, um mir meine Angst vor den vielen Ärzten zu nehmen. Er war immer bei den Untersuchungen zugegen und wurde böse mit den Mitarbeitern, wenn sie nicht genügend Geduld mit seiner kleinen Patientin hatten. Vor allem dann, wenn ich wieder einmal irgendwelche russischen Anweisungen bekam, die ich gar nicht verstehen konnte. Was ich ihm aber immer wieder zugutehielt, war die Tatsache dass er sich ab diesem Moment noch mehr Mühe gab, eine dauerhafte Lösung für mein Problem zu finden und so bleibende Schäden, vor allem noch weitere Operationen von mir abzuwenden.

Ich glaube ihm habe ich es zu verdanken, dass ich nicht noch mehr Operationen über mich ergehen lassen musste. In den späten achtziger Jahren unterhielt ich mich, mit einem ähnlich ausgebildeten Arzt in einer Rehaklinik in der ich einige Wochen liegen musste, der sagte mir, dass der Professor ein Genie gewesen wäre. Er könnte nicht verstehen, wie Professor Saizew 1965, schon solche komplizierten Operationen am Kopf vornehmen konnte. Vor allem, dass ich niemals wieder am Kopf operiert werden musste. Die Platte wäre genauso geformt, wie sie bei einem Erwachsenen sein musste. Als Kind hätte mein Kopf völlig schief aussehen müssen. Das hätte der Professor damals mit einberechnen müssen, bei der Erstellung des Implantates. Die Platte wäre irgendwie mit mir mitgewachsen. Das ginge überhaupt nicht zu bewerkstelligen, meinte der Arzt, als er meine Röntgenaufnahme gesehen hatte. Diese Operationsmethode wäre in Deutschland erst zwanzig Jahre später möglich gewesen und selbst dann, hätte man irgendwann das Implantat ersetzen müssen. Ich könnte von Glück reden, dass ich solch einen talentierten Arzt getroffen hätte.

Der Meinung bin ich auch heute noch, dass ich es nur Saizew zu verdanken hatte, dass ich nicht mein gesamtes Leben mit starken Kopfschmerzen leben musste. Obwohl so ganz stimmte diese Aussage nicht. Heftige Kopfschmerzen bekleideten mich mein gesamtes Leben. Aber sie waren in einem Bereich, wo ich damit gut einigermaßen leben konnte. Vor der Operation, das wurde mir allerdings erst später bewusst, waren meinen Kopfschmerzen oft kaum zum Aushalten. Aber wie ich in meinem Leben sehr oft feststellen musste, gewöhnt man sich auch an Schmerzen. Irgendwann nerven Schmerzen dermaßen, dass man sie verdrängt und sich mit schöneren Dingen abgibt. Nur ab einem bestimmten Level, kann man das nicht mehr tun. Dann schaltet der Körper, so nenne ich das immer, von sich aus auf Schmerzbefreiung. Ab einem bestimmten Level fängt man entweder an zu schreien oder man fällt einfach in Ohnmacht. Da wir von klein auf, an Schmerzen gewöhnt wurden, durch das Training, das immer am Limit lief oder durch Bestrafungen unserer Betreuer, war unser Level Schmerzen zu ertragen sehr hoch. Aber das alles wurde mir erst viele Jahre später bewusst. Genau wie Doktor Oleg, wie ich den Professor nennen durfte und Dunja, das mit der Zeit heraus bekamen, ein wie viel an Schmerzen, ich wirklich aushielt.

 *

Einige Tage nach der ersten Operation Saizews, stellte ich fest, wie schlimm meine Kopfschmerzen in den letzten sechs Monaten wirklich gewesen sein mussten. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich nach einer knappen Woche Dunja fragte, was bei mir nicht mehr stimmte: Irgendetwas bei mir wäre falsch. Ich konnte aber, das was nicht stimmte, nicht mit Worten erklären. Ich wusste nur, dass irgendetwas anders war als sonst. Irgendetwas fehlte mir. Lachend musste ich an den Professor und den Stationsarzt denken, als wir versuchten herauszubekommen, was mir fehlte.

Zum Glück sprach Doktor Oleg perfekt Deutsch und hatte mich tief in sein Herz geschlossen. Ich war mit Abstand die jüngste Patientin, in seiner Klinik. So dass er sich die Mühe machte herauszufinden, was bei seiner Patientin so falsch lief. Erst drei Tage später konnte ich es ihm sagen, denn ich bekam damals einer meiner schlimmsten Kopfschmerzattacken, die ich je in meinem Leben erleben musste und ich hoffe, nie wieder solche Kopfschmerzen zu bekommen.

Kurz nach der Visite, der ein Verbandswechsel folgte, fingen die schlimmen Schmerzen an. Ich wusste mit einem Schlag, was mir die ganze Zeit gefehlt hatte. Es tat nichts in meinem Kopf weh. Auf einmal fingen die schlimmen Schmerzen wieder an. Vor allem wurden sie mit jeder Minute schlimmer. Mir wurde so schlecht vor Schmerzen, dass ich mich übergeben musste. Mit einem Schlag, konnte ich keinerlei Licht mehr ertragen und meine Augen fingen an, wie verrückt zu tränen. Dunja, die sowieso ständig in Sorge um mich war, holte deshalb den Doktor noch einmal in mein Zimmer und bat ihn, um Hilfe für mich. Saizew konnte nicht glauben, was er da zu sehen und zu hören bekam. Es lagen keine zwanzig Minuten, zwischen der Visite, dem Verbandswechsel und seinem erneuten Erscheinen an meinem Bett. Er war nur zwei Räume weiter mit seiner Visite gekommen, als ihn Dunja zurück holte. Vor kurzer Zeit hatte er mit mir im Zimmer gelacht und sich lange mit mir unterhielt. Als er wieder in den Raum kam, lag ich, mich vor Schmerzen windend und wie am Spieß schreiend in meinem Bett und reagierte weder auf Dunja, noch auf ihn.

Wie Saizew, während der sofort angesetzten Notoperation feststellte, die er bei mir durchführte musste, hatte sich die Platte in meinem Kopf, um ein Minimum verschoben. Er vermutet durch den Verbandswechsel, das Lachen oder durch das Erbrechen, genaueres konnte er Dunja nicht erklären. Dieses Verschieben der Platte war so minimal, dass man es auf der Röntgenaufnahme nur dann sah, wenn man beide Röntgenbilder genau übereinander legte. Nur dadurch erkannte man die winzige Abweichung, die für mich diese verheerenden Folgen hatte. Die Platte hatte sich genau auf einen Nerv geschoben und verursachte dadurch diesen höllischen Schmerzen. Nach dem Richten der Platte, wie immer die Ärzte das gemacht hatten, verschwanden nach einigen Stunden die Schmerzen vollkommen. Nur manchmal, je nachdem wie das Wetter war oder ich sehr viel Stress ausgesetzt war, bekam ich diese schlimmen Schmerzen. Aber zum Glück waren die nur von sehr kurzer Dauer.

Ich habe keine Ahnung, wie ich mit solch heftigen und immer wieder kehrenden und vor allem dauerhaften Schmerzen, hätte umgehen sollen. Ich glaube irgendwann wäre ich daran gestorben oder hätte mich selber getötet. Egal welche Verletzungen ich in meinem späteren Leben hatte, nie wieder wurden meine Schmerzen so schlimm. Was Saizew damals für mich tat, war unbezahlbar. Auch wenn mich Kopfschmerzen für den Rest meines Lebens bekleideten, konnte ich damit umgehen. Es war unangenehm ja, aber man konnte gut damit leben. Außerdem kamen diese akuten Kopfschmerzen verhältnismäßig selten. Meistens nur bei akuten Wetterwechsel, übermäßigem Stress oder in den späteren Jahren, als wir in die Menstruation kamen, sonst blieben mir diese akuten Kopfschmerzen erspart.

Zum Glück fanden Konrad und Saizew schnell ein Mittel, das den Kopfschmerz unterdrückte, beziehungsweise so weit abschwächte, dass ich damit leben konnte. Vor allem lernte ich im Laufe der Jahre, die Vorzeichen, dieser Art von Kopfschmerzen zu erkennen und hatte so die Möglichkeit, schon vor dem Einsetzen der Schmerzen ein Mittel zu nehmen. So verflüchtigte sich der Schmerz schnell und die Attacke war vorbei, noch ehe sie richtig begann. Dafür war ich den beiden Ärzten heute noch dankbar.

 *

Während ich still im Bett liegen musste, nahm sich Dunja viel Zeit für mich. Sie lernte mit mir spielerisch die Russische Sprache und nach drei Wochen konnte ich mich schon, meinem Alter entsprechend mit den Schwestern, Pflegern und Ärzten auf der Station unterhalten. Oft bekam ich auch Besuch, von einem deutschen Arzt. Doktor Haidenburg machte, so wie ich das heute interpretieren würde, so eine Art Praktikum in der Moskauer Klinik oder sollte man sagen ein praktisches Jahr. Ich weiß das gar nicht mehr so genau. Jedenfalls schaute der Doktor immer abends bei mir herein, meistens weit nach 22 Uhr, da er wusste, dass ich dann alleine war und meistens noch nicht schlief. Oft brachte er selbst geschriebene Geschichten mit, die er in einem Buch festgehalten hatte. Diese Geschichten handelten von Zwergen, die tief in einer Höhle wohnten, und einem Drachen, denn sie bei ihrer Suche nach Erzen, geweckt hatten.

Wie ihr ja wisst, liebe ich Drachen über alles, und so hatte der Doktor sofort mein Herz erobert. Ich glaube dessen Geschichten waren schuld, dass ich später meinen Freunden Geschichten aus den Drachenbergen, erzählen konnte. Doktor Haidenburg erklärte mir, auf mein Bitten hin, wie man eine Geschichte schreibt, weil ich ihn dafür so bewunderte. Da ich ja selber noch nicht schreiben konnte, baute er mit mir zusammen meine erste Geschichte aus den Drachenbergen auf und er schrieb sie mir auf, damit ich sie später einmal lesen konnte. Oft war er drei oder vier Stunden in meinem Zimmer. Wenn es ganz ruhig in der Klinik war, stieß oft auch Doktor Oleg mit dazu und so saßen wir alle zusammen und tranken Tee aus dem Samowar, mit Honig gesüßt und aßen dazu türkischen Honig. Ein Süßkram den ich als Kind geliebt hatte. Immer dann, wenn beide zusammen Nachtdienst hatte und es keine Notfälle in der Klinik gab, die sie behandeln musste, hatte ich wundersame Abenteuer zu erleben. Oft blieb dann auch Dunja bei mir und ich konnte richtig schlafen.

Schnell bekam Dunja und auch die beiden Doktoren mit, dass ich nie länger als zwei Stunden am Stück schlief. Selbst Medikamente nutzten da nicht viel. Im Gegenteil, gab man mir ein Beruhigungsmittel, war ich kaum mehr zu bändigen, wenn ich munter wurde. Ich schlug um mich und nach allem, was mich berührte. So dass man diese Medikamente nach meiner dritten Operation, nicht mehr geben wollte. Da man nicht wusste, was zum wiederholten Verrutschen der Platte geführt hatte. Deshalb ließ man mich lieber auf und beschäftigte mich so lange, bis ich von alleine einschlief, dann wachte ich zwar trotzdem oft weinend, nach zwei Stunden auf, ließ mich aber schneller beruhigen. Vor allem blieb ich dann ruhig liegen. Schlief allerdings Dunja bei mir und ich konnte mich an sie kuscheln, dann schlief ich auch einmal drei oder vier Stunden an einem Stück. Deshalb versuchte Dunja so oft es ging, bei mir zu schlafen, damit ich wenigstens etwas Ruhe und Erholung finden konnte.

Viel zu schnell war die schöne Zeit in Moskau vorbei und ich fuhr mit vielen lieben Wünschen, zurück in meine kleine Hölle.

Glaubt mir eins, die Rückkehr in die MAY, war für mich, die Rückkehr in die Hölle.

 *

Sieben Wochen nach meiner ersten Operation, es war Anfang Juni 1965 und wir hatten noch zweieinhalb Monate bis zu unseren ersten Ferien, kehrte ich zurück an meine Schule und zurück in das wirkliche Leben. Dank Dunja, hatte ich für alle ein kleines Geschenk gebastelt. Eine kleine Schachtel aus Pappe, mit türkischem Honig, bekamen alle von mir. Ich war glücklich wieder bei meinen Freunden zu sein und ich glaube alle freuten sich, dass ich wieder zurück gekommen war. Trotzdem muss ich zugeben, dass ich die Tragweite meiner Rückkehr damals, bei weiten unterschätzt hatte. Denn von dem Luxus in einem warmen trockenen Bett zu schlafen, zurückzukehren in unser kaltes und stets muffiges und feuchtes Zimmer, war ein Schlag mitten ins Gesicht und es dauerte nicht lange und das Fieber hatte mich wieder. Ich weiß heute noch nicht, ob ich das Fieber damals nur wegen der Kälte und der Feuchtigkeit in unserem Raum bekam oder ob es das Zusammenspiel vieler einzelner Komponenten war. In Moskau selber hatte ich nur die erste Woche Fiebern, die wir auf die ganzen Aufregungen geschoben hatten. Danach war ich sechs ganze Wochen Fieberfrei, denn sonst hätte mich Saizew niemals entlassen. Noch heute bilde ich mir ein, dass es an der mangelhaften Ernährung bei mir lag, dass ich so oft unter den Fieber litt. Denn die Mahlzeiten, die ich an der Schule einnahm, waren wie stets sehr eintönig und bestanden für mich aus trockenem Brot mit etwas Marmelade oder Zuckersirup. Ich bekam in der Schule keine Extrawurst gebraten, wenn es ums Essen ging. Auch wenn Doktor Konrad und Dunja da sehr darum kämpften, war es vergebene Mühe. Was ich sogar bis zu einem gewissen Grad verstehen konnte. Man kann nicht für vierundsiebzig Kinder Milchsuppe kochen oder Grießbrei oder Haferschleim und für ein Kind etwas anderes. Ich glaube, das hätte mir mehr Ärger gebracht, als das es mir genutzt hätte. Nicht alle von uns aßen Haferschleim, Milchsuppe und Grießbrei gern. Viele hätten auch lieber einmal etwas anderes gegessen. Am Anfang, dachte ja auch Doktor Konrad, dass ich das nur nicht mochte und ich irgendwann, von alleine anfing Grießbrei oder Haferschleim zu essen. Aber er merkte schnell auf der Krankenstation, dass ich das wirklich nicht vertrug. Selbst wenn er nur eine kleine Menge Milch in meinem Tee gab, fing ich an zu brechen und bekam über Tage Durchfall. Deshalb setzte er auch durch, dass ich nichts essen brauchte, wo Milch enthalten war. Da unsere Ernährung aber vollständig aus Milchprodukten bestand, blieb mir nur das Frühstück. Selbst da gab es Milch dazu zum Trinken. Wenigstens die Tasse Tee konnte Konrad für mich durchsetzen, denn die ersten Tage unten in der Gruppe, bekam ich früh nicht einmal etwas zu trinken. Deshalb durfte ich mir in der Küche früh, mittags und abends eine Tasse schwarzen Tee holen. Unsere Küchenfee machte mir immer extra viel Zucker rein, damit ich wenigstens etwas Nahrhaftes hatte. Leider konnte sie mir nur einmal einen Kanten Brot zustecken, weil wir dabei erwischt wurden. Ich glaube sonst hätte sie das öfters gemacht.

Im Krankenhaus war das ganz anders, da kochten die Schwestern teilweise zu Hause für mich, wenn es mittags etwas gab, was ich nicht essen konnte oder brachten mir etwas von unterwegs mit. Da brauchten sie das Essen nur warm zu machen, auf Station.

In der Schule interessierte es die Lehrer nicht, dass ich viele der Speisen nicht essen konnte, weil darin Milch enthalten war. Man hatte sich daran gewöhnt, dass ich viele Sachen nicht essen konnte. Gabe es etwas, dass ich nicht vertrug, hatte ich Pech, dann konnte ich halt nichts essen und musste bis zur nächsten Mahlzeit warten. Dann musste ich mich der Hoffnung hingeben, dass es etwas gab, was ich essen konnte. Da der größte Teil unserer Ernährung aus Mehlsuppe, Grießbrei und Haferflocken bestand, kann sich jeder an einer Hand abzählen wie viele Mahlzeiten ich am Tag wirklich essen konnte. Meistens konnte ich nur früh etwas essen. Unser Frühstück bestand immer aus einer Schnitte Brot mit Butter und Marmelade, und einem Becher Milch. Da ich Butter nicht vertrug, bestand meine Mahlzeit also aus einer Schnitte mit Marmelade und einem Becher Tee. Das ist nicht viel für einen ganzen Tag. Die Umstellung von meiner Krankenhauskost, zurück zu der Ernährung in der Schule, war für mich die Hölle. Denn ich musste die erste Zeit richtig Hungern, bis sich mein Körper, wieder auf diese Art der Nahrungsaufnahme eingestellt hatte.

Zum Glück hatten meine Kameraden nicht alles vergessen, was ich ihnen in den Wochen meiner Gruppenführung beigebracht hatte. Sie erinnerten sich noch an mich und mein Problem mit dem Essen. Wie immer hoben mir viele meiner Zimmergenossen, ein Stück Brotrinde auf und gaben es in unser Geheimversteck, in dem wir allerhand Dinge verschwinden ließen. So konnte ich wenigstens abends vor dem Schlafen noch etwas altes Brot essen und musste nicht mit vor Hunger schmerzenden Magen schlafen gehen. So oft es ging, steckte mir auch unser Hausmeister, einen Kanten Brot zu, wenn er in der Nähe unseres Zimmers etwas erledigen musste. Oder er unbeobachtet war, ging er an unser Versteck und legte ein oder zwei Brote herein, meistens wenn Raduew nicht im Projekt war. Denn der Oberst beobachtete den Hausmeister genau, weil er ihn, bei den Rumänen dabei erwischt hatte, wie er den Kindern ein Brot zu gesteckt hatte. Deshalb konnte Pavel, das nicht allzu oft machen, denn das fiel auf. Meistens machte er das, wenn Tests geplant wurden.

Zum meinem Glück hatte in der Zeit meines Klinikaufenthaltes, wirklich nur theoretischer Unterrich und zusätzlich viele Laufübungen stattgefunden. Sachen die ich durch Dunjas Hilfe alle kompensieren konnte. Schlimm für mich war nur die Tatsache, dass ich zu meiner Sicherheit, die ersten beiden Monate einen speziellen Helm tragen musste, um meinen Kopf zu schützen. Das handelte mir schnell solche Spitznamen wie Plaska, was Heulsuse hieß oder Bolnoy skot, was auch nicht besser war und krankes Vieh bedeutete. Aber da ich nicht wieder solche schlimmen Kopfschmerzen bekommen wollte, versuchte ich diese Spitznamen einfach zu überhören. Im Unterricht, konnte ich sehr gut mithalten, nur was das Lauftraining anging, musste ich erst langsam wieder Kraft und Kondition aufbauen. Durch das wochenlange Liegen, war ich ganz schön eingerostet. Die ersten drei Wochen hatte ich ganz schön zu kauen, denn durch meinen Schutzhelm und meine lange Fehlzeit, war ich zum Zielobjekt allen Spottes und aller Stichelei, der Lehrer und Betreuer geworden. Aber leider auch der russischen und rumänischen Kinder. Auch weil ich eben durch die fehlende Kondition, nur sehr schwer mit den Anderen meiner Gruppe mithalten konnte. Dazu kam, dass ich in der Klinik, trotzdem Dunja da sehr aufgepasst hatte, durch das regelmäßige Essen, was mein Körper ja gar nicht mehr gewohnt war, ziemlich zugenommen hatte. Es waren zwar nur fünf Kilo, aber wenn man nur knapp zwanzig Kilo auf die Waage gebracht hatte, ist das ein Viertel mehr, was meine geschwächten Beine zu tragen hatten. Auch wenn das Gewicht sehr schnell wieder verschwunden war, durch die wenige Nahrung, die ich zu mir nahm. Blieb die Kraft ein Defizit, das ich nicht so schnell zurückgewinnen konnte.

 *

Am Schlimmsten war allerdings für mich die Tatsache, dass ich durch meine Behandlung in Moskau, mitbekommen hatte, dass unsere Lehrer uns nicht wie Menschen behandelten, sondern wie den letzten Dreck. Ich glaube diese Erkenntnis machte mir am meisten zu schaffen. Dadurch, dass ich ja in einem Militärkrankenhaus gelegen hatte, wusste ich, dass selbst der Chefarzt, die dortigen Soldaten freundlich behandelte. Nicht einmal hatte ich erlebt, dass man dort mit den Soldaten so umging, wie mit uns. Dadurch wurde meine Widerspenstigkeit den Lehrern und Betreuern gegenüber, um vieles schlimmer und brachten mich nicht nur einmal in Lebensgefahr. Ich wollte erreichen, dass meine Kameraden wie auch ich, wie Menschen behandelt wurden. Ein Unterfangen, das von vorherein zum Scheitern verurteilt war. Aber das bekam selbst ich schnell mit, denn nicht nur einmal war es Doktor Konrad, der mir das Leben rettete und die Hand die mir auf den Kopf schlagen wollte, rechtzeitig zurückhielt. Nach nur drei Tagen nahm mich Konrad zur Seite und las mir die Leviten.

"Sag mal Charlotte, willst du, dass dich die Betreuer töten oder was soll das, was du hier im Moment abziehst?" Wütend sah mich mein Doktor an.

Verwundert sah ich meinen Arzt an. Ich hatte doch nichts Schlimmes gemacht. Ich wollte doch nur verhindern, dass man Sebastian, wegen eines abgerissenen Knopfes bestraft. Deshalb verstand ich nicht, dass der Doktor mit mir schimpfte.

"Du weißt nicht warum ich mit dir schimpfe?" Fragend musterte mich Konrad und wartete auf eine Reaktion von mir.

Ich zuckte mit den Schultern. "Nicht wirklich, Genosse Konrad", gestand ich ihm ehrlich.

Tief holte der Arzt Luft. "Was hat dir Doktor Saizew in Moskau gesagt, als er dich entlassen hat?" Zäumte er das Pferd von einer anderen Seite auf, damit ich verstand, auf was er hinaus wollte.

"Das ich aufpassen soll in der nächsten Zeit, dass ich mich nicht an den Kopf stoße. Dass die Platte in meinem Kopf zwar festgewachsen ist, aber durch einen Stoß schnell wieder locker werden könnte und ich dann wieder ins Krankenhaus und lange still liegen müsste."

Doktor Konrad nickte bestätigend zu meinen Worten und wartete, dass mir die Erkenntnis kam, auf was er hinaus wollte. Aber diese Erkenntnis kam mir nicht. Ich war ja vorsichtig mit meinem Kopf, passte beim Klettern und Brücken bauen immer sehr auf, dass ich mich nicht stieß und ließ, zu meinem Leidwesen, die anderen aus meiner Gruppe, die schwere Arbeit machen. Offen sah ich den Doktor an, weil ich nicht verstand, was er von mir wollte.

"Charlotte, eine Ohrfeige oder ein Schlag auf deinen Hinterkopf, ist das Gleiche, wie ein Stoßen an deinem Kopf. Es bewirkt auch, dass du wieder in die Klinik musst. Wenn überhaupt? Am wahrscheinlichsten ist es dann aber, dass du tot am Boden liegst. Verstehst du das?" Ernst sah er mich an.

Verlegen zuckte ich mit den Schultern. "Dann hätten wir ein gelöstes Problem, sagte Doktor Haidenburg im Krankenhaus immer", wiederholte ich dessen Worte.

Mein Doktor lachte allerdings nicht, wie die Leute im Krankenhaus, sondern lief schnaufend und sich die Haare raufend auf der Krankenstation hin und her.

In diesem Moment betrat Narciza die Krankenstation, mit einem der russischen Kinder, das sich Knie verrenkt hatte, auf dem Arm.

"Wer hat sie denn gerade so geärgert, Doktor? Ich war doch gar nicht da", ergänzte sie ihre Frage, mit einem vielsagenden Blick auf mich. "Hast du unseren Doktor, so in Rage gebracht, Charlotte", grinste sie mich an.

Ich zuckte gewohnheitsgemäß mit den Schultern und nickte dann Schuldbewusst.

Narciza setzten den Jungen auf die Untersuchungsliege und sagte etwas im schnellen Russisch, dass ich nicht genau verstand, aber so ähnlich hieß wie "Rühr dich nicht vom Fleck" und kam lachend auf mich zu.

"Warum ärgerst denn du unseren guten Doktor? Du weißt doch, dass er dir dann immer eine Spritze gibt", warnte sie mich.

"Das war doch nicht mit Absicht, aber ich habe glaube ich etwas gesagt, was nicht lustig war. Aber im Krankenhaus, hat das der Doktor Haidenburg immer gesagt und die anderen haben immer gelacht", erklärte ich mein Problem, denn ich wusste wirklich nicht, warum sich der Doktor so aufregte.

"Was hast du denn zu ihm gesagt?" Erkundigte sich Narciza bei mir und nahm mich hoch, um mich neben den weinenden Jungen zu setzen, den sie nicht so lange allein lassen wollte.

"Ich hab nur gesagt, dass wir ein gelöstes Problem haben. War das falsch?"

"Na das kommt darauf an, in welchen Zusammenhang du das gesagt hast", Narciza sah ihren Kopf schüttelnd zu Konrad, der sich so gar nicht beruhigen konnte. "Was hat denn der Doc vorher zu dir gesagt?"

"Dass ich, wenn ich eine Ohrfeige oder eine Kopfnuss bekomme, ich wieder ins Krankenhaus muss. Das wäre die beste Lösung. Aber wahrscheinlich bräuchte ich das dann nicht mehr, denn ich läge dann tot auf dem Boden. Ich weiß nicht warum er so wütend ist. Ich wollte doch nur, dass er sich keine Sorgen macht", versuchte ich mich zu erklären.

"Ach je. Da bist du aber ins Fettnäpfchen getreten. Jetzt verstehe ich den Doktor. Ich wäre dann auch wütend", erklärte mir nun auch noch Narciza.

"Warum, die Schwestern haben immer gelacht und ich bin nirgends rein getreten", stellte ich frustriert fest und die Tatsache richtig, dass ich nirgendswo hinein getreten war.

"Ach Kleines, du hast es auch manchmal schwer. Das, was du den Doktor an den Kopf geschmissen hast, bedeutet, doch, dass du froh wärst tot zu sein. Verstehst du jetzt, warum der Doc so sauer ist."

Erschrocken sah ich Narciza an. "Das wollte ich nicht so sagen. Ich wollte doch nur dass er wieder lacht", erklärte ich. "Aber die Schwestern haben immer gelacht, wenn der Doktor das gesagt hat", ich sah völlig geknickte zu meiner liebsten Lehrerin hoch. "Dokt...", wollte ich mich Konrad erklären.

"Du hast es wirklich schwer, Kleines. Pass mal kurz auf Marius auf. Ich erkläre das dem Doktor", bat sie mich.

Ich sah Marius an und versuchte ihn so gut es ging, in Russisch zu trösten. Dass alles wieder gut wird mit seinem Bein und er dem Doktor vertrauen könnte. Langsam hörte der Bub auf zu weinen und sah mich an.

"Tut den Kopf sehr weh?" erkundigte er sich, immer noch schniefend.

"Es geht. Bloß der doofe Helm stört mich", erklärte ich ihm.

"Warum hast du den denn? Die anderen nennen dich immer Weichei, wegen deinem Helm. Das finde ich nicht gut", wollte Marius wissen, warum ich den Helm trug.

"Ich hatte einen kaputten Kopf, weil der Genosse Ranjow mich getreten hatte, mit den Stiefeln. Da haben sie jetzt eine Stahlplatte draufgemacht und bis die fest angewachsen ist, muss ich den doofen Helm tragen", versuchte ich ihm zu erklären, warum das so war, wie es war.

"Oh du Arme. Musst du den noch lange tragen?" Erkundigte er sich jetzt bei mir und hatte sein Bein völlig vergessen. "Tut das noch schlimm weh?"

"Ich glaube bis wir nach Hause fahren, in die Ferien. Es geht mit dem Wehtun. Nur manchmal ist es schlimm. Wie heute, aber dann gibt mir der Doktor eine Spritze und dann geht es wieder."

"Ich mag keine Spritzen", gestand mir Marius.

"Ich auch nicht. Aber in den letzten Wochen habe ich so viele bekommen, dass ich keine Angst mehr habe. Meistens wird es nach der Spritze besser", versuchte ich ihm die Angst zu nehmen. "Wegen deinem Bein bekommst du bestimmt keine Spritze. Ich hatte so etwas auch schon mal, der Doktor renkt das ein und macht dann nur eine Binde drum, wenn es nicht gebrochen ist. Ansonsten bekommst du einen Gips, dann kannst du lauter Männel drauf malen. Das haben wir bei Conrad aus unserer Gruppe auch gemacht, als er den Arm gebrochen hatte. Das war lustig. Du musst keine Angst haben."

Narciza verschwand in der Zeit, in der mich mit Marius unterhielt, mit Doktor Konrad in dessen Büro und es dauerte nur wenige Minuten und der Arzt und die Nahkampftrainerin kamen wieder nach vorn.

Grinsend sah mich Narciza an und freute sich, dass ich Marius beruhigt hatte. "Danke Charlotte", sprach sie zu mir und wandte sich an die kleinen Russen. "Na Marius, soll ich hier beim Doktor bleiben oder kommst du jetzt hier alleine klar, wenn dir Charlotte hilft", spannte sie mich gleich mit ein. Marius nickte und ich wollte mich gleich bei meinem Doktor entschuldigen.

"Genosse Kon...", wollte ich mich für den Satz, der den Arzt so aus der Spur geworfen hat entschuldigen.

Ich hatte, über das, was mir Narciza erklärt hatte, in der Zwischenzeit nachgedacht und schämte mich für meine Worte. Denn ich wollte doch nicht sterben: Warum auch? Ich musste doch auf meine Kameraden aufpassen. Das konnte ich nicht machen, wenn ich tot war.

"Schon gute meine Kleine", unterbrach mich Konrad. "Da haben wir uns wohl missverstanden. Reden wir nicht mehr drüber", winkte er ab.

Ich sah zu ihm hoch und nickte. "Ich kann doch nicht sterben, ich muss doch auf meine Gruppe aufpassen. Wenn ich hätte sterben wollen, hätte ich im Krankenhaus genug Möglichkeiten gefunden, Doktor", erklärte ich ihn nun doch. "Ich habe den Satz nur gesagt, weil die Schwestern immer gelacht haben und ich musste mit lachen, obwohl ich das nicht durfte, wegen der Operation. Ich habe nie verstanden, warum die gelacht haben", erklärte ich ihm.

"Schon gut meine Kleine. Trotzdem musst du aufpassen Charlotte. Du weißt wie die Lehrer und Betreuer oft drauf sind, du musst in allem noch sehr vorsichtig sein. Ein Schlag und dein Kopf ist wieder kaputt. Ob sich das noch einmal reparieren lässt, ist eine Frage, die ich dir nicht beantworten kann. Verstehst du, dass ich mir Sorgen mache. Ich verstehe dich ja. Aber, wenn du dich immer wieder mit den Ausbildern anlegst, mache ich mir halt Sorgen. Ich bin nicht immer da, wenn ein Ausbilder ausholt, um dich zu beschützen. In einem halben Jahr, ist die Platte in deinem Kopf so gut verwachsen, dass da nichts mehr passieren kann. Aber bis dahin, ist jeder Schlag, egal welcher Art für dich gefährlich. Normalerweise, würde ich dich für ein halbes Jahr krankschreiben. Nur geht das hier in dieser verflixten Schule einfach nicht. Also müssen wir sehen, dass du dieses halbe Jahr, auf irgendeine Art und Weise heil überstehst. Am besten gehen wir einmal nach unten zu deinen Kameraden. Manchmal denke ich, die haben mehr Verstand, als die Betreuer und Lehrer hier an der Schule und erklären denen einmal, wie gefährlich ein Schlag für dich im Moment ist. Vor allem müssen wir ihnen sagen, dass sie auf dich aufpassen müssen. Vorher erklären wir das aber erst einmal allen Lehrern und Betreuern an der Schule. Diese Kopfnüssen müssen endlich aufhören, denn die sind für alle gefährlich, nicht nur für dich", erklärte Konrad mir noch einmal die Sachlage.

Sofort drehte er sich herum und ging in sein Büro, um Petrow und Senko, um eine kurze Dienstbesprechung mit allen Lehrern und Betreuern der Schule in der Mensa abzuhalten.

"So jetzt zeig mir mal deinen Bein, Marius. Charlotte halte einmal kurz seine Hand und rede mit ihm. Ich sehe schon was los ist", bat er mich um Mithilfe und an Marius gewandt, erklärte er. "Das tut nur einmal kurz weh, dann machen wir eine Binde drum und schon funktioniert dein Knie wieder."

Ein kurzer Ruck und einen kleinen Aufschrei später, war das Knie wieder eingerenkt. Marius bekam noch eine Bind darum und fertig war er. Ich bekam meine Spritze, wegen meiner Kopfschmerzen und gemeinsam mit Marius verließen wir die Krankenstation, brachten den kleinen Russen zurück zum Training und liefen hinüber zur Mensa.

Nur fünfzehn Minuten später, waren alle Lehrer und Betreuer in der Mensa versammelt. Doktor Konrad erklärte ihnen den Sachverhalt. Diesmal hatte er auch Senko auf seiner Seite, denn der bekam von Professor Saizew eine klare Ansage, Charlotte Betreffend. Der Professor erklärte dem in medizinischen Dingen völlig unwissenden Senko, was alles passieren könnte, wenn die Kleine Deutsche einen Schlag auf den Kopf bekäme. Vor allem was er dann in die Wege leiden würde. Der Schulleiter ging deshalb mit sehr deutlichen Worten, gegen dieses ständige Schlagen auf den Hinterkopf der Kinder und gegen das Ohrfeigen der Kinder vor und verbot sich solche Strafen generell.

Senko befahl Konrad, mir meinen Helm abzunehmen und den immer noch vorhanden Verband, am Kopf, zu öffnen. Senko wollte den Betreuern einmal vor Augen zu führen, was die Schläge und Tritte Ranjows, bei mir für verheerende Ausmaße angenommen hatte. Vor allem, dass ich für den Rest meines Lebens, mit den daraus folgenden Entstellungen leben musste. Das erschrockene Aufatmen wirklich aller Betreuer und Lehrer, zeigten mir wie schlimm mein Kopf aussehen musste. Ich selber hatte ihn ja noch nie gesehen. Es machte allen klar, dass keiner mit diesen Ausmaß an Verletzungen gerechnet hatte.

Doktor Konrad erklärte auch allen Anwesenden und damit auch mir, dass weiter Operationen auf mich zukommen würden. Da mein Kopf ja noch wachsen wird, bis ich meine endgültige Größe erreicht hatte, musste die Platte höchst wahrscheinlich, in den nächsten Jahren, meiner Kopfgröße angepasst werden. Es waren noch keinerlei Vergleichswerte vorhanden, da solch eine Operation an einem Kind, bis jetzt noch nie vorgenommen werden musste. Man müsste erst abwarten, wie sich das alles entwickeln würde. Nochmals führte Konrad in diesem Gespräch allen vor Augen, dass ein Schlag auf den Kopf, ein Sturz oder eine Ohrfeige genügen würde, dass ich sterbe. Dass derjenige, der das verursachen würde, eine Anzeige von ihm persönlich bekäme, wegen Totschlags. Er habe heute allen Anwesenden genau erklärt, was los wäre und es würde hier keiner den Raum verlassen, der dieses Protokoll nicht unterschrieben hätte. Denn nicht nur Senko, sondern auch er, müsse sich als Arzt absichern, dass er die Ausbilder und Betreuer auf diese Tatsache hingewiesen hätte. Deshalb habe er am heutigen Abend, dieses kurze Meeting angeordnet.

Es unterschrieben alle Anwesenden dieses Protokoll, bevor sie die Mensa verließen, dafür sorgte Senko persönlich. Einige der Betreuer gingen an diesem Abend ziemlich betrübt in ihre Zimmer. Ihnen war die Lust am Feiern vergangen. Darunter auch Bobrow, der Freund von Ranjow, der mich so zugerichtet hatte.

Zugegebener Maßen, sah mein Kopf alles andere als schön aus. Denn die Narbe führte von der Mitte der Stirn rund um den Kopf herum, bis hinunter zum Hals, hinterm Ohr wieder zurück auf die Stirn. Zum Glück hatte Professor Saizew, nicht nur bei der Platte weitergedacht, sondern auch daran, dass ich den Rest meines Lebens mit dieser Narbe leben musste und sie so verlaufen lassen, dass ich später die Haare darüber wachsen lassen konnte. Das Stück Kopfhaut wurde bei der Operation vollständig entfernt, um die zersplitterten Knochenstücke erst einmal aus meinem Kopf entfernen zu können und um die Platte an das fehlende Stück Schädelknochen optimal anzupassen. Selbst, wenn ich heute meine Haare auf acht Millimeter schnitt, sah man die hässliche Narbe noch durch meine Haare. Besser konnte man damals die Narbe nicht machen, denn man musste das Operationsfeld ja noch zweimal wieder öffnen. Da ich damals ja nur mit Glatze herumlief, sah man das ständig und brachte mir schnell, einen bleibenden Spitznamen ein, nämlich Shramy.

Wenn ich ehrlich bin, hatte mich dieser Name nie wirklich gestört. Was mich störte waren die Blicke, die ich seit dieser Zeit ständig auf mich zog, wenn ich irgendwo das erste Mal erschien. Das war für mich mehr als nur nervend. Solange ich mein Cappy, meine Schirmmütze oder die Shapka, also die Fellmütze auf hatte, ging es ja. Setzte ich allerdings meine Kopfbedeckung ab, erntete ich mitleidige und erschrockene Blicke. Das war auch der einzige Grund, warum ich als Einzige in der Schule immer ein Tuch tragen durfte, unter der Kopfbedeckung. Denn nicht nur mich nervten die Blicke der Zivilisten, sondern auch die Lehrer und die Betreuer.

Narciza brachte mir nur wenige Tage vor den Ferien bei, wie man diese Tücher band, denn sie trug die Tücher ständig. Von ihr bekam ich die auch immer, in allen möglichen Farben geschenkt, wenn ich mal wieder im Eifer des Gefechtes eins verloren hatte. Dadurch hob ich mich zwar immer etwas von der Masse der Schüler ab, aber das war tausend Mal besser, als dieser Helm der mich damals mehr als nervte. Denn der wurde mit einem Gurt festgezogen und der rieb mich ständig am Hals.

 *

Schnell kehrte in unserer Schule der Alltag wieder ein. Zu meinem Glück hob keiner der Lehrer mehr die Hand gegen meinen Kopf. Ich hatte ein wenig Ruhe, vor den Lehrern und Betreuern.

Meine Kameraden allerdings, bemühten sich mir so gut es ging zu helfen, in dem sie noch mehr darauf achteten, sich der Norm entsprechend zu kleiden und zu benehmen. Damit keiner der Betreuer mehr einen Vorwand fand, jemanden zu bestrafen und ich mich nicht mehr schützend vor meine Leute stellen musste.

Als Konrad ihnen meinen Kopf zeigte, waren alle erschrocken. Sie verstanden sofort, was der Doktor mit seiner Bitte meinte, sie müssen sehr auf mich aufpassen, in den nächsten Wochen. Genau wie die Betreuer, waren sie von der riesigen Narbe auf meinem Kopf geschockt. Ich war meinen Kameraden vor allem dafür dankbar, dass sie nicht wie die Russen oder Rumänen mich Shramy riefen. Auch wenn mir dieser Name nicht wirklich weh tat, war es schön, dass sie mich bei meinem wirklichen Namen riefen. Im Laufe der nächsten Wochen verfestigte sich in unserer Gruppe die Abkürzung meines Namens. Da ich Lotte nicht wirklich mochte, setzte sich nach und nach der Name Charly durch, der noch zu vielen Verwechselungen führen sollte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wenn die Betreuer glaubten, dass sie die Gruppe gegen mich aufhetzen konnten, weil ich oft hoch zu Untersuchungen zu Konrad musste, hatten sie sich geirrt. Irgendwie hatte uns die ganze Situation, um meine Gesundheits- und das Verletzungsrisiko, dass damals für mich sehr hoch war, noch mehr als Gruppe zusammengeschweißt. Vor allem stellten sich nach meiner Rückkehr auch etliche andere vor die Gruppe und sagten: Stopp bis hierher und nicht weiter. Diese Tatsache, dass ich nicht mehr alleine gegen die Betreuer kämpfen musste, freute mich sehr. Ich konnte mich dadurch mehr auf mich selber konzentrieren und musste nicht mehr an zwei Fronten kämpfen. Meine Kameraden verstanden langsam, warum ich mich so vehement gegen die Betreuer und Lehrer und für ihren Schutz einsetzte. Denn ich wusste nur zu genau, wie schlimm manche Strafen waren. Endlich wurde ich von allen aus meiner Gruppe akzeptiert und man setzte meine Vorschläge immer um.

Einer meiner wichtigsten Vorschläge war der, dass diejenigen, die nicht schlafen konnten, abends, wenn die Letzte Kontrolle vorbei war, zu Freunden ins Bett krabbelte und man paarweise schlief. So konnte sich viel besser entspannen. Ich war nicht die Einzige in unserer Gruppe, die akute Schlafprobleme hatte. Viele von uns schliefen kaum länger als zwei Stunden am Stück durch. Vor allem verloren noch sehr viele von uns in der Nacht die Kontrolle über ihre Blase. Jeden Morgen, wurden diejenigen öffentlich bloß gestellt. Seitdem wir paarweise zusammenschliefen, nässte niemand mehr in unserer Gruppe ins Bett. Dadurch wurde keiner mehr von uns bloßgestellt und es kehrte in eine gewisse Art, Ruhe in unser Leben ein.

Die Stube "Nemetskiy" war stets ortendlich aufgeräumt, die Betten gebaut und die Spinde waren ordentlich eingeräumt. So sehr die Betreuer auch suchten, sie fanden nichts, an dem sie sich hätten hochspulen können. Das Miteinander und zueinander halten, ersparte uns viele Strafen. Auf diese Weise kamen wir gut durch den Tag.

 *

Auch für mein Problem mit der Kondition, fanden Konrad und seine Sanitäterinnen, nach nur einer Woche, zusammen mit mir eine brauchbare Lösung. Immer dann, wenn meine Kameraden Freigang im Hof hatte, das waren Vormittags und Nachmittags je eine Stunde, ging ich mit Narciza laufen. In dieser Zeit übernahm Kati wieder die Führung der Gruppe und hielt unsere Leute in einem vertretbaren Rahmen ruhig. Die Nahkampftrainerin bot mir das an, da sie selber sehr gern lief. Sie brachte mich dadurch sehr schnell dazu, wieder genügend Kraft in die Beine zu bekommen. Auch setzte Narciza das Nahkampftraining für mich wieder an, das ich ja schon vor dem Klinikaufenthalt hatte und brachte mir nach und nach all ihre Tricks bei.

Narciza haben ich es zu verdanken, dass ich nur zwei Jahre später, meinen ärgsten Feind in der Schule, den Nahkampflehrer Ranjow, innerhalb weniger Sekunden auf der Matte hatte. Narciza hatte einen ungewöhnlichen Kampfstil. Es war weder Judo noch Kun Fu, noch Aikido, dass sie mir beibrachte. Aikido lernten wir erst Jahre später, in der vierten Klasse, von Onkel Tom, unserem Nahkampftrainer für asiatische Kampfkunst. Der Kampfstil Narcizas war eine Kombination aus Judo, Kun Fu und Aikido. Narciza war wie ich sehr klein und hatte während ihrer Ausbildung oft Problem, um mit dem oft, bis zu dreißig Zentimeter größeren Gegnern und wesentlich kräftigeren Gegnern, zu konkurrieren. Der damalige Kompanieführer in der rumänischen Armee, hatte das einzige Mädchen in sein Herzgeschlossen und zeigte ihr einige Kniffe und Tricks, wie sie aus ihren Manko an Kraft und ihrer geringen Größe einen Vorteil ziehen konnte. Narciza hatte in Laufe der Jahre Ihre gesamte Angriffs und Verteidigungsstrategie auf diese Art des Kampfes umgestellt. Da dieser Kampfstil nirgends bekannte war, hatte sie immer einen Vorteil. Nicht einmal Ranjow konnte im Kampf der kleinen Rumänin das Wasser reichen. Dadurch dass Narciza die Kraft und die Energie ihres Gegners für die eigenen Zwecke nutzte. All diese Kampftechniken zeigte mir Narciza in diesen letzten Wochen, meines ersten Schuljahrs. Auch wenn ich nicht alles sofort umsetzen konnte, merkte ich mir diese Dinge und probierte sie nach und nach aus und lernte sie meinen Kameraden, wenn wir Freigang hatten. Ich glaube das ist der Grund, warum wir eine der besten Gruppe in der Schule wurden. Durch unseren Zusammenhalt und vor allem unsere ständige gegenseitige Hilfe, machten uns mit der Zeit unbesiegbar, gegenüber den Russen und Rumänen. Denn in diesen beiden Gruppen, machte jeder sein eigenes Ding. Uns dagegen machte die Gemeinschaft stark.

*** Das Erste Jahr endet ***

***

Die Zeit verrann wie im Flug und wir gingen mir riesigen Schritten auf unseren Abschlusstest der 1. Klasse zu. Das Schlagen auf den Kopf hatte völlig aufgehört, man verlegte die Aggressionen gegen uns, ins Training. Man forderte immer mehr von uns, es gab keine Leistung, die gut genug für unsere Ausbilder waren. Egal wie gut wir funktionierten, es gab nie ein Lob.

Vieles ging in unserer Schule seinen alten und gewohnten Gang. Nur die Schikanen der Lehrer und Betreuer nahmen immer schlimmere Züge an. Da wir uns Normgerecht verhielten, konnten die Lehrer die Gruppe Kinder aus der Stube "Nemetskiy" über den Tag fast niemals bestrafen. Man fand einfach nichts, für dass man uns hätte abmahnen können. Wir versuchten alle Normen zu hundert Prozent einzuhalten. Wir waren aufmerksam im Unterricht, folgten stets den Erklärungen der Lehrer im Training und waren im Hof leise und diszipliniert. Das wollten sich unsere Ausbilder aber nicht so einfach hinnehmen. So ließen sie sich immer neue Schikanen einfallen, um uns fertig zu machen. Langsam aber sicher nahmen diese Schikanen Formen an, die nicht nur uns Kindern auffielen und wütend machten, sondern auch Konrad, Petrow und Senko. Trotzdem schafften es die Betreuer immer wieder, Möglichkeiten zu finden, uns an die Grenze des Ertragbaren zu bringen. Die Ansprüche an unser Training wurden zu einer endlosen Spirale, die sich immer weiter nach oben schraubte. Alle drei Gruppen in der Schule, egal ob es die Rumänen, die Russen oder wir Deutschen waren, wurden am Limit trainiert. Von unserer Gruppe wurden generell Leistungen verlangt, die kein Kind unserer Altersstufe leisten konnte. Aber die Ausbilder wollten immer mehr. Da die Zeit am Tag kaum noch ausreichte, um unsere Leistungen zu steigern und man seine Macht über uns deutsche Kinder unbedingt beweisen wollte. Kamen die Betreuer Ende Juni 1965 auf die Idee, uns Kinder mitten in der Nacht aus dem Bett zu holen und uns nur in Unterwäsche bekleidet, einige Kilometer laufen zu lassen.

Als hätten sie irgendwo in der Mensa eine Barometer hängen, das genau anzeigte, dass wir Kinder jetzt in einer erholsamen Schlafphase waren, weckten sie uns immer dann auf, wenn wir gerade erholsam schliefen. Sie scheuchten uns in Unterwäsche und barfuß nach draußen.

Meistens geschah das früh gegen 1 Uhr und es spielte dabei keine Rolle, welches Wetter und bei welche Temperatur gerade herrschte. Am Anfang ließen sie uns immer eine Stunde im hohen Tempo laufen. Das war um die fünfzehn Kilometer, die wir liefen. Mit der Zeit allerdings, wurden die Strecken immer länger, am Ende des ersten Schuljahres waren es zwischen dreißig bis vierzig Kilometer, die wir im hohen Tempo laufen mussten. Es kam immer auf die Lust und die Laune des Betreuers an. Wir kamen meistens nach reichlichen zweieinhalb Stunden wieder in der Schule an und konnten uns dann, bis kurz vor 5 Uhr am Morgen noch einmal hinlegen.

Unsere netten Ausbilder allerdings liefen nicht etwas mit, nein, das wäre ihnen bestimmt zu anstrengend gewesen. Sie fuhren lieber uns beschimpfend mit dem Jeep neben uns her und trieben uns zu einem höheren Lauftempo an. Kaum, dass wir in der Schule ankamen, entließen sie uns ins Zimmer und gingen selber bis 10 Uhr, manchmal sogar bis nach dem Mittagessen schlafen. Wir Kinder allerdings mussten pünktlich um 5 Uhr am Morgen, zum Apell erscheinen und hatten dadurch kaum eine Möglichkeit uns zu erholen. Es war eine schlimme Zeit für uns. Unser sowieso völlig gestörter Schlafrhythmus, wurde dadurch völlig durcheinander brachte. Vor allem, weil diese Art der Schikane, all die Schuljahr blieb und weder Senko, Petrow oder Konrad, dieses Verhalten der Ausbilder verbieten konnte. Sagten die drei etwas gegen dieses Art der Ausbildung, hieß es stets: Was wollt ihr, wir sollen die Knirpse doch am Limit trainieren und fit machen, für den Ernstfall.

Aus diesem Grund gewöhnten wir uns schnell an, immer sofort ins Bett zu gehen und zu schlafen, wenn man uns den Befehl dazu erteilte. In der Stube "Nemetskiy" war nach dem Schlafbefehl, niemals auch nur ein einziges Wort zu hören. Etwas, dass die Ausbilder nie verstanden. Denn in den anderen beiden Stuben, war es am Abend immer sehr laut und es gab immer wieder Disziplinverstöße, die es bei uns nie gab. Dadurch dauerte stets lange bis die Stuben schliefen. Wir hätten uns das gar nicht leisten können. Wir mussten alles dafür tun, um ja so viel wie irgend möglich schlafen zu können. Mehr als drei Stunden am Stück konnten wir nie schlafen. Denn Zapfenstreich war immer um 22 Uhr, wir hatten bis 21 Uhr 30 Unterricht und mussten dann noch duschen. Vorher durften und konnten wir nie unsere Betten benutzen. Also gewöhnten wir es uns in den kurzen Pausen an, dass ein Teil unserer Leute immer im Sitzen auf den Boden etwas Schlaf nachholten. Die anderen weckten die Schlafenden, sobald jemand das Zimmer oder den Hof betrat. Auch wenn es oft nur zehn Minuten oder eine halbe Stunde war, die wir schlafen konnten, half uns das wieder etwas Energie aufzutanken.

Die anderen beiden Stuben lachten uns lange Zeit aus, weil wir jeden Morgen völlig geschafft, auf dem Exerzierplatz erschienen und vor Müdigkeit kaum aus den Augen schauen konnten. Allerdings verging den Russen und Rumänen sehr schnell das Lachen. Im zweiten Schuljahr standen sie selbst jeden Morgen völlig geschafft da und keiner grinste mehr über uns. Denn die Leistungen der anderen Gruppen in unserer Schule, waren an unseren Leistungen gemessen, unterirdisch schlecht.

Wir hatten uns in der Zwischenzeit, bis zu einem gewissen Grad an diesen Lebensrhythmus gewöhnt. Es macht uns später keine großen Probleme mehr, da wir uns innerlich darauf eingestellt hatten, sofort, vor allem sehr schnell in einen tiefen Schlaf zu fielen. Das was die Ausbilder von uns verlangten, setzten wir einfach auf eine nur uns mögliche Art um. Wir waren ein Team geworden, das zusammenhielt und in dem jeder, jedem half. Egal, wo es Probleme gab, wir fanden gemeinsam als Gruppe eine Lösung. Genau darin lag vom ersten Test an, unsere Stärke und mit den Jahren ist dieses Zusammenwachsen, um vieles tiefer geworden, als sich das normale Menschen vorstellen konnte. Wir fühlten immer, wie sich alle in der Gruppe fühlten, deshalb konnte keiner sagen: Mir geht es gut, wenn es demjenigen schlecht ging. Wir hätten das sofort gespürt. Wir sahen es an der Körperhaltung, an der Mimik, die nur wie Kinder noch lesen konnten. Vor allem aber an der Art und Weise, wie Aufträge umgesetzt wurde. Das Lügen haben sich alle innerhalb der Gruppe "Nemetskiy" sehr schnell abgewöhnt. Jedenfalls den Kameraden gegenüber. Den Betreuern und Lehrern gegenüber, waren Lügen immer erlaubt und vor allem notwendig, um uns zu schützen. Dieser feine Unterschied machte viel aus. Vor allem, wenn es um die Tests ging. Denn genau dort mussten wir ganz genau wissen, wie jeder drauf war, um die Tests richtig bewältigen und unsere Möglichkeiten exakt nutzen zu können.

Diese Art der Zusammenarbeit, haben die anderen beiden Stuben in diesem Maße nie hinbekommen, weil jeder der Beste sein wollte. Uns war es egal, ob wir als erster oder als Letzter ins Ziel kamen. Es zählte nur, dass alle den Test schaffen würden. Bis auf wenige Ausnahmen, schafften alle, in den ersten Jahren, die Tests. Diejenigen die es nicht schafften, befanden sich nicht mehr auf unserer Schule. Das mussten wir leider auch lernen.

 *

Jeden Morgen beim Apell, wurden wir seit einigen Tagen daran erinnert, dass bald unser Abschlusstest fällig war. Wie auch mir, machte den meisten aus der Stube "Nemetskiy", der Test keine Sorgen. Wir wussten, dass wir den problemlos schaffen würden.

Eine andere Sache beunruhigte uns viel mehr. Es war die Tatsache, dass wir nach dem Test, die Schule für zwei Wochen verlassen mussten. Meine Kameraden konnten sich noch weniger, als ich vorstellen, was sie in dieser Zeit machen sollten und was auf sie zukam. Ich hatte ja schon einmal in diesem Schuljahr, das Gelände der Schule verlassen und wusste wie es sein würde. Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, wieder bei meinem Großvater zu sein. Es machte mir furchtbare Angst. Das schlimme daran war, dass ich diese Angst, niemand zeigen durfte. Ich wollte meinen Kameraden Mut machen und sie sollten sich auf zu Hause freuen. Wir diskutierten in jeder freien Minute darüber.

Aber ich gab ihnen Recht. All dass, was vor unserer Schulzeit lag, war für uns in unvorstellbare Ferne gerückt. Die Menschen die dort auf uns warteten, hatten keine Gesichter mehr. Sie waren uns fremd geworden und alles Fremde machte uns Angst. Da nie etwas Gutes aus der Ferne kam.

Man hatte uns im September vor einem Jahr, völlig geleert und diese dann leeren Gefäße, die wir waren, militärisch wieder aufgefüllt. Menschen zu vertrauen, fiel so glaube ich, keinen aus meiner Gruppe mehr leicht. Zu schlimm waren die Erlebnisse von unserem Schulbeginn, in uns eingebrannt. Dass, was uns in den ersten Tag hier passiert war und was man im Laufe des Jahres mit uns gemacht hatte, hatte uns nachhaltig geprägt. Keiner von uns wollte wieder dorthin zurück, was die Ausbilder unsere Kindheit nannte, aus purer Angst, noch einmal die gleichen Höllenqualen durchmachen zu müssen, wie vor einem Jahr. Allerdings blieb uns keine Alternative. Wer wollte unsere Meinung schon hören. Hätte uns damals jemand nach unserer Meinung gefragt. Ich glaube, es wären liebend gern alle hier geblieben. So unlogisch das jetzt hier auch klingen mag. Aber das Leben vor der Schule, war in uns ausgelöscht oder in eine unerreichbarere Ferne gerückt. In eine Ferne, die wir nicht mehr erfassen konnten. Wir waren Kinder, die ein Jahr lang durch eine Hölle gegangen waren und wussten, dass wir wieder in diese Hölle zurück mussten. Keiner von uns, konnte sich noch an die Gesichter, Stimmen oder Gesten von den Menschen erinnern, die uns damals hier her geschickt hatten. Alle hatten Angst, vor den uns völlig fremd gewordenen Menschen, denen wir am 12. Juli 1965 wieder begegnen sollten. Wir wussten vor allem nicht, wie wir uns dort verhalten sollten. Hier hatten wir unsere festgeschriebenen Verhaltensregeln. Würden diese dort, in der uns völlig fremden gewordenen Welt, auch gelten? Wie würden sich die Menschen uns gegenüber verhalten? Denn wir hatten uns nicht nur äußerlich verändert. Dass diese Menschen unsere Familie war, hatten wir, im Laufe der Monate erfolgreich verdrängt. Wir kamen als andere Kinder zurück und ich glaube, für die Eltern meiner Freunde war es noch schlimmer, als für meine Großeltern, zu sehen, was aus uns geworden war. Wir entsprachen auf keine Art und Weise mehr den Kindern, die man am 28. August 1964 auf den Bahnhof gebracht hatte. Unser Wesen, unser Denken, unser Aussehen hatte sich geändert. Nichts, wirklich nichts, entsprach mehr dem Kind, das vor einem Jahr gegangen war.

 *

Aber wen interessierte schon, was wir Kinder wollten. Ich glaube selbst unsere Erzieher wären geschockt, wenn sie unsere Gedanken hätten lesen können. Ich glaube nicht, dass sie das hatten erreichen wollen.

Bei jedem Morgenappell zum Beispiel, mussten wir immer unsere Landes Hymnen singen: Die Rumänische, die Russische und die Deutsche. Irgendwann, fragte uns Narciza einmal, wie uns die deutsche Hymne gefallen würde. Wir sahen sie völlig desorientiert an, weil wir nicht verstanden, was sie von uns wollte.

"Na ihr sinkt doch eure Hymne jeden Tag. Ihr müsst doch wissen, wie sie euch gefällt", fragte uns unsere Nahkampftrainerin und sah mich an.

Ich zuckte wie immer, wenn ich etwas nicht verstand, mit den Schultern. "Was soll uns denn daran gefallen? Wir singen die Worte, ja", gab ich ihr ehrlich zur Antwort, bei Narciza durfte ich das. "Aber wir wissen gar nicht, was das heißen soll", gestand ich ihr ohne zu zögern.

Narciza sah mich völlig perplex an. "Wie ihr wisst gar nicht, was die Worte heißen."

Ich konnte es gar nicht genau erklären. Wir sangen das Lied, dass über den Lautsprecher abgespielt wurde mit. Wir ahmten die Worte nach und konnten den Sinn dieser Worte aber gar nicht erfassen. Oft konnten wir vor Müdigkeit gar nicht aus den Augen gucken und waren viel zu geschafft, uns diese deutschen, uns mittlerweilen fremd vorkommende Sprache zu übersetzen. Wie so oft machten wir einfach das, was man von uns verlangte. Meine Kameraden noch mehr als ich. Ich glaube keiner aus meiner Gruppe, könnte auf Anhieb einen Satz in der Muttersprache heraus bringen. Wir hatten selbst unsere Sprache vergessen. Meine Kameraden sprachen seit fast einem Jahr, einen Mix aus Deutsch, Rumänisch und Russisch: Unserer Schulsprache oder reines Russisch.

Keiner mit Ausnahme von mir, hat wieder mit einem anderen Kind oder Erwachsenen jemals wieder auch nur ein Wort deutsch gesprochen. Woher sollten wir wissen, was in dieser Hymne gesungen wurde? Selbst ich sprach mittlerweile fließend Russisch und die Schulsprachen, mit der wir uns mit den anderen Kindern verständigen konnten.

Narciza war völlig geschockt von diesem Gespräch und musste sich erst einmal mit Doktor Konrad kurzschließen. Unsere Nahkampftrainerin, eine der tollsten Lehrerinnen die wir hatten und die wir alle innig liebten, konnte einfach nicht fassen, dass wir unsere eigene Sprache vergessen hatten. Wie sollten wir die wenigen Worte, die wir als sechsjährige Kinder beherrschten, behalten. Mit uns sprach doch nie jemand Deutsch. Weder Konrad, noch die Petrows noch sonst ein Ausbilder hatte in den letzten Monaten, Deutsch mit uns gesprochen. Selbst ich, habe die wenigen Deutschen Worte die ich kannte, völlig verdrängt in eine Ecke meines Gedächtnisses, in ein riesiger Papierkorb stand und all die Dingen hingeschoben wurden, die nicht lebenswichtig waren. Ich hatte seit meinem Klinikaufenthalt nur noch Russisch gesprochen und der war über ein viertel Jahr her. Wir bekamen ständig so viele Informationen, dass wir unwichtige Sachen einfach vergaßen, denn sonst wäre uns irgendwann der Kopf geplatzt. Wir speicherten seit September nur noch Sachen ab, die wir zum Überleben benötigten und die wichtig waren, um einigermaßen ruhig durch den Tag zu kommen.

Doktor Konrad kam an diesem denkwürdigen Tag, nach dem Abendbrot, zu uns und sprach Deutsch mit uns. Wir haben ihn glaube ich angekuckt, wie eine Kuh das neue Tor. Wir wussten nicht, was er von uns wollte. Narciza, die zeitgleich mit ihm, in unseren Raum kam, meinte lachend zu ihm.

"Sehen sie was ich meine, Genosse Konrad. Die Kinder fahren in ein paar Tagen nach Hause und verstehen ihre eigenen Leute nicht mehr. Das ist doch nicht normal", wies sie ihn darauf hin, dass das alles nicht wahr sein durfte.

Kopfschüttelnd verabschiedete sich Konrad, auch dieses Mal auf Deutsch. Er war völlig von der Rolle und verließ unseren Raum. Ich sah ihn hinterher und sah dann Narciza an. "Genossin Narlow, was ist denn mit unserem Doktor los? Wir haben doch nichts gemacht. Was hat er gesagt? Ich habe das nicht verstanden", bat ich sie um Hilfe, da ich wusste, dass Narciza Deutsch sprach.

"Charlotte, der Doktor hat euch einen gute Nacht gewünscht und ihr sollt sofort Schlafen", übersetzte sie Konrads Worte.

"Warum sagt er uns, dass denn nicht wie immer", erkundigte ich mich bei ihr. "Dann hätten wir ihn auch verstanden."

"Tja der liebe Doktor wollte mir nicht glauben, was ich ihm gerade erklärt hab. Er meinte man vergisst seine Muttersprache nicht so einfach. Wie du siehst ist das doch der Fall. Los ab in die Betten mit euch. Es ist schon spät und morgen ist der Test. Schlaft schnell und gut", grinsend und ebenfalls mit dem Kopf schüttelnd, verließ sie unseren Raum.

Wirklich keine von uns begriff in diesem Moment die Tragweite dessen, was da auf uns zukommen würde.

Die Ferien waren nicht mehr weit und wir mussten, ob wir es nun wollten oder nicht, die Schule verlassen. Denn in dieser Zeit waren Bautrupps vor Ort, die die Gebäude an die hiesigen Bedingungen anpassen sollten. Auch die Betreuer merkten sehr schnell, dass bei dem Bau der Schule, einige Fehlplanungen gemacht wurden. Alleine das Fehlen einer ordentlich funktionierenden Heizung im Schulgebäude, war so nicht akzeptable. Außerdem war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass es zwar einen Sportplatz gab, aber keine Turnhalle. Deshalb wurde neben dem Sportplatz und neben unserem Schulgelände, seit Anfang Mai eine Turnhalle hochgezogen, die auch beheizt werden sollte. Vor allem, musste man unser Schulgelände erweitern, um noch zweimal drei Wohnblocks für die Betreuer zu errichten, die im nächsten Sommer gebaut werden sollten. Die Fundamente hatte man bereits gegossen. Dadurch war der Einbau einer modernen Heizanlage, für alle Gebäude notwendig und würde in eben diesen zwei Wochen stattfinden. Dabei ging es allerdings nicht, um die Bedürfnisse von uns Schülern, sondern hauptsächlich um die der Lehrer und Betreuer. Einigen hatten nämlich damit gedroht, das Handtuch zu schmeißen, da man sich nicht einmal auf den Zimmern aufwärmen konnte und sämtliche Räume muffig riechen würden. Selbst die Sachen in den Schränken würden schimmeln und wiesen alle Stockflecke auf. Da die Lehrer und Betreuer genau wie wir, im Schulgebäude wohnten, hatten auch sie keine Heizungen in ihren Räumen. Deshalb musste das gesamte Schulgebäude umgebaut werden. Das war der Hauptgrund, weshalb wir unbedingt nach Hause fahren mussten, wir ob wir wollten oder nicht.

 *

An den Härtetest kann ich mich, wenn ich ehrlich sein soll gar nicht mehr wirklich erinnern. Er war wie alle Tests, die wir machen mussten, schwer. Aber es passierte nichts Außergewöhnliches. Das Schwimmen bei schönem Wetter war angenehm, Laufen taten wir alle gern und waren wir vor allem daran gewöhnt. Es war nichts dabei, was sich zu merken lohnte.

Das Einzig nennenswerte wäre die Tatsache, dass wir zu unserem normalen Gepäck, vier fünf Kilo Gewichte in die Außentaschen der Rucksäcke bekamen. Ansonsten, wurden wir wie immer an einem bestimmten Punkt ausgesetzt und mussten an Hand von Karten bestimmte Zielpunkte anlaufen und uns dort weiter Informationen für den Test holen. Wir liefen an die fünfzig Kilometer von Kontrollpunkt zu Kontrollpunkt und es gab einige Hindernisse zu bewältigen. Wir mussten eine Schlucht überwinden und drei Seile spannen, um eine Art Brücke zu bauen, über die man gefahrlos laufen konnte. Wir mussten reichlich zwei Kilometer in unserem See schwimmen, was schon schwieriger war, durch unser Gepäck. Vor allem aber, weil wir drei Leute dabei hatten, die sich mit Müh und Not über Wasser halten konnten. Zu unserem Glück standen keine Betreuer am Ufer und wir verteilten einfach den Inhalt deren drei Rucksäcke, unter uns guten Schwimmern auf. So schaffen unsere drei "Sorgen Schwimmer" auch diesen Teil des Tests, ohne Probleme. Nach fast zweizwanzig Stunden kamen wir wieder in der Schule an. Unsere Füße waren blutig, genau wie unsere Schultern und unsere Hände. Aber alle fünfundzwanzig Gruppenmitglieder der Stube "Nemetskiy" hatten den Test in der vorgeschriebenen Zeit von 24 Stunden, geschafft. Wir gingen duschen, bauten unsere Sachen aus den Rucksäcken wieder in die Schränke, stellten den Korb mit den Gewichten, zur Abholung vor unsere Tür und fielen kurz vor 5 Uhr halbtot in die Betten.

Kurz nach 9 Uhr wurden wir geweckt und bekamen unsere Reisekleidung und die gepackten Taschen, für den Heimaturlaub ausgehändigt. Punkt 10 Uhr am 10. Juli1965 war der Abschlussappell. In dem man uns noch einmal unsere Verhaltensregeln, den Eltern und anderen Mitmenschen gegenüber erklärte. Kurz vor 12 Uhr stiegen wir in den Hubschrauber um nach Moskau und dann nach Hause zu fliegen. Das schönste an dem Flug war, dass wir sitzen und etwas schlafen konnten. Auch wenn das kein richtiges Schlafen war, tat es gut sich auszuruhen. Ich glaube keiner von uns rührte das Verpflegungspaket an, dazu waren wir viel zu müde und kaputt. Außerdem war nicht nur mir schlecht, vor Angst, was da wieder auf uns zukam.

Wenn ich aber ehrlich zu mir und meinen Kameraden sein wollte, musste ich offen zugeben, und das wurde nicht nur mir mit jedem Tag bewusster, dass wir einfach nicht mehr konnten. Wir brauchten eine Pause, von allem Lernen und vor allem aber, dem vielen Sport den wir machten mussten. Unsere letzten Reserven, hatte der Härtetest, der seinen Namen verdient hatte, verbraucht. Das merkte ich bei dem Test nur allzu deutlich. Wir waren mittlerweile an einem Maß des Ertragbaren angekommen, an dem nichts mehr ging. Wirklich keiner von uns, war noch aufnahmefähig. Vor allem waren wir alle nicht nur hundemüde, sondern todmüde und wollte nur einmal, eine ganze Nacht in einem warmen und trockenen Bett schlafen. Es war eine schlimme Zeit, Ende der ersten Klasse.

 *

Aber eigenartiger Weise, auch das muss ich aus meiner heutigen Sicht zugeben, störte mich das damals nicht so, wie ich das jetzt in Erinnerung habe. Es war für uns damals Normalität. Es war oft hart, das ja, aber wir kannten nichts anderes mehr. Wir konnten unsere Grenzen gar nicht mehr richtig einschätzen. Ich glaube wir hatten vergessen, dass es in unserem Leben auch bessere Zeiten gab.

Wenn ich darüber nachgrüble, wie der Flug war. Muss ich ehrlich sagen, dass ich es nicht weiß. Ich weiß nicht wie ich in das Flugzeug kam oder in den Hubschrauber, der meine Kameraden und mich nach Gera flog. Das alles war in einer grauen Masse verschwunden. Wahrscheinlich waren wir halb schlafend, von einem Fluggerät ins nächste gestiegen. Jedenfalls weiß ich von keinem Rückflug, egal von welchem Schuljahr, wie ich nach Gera kam. Ich habe das einfach vergessen, es war einfach nicht wichtig. Das Einzige, an was ich mich wirklich erinnere, ist die Tatsache, dass mein Großvater mich jedes Jahr vom Bahnhof abholte. Selbst an die Ferien in Gera, erinnere ich mich kaum. Es flackern einige Bilder in meinen Erinnerungen auf, mehr ist da nicht. Aber ab diesen Punkt setzen ein Teil meine Erinnerungen, dank der Tagebücher meines Großvaters wieder ein. Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich oder wie ich mich von meinen Kameraden verabschiedet habe. Egal wie lange ich über diesen Punkt nachgrüble, er blieb eine verschwommene graue Masse.

***

*** Rückkehr und Ferien ***

***

Als unser Bus den Hauptbahnhof in Gera erreichte, schnappte ich mir auf einen Befehl Petrows hin, meine Tasche und setzte mein Cappy auf mein Tuch, um den Bus zu verlassen. Gewohnheitsgemäß salutierte ich vor Petrow, der in der Tür des Busses stand und lief auf meinem Großvater zu. Petrow rief uns nach, wir sollten warten. Also blieben wir Geraer Kinder, stehen, wo wir standen und warteten auf weitere Befehle. Wir hielten unsere Taschen in der Hand, so wie wir es seit einem Jahr machten, taten wir nichts ohne Erlaubnis. Petrow lief zu meinem Großvater und der Familie von Birgitt, um sich kurz mit den Erwachsenen zu unterhalten. Ich vermute stark, dass er mit ihnen besprach, wann und wo wir wieder abgeholt wurden. Kurze Zeit später kam Petrow auf uns zu und wünschte uns viel Spaß und schöne Ferien. Er gab uns den Befehl zu unseren Familien zu gehen und wir taten es, wie so eine Art Roboter. Meine Gefühle für meinen Großvater waren auf "Aus" gestellte und ich glaube meiner besten Freundin ging es nicht anders. Auch sie drehte sich nicht zu mir um, als ihre Eltern gingen oder, dass sie mir zu gewinkte hätte. Sie lief schweigend, genau wie ich, neben ihrer Familie her und tat, was man ihr sagte.

Ich fand einen Eintrag meines Großvaters, der sehr aufschlussreich war, den er höchstwahrscheinlich am Abend in seinem Tagebuch über diese Momente wie folgt festhielt:

Die Zeit am Bahnhof war lang. Das Warten fraß an meinen angespannten Nerven. Ich hatte Angst vor dem Aufeinandertreffen, mit meiner kleinen Enkeltochter. All die langen Monate, habe ich mich nach diesem Moment gesehnt und nun, würde ich am liebsten wieder weglaufen. Ist meine Lotty immer noch mein kleines Mädchen oder passierte das, was auf dem Rittergut, mit den Jungs jedes verdammte Jahr passierte? Ich wünsche mir so sehr meine Lotty wieder. Was ist, wenn sie es nicht ist? Werde ich mit dieser anderen Lotty auch noch klar kommen? Ich muss. Es nutzt ja nichts. Ich konnte sie vor einem Jahr nicht beschützen, also muss ich jetzt mit dem Leben, was ich zurückbekomme und muss in der kurzen Zeit die mir verbleibt, versuchen, meine Lotty wieder zu finden. Egal wie tief ich graben muss.

Gerade sind die Eltern des zweiten Geraer Mädchens angekommen und sehen genauso ängstlich aus wie ich. Ich sollte wohl einmal hingehen und mich vorstellen. Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen.

Die Familie scheint sehr nett zu sein. Sie sind so in Sorgen, um ihre Birgitt. Auch sie haben in dem ganzen Jahr, nicht eine einzige Nachricht von ihrer Tochter bekommen. Sie haben mir Löcher in den Bauch gefragt, wie denn meine Enkelin so sei und wieso die Eltern ihre Tochter nicht abholen. Was sollte ich dazu sagen? Die Wahrheit, konnte ich leider niemanden erzählen. Ich schäme mich mit jeder Minute meines Lebens mehr, für meine Tochter. Sie ist so eine Enttäuschung für mich. Die Mühles waren fleißige Leute. Sie erzählten mir gerade, dass sie gespart hatten, um mit Birgitt und ihren anderen Kindern, morgen eine Reise zu unternehmen. Sie wollten in den Plänterwald nach Berlin fahren. Ich fand, dass es eine schöne Überraschung für die anderen Kinder der Familie war, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Birgitt etwas von diesem Tag hatte. Ich werde ja sehen, wie unsere Lotty drauf war und was man mit ihr anfangen konnte. Ich dachte mir allerdings, dass die Umstellung auf unser Leben, ein paar Tage brauchen würde. Hoffen wir, dass es nicht so schlimm wird, wie ich es mir meine Erfahrungen sagten. Mein größter Wunsch wäre, dass unsere kleine Lotty, hier ein paar schöne Tage hatte und sich erholen konnte.

Endlich kam der Bus. Ich hatte das Gefühl jahrelang hier zu stehen. Sie hatten fast vier Stunden Verspätung. Mein Herz schlug bis oben in den Hals, als ich zwei Kinder aus dem Bus aussteigen sah. Ein großes kräftiges Mädchen und ein kleines dicklich aussehendes Mädchen verließen den Bus. Beide Kinder sahen meiner Lotty so gar nicht ähnlich. Neben mir höre ich das Aufstöhnen, der Familie Mühle. Ich glaube sie waren genauso geschockt wie ich, das keines der beiden Mädchen noch Haare auf ihren Kopf hatte. Beide waren sie mit einer khakifarbene Hose und einem Kasack bekleidet und trugen auf ihren kahlen Köpfen ein Cappy. Das kleinere Mädchen trug unter dem Cappy, noch ein gleichfarbiges gebundenes Tuch. Das war sehr ungewöhnlich für die Russen, die sehr streng waren mit der Kleiderordnung und Disziplin.

Kurz nach den Mädchen, stieg ein Offizier aus dem Bus und rief den Kindern etwas auf Russisch zu. Sofort blieben die Mädchen stehen und warteten auf den Offizier. Aber der Russe ging an den Mädchen vorbei und kam auf uns zu. Er begrüßte uns freundlich und sein Lächeln war nett, denn es reicht bis tief in seine Augen.

"Gute Abend, wünsen is", meinte er in sehr gutem Deutsch, hatte allerdings einen starken Akzent. Dann griff er in seine Jacke und holte zwei Umschläge heraus, um sie uns zu überreichen. "Da'in sind die Ab'olzeiten ent'alten. Bitte seien sie bei der Ab'olung punktlis", instruierte er uns und wandte sich mir zu.

"Sie sein 'err Krause, ne'me is an", wandte er sich direkt an mich. "Ich möste sie darauf 'inweisen, das Carlotte eine sweren Unfall in der Sule ge'abt 'at. Carlotte 'at für den Notfall eine Brief in i're Tas'e, damit sie für eine Arztbesug alle notige Informationa 'aben."

Ich sah den Russen ängstlich an und erhoffte mir mehr Informationen.

"Keine Angst, i'rer Carlotte ge't es wieder gut. Es sein nur ein Vorsigt von unsere Doktore. Sollte Carlotte, Kopfsmerz begommen, 'at sie Medikamenta dabei, die sie i'r gebe gönne. Carlotte wissen, wie man sie ne'me muss", klärte er mich mit wenigen Worten auf. "Tut mir leid, wir 'aben se'r wenige Zeit und mussen dringend weiter. Alles Gute bis zu 27. Juli um fünf Uhr frü'", verabschiedete sich der Russe von allen Anwesenden.

Schnell lief er auf die beiden Mädchen zu und rief ihnen russisch zu. "Ab nach Hause mit euch, nu davay", schon war er im Bus, der Bus schloss seine Tür und fuhr ab. Keins der anderen Kinder winkte den beiden zu.

Sofort nach dem Befehl zu ihren Familien zugehen, setzten die beiden sich in Bewegung und liefen auf uns zu. Birgitts Eltern wollten ihrer Tochter die Tasche abnehmen, aber die Kleine wollte die Tasche behalten. Kurz verabschiedeten sich die Mühles von mir und ich wartete auf meine Lotty. Ich ahnte schlimmes, durch die Worte des Offiziers. Ich ahnte sofort, dass dieser nur nebenbei erwähnte Unfall, nicht ohne Folgen für unsere Lotty geblieben war. Das Tuch, um ihren Kopf, machte mir Angst. Das war so untypisch für die Russen. Mühsam schluckte ich meine Sorgen herunter. Meine Lotty war jetzt wichtiger.

Unschlüssig stand sie vor mir und dann salutierte sie, als wenn ich ein General wäre. Was hatten die nur mit unseren Kindern dort auf dieser Schule gemacht. Meine Lotty war noch nie eine Quasselstrippe. Aber das ist nicht mehr meine Lotty. Wo steckt das kleine zierliche Mädchen, mit den wachsamen Augen? Wie soll ich die je wiederfinden? Ich könnte schreien vor Wut und hatte wahnsinnige Angst vor dem, was da wohl auf mich zukam.

Ich bot Lotty meine Hand an und fragte sie, ob ich die Taschen nehmen darf. Genauso wie Birgitt, schüttelte Lotty nur stumm ihren Kopf. Genauso stumm lief sie neben mir her, völlig ohne irgendwelche Emotionen. So hatte ich mir ehrlich die Rückkehr meiner Enkelin nicht vorgestellt. Ich bekam kein Lächeln und keinerlei Reaktion von ihr. Ihr immer lächelndes Gesicht, war zu einer stählernen Maske erstarrt und zeigte keinerlei Reaktionen mehr. Ich muss aufhören zu schreiben, denn ich muss mich jetzt um meine Lotty kümmern. Vielleicht schreibe ich später noch etwas dazu. Im Moment bin ich dazu nicht mehr in der Lage.

Hier endeten die Aufzeichnungen meines Großvaters. Entweder konnte er seine Gefühle nicht mehr in Worte fassen oder er konnte einfach nichts mehr ertragen. Ich vermute es war beides. Denn an die nachfolgenden Ereignisse, konnte ich mich noch wie gestern erinnern.

*

Als mein Großvater mir meine Tasche abnehmen wollte, schüttelte ich den Kopf. Ich war gewohnt mich selber um alles zu kümmern, mir musste keiner helfen. Ich wusste aus den Tagebüchern, dass ich vor meinem Großvater salutiert hatte, so wie ich es seit einem Jahr vor jedem Erwachsen getan habe. Aber ich habe den ganzen Weg über, nicht ein Wort gesprochen.

Wir liefen leider nicht den kürzesten Weg nach Hause, sondern liefen an der Elster entlang, um nach der langen Reise ein wenig Luft zu schnappen. So drückte sich mein Großvater jedenfalls aus. Ich glaube aber eher, dass mein Großvater seine Gefühle in den Griff bekommen musste. Dass machte er immer auf diese Weise. Es war ein wunderschöner Spaziergang, den man auf diesen Wegen machen konnte, wenn man Langeweile hatte oder einfach einmal an die frische Luft wollte. Aber wenn man aufgerissene und zerschnittene Füße hatte, bei denen jeder einzelne Schritt brannte wie ein Höllenfeuer, war es ein sich endloser hinziehender Fußmarsch, der zur Qual wurde. Mein Großvater war schon immer ein guter Läufer und vor allem liebte er lange und intensiver Spaziergänge. Aber an diesem Tag, hätte ich mir den kürzesten Weg vorgezogen. Vor allem, weil ich völlig fertig war, von der langen Reise. Ja klar wir hatten etwas geschlafen. Aber was war das für ein Schlaf, zusammengerollt auf einem Flugzeugsitz, der fast vierzig Stunden gedauert hatte. Es war kein wirkliches erholsames Schlafen und vor allem tat einem nach dieser langen Zeit, jeder einzelne Knochen weh. Da musste man vorher nicht einmal einen Härtetest machen. Aber was hätte ich machen können oder sollen? Heute weiß ich, ein Wort und mein Großvater hätte uns ein Taxi gerufen. Aber danach zu fragen, hatte ich mir in all den Jahren und nie im Leben getraut.

Viele fragende und verwunderte Blicke, musste mein Großvater unterwegs ertragen, der ja in dieser Gera bekannt, war wie ein bunter Hund. Ich fiel schon auf, durch meine geringe Größe, die russische Kadetten Uniform und dem Tuch unter dem Cappy. Ich glaube, es war ihm peinlich mit mir gesehen zu werden. So kam es mir damals jedenfalls vor. Oder interpretiere ich da heute nur Gefühle in meine Erinnerungen hinein. Ich bin mir da nicht so sicher. Ich weiß nur noch, dass er laufend zu mir guckte. Es kann auch durchaus sein, dass er nur wissen wollte, was unter dem Tuch zum Vorschein kam. Wahrscheinlich machte ihn das Tuch mehr Angst, als mein Schweigen.

Nach über einer Stunde, kamen wir an der Wohnung meiner Großeltern an. Normalerweise wäre es ein Fußmarsch von einer guten halben Stunde gewesen. Als mein Großvater die Tür zu der Wohnung aufschloss, begrüßte uns meine Großmutter mit den folgenden Worten:

"Da seid ihr ja endlich. Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Wo wart ihr denn solange", begrüßte sie ihren Mann und dann starrte sie mich an, wie ein Alien. "Mein Gott Charlotte bist du gewachsen", zwang sie sich zu sagen. "Komm, rein meine Kleine", setzte sie mit einem fragenden Blick auf ihren Mann nach.

Ich ahnte, dass sie am liebsten geweint hätte oder geschrien. Denn ihr Gesicht sprach Bände. Wenn wir eins in diesem ersten Jahr unserer Ausbildung gelernt hatten, dann war es in den Gesichtern der Erwachsenen zu lesen. Das konnte lebensrettend sein. Der Schreck meines Anblicks, ohne Haare musste für meine Großmutter noch furchtbarer gewesen sein, als meinen Großvater. Das zeigten mir ihre Augen. Meine Großmutter hatte es immer geliebt, durch meine Locken zu fahren und hatte meine Haare, die ganzen Monate immer gern gebürstet und gepflegt.

Großvater schob mich in die gute Stube und wollte mir die Tasche aus der Hand nehmen. Ich schüttelte den Kopf und sah ihn fragend an. Einige Momente später verstand er meinen fragenden Blick und bat mich ihm zu folgen.

"Schau Lotty, hier kannst du deine Sachen einräumen", dabei zeigte er auf meinen Teil des Schrankes, in dem immer meine Anziehsachen gelegen hatten.

"Spasibo Tovarishch", bedankte ich mich gewohnheitsgemäß auf Russisch.

Fragend sah mich mein Großvater an, weil er die Worte nicht verstanden hatte. "Was sagst du da Lotty?" Verständnislos musterte er mich.

Ich antwortete ihm nicht, da ich hätte in diesem Moment gar nicht gewusst, was ich darauf antworten sollte. Ich hatte ihn nicht verstanden. Also räumte ich einfach weiter meine Sachen in den Schrank. Es waren ja nicht viele, nur sieben Overalls, Unterwäsche, etliche Fußlappen und drei Tücher. Sofort zog ich meine Montur, die wir nur auf der Fahrt tragen durften aus und legte sie ordentlich zusammen und in den Schrank. Dasselbe machte ich mit meinen Stiefeln, die ich unter den Schrank deponierte. Entsetzt sahen mich meine Großeltern an, als sie die Blutergüsse auf meinen Schultern und die Verbände an meinen Hände und Füße sahen, die sie jetzt erst entdeckt hatten.

Da mir die Hemden und Overalls an den Armen immer zu lang waren, sah man meine Hände nicht. Meine Hände und Füße waren verbunden, da wir uns bei dem Härtetest, alle die Hände und Füße schlimm zerschnitten hatten. Da wir wie immer im Sommer keine Schuhe trugen. Wir mussten uns bei dem Test, einen Weg durch schwieriges Gelände suchen, die Felsen waren scharfkantig und wir waren einige Male böse abgerutscht, da blieben Blessuren nicht aus. Da wir so weit vom Bahnhof bis zur Wohnung meiner Großeltern gelaufen waren, waren viele der kleinen Schnitte wieder aufgegangen und die Binden um meine Füße waren rot vom Blut.

"Um...", weiter ließ mein Großvater seine Frau nicht reden.

"Lotty, warum sagst du mir denn nicht, dass du kaputte Füße hast. Verdammt nochmal", schimpfte mein Großvater mit sich, wie er mir später erklärte.

Ohne Rücksicht darauf, dass er mich völlig durcheinander bringen würde und damit eine völlige andere Reaktion von mir bekam, als er wollte, unternahm er den Versuch mich auf seinen Arm nehmen. Da ich aber völlig in Panik geriet, da mich jemand fassen wollte, duckte ich mich unter den nach mir greifenden Händen weg und huschte so schnell es ging unter das Bett, um mich zu verkriechen. Mit dieser schnellen Reaktion von mir, hatte mein Großvater nicht gerechnet. Jetzt hatten meine Großeltern ein richtiges Problem, denn unter dem Bett bekamen sie mich so schnell nicht wieder hervor. Der Schreck saß mir in allen Knochen. Ich verstand die Worte meines Großvaters erst nicht. Sie hatten mich erschreckt, denn der Ton war wütend. Egal wie sehr er sich bemühte, seine Wut herunter zu schlucken, die er auf sich selber hatte, es gelang ihn nicht wirklich, sie zu unterdrücken. Seine Stimme klang wütend und so erreichten seine Worte, nicht die gewünschte Wirkung.

"Komm Lotty, komm her zu mir. Du weißt doch, dass ich dir nichts tue. Ich wollte dich nicht erschrecken", wiederholte mein Großvater immer wieder die gleichen Worte. Irgendwann gab er einfach auf und folgte seiner Frau, traurig in die Küche.

"Wir müssen Lotty Zeit geben, Klara. Ich habe sie erschreckt", versuchte er seine Frau zu trösten, die weinend am Küchentisch saß.

Selten habe ich meinen Großvater und meine Großmutter weinen sehen. Aber an diesem Tag weinten beide schlimm. Ich hörte meine Großeltern bis ins Schlafzimmer weinen und das obwohl sie in der Küche saßen. Dieses Weinen brachte mich endlich dazu, mein Versteck unter dem Bett zu verlassen und vorsichtig an die Küchentür zu gehen. Ich folgte dem Weinen einfach und fand meine Großeltern am Küchentisch sitzend. Solange ich mich erinnern konnte, tat es mir weh, jemanden weinen zu hören. Weil ich nur zu genau wusste, wie sich das anfühlte, wenn man vor Traurigkeit weinte. Lange stand ich in der Tür der Küche, bis ich zu dem Mann ging, der immer noch weinend am Küchentisch saß. Es war ein langer, vor allem harter Kampf, den ich gegen mich selber führte. Zum Schluss gewann mein Großvater. Seine Geduld machte sich bezahlt. Vor allem aber, dass er mir so offen seine Gefühle zeigte.

"Ne plach' dedushka", bat ich ihn, gewohnheitsgemäß auf Russisch, was 'Nicht weinen Großvater' hieß.

Verwirrt sah mein Großvater mich an. Aber ich konnte ihm meine Worte nicht auf Deutsch sagen, in meiner Aufregung wollten diese Worte einfach nicht in meinen Mund. Stattdessen schmiegte ich mich an dem alten Mann, der mir immer nur Gutes getan hatte.

Denn eigentlich wusste ich, tief in meinem Herzen, dass mir hier nichts Schlimmes geschehen würde. Dass ich nur das Gesicht und die Stimme im Laufe des letzen Jahres, verloren hatte. Aber die Körperwärme meines Großvaters, die mir schon immer gut getan hatte, holte langsam Fetzen der Erinnerungen zurück. Eigentlich so wurde mir mit jedem Moment klarer, als ich das Weinen meiner Großeltern vernahm, waren die beiden immer gut zu mir gewesen. Warum sollten sie es jetzt nicht auch noch sein?

Es dauerte eine ganze Weile, bis mein Großvater sich wieder vollständig beruhigt hatte. Lange sah er mich an, mit einer Traurigkeit in seinen Augen, die irgendetwas in mir weckte. Etwas, dass ich in dem Jahr verloren hatte. Tief holte er Luft und hoffte sehr, dass er mich nicht wieder so erschrecken würde, wie eben.

"Lotty, du weißt doch, dass ich dir nie etwas tun würde. Ich möchte mir nur deine Füße ansehen, die sehen schlimm aus. Verstehst du, was ich dir sage", ging mein Großvater jetzt langsamer vor und wischte sich die Augen trocken.

Ich schüttelte langsam den Kopf. Ich wusste einfach nicht, was er von mir wollte.

Deshalb zeigte er auf meine Füße und zeigte mir, dass er mich auf den Tisch heben wollte. In dem Moment verstand ich, was er von mir wollte und nickte. Vorsichtig nahm mich mein Großvater hoch und setzte mich auf den Tisch. Meine Großmutter lief in die Stube und holte eine Kiste mit Verbandzeug, die sie dort lagerte. Ganz vorsichtig löste mein Großvater die Binde von meinen Füßen und sah mit Entsetzen, wie zerschnitten meine Füße waren. Da mein Großvater ja bei der Feuerwehr war, hatte er viele Erfahrungen in der ersten Hilfe. Er bat meine Großmutter darum Kamillentee zu kochen und in eine Schüssel zu geben.

"Lotty, wir baden deine Füße jetzt erst einmal", dabei zeigte er auf die Schüssel und legte seine Hand hinein und deutete dann mit den Fingern auf meine Füße, damit ich verstehen konnte, was er von mir wollte. "Dann heilt das besser. Aber es kann ein wenig weh tun", er nahm die Hand in die Schüssel und schüttelte sie hin und her und pustete dann darauf. Genau beobachtete ich ihn und nickte dann.

In der Zwischenzeit hatte meine Oma das Kamillenbad für mich fertig gemacht und die Schüssel vor mich hin gestellt. Vorsichtig stellte ich meine Füße in das Wasser und es war total angenehm. Zwar brannte es im ersten Moment ein wenig, aber dann ließen die Schmerzen nach. In der Zwischenzeit hatte meine Großmutter auch für meine Hände eine Schüssel mit Kamillentee vorbereitet und stellte mir die Schüssel einfach auf die Oberschenkel. Also steckte ich auch meine Hände ins Wasser. Nach einiger Zeit sollte ich dann die Hände und Füße wieder aus dem Wasser nehmen und mein Großvater verband fachmännisch, wie ich feststellen musste beides, nach dem er ein Silbernes Puder auf die Wunden gestreut hatte.

"Na war es schlimm, Lotty?" Erkundigte er sich bei mir.

Diesmal verstand ich ihn, zwar nicht seine Worte genau, aber ich konnte mir denken, was er von mir wollte. Deshalb schüttelte ich den Kopf. Müde und Ruhe suchend lehnte ich mich einfach an seine Schulter und rollte mich auf den Tisch einfach zusammen. Ich war so verdammt müde und wünschte mir nur, etwas Ruhe und etwas Schlaf. Die Ruhe die die beiden alten Leute ausstrahlten, brauchte ich so nötig wie die Luft zum Atmen. Genau diese Ruhe hatte mich all die Monate gefehlt. Ich glaube es dauerte keine zwei Minuten, bis ich auf den Küchentisch liegend, tief und fest schlief. Obwohl ich mich hier fremd fühlte, schlief ich das erste Mal seit langer Zeit wieder ohne die Angst, aus den Schlaf gerissen zu werden. Mein Großvater nahm mich einfach auf den Arm und trug mich hinüber ins Schlafzimmer, in dem meine Großmutter schon mein Bett aufschlug. So vorsichtig wie möglich, zogen sie mir den Overall aus und deckten mich zu. Das Tuch allerdings, ließ mein Großvater lieber auf meinem Kopf, da ich sofort unruhig wurde, als er sich zu mir herunter beugte und mir einen Kuss geben wollte.

Lange schlief ich an diesem Tag, fast sechs Stunden mit einer kurzen Unterbrechung. So lange und vor allem Traumlos, hatte ich Ewigkeiten nicht mehr geschlafen. Es war kurz nach 20 Uhr, als wir mit dem Bus auf dem Bahnhof ankamen und als ich einschlief, war es kurz nach 2 Uhr. Meine Großeltern fielen, glaube ich, genauso müde ins Bett wie ich. Dieser Tag hatte nicht nur mich geschafft.

Allerdings wurde ich um kurz vor 5 Uhr munter und sah mich erstaunt um. Wo war ich? Ich war doch nicht in der Klinik. Lange musste ich überlegen, wie ich hier her gekommen war, in ein so warmes, weiches und trockenes Bett. Es war so gar nicht wie gewohnt, wie die Betten, die wir in der Schule hatten. Da entdeckte ich die beiden Menschen in den anderen Betten und begriff, dass ich nicht in der Schule war, sondern bei meinen Großeltern. Ich rollte mich einfach noch einmal zusammen und schlief noch einmal ein. Kurz nach 8 Uhr wurde ich munter, weil ich spürte, dass mich jemand ansah.

Als ich die Augen öffnete sah ich den traurigen Blick meines Großvaters, der mich genau musterte. Die Tränen die in seinen Augen standen, sagten mir, dass er die Narbe auf meinem Kopf gesehen hatte. Denn das Tuch lag neben mir auf meinem Kissen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Er sollte nicht schon wieder wegen mir traurig sein, deshalb stand ich einfach auf, nahm das Tuch und setzte es wieder auf. Dann hielt ihn meine Arme hin. Auf diese Weise, fiel es mir in dem Moment wieder ein, hatte er mich früher immer in die Küche getragen. Da huschte das erste Mal ein Lächeln über sein Gesicht und all die Traurigkeit verschwand aus seinen Augen. Ich glaube mit dieser Geste, hatte ich ihm eine große Freude gemacht.

Als er mir den Overall hinhielt, huschte ich schnell hinein und dann erst nahm er mich mit in die Küche. Dort stand zu meiner Überraschung mein Lieblingsessen auf den Tisch. Eine Brot-Knoblauch-Suppe, wie sie nur meine Oma machen konnte. In späteren Jahren habe ich selber einmal versucht mir diese Suppe zu kochen, aber sie hat mir nie geschmeckt. Ich habe bis heute nicht herausbekommen, was ich an der Suppe falsch gemacht habe. Eigentlich war die einfach zuzubereiten. Man nahm altes Brot, etwas Brühe und kochte alles zusammen mit zwei oder drei Knoblauchzehen auf. Aber egal wie ich es anstellte, die Suppe schmeckte mir nie so, wie bei meinen Großeltern.

Lange saßen wir an diesem Morgen in der Küche und meine Großeltern versuchten einiges aus mir herauszuholen, was in dem Schuljahr alles so vorgefallen war. Aber egal, wann sie dieses Thema Anschnitten, schwieg ich. Na gut, ganz stimmte das so nicht, ich schwieg generell viel. Das meiste was sie mir erzählten verstand ich sowieso nicht und was hätte ich über meinen Aufenthalt dort erzählen können, was meine Großeltern nicht wieder traurig gemacht hätte. Außerdem bekamen wir den Befehl, über Sachen die in der Schule vorgefallen waren, generell zu schweigen. Wie hätte ich also etwas sagen können.

Nach dem Frühstück kontrollierte mein Großvater meine Hände und Füße noch einmal. Nochmals musste ich ein Hand- und Fußbad über mich ergehen lassen. Dann verschwand mein Großvater für einige Stunden und kam danach mit einer Hose, zwei Pullover und einigen Tüchern zurück. Außerdem hatte er Verbandszeug mitgebracht, so dass er meine Füße weiter verbinden konnte. Nach dem Mittagessen allerdings, fragte er mich mit Worten und Gesten, ob wir einen Spaziergang machen könnten. Ich nickte, daraufhin zogen wir uns schick an und gingen, mit meiner Großmutter zusammen, in seine Feuerwache.

Dort traf ich zu meinem Erstaunen meine Tante Walli, die ich sofort wieder erkannte. Freilich fiel auch für Tante Walli die Begrüßung anders aus, als sie sich das vorgestellt hatte. Aber ich glaube selbst mein Großvater und Tante Walli, sahen die Freude dich ich bei deren Anblick verspürte. Auch wenn ich sie nicht zeigen konnten. Denn Emotionen zu zeigen, hatte man uns in der Schule völlig abgewöhnt. Walli hatte mit den Kindern der Wochenkindertagesstätte einen Ausflug in die Feuerwehr gemacht und ich erkannte sogar noch einige der Kinder, die ja genau wie ich jetzt sechs Jahre alt waren und bald in die Schule kommen würden. Heute erst wird mir bewusst, dass mir diese Kinder leid taten. Dass ich das in die Schule kommen, mit meinem in die Schule kommen, gleichsetzte. Ich kannte ja keine andere Schule.

Ich werde den entsetzten Blick von Walli wahrscheinlich nie vergessen, als sie mich ohne meine schwarzen Schillerlocken sah. Vor allem, weil ich alles, aber kein zierliches Mädchen mehr war. Ich hatte in dem einen Jahr, richtig breite Schultern bekommen und ein breites Kreuz und man sah bei jeder Bewegung, trotz des Pullovers den ich trug, das Spielen meiner gut ausgeprägten Muskulatur. Selbst die Muskeln meiner Beine sah man in der langen Hose, die ziemlich eng, übermeine muskelbepackten Oberschenkel saßen. Walli genoss die wenigen Minuten die sie Zeit hatte mit mir, genau wie ich die Zeit mit ihr genoss. Ich glaube Walli war immer so etwas wie ein Mutterersatz für mich, deshalb liebte ich sie so sehr. Ich saß auf ihrem Schoss und genoss die Ruhe die sie ausstrahlte. Allerdings beteiligte ich mich an keinem der Spiele, die die Feuerwehrleute mit den Kindern der WoKi spielten. Egal was die Erwachsenen versuchte, ich wich meinen Großeltern nicht von der Seite. Auch ließ ich mich von den Kindern nicht zum Spielen auffordern. Nach einer reichlichen Stunde, verabschiedeten wir uns und liefen wieder nach Hause. Ich glaube mein Großvater spürte, dass mir der Trubel dort einfach zu viel wurde.

Auch die anderen Tage unternahmen wir viel. Aber dieses Mal, gingen wir entweder im Wald spazieren oder in den Tierpark. Wie immer saßen wir dann an Klärchens Gehege und sahen den Pferden zu, wie sie miteinander spielten. Oft gingen wir auch zu den Wölfen, die ich liebte. Ich hatte die Zeit im Tierpark genossen und in mich aufgesaugt, wie ein trockener Schwamm das Wasser. Ich glaube mein Großvater spürte, dass das genau die Medizin war, die meine Seele brauchte, um zu genesen. Diese Ruhe, die im Martinsgrund herrschte, half mir mehr als Gespräche, in diesem ersten Jahr. Damals war ich noch nicht bereit dafür.

Gerade überlege ich, ob ich damals überhaupt gesprochen habe. Ich weiß es nicht mehr so genau. Bewusst könnte ich es nicht sagen. Ich habe genickt oder mit den Schultern gezuckt oder den Kopf geschüttelt, aber an mehr kann ich mich nicht erinnern. Manchmal denke ich so bei mir, ich habe die ganzen Ferien überhaupt nicht gesprochen. Wenn wir nicht gerade spazieren waren oder gegessen haben, lag ich in meinem weichen, trockenen und warmen Bett und habe glaube ich all den Schlaf nachgeholt, den ich in diesem ersten Schuljahr versäumt hatte. In diesen Ferien war ich mehr als nur schweigsam. Ich war stumm. Egal was mein Großvater versuchte, ich sprach nicht mit ihm. Jedenfalls steht es so in seinen Tagebüchern. Erst Jahre später, ich glaube ich war vierzehn Jahre alt, sprach ich mit meinem Großvater einmal über die ersten Ferien und meine Rückkehr nach Hause.

Über seinen Schock den er am Bahnhof bekam. Dass er ewig gebraucht hatte, um diesen Schock zu überwinden. Es war nicht nur, dass aus seiner kleinen zierlichen Enkeltochter, mit den schwarzen Schillerlocken, ein gut durchtrainierter, kleiner und narbenköpfiger Zwerg, mit Glatze geworden war. Für ihn war es nicht das Schlimmste, mich so völlig gefühlslos und schweigend zu sehen. Nein, das war noch nicht das Schlimmste. Die schlimmsten Veränderungen von mir, die er erst einige Tage später feststellte. Nämlich die Wesensänderungen, die mein gesamtes Verhalten betraf. Dass ich nichts mehr ohne Aufforderungen machte und dass ich im Schlaf urplötzlich anfing zu schreien und mich dann kaum beruhigen ließ. Vor allem, weil er wusste, dass mich nichts so schnell aus der Fassung brachte. Den größten Schock allerdings, bekam er durch meine Reaktion, mich zu verkriechen. Denn eine falsche Reaktion, meiner Großeltern genügte, um mich wieder unter das Bett zu verkriechen. Denn das zeigte meinen Großeltern sehr deutlich, wie man auf dieser Schule mit uns umging und was wir in diesem ersten Jahr durchleben mussten.

Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass der schlimmste Schock, den mein Großvater erhielt, der war, als er mich das erste Mal ohne mein Tuch sah. Er begriff sofort, warum ich trotz der strengen Kleiderordnung, die für russische Kadetten galt, ständig ein Tuch unter meinem Cappy trug. Der Ausdruck in den Augen meiner Großmutter und das zurückzucken meines Großvaters, gab mir damals einen heftigen Stich ins Herz. Das verletzte mich sehr, mehr als mir damals bewusst war. Auch wenn ich sie aus meiner heutigen Sicht gut verstehen konnte. Damals war das für mich, als hätte ich eine Ohrfeige bekommen, für etwas, dass ich nicht zu verantworten hatte.

Die Ferien gingen viel zu schnell vorüber und als meine Großmutter meine Tasche am 26. Juli packen wollte, fing ich still an zu weinen. Ich wollte nie wieder zurück in meine Schule. Das war die einzige Emotionale Reaktion, die ich meine Großeltern von mir bekamen. Nur die Tränen die über mein Gesicht liefen, zeigten ihnen, dass ich traurig war. Mich um meine Fassung bemühend, lief ich zu meiner Großmutter und nahm ihr meine Tasche aus der Hand und packte meine Tasche selber auf die vorgeschriebene Art ein. Fertig damit stellte ich sie auf mein Bett. In der Zeit des Packens, hatte ich meine Tränen heruntergeschluckt und sah meine Großeltern an. Wollte sofort meine Reisebegleitung anziehen, doch beide schüttelten den Kopf. Großvater zeigte mir, an der Uhr, wann wir aufstehen und auf den Bahnhof gehen mussten. Ich verstand, was er sagte und legte meine Sachen zurück in den Schrank. Was hätte es auch für einen Zweck gehabt sich zu wehren. Man hatte uns beim letzten Appell klar und deutlich erklärt, was ein nicht zurückkommen in die Schule bedeuten würde. Es wäre Fahnenflucht gewesen, die eine harte Strafe nach sich ziehen würde. Dass man uns dann mit Gewalt zurück in die Schule holen würde und außerdem unsere Familien ins Gefängnis hätten gehen müssen und unsere Geschwister würden in einem Heim groß werden, dass ähnlich dem unserer Schule geführt würde. Ich kann heute noch nicht wirklich einschätzen, ob man uns nur schreckliche Angst machen wollte oder warum man uns solch ein Horrorszenario vor Augen führte. Aber ich denke, für alle Beteiligten, wäre ein nicht zurückkehren in die Schule, nicht ohne harte Konsequenzen geblieben. Wir Kinder hätten uns das schon einmal gar nicht gewagt, denn die Strafen für Fernbleiben vom Unterricht, waren die schlimmsten die wir uns Kinder vorstellen konnten. Deshalb gehorchten wir ja aufs Wort, denn nicht nur einmal hatten wir im ersten Jahr, versucht Befehle zu verweigern. Danach ging es allen Mitgliedern der Gruppe "Nemetskiy" bescheiden. Das Risiko ging niemand von uns mehr ein. Auch wenn uns, genau vor dieser Rückkehr in die Schule Himmel, Angst und Bange war.

An diesem Nachmittag gingen wir nicht spazieren und unternahmen keinen Ausflug mehr, sondern mein Großvater las mir die Geschichten der Gebrüder Grimm vor. Auch wenn ich nicht alle Worte verstand, die mein Großvater mir erzählte, beruhigte mich seine Stimme sehr. Das Märchen von Hänsel und Gretel, war meiner Meinung nach gut ausgesucht. Denn auch die beiden waren von ihren Eltern weggeschickt wurden und sie besiegten die böse Hexe, vielleicht konnten wir unsere Hexe ja auch besiegen. Waren so meine Gedanken, die mir durch den Kopf gingen.

Lange kuschelte ich mich an meinen Großvater und hörte ihm einfach zu. Ich schloss die Augen und versuchte mir seine Worte vorzustellen und mir diese Geschichte zu merken. Als Zeit für das Abendbrot war, wollte ich nichts essen, mir war bei dem Gedanken, zurück in die Schule zu müssen, der Hunger vergangen. Also ließen meine Großeltern das Abendessen ebenfalls ausfallen und wir saßen alle drei zusammengekuschelt auf dem Kanapee, um uns gegenseitig zu trösten und uns so lange wie nur möglich, noch nahe zu sein. Irgendwann fielen mir dann die Augen zu und ich konnte ein letztes Mal in einem weichen trockenen Bett schlafen.

Kurz vor 4 Uhr weckte mich mein Großvater und hieß mich anzukleiden. In der Küche stellte mir meine Großmutter ein letztes Mal mein Frühstück hin, das ich aber verweigerte. Genauso wie das Abendessen am Tag zuvor. Selbst wenn ich meiner Großmutter zu liebe, etwas gegessen hätte. Ich hätte wenige Minuten später sowieso alles wieder ausgebrochen. Mir war einfach nur schlecht. Mit den Augen bat mein Großvater seine Frau um Verständnis und zog sich ebenfalls an. Er trank nur eine Tasse Kaffee und ich eine Tasse schwarzen Tee. Kaum, dass wir uns angezogen hatten, verabschiedeten wir uns von meiner Großmutter, die nicht mit auf den Bahnhof wollte. Ich konnte sie gut verstehen. Am liebsten wäre ich auch bei ihr geblieben. Aber, wer fragte mich schon nach meiner Meinung, ich musste immer nur gehorchen.

Gemütlich liefen mein Großvater und ich in Richtung Hauptbahnhof und bummelten an der Elster entlang. Diesmal durfte mein Großvater meine Tasche tragen und ich glaube er freute sich riesig darüber. Da meine Füße durch die gute Pflege meines Großvaters wieder verheilt waren, machte mir der lange Spaziergang nichts aus. Er brachte mir einen klaren Kopf und ich hatte so Zeit mich wieder auf die Schule einzustellen, denn dort ging es ganz anders zu, als bei meinen Großeltern. Erst kurz vor dem Bahnhof bat ich meinen Großvater mir meine Tasche zurück zu geben, da ich nicht wusste, ob der Bus schon da stehen würde und ich nicht gleich wieder Ärger wollte. Wortlos mit einem Lächeln reichte er mir die Reisetasche und wir gingen nebeneinander her. Denn auch seine Hand, hatte ich aus Angst vor Bestrafung lieber losgelassen.

*

Kaum, dass wir um die letzte Ecke des Bahnhofsgebäudes marschierten, es war 4 Uhr 55, kam auch schon unser Bus um die Ecke gefahren. Birgitt und ihre Eltern waren nirgends zu sehen. Ängstlich schaute ich mich um, denn das würde Ärger bedeuten, den ich wieder abbekommen würde. Allerdings tauchte einen kurzen Moment später ein Taxi auf, der Birgitt und ihre Eltern brachte. Birgitt sprang aus dem Auto und nahm ihre Tasche, um sofort zu mir zu laufen. Wir drehten uns zu Birgitts Eltern um und zu meinem Großvater und salutierten. Danach liefen wir auf den Bus zu, der gerade angehalten hatte und die Tür wurde geöffnet.

Petrow nahm uns entgegen, nickte unseren Familien dankend zu und schickte uns auf unsere Plätze. Die anderen saßen schlafend schon im Bus und wurden von Petrow, der alleine die Begleitung von uns Kindern übernommen hatte, geweckt, da wir gleich noch einmal umsteigen mussten. Der Rückflug in die Schule war eine Tortur, die nicht enden wollte. Aber so war es für uns in jedem Jahr. Die Tatsache, dass wir wieder in unsere kleine Hölle mussten, machte uns schwer zu schaffen. Denn alle wurden wir zu Hause verwöhnt, obwohl das Wort verwöhnt nicht ganz stimmte. Wir wurden gut behandelt, bekamen etwas anderes als Haferschleim, Grießbrei und Mehlsuppe zu essen. Vor allem hatten wir ein trockenes und warmes Bett. Diese drei Dinge zusammen, ließ in unseren Köpfen die Idee reifen, dass es so war, wenn man verwöhnt wurde. Wir waren sehr anspruchslos geworden in diesem ersten Jahr. Auf den Flug von zu Hause, zurück in unsere Schule, durften wir leise miteinander reden. Aber die Berichte der anderen waren, genau wie mein Bericht, sehr kurz. Es war schön in einem warmen Bett zu schlafen, darüber waren sich alle einig.

Also versuchten wir es uns so gemütlich wie irgend möglich auf den Sitzen zu machen. Irgendjemand kam dann auf die Idee, sich zwischen die Sitze zu legen und so fanden wir alle eine richtige Position zum schlafen. Da der Genosse Petrow die Leitung für den Transport hatte, brauchten wir nicht mit Schikanen zu rechnen und konnten ein wenig schlafen. Irgendwann war auch dieser Flug zu Ende und wir saßen in Shera auf einen der LKWs auf, der uns, die letzten fünf Kilometer, zurück in die Schule brachten. Unsere kleine Hölle hatte uns wieder und das Programm des vergangenen Jahres fing von vorn an. Nur dass es uns dieses Mal nicht so schlimm vorkam. Denn an dieses Leben hatten wir uns gewohnt.

Die vielen Gespräche mit meinem Großvater, die zwar sehr einseitig waren, da ich dazu nichts beigetragen hatte, waren trotzdem zu etwas gut. Sie gaben mir Vergleichsmöglichkeiten zu anderen Kadettenschulen, in denen mein Großvater tätig war. Dadurch wusste ich, dass wir uns nicht alles gefallen lassen mussten. Ich glaube, wenn mein Großvater gewusst hätte, was seine Worte genau in mir ausgelöst hatten, hätte er sich vieles lieber verkniffen. Denn das Wissen, dass wir uns nicht alles gefallen lassen mussten, dass es auf anderen Kadettenschulen, auch ohne ständige schwere Bestrafungen, bei kleinen Vergehen ablief, machten mich zu einem schwer zu ertragenen Gruppenführer. Seine Worte lösten bei mir oft heftigen Widerstand, gegen die Lehrer und Betreuer aus und führten dazu, dass die Leute sich immer neue Bestrafungen einfallen lassen mussten. Das zweite Schuljahr, war zwar einfacher als das erste Schuljahr, aber ich machte mich selber zum Sündenbock, für alle schlechte Laune die unsere Ausbilder hatten. Einfacher wurde es nie, denn ich hatte die ersten Wochen nicht nur einen Kampf gegen unsere Betreuer zu kämpfen, sondern auch gegen meine eigenen Leute. Die alles mit sich machen ließen, ohne auch nur zu murren. Sie wollten heil durch dieses halbe Schuljahr kommen und nahmen einfach alles hin.

***

*** So geht es nicht weiter ... ***

***

Eigentlich war ich heute gar nicht in der Lage an diesem Buch weiterzuschreiben. Ich sitze hier in meiner Wohnung und habe gerade einer wahnsinnigen Wut im Bauch, die ich auf mich selber habe. Aber was soll das ganze Theater? Da muss ich jetzt durch. Was passiert ist, wollt ihr wissen? Ganz einfach, ich hatte gestern einen besonders beschissenen Tag. Erst wurde ich zum Truppenarzt zitiert und weil das ja noch genug war, hatte ich am Abend einen mächtigen Streit mit meinem Mann am Telefon. Das alles reichte noch nicht um mich wütend zu machen, heute Morgen auch noch einen sehr unschönen Streit, mit meinem besten Freund Michael. Es kommt bei mir, mal wieder alles zusammen. Der war der Meinung, dass ich nicht mehr diensttauglich bin, nur weil ich heute früh, wieder völlig unausgeschlafen zum Dienst erschienen bin. Wir haben uns im Büro ziemlich heftig angeschrien, weil wir beider der Meinung waren, im Recht zu sein. Dabei weiß er nur zu genau, dass ich sehr empfindlich darauf reagiere, wenn sich jemand in meine Angelegenheiten mischt. Mein Aussehen heute früh, hatte nur sehr weitläufig mit dem Schreiben hier zu tun, sondern hing mit einem Telefonat mit meinem Mann zusammen, mit dem ich mich tüchtig gestritten habe und da sind ein paar sehr unschöne Worte gefallen, die mir sehr an die Nieren gingen. Dadurch hatte ich die gesamte Nacht nicht geschlafen. Kein Wunder also, dass ich heute früh absolut "Schokoladig" aussah, um es vornehm auszudrücken.

Der Grund der Streits, war wieder einmal meine liebe Schwiegertochter. Die ich ja sehr gern mochte, aber die mir so manches Mal, mächtig gewaltig auf den nicht vorhandenen Sack ging. Nicht weil sie es böse meinte. Nein, sie meinte es eigentlich immer gut mit mir, aber ihre Fürsorge, ging mir so auf die Nerven, vor allem, weil sie meinen Mann dazu genötigt hatte, mich anzurufen, weil sie sich selber nicht mehr getraut hatte. Denn bei unserem letzten Telefonat bin ich sehr ausfallend geworden und hatte ihr verboten mich noch einmal anzurufen. Mir war schon klar, dass sich nach vierzehn Tagen meine Familie langsam aber sicher Sorgen um mich machte, aber man kann halt nicht alles haben im Leben. Wenn etwas mit mir gewesen wäre, hätten sie es durch Micha längst erfahren. Warum kann man mir nicht auch einmal, eine Auszeit von meiner Familie gönnen. Ich tue mir das hier doch nicht an, weil ich Langeweile habe, sondern weil es wirklich nötig ist.

Wütend sehe ich meinen Laptop an. Am liebsten würde ich ihn nehmen und gegen die Wand schmeißen und die Kaffeemaschine gleich hinterher. Solche Art von Wutanfällen, hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Mühsam versuchte ich diese verdammte Wut wieder in den Griff zu bekommen, die mich seit einiger Zeit wieder voll im Griff hat. Ich musste mich unbedingt wieder zu beruhigen sonst geschieht hier noch ein Unglück. Warum kann nur niemand verstehen, dass ich einfach im Moment meine Ruhe haben will. Ich ziehe mich doch nicht zurück, weil ich gern alleine bin. Ich ziehe mich nur deshalb so zurück, weil ich nicht will, dass jemand meine Wut abbekommt, der eigentlich nichts dafür kann. Zum Glück, weiß ich noch sehr genau, was ich tue.

In dem Moment klingelte an meiner Wohnungstür. Mir schießt ein Gedanke durch den Kopf, mich einfach tot zu stellen und nicht zu reagieren. Schließlich könnte ich duschen sein oder schon schlafen. Aber bestimmt hatte derjenige, das Licht in meiner Wohnung gesehen und gäbe sowieso keine Ruhe, bevor ich an die Gegensprechanlage kam. Also was soll der ganze Quatsch. Ich gebe mir einen Ruck und gehe zur Wohnungstür, um zu fragen, wer mir um diese Zeit noch auf den Sack gehen will.

"Wer stört?", fragte ich recht brummig, meine Wut konnte ich nicht ganz unterdrücken.

"Bitte Charly, raste nicht gleich wieder aus", bat mich mein bester Freund. "Lass mich bitte noch einmal rein. Ich weiß, dass du sauer auf mich bist. Aber ich denke wir sollten das alles klären, bevor ein Unglück geschieht", bat er mich ihn hoch zu lassen.

"Wenn's denn sein muss", sprach ich genervt in die Muschel des Hörers und drückte den Summer.

Was hätte ich denn machen sollen? Da unten stand mein bester Freund, weil er in Sorge um mich war. Aber wie sollte ich ihm klar machen, dass mein Aussehen nichts mit dem Buch zu tun hatte, an dem ich schrieb, sondern völlig andere Ursachen hatte. Zu Guter Letzt, rief er noch meine Familie an, um für Ruhe zu sorgen und machte damit noch alles Schlimmer, als es so schon war. Mein Aussehen hing einfach damit zusammen, dass mir die Fürsorger aller auf den Senkel gingen.

Also stand ich wartend in der Wohnungstür und musste nun doch lachen, obwohl mir absolut nicht danach zu Mute war. Im Hausflur tauchte ein weißer Beutel auf, gefolgt von einem graumelierten Wuschelkopf, der zu Micha gehörte. Er wusste halt, wie er mich zu packen bekommt. Er ist extra wegen mir zum Broilerstand gelaufen, um mich gnädig zu stimmen. Denn er weiß, dass ich gebratene Hühnchen für mein Leben gern mochte.

"Darf ich", griente mich Micha hinter seinem Schutzschild aus Broiler an. "Ich hab zwar keine weiße Flagge, aber eine weiße Tüte", machte er mir ein Friedensangebot.

Ich nickte ihm zu und fing schallend an zu lachen. Das erste Mal seit Wochen. "Na komm schon rein in die gute Stube. Du bist so gemein. Du weißt doch, dass ich nicht nein sagen kann, wenn du mich mit Hühnchen bestichst", gestand ich ihm offen.

"Da habe ich also den richtigen Stimmungsmacher geholt?"

"Klar komm rein, Micha. Sonst futtern die Nachbarn dein Hühnchen auf. Wie willst du mich dann bestechen?"

Also aßen wir beide erst einmal unser Hähnel und ein paar Fritten, wo bei Micha all das verputzte, was ich auf meinen Teller ließ und nicht mehr essen wollte. Wie immer waren mir die Portionen im Moment viel zu groß.

Lange und schweigend sah mich mein bester Freund an und hoffte wahrscheinlich, dass ich nicht gleich wieder ausflippen würde.

"Was guckst du so? Keine Angst Micha, ich habe mich wieder einigermaßen im Griff. Also spuck aus, was du mir sagen willst. Willst du auch ein Kaffee?" Erkundigte ich mich unnötiger Weise, weil ich etwas Zeit gewinnen wollte, um mich auf das nachfolgende Gespräch seelisch und moralisch vorzubereiten. Ich wollte Micha nicht schon wieder anbrüllen. Ich kannte meinen Freund seit fast dreißig Jahren, eigentlich sogar noch länger. Er war damals als Jungspund in unsere Einheit gekommen und wir waren von zweitem Tag an dicke Freunde. Ich glaube mein damaliger Chef, hatte ihn nur wegen mir, schon mit knapp zweiundzwanzig Jahren, in unsere Einheit geholt.

Micha nickte und sah mir beim Kaffee kochen zu. Ich schenkte ihm einen ein, mit Milch und wenig Zucker und mir machte ich einen Kaffee, so wie ich ihn mochte.

"Charly, wie kann man nur so etwas trinken. Mir wird da schon beim Hinsehen schlecht", musste er los werden.

"Dann schau nicht hin oder gehe", zeigte in Richtung Tür.

"Nee, ist schon gut. Ich muss das Zeuch ja net trinken. Sag mal Kleines, warum bist du vorhin eigentlich so ausgeflippt. Du weißt doch, dass ich das nicht böse meine. Kannst du nicht verstehen, dass wir uns langsam Sorgen, um dich machen. Hast du mal in den Spiegel gesehen, wie du aussiehst. Das ist doch nicht mehr normal. Schau mal, nicht mal die Hälfte von dem, was ich dir mitgebracht habe, hast du gegessen. Das Frühstück und das Mittagessen hast du auch wieder zweimal gegessen. Das heißt, du hast heute außer dem bissel Huhn und dreieinhalb Pommes noch gar nichts im Magen. Du kannst dich doch nicht nur von Zuckersirup mit Kaffeegeschmack ernähren. Das geht so nicht mehr weiter mit dir", klagte er mir sein Leid.

Was ja eigentlich mein Leid war. Irgendwo hatte er ja Recht. Aber es gab einfach Momente in meinem Leben, da konnte ich nicht essen. Egal wie oft ich mir sagte, dass ich etwas essen müsste. Aß ich in solchen Situationen etwas, kam alles sowieso wieder retour. Dann aß ich lieber gar nichts und trank meinen Kaffee, der blieb wenigstens drin.

"Außerdem", fuhr Micha fort, da ich schwieg wie ein Grab. "Rufen mich ständig deine Leute an und meinten du würdest nicht mehr anrufen und sie würden sich Sorgen um dich machen. Langsam kann ich sie verstehen. Charly auch ich mache mir langsam Sorgen um dich. Du warst seit über einem viertel Jahr nicht mehr zu Hause. Selbst deine Enkel machen sich Sorgen, ganz zu schweigen von Max, der dich nicht mal mehr auf dem Handy erreicht", traurig sah mich mein Freund an.

Er erzählte mir nichts Neues. Eva machte meine gesamte Familie verrückt und nun auch noch Micha. Lange sah er mich an und beobachtete mich. Er sah wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten und ich, wie immer, meine Tränen hinunterschluckte. Noch immer hatte ich nicht gelernt, meine Gefühle offen zeigen. Noch weniger allerdings, konnte ich über meine Gefühle reden. Lange brauchte ich, um mich wieder zu beruhigen, um überhaupt wieder sprechen zu können.

"Was soll ich dazu sagen, Micha", fragte ich ihn. "Im Moment geht mir meine Familie und auch du, auf den nicht vorhandenen Sack", gestand ich ihm ehrlich. "Glaubst du etwa, ich schreibe den ganzen Mist, einfach mal so in zwei Wochen auf? Glaubst du das wirklich?" Lange sah ich Micha an und wartete seine Reaktion. Diese ließ lange auf sich warten.

"Ich glaube dir ja, Charly, dass das alles nicht so einfach ist. Ich habe dir die Tagebücher deines Großvaters übersetzt. Aber dann musst du dir eingestehen, Kleines, das du damit aufhören solltest. Bevor es dich völlig kaputt macht. Denkst du vielleicht deine Familie sieht dich als Versager an, wenn du deine Lebensgeschichte nicht bis zum bitteren Ende schreibst. Die wissen doch, dass es schlimm ist. Mir hat schon das bisschen gereicht, dass ich gelesen habe."

"Das hat nichts mit meiner Familie zu tun. Für die würde ich das nicht machen Micha. Ich habe viele Jahrzehnte gelebt, ohne dass jemand aus meiner Familie, das alles erfahren musste. Glaubst du ehrlich die fühlen sich, wenn sie das gelesen haben, besser? Darum geht es gar nicht. Ich kann dir nicht einmal genau sagen, warum ich weiterschreibe, obwohl es mir selber nicht gut tut. Glaube nicht, dass ich nicht weiß wie ich aussehe. Du hast doch keine Ahnung von meinem Leben. Keiner ahnt etwas davon, was die mit uns auf der MAY alles angestellt haben. Dass, was du bis jetzt gelesen hast, ist der harmlose Teil meines Lebens. Über die richtig schlimmen Sachen, kann ich gar nicht schreiben, weil ich das mit Müh und Not in die "Vergess mich Ecke" schiebe. Trotzdem kommt es jede Nacht wieder heraus und verfolgt mich im Schlaf. In jeder Gottverfluchten Nacht, holt mich dieser Alp wieder ein und in jeder Nacht, wandere ich zurück in meine Kindheit. Glaubst du wirklich, ich würde auf der Wache besser schlafen. Es würde nur dazu führen, dass ich euch auch noch vom Schlafen abhalte", traurig stand ich auf und holte einen Brief von meinem Vermieter hervor und schmiss ihn vor Micha auf den Tisch.

Mein Vermieter hatte mir eine Abmahnung geschickt, weil sich meine lieben Nachbarn beschwert hatten, dass ich nachts ab und an einmal schrie. Es war in der letzten Zeit wieder öfter passiert, dass ich mitten in der Nacht schreiend munter wurde.

"Jede verdammte Nacht, Micha, sehe ich meine Kameraden wieder in ihren Betten liegen. Zerschunden und zerschlagen von unseren Trainern, in denen sie sich vor Erschöpfung in den Schlaf weinen. Ich rieche die feuchten harten, kalten Betten und den Geruch unseres Zimmers. In den es oft nach Erbrochenen und Blut roch. Ich sehe uns völlig fertig neben den Betten sitzen oder schlafend an der Wand im Hof stehen. Ich spüre die Schmerzen in meinen Knochen und wünsche mir nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich hinlege und einfach am nächsten Morgen nicht wieder aufwache. Du jammerst rum, weil dir mit deinen einundfünfzig Jahren alle Knochen weh tun und du am liebsten in Rente gehen möchtest. Weißt du eigentlich, dass ich seit sechsundfünfzig Jahren für diesen Job trainiere und kannst du dir vorstellen, wie sich meine Knochen anfühlen. Vor allem habe ich in all den Jahren, mit dem ganzen Scheiß nie abgeschlossen", als mich Micha unterbrechen will, brülle ich ihn schon wieder an. "Du hörst mir jetzt zu, weil ich dir das nämlich nicht noch einmal erklären", zwang mich aber gleich wieder leise zu sprechen, denn eigentlich wollte ich Micha ja nicht anschreien. "'tschuldigung Mischa. Weißt du ich schreibe das hier nicht für meine Familie auf. Ich schreibe das hier für mich selber auf, um endlich einmal einen Abschluss zu finden. Ich hoffe so sehr, dass dann endlich diese verfluchten Träume aufhören. Glaube mir, für meine Familie muss ich das nicht tun. Und wenn ich ehrlich bin, ist mir egal was Eva denkt und sagt. Da nämlich, lieber Micha, gebe ich dir Recht, würde das, was ich bis jetzt geschrieben habe, voll und ganz reichen. Damit Eva mit ihrer verfluchten Fragerei aufhört. Aber sag mir, was soll ich machen", als mir Micha einen Rat geben wollte, fuhr ich ihn heftig an. "Lass mich gefälligst ausreden, verdammt nochmal. Meine Schwiegertochter will wissen, was los ist. Das kann ich gut verstehen. Sogar für die Tatsache, dass das aus purer Neugier geschieht, habe ich Verständnis. Aber mein Verständnis hört an der Stelle auf, wo sie andere hineinzieht, nämlich dich und meine Männer. Du genauso wie meine Männer habt Jahrzehnte lang damit gelebt, nichts über meine Vergangenheit zu wissen und es hat euch nicht geschadet. Aber Eva bohrt und bohrt und bohrt und sie hört nicht damit auf. Ich habe sie dutzende Male darum gebeten, dieses Thema a acta zu legen und mir die Zeit zu geben, die ich brauche, um damit abzuschließen. So etwas ist schon schwer genug, ohne das einen jemand ständig auf die Füße tritt. Sie hört aber nicht auf mich. Sag mir, was ich machen soll? Wenn sie wissen will, was mit mir so manches Mal los ist, dann lieber Micha, muss sie auch mit der Kehrseite der Medaille leben. Dann rufe ich halt nicht mehr an, damit ich mich nicht auch noch mit meiner Familie streite. Aber nein, sie begreift es nicht, sie bohrt weiter und macht meine Männer noch verrückt. Man kann, lieber Micha, aber nicht alles haben. Und weil das alles noch nicht genug ist, drängt sie nun auch noch meine Männer dazu, Dingen zu tun, die sie normalerweise nie machen würden. Denn alle drei wissen, genau wie du, dass ich dann sehr heftig reagieren kann. Ich werde so schnell nicht laut, das weißt du genau. Aber ich hasse es wie die Pest, wenn man sich ständig in meine ureigensten Angelegenheiten einmischt. Dann werde ich richtig böse, das weißt du genau und meine Männer wissen das auch. Auch Eva weißt das. Trotzdem nötigt sie meine Söhne, mich täglich anzurufen und anzubetteln endlich wieder einmal heimzukommen. Auch das ist noch nicht genug, jetzt nötigt sie auch noch Erwin, hier und in der Wache anzurufen, um mir ein Ultimatum zu stellen. Mein Mann, weiß, dass ich nur dann schweige, wenn Holland in Nöten ist. Wenn ich ein Problem habe, mit dem nur ich alleine klar kommen kann. Er hat das immer akzeptiert, dafür liebe ich ihn so sehr. Der würde nie von sich aus anruft und die Wache verrückt machen. Schon gar nicht dann, wenn ich so lange schweige. Weil Erwin zu gut weiß, dass ich dann total ausraste. Wenn irgendetwas mit mir sein sollte, dann würden es alle sofort erfahren, dafür würdest du schon sorgen. Sag mir Micha, soll ich wirklich so nach Hause fahren. Was denkst du wohl, wie lange das gut gehen würde. Wenn Eva so weitermacht, wie die letzten drei Monate, wird die mich so schnell nicht wieder sehen, auch wenn es mir die Seele zerreißt, meine Enkel eine Ewigkeit nicht zu sehen. Denn sie ist der Auslöser für die Probleme, die wir jetzt im Moment haben und nicht ich. Eva hat nie gelernt ein Nein zu akzeptieren, schon gar nicht, wenn es von meiner Seite kommt. Vor allem will sie es auch nicht lernen. Mit ihren Verhalten, drängt sie mich völlig in die Ecke und du weißt wie stur ich dann sein kann. Du weißt ich liebe Eva, schon deshalb, weil sie meinem Großen die Chance ermöglicht hat, ein Leben nach seiner Vorstellung zu leben. Alleine dafür werde ich sie immer lieben. Aber auch die Liebe hat Grenzen, die man nicht überschreiten sollte.

Bevor ich mich mit meiner Familie völlig zerstreite, schweige ich lieber und lasse sie zappeln. Das ist nicht das erste Mal, dass meine Männer über Monate hinweg nichts von mir hören. So schlimm es sich jetzt anhört, aber meine Männer sind schlimmeres von mir gewohnt. Das letzte Mal als ich nichts mehr von mir hören ließ, lag ich elf Monate im Koma. Wollen wir wirklich das Spiel von damals wiederholen. Da habt ihr mich auch alle dermaßen in die Ecke gedrängt, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Wenn ja, dann lasse mich ausbluten, dann haben wir ein gelöstes Problem", böse sah ich meinen Freund an, der genau wusste, was ich mit diesen bösen Worten ausdrücken wollte. Als er etwas sagen wollte, schüttelte ich wütend den Kopf. "Verdammt nochmal, merkt ihr eigentlich, dass ihr mich genau in diese Richtung treibt. Wollt ihr wirklich, dass ich im nächsten Schusswechsel stehen bleiben. Nicht nur meine Kameraden konnten das gut. Ich kann das auch. Ich kann mich sogar in die Linie eines Geschosses hinein drehen, denn ich berechne die Flugbahn eines Geschosses innerhalb eines Bruchteils einer Sekunde. Ich mache das nur nicht und das sollte ihr langsam begriffen haben, weil ich meinem Großvater als Kind versprach, immer um mein Leben zu kämpfen. Ich bin jetzt einundsechzig Jahre alt und ich glaube, ich habe oft genug bewiesen, dass ich um mein Leben kämpfen kann. Aber auch meine Kraft ist nicht unendlich, ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr. Kapiere das endlich, Micha. Wenn ihr so weiter macht, wie die letzten dreizehn Wochen, bleibe ich beim nächsten Schusswechsel einfach stehen. Ich habe nämlich keine Lust mehr und zwar schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Ich bin alt genug, um meine Entscheidungen selber treffen zu können und brauche niemanden, der mich an die Hand nimmt und führt. Weder Eva, noch meine Männer, noch du können verstehen, warum ich diese Führung nicht brauche. Micha, mache dir das endlich einmal klar, ich war fünfeinhalb Jahre alt, als ich Gruppenführer wurde, damals musste ich vierundzwanzig andere und über ein Jahr ältere Kinder führen. Denkst du nicht langsam, dass ich selber weiß, was ich gut für mich ist, was ich machen kann und was nicht. Verdammt nochmal, hört auf mich ständig in die Ecke zu drängen. Ich will über das Thema Buch einfach nicht mehr reden. Weder mit dir, noch mit meiner Familie und schon gar nicht mit irgendeinem Quacksalber, der sich Psychologe nennt. Das ist einzig und alleine, meine eigenen Entscheidung. Schluss aus und Basta. Ende im Gelände", beendete ich meinen viel zu langen Vortrag, der für Micha nicht so gelaufen ist wie er sich das vorgestellt hatte.

Traurig sah mich mein bester Freund an. "Du willst also auch nicht mehr mit mir darüber reden", fragte er mich und man sah, dass ihm das nicht gefiel.

Trotzig, wie ich in manchen Dingen nun mal bin, schüttelte ich den Kopf. Ich wusste nur zu gut, wie ich aussah und das nicht nur deshalb, weil ich von unserem Truppenarzt, einen bösen Schuss vor den Bug bekommen hatte. Der drohte nämlich gestern damit, dass er mich dienstunfähig schreiben würde, wenn ich nur noch hundert Gramm abnehmen würde. Ich wog nach seiner Waage nur noch einundsechzig Kilo, also viel zu wenig. Nur gut dass er meine Waage nicht gesehen hatte, auf der ich mich ständig wog, weil ich sehr auf mein Gewicht aufpassen musste, seit meinem Unfall. Meine Waage zeigte nämlich nur noch achtundfünfzig Kilo an. Das machte selbst mir langsam Angst. Mir war selber klar, dass ich das Alles in den Griff bekommen musste. Dass führte ich Micha auch sehr deutlich vors Auge.

"Micha, wenn du mir wirklich helfen willst, dann sorge dafür, dass ich auf Arbeit einen ruhigen Flecken bekomme. So dass ich wieder auf der Wache bleiben kann. Hier in diesen verdammten vier Wänden, gehe ich vor die Hunde. Mir fehlen die Jungs mehr als du dir vorstellen kannst", jetzt kamen mir doch die Tränen. Mühsam kämpfte ich gegen sie an. Trotzdem klang meine Stimme belegt, als ich weiter sprach. "Sorge dafür, dass ich dieses verdammte Buch auf der Wache weiterschreiben kann. Mein größtes Problem im Moment ist meine Einsamkeit hier, in dieser verfluchten Wohnung. Ich muss zurück in meine Wache, in den Bereich, wo ich mich beschützt fühle und normal leben kann. Du kennst mich besser als alle anderen. Du weißt wie sehr ich die Wache brauche, diesen Ruhepunkt in meinem Leben, wo ich essen, trinken und schlafen kann, wann immer mir danach ist. Vor allem, wo ich nie alleine bin, um ins Grübeln zu kommen. Ich weiß nicht, ob ich das Buch auf der Wache weiterschreiben kann. Keine Ahnung, ob das überhaupt funktioniert. Aber ich weiß, dass wenn ich nicht etwas Normalität in mein Leben bekomme, ich daran kaputt gehe", traurig sah ich Micha an und gestand ihm, wie es wirklich um mich stand."Micha, wenn ich halb so schlimm aussehe, wie ich mich fühle, dann sehe ich erschreckend aus. Meine Blutwerte sind schlechter, als damals als ich aus der Schule gekommen bin. Vor allem wiege ich auf meiner Waage nur noch knappe achtundfünfzig Kilo."

Ein erschrockenes Stöhnen zeigte mir an, dass Micha verstanden hat, wie es wirklich um mich stand und warum ich mich so sperrte nach Hause zu fahren. "Buha, das muss ich jetzt erst einmal verdauen. Warum hast du nicht eher um Hilfe geschrien. Muss es dir wirklich erst hundeelend gehen, bis du etwas sagst", kopfschüttelnd sah er mich an. "Charly, wir bekommen dich schon wieder hin. Es wird schwer für dich werden. Vielleicht lässt du mal ein paar Tage, das Buch links liegen und kümmerst dich erst einmal um das Problem essen und Schlafen. Glaube mir, dass ich dich nicht unter Druck setzen wollte. Sag mal Kleines, was hältst du davon, wenn wir zwei uns heute mal hier hinlegen und ich dir einfach beim Schlafen helfe. Würde dir das gefallen?"

Ich nickte ihm dankend zu. "Genau, das fehlt mir hier nämlich. Mein großer dicker Kuschelbär, der die bösen Träume von mir weghält oder mich weckt, wenn sie kommen."

"Genau den Vorschlag wollte ich dir heute Nachmittag eigentlich machen, als du so völlig ausgeflippt bist", grinste er mich breit an.

"Du hast mich auf den falschen Fuß erwischt, Micha. Ich hatte gerade am Telefon eine Standpauke vom Truppenarzt bekommen. Glaube mir der hat mir anständig die Leviten gelesen und ich musste erst einmal darüber nachdenken, wie ich aus diesem Mist wieder heraus komme", versuchte ich mich gleichzeitig zu entschuldigen. "Tut mir leid Großer."

Ich wusste schon immer, warum ich Micha immer meinen großen dicken Freund nannte. Micha war alles aber nicht dick. Trotzdem war er im Vergleich zu meinem Erwin ein Kollos, der fast hundert Kilo Lebendgewicht auf die Waage brachte. Er war halt Muskel pur.

Micha war zwar zehn Jahre jünger als ich und kam erst viele Jahre später zu unserer Einheit, aber er war immer eine Art Ruhepol für mich. Wenn ich die Phasen in meinem Leben hatte, in denen ich überhaupt nicht schlafen konnte, nahm er mich einfach in den Arm und legte sich zusammen mit mir ins Bett und half mir in den Schlaf. Er war oft der einzige, der mich beruhigen konnte, wenn mich mein Alb verfolgte. Vor allem konnte er noch mit mir reden, wenn keiner mehr an mich heran kam, wenn ich etwas falsch verstanden hatte. Was nicht nur einmal in meinen Anfangsjahren passierte.

Eigentlich, so hatte er mir später einmal gebeichtet, war er nur wegen mir überhaupt Polizist geworden. Micha und einer seiner Klassenkameraden, hatten sich beim stromern im Wald verlaufen. Wenn ich mich richtig erinnerte, die beiden waren damals sechs und sieben Jahre alt. Die Lehrerin machte sich Vorwürfe, dass sie die beiden Jungs einen Moment aus den Augen gelassen hatte. Ich war gerade neu auf der Wache in Gera angekommen. Es war später Herbst und es war bitterkalt in den Nächten. Die Bereitschaftspolizei hatten schon zwei Tage vergeblich nach den beiden Ausreißern gesucht, die der Lehrerin während eines Wandertages verloren gingen. Die zwei Erstklässler mussten schon zwei Nächte im Wald übernachten, deshalb fragte mich unser Teamleiter, ob ich wirklich gut in der Spurensuche sei, er hätte das in meiner Personalakte gelesen. Ich nickte, so wie ich es immer machte und darauf hin, schickte mich mein Major, mit vielen Bauchschmerzen auf die Suche, nach den vermissten Kindern. Ich zog meine Suchschleifen durch das Gebiet und fand nach drei Stunden eine erste Spur der ich sehr lange folgen musste. Ich verstand damals nicht, wieso, die Jungs ständig im Kreis gelaufen waren. Gegen Mittag des dritten Tages fand ich die Jungs, auf einem Hochsitz. Der kleinere der Beiden, nämlich Micha, hatte sich den Fuß verstaucht und konnte nicht mehr laufen. Völlig unterkühlt und halb verdurstet, saßen sie auf dem Hochsitz und schlotterten vor Angst, als ich sie fand. Ich schnappte mir die beiden, in dem ich einen auf den Rücken und den Anderen auf den Arm nahm und war mit ihnen, nach nicht einmal einer halben Stunde, am Startpunkt ihres Herumirrens. Für die Jungs war ich eine Heldin und für Micha, der Grund, warum er Polizist werden wollte. Ganze sechszehn Jahre später, kreuzte er urplötzlich in unserer Wache auf und fragte unseren Dienststellenleiter, ob er bei uns anfangen dürfte. Er habe seine Ausbildung gerade abgeschlossen auf der Polizeischule und er würde gern eine Ausbildung im SEK machen, aber nur auf seiner Dienststelle. Am Anfang druckste er herum, kam dann aber mit der Wahrheit heraus. Er nahm meinem damaligen Chef das Versprechen ab, ihn nicht zu verraten. Er wolle wegen Leutnant Dyba hier anfangen. Denn ohne sie würde er heute nicht mehr leben. Na ganz so dramatisch war es damals nicht, aber für ihn, musste es wohl den Eindruck gemacht haben. Jedenfalls wolle er unbedingt lernen Spuren zu lesen. Mein Chef amüsierte diese Geschichte sehr und nach einigen Tests, bekam Micha dann ein Jahr später die Chance, bei uns seien Ausbildungen anzufangen. Selbst mit meinem guten Personengedächtnis, wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass der kleine Micha den ich damals weinend im Wald fand, der Micha war, den ich unter meine Fittiche nahm. Erst sechs oder sieben Jahre später, als wir schon eng befreunden waren, erzählte er mal bei einer Feier, wie wir uns eigentlich kennen gelernt hatten. Seit der Ausbildungszeit, waren wir eng miteinander befreundet. Ich glaube schon vom ersten Tag an, war ein Band zwischen uns, das niemand einreißen konnte und das bis heute gehalten hat.

Micha war es auch, der darum kämpfte, dass ich nach meinem Unfall und den vielen Jahren des Ausfallens, wieder in seine Einheit kam. Denn ich brauchte fast fünf Jahre, um wieder ganz zu genesen. Er nahm mich, obwohl ich eigentlich schon viel zu alt für diesen Job war, in seiner Einheit auf, als er selber eine Einheit aufbauen sollte. Deshalb befahl er mich einfach als Ausbilder in seine Einheit, in der er Teamleiter war, auf und hatte diese Entscheidung nie bereut. Seine Leute waren nach drei Jahren, die am besten ausgebildete Einheit, hier in der Region und es gab eine lange Warteliste, um in seine Ausbildungseinheit zu kommen.

Die Anwärter für die Ausbildung, die neu zu uns kamen, waren meistens völlig geschockt, wenn sie sahen, dass sie eine Frau ausbilden sollte und noch dazu eine dicke, wie ich. Erst nach der ersten Trainingsstunde begriffen sie, dass ich alles, aber nicht dick war, sondern sie einer geballte Ladung Kraft gegenüber stand. Das bekamen sie beim ersten Training, meisten sehr schmerzhaft, zu spüren. Schnell lernten die meisten der neuen Kämpfer, mich zu akzeptieren, wie ich bin. Diejenigen die es nicht lernten, waren schneller aus der Einheit heraus und wurden als ungeeignet eingestuft, als sie "Ui", sagen konnten.

Wir waren immer super mit den Ausbildungseinheiten gefahren und Micha hatte es immer durchgesetzt, dass ich ihn in neue Einheiten begleiten durfte. Sonst würde ich wohl heute, irgendwo mein Ruhestand genießen und würde mir selber im Wege stehen. Ich war alles aber nicht zum still Herumsitzen geeignet. Wenn ich mein Training nicht hatte, war ich kein richtiger Mensch. Ich hatte zwar viele Hobbys, wie Lesen, Zeichnen und Handarbeiten, aber das füllte mich nicht aus. Ich brauchte meine Wache, um wirklich zu leben und zum glücklich sein.

Aber lassen wir das. Dank Micha, geht es mir wieder etwas besser. Ich habe sogar wieder etwas Gewicht zugelegt, was bei meinem Training notwendig war. Die regelmäßigen Mahlzeiten und die Ruhe auf der Wache taten mir gut. Na gut, Ruhe und Wache, die beiden Worte, passten nicht wirklich zusammen. Aber es war wirklich so. Das wurde mir in den letzten Wochen immer klarer. Ich brauchte den Trubel der auf der Wache herrscht um glücklich zu sein. Das Stimmengewirr und im Schlafsaal die Geräusche der schlafenden Kollegen, um selber schlafen zu können.

Das Buch habe ich jetzt erst einmal, ein paar Tage a acta gelegt, um mich zu erholen. Aber ich weiß, dass ich weiter schreiben werde. Damit warte ich aber erst mal ein paar Tage, bis sich mein Körper etwas erholt hat. Auch, wenn die Räder, in meinem Kopf sich immer weiter um dieses Thema drehen.

Erwin hatte ich am gleichen Tag auch angerufen und mich mit ihm ausgesprochen. Wie immer meinte er, ich soll mir keinen Kopf machen, er wüsste ja wie ich manchmal drauf bin. Er nahm mir das Versprechen ab, mich wenigstens ab und an mal bei ihm zu melden und versprach mit Carl über das Thema "Eva" noch einmal zu reden, damit meine Schwiegertochter endlich begreift, in welche Ecke sie mich da trieb. Ich hoffte sehr, dass ich jetzt die Ruhe bekam, die ich so dringend brauchte, um mich zu erholen und mit dem Buch abzuschließen.

Micha versprach mir, beim nächsten Frei, einmal ein ernstes Wort mit meiner Schwiegertochter zu reden. Er wollte genau wie ich nur erreichen, dass ich meine innere Ruhe nicht wieder verlor. Denn meine Worte, die ich in meiner Wut zu ihm gesagt hatte, branden sich in seine Seele ein. Er gestand mir einige Tage später ehrlich, dass er mit den Gedanken gespielt hatte, mich gänzlich aus der Einheit heraus zu nehmen. Micha hatte Angst, dass ich meine Drohung, mich in einen Schuss hineinzudrehen, wahr machen würde.

Das war für mich ein Zeichen, dass er mich immer noch nicht wirklich kannte. Denn sonst hätte er gewusst, dass ich nie im Leben Selbstmordgedanken hatte. Schon deshalb nicht, da ich meinem Großvater geschworen habe, niemals meinem Leben mit Absicht ein Ende zu setzen. Diese Gespräche, hatten wir in fast jedem der darauffolgenden Ferien, geführt. Irgendwann hatte sogar mein Großvater begriffen, dass mich der Tod nur dann bekommen würde, wenn mein jüngster Tag gekommen war.

Viel zu vielen Menschen hatte ich sterben sehen und meinen Freunden versprochen, für sie mit zu leben, wie könnte ich dann mein Leben freiwillig beenden. Das wäre für mich überhaupt nicht machbar. Erleichtert, dass ich aus meinem Hamsterrad ausgebrochen war, nahm ich nach drei Wochen Ruhe meinen Laptop heraus und begann wieder zu schreiben. Diesmal allerdings auf meiner Wache und ich nahm Michas Hilfe an. Oft noch musste er mir in den nächsten Wochen in den Schlaf helfen. Aber auch dieses Buch würde irgendwann einmal fertig werden...

***

*** Die nächsten Jahre ***

***

Immer dann, wenn ich weiterschreiben wollte, kam mir der Gedanke gleich wieder aufzuhören. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich mir diesen Alb wirklich weiter antun sollte. Micha hatte mit mir in den letzten Tagen, viel mit mir über mein Projekt geredet und hatte das Buch auch weiter gelesen. Er war völlig schockiert von dem, was er da zum Teil las.

Micha lernte mich ja noch mit meinem Tuch kennen. Erst einige Jahre später, als ich Erwin kennenlernte, ließ ich auf dessen Wunsch hin, meine Haare wachsen, so dass man die Narben auf meinem Kopf nicht mehr sah. Micha erfuhr nie, warum ich damals dieses Tuch getragen hatte. Er selber fand das schick und hatte selber, wie er mir gestand, als Kind lange Zeit so ein Tuch getragen. Extra für ihn schor ich meine Haare noch einmal auf drei Millimeter, Glatze wollte ich mir nicht noch einmal antun. Erst dann, sah er das erste Mal meine Narbe und begriff, was Ranjow mir damals wirklich angetan hatte. Auch begriff er endlich, warum ich nie durch die Sicherheitskontrollen ging und lieber die Leibesvisitation über mich ergehen ließ, obwohl ich es gar nicht mochte, wenn mich fremde Menschen berührten.

Diese Tore, aus Metalldetektoren, waren absolut nicht gut für mich, da ja die rechte Seite meines Kopfes fast vollständig aus Metall bestand. Wie ich viele Jahre später, von meinem ersten Truppenarzt erfuhr, hatte Professor Saizew nicht nur mein Schädeldach, sondern auch mein Jochbein und die Gelenke des rechten Kiefers oben wie auch unten und ein Teil meines Unterkiefers, durch Metall ersetzen müssen, weil alles irreparabel zerstört war. Mir wurde dadurch klar, warum ich so lange Probleme beim Essen hatte, denn nach der Operation, konnte ich monatelang kaum etwas essen oder besser gesagt abbeißen. Vor allem verstand ich seit dieser Zeit, wieso ich rechts am Ohr und am Hals Narben hatte, die ich nie einer Verletzung zuordnen konnte.

Micha und ich hatten uns, nach einer sehr langen Diskussion dazu entschlossen, auch unsere Teams reinen Wein einzuschenken. Ich hielt das am Anfang, für keine gute Idee, da ich Mitleid absolut nicht ausstehen konnte und heute noch nicht kann. Schnell kristallisierte sich aber heraus, dass Michas Idee nicht die schlechteste gewesen war. Denn ich bekam Verständnis, statt Mitleid und das half mir wirklich.

Langsam begriff ich seine Worte, die er mir bei unserem Streit im Büro, um die Ohren gehauen hatte. Dass nicht nur ich, unter der momentanen Situation leide, sondern alle Teams die mehr oder weniger mit mir zu tun hatten. Mir war gar nicht bewusst, dass mein Rückzug aus der Wache, so ein Loch in unsere Truppe gerissen hatte. Eigentlich wollte ich meine Kollegen ja nur vor mir schützen. Denn wenn ich schlecht drauf war, konnte ich manchmal sehr heftig reagieren und eben davor wollte ich unsere Jungs schützen.

Ich war in den letzten Wochen, viel zu sehr mit mir selber beschäftigt, um zu bemerken, dass ich meine Leute ständig für Sachen anbrüllte, über die ich sonst mit einem Lächeln hinweg gesehen hätte. Dass mir meine Arbeit so aus den Händen geglitten war, hatte ich gar nicht bemerkt. Wenn ich ehrlich zu mir selber war, ärgerte mich das nicht nur ungemein, sondern schockierte mich regelrecht. Aber nun war es passiert und wir mussten Schadensbegrenzung betreiben. Deshalb stimmte ich Michas Vorschlag in allen Punkten zu, offen und ehrlich über mein momentanes Problem zu reden, obwohl mir das zu gegebener Maßen sehr schwer fiel.

Lange druckste ich dieses Mal vor unseren Truppen herum, bis ich den Mut fand, offen und ehrlich zu sagen, was mit mir los war. Ich glaube Micha hatte vorher, mit den Männern der Einheit schon einmal über dieses Thema gesprochen, denn die Jungs hatten wirklich eine Engelsgeduld mit mir. Ich bin nicht so gut darin, um Hilfe oder Verständnis zu bitten. Schon gar nicht, kann ich über meine Probleme reden. Ich musste meine Probleme schon als kleines Kind alleine lösen, um Mittel und Wege zu finden, um mit meinem Leben klar zu kommen. Vor allem konnte ich mich nicht wirklich gut entschuldigen. Wie denn auch, bei mir hatte sich auch nie jemand entschuldig, egal was man bei mir falsch gemacht hatte. Ich kann jeden sehr gut verstehen, der sagt, dass ihm eine Entschuldigung, für getanes Unrecht, schwer fiel. Mir ging es auch sehr oft so. Ich versuchte zwar immer gerecht zu sein, aber trotzdem passieren auch mir, manchmal Ungerechtigkeiten. Ich bin halt auch nur ein Wesen aus Fleisch und Blut und kann nicht alles richtig machen, auch wenn ich das gerne tun würde.

Meine Jungs, Micha und ich diskutierten das lange und vor allem klärten wir die durch meinen Rückzug entstandenen Probleme. Wie abgesprochen, bat mich Micha irgendwann darum, dass ich für alle ein Versöhnungsessen zu kochen sollte. Meine Soljanka liebten alle aus unseren Teams, denn das war eine richtige russische Soljanka, so wie man sie in Senkos Heimat immer gekocht hatte. Die musste einige Stunden kochen und war nicht in zehn Minuten auf dem Tisch. Die Zeit, in der ich meine Soljanka kochte, nutzte mein bester Freund, um aus dem Buch einiges aus meinem Leben vorzulesen, damit sie begreifen konnten, warum ich in den letzten Wochen, oftmals so gereizt war und mich so gänzlich von der Truppe zurück gezogen hatte.

Nach der Versammlung hatte ich das Gefühl des Spießrutenlaufens. Dass mich alle anstarrten und fühlte mich total Unwohl in meiner Haut. Das brachte mir diesmal nicht nur eine Rüge von Micha ein, sondern auch von den Jungs. Beim Essen, rückten dann einige mit der Sprache heraus und beichteten mir, dass sie, wenn sie solch ein Buch schreiben würden, sie auch nicht gut drauf gewesen wären. Im Gegenteil gestanden mir einige von ihnen, wie sie reagiert hätten. Dass, wenn ich sie dann geärgert hätte, sie nicht nur angeschrien, sondern dass sie mir dann eine geknallt hätten. Nach dem Essen lachten, wir dann wieder und die Stimmung wurde endlich wieder etwas lockerer. Auch wenn die Stimmung noch etwas gedrückt war, hatten wir uns mittlerweile wieder zusammengerauft und darauf kam es schließlich an. Ein Team voller Probleme, funktionierte halt einfach nicht richtig.

 *

Viele meiner Gefühle waren zurzeit immer noch aufgeputscht und irgendwie durcheinander. Ich könnte nicht einmal genau sagen, warum. Vielleicht hing es damit zusammen, dass ich heute bestimmte Sachen in die damalige Zeit hinein interpretiere, die so eigentlich nicht stimmen. Immer wieder lösche ich bestimmte Teile aus meinen Text, die so nicht wirklich geschehen sein konnten. Einfach weil ich damals anders dachte und weil viele Dinge die mir heute unmenschlich vorkommen, damals für mich nicht so schlimm waren. Obwohl nicht so schlimm, eigentlich auch irgendwie falsch war, aber ich kann und werde es wohl nie anders erklären können. Für uns war all das Erlebten doch ständig Normalität. Wir kannten doch nichts anderes und hatten auch keine oder besser gesagt kaum Möglichkeiten, uns mit Geschwistern oder Freunden auszutauschen. Wie denn auch? Wir waren nur drei Wochen im Jahr zu Hause und in dieser Zeit holten die meisten von uns den Schlaf nach, den wir in der Schule nicht bekamen. Und meine Geschwister wollten von mir nichts wissen oder wussten gar nicht, dass ich existierte und meine Freunde in der Schule, hatten das Gleiche erlebt, wie ich. Sie kamen, wie ich aus Gesprächen mit ihnen nach den Ferien immer erfuhr, mit ihren Familien überhaupt nicht mehr klar. Wir sprachen einfach nicht mehr die gleiche Sprache. Vor allem, dachten wir völlig anders, als die in Deutschland aufgewachsenen Kinder. Sie kannten keine Situationen, in denen es ums pure Überleben ging. Wie denn auch, die meisten von uns kamen aus guten Familien und wurden hierher geschickt, damit die Chancen für die Zukunft eine bessere war. Wie sehr sich diese Eltern geirrt hatten, merkten sie erst nach einem Jahr, als ihre Kinder, das erste Mal und noch dazu völlig verändert nach Hause kamen.

Das war ja genau der Grund, warum ich mit bestimmten Sachen einfach nicht klar kam, wie zum Beispiel Schuleinführungen, Geburtstage oder Weihnachten. Es machte mir ständig bewusst, was alles schief gelaufen war, bei unserer Kindheit. Das machte mich heute noch so verdammt wütend, dass ich irgendetwas zerschlagen oder jemanden verprügeln könnte. Sagte dann einer ein falsches Wort, ging regelmäßig hoch wie eine Rakete. Ich konnte und kann, das immer noch nicht steuern. Nervte mich dann jemand, so wie es Eva bei der Schuleinführung von Mia tat, explodierte ich wie eine Bombe, aber eine richtig fette und hinterließ ein seelisches Trümmerfeld. Das war heute noch so, nur dass ich im Laufe meines Lebens lernen musste, mich bis zu einem gewissen Grad zu beherrschen, damit das Schlachtfeld hinterher noch human aussah, was ich dann hinterließ.

Man kann sich ein paarmal für falsches Verhalten entschuldigen, aber nicht immer wieder für die gleichen Fehler. Irgendwann, wollen die Anderen nichts mehr von dir wissen. Du kannst dich nicht ständig, mit deiner verkorksten Kindheit entschuldigen. Weil dann irgendwann, die Fragen kommen und sie wissen wollen, was los war in deine Kindheit. Aber du kannst darüber nicht reden, weil du ihnen dann die Feier versaust, oder es dich umbringen würde oder du in der Klapper landest. Also mied ich solche Feiern, da ich ansonsten verdammt einsam geworden wäre in meinem Leben. Glaubt mir, nicht nur einmal hatte ich mit solchen Ausrastern, meine Ehe an den Rand der Zerstörung gebracht. Nicht nur einmal, war in unserer Ehe das Wort Scheidung gefallen und nicht nur einmal, lagen bei Erwin oder mir die Scheidungsunterlagen auf dem Schreibtisch, weil wir einfach nicht mehr konnten. Dass wir heute noch ein Paar sind, hatten wir nur Erwin zu verdanken, der mit seiner unendlich Geduld immer zu mir hielt und immer wieder eingelenkt hatte und mir all meine Ausraster verzieh. Der mich immer wieder in seine Arme nahm und mich weinen ließ, bis aller Kummer aus mir heraus war. Der mich nie bedrängte und einfach akzeptierte, dass meine Kindheit alles aber nicht schön war. Auch für ihn mache ich das hier mit dem Buch, damit er endlich verstehen kann, warum mir manche Dinge in meinem Leben so verdammt schwer gefallen waren. Er hatte sich das mehr als verdient.

Auch, wenn mir meine Gefühle immer wieder sagten, es stimmte irgendetwas in meiner Schule nicht, mit dem was die Lehrer und Betreuer uns antaten, suchte ich die Fehler immer bei mir. Ich schob es ständig auf mich und dachte, dass bei mir irgendetwas mit dem Fühlen kaputt war. Denn meine Kameraden sahen, viele der Dinge die man mit uns machte, als nicht schlimm an und nahmen es hin, wie es war. Sie waren noch mehr abgestumpft von unserem Leben, als ich das damals war. Wahrscheinlich war der Unterschied, zwischen zu Hause und unserer Schule noch extremer, als es bei mir der Fall war. Das Erlebte, hatte in meinen Leuten, innerlich noch mehr zerstört, als es bei mir der Fall war. Ich war mir heute noch nicht sicher, ob mein Großvater mir etwas Gutes getan hatte, mich jedes Jahr aufs Neue, immer wieder in die Normalität zurückzuholen. Ich würde mir heute wünschen, dass er das nie gemacht hätte. Vielleicht wäre dann mein Leben, an der Schule einfacher verlaufen und ich hätte mir nicht so viele der Lehrer, zum Feind gemacht.

Erst als ich selber Kinder bekam, wurde mir bewusst, dass meine Gefühle damals richtig waren. Auch wenn ich nicht alles richtig gemacht hatte als Mutter, hätte es mir das Herz gebrochen, ebenfalls so bösartig gegen meine Kinder zu sein, wie es die Lehrer, Betreuer und meine Erzeuger mit mir gemacht hatten. Ich empfand es schon immer als Unrecht, wie man uns behandelte. Aber ich dachte wirklich, dass mit mir etwas nicht stimmen würde. Dass ich einfach zu sehr, von meinen Emotionen gesteuert wurde. Woher sollte ich denn wissen, dass ich nur an den Symptomen, gegen Ungerechtigkeiten litt. Dass ich falsch und richtig besser unterscheiden konnte, als andere Kinder in meinem Alter. Dass ich durch meine Erfahrungen, die ich in der WoKi gemacht hatte, einfach besser einschätzen konnte, dass auch fremde Menschen zu uns hätten lieb sein können und dass sie mit Liebe in der Erziehung, mehr erreicht hätten, als mit dieser sinnlosen rohen Gewalt. Wie hätte ich solche Feinheiten mit sechs Jahren verstehen können, das war überhaupt nicht möglich. Viele dieser Gefühle ließen mich zurzeit nicht los und machten mich angreifbar, gegenüber Ungerechtigkeiten, die es im täglichen Leben gab und die auch um unsere Dienststelle keinen Bogen machten. Aber da musste ich wohl durch. Wer A sagt, musste mit dem B dann leben können, heißt es in einem alten Sprichwort.

Kehren wir zurück in meine Schule und versuchen ein wenig aufzuarbeiten, was damals mit uns so geschah.

 *

Wie gesagt, kehrten wir nach zwei Wochen Ferien, in unsere kleine Hölle zurück. Einiges wurde zwar besser, dafür wurde es bei anderen Dingen schlimmer. Unsere Zimmer besaßen jetzt einen Holzofen, der durch uns beheizt werden konnte, wenn es kalt genug war. Allerdings muss man dazu sagen, dass wir ihn nur dann beheizen konnten, wenn wir genügend Holz da hatten und wenn wir die Erlaubnis der Lehrer und Betreuer, dazu bekamen. Am Anfang des zweiten Schuljahres war das nicht immer der Fall, denn unser Training ließ es kaum zu, dass wir uns Holz besorgen konnten. Wie immer fing der Tag für uns früh um 5 Uhr mit den Morgenappell an und endete um 22 Uhr, mit dem Zapfenstreich. Danach durften wir nie die Schule verlassen und hätten es auch gar nicht versucht, denn wir wurden fast täglich gegen 1 Uhr aus dem Bett geworfen, um unsere Strafrunde zu laufen. Wann hätten wir uns also Holz holen sollen?

Allerdings sahen es unsere Lehrer als eine Befehlsverweigerung an, wenn wir kein Holz da hatten. Denn nicht nur wir, hatten Anfang des neuen Schuljahres, nie Holz da, sondern auch die russische und rumänische Stube. Auch sie bekamen nie die Möglichkeit Holz zu sammeln. Als Strafe wurden wir dann stets über Nacht auf den Exerzierplatz gestellt, wurden dadurch vorgeführt und von allen anderen verhöhnt. Deshalb war es fast immer eisig kalt in unseren Räumen und die Lehrer, wie auch die Betreuer froren weiterhin, wenn sie zu uns in die Räume kamen. Aber unsere Ausbilder wollten das einfach nicht sehen, vor allem nicht verstehen. Erst als Ende des Jahres 1965 wurde es etwas besser. Als in der Stube der Rumänen, alle Rekruten krank im Bett lagen, weil sie sich bei einem Übungstest alle erkältet hatten und mit hohen Fieber flach lagen. Sie mussten dabei ins eiskalte Wasser und konnten sich nicht einmal nach dem Test richtig aufwärmen. Nur die Stube, die geschlossen und mit allen Rekruten am Ziel und in vorgegebener Zeit ankam, durfte sich in der Sauna aufwärmen. Deshalb sorgten ja alle bei uns dafür, dass wir uns gegenseitig halfen.

Danach bekam immer ein Rekrut aus der Stube, beim Morgenappell, den Befehl, in zwei Stunden so viel Holz wie nur möglich zu holen. Allerdings, wurde uns sehr bald klar, dass man dadurch die drei Stuben, gegeneinander ausspielen und austricksen konnte. Es dauerte nur ein paar Tage, bis einer aus den anderen Stuben sich an unserem Holzvorrat bediente. Es war halt einfacher zu stehlen, als nach draußen in die Kälte zu gehen. Die Russen und Rumänen plünderten lieber unseren Holzvorrat, wenn wir in der Nacht unsere Strafrunde laufen mussten. Das Verhältnis zu den beiden anderen Stuben wurde dadurch, verständlicher Weise immer angespannter. Wir waren immer diejenigen, die dafür bestraft wurden, weil kein Holzvorrat in der Stube war und die Lehrer, dadurch bei uns immer frieren mussten.

Was hätten mir dagegen machen sollen. Zu den meisten Lehrern und Betreuern hatten wir keinerlei Vertrauen. Außer zu ganz wenigen Erwachsenen wie Petrow, Dunja und Konrad, und selbst das Vertrauen, war nur minimal ausgeprägt. Nur zu einer einzigen Lehrerin hatten wir so viel Vertrauen aufgebaut, dass wir uns trauten zu erklären, warum bei uns nie Holz vorhanden war. Unsere Nahkampftrainerin, Narciza Narlow, fragte uns einige Male, wieso wir kein Holz mehr hätten. Da sie uns jeden Tag in der Mittagszeit mit einem Leiterwagen voller Holz hatte kommen sehen, nie aber die Russen und Rumänen. Wir trotzdem am Abend, jedes Mal wieder hinaus auf den Hof mussten und die anderen Stuben nicht. Ach wie viel Kampf hatte uns die Wahrheit gekostet, als ich Narciza darüber aufklären musste, wäre ich vor Angst fast gestorben war. Vor allem, das wir ihr eingestanden, dass wir die Bestrafung als ungerecht angesehen hatte. Schließlich hatten wir das Holz geschlagen und bekamen trotzdem eine Strafe, weil wir angeblich stinkend faul waren. Die anderen beiden Stuben dagegen, waren faul wie Oskar und bekamen eine Belobigung dafür. Vor allem, mussten wir ständig frieren. Narciza kam nach vierzehn Tagen, dann auf die Idee, die anderen Stuben, am lang ausgestreckten Arm verhungern zu lassen.

"Charly, warum macht ihr jeden Tag wieder Holz? Zieht das doch einfach einmal durch und holt kein Holz mehr. Dann müssen die anderen Stuben ihr Holz alleine holen. Dann holt ihr euch deren Holz und die sehen einmal, wie schlimm das ist, was sie mit euch ständig machen."

Ich schüttelte den Kopf. "Genossin Narlow, eigentlich wäre das eine gute Idee. Aber, dann wären wir genauso schlimm, wie die Russen und Rumänen. Auf deren Stufe wollen wir uns nicht stellen", bestätigte ich, dass ich ihr eigentlich Recht gab, mich aber nicht auf die gleiche Stufe herablassen wollte. Obwohl meine Leute, von dem Vorschlag unserer Nahkampftrainerin begeistert waren. "Außerdem wäre ich dann bestimmt wieder diejenige, die das ausbaden muss. Sie kennen doch die Lehrer der Russen und Rumänen, die können mich sowieso nicht leiden. Mich würden sie sofort wieder auf den Kicker haben, denn einen müssten sie dann bestrafen. Wer ist geeigneter eine Strafe zu bekommen, als ich", machte ich sie auf ein Problem aufmerksam, dass schon allen in unserer Stube bekannt war, aber scheinbar noch nicht bei unserer großen Freundin angekommen war. "Es ist doch egal, was wir machen. Ich bekomme jeden Tag, für irgendetwas eine Strafe, was ich nie gemacht habe. Aber wir werden ein paar Tage kein Holz mehr holen. Dann bekommen wir wenigstens zu Recht eine Strafe und die anderen Stuben müssen auch frieren, weil es hier nichts mehr zu holen gibt", nahm ich die Hälfte ihres Vorschlages an.

Die gesamte darauffolgende Woche, holten wir kein Holz mehr. Komischerweise, bekamen wir aber diesmal keine Strafen mehr dafür. Die Strafe bekamen dieses Mal die Russen und Rumänen aufgebrummt. Wir wunderten uns sehr darüber. Allerdings kamen wir dann auf die Idee, dass unsere große Freundin, da ihre Hände im Spiel hatte und dass, was sie bei uns erfahren hatte, an den richtigen Stellen preisgegeben hatte.

Am Ende der Woche, kamen wir durchgefroren vom Lauftraining zurück. Schon von weiten hatten wir gesehen, dass ein Rumäne und ein Russe aus unserem Zimmer gelaufen kamen, obwohl das unter Strafe verboten war. Verwundert sahen wir uns an und gingen schnell nach hinten in unsere Stube, um nachzusehen, was die beiden wieder bei uns angestellte hatten. Wir stellten verwundert fest, dass unser Raum warm und der Ofen an war. Erstaunlicherweise war unsere Vorratsecke bis zum Rand mit Holz gefüllt und selbst im Raum davor war noch ein ganzer Stapel Holz. Wir verstanden im ersten Moment gar nicht, was hier los war.

Unsere Unwissenheit dauerte allerdings nicht sehr lange. Nur fünf Minuten später, erschien Petrow in unserem Zimmer und fand uns immer noch staunend, am dem heißen Ofen stehend vor, an dem wir uns gerade aufwärmten.

"Na da staunt ihr?" Breit grinsend sah Petrow mich an, da ich wie im ersten Schuljahr, die Gruppenführung intus hatte. "Das war einmal eine Überraschung, dass es warm bei euch ist", fragend sah er erst mich und dann die anderen an. "Ich habe von Narciza erfahren, dass man euch seit Wochen dafür bestraft, dass ihr für die anderen Stuben das Holz geholt habt. Dass kann doch wohl nicht wahr sein. So etwas gibt es bei mir aber nicht. Ich finde es überhaupt nicht kameradschaftlich, andere zu bestehlen. Ihr werdet vierzehn Tage lang, von der russischen und der rumänischen Stube Holz bekommen und es warm haben", erklärte er uns die Strafe, die die anderen Stuben für den Diebstahl unseres Holzes bekamen. "Die Herrschaften der anderen Stuben, mussten mir nämlich heute in der Mensa erklären, wieso sie auf einmal kein Holz mehr hatten. Sie konnten es nicht. Nach der Androhung einer saftigen Strafe, dafür dass sie schwiegen, gestanden sie nicht nur mir, sondern auch ihren zuständigen Betreuern, dass sie seit zwei ganzen Wochen, ständig euren gesamten Holzvorrat gestohlen haben. So etwas lasse ich hier nicht durchgehen. Diebstahl unter Kameraden, das geht überhaupt nicht", beendete er seine Erklärung. "Warum habt ihr dass denn nicht gemeldet?"

"Wir petzen doch nicht", rutschte es mir so raus. "Entschuldigen sie Genosse Petrow", bat ich um Verzeihung und senkte meinen Kopf. "Aber, dann müssen die Armen ja jetzt frieren, das geht doch nicht Genosse Petrow", machten sich schon wieder Worte von mir selbständig, die ich eigentlich gar nicht laut sagen wollte. Weil ich zwar die Strafe verstand, aber mir taten die Jungs und Mädels leid, die jetzt genauso frieren mussten, wie wir die anderen Tage.

"Dir tun die anderen leid, Rekrut Dyba?"

"Ja Genosse Petrow, wir wissen nur zu genau, wie sich die Kälte anfühlt. Es ist nicht schön ständig zu frieren."

"Hut ab vor dir, du überrascht mich immer wieder. Was willst du dagegen machen, Charlotte?"

Schnell drehte ich mich zu meinen Leuten um und sah mit den Augen zum Holz und danach in Richtung zu den anderen Stuben. Ich bekam ein leichtes Nicken von allen aus der Stube und setzte meine Idee in die Tat um.

"Genosse Petrow, verdient haben es sich die anderen Stuben nicht. Da gebe ich ihnen Recht. Aber Unrecht mit Unrecht zu bestrafen, finden wir auch nicht richtig. Schließlich haben die anderen Stuben, für das Holz gearbeitet. Wir wissen wie schwer das Holz zu besorgen ist. Wir haben hier Holz für mindestens drei Tage. Wenn wir das teilen, reicht es für alle Stuben und keiner muss frieren. Hauptsache ist doch, dass sie begriffen haben, dass sie etwas falsch gemacht haben. Teilen wir unser Holz mit ihnen, dann muss keiner heute zitternd ins Bett gehen", machte ich ihm einen Vorschlag. "Vielleicht könnten die Holzsammler demnächst immer zusammen gehen, dann geht das Holz holen leichter und geht außerdem schneller und alle Stuben haben etwas davon, weil sie sich gegenseitig helfen können", hing ich noch einen Vorschlag dran, der allen nützen würde.

"In Ordnung. Jeder von euch nimmt zwei Holzscheidel in die Hand und dann kommt ihr mit mir mit. Ihr legt das Holz an der Tür ab und betretet den Raum nicht. Lasst mich das in den Stuben klären, dann gibt es auch keine Strafen für euch. Einverstanden?"

Wir nickten und holten uns alle zwei Holzscheidel, um Petrow zu folgen, der an der Tür auf uns gewartet hatte.

Zuerst ging es zu den Russen, den wir jeder ein Holzscheidel an der Tür ablegten. Denn uns war es unter Strafe verboten, die anderen Stuben zu betreten. Gerade deshalb, um solche Vorkommnisse zu verhindern. Jede Stube, war für seine Räume selber verantwortlich und ein Besuch der anderen Gruppen war nur auf dem Hof gestattet und auf den Zimmern strengstens untersagt. Nicht nur, weil es zwischen den Russen und Rumänen ständig zu Prügeleien, am Anfang der ersten Klasse gekommen war, sondern da auch einige ungeklärte Diebstähle vorkamen. Da wir ja ständig nachts laufen mussten, konnten wir die Diebstähle nicht begangen haben. Dafür kamen nur diese beiden Zimmer in Frage. Da wir sofort schlafen gingen, sobald der Schlafbefehl gegeben wurde und die restliche Zeit waren wir unter ständiger Beobachtung der Betreuer.

Das Erstaunen, das in den Gesichtern der Russen geschrieben stand, sagte mehr als deren Worte, als wir die Holzscheitel an deren Tür stapelten. Es war genug Holz, um das Zimmer warm zu bekommen. Die Worte von Petrow, ließen die Köpfe der Jungs und Mädels noch mehr nach unten gehen.

"Wisst ihr, eigentlich habt ihr das, was die deutschen Kameraden hier machen, gar nicht verdient. Aber die Stube "Nemetskiy" ist der Meinung, dass es ungerecht ist, wenn sie es warm haben und ihr frieren müsst. Habt ihr einmal darüber nachgedacht, dass die Stube seit vielen Wochen friert, weil ihr immer wieder deren Holz gestohlen habt. Ich muss ehrlich zugeben, ich hätte nicht die Größe, euch von dem Holz etwas abzugeben. Ich hätte euch frieren lassen. Ihr solltet euch schämen", richtig wütend drehte sich Petrow um und verließ die Stube der Russen, um mit uns zu den Rumänen zu gehen.

Dort sprach er ähnliche Worte, die Köpfe in dieser Stube gingen auch nach unten. Auch dort legten wir die Holzscheidel an der Tür ab. Kaum, dass wir fertig waren, wollten wir zurück in unser Zimmer gehen, denn wir hatten unseren Auftrag erfüllt. Allerdings kam der Befehl zu bleiben, wo wir waren. Auch den Rumänen, gab Petrow etwas zum Nachdenken. Als er mit der zweiten Stube fertig war, wandte er sich noch einmal an uns.

"Charlotte, du nimmst deine Leute und ihr macht euch fertig für die Sauna. Die habt ihr euch heute mehr als verdient. Auch werde ich heute das Laufen in der Nacht untersagen. Legt euch nach der Sauna hin und schlaft euch einmal richtig aus. Das ist ein Befehl von mir, ihr bleibt heute in der Stube. So wie ich es schon den beiden Stuben gesagt habe, bei mir hätten die ruhig vierzehn Tage frieren können, für die Frechheit euer Holz zu stehlen. Also ab mit euch, in einer halben Stunde ist die Sauna heiß, dann könnt ihr euch richtig aufwärmen. Und Charlotte die anderen dürfen heute nicht in die Sauna. Etwas Strafe muss sein", breit grinste mich Petrow an. Ich denke noch heute, dass er sah an meiner ganzen Haltung, dass ich das als ungerecht empfand. Dabei grinste er von einem Ohr zum anderen, weil er an meiner Haltung sah, dass er mit seinen Gedanken richtig gelegen hatte. Na ja irgendwo hatte Petrow ja Recht, Strafe musste sein.

 *

Die zweite Klasse verlief ohne nennenswerte Ereignisse, seinen gewohnten Gang. Nur dass wir in dieser Klasse zwei Abschlusstest zu bewältigen hatten. Der erste Ende Februar, das war der härteste, weil es dann immer richtig kalt war und wir unterwegs halb erfroren. Der zweite Ende Juli, der war zwar Temperatur mäßig einfacher, dafür anstrengender. Jeweils am darauf folgenden Tag flogen wir wieder in die Ferien und zurück nach Deutschland. Die Tests waren hart aber schaffbar, denn wir hatten sechs Monate dafür trainiert. Ich wüsste nicht genau, was ich über dieses zweite Schuljahr berichten sollte. Ich müsste mir entweder etwas aus dem Finger saugen oder etwas erfinden. Man merkt sich nur Sachen die sich tief in den Erinnerungen einprägen konnten. Vor allem aber auf irgendeine Art, einen Einfluss auf deine Entwicklung genommen hatten. Trotzdem hatten sich eine Episode tief in meine Erinnerungen gebrannt, die aber nicht uns Kinder betraf, sondern den verhasstesten Lehrer traf, den wir in unserer Schule hatten.

Durch die vielen einseitigen Gespräche, die ich als kleines Mädchen, mit meinem Großvater in den Ferien geführte hatte, wurde es für mich nicht einfacher in der Schule, sondern mit jeden Ferienaufenthalt, war ich schwieriger zu handhaben, nicht nur für meine Freunde, sondern vor allem für die Lehrer und Betreuer. Mir brachten meine Weigerung, bestimmte Dinge zu akzeptieren, viele eigentlich unnötige Strafen ein. Da ich nicht alles widerstandslos mit meinen Leuten und mir machen ließ. Brachte mir mein Verhalten, oft nicht nur eine Rüge durch die Betreuer ein, sondern vor allem von meinen Kameraden. Da ich ja nach den ersten Ferien, sofort wieder die Gruppenführung übernehmen musste, war ich für alles verantwortlich, was in der Stube "Nemetskiy" schief lief. Selbst für die Strafe, die sich Petrow für die Stuben der Rumänen und Russen ausgedacht hatte, zogen mich die Betreuer der beiden Stuben zur Verantwortung. Als ob ich die Standpauken von Petrow hätte verhindern können. Ich besaß dazu keine Möglichkeit und schon gar nicht die Macht dazu, solche Maßnahmen zu verhindern. Ich glaube, wenn ich gewusst hätte, was da wieder auf mich zu kam, hätte ich die beiden Stuben wirklich frieren lassen.

Am nächsten Morgen, waren nämlich Petrow, Narciza und Senko in Moskau zu einer Besprechung und wir wurden in der Betreuung der anderen Lehrer und Betreuer zurückgelassen. Deshalb war kein verantwortlicher Leiter in der Schule und man zog mich wieder einmal als einzige aus der Stube "Nemetskiy" heraus und ich sollte vier Tage auf den Hof. Was bei Temperaturen von minus 5°C und von 22 Uhr bis früh um 4 Uhr 30, eine Höllen Strafe war, auch wenn man die Hosen anbehalten durfte. Nur bekleidet im Turnhemd und Hose, vor allem ohne Schuhe, stand man da nicht lange an einer Stelle ruhig.

Narciza bekam ganz große Augen, als sie mich am späten Abend oder besser gesagt dem frühen Morgen, es war kurz vor 2 Uhr in der Nacht, auf den Hof stehen sah. Sie konnte es einfach nicht fassen: Was da schon wieder los war. Sie fragte mich, warum ich hier stehen würde und was ich vor allem schon wieder ausgefressen hätte. Ich zuckte mit den Schultern, da ich keine Ahnung und schon gar keine Antwort auf ihre Frage hatte, für was ich bestraft wurde.

Auf meine Fragen:"Warum, soll ich auf den Hof? Ich habe doch nichts falsch gemacht", wurde die ursprüngliche Strafe von drei Tagen, auf vier Tage erhöht.

Ich würde mir also demnächst verkneifen, nach dem "Warum" zu fragen. Petrow der nur wenige Minuten nach Narciza auf den Hof kam, weil er nach Hause gehen wollte und wütend nach mir suchte, schüttelte fassungslos den Kopf.

"Das kann ja wohl alles nicht wahr sein", brüllte er mich an.

Ich wäre vor Schreck fast rückwärts in den Schnee gefallen.

"Charlotte, wieso bist du denn schon wieder auf den Hof?"

"Genosse Petrow, ich weiß es nicht. Als ich danach gefragt habe, bekam dann gleich einen Tag mehr aufgebrummt. Hätte ich nur meinen Mund gehalten", gestand ich leise mit den Zähnen klappernd und nach unten auf meine Füße blickend.

"Wann haben die das festgelegt?"

"Heute früh beim Morgenappell. Bitte Genosse Petrow, sagen sie nichts dazu, sonst bekomme ich noch eine härtere Strafe und es verdammt kalt hier", bat ich ihn darum sich nicht einzumischen, bei ihm durfte ich mir das ab und an einmal erlauben.

Aber wer hört schon auf uns. Bestimmt nicht jemand von der Schulleitung. Ängstlich schielte ich zu Narciza und flehte sie mit den Augen an, dass sie eine Einmischung durch Petrow verhinderte.

"Charlotte, wer hat dir denn schon wieder die Strafe aufgebrummt?" Erkundigte sich Narciza bei mir und beugte sich zu mir nach unten.

"Genosse Radujew, hat mir das befohlen", verlegen sah ich zu meinen Füßen und schielte zu der in einer dicken Jacke eingepackten Lehrerin, die frierend die Schulter hochzog. "Aber ich habe wirklich nichts gemacht. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum ich hier stehe. Ich war höflich und habe alle Befehle ausgeführt, Genossin Narlow."

"Narciza, du bleibst kurz hier und passt auf die kleine Dyba auf. Ich bin gleich wieder zurück. Senko springt zwar aus dem Anzug, wenn ich ihn jetzt störe. Aber was soll's", erklärte Petrow, der Betreuerin von uns deutschen Kindern.

Keine zehn Minuten später, kam Petrow mit Senko zusammen auf unseren Hof. Ich glaube ich war immer kleiner geworden, also ich so schon bin, als ich den wütenden Blick Senkos sah. Jetzt sah mich nicht nur Petrow böse an, sondern auch noch Senko.

"Ich wollte es dir nicht glauben, Anton. Ich kann das wirklich alles nicht mehr glauben", sagte Senko wütend. "Seit wann stehst du hier, Rekrut Dyba?"

"Seit dem Zapfenstreich, Genosse Senko", gestand ich ganz kleinlaut.

Jetzt brachte Senko das Fass zum Überlaufen. Mir wurde richtig schlecht vor Angst. Der Schulleiter unserer Schule, lief nämlich an die Schalttafel, die hinter dem Fahnenmast stand und drückte den Alarmknopf. Damit weckte er die gesamte Schule auf, nicht nur uns Schüler, sondern wirklich alle. Das würde sich Radujew nicht gefallen lassen. Da kamen schlimme Zeiten auf mich zu.

Als der Rumäne heute Abend zurück in die Schule kam, war er voll wie eine Haubitze und konnte nur noch mit viel Mühe, ein Bein vor das andere setzen. Außerdem wurde er von zwei seiner Saufkumpanen gestützt. Ich ahnte Schlimmes. Auch weil ich auf dem Hof lange genug Zeit hatte, um zu überlegen, warum ich diese Strafe von Radujew bekommen hatte. Nur leider durfte ich das nicht sagen. Üble Nachrede, über Lehrer, wurde böse geahndet. Deshalb hatte ich mich ja hinter das Haus gestellt, damit mich niemand entdecken konnte. Leider waren Petrow und Narciza unten in den Stuben gewesen, um ein letztes Mal nach dem Rechten zu schauen. Dabei wurde mein Fehlen im Bett bemerkt und die beiden hatten mich gesucht.

Innerhalb von nur fünfzehn Minuten waren alle Rekruten, alle Lehrer und alle Betreuer und selbst der Hausmeister auf den Hof der Stube "Nemetskiy" versammelt und standen in Blöcken, um mich herum. Ich schämte mich in Grund und Boden, weil ich alle aus den Betten geholt hatte.

Senko sah einmal alle Betreuer und Lehrer an und zu meinem Erstaunen, schickte er die drei Stuben, zurück in ihr Zimmer und ins Bett.

"Die Rekruten, alle zurück in ihre Stuben, nu davay", befahl er laut.

Das ließen sich meine Kameraden nicht zweimal sagen, denn es war barbarisch kalt geworden heute Nacht, es waren bestimmt minus 11°C auf dem Thermometer. Da ich stehen blieb, denn ich hatte ja eine Strafe von Radujew bekommen, und nur er konnte mir erlauben zu gehen, wurde Senko böse mit mir.

"Rekrut Dyba, bist du kein Rekrut mehr? Brauchst du eine Sondereinladung. Ich hatte laut und deutlich gesagt, ALLE ... REKRUTEN", brüllte er mich jetzt völlig genervt an.

Da ich jetzt überhaupt nicht mehr wusste, wie ich mich verhalten sollte, sah ich fragend erst zu Petrow und dann Narciza an, die mir beide mit dem Kopf ein Zeichen machten, zu verschwinden. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. So schnell mich meine blauen und halb erfrorenen Füße tragen konnten, verließ ich den Hof und verschwand in unserem Zimmer, um mich dort erst einmal aufzuwärmen. Anschließend huschte ich zu meiner besten Freundin Birgitt unter die Decke, um mit ihr zusammen zu schlafen. Birgitt war für mich so etwas wie eine Heizdecke, sie bekam mich immer in kürzester Zeit aufgetaut, so dass ich schlafen konnte. Sie besaß eine unglaubliche Körperwärme, vor allem aber, solch eine innere Ruhe, die sie auf mich übertrug.

Als endlich auch der letzte Schüler, nämlich ich verschwunden war, wandte sich Senko an seine Mitarbeiter. "Ich glaubte eigentlich, verehrte Genossen, ich hatte mich gestern Abend, vor dem Abendessen sehr klar und überdeutlich ausgedrückt, mit meinen Befehl diese Art der Bestrafungen in der Zukunft zu unterlassen. Seid ihr eigentlich alle taub, yoptel-mopsel", pulverte er alle an. Was so viel hieß, wie verdammt nochmal. "Oder wollt ihr mich mit Absicht in den Wahnsinn treiben? Wisst ihre eigentlich wie spät es ist und dass ich jetzt seit fast vierzig Stunden kein Bett gesehen habe. Das kann doch nicht euer Ernst sein. Was Genosse Radujew, haben sie an meinem Befehl, den ich ihnen persönlich gegeben habe, nicht verstanden? Antworten sie und zwar jetzt sofort", brüllte er Radujew so an, dass wir jedes Wort in unserem Raum verstehen mussten, ob wir nun wollten oder nicht. Die Lehrer standen nämlich genau unter unserem Fenster.

"Was denn für ein Befehl?" Fragte Radujew seinen unmittelbaren Vorgesetzten, unvorsichtiger Weise, auch noch lallend.

"Was für einen Befehl? Sie besoffenes Stück Scheiße. Sie haben von nichts keine Ahnung, außer vom Saufen. Hat man sie hier in die Schule und zu mir abgeschoben, weil man in Rumänien keine Verwendung mehr für sie fand, außer, dass sie Latrinen putzen könnten", brüllte Senko weiter mit dem rumänischen Lehrer.

Mir wurde bei jedem Wort, dass Senko brüllte schlechter. Vor allem fing ich am ganzen Körper an zu zittern. Diese herabwürdigende Art, würde sich unser Lehrer für Taktik und Sprengstoffen nicht gefallen lassen.

"Beruhige dich Lotty, der kann dir jetzt nichts mehr tun", versuchte mich Birgitt zu beruhigen. "Und morgen weißt der das bestimmt nicht mehr, so besoffen wie der heute war."

Das war einfacher gesagt, als getan. Radujew hasste mich seit meiner ersten Unterrichtsstunde, die ich bei ihm hatte, wie die Pest. Einfach, weil ich vieles in seinem Unterricht hinterfragte, um es richtig zu verstehen. Allerdings konnte der Rumäne uns nie, das nötige Hintergrundwissen geben, da er es einfach nicht hatte. Deshalb ließ Radujew sowieso schon ständig seine schlechte Laune, die er immer hatte, an mir aus. Obwohl ich einer der Besten aus allen Stuben in seinem Unterricht war, fand er immer etwas zum Nörgeln und zum Bestrafen. Egal wie viel Mühe ich mir gab und mir oft sogar von Bobrow und Narciza bei kniffligen Sachen helfen ließ, bei taktischen Fragen oder im Umgang mit Sprengstoffen. Ich machte bei Radujew nie irgendetwas richtig, obwohl es das war. Wenn Senko ihn jetzt vor der versammelten Mannschaft und vor unseren Fenstern so runterputzte, wurde es für mich morgen ein schlimmer Tag werden.

"Du hast Recht, Birgitt. Passt du auf mich auf? Ich bin hundemüde und der Tag morgen wird bestimmt die Hölle. Schlechte Laune und Kater, vor allem beides auf Radujew fixiert, sind eine tödlichere Mischung als Dynamit, kurz vor der Explosion", stellte ich flüsternd fest und Birgitt bekam sich nicht wieder ein vor Lachen. Manchmal entschlüpften mir solche schräge Bemerkungen einfach, ich konnte das nicht ändern.

Draußen vor unseren Fenster brüllte Senko weiterhin Radujew an, aber ich blendete das so gut es ging aus. Ich mussten und wollte unbedingt noch etwas schlafen, es ging auf schon mit großen Schritten auf 3 Uhr zu und ich hatte noch gar nicht geschlafen.

"Sagen sie Radujew, sind sie noch so besoffen, dass sie nicht einmal ein Thermometer lesen können? Ich habe bei zahlreichen Dienstunterweisungen in den letzten sechs Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass ich bei einer Temperatur von unter 0°C, keines der Kinder, egal was es angestellt hat und wenn es ihnen auf die Hose geschissen hätte, hier draußen auf dem Hof sehen will. Reicht es nicht, dass in ihrer Gruppe, zwei ihrer Schützlingen Zehen amputiert werden mussten. Wir sind hier um Soldaten auszubilden und nicht um Kinder zu verkrüppeln und im Winter, hier draußen erfrieren zu lassen. Es sind heute Nacht minus 18°C und es weht ein eisiger Wind aus Richtung Norden. Was glauben sie eigentlich, wie lange das die Rekrutin überstanden hätte, ohne Schaden zu nehmen. Sprechen Sie und zwar sofort."

"So schnell erfriert die Dyba schon nicht, die ist fett genug", wählte er die falschen Worte für eine Rechtfertigung.

Senko sprang jetzt völlig aus dem Anzug. Der sonst eigentlich nette Schulleiter, der zwar sehr streng mit uns Rekruten um ginge, aber in uns immer noch Kinder sah, schüttelte den Kopf und sah Radujew wie einen Alien an. Der nächste Befehlt machte sogar Birgitt Angst.

"Ziehen sie sofort ihre Stiefel, ihre Jacke und ihr Hemd aus. SOFORT", brüllte Senko, dessen Stimme sich jetzt überschlug.

Ich kann mir das Gesicht von Radujew bildlich vorstellen, der mit allem, aber nicht mit dieser Art Bestrafung für das nicht befolgen eines Befehles, gerechnet hatte.

"Wird's bald Radujew? Oder muss ich ihnen helfen, yoptel-mopsel", Senko machten einen Schritt auf den Lehrer zu.

Notgedrungen zog sich Radujew aus und stand eine Minute später, nur noch in Hose, barfuß und einem Unterhemd auf unserem Hof. Er hielt seinem Nachbarn und seinem Saufkumpanen Ranjow, seine Sachen hin. Nur gut, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.

"So werde ich es ab jetzt, mit Jedem handhaben, der von mir gegebene, Befehle missachtet. Macht euch klar, eine Befehlsverweigerung lasse ich nicht mehr ungestraft durchgehen. Haben das jetzt alle verstanden oder brauchen noch mehr solch eine Lektion, damit ihr euer Gehirn wiederfindet. Die Schülerin hat von 22 Uhr bis kurz vor 3 Uhr hier gestanden. Das sind fünf ganze Stunden. Wenn das nicht so schlimm ist Genosse Radujew, dürfte es ihnen ja nicht schwer fallen bis 8 Uhr hier zu stehen", danach schwieg er.

Es herrschte eine zehnminütige unheimliche Stille, unten auf unseren Hof. Radujew zitterte schon nach dieser kurzen Zeit wie Espenlaub und klapperte hörbar mit den Zähnen, unter unserem Fenstern. Jedenfalls sagte das Senko, ziemlich laut.

"Wieso klappern sie mit ihren Zähen, Radujew. Ihnen ist doch nicht etwa schon kalt, Genosse. Sie stehen seit gerade einmal fünfzehn Minuten hier und sie sind wesentlich dicker als die Rekrutin und haben genügend Alkohol im Blut, um warm zu bleiben", lange sah er Radujew an, der langsam nüchtern wurde. "Verschwindet alle, sie auch Radujew und ich hoffe sehr für sie, dass sie ihre Lektion heute alle gelernt haben. ABTRETEN", gab Senko einen letzten Befehl.

Nur gut, dass er es nicht wahr gemacht hat mit dem bis um 8 Uhr auf dem Hof stehen, dann hätte ich morgen gleich meine Beerdigung anmelden können. Erleichtert atmete, nicht nur ich auf. Ich schaute kurz ins Zimmer hinein und sah dass alle noch munter waren.

"Legt euch hin und schlaft endlich", gab ich einen letzten leisen Befehl.

Aber ich glaube, ich war in dieser Nacht nicht die Einzige die schlecht schlief, wir machten uns alle, sehr große Sorgen was morgen auf uns zukam. Was Radujew sich wieder einfallen lassen würde, um uns für das zu bestrafen, was Senko verbockt hatte. Der morgige Tag würde für uns wieder einmal die Hölle werden.

Trotzdem musste ich zugeben, dass diese Art der Bestrafung Radujew irgendwie geholfen hatte. Jedenfalls, wurde er vorsichtiger, auf welche Weise er uns bestrafen konnte. Er überlegte sich, seit dieser denkwürdigen Nacht, jede Bestrafung zweimal. Auch seinen Alkoholkonsum schränkte er etwas ein, so dass er nicht mehr ganz so schlimm drauf war und wir ihn besser ertragen konnten. Zwar wurden wir nie Freunde und er zog mich immer wieder aus der Gruppe heraus, aber wenigstens blieben die Strafen in einem erträglichen Maße.

 *

Allerdings blieb es für den Rest meiner Schulzeit so, dass ich sehr oft auffiel und im Laufe der Jahre, war ich das Zielobjekt fast aller Lehrer und Betreuer. Warum ist einfach zu erklären. Ich nahm nicht jeden Befehl, den ich nicht verstand, einfach so hin. Oft fragte ich nach dem Warum, um den Sinn dieser Anweisungen zu verstehen. Auch wenn mir diese Fragerei, oft ein Stöhnen der Lehrer und vor allem meiner Kameraden einbrachte. Trotzdem lernten vor allem meine Leute sehr schnell, dass ich mit diesen Fragen halt Unklarheiten beseitigen wollte, die zum Teil auch in unserer Stube bestanden. Mit der Zeit, gewöhnten sich auch meine Kameraden an, nachzufragen, wenn etwas unklar war. Da mich die Lehrer ständig aus der Gruppe zogen, nur weil ich die Fragen meiner Freunde stellte. Irgendeinmal im Laufe des zweiten Schuljahres beschwerte ich mich darüber, bei meiner Stube und sie sahen ein, dass es ungerecht war, dass ich immer die Strafe, für das nicht verstehen eines Unterrichtsstoffes bekam. Aber es war halt wichtig, dass man das Warum verstehen musste, denn nur so konnte man es richtig machen. Wenn ich nicht verstehe, warum ein Befehl so und nicht anders lauten konnte, konnte ich diesen Befehlt nicht richtig ausführen. Dieses Nachfragen hielt zwar die Lehrer davon ab, zügig im Unterricht voran zu kommen. Trotzdem bewiesen wir, dass dieses Hinterfragen wichtig war. Denn in den halbjährlich durchgeführten Abschlusstests, waren wir in all den Jahren immer die Stube, die komplett und pünktlich ankam. Nie mussten die Betreuer und Lehrer nach uns suchen, weil wir Unfälle hatten oder aber uns einfach verlaufen hatten. Das wiederum zeigt ja alleine schon, wie wichtig dieses Hinterfragen war. Vor allem half es uns, Aufgaben besser unter den Mitgliedern unserer Stube zu verteilen.

Im Laufe des zweiten Schuljahres schafften wir es auch wieder als Team zusammen zu wachsen. Dadurch, dass ich wieder die Führung in der Gruppe übernommen hatte, kamen wieder konkrete und klare Ansagen. Wenn etwas falsch lief, diskutierten wir das aus und zogen unsere Lehren aus diesen Fehlern. Selten machten wir den gleichen Fehler, ein zweites Mal.

Kati hatte mich in meiner Abwesenheit zwar gut vertreten, aber sie hatte es nicht geschafft diese unterschiedlichen Charaktere, die ja bei fünfundzwanzig Kindern vorhanden sind, zu dirigieren. Vieles von dem was wir im ersten halben Jahr der ersten Klasse gemacht und festgelegt hatten, war verloren gegangen und vor allem hatten sich in der Stube "Nemetskiy" Grüppchen gebildet, die über die restliche Gruppe herrschen wollten. So wie es bei den Russen und Rumänen der Fall war. Schnell merkten alle in der Gruppe, dass es so noch viel schwerer war, die Tests durchzuführen. Deshalb baten sie mich, wieder Ordnung in den Gruppenalltag zu bringen. Schnell stellten wir gemeinsam die Gruppe wieder auf und der zweite Übungstest im ersten Halbjahr der zweiten Klasse lief wieder seinen gewohnten Gang. Wir waren also wieder ein eingespieltes Team. Dadurch schafften wir es wieder alle, pünktlich ans Ziel zu kommen, in dem wir uns gegenseitig halfen. Nicht jeder war bei jedem Test gut drauf. Wichtig war doch nur, dass wir alle ankamen und keiner irgendwo in der Walachei zurückgelassen wurde. Dass was die Betreuer sich eigentlich als Strafe für unsere Stube und für mich ausgedacht hatten, weckte in unserem Team riesengroße Kräfte und in mir, dem kleinsten der Mädchen. Vor allem weckte es in uns die Kameradschaft, die wichtig war, um zu überleben. Die Starken halfen den Schwächeren und stützten sie. Die Klügeren lernten mit den Leistungsschwächeren so lange, bis der Letzte es gleich gut konnte. Selbst beim Schwimmen halfen wir uns gegenseitig, denn nicht alle konnten das in der zweiten Klassen schon wirklich. Es gab einige von uns, die bis zum letzten Schuljahr Angst vor dem Wasser hatten. Aber auch die Kameraden, bekamen es hin, die zehn Kilometer zu schwimmen, die für unseren letzten Abschlusstest nötig waren. Die schlimmste Hürde, die wir allerdings überwinden mussten, war das Bauen von Seilbrücken, denn einige aus unserer Stube hatten extreme Angst vor der Höhe und konnten in Kaminen nur mit viel Hilfe klettern, da sie auch panische Angst vor der Enge hatten. All diese Herausforderungen, wurden von uns gemeistert. Wir halfen uns damit selber und unseren Angsthasen, die sich Zeit ließen und es erst nach und nach zu erlernten, ihre Ängste zu überwinden. Auch wenn die Fähigkeiten bis zum Ende unserer Schulzeit immer einen Niveauunterschied aufwiesen, konnten es alle auf ein gefordertes Level schaffen. Genau das war uns wichtig. Das brachte uns sogar im Laufe der Jahre ein Lob ein, das die Lehrer und Betreuer nur sehr selten verteilten.

Im ersten Halbjahrestest, hatten wir noch einige Probleme. Nicht jedes Mitglied unserer Stube, zog von uns mit am gleichen Strang. Einige machten damals noch ihr eigenes Ding. Allerdings, überschätzten gerade diese Einzelkämpfer oft ihre Kraft und wären um ein Haar nicht im Ziel angekommen. Da sie sich zu weit von der Gruppe entfernt hatten, musste wir sie damals suchen gehen, da sie an einer schwierigen Stelle falsch abgebogen waren. Deshalb kamen wir zwar als gesamte Gruppe viel zu spät zu Hause an, aber es war keiner aus der Stube zurückgelassen wurden.

Am Anfang wollte mir keiner aus unserer Stube bei der Suche helfen, nach den verloren gegangen Kameraden. Sie waren alle viel zu fertig und zu müde dazu. Deshalb ging ich alleine auf Suche und kam fast zwei Stunden später mit den Vermissten zurück. Die anderen hatten sich in dieser Zeit ausgeruht. Da mir keiner bei der Suche nach den Kameraden geholfen hatte, bekamen alle außer mir eine Strafe. Ich fand das gemein, denn genau das wollte ich verhindern, deshalb war ich auf die Suche nach den fehlenden Mitgliedern des Teams gegangen. Also stellte ich mich mit auf den Hof. Einfach, um zu zeigen, dass wir zusammen halten mussten. Auch, wenn mir diese Befehlsverweigerung, im Zimmer zu bleiben, eine zusätzliche Strafe ein brachte. Erstaunt war ich allerdings, als ich meine Hofstrafe angetreten hatte, dass meine Kameraden es mir gleich taten. Auch sie stellten sich zu mir auf den Hof. Von weiteren Strafen ließen die Betreuer dann ab, da es keinen Zweck mehr hatte. Dieser Keil den die Betreuer zwischen uns treiben wollten, war wirkungslos an uns vorbei gezogen und wir konnten den Zweifrontenkampf endlich a acta legen und waren als Team zusammen wachsen.

 *

Die Ferien im Winter vergingen wie im Flug. Die eine Woche die wir Ferien hatten, konnten wir nicht einmal richtig zu Hause ankommen. Kaum dass wir uns etwas umgestellt hatten, mussten wir schon wieder zurück in die Schule. Allerdings fiel uns dadurch die Wiedereingewöhnung nicht so schwer, wie in den Sommerferien. Ich wüsste auch nichts über diese und die nächsten Ferien zu berichten.

Mein Großvater hatte von diesen Ferien keine Notizen weiter gemacht und ich kann mich an nichts Gravierendes erinnern. Ich werde wohl die meiste Zeit mit ihm im Martinsgrund zugebracht haben und den Rest der Zeit hatte ich bestimmt verschlafen. Selbst während der Flüge gab es nichts, an dass ich mich erinnern konnte oder wollte. Es war alles eine graue Masse die verschwommen blieb, egal wie sehr ich mich um Erinnerungen bemühte.

 *

Eins wäre vielleicht Erwähnenswert, da es dazu einen großen Eintrag in dem Tagebuch meines Großvaters gab. In dem er sich tierisch über seine Tochter aufgeregt hatte. Den ich selbst, mit meinem jetzigen Wissen kaum verstand und nur mäßig interpretieren konnte. Ich vermute dass dieser Eintrag mit den Nachforschungen Petrows zu tun hatte.

Der Eintrag lautete wie folg:

  1. Dezember 1965

Es ist lange her, dass ich einen ausführlichen Eintrag in die Tagebücher für meine Charlotte gemacht hatte. Irgendwie, war mir die ganze Geschichte aus dem Fingern geglitten. Viel mehr wollte ich ihr berichten, über meine Zeit ohne sie. Aber irgendwann tritt wahrscheinlich in jedes Leben wieder Normalität ein. Das dachte ich bis heute jedenfalls. Selbst in mein verhunztes Leben.

War es denn nicht genug, dass wir unsere Söhne verloren hatten. Muss es jetzt auch noch unsere Tochter sein, die wir verlieren, da ihre Selbstsucht mit nichts zu übertreffen war. Lange kann ich mir diese unmenschliche Art, ihres Benehmens, nicht mehr mit ansehen. Was habe ich nur falsch gemacht in der Erziehung unserer Kinder. Diese Frage stelle ich mir wirklich jeden Abend vor dem Einschlafen.

Oder hatte meine Mutter doch Recht mit ihrer Behauptung: Es gäbe eine böse Ader in jeden Menschen, die man schon von Geburt an in sich trägt. Nur lernen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens, durch viel Liebe, diese böse Ader zu kontrollieren. Meine Mutter sagte das immer, wenn sie besonders bösartige Menschen traf. Sollte ich ihr nach all den Jahren doch Recht geben. Lange Zeit dachte ich, dass ich der einzige Mensch in meiner Familie war, der in jedem Menschen, das gute zum Vorschein bringen konnte. Scheinbar habe ich damit bei meiner eigenen Tochter völlig versagt. Dieser alte Glaube an das Böse in jedem Menschen herrschte in dem Volk der Manouches, seit ewigen Zeiten und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Meine Mutter erkannte jeden bösen Menschen an seinen Augen. Sie sagte immer zu mir: Trauen nie einem Menschen mit graublauen Augen, die sind hinterhältig und verdorben.

Sollte meine Mutter Recht behalten? Ich wollte das nie hören und auch nie wahr haben. Meine Klara ist so ein lieber Mensch und auch ich habe nie etwas Böses in meinem Leben getan, warum also ist meine Tochter solch ein Monster geworden? Lag es wirklich an der Augenfarbe. Ich wollte das nicht glauben, aber es stimmte Gitta hatte graublaue Augen. Mein Herz tut weh, wenn ich an Margitta denke.

Ich bin so verdammt wütend auf meine Tochter, dass ich ganz Gera zusammenschreien könnte und unsere Wohnung, am liebsten zu Kleinholz verarbeiten würde. Nur die flehenden Augen meiner Klara, halten mich davon ab, irgendetwas Dummes zu tun. Mit was hatten wir uns eigentlich das schlechte Benehmen unserer Tochter verdient. Das frage ich mich immer häufiger.

Gestern bekam ich auf Arbeit, einen Anruf von Gitta. Sie hätte da ein Problem, was sie dringend lösen müsste. Ob sie denn morgen Mittag einmal kurz bei uns vorbeikommen könnte, es würde nicht lange dauern. Ich hatte mich so auf unsere Tochter gefreut. Und ich gab mich der Hoffnung hin, dass sie endlich ihren Fehler eingesehen hätte und sich nach über einem Jahr bei uns, für ihr unmögliches Verhalten, entschuldigen wollte. Aber ich hatte mich so getäuscht. Aus dem endlich würde uns Gitta wieder einmal besuchen gekommen, wurde der nächste Schlag meiner Tochter, den sie tief unterhalb meiner Gürtellinie angesetzt hatte. Vor allem wusste sie nur zu genau, wie schwer sie mich mit ihrem Benehmen verletzte.

Was wird nur meine kleine Charlotte einmal über ihre Mutter denken wird, wenn sie diese Zeilen hier liest. Ich hatte so sehr gehofft, dass sich die Beziehung zwischen den beiden irgendwann normalisiert, wenn man Gitta nur genug Spielraum ließe, dass sie in ihre Rolle als Mutter hineinwachsen konnte.

In zwei Tagen ist das Weihnachtsfest, das wir wieder einmal alleine feiern, obwohl wir zwei Enkel und eine Tochter haben. Auf einmal tauchte Gitta wie aus der Versenkung auf. Hätte nicht jeder normale Mensch da an Versöhnung gedacht, so kurz vor dem heiligen Fest. Wie sehr wir uns doch getäuscht hatten.

 So wie Gitta es telefonisch angekündigt hatte, stand sie kurz nach 13 Uhr, bei uns vor der Tür. Ich hatte Klara extra nichts über den Anruf von Gitta erzählt, damit sie sich nicht für um sonst Hoffnung machte. Für meine Frau war es noch schlimmer, die Verwandlung unserer Tochter in eine Furie mit anzusehen. Wie sehr hätte ich mir eine Versöhnung mit unserer Tochter gewünscht. Aber es sollte wohl nicht sein.

Wir hatten uns eigentlich gefreut, unsere Tochter einmal wiederzusehen. Seit über einem Jahr herrschte Funkstille. Klara und ich hatten uns vorgenommen, das Thema Charlotte, dieses eine Mal totzuschweigen, einfach damit es nicht wieder zu einem Streit kam. Recht war mir das ehrlich gesagt nicht, denn ich wollte Gitta unbedingt von der schweren Kopfverletzung ihrer Tochter erzählen. Aber wir wollten in der Vorweihnachtszeit, einfach ein paar glückliche Stunden mit unserer Tochter verbringen.

Warum nur gönnt uns das niemand. Was haben wir verbrochen, umso bestraft zu werden. Warum nur hatte ausgerechnet unsere Tochter, so ein Herz aus Stein. Ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, meine Tochter noch zu ändern. Trotzdem muss ich, so glaube ich, endlich akzeptieren lernen, dass meine Tochter ein Scheusal ist. Sie verletzt mit ihrem bösartigen Verhalten nicht nur ihre Tochter und bringt sie in Lebensgefahr, sondern auch ihre Mutter und mich. Was soll ich nur tun? So viele Fragen schießen mir durch den Kopf. So macht das Leben überhaupt keinen Spaß mehr.

Wo ist die Liebe geblieben, die ich all die Jahre, in meine Kinder investiert hatte. Schon in der Bibel hieß es, dass nur der Liebe bekommt, der Liebe gesät hat. Wo ist die Liebe geblieben, die ich in all den Jahren, in unseren Kindern gesät habe. Alles ist kaputt und zerstört und ich begreife nicht warum. Aber lassen wir das, das Buch hier wird mir keine Antwort geben.

Leider hatte es nicht viel genutzt, dass wir das Thema Charlotte totschweigen wollten. Den Streit trat Gitta selber los. Wenn ich ehrlich war, ich konnte meine Tochter, so viel ich mir Mühe gab, mit jedem Jahr das verging weniger verstehen.

Sie kam schon wutentbrannt Treppe hoch, als sie uns besuchte. Das hörte ich an der Art, wie sie die Treppen nach oben gestiegen war. Es kam von Gitta kein guten Tag und kein wie geht es euch, sie wollte nur ihren Frust bei uns abladen. Zu mehr waren wir scheinbar nicht mehr gut. Wütend erzählte sie uns, sie hätte sich gestern Mittag, mit ihrem Max gestritten. Der wolle unbedingt in den kommenden Sommerferien, seine jüngste Tochter mit in den Urlaub nehmen. Sie hätte von ihm regelrecht den Befehl bekommen, sich nach diesem abartigen Balg zu erkundigen und wäre hier, um zu fragen, wann Charlotte in den Sommerferien nach Deutschland käme.

Darauf fragte ich meine Tochter: "Interessiert es dich überhaupt wie es Charlotte geht und wie sie die Schule geschafft hat. Ob sie gesund und munter ist, vor allem wie es deine Tochter geht?"

Abwinkend schüttelte sie den Kopf und erklärte mir allen Ernstes: "Ich fragte mich allen Ernstes, wieso ich mir die Mühe gemacht habe, das Balg so weit wegzuschicken, wie es ging, wenn sie es jetzt doch noch an der Backe hatte. Mir passt es überhaupt nicht, dass wir sie im Sommer mitnehmen sollen. Ich wollte mit Max eigentlich nach Russland fahren und drei Wochen in Sotchi am Schwarzen Meer verbringen. All meine Beziehung habe sie spielen lassen, um diesen Urlaubsplatz zu bekommen", wütend sah sie mich an.

Als ob ich daran etwas ändern könnte. Sie wollte doch ein Kind und nicht wir. Ich fragte sie und blickte ihr Lange in die Augen: Worin besteht denn dein Problem? Am Meer könnte sich Charlotte doch gut erholen und vor allem gut alleine beschäftigen und vor allem hast du dann gleich einen Dolmetscher, da deine Tochter fließend Russisch sprach", zählte ich ihr die Vorteile auf. Weil ich einfach nicht verstand, wo Gittas Problem lag und worum es bei ihrem Problem überhaupt ging.

Gitta sprang total aus dem Anzug:"Hast du mir nicht denn überhaupt nicht zugehört, Vater. Dieses verdammte Balg ist mein Problem. Ich will Urlaub machen und mich erholen. Wenn ich da eins nicht gebrauchen kann, ist ein quengeltes und nervendes Kind, was mir am Rockzipfel hängt."

"Gitta was hat dir Lotty eigentlich getan? Verrate es mir. Weißt du eigentlich, dass man deine Tochter in der ersten Woche fast totgeschlagen hätte."

Statt einem erschrockenen Gesicht bekam ich folgendes zu hören: "Da siehst du mal, wie anstrengend dieses Balg ist, dass sie sogar ihre Lehrer zum Ausflippen bringt."

Kopfschüttelnd und geschockt sah ich unsere Tochter an. "Mehr hast du dazu nicht zu sagen, Gitta? Deine Tochter hat für den Rest ihres Lebens mit den Folgen zu kämpfen. Ihr gesamter Kopf ist voller Narben, ihr Unterkiefer ist völlig zerstört und das Jochbein ebenfalls. Interessiert es dich überhaupt, wie es deiner Tochter geht?"

"Da siehst du mal, Vater, jetzt ist es nicht nur nervig mit ihr, sondern sie ist jetzt das Monster äußerlich, was sie innerlich schon lange ist", war die einzige Bemerkung, die ich zu diesem Thema bekam und setzte noch kurz nach, als ob das eben gehörte mir nicht gereicht hätte. "Jetzt soll ich dieses Monster auch noch mit in den Urlaub nehmen. Nie im Leben, kann das einer von mir verlangen", genüsslich trank Gitta ihren Kaffee, ohne sich anmerken zu lassen, dass es sie geschockt hätte, was sie von mir gerade erfahren hat.

Nach einer weiteren Tasse Kaffee, kam sie endlich mit der Wahrheit ans Licht. Sie erklärte uns, dass Max Probleme mit seiner Ex Frau bekommen hätte, da Mitarbeiter der Abteilung Kader und Bildung in Berlin, Erkundigungen über Max, bei seiner Ex Frau eingezogen hätten. Sie wollten von ihr wissen, wie er sich gegenüber seinen leiblichen Kindern verhielt, als sie noch klein waren und wie er sich heute ihnen gegenüber verhält. Er hätte ja drei. Seine Ex korrigierte erst einmal die Zahl der Kinder auf zwei herunter. Vor allem konnte sie nichts Schlechtes über ihn sagen, er hätte sich immer gut um seine beiden Kinder kümmern. Vor allem hätte er die besprochenen Besuchszeiten, trotz seines schwierigen Berufes, auch stets einhalten. Selbst jetzt würde sich ihr Ex, noch um seine Kinder bemühen, obwohl seine beiden Kinder schon erwachsen, 24 und 26 Jahre alt wären, und selber Kinder hätten. Deshalb stellte Max Exfrau die Frage, warum dass den Mitarbeiter aus Berlin interessiere. Es gäbe doch keine weiteren Kinder, so viel sie wüsste, gäbe es in der momentanen Ehe keine Kinder. Erst durch die Fragen der Berliner Beamten, mussten Maximilians Ex Frau und ihr neuer Mann erfahren, dass es eine weitere Tochter gab und sie wüsste jetzt gern einmal, was da los sei. Wieso sie noch nie von dem Mädchen gehört habe. Vor allem warum die kleine bei nicht einem einzigen Besuch von Max und Gitta, dabei gewesen war. Es wären über fünfzig Besuche durch die beiden in den letzten fünf Jahren gewesen. Vor allem verlange sie eine Erklärung, wieso man die Kleine fern ab der Heimat, in die Schule schicken würde. Wieso sich Max erdreistet seine Tochter derart abzuschieben. Max Exfrau wolle die Kleine sofort kennen lernen. Deshalb habe sie ihren jetzigen Mann darum gebeten, der genauso entsetzt über diese Tatsache war, wie sie selber, zusammen mit der Kleinen einen Urlaub zu machen. Max habe eingewilligt, damit es zu keinen Streit kam. Seine Ex Frau bestand darauf, dass sich die Geschwister endlich einmal kennen lernen sollten. Immerhin wäre die Kleine jetzt fast sieben Jahre alt und hätte ein Recht ihre Geschwister zu kennen. Sie konnte es absolut nicht nachvollziehen, wenn man zeitliche Probleme gehabt hätte mit der Arbeit, dann hätte ein Wort von Max genügt und sie hätten sich um die Kleine gekümmert. Er, Max, wüsste doch nur zu genau, dass sie Kinder über alles liebe und schon vier Kinder adoptiert hätte. Es wäre kein Problem gewesen, ein fünftes an Kindesstatt anzunehmen. Wieso also musste ein so kleines Mädchen, tausende Kilometer weg in die Schule gehen und noch dazu in einem Land, in dem sie nicht einmal die Sprache kannte. Richtig böse war Max Ex Frau am Telefon geworden und hatte ihm damit gedroht, das er nie wieder zu seinen Kindern fahren bräuchte, wenn er nicht bald dafür sorge trug, dass sie ihre Geschwister kennen lernen könnte.

Wütend sah mich Gitta an und wollte von mir wissen, wieso ich mich schon wieder in ihr Leben einmischen würde. Sprachlos wie ich von dem gerade gehörten war, konnte ich gar nichts sagen. Max Ex Frau hatte mehr Herz in der Brust, als Charlottes Eltern zusammen. Vor allem war ich mir keiner Schuld bewusst, weder ich noch Klara, hatten uns in ihr Leben eingemischt und schon gar nicht hatten wir Jemand auf unsere Tochter gehetzt. Ich starrte Gitta wie einen Alien an und konnte gar nicht auf Gittas Vorwürfe reagieren. Mein Schweigen schob Gitta auf mein schlechtes Gewissen, was ich ihrer verschrobenen Meinung nach haben müsste. Wütend schrie sie mich darauf an.

"Wenn du nicht aufhörst, dich ständig in mein Leben einzumischen, werdet ihr mich hier gar nicht mehr zu sehen bekommen. Dann seid ihr selber schuld, wenn ihr hier mal sehr einsam sterbt", schrie sie mich an, drehte sich um und verließ, Türen knallend unsere Wohnung.

  1. Januar 1966

Ich war immer völlig geplättet und mein Herz tat mir schrecklich weh, wenn ich an die vergangen zwei Wochen denke, fing mein Herz wieder an zu rasen und schlug bis hoch in den Kopf. Sobald ich an dieses Gespräch zurück denke, fange ich am ganzen Körper an zu zittern. Ich glaube meiner Frau geht es ähnlich. Oft nahm ich meine Klara in den letzten Tagen in meinen Arm und ließ sie einfach weinen. Was hätte ich ihr aufmunternd sagen sollen. Dass alles wieder gut werden würde. Das konnte es nicht mehr werden, dieses Mal war ich es, der nicht mehr verzeihen wollte. Auch Lotty hatte Rechte und nicht nur unsere Tochter. So bösartig wie unsere Tochter sich verhält, kann und will ich ihr nicht mehr verzeihen. Nun habe ich auch noch mein letztes Kind verloren. Mich mach das alles unendlich traurig. Es ist das zweite Jahr in Folge, dass wir keinen Weihnachtsbaum geschmückt hatten und wir ließen Weihnachten einfach ausfallen. Was hätten wir uns schenken sollen. Der größte Wunsch unsere Gitta zurückzubekommen, ließ sich nicht erfüllen. Wir schrieben auch dieses Jahr keine Weihnachtskarten an Verwandte und Bekannte und verbrachten, das heilige Fest alleine und verdammt einsam in unserer stillen Wohnung. Hoffnungslosigkeit machte sich in uns breit und nur ein Gedanke hielt uns am Leben: Wir hatten unserer kleinen Lotty versprochen immer für sie da zu sein, wann immer sie aus der Schule kam. Wenigstens diesem kleinen Mädchen, das unsere Enkeltochter war, wollten wir ihren Wunsch nach einem Zuhause erfüllen. Wir durften und konnten sie nicht enttäuschen.

 *

Das war der letzte Eintrag für vier lange Wochen, die mein Großvater in sein Tagebuch geschrieben hatte. Wie sehr ihn das Benehmen seiner Tochter getroffen hatte, zeigten mir seine Tagebücher. Die Seiten auf die er diese Zeilen schrieben, das hatte mir Micha als Randnotiz hinterlassen, waren kaum leserlich, da sehr viele Tränen dabei geflossen sein mussten. Ich denke mein Großvater brauchte ewig lange, bis er diese Auseinandersetzung mit seiner Tochter verkraftet hatte.

Ich bekam nichts von all dem mit. Als ich Ende Januar 1966 nach Hause kam, ließen sich meine Großeltern nichts anmerken. Jedenfalls ist mir davon nichts in Erinnerung geblieben. Das Einzige, was mir in Erinnerung blieb, war das mein Großvater mich fragte, ob er mich einmal mit und einmal ohne mein Tuch fotografieren dürfte. Natürlich durfte er das, ich hätte ihm nie einen einzigen Wunsch abgeschlagen. Als ich in den nächsten Ferien, also Ende Juli 1966, nach Hause kam, standen beide Fotos eingerahmt in der Vitrine. Ich bat meinen Großvater, er möchte das Bild ohne Tuch, bitte wegnehmen. Es würde nur jeden erschrecken, der es sah. Er ging an die Vitrine und drehte es um, so dass ich das Bild nicht mehr sehen musste. Als ich ihn fragte, warum er dieses hässliche Bild dort stehen ließ, erklärte er mir:

"Lotty, du bist auf den Bild nicht hässlich. Du bist wunderschön, mit und ohne dein Tuch, denn du bist darauf nur du selbst. Du bist um vieles hübscher, als andere Mädchen die ich kenne. Deine Narben auf den Kopf, erinnern mich täglich daran, besonders auf Kinder aufzupassen. Damit man nie wieder jemand, ein Kind so behandelt wie dich."

Ich weinte damals, sehr lange. Obwohl ich heute noch der Meinung bin, dass ich damals nicht alles verstanden hatte, was er mir damit sagen wollte. Aber ich begriff den tieferen Sinn, sehr wohl und ich war gerade einmal sieben Jahre alt. Jedenfalls, so erzählte es mir meine Großmutter viele Jahre später immer wieder, bin ich vom Schoss meinen Großvaters gesprungen und habe das Bild wieder ordentlich hingestellt. Von diesem Tag an, trug ich in der Wohnung meines Großvaters nie wieder ein Tuch. Ich wusste er liebt mich auch genau so, mit meinen Narben, wie er es ohne auch schon getan hatte. Nur wenn wir rausgingen, setzte ich das Tuch noch auf und das blieb mein Leben lang so.

Noch deutlicher wurde mir seine Ansage, durch das, was ich aus all den Tagebüchern erfahren hatte. Ich begreife durch diesen Satz, der sich tief in mir eingebrannt hat, wie sehr mein Großvater, von seiner Tochter enttäuscht war. Vor allem wie sehr er mich geliebt hat. Dass er mich trotz meiner Narben hübscher fand, als seine bildhübsche Tochter, die in der Vitrine genau neben mir stand, nur das sie auf dem Bild ein oder zwei Jahre älter als ich war. Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Erzeugerin meinem Großvater das Herz gebrochen hatte und er nie wirklich über diesen Streit hinweg gekommen war. Dass er gestorben wäre, an der Demütigung durch seine eigene Tochter, wenn er mir nicht ein Versprechen gegeben hätte. Er wollte sein Versprechen, immer für mich da zu sein wenn ich aus der Schule kam, unbedingt halten. Ich habe im Laufe meines Lebens genügend alte Menschen kennen gelernt, die wegen geringerer Enttäuschungen gestorben waren. Heute begreife ich erst richtig, wie sehr mein Großvater, um mich gekämpft hatte. Es macht mir klar, was er für mich geopfert hatte. Ich bin heute stolz darauf seine Enkelin zu sein. Er ist und bleibt mein größtes Vorbild.

 *

Viel mehr kann ich über dieses zweite Jahr gar nicht berichten. Außer, dass meine beste Freundin Birgitt, am Ende des zweiten Schuljahres ernste gesundheitliche Probleme bekam.

Es fing im Frühjahr an, als ihr Husten nicht mehr richtig wegging und immer hartnäckiger und heftiger wurde. Vor allem hatte sie ständig hohes Fieber. Sie konnte kaum noch beim Training mithalten, deshalb nahm sie Doktor Konrad unter seine Fittiche. Er wollte die Ursachen des Fiebers und des Hustens heraus finden. Mitte April 1966 fingen die Beschwerden, erst richtig an. Birgitt nahm ständig ab. Egal, was ihr Dunja zu essen gab, sie wurde immer weniger. Birgitt kam nach drüben, ins andere Haus, und blieb über sieben Wochen auf der Krankenstation. Das Schlimmste für mich war, das niemand zu ihr durfte. Es brach mir das Herz, das sie so alleine war. Auch wenn Dunja einer der liebsten Menschen war, die ich in meiner Kindheit kennen gelernt hatte. Ich weiß wie schlimm diese Isolation sein konnte, denn ich hatte sie zweimal im ersten Schuljahr erlebt.

Heute weiß ich, dass sie an der Schwindsucht erkrankt war. Als erstes musste geklärt werden, ob sie ansteckend ist oder nicht. Als wir Ende Juli den Test machten und im Anschluss nach Hause flogen, fehlte meine Freundin, denn sie war in eine Spezialklinik eingewiesen wurden. Mich machte ihr Fehlen wahnsinnig, auch weil mir niemand sagen wollte, was mit Birgitt los war. Ich machte mir wirklich Sorgen um sie, nicht nur weil sie die ganze Zeit mein Ruhepol gewesen war. Sie war mein Herz, mein Gewissen und mein Rückhalt in den ersten zwei Jahren meiner Schulzeit. Ich begriff nach der ersten Stunde ihres Weggangs, dass sie für mich wie ein Spiegel war, der mir aufzeigte was ich falsch gemacht hatte. Genauer kann ich das beim besten Willen nicht erklären. Die ersten Tage, nach ihren Weggang, war es mir, als hätte man mich zusammen geschlagen. Mit mir war einfach nichts anzufangen. Ich passte im Unterricht nicht auf und war beim Training absolut nicht bei der Sache. Ich war unvollständig und ich fühlte mich so einsam und allein. Ich schlief kaum noch und obwohl ich hungrig war, schmeckte mir nicht mal mehr mein Brot. Ich weiß selber wie blöd das heute klingt, aber es war so und wenn ich an sie zurück denke, steigt immer wieder dieses Gefühl in mir auf und ich bekomme Tränen in die Augen. Ich kämpfe hart gegen meine Emotionen.

 *

Als ich nach den Ferien, zurück an den Bahnhof kam, erschrak ich mich sehr, als ich meine Freundin wieder sah. Ich hatte sie fast zehn Wochen nicht gesehen. Als ich sie erblickte, brach es mir mein Herz. Ich war zwar nur ein Kind von siebeneinhalb Jahren, aber selbst ich sah, dass mit meiner Freundin irgendetwas, mächtig gewaltig schief lief. Auch wenn ich nicht in Worten fassen konnte, was hier schief lief. Vor allem aber nicht, das Ausmaß der Veränderung ihres Aussehens, genau erfassen konnte. Ich begriff sofort, dass hier etwas gewaltig schief lief. Sie war völlig abgemagert und war ständig am Husten. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, alles so zu tun, wie es vorgeschrieben war, ging ich als der Bus da war auf meinen Lehrer zu und salutierte und bat ihn darum, frei sprechen zu dürfen. Petrow, der wohl ahnte, dass ich mir Sorgen um meine Freundin machte, erlaubte mir das freie Sprechen.

"Genosse Petrow, könnten wir die Rekrutin Mühle nicht hier in Gera lassen, bis sie wieder gesund ist? So kann sie doch nicht trainieren."

Petrow sah mich lange an und machte etwas dass er noch nie gemacht hatte. Er hockte sich vor mich hin und erklärte mir folgendes. "Charlotte, es ist der ausdrückliche Wunsch der Rekrutin, zurück an die Schule zu dürfen. Der gleiche Gedanke, der dir gekommen ist, kam auch mir. Aber Birgitt möchte gern zurück, ich denke wir sollten ihr diesen Wunsch erfüllen."

Damals konnte ich nicht erfassen, was mir Petrow damit sagen wollte. Ich sah nur wütend zu Birgitts Eltern, die zuließen, dass ihre Tochter in diesem schlechten Gesundheitszustand, zurück in die Hölle musste. Wie hätte ich das auch verstehen können. Ich war zwar nicht dumm, aber ich war weder ein Psychologe, noch ein Arzt, noch war ich erwachsen genug um das zu begreifen. Aber ich konnte eins und eins zusammenzählen und ich konnte mir ausrechnen, dass das alles nicht gut gehen konnte. Ich nahm also meiner Freundin die Tasche ab und führte sie zum Bus, um mit ihr zurück in unsere Schule zu fahren. Manchmal denke ich heute, ich hätte mehr dagegen tun müssen. Vielleicht wäre sie dann heute noch am Leben. Aber damals, hätte ich mir das gar nicht getraut. Ich glaube ich war so geschockt von dem Aussehen meiner Freundin, dass ich mich nicht einmal von meinem Großvater verabschiedet hatte. Es war uns immer befohlen vor dem Einstieg in den Bus, vor den anwesenden Erwachsenen zu salutieren.

 *

Ich war ein kleines Mädchen, von noch nicht einmal sieben Jahren, als meine beste Freundin das letzte Mal mit mir in die Schule fuhr und war in einer völligen Ausnahme Situation.

Heute noch frage ich mich, wie sie so schwer erkranken konnte und warum wir anderen Kinder nicht ebenfalls an der Schwindsucht erkrankt waren. Ich nehme auch heute noch an, dass sie an den Folgen unseres Martyriums starb und sich deshalb diese schlimme Krankheit zu gezogen hatte. Birgitt war zwar ein kräftiges und großes Mädchen, aber sie war schon immer schnell erkältet und die zwei Jahre die sie in unserer Schule lebte, waren alles, aber bestimmt nicht Gesundheitsfördernd. Die Maßnahmen der Lehrer und Betreuer sollten uns zwar abhärten, das ja, aber sie sollten uns nicht zugrunde richten. Es ist aber leider so, dass wir alle mehr oder weniger Schaden genommen hatten. Bei den einen waren es psysische Störungen und bei Birgitt, schlug es auf den Körper. Vor allem ist es ja so, wenn man sieben Jahre alt war, so wie wir, dann waren zwei Jahre eine Ewigkeit. Vor allem, wenn man so aufwuchs, wie wir.

Birgitt war mein Leben, sie half mir und ich half ihr. Wegen ihr legte ich mich mit meinen Lehrern an und hielt die Bestrafungen ohne Murren aus, nur damit sie nicht auf den Hof musste, denn eine Nacht Hof reichte selbst im Sommer aus, dass sie sich erkältete.

Birgitt und ich hatten immer alles zusammen gemacht. Wir weinten zusammen, wir aßen zusammen, wir lernten zusammen. Vor allem, halfen wir uns immer gegenseitig. Wir waren beide am Anfang die Außenseiter in der Klasse, diejenigen die immer im Abseits standen. Diejenigen, die man nur mit viel Kampf akzeptiert wurden. Die am Anfang der ersten Klasse eine Außenseiterposition inne hatten und die weder von unseren Kameraden, noch von den Lehrern beachtet wurden. Trotzdem sich Birgitt am Anfang der ersten Klasse für ihre Kameraden eingesetzt hatte, wurde sie bald in eine Ecke gedrängt, da sie einfach nicht die Ellenbogen hatte um sich Anerkennung zu verschaffen. Sie war gut in allem was sie tat, aber sie war wie ich, eine Träumerin, die sich ihre heile Welt zusammen träumte.

Als ich Mitte Oktober 65 das erste Mal nach unten in unsere Stube kam, träumten wir zusammen, von einer heilen Welt. In der wir lachen durften, wir barfuss über die Wiese laufen konnten, um Schmetterlinge zu fangen. Wir standen oftmals, wie verzaubert am Fenster unseres Aufenthaltsraumes und sahen Ewigkeiten einem Marienkäfer zu. Vergaßen dabei alle Zeit. Träumten uns hinaus in die Welt, vor die Gitterstäbe. Flogen auf unseren Käfern, in unsere Freiheit. In dieser unsere Freiheit, konnte uns keine verletzen. Dort fügte uns keiner Schmerzen zu. In dieser unserer Freiheit, waren wir die Starken. Wir waren diejenigen, die jedem die Stirn boten, der uns verletzen und vor allem demütigen tun wollte.

 *

Dann kam der 24. Dezember 1966, jeden Tag saß ich seit über vier Monaten an Birgitts Bett. Jede Minute die mich unsere Erzieher ließen, verbrachte ich mit meiner besten Freundin. Ich wollte sie nicht alleine lassen. Wenn andere sich ausruhten oder Freizeiten hatten, bettelte ich solange, bis man mich zu ihr ließ. Dann saß ich an ihrem Bett und erzählte ihr selber erfunden Geschichten. Nur, um sie lächeln zu sehen.

An diesem Tag kamen Birgitts Eltern. Niemals waren Eltern, von jemanden in unsere Schule gekommen. Noch nie, bekam jemand von uns Besuch. Ich glaube ich ahnte, was das zu bedeuten hatte. Man schickte mich aus dem Zimmer. Ich wollte nicht gehen. Ich hielt Birgitts Hand fest, denn ihr ging es an diesem Tag besonders schlecht. Aber weder Birgitt noch ich hatten Rechte. Ich wurde von den Erziehern einfach weggeschleift. Ohne Rücksicht darauf, dass man mich verletzte. Man fragte Birgitt nicht, ob ich bleiben sollte und man fragte mich nicht. Man fragte auch nicht Birgitts Eltern, ob sie mich dulden wollten.

Man befahl mir einfach. „Rekrut Dyba du gehst und zwar sofort.“

Das war das erste Mal in den zwei Jahren, dass ich einem Befehl nicht gehorchte. Ich ahnte oder spürte, dass ich sie nie wieder sehen würde. Auch wenn ich damals nicht begriff, was sterben hieß. Ich wollte nicht, dass meine beste Freundin allein war. Ich hatte es ihr mehr als nur einmal versprochen. Aber. Was hatte ich, als siebenjährige schon für Rechte? Ich gehörte ja nicht einmal zur Familie.

Was hatte ich also für eine Chance mich zu wehren? Gegen sie Erwachsenen und  Lehrer. Ich kam Kräftemäßig doch gar nicht gegen diese Menschen an, ich wog nur achtundzwanzig Kilo. Ich hatte also keine Chance mich gegen diesen Befehl zu stellen, so sehr es mir auch mein Herz zerriss.

Einer der Lehrer packte mich und hob mich einfach hoch. Egal, wie sehr ich mich wehrte. Sie zerrten, schleiften mich, halb tragend, aus dem Raum. Es half nicht, dass ich um mich trat, um mich schlug und um mich biss. Ich wurde einfach weggezerrt. Wie eine Puppe, die keinerlei Gefühle hat. Dabei wollte ich nur bei Birgitt sein und sie nicht alleine lassen. Ich wollte nichts weiter, als nur ihre Hand halten. Das schlimmste daran war:

Birgitt starb ohne mich, (nur) im Beisein ihrer Eltern und ich hatte sie im Stich gelassen.

Ihr Tod riss mein Herz entzwei. Ich wollte zu Birgitt. Ich wollte nur noch sterben. Ich zog mich ganz in mich selber zurück. Mir war mit einem Schlag, meine Aufgabe als Gruppenführerin nicht mehr wichtig. Selbst das Versprechen an meinen Großvater schob ich bei Seite. Ich wollte einfach aufgeben. Ich hatte keine Kraft mehr zu kämpfen, denn ich hatte hauptsächlich für Birgitt gekämpft, das wurde mir schnell klar. Ich hatte den Sinn des Lebens verloren. Birgitt war mein Sinn, sie war mein Leben. Sie zu beschützen, hatte ich mir zur Lebensaufgabe gemacht. Aber, ich hatte versagt.

Das klingt heute banal, kindisch und albern. Damals empfand ich es so. Selbst heute, nach fünfundvierzig Jahren, während ich diese Zeilen niederschreibe, kommt dieser Schmerz wieder nach oben. Es tut nach dieser langen Zeit genau noch so weh. Vor allem, ergreift mich wieder diese endlose Wut auf mich selber, weil ich sie nicht besser beschützen konnte. Obwohl ich heute weiß, ich hätte sie nicht beschützen können. Wie denn auch? Ich war erst sieben Jahre alt. Ich war zwar nicht dumm, aber alles konnte ich damals noch nicht verstehen.

 *

Am nächsten Morgen war sie weg. Sie war für immer weg. Sie hatte mich einfach verlassen. Sie hatte mich einfach im Stich gelassen. Der Tod von Birgitt, brach mir mein Herz.

Ich war auf Birgitt wütend. Ich war, auf meine Lehrer wütend. Ich war auf meine Klassenkameraden wütend. Aber, ich war auch auf Birgitts Eltern wütend. Ich war wütend auf Gott und die Welt. Vor allem aber war ich auf mich wütend.

Ich hörte am 24. Dezember auf zu reden. Eine verdammt lange Zeit, sprach mit niemand mehr ein Wort. Alles, was man mir sagte, tat ich, wie ein Roboter. Jede Trainingsaufgabe erfüllte ich zu hundert Prozent. Aber ich erfüllte meine Pflichten ohne zu sprechen. Ich gab den Lehrern keine Antworten mehr auf ihre Fragen. Bekam dafür Strafen. Es war mir egal. Sollten sie mich bestrafen, vielleicht konnte ich dann sterben, waren damals meine Gedanken. Leider hatte ich einen einzigen Fehler, ich war einfach zu stark. Jede Strafe tat mir weh. Jedes Schweigen brachte mir Ärger. Egal was ich auch machte, ich konnte Birgitt einfach nicht folgen. Ich wollte so gern sterben, um wieder bei ihr zu sein, aber ich schaffte es nicht. Ich wollte doch nur zu ihr, wollte ihr nahe sein. Ich begriff nicht, wie dumm ich war. Wie sehr ich mir selber damit eigentlich schadete.

Jede freie Minute, saß ich auf Birgitts Bett. Nur, um ihr nahe zu sein und das Gefühl zu haben, sie kommt gleich wieder. Ohne auch nur eine Träne zu weinen. Bis man Birgitts Bett, aus unserem Schlafsaal entfernte. In der Hoffnung, dass mir das helfen würde. Über deren Tod hinweg zu kommen.

Als wenn das so einfach wäre. Nach dem Entfernen des Bettes, saß ich auf der Stelle, an der Birgitts Bett gestanden hatte. Ich setzte mich einfach auf den Boden. Im Schneidersitz, schaukelte vor und zurück, über Stunden. Bis man mir den Befehl gab, ins Bett zu gehen. Nachts, wenn alle schliefen, stand ich auf und ging wieder zu der Stelle, nur um ihr nah zu sein. Ich legte mich einfach an dieser Stelle auf den Boden und schlief dort, ohne Decke. Unsere Betreuer versuchten alles. Aber nichts half. Mein Herz blutete weiter, aber ich blutete nicht aus. In der ersten Woche des neuen Jahres, wurde Birgitt beerdigt. Ich war so voller Wut, so voller Hass.

Während der Trauerfeier, mussten wir alle am geschlossenen Sarg vorbei gehen. Dann sollten wir Birgitts Eltern, unser Beileid aussprechen. Bekamen schon Tage vorher gesagt, was wir zu sagen haben und wie wir uns zu verhalten hätten. Alle haben geweint. Ich weigerte mich. Für mich war Birgitt nicht tot, sie war nur irgendwo hingegangen, wo ich nicht hingehen konnte. Diese Weigerung, brachte mir viel Ärger ein. Es war mir egal. Ich musste zu Doktor Konrad zu verschiedenen Gesprächen, aber nichts half. Ich hatte dicht gemacht, so wie ich es öfters in meinem Leben machte. Ich verstand das WARUM nicht. Manchmal denke ich, dass ich Birgitts Tod eher verkraftet hätte, wenn man mich da gelassen hätte und ich hätte "sehen" können wie sie starb. Dann hätte ich einen Abschluss gehabt, den ich begreifen konnte. So wie es die Erwachsenen gemacht hatten, stürzten sie mich ins Ungewisse. Wahrscheinlich wollten sie mir damit gar nicht schaden, denn Doktor Konrad war ein wirklich guter Mensch. Aber als Psychologe hätte er diese meine Reaktion voraussehen müssen. Er kannte mich besser als jeder anderer in der Schule und er kannte auch mein Verhältnis dass ich zu Birgitt hatte.

All diejenigen, die Birgitt und mich ständig belächelt hatten, wenn wir uns wieder einmal aus der Schule wegträumten. All diejenigen, die uns beide ständig aufgezogen, geschuppst und bei den Erziehern verpetzt hatten, wenn wir wieder einmal träumend in der Gegend herum standen. All diejenigen die stets ihren Kampf gegen uns führten, standen da und weinten sich die Seele aus dem Leib.

Damals war ich so vermessen zu behaupten, dass nur ich sie geliebt und verstanden hatte und dass nur ich Birgitt wirklich mochte. Sie war einzig und alleine meine Freundin. Nur ich hatte sie wirklich geliebt.

Verdammt, ich war noch nicht einmal acht Jahre alt. Ich begriff nichts von dem, was da vor sich ging. Keiner, nicht einmal Dunja oder der Doktor nahmen sich Zeit, um es mir zu erklären. Keiner versuchte sich in mich hinein zu versetzen und zu begreifen, was mich zu meinem Verhalten trieb. Jeder sah nur, dass da ein Kind war, was auf Konfrontationskurs ging. Jeder sah nur, dass ich mich verweigerte. Es fragte keiner, nach dem warum. Es war also kein Wunder, dass die Dinge dann außer Kontrolle gerieten. Das Einzigste, was nämlich passierte war, dass diese unsagbare Wut die mit jedem Tag verging in mir immer größer wurde. Der Hass wurde genährt, von dem Unverstand eines wütenden Kindes. Eines Kindes, das einfach nicht begriff, warum man das nicht verhindert hatte. Warum man Birgitt sterben ließ. Ich war so wütend, war so voller Hass auf diese Menschen, dass ich nicht einmal mehr weinen konnte. 

Mitleid, hatten wir nie kennen gelernt. Mitleid, hatten wir, in dieser Schule nie erlebt. Weder Verständnis, noch weniger Liebe brachte man uns entgegen. Das bisschen dass ich bekam, war leicht zu verdrängen. Das Einzige, was wir in diesen zwei Jahren lernten, war der absolute Gehorsam. Was davor war? Das hatten wir längst vergessen. Die zwei Wochen Ferien, hatten nicht gereicht, um das zu reparieren, was diese Leherer an unseren Seelen kaputt gemacht hatten. So war es kein Wunder, dass in mir nur noch Hass war. Ich konnte einfach nicht verstehen, was damals geschah. Es passte nicht in die Welt, in der ich lebte. Wieso weinten unsere Klassenkameraden, die Betreuer, all die Menschen, die uns nicht mochten. Die uns in dieser Schule quälten? Ich verstand alles um mich herum einfach nicht. Ich wollte nur, dass es aufhörte, so schlimm weh zu tun. Das dieses Brennen in mir endlich nicht mehr da war und diese Leere die ich spürte, sich endlich wieder füllte. Aber dieser Wunsch blieb unerfüllt. Deshalb passierte dann genau das, was immer passierte, wenn der Druck zu groß wird. Die Wut und der Hass suchten sich einen Weg nach draußen und traf genau die verkehrten Menschen. Aber der Duck in mir wurde so groß, dass ich ihn nicht mehr steuern konnte. Ich explodierte im ungeeignetsten Moment wie eine Bombe.

Ich flippte während Birgitts Beerdigung völlig aus. Ich tat Dinge, für die ich mich heute noch schäme. Aber, die aus der damaligen Sicht, der einzig richtige Weg waren, den ich aus meiner verkorksten Sicht gehen musste. Seit dem besuchte ich nur noch Beerdigungen die ich per Befehl besuchen musste. Verließ diese aber immer vor der Beileidsbekundung. Ich wollte so etwas nie wieder erleben.

Viele Menschen waren zu Birgitts Beerdigung gekommen. Wir wurden extra nach Deutschland geflogen, um an der Trauerfeier teilzunehmen zu können. Wie alle anderen mussten wir zur Beileidsbekundung an der Familie vorbeigehen und jedem die Hand geben. Als ich mich davor drücken wollte, weil ich so wütend war, dass ich gleich explodieren könnte, schickte man mich in die Reihe zurück, mit der Androhung von einer bösen Strafe, wenn ich die Reihe noch einmal verlassen sollte. Kati die hinter mir stand legte mir beruhigend die Hand auf die Schulter und schob mich immer weiter. Es ging immer einen Schritt weiter, wie ich heute weiß, auf die Katastrophe zu.

Als ich bei Birgitts Eltern ankam, war meine Wut so unendlich groß, dass sie sich einen Weg nach draußen suchte. Wer war dazu besser geeignet als Birgitts Eltern, denen ich die Schult gab, dass Birgitt jetzt in einem Grab lag. Sie hatten meine kranke Freundin, wieder zurück in die Hölle geschickt. Sie waren böse Menschen, denen ich das auch deutlich zeigte. Statt ihnen die Hand zu reichen und die uns eingetrichterten deutschen Worte zu gebrauchen. "Ich möchte ihnen zu ihren Verlust, mein herzliches Beileid aussprechen." Schrie ich sie auf Russisch an und spuckte Birgitts Eltern vor die Füße und schlug mit jedem Wort auf Birgitts Vater ein. "Ihr seid alleine schuld, dass Birgitt jetzt hier liegen muss. Ihr habt sie auf den Gewissen. Ihr habt sie getö..."

Weiter kam ich zum Glück nicht und ich bin heute noch froh, dass ich Gewohnheit gemäß russisch gesprochen hatte. Eine Sprache, die Birgitts Eltern zum Glück nicht verstanden. Radujew stürmte auf mich los und schnappte mich, zerrte mich so weit weg, wie es nur möglich war von Birgitts Grab und ihren Angehörigen. Was danach geschah, kann man sich denken. Ich bekam von Radujew eine gehörige Tracht Prügel. Ich glaube wenn Birgits Vater und Doktor Konrad nicht so schnell reagiert hätten, hätte ich an diesem Tag mein Ziel erreicht. Denn Radujew hätte mich ohne das Eingreifen der beiden Männer, wahrscheinlich totgeschlagen.

Nach der Beerdigung lag ich drei Wochen auf der Krankenstation. Kurz nach meiner Genesung, musste ich bei dem Chefbetreuer unserer Schule, dem Genossen Petrow, erscheinen. Dort sollte ich erklären, warum ich mich so daneben benommen hatte. Als ob ich das, mit meinen knapp acht Jahren, hätte erklären können. Da ich nach der Beerdigung und meiner Tracht Prügel wieder nicht mehr sprach, wurde ich ein zweites Mal, hart bestraft.

Durch den Vorfall mit Birgitt, wurden unsere Ferien um sechs Wochen verschoben, so dass wir erst Ende Februar 1967 in die Ferien fuhren. Allerdings hatte endlich auch unserer Betreuer und Lehrer begriffen, dass sie mit Bestrafungen nicht mehr herankamen. Mir war mittlerweile alles egal. Sollten sie mich doch totschlagen, dann hatte ich es hinter mir. Ich darf gar nicht dran denken, was ich meinen Großeltern damit angetan hätte.

Endlich begriffen auch die Letzten auf der Schule, als ich von Petrow zurück in meine Stube kam, dass man mich am besten in Ruhe lassen sollte und sie ließen mich einfach gewähren. Sieben Wochen nach der Beerdigung von Birgitt, bekamen wir doch noch unsere eine Woche Heimaturlaub, wie es die Lehrer immer nannten. Wie immer, mussten wir in dieser Zeit nach Hause fahren. Ich kam wie immer zu meinen Großeltern, da ich meine Ferien stets bei ihnen verbrachte.

Wieder einmal wurde mein Großvater, als wir am Bahnhof aus dem Bus stiegen, von einem unserer Betreuer zur Seite genommen. Man befahl mir zu warten und ich blieb wie eine Marionette stehen. Nach einer ganzen Weile kam mein Großvater zu mir und nahm mich wortlos in seine Arme. Selbst diese Umarmung ließ ich ohne Widerstand zu, etwas völlig untypisches für mich, denn normalerweise, ließ ich mich in der Öffentlichkeit nie umarmen, das gehörte sich einfach nicht. Ohne ein Wort zu sagen, gingen wir zusammen nach Hause.

Ich war ja noch nie in meinem Leben eine Quasselstrippe. Aber in diesen Ferien war ich um einiges schweigsamer, als ich es sonst schon war. Ich tat, was man mir befahl, beantwortete an mich gerichtete Fragen, nur mit einem Nicken oder Kopfschütteln. Sobald man keine Arbeit mehr für mich hatte, zog ich mich in mein Bett zurück. Rollte mich zusammen und zog mich, in meinen Traum zurück. Stand nur auf, wenn man es von mir verlangt, aß so gut wie gar nichts.

Vier Tage sah sich mein Großvater dieses Leid an. Er wollte mir die Möglichkeit geben, von alleine zu ihm zu kommen. Er kannte mich sehr gut. Besser als irgendjemand anderes. Deshalb wusste er, dass ein Eindringen in meine verletzte Seele, die Blockade in der ich steckte, nur Verschlimmern würde. Deshalb versuchte er es erst einmal so, ohne in mich einzudringen. Merkte aber schnell, dass ich vollkommen dicht gemacht hatte. Ohne ein Wort zu sagen, in der Hoffnung, dass ich von alleine mit ihm reden würde, setzte er sich zu mir aufs Bett und sah mich lange schweigend an. Aber ich schwieg. Was hätte ich ihm auch sagen sollen. Wie drückt man seine Trauer und der Schmerz, der einen das Herz zerreißt, als gerade einmal acht Jahre alt gewordenes Kind, solchen einen schlimmen Kummer aus. Mir fehlten das Vertrauen zu den Erwachsenen, die mir ständig Leid zufügten und vor allem die Worte mich ausdrücken zu können.

Ich weiß nicht wie langer er mich ansah und brauchte, bis er Stück für Stück näher an mich heran gerutschte war, um mich überhaupt in seine Arme zu schließen.

„Kleene, ich weiß, dass du traurig bist. Komm mal her zu mir“, sagte er leise zu mir und zog mich in seine Arme.

Ich wehrte mich erst, in dem ich mich wegdrehte. Aber er ließ mich nicht los. Zum Schluss trat und schlug ich, nach dem Menschen, den ich nach Birgitt, am meisten liebte. Ich wollte keine körperliche Nähe haben. Ich weiß noch wie heute, dass ich Angst davor hatte, wieder jemanden an mich heran zulassen. Ich glaube ich war genau in der Phase, in der meine Erzeugerin stecken geblieben war. Niemand sollte mich mehr berühren, aus Angst, wieder verlassen zu werden. Aus Angst davor, dass es dann wieder so weh tat und ich wieder diese endlose Leere in mir fühlen musste, wie jetzt. Aber mein Großvater kämpfte um mich, egal wie ich schrie, er hielt mich trotzdem in seinen Armen, bat mich ihm zuzuhören.

„Beruhige dich doch meine Kleene", bat er mich immer wieder, bis er endlich zu mir durchgedrungen war. "Bitte höre mir nur kurz zu, Lotty. Ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Vielleicht hilft sie dir eine wenig, über deine Trauer. Wenn nicht, lasse ich dich in Ruhe. Das verspreche ich dir. Aber bitte meine kleene Maus, erst hörst du mir mal zu“, lange sah mich Großvater an, bis ich endlich meinen Wiederstand aufgab. Genau solange hielt er mich fest. Irgendwann hatte einfach keine Kraft mehr, gegen ihn zu kämpfen und gab einfach auf. Ich nickte. Ich zeigte ihm damit, dass ich bereit war ihm zuzuhören und hörte auf mich gegen ihn zu wehren. Er hatte einen Zugang zu mir gefunden. Mit dem Nicken signalisierte ich, dass ich ihm wirklich zuhören würde.

Liebevoll zog er mich richtig hoch, auf seinen Schoss und nahm mich lieb in seinen Arm, begann leise zu erzählen. Es war eine Geschichte, die er von seiner Mutter erzählt bekommen hatte, eine uralte Saga dessen Herkunft nie geklärt wurde. Aber die meinem Großvater selber einmal sehr geholfen hatte, nämlich bei dem Tod seiner Söhne.

 

***

 

Die Geschichte vom schöneren Herzen…

 

...eines Tages stand eine junge Frau mitten in der Stadt und erklärte, dass sie das schönste Herz im ganzen Tal habe.

Eine große Menschenmenge versammelte sich, um sie und sie alle bewunderten ihr Herz, denn es war perfekt. Es gab keinen Fleck oder Fehler in ihm. Ja, sie alle gaben ihr Recht, es war wirklich das schönste Herz, was sie je gesehen hatten. Die junge Frau war sehr stolz und prahlte immer lauter über ihr ach so schönes Herz.

Plötzlich tauchte ein alter Mann vor der Menge auf und sagte:

"Nun, dein Herz ist nicht mal annähernd so schön, wie meines."

Die Menschenmenge und die junge Frau, schauten sich das Herz des alten Mannes an. Es schlug kräftig, das war wahr. Aber es war voller Narben, es hatte Stellen, wo Stücke entfernt und durch andere ersetzt worden waren. Aber sie passen nicht richtig, und es gab einige ausgefranste Ecken. Genauer gesagt, es gab da an einigen Stellen sogar tiefe Furchen, wo ganze Teile fehlten.

Die Leute starrten ihn an: Wie konnte er behaupten, sein Herz sei schöner, dachten sie?

Die junge Frau schaute auf des alten Mannes Herz, sah dessen Zustand und lachte:

"Du musst scherzen", sagte sie, "Dein Herz mit meinem zu vergleichen. Meines ist perfekt und deines ist ein Durcheinander, aus Narben und Tränen."

"Ja", sagte der alte Mann, "deines sieht perfekt aus, aber ich würde niemals mit dir tauschen. Jede Narbe steht für einen Menschen, dem ich meine Liebe gegeben habe. Ich reiße ein Stück meines Herzens heraus und reiche es ihnen, und oft geben sie mir ein Stück ihres Herzens, das in die leere Stelle meines Herzens passt. Aber, weil die Stücke nicht genau sind, habe ich einige raue Kanten, die ich sehr schätze. Denn sie erinnern mich an die Liebe und die Zeit, die wir teilten. Manchmal habe ich auch ein Stück meines Herzens gegeben, ohne dass mir der Andere ein Stück seines Herzens zurückgegeben hat. Das sind die leeren Furchen. Liebe geben heißt, manchmal auch ein Risiko einzugehen. Auch, wenn diese Furchen schmerzhaft sind, bleiben sie offen und auch sie erinnern mich an die Liebe, die ich für diese Menschen empfinde. Und ich hoffe, dass sie eines Tages zurückkehren und den Platz ausfüllen werden. Erkennst du jetzt, was wahre Schönheit ist?"

Die junge Frau stand still da und Tränen rannen über ihre Wangen. Sie ging auf den alten Mann zu, griff nach ihrem perfekten jungen und schönen Herzen und riss ein Stück heraus. Sie bot es dem alten Mann mit zitternden Händen an. Der alte Mann nahm das Angebot an, setzte es in sein Herz. Er nahm dann ein Stück seines alten vernarbten Herzens und füllte damit die Wunde im Herzen der jungen Frau. Es passte nicht perfekt, da es einige ausgefranste Ränder hatte. Die junge Frau sah ihr Herz an, es war nicht mehr perfekt, aber schöner als je zuvor, denn sie spürte die Liebe des alten Mannes in ihrem Herzen fließen. Sie umarmten sich und gingen weg, Seite an Seite.

(Saga von einem unbekannten Autor)

 

***

 

Mein Großvater griff, als er mit der Geschichte geendet hatte, in sein Hemd. Er tat so, als ob er sich ein Stück seines Herzens herausreißen wollte, hielt mir seine Hand hin.

Ich hatte begriffen, was er mir sagen wollte. Ich tat es ihm gleich, tat ebenfalls so, als ob ich ein Stück aus meinem Herzen herausreißen würde, hielt ihm auch ein Stück meines Herzens hin. Er nahm es und steckte es in sein Hemd, genauso wie ich.

 *

 

In diesem Moment, fing ich das erste Mal, seit dem Tod meiner Freundin an zu weinen. Ich lag damals lange in seinen Armen. Großvater hielt mich einfach fest. Ohne ein Wort zu sagen. Als ich mich beruhigt hatte, sah er mich ernst an. Liebevoll streichelte er mein Gesicht. Er sagte einen Satz, der mir oft in meinem Leben geholfen hat. Wenn jemand, den ich sehr mochte, von mir gegangen war. Es waren noch viele die gingen, aber nie wieder hatte ich mit dem Tod solche Probleme, wie mit dem meiner besten Freundin.

„Kleene, es ist etwas schlimmes geschehen. Deine beste Freundin ist tot. Ich weiß es ist schlimm, wenn jemand den man liebt stirbt. Du musst aber eins wissen und das musst du dir für immer merken. Wirklich tot ist jemand erst, wenn der letzte Mensch, der an ihn denkt verstorben ist. Deine Birgitt, ist zwar tot, aber sieh mal meine kleene Maus: Du hast genau, wie der alte Mann, ein Stück ihres Herzens in deinem. Solange also dein Herz noch schlägt, solange wird auch deine Birgitt weiterleben. Das Bild von ihr, verschwimmt vielleicht mit der Zeit, aber deine Gefühle für sie bleiben für immer die Gleichen, wenn du an sie denkst. Denn sie lebt in deinem Herzen weiter. Wenn du sie wirklich so sehr liebst, dann tue ihr und dir einen Gefallen, lebe für sie mit. Solange dein Herz schlägt, so lange wird auch Birgitt leben. Solange du lebst, solange wird sie all das erleben, was auch du erlebst. Du kannst alles was du willst mit ihr teilen. Sie wird mit dir Lachen und Weinen und wir dir immer nahe sein“, er nahm mich in seine Arme, legte sich einfach neben mich aufs Bett. So schlief ich das erste Mal tief und vor allem erholsam, seit Birgitts Tod.

Am nächsten Morgen, war die Welt nicht heil und es war auch nicht alles in Ordnung. Aber die Welt war auf einmal nicht mehr so leer. Als hätte dieses symbolische Gabe des kleinen Stück aus dem Herz meines Großvaters, diese unendliche Leere in mir gefüllt. Irgendwie, hat es mein Großvater dadurch geschafft, mir Mut zu machen. Mir neue Kraft zu geben, weiter leben zu wollen. Ich glaube ohne ihn hätte ich dieses Schuljahr nicht überlebt. Schon deshalb nicht, weil ich kaum etwas aß und viele Bestrafungen, wären nicht mehr notwendig gewesen, um mich völlig zu brechen.

Diese Geschichte, half mir damals und hilft mir immer noch, mit dem Tod um zugehen. Sie gibt mir immer wieder Mut. Sie hat mich alles durchstehen lassen. Ich lebe heute noch für all meine Kameraden mit, die im Laufe der vielen Jahre starben, vor allem aber für meine beste Freundin. Diese hatte nie die Möglichkeit gehabt erwachsen zu werden, durch diese Geschichte hat aber auch sie all das Erlebt, was ich erlebte. Nicht nur gute Zeiten, auch viele  schlechte Zeiten. Birgitt lebt heute noch in mir und glaubt mir eins, ich denke nicht nur an sie weil sich ihr Todestag bald zum vierundfünfzigsten Mal jährt, sondern ich denke täglich an sie. Ich trage sie genau wie meinen Großvater tief in meinem Herzen und ich frage sie oft um Rat und halte in Gedanken mit den beiden Zwiesprache. Das hilft mir oft, eine Lösung zu finden, wenn ich vor einem unlösbaren Problem stehe. Ich frage mich dann stets, wie würden diese Menschen, das Problem angehen und schon sehe ich Lösungen, die ich sonst nie gefunden hätte. Eins habe ich nämlich durch diese Geschichte begriffen, dass es nur an uns selber liegt, ob wir jemanden wirklich gehen lassen oder ob wir jemanden, für immer bei uns behalten. Um zu der Geschichte zurückzukommen.

 *

Nach den Ferien, war ich nicht Freudestrahlend in unsere Schule zurück gekehrt, dass war ich in all den Jahren nie. Nein, das wäre gelogen. Es hat noch lange gedauert, ehe ich einigermaßen mit dem Tod von Birgitt klar gekommen war. Wenn überhaupt. Aber es half mir, mit dem Tod umzugehen. Ich fing an in Gedanken mit Birgitt zu reden, auf einmal fühlte ich mich nicht mehr so alleine. Vor allem wurde mir in den Ferien bewusst, dass ich meine Kameraden in dieser für uns alle schwierigen Zeit völlig im Stick gelassen hatte. Ich hatte mich in der Trauer um meine beste Freundin selber verloren. Das durfte mir nie wieder passieren. Auch wenn ich nach den Ferien nicht sehr gesprächig wurde und nur das nötigste mit den Lehrern und Betreuern sprach, meinen Freunden gegenüber, die genauso litten wie ich, wurde ich offener. Klar ich bin nie eine Quasselstrippe geworden, das war ich nie in meinem Leben, aber ich hörte wenigstens zu und wenn ich etwas sagte, hörten alle in der Stube auf mich. Denn ich schwor ihnen Anfang der dritten Klasse, dass ich sie nie wieder alleine lassen würde. Das im Stich lassen meiner Kameraden, wurmte mich sehr und ich merkte im Laufe des zweiten Halbjahres der dritten Klasse, wie sehr ich meinen Leuten gefehlt hatte. Wieder einmal musste ich meine Gruppe von neuen aufbauen und wieder den Zusammenhalt festigen. Zum Glück ging es dieses Mal schnell von statten und unsere Ausbilder hatten nicht wieder die Möglichkeit uns gegen einander auszuspielen. So wie es in den Jahren davor oft der Fall war. Wir hatten schon eine gefestigte Basis auf der wir standen und rauften uns schnell zusammen.

***

*** Langsam normalisiert sich alles ***

***

Nicht nur in meiner Schulzeit, trat langsam aber sicher, eine gewisse Normalität ein. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, dass man irgendetwas in meiner Schulzeit, als Normal bezeichnen konnte. Aus meiner heutigen Sicht, war damals nie irgendetwas normal. Aber auch das Unnormale, wird irgendwann zur Gewohnheit und man nahm es als Normalität hin, weil man nichts anderes kennen gelernt hatte.

Auch mein derzeitiges Leben, auf der Wache, normalisierte sich endlich wieder. Ich aß wieder etwas regelmäßiger und vor allem behielt ich das, was ich aß, auch in mir. Vor allem nahm ich endlich wieder etwas zu, was man auch an meiner Leistungsfähigkeit merkte. Das Leben hatte mich wieder und ich forderte bei Training meine Jungs wieder mehr. Woran ich das merke? Fragt ihr euch jetzt bestimmt. Ganz einfach die Jungs waren nach dem Training wieder klitschnass geschwitzt und stöhnten, nach jeder Trainingseinheit. Die Jungs hielten im Gegenzug ihr Versprechen, mich nicht mehr mit meinem Aussehen zu nerven und halfen mir, zurück zu mir selber zu finden. Ich fühlte mich wieder besser und das obwohl ich weiter an dem Buch schrieb. Vor allem aber, hatte ich damit aufgehört, bei allem was schief lief, immer gleich an die Decke zu gehen. Micha hatte es tatsächlich geschafft, für uns alle ein ruhiges Plätzchen zu schaffen, wo ich weiterschreiben konnte und mich vor allem etwas zurückziehen konnte, um etwas Ruhe zu finden.

Was ich toll fand, er baute zusammen mit unseren Leuten, in einen der drei Schulungsräume, einen Leseraum ein. Auf die Idee hätten wir schon eher kommen können, da wir in neunundneunzig Prozent der Fälle immer ein und denselben Schulungsraum benutzten. Die anderen beiden Räume, blieben immer ungenutzt. Jeder der etwas zu Hause erübrig konnte, brachte es mit auf die Dienststelle. Der eine hatte ein paar bequeme Sessel, der nächste ein Regal, eine Stehlampe, einen Tisch oder ein Bücherbord und für den Rest der uns fehlte, legten wir einfach alle zusammen. Ich steuerte zehn Umzugskisten voller Bücher, die immer noch in unserem Keller stand und noch nicht einmal ausgepackt waren. Micha holte sie bei Erwin ab und brachte sie auf mein Bitten hin, mit in die Dienststelle. Wir kauften etwas Farbe, zwei Schreibtische und unsere Techniker brachten es sogar fertig, einige Internet Anschlüsse zu legen. Sodass auch die Jungs, diesen Raum nutzen konnten und nicht ständig im Aufenthaltsraum mit ihren Familien reden mussten, die in separaten schallisolierten Kabinen untergebracht waren.

Die Lösungen die Micha fand, waren einfach spitze. Ich wurde mir wieder einmal bewusst, dass Micha einer der besten Teamleiter war, den ich in meiner Dienstzeit erlebt und vor allem mit ausgebildet hatte. Ich war mir bewusst, dass er viele meiner psychologischen Aufgabenbereiche einfach kommentarlos übernahm, als es mir so mies ging. So wie er es in all den Jahren immer gemacht hatte. Diese Fähigkeit sofort dort einzugreifen, wo Not am Mann war, liebte ich an Micha so. Es war eine Fähigkeit die selten ausgeprägt war, denn die meisten wollten immer nur ruhig durch den Tag kommen. Micha sah die Arbeit und ging nicht an ihr vorbei, das zeichnete ihn als Teamleiter so sehr aus. Er ging vom ersten Tag seiner Dienstzeit in unserer Einheit, immer dort hin, wo es gerade brannte, ohne dass man ellenlange Erklärungen gab. Er machte es einfach: War ein Nahkämpfer zu wenig, ging er auf diesen Platz. Wurde ein Schütze benötigt, deckte er auch diesen Bereich ab. Fehlte es am Sanitäter, fungierte er auch dort als Ersatzkraft. Vor allem erfüllte er seine Aufgaben nicht nur mittelmäßig, sondern war in allen Dingen die er tat, wirklich verdammt gut. Das machte mich immer stolz ihn meinen Freund nennen zu dürfen. Gerade weil er trotz seines Könnens, immer ein guter Kamerad blieb und nie Höhenflüge bekam.

Ich hatte in der Zeit meines Rückzugs vom Team, zwar alle meine Aufgaben im Bereich der Teamleitung, korrekt ausgeführt, allerdings vernachlässigte ich die psychologische Betreuung meiner Leute zu sehr, die gerade in einem Ausbildungsteam oft notwendig war. Ein Fehler der mir selten passierte, aber daran merkte man halt, wie schlecht es mir wirklich in dieser Zeit ging. Dass es da einige ernste Probleme gab, hatte ich gar nicht mitbekommen. Ich hatte wirklich genug mit mir selber zu tun, um einigermaßen auf Arbeit zu funktionieren, um auf die Wehwehchen meiner Leute zu achten. Langsam aber sicher ging es mir wieder gut und ich übernahm wieder voll und ganz meine Aufgaben Bereiche, um Micha etwas zu entlasten.

Zuhause war ich zwar immer noch nicht. Auch wenn ich mich etwas erholt hatte, sah ich immer noch nicht wieder, wie die alte Charlotte aus. Meine Männer und vor allem meine Schwiegertochter gaben endlich Ruhe und hörten auf mich ständig zu bitten nach Hause zu kommen. Keine Ahnung wie es Micha dieses Husarenstück hinbekommen hatte. Aber ich war ihm dankbar, dass diese ständigen und vor allem nervenden Anrufe aufgehört hatten.

Meinem Erwin hatte ich auf ganz altmodische Art, mit der Hand einen Brief geschrieben und mich entschuldigt und ihn um Verständnis gebeten, er würde Weihnachten verstehen, warum ich so mies drauf war. Außerdem hatte ich seit unserem Streit, schon etliche Male mit ihm telefoniert. Daher wusste ich auch, warum diese nervenden Anrufe endlich aufgehört hatten.

Im letzten Frei hatte Micha meine Familie besucht. Er wohnt ja nur wenige Kilometer von uns entfernt und hat mit ihnen ziemlich Klartext geredet, wie mein Mann mir schilderte. Eva wäre danach auf ungefähr noch einen Zentimeter mit Hut geschrumpft, erklärte mir Erwin lachend und hatte Micha hoch und heilig versprochen, mit dem Nerven aufzuhören. Seit diesem Gespräch mit Micha, waren jetzt zwei Wochen vergangen und es blieb traumhaft ruhig, um mich herum. Selbst Max hatte aufgehört, ständig bei mir anzurufen. Endlich konnte ich mich den letzten meiner Aufzeichnungen widmen, die ich mir schon als Rohentwurf ausgearbeitet hatte.

Ich überlege gerade, wo ich stehen geblieben war. Ach Ende der zweiten Klasse.

 *

Nach den Sommerferien der dritten Klasse, kam es in unserer Schule zu einigen, für uns Kinder, unschönen Veränderungen. Leider waren die für uns nicht vom Vorteil, sondern eher nachteilig, weil der verhassteste Lehrer und Ausbilder an der Schule, als Senkos Stellvertretung die Schulleitung übernahm. Was wir damals noch nicht ahnten, war, dass Senko nicht wieder zurückkommen würde. Er blieb zwar weiterhin in seinem Haus an der Schule wohnen und ich erlebte einige sehr schöne Stunden in seinem Haus, aber leider hatte er nur sehr wenig Mitspracherecht in der Ausbildung.

Kurz nach dem der Sommer, hatten diese Änderungen in unserem Leben Einzug gehalten. Senko erlitt einen schweren Herzinfarkt und fiel für viele Wochen aus. Die oberste Führungsebene hatte nicht, wie von Narciza und von Doktor Konrad erhofft, die Leitung der Schule an Petrow übergeben. Man schätzte Petrow zwar als Ausbilder sehr, denn seine Schüler waren die am besten ausgebildeten, aber als Direktor für unsere Schule, war er zu weich, für diesen Job ein und man übergab das Steuerrad lieber Radujew, der die bessere Wahl für diese Position war. Das war klar, denn der Rumäne kannte keine Gnade und ging über Leichen. Vor allem würde Radujew dafür sorgen, dass die Schluderei, die in den vergangen drei Jahren in das Ausbildungszentrum Shera Einzug gehalten hatte, ein Ende fand.

Das erste, was Radujew abschaffte, war der für die Deutschen und Rumänen eingeführte Sprachunterricht, in der jeweiligen Landessprache. Als zweites hob er alle Befehle betreffend, der Bestrafung in den Wintermonaten auf, den Hof betreffend und fügte eine noch schlimmere Strafe ein, die für unsere Befehlsverweigerungen greifen sollten.

Ich muss ehrlich zugeben, dass wir lieber auf den Hof gestanden hätten, als die neuen Strafmaßnahmen abzubekommen. Sie waren mehr als hart, obwohl man hinterher keinerlei Verletzungen sah. Ich durfte alle ausprobieren, denn jetzt war niemand mehr da, der mich wenigstens etwas vor Radujews Wutanfällen beschützen konnte. Im dritten Schuljahr war ich glaube ich mehr in der Bestrafung, als dass ich am Unterricht teilgenommen hätte.

Petrow musste aus Angst um seine Familie, die Füße stillhalten und konnte nur noch im Verborgenen helfen. Radujew hatte damit gedroht, dafür zu sorgen, dass Dunja aus dem Projekt flog, sobald ihm Petrow in die Quere kam. Radujew machte dem Leiter für Ausbildung und Nahkampf klar, er würde seine neue Macht nur deshalb ausnutzen, um dem Projekt "Kader für den Staat" zum Erfolg zu verhelfen. Zu viel Geld und Mühe, hätte man in diese faule Bagage gesteckt und das muss einfach mit einem Erfolg enden. Nur absoluter Gehorsam würde hier noch helfen.

*

Seit der Übernahme der Schule durch Radujew, liefen unsere Fahnenappelle in der Früh anders ab. Komischerweise nahm der Direktor der Schule nur äußerst selten an den Fahnenappellen teil, er zog es vor bis 10 Uhr zu schlafen. Die Arbeit ließ er stets die anderen machen, was man verstehen konnte. Wer nachts erst um 1 Uhr völlig besoffen nach Hause kam, konnte nicht so früh am Appell teilnehmen. Auch hatten wir äußerst selten Unterricht bei ihm den übernahmen Narciza und Bobrow, aber darüber waren wir nicht böse. Endlich konnten wir dort wirklich etwas lernen, vor allem verstanden wir, was man von uns wollte.

Der Appell wurde eine halbe Stunde vorverlegt und fand ab der vierten Klasse, immer schon um 4 Uhr 30 statt. Es spielte dabei keine Rolle, welches Wetter gerade war. Jeder Tag ab den 1. September 1968 lief nach ein und demselben Schema ab. Punkt 4 Uhr wurden wir geweckt und es spielte dabei keine Rolle, wann wir ins Bett gekommen waren. Meistens schliefen wir zwei Stunden, von 23 bis 1 Uhr, danach wurden wir zum Strafrundenlaufen, aus dem Bett geholt. Nur selten fiel dieses Laufen aus. Wir kamen gegen 3 Uhr 30 zurück und legten uns noch einmal eine halbe Stunde hin. Punkt 4 Uhr 15, traten wir auf den Exerzierplatz an, stellten uns in Reih und Glied auf und wiederholten jeden Tage den gleichen Schwur, einmal auf Deutsch, einmal auf Russisch und einmal auf Rumänisch. Jede Klasse, musste ihn in allen drei Sprachen, aus dem FF aufsagen können.

***

Ich schwöre

treuen Gehorsam

und Kampf bis in den Tod,

für mein Volk,

für mein Vaterland,

für mein Eltern

und für meinem Kommandanten.

 

Ich schwöre

Alle gegebenen Befehle,

Weisungsgetreu auszuführen.

Verletze ich den Schwur,

soll mich die harte Strafe des Gesetzes

und die Verachtung aller treffen.

Nur der Tod kann mich dann noch erlösen.

***

Das Abspielen der Nationalhymnen, untersagte Radujew sofort, denn das wäre sinnloser Quatsch. Dieser Schwur, wurden uns ab diesem Tag regelrecht eingeprügelt und das ganze acht Jahre lang.

Wie oft handelte ich mir die Strafen Hof dafür ein, als ich mich weigerte diesen Quatsch aufzusagen und das auch noch in drei Sprachen. Stur wie ich nun einmal war, wenn ich etwas nicht verstand, blieb ich bei meiner Behauptung: Ich hätte weder ein Volk, noch ein Vaterland und schon mal gar keine Eltern, die ich ehren könnte. Erst recht wäre ich nicht bereit, für das, was unsere Ausbilder, Eltern nannten, zu sterben. Warum also sollte ich etwas schwören, dass für mich nicht zutraf. Ich würde nur Schwüre leisten, dich ich auch bereit war einzuhalten. Ich erklärte allen Ausbildern immer wieder, dass ich trotzdem bereit wäre, gegebenen Befehlen zu gehorchen. Aber nur weil ich das freiwillig tat und nicht weil ich das tun musste. Wie viele tausend Runden, musste ich deshalb auf dem Sportplatz laufen, wie viele tausend Liegestütze, musste ich deshalb machen, weil ich nicht bereit war einen falschen Schwur abzulegen. Immer weiter beharrte ich stur auf meiner Meinung. Niemand weder meine Lehrer, noch meine Freunde oder mein Großvater, konnten mich vom Gegenteil überzeugen. Oft genug hatte ich mit meinem Großvater deshalb Streit, in den wenigen Tagen, die ich zu Hause war.

Auch unsere Ferien änderten sich. Zu Senkos Zeiten bekamen wir im Sommer achtzehn und im Winter elf Tage frei. Seit Radujew das Zepter der Schule führte, waren es weniger, weil er die Ausbildungszeit, für uns verlängern wollte und vor allem verhindern wollte, dass wir negativ zu Hause beeinflusst wurden. Am liebsten hätte es Radujew wahrscheinlich gesehen, wenn wir überhaupt keine Ferien mehr bekommen hätten. Für den Weg nach Hause und zurück in die Schule brauchten wir stets vier ganze Tage. So dass von unseren vierzehntägigen Ferien, real nur zehn Tage übrig blieben, die wir zu Hause verbringen konnten und von den Winter nur noch drei Tage. Eigentlich hätte sich das nach Hause fliegen gar nicht mehr gelohnt. Aber wer fragte uns schon nach unserer Meinung. Wir genossen einfach die Ruhe, der vier Reisetage einfach schon deshalb, weil wir dann mal kein Training hatten. Auch lernten wir sehr schnell, auch im Helikopter und im Flugzeug tief und fest zu schlafen. Wir bekamen so oder so unsere Erholung.

Wie ich heute weiß, tat ich meinem Großvater, mit diesen ständigen Diskussionen über das Volk, das Vaterland und die Eltern, immer weh. Aber ich konnte und wollte ihm in dieser Hinsicht nie zustimmen. Ich war viel zu sehr enttäuscht, von all den Menschen, die mich verraten und verkauft hatten, so dass ich das Wichtigste nicht sehen wollte. Es dauerte fast vier Jahre, bis ich verstand, was mir mein Großvater immer wieder und voller Geduld erklärte. Dass es nicht auf den Namen ankommt, wie man eine Sache nennt, sondern auf das Ganze und was man in den Namen hinein interpretiert. Natürlich hatte ich ein Volk, das sich auch für mich zu schützen lohnte. Das waren meine Freunde aus der Schule. Meine Großeltern, meine Tante Walli. Die ich leider, seit den ersten Ferien nie wiedergesehen hatte. Vor allem hatte ich auch noch meine Geschwister, auch wenn ich sie nie wirklich kennen gelernt hatte. Vor allem aber, hatte ich nach meiner Schulzeit, meine Freunde aus der Dienststelle, meinen Mann, meine Kinder und nun auch noch meine Enkel. Aber diese Sichtweise der Dinge, bekam ich erst im Laufe meines Lebens. Dieses Volk lohnt es zu schützen und für diese Menschen würde ich auch sterben. Bloß wie sollte ich das mit meinen acht Jahren erkennen, dazu fehlte mir die nötige Lebenserfahrung.

Anders sah es das schon mit meinem Vaterland aus. Oft frage ich mich, wo meine Wurzeln lagen. Hatte ich überhaupt irgendwelche Wurzeln oder bin ich wirklich ein Manouches, ein Zigeuner, der ohne festen Wohnsitz in der Welt herumzieht. Meine Heimat so würde ich aus meiner heutigen Sicht behaupten, war Deutschland, aber auch Russland hätte lange Zeit mein Zuhause sein sollen. Hatte man mich als Kind entwurzelt und so dafür gesorgt, dass ich mich nirgends richtig wohl fühlen konnte. Lange Zeit, hätte ich diese Frage mit Ja beantwortet, aber damals war ich weder in Deutschland noch in Russland zu Hause. Noch heute, so traurig es ist, kommt bei den Gedanken an Russland, nur Hass in mir hoch. Noch heute weigere ich mich diese Sprache zu sprechen, wenn ich es nicht muss. Noch heute begegne ich Russen mit äußerster Vorsicht, denn zu viele hatte ich kennen gelernt, die es niemals gut mit mir meinten. Heute weiß ich, dass ich nicht so verallgemeinern sollte und bemühe mich diesen Hass zu unterdrücken. Aber es fällt mir heute noch genauso schwer wie damals, diesen Hass auf die Russen zu unterdrück. Ähnlich geht es mir mit den Rumänen. Selbst wenn man mir eine Reise dorthin schenken würde, wäre ich nicht bereit dorthin zu gehen. Ich muss gerade an meine Hochzeitsreise denken. Wir bekamen sie von meinen Schwiegereltern geschenkt und ausgerechnet nach Sotchi. Ich weigerte mich diese Reise anzutreten, mein Mann flog dann mit einem Freund dort hin. Egal was er versuchte, ich gab nicht nach.

Erst als ich mein erstes Kind gebar, schlug ich Wurzeln. Aber bis zu jenen Tag, war ich heimatlos. Ich fühlte mich nirgends zu Hause, vor allem gehörte ich nirgends hin. Auch zu meinen Großeltern gehörte ich nie wirklich. So leid wie es mir meinen Großeltern gegenüber heute tat, es war nie mein wirkliches Zuhause. Dort war ich zwar ein gern gesehener Gast, den man stets gut umsorgte, aber als Heimat hatte ich das nie angesehen. Vielleicht hatte ich vor meiner Zeit in Russland, die WoKi als ein Zuhause angesehen, wo mich keiner versuchte zu beeinflussen und mich alle so nahmen, wie ich war.

Genauso verhielt es sich mit dem Schwur: Gehorsam bis in den Tod, für meine Eltern.

Lange Zeit verstanden meine Kameraden in der Schule, genauso wie meine Kollegen auf der Wache, meine Aussage nicht, dass ich für meine Eltern niemals sterben würde. Sie wussten ja nichts, von meiner Zeit vor der Schule und damals hätte ich mich auch gar nicht ausdrücken können. Erst war ich zu jung, um mich auszudrücken und später, stand die Sprachbarriere dazwischen. Ich wusste nur, dass ich keine Eltern hatte. Für mich waren und sind bis heute, diese Menschen nur meine Erzeuger. Der Mann hatte mich gemacht und die Frau hatte mich ausgetragen, mehr war da nie. Zu beiden Erzeugern hatte ich nie ein Verhältnis aufgebaut. Meine Kameraden in der Schule kamen alle aus mehr oder weniger heilen Familien und fühlten sich dort geborgen, wenn sie in den Ferien zurückkehrten. Ich dagegen wusste nur zwei Dinge über meine Erzeuger, die Frau tat mir immer weh und der Mann konnte sehr gut singen. Ich glaube diese Worte sagen alles über mein Verhältnis zu meinen Erzeugern aus.

Ich habe auch keine Ahnung, weshalb ich dieses Gefühl, Familie, zu meinen Großeltern nie entwickeln konnte. Vielleicht lag es daran, dass ich nie ein eigenes Bett bei meinen Großeltern hatte. Ich schlief ja, bei meinen Besuchen der Großeltern, immer in Jos Bett. Zuhause allerdings besitzt man ein eigenes Bett oder teilt sich eins mit den Geschwistern. Ich weiß dieser Vergleich war und fühlt sich heute noch erbärmlich, aber dieser Gedanke war heute noch in mir. Aber damals genauso wie heute, hätte ich das Gefühl, was wirklich dahinter steckte, nie jemand richtig erklären können. Es war und ist tief in mir verborgen und lässt sich nicht mit Worten ausdrücken. Genauso wenig könnte ich erklären, wieso ich mich so vehement weigerte, für meine Erzeuger das Wort Eltern zu benutzen. Alles in mir sträubte sich gegen den Namen Eltern und es war bis heute nie anders geworden. Selbst die Kollegen auf der Wache, verstanden viele Jahre meine Sturheit in diesen Punkt nicht. Bis sie eines Tages meine Erzeuger kennenlernten. Ab diesen verhängnisvollen Tag, verstanden sie mich. Aber ich habe dieses Verständnis bitter bezahlt, denn ich verletzte damals jemanden sehr schwer, denn ich wirklich innig geliebt hatte, nämlich meinen Ziehvater.

Wieso ich in dieser Sache so vollkommen uneinsichtig war? Manchmal denke ich heute, dass ich damals nicht zulassen wollte, dass in mir Gefühle für diese beiden Menschen entstehen konnten. Glaubt mir eins, dieser Kampf, Gefühle oder keine Gefühle, habe ich lange gekämpft. Vor allem, da ich nach meiner Schulzeit, viele Jahre im Schulbezirk meiner Erzeugerin, meinen Dienst vollzog und in dem Betrieb meines Erzeugers meine Ausbildung machte. Einige meiner Kollegen hatten Kinder, die bei meiner Erzeugerin in den Unterricht waren. Es ließ sich nicht verhindern dass wir mehr oder weniger Kontakt mit einander bekamen. Dyba, war ja nun kein häufiger Name. Meine Kollegen kannten diese Frau wirklich zum Teil, viel besser als ich. Deshalb brachten sie mir, meiner Meinung nach, noch weniger Verständnis entgegen. Sie kannten ja nur das schöne Gesicht meiner Erzeugerin, ich kannte nur die hässliche Fratze, die sie mir immer zeigte. Durch den Namen Dyba, blieb deshalb nicht aus, dass man mich mit der besten Lehrerin im Schulbezirk, also mit DER "Frau Dyba", in Verbindung brachte. Es kostete mich immer sehr viel Mühe und noch mehr Körperbeherrschung, meinen Mund zu halten und nichts Negatives, über die ach so beliebte Frau Lehrerin zu sagen.

Am Schlimmsten wurde es allerdings, als besagte Lehrerin auch noch einen Projekttag auf unserer Wache einlegte. An diesen Tag verweigerte ich, das erste Mal, seit meiner Rückkehr nach Deutschland, einen Befehl. Ich sollte die Klasse, die zu Besuch in die Wache kam, herumführen. Ich schüttelte den Kopf und verzog mich in den Trainingsraum. Egal was mein damaliger Chef versuchte, ich war nicht bereit nachzugeben. Auch wenn mir das einen negativen Eintrag in die Personalakte einbrachte und viel Schmerzen. Da man mich damals noch nicht richtig kannte, drängte man mich in den ersten Monaten, oftmals so in die Ecke, dass ich mich selber verletzte. Die Mauer im Hof unserer Wache konnte ich gut mit den Fäusten bearbeitete, nur um meine Wut los zu werden und nicht noch einen Kollegen zu verletzte. Da stand ich damals, wenn es um dieses Thema ging, nämlich immer davor. Ich war wie eine scharf gemachte Bombe, an deren Zünder man herumspielte. Das allerdings bekam niemanden wirklich.

Oft brachten mich diese Gespräche, mit meinen Kollegen oder mit Kunden vorn am Tresen, an den Rand des Ertragbaren. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft ich darum bitten musste, die Anmeldung oder den Besucherraum verlassen zu dürfen. Oft fanden mich dann meine Kollegen, nach langem Suchen, im Hof der Wache wieder. In den ich mich geflüchtet hatte, um mich zu beruhigen. Ich brauchte damals die Schmerzen, die ich mir an der Mauer holte, um nicht irgendjemand zu schlagen. Der Hass den ich auf diese Frau hatte, war damals riesengroß. Ein falsches Wort laut ausgesprochen, hätte genügt, um mich explodieren zu lassen. Nicht nur einmal hatte ich im Nachhinein, schlimme Verletzungen an den Händen und Füßen, die Wochen brauchten, um abzuheilen. Aber lieber schlug ich mir die Hände kaputt, als dass ich meine Wut, an jemanden anderen ausgelassen hätte.

Erst viele Jahre später, begriff mein damaliger Chef und späterer Ziehvater, warum ich in solchen Momenten immer so abgedreht war. Heute war mir auch klar warum er mich auf einmal verstehen konnte. Er hatte nach dem Tod meiner Großeltern, die Tagebücher meines Großvaters gelesen und konnte von diesem Moment an, nur zu gut nachvollziehen, warum ich so überzogen reagierte. In der ersten Zeit allerdings, war es für ihn ein Rätsel, das er lange nicht lösen konnte. Nicht nur einmal musste ich zu unseren Truppenarzt, zur psychologischen Begutachtung, weil man mich nicht mehr für normal hielt. Viele meiner privaten Ausbrüche standen im krassen Gegensatz zu meinem Verhalten den Dienst betreffend. Auch so mein Verhalten Kinder gegenüber, war den Dienst betreffen, einmalig. Aber wenn es um den privaten Sektor ging, war ich zu nichts zu gebrauchen.

Ich war froh und erleichtert, als ich nach meiner Hochzeit, einen anderen Nachnahmen tragen konnte. So brauchte ich mir, diese Lobeshymnen auf eine Frau, die ich im Teenager Alter nur noch hassen konnte, nicht mehr so oft hören. Ich konnte es nie wirklich nachvollziehen, warum diese Frau zwei solch unterschiedliche Gesichter hatte. Mich würde nur interessieren, welches dieser beiden Gesichter war ihr wirkliches Wesen? Das wäre das, was mich wirklich interessieren würde. Warum war sie zu fremden Menschen immer nett und freundlich und zu ihrer eigenen Familie so ein Scheusal. Ich hätte mir so gewünscht nur einmal diese nette und zuvorkommende Frau kennen zu lernen, nur ein einziges Mal. Egal wenn ich traf, hatte er mit Frau Dyba Kontakt, bekam ich nie ein schlechtes Wort zu hören.

Als sie ein einziges Mal nett zu mir sein wollte, konnte ich es nicht mehr zu ihr sein. Obwohl ich mich heute dafür schäme. Aber ich hatte gerade mit diesen Thema abgeschlossen und wollte nicht, die alten Wunden wieder aufreißen lassen. Deshalb besuchte ich diese Frau auch nicht, an ihrem Sterbebett. Ich hoffe sehr für sie, dass sie ihr Verhalten ihrer Familie und vor allem mir gegenüber, vor ihrem Tod bereut hatte. Ich habe mit ihr meinen Frieden gemacht, soweit es mir das möglich war. Ich habe ihr soweit es möglich ist verziehen. Trotzdem bleibt ein Rest Wut übrig, mit dem ich leben muss und auch kann.

Wut ist eigentlich falsch ausgedrückt, vielleicht trifft das Wort Traurigkeit besser das Gefühl, was mich beherrscht. Vor allem dann, wenn ich andere Mütter mit ihren Töchtern in Einkaufspassagen oder Cafés beobachte und in tief in mir ein Ziehen bemerke, das mir die Tränen in die Augen treibt. Ich beneide diese Frauen und Söhne um dieses Glück, dass ich nie habe erleben können. Vor allem verstehe ich nie Kinder die mit ihren Eltern brechen, weil sie ihnen kein Geld gaben, für irgendetwas oder für einen vergessenen Geburtstag, alles aufs Spiel setzten, was sie an Glück als Kinder bekamen. Ich würde gern auf alles verzichten, hätte ich nur ein einziges Mal dieses Glück von einer Mutter und einem Vater in den Arm gehalten zu werden. Es muss ein wunderschönes Gefühl sein. Das nur jemand nicht wertschätzen kann, der es kennt. Hätte er es nicht gekannt, würde er es genauso vermissen wie ich.

 ***

*** Man verrät seine Freunde nicht ***

***

Mit riesigen Schritten ging die Zeit daher, vieles könnte ich noch erzählen, aber es wäre immer das Gleiche, wie uns unsere Lehrer behandelt hatten, erzählte ich schon öfters und es würde noch einige Male die Sprache darauf kommen, wenn es um Strafen ging. Die wichtigen Sachen der ersten Jahre, hatte ich schon erzählt. Es gab keine großen Veränderungen in den darauf folgenden Jahren, nur dass wir immer weniger Rechte hatten und man sich immer neue Strafen für uns ausdachte. Komischerweise betrafen die oftmals nur die Stube "Nemetskiy", die regelrecht drangsaliert wurde. Ich hatte in über vierzig Jahre genügend Zeit, um mir zu überlegen, warum man uns so gemobbt hatte. So würde man das jedenfalls heute nennen. Oft beschäftigten mich diese Gedanken, nach dem Warum, in all den Jahren. Aber es kann nicht nur an meiner Person gelegen haben, dass unsere Stube so oft bestraft wurde. Auch wenn ich mir heute noch, viel Schuld dafür gebe. Die Strafen trafen ja nicht nur mich, sondern die gesamte Gruppe der deutschen Kinder.

Immer wieder stieg ein Gedanke in mir hoch: Lag es vielleicht an unseren Vorfahren, dass man die Kinder der Russen und Rumänen besser behandelte, als uns deutsche Kinder. Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann diese Frage, nach all den langen Jahren immer noch nicht beantworten. Obwohl diese Gedanken, meiner Meinung nach, der Tatsache am Nächsten kamen. Schließlich hatten unsere Vorfahren nicht nur einen Weltkrieg geführt und sich viele Nationen zum Feind gemacht. Reichte das aber aus, um an wehrlosen Kindern, ein Exempel zu statuieren? Die sich nicht einmal richtig wehren konnten. Brachte die Unterdrückung deutscher Kinder wirklich die Genugtuung, die man brauchte, um seine Rachegelüste auszuleben? Nicht nur einmal wurden in den Nachkriegsjahren, das deutsche Volk für ein und dieselbe Sache bestraft. Den letzten Krieg hatten die Deutschen sowieso verloren und hatten ihn teuer bezahlt, nicht nur mit dem Verlust ihrer Söhne und Väter. Sondern auch die Zivilbevölkerung wurde immer wieder bestraft. Wie viele Zivilisten wurden durch Bomben getötet, die auf deutsche Städte fielen. Wie viele Frauen wurden geschändet und wie viele Kinder verschleppt. Noch heute gab es Dörfer in Sibirien, in denen Deutsche lebten, die einfach nach der Kriegsgefangenschaft dort geblieben waren, aus welchem Grund auch immer. Müsste diese Schuldzuweisung nicht irgendwann einmal aufhören? Vor allem, was konnten wir Kinder für den Krieg? Alle deutschen Kinder, die in Shera in die Schule gingen, wurden in den Jahren von 1957 bis 1959 geboren und waren mindestens zwölf Jahre nach dem Ende des Krieges geboren. Sie trugen keinerlei Verantwortung für die damaligen Verbrechen und waren noch viel zu klein, um davon zu wissen, vor allem aber, eine Schuld zu tragen.

Soll ich mein Leben lang die Russen und Rumänen hassen, weil sie mich als Kind so schlecht behandelt hatten. Ich glaube das wäre falsch, weil ich dann genau das tun würde, was die Lehrer und Betreuer mit uns taten. Obwohl mir das sehr schwer fällt, offen mit diesen Nationen umzugehen. Aber ich bemühe mich wenigstens, ihnen eine Chance einzuräumen. Etwas das wir Kinder nie bekamen.

Würde ich das nicht tun, müsste ich nämlich Dunja und ihre Kinder hassen, oder Anton Petrow oder Narciza Narlow oder Pavel. Das kann und will ich nicht tun. Da all diese Menschen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, immer nett zu uns und mir waren. Muss man wirklich seinen Hass, an Kindern auslassen? Ich kann diese Frage nicht wirklich beantworten. Alles in mir schreit NEIN, weil ich nur zu gut weiß, wie sich das anfühlt. Trotzdem sitzt tief in mir ein kleiner Teufel, der mir leise zuflüstert JA, hasse sie, für all das, was sie euch antaten. Der Engel der aus meinen Herzen kommt, schreit allerdings laut NEIN. Gleiches mit Gleichen zu vergelten ist Unrecht. Also, was soll ich tun. Ich folgte lieber meinen Herzen. Ich musste allerdings zugeben, dass ich Russen gegenüber, immer sehr vorsichtig geblieben war und sie mussten sehr schwer, um mein Vertrauen kämpfen, aber ich hatte ihnen immer mit viel Vorsicht getraut und eine Chance gegeben. Etwas, das wir nie bekamen.

Ich verstand das schon deshalb nicht, weil in mir ja nicht einmal reines arisches Blut floss. Und ich immer wieder, wenn die Gespräche darauf kamen, das auch zugab. Vor allem,  weil man mir das sehr deutlich ansah. Ich war weder blond, noch blauäugig, noch hellhäutig. Im Gegenteil, ich hatte blauschwarze Haare, dunkelbraune Augen und eine bronzefarbene Haut. An meiner Herkunft alleine konnte es also nicht gelegen haben. Schließlich war ich multikulti, wie man heute sagt. Mein Erzeuger war Grieche und mein Großvater ein Manouches und kam aus Frankreich, schon deshalb fand ich diese Gedanken völlig daneben.

Mir kam oft der Gedanke, dass wir nur deshalb so oft zu Strafen herangezogen wurden, weil wir versuchten uns gegen diese Behandlung zu wehren. Teilweise gab ich mir die Schuld dafür. Ich war lange Zeit diejenige, die sagte: Tak ne poydet, was sinngemäß hieß, so geht das nicht. Im Laufe der Jahre, hatten meine Stubenkameraden allerdings eingesehen, dass ich Recht hatte und ich war nicht mehr die Einzige, die diese russischen Worte benutzte.

Die Rumänen und die Russen dagegen, wehrten sich nie, sie hatten sich im Laufe der ersten Klasse damit abgefunden, dass sie keine Rechte hatten und am Limit trainiert wurde. Egal, wie viele von ihren Kameraden dabei ihr Leben ließen. Allerdings waren sie auch während der ganzen elf Jahre, immer Einzelkämpfer geblieben und waren nie wirklich als Team zusammengewachsen. Das merkte man oft bei dem Test, die Ergebnisse waren oft unterirdisch, weil die beiden Stuben, einfach nicht zusammenarbeiten konnten. Dort halfen wir oft bei Problemen, die beim Bau von Seilbrücken auftraten oder wenn jemand verloren ging. Wir halfen aus oder gingen einfach mit auf Suche, damit alle im Ziel ankamen. Einen Dank, hatten wir für unsere Hilfe allerdings nie bekommen, aber den wollten wir auch nie.

Wichtig war uns nur, dass uns die anderen Schüler in Ruhe ließen. Wir hatten genug eigene Probleme und wollten nicht noch mehr haben, durch eine Fete mit den anderen Stuben. Das Leben war schon schwer genug, ohne eine Fete mit den anderen Stuben. So wie es die Russen und Rumänen untereinander oft machten. Sie schaukelten sich gegenseitig hoch, bis es zu einer großen Prügelei kam. Die Stuben der Russen und Rumänen, ließen sich allerdings von ihren Betreuern und Lehrern, nach der Sache mit dem Holz, nie wieder gegen uns aufstacheln und ließen uns einfach links liegen. So hatten wir wenigstens von einer Seite unsere Ruhe und wurden nicht noch in deren Streitigkeiten hineingezogen. Schlägereien gab es nur zwischen den anderen beiden Stuben. Wir mischten uns in deren Streitigkeiten nicht ein. Im Gegenteil, bei Fragen und Problemen, kamen die Schüler, der beiden anderen Stuben oft zu uns und ließen sich von uns helfen. Dabei spielte es keine Rolle, ob es ein Griff im Nahkampf war, es sich um Probleme bei Schießübungen ging, den sie aus irgendeinem Grund nicht richtig verstanden hatten oder ein es gravierentere Probleme, in der Taktik Erstellung oder beim Zusammenbau von Waffen gab. Ratschläge holten sich die beiden Stuben, gern bei uns. Zu mehr trauten sich, meines Erachtens die anderen Stuben nicht, um nicht auch noch in die Schusslinien der Lehrer und Betreuer zu kommen. Wir konnten das nur zu gut verstehen. Auch ohne die Lehrer und Betreuer gegen sich zu haben, war das Leben an unserer Schule schon schwer genug.

*

Ich überlege gerade, wann wir wirklich einmal satt waren, außer an den Belohnungstagen, wie wir für uns die Sonntage getauft hatten. Dann holten uns immer einige Betreuer aus der Stube und nach dem Zapfenstreich ab. Jeden Sonntag waren andere Schüler dran. An diesem Tag, durften wir uns endlich einmal wie Menschen fühlen. Wir wurden nicht angeschrien, durften baden und zwar in heißen Wasser und mussten uns einmal nicht mit Kernseife waschen. Wir bekamen von den Betreuern Creme hingestellt und bekamen genügend zu Essen. Vor allem aber konnten wir, in einem weichen und trockenen Bett schlafen, mit einem Kopfkissen und einer warmen dicken Decke. Dafür hatten wir immer alles getan. Wir bekamen körperliche Nähe und Streicheleinheiten für die Seele. Wir konnten uns mit demjenigen Betreuer oder Lehrer völlig normal unterhalten und genossen einfach die paar Stunden, der Ruhe und die Geborgenheit. Den Rest, der uns nicht gefiel, verdrängten wir, wie so vieles in unserem Leben.

Allerdings wurden wir nie von Konrad, Petrow, Narciza oder Pavel geholt. Senko holte mich, ein bis zweimal Monat zu sich nach Hause, nachdem er nicht mehr Direktor war, um mit mir zusammen zu kochen. Von ihm hatte ich nach und nach das Kochen gelernt und von seiner Frau, lernte ich das Klavierspielen und das Singen. Sie gab mir ein paar Stunden Unterricht. Ich mochte die beiden alten Leutchen, die nie etwas Unrechtes von mir verlangten. Auch ich durfte bei dem Senkos baden, essen und in einem richtigen Bett schlafen. Senkos Frau war Sängerin und gab den Kindern aus der Region Shera Klavierunterricht. Sie meinte immer ich hätte eine tolle Stimme. Die Stunden bei den Senkos verbrachte ich immer gern, da sie mich fast so behandelten, wie mein Großvater.

Schlimmer allerdings waren die Nächte die ich bei Radujew verbringen musste. Ich glaube dieser Mensch konnte mich selbst in dieser Beziehung nicht in Ruhe lassen. Die Stunden bei ihm waren immer die Hölle. Zum Glück, ließ er nicht nur mich, sondern alle deutschen Kinder irgendwann links liegen. Da nicht nur ich, sondern alle aus der Stube "Nemetskiy" ihm wohl zu schmerzhaft waren. Ich machte nämlich nicht, das was Radujew sich erträumte. Auch ich hatte Zähne im Mund und meine waren fest verankert in meinem Kiefer. Es tat ihm bestimmt sehr weh, wenn ich zu ungünstigen Zeiten zubiss. Zu mehr ist er bei mir nie gekommen, da ich jedes Mal, wenn ich zu ihm musste, zugebissen hatte. Einfach, um nie wieder dort hinzumüssen. Und ich sagte meinen Leuten, sie sollten es ebenfalls so handhaben. Deshalb holte sich Radujew, irgendwann nur noch Kinder aus der russischen und rumänischen Stube, für seine Bespaßung.

Schlimmer als der ständige Hunger, den wir verspürten, war aber die Tatsache, dass wir ständig nur kalt duschen konnten und stets viel zu wenig Schlaf bekamen. Egal wie kalt oder warm es draußen war, das Wasser in unserem Duschraum, war immer eisig kalt. Oft machten wir nur Katzenwäsche, vor allem im Winter, weil wir sonst keine Chance mehr hatten, warm zu werden. Die zwei bis drei Stunden Schlaf, der mehr eine Ohnmacht glichen, halfen nicht beim Warm werden. Wir gewöhnten uns deshalb in der ersten Klasse an, ständig zu zweit oder sogar zu dritt in einem Bett zu schlafen. Die Betreuer sahen das zwar nicht gern, konnten es aber auch nicht verhindern. Ohne auf ihren eigenen Schlaf zu verzichten. Sobald der letzte Kontrollgang durch unsere Stube war, krochen wir zu unseren Freunden unter die Decke. So hatten wir sechs statt drei Decken und vor allem körperliche Nähe, um uns sicherer zu fühlen. Nie schlafen wir so fest, dass wir nicht mit bekommen hätten, wenn jemand unser Zimmer betreten hätte. Kam irgendjemand in unser Zimmer, erklang ein kurzer Pfiff, von demjenigen der das mitbekam und alle waren sofort munter. Zu oft hatte man uns in den vergangen Jahren aus dem Bett geprügelt. So konnte uns keiner mehr überraschen.

Nach 23 Uhr betraten unsere Betreuer nur sehr selten die Stube, um einen Kontrollgang zu machen. Da sie selber oft unter dem extremen Schlafmangel litten, wie wir. Denn wenn sie den Befehl Nachtlauf bekamen, mussten auch sie um 1 Uhr in der Nacht raus in die Nacht. Dieser Tatsache hatten wir es zu verdanken, dass wenigstens ab und an einmal, das tägliche aus dem Bett holen, mitten in der Nacht unterblieb. Im Laufe der Jahre hörten die Betreuer auch auf, uns ständig für unsere kleinen Kurzschlafphasen zu bestrafen, die zum Teil im Hof oder auf den Tischen im Klassenzimmer stattfanden. Nicht nur einmal saßen unsere Lehrer am Lehrerpult und schliefen dort ein. Die Betreuer und Lehrer der deutschen Stube, bestraften uns nicht, weil sie es wollten, sondern weil sie von Radujew die entsprechenden Befehle bekamen. Keiner wiedersetzte sich Radujew, wenn er nüchtern war oder angetrunken. Das bekam weder uns Kindern, noch unseren Ausbildern. Auch sie bekamen durch das Wecken in der Nacht, stets zu wenig Schlaf, was an der Substanz zerrte.

*

In der vierten Klasse war ich so weit, dass mir das alles zu viel wurde. Das Maß des Ertragbaren war längst überschritten. Ich wollte nur noch weg. Mittlerweile war es mir egal, was mein Großvater dazu sagen würde oder er enttäuscht sein würde. Schließlich musste ich hier leben und nicht er. Ich wollte nur noch fort aus dieser verdammten Schule, in der mir alles zu viel war und wir ständig wie der letzte Dreck behandelt wurden. Kari einer meiner engsten Freunde aus der Stube, ging es ähnlich wie mir. Auch sie wurde ständig für Sachen bestraft, die so wie es die Betreuer darstellten, gar nicht stimmten. Oft standen wir zusammen auf dem Hof. Wie oft hatten wir uns in den letzten beiden Jahren zusammen in den Schlaf geweint, weil wir einfach nicht mehr konnten. Die Zeit zum Schlafen war sowieso immer unzureichend gewesen. Durch das Stehen auf dem Hof, bekamen wir noch weniger Schlaf ab als die anderen. Oft waren wir so müde, dass wir nicht mehr klar denken konnten. Auf den Hof konnte man einfach nicht schlafen. Im Winter schon mal gar nicht, da wären wir erfroren und außerdem, hätten wir uns das gar nicht getraut. Immer wieder einmal kam einer der Betreuer gucken, ob wir auch wirklich an der Stelle stehen geblieben waren. Sie sahen aus dem Fenster der zweiten Etage und kontrollierten uns. Wir waren zwischen acht und zehn Jahre alt und hatten einfach keine Lust mehr, so zu leben. Deshalb beschlossen wir einfach wegzulaufen, aus unserer Hölle. Schlimmer konnte es allein, da draußen auch nicht sein. Wir wären dann wenigstens frei, von all den Bestrafungen, durch unsere Ausbilder.

Wir hatten im letzten Jahr bei einem Test, eine Höhle entdeckt, in der es einen Wasserlauf gab. Wasser so hatten wir in unserer Ausbildung im Überlebenstraining gelernt, hatte zwei große Vorteile: Zum Ersten half es einem beim Überleben, da du schon nach zwei bis drei Tagen verdursten würdest, aber drei Wochen brauchtest, um zu verhungern. Und zum Zweiten war es die beste Methode spurlos zu verschwinden und half es dir deine Spuren zu verwischen. Hunde konnten deiner Spur zwar folgen, verloren aber im Wasser die Fährte und mussten deine Spur erst wiederfinden. Außerdem brachten uns unsere Lehrer und Betreuer, alle Kniffe und Tricks bei, wie wir in der Wildnis überleben konnten. Wie wir feststellten, waren wir richtig gut darin geworden. Wir konnten Feuer machen, Fallen für Tiere auslegen, damit wir etwas zu essen hatten. Wir kannten uns mit Pilzen und Beeren aus und vor allem hatten wir gelernt, unsere Spuren zu verwischen. Eine Eigenschaft, die uns in unserem kindlichen Leichtsinn, fast das Leben gekostet hätte.

Während unseres Hofganges brachten wir deshalb, über Wochen etwas Nahrung in eines unserer Verstecke und warteten auf den besten Augenblick, um stiften zu gehen. Wir waren uns im Klaren, dass wir unsere Kameraden im Stich ließen. Aber mit vierundzwanzig Leuten wegzulaufen, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Selbst zu zweit hatten wir nur eine minimale Chance auf Erfolg. Da wir nicht wussten, wohin uns die Höhle führte und ob es überhaupt einen zweiten Ausgang gab. Wir waren uns darüber im Klaren, dass wir eine Höllenstrafe bekommen würden, wenn man uns zu fassen bekam. Aber was spielte das für eine Rolle. Unser Leben machte uns keinen Spaß mehr. Der Versuch auszubrechen, war die einzige Chance, die wir hatten, unserer Hölle zu entkommen. Lange schoben wir diesen Tag vor uns her und hofften einfach immer auf eine bessere Gelegenheit.

Anfang April 1968, als es langsam etwas wärmer wurde, bot sich endlich die beste Gelegenheit. Eine bessere würden wir nicht mehr bekommen, das wussten wir beide. Kari und ich sollten Holz holen, für den Ofen in unserer Stube. Da wir in den letzten Tagen keine Zeit dazu bekamen, war unser Holzvorrat völlig aufgebraucht. Da wir gar nichts mehr vorrätig hatten, durften wir ausnahmsweise zu zweit das Schulgelände verlassen. Das war die Chance, auf die wir so lange gewartet hatten. In der Stube steckten wir uns Messer ein und zwar so, dass sie niemand sah. Wir liefen nach hinten in unseren Hof und holten unseren Leiterwagen, um das Holz transportieren zu können. Nahmen aus unserem Versteck auch unsere Vorräte mit, eine Axt und Seile, die wir dort versteckt hatten und unter unseren Jacken verbargen. Kaum, dass wir aus der Schule heraus waren, stellten wir den Wagen hinter einen Busch und tarnten ihn. Anschließend machten wir uns aus dem Staub. Es dauerte keine halbe Stunde, bis wir den Bach wieder fanden, der zu der Höhle führte. Wir gingen ins eiskalte Wasser und liefen in dem Bach, bis zum Eingang, um in der Höhle zu verschwinden. Dass wir dabei nass bis auf die Knochen wurden, machte uns nichts aus. Der Eingang der Höhle lag hinter einem Wasserfall, so dass man ihn nicht sehen konnte.

Was wir nicht wussten und nicht bedacht hatten, war die Tatsache, dass wir aus der Ferne beobachtet wurden. Pavel, unser Hausmeister, der ebenfalls Holz holen war, für die Heizung im Haus der Betreuer, sah uns im Wasserfall verschwinden. Ob es unser Glück oder Pech war, möchte ich dahin gestellt lassen. Aus der heutigen Sicht würde ich behaupten, es war unser Glück. Damals hätte ich gesagt, es war großes Pech.

Hoch rechne ich unserem Hausmeister immer noch an, dass er uns nicht sofort gemeldet hatte. Er war einer derjenigen, die sich am meisten gegen Radujew wehrte und uns immer half. Allerdings machte er sich im Laufe der Zeit immer mehr Sorgen um uns, da er die Höhle kannte und wusste, wie gefährlich diese Höhle war. Pavel kannte die Höhle noch aus seinen Kindertagen und wusste wie schnell es in dieser Höhle zu Einbrüchen kam. Nicht nur eins der Kinder, aus der Region um Shera, hatte in dieser Höhle sein Leben gelassen. Den Kindern war es unter Strafe verboten, diese Höhle zu betreten. Man erzählte ihnen viele Gruselgeschichten, damit sie nicht dort hinein gingen. Uns hatte leider keiner gewarnt und wir liefen somit in unser Verderben.

Immer tiefer stiegen wir den Gang in die Höhle hinab und zündeten bei Zeiten unsere selbstgebauten Fackeln an. Plötzlich hörten wir es hinter uns krachen und ahnten Schlimmes. Als wir ein Stück zurück liefen, bewahrheitete sich diese Tatsache. Der Gang den wir nur wenige Minuten zuvor entlang gegangen waren, war eingestürzt. Aber zurück gehen wollten wir sowieso nicht, dass hatten wir schon vor unserer Flucht aus der Schule versprochen. Entweder wir kamen hier weg, oder aber wir würden hier sterben. Wie schon gesagt, wir wollten und konnten nicht mehr so weiter leben. Also marschierten wir immer weiter in dieses riesige Höhlensystem hinein, bis wir an einen unterirdischen See kamen. Dort machten wir Pause, um uns etwas auszuruhen. Lange reichte unserer Holzvorrat, den wir auf den Weg in die Höhle gesammelt hatten nicht. Also mussten wir ihn uns gut einteilen. Aus Harz von den Bäumen und Teilen unserer Overalls hatten wir uns einige Fackeln gebaut, mit denen wir uns in der Höhle umsahen. Leider führte aus der Höhle nur ein Gang heraus und durch den waren wir herein gekommen. Lange überlegten wir, was wir machen sollten. Wir beschlossen einfach hier zu warten, bis wir für immer einschliefen. Wenn wir müde waren, legten wir uns gemeinsam hin und schliefen ein. Immer in der Hoffnung, dass wir nicht wieder aufwachen würden. Allerdings wachten wir immer wieder auf. Nach drei Tagen, war das wenige Essen, was wir hatten, aufgebraucht und lange würde es nicht dauern, bis wir verhungert waren. Fettreserven, hatte weder Kari noch ich. Dazu bekamen wir in der Schule, viel zu wenig zu Essen. Also legten wir uns hin und hörten auch auf, etwas zu trinken. Da wir beide ungefiltertes Wasser aus einem eisigen See tranken, hatten wir beide hohes Fieber bekommen und würden nicht lange durchhalten, bis dass uns die Engel holten. Mittlerweile war uns egal wie, Hauptsache es war vorbei und wir mussten nicht zurück in unsere Hölle.

*

Wir rechneten nicht mit irgendwelcher Hilfe, denn es wusste ja niemand, wo wir waren. Das wir von Pavel beobachtet wurden, war Zufall gewesen. Ich glaube er hätte uns unsere Flucht aus der Schule gegönnt. Allerdings ging Pavel eine Woche lang durch einen noch schlimmere Hölle, als wir. Er wollte uns nicht verraten, aber er wollte auch nicht schweigen und Schuld haben an unseren Tod.

Nach neun Tagen beschloss Pavel, Doktor Konrad und auch Petrow und Narciza in sein Wissen einzuweihen und erzählte den drei Leuten, von seiner Beobachtung. Vor allem aber von seiner Annahme, dass in der Höhle etwas passiert wäre. Unser Hausmeister gestand offen und ehrlich, er hätte jeden Tag nach Spuren von uns Ausschau gehalten. Wir hätten die Höhle nicht verlassen. Das allerdings würde bedeuten, dass wir in der Höhle eingeschlossen wären und ohne Hilfe nicht mehr heraus kämen. Doktor Konrad beschloss darauf hin, bewaffnet mit Hacke und Schaufel, mit Pavel in der Höhle nach uns zu suchen und schnell fanden die Beiden den Einbruch, der allerdings nicht sehr groß war und nur in wenigen Minuten durchbrochen war. Ein Zeichen, dass wir nicht einmal das versucht hatten, aus der Höhle zu kommen. Am späten Abend des zehnten Tages, fanden uns die beiden Männer, mehr tot als lebendig, am Ufer des unterirdischen Sees liegen.

Hochfiebrig und tief schlafend bemerkten wir nicht einmal, dass man uns in die Schule zurück brachte und nach oben auf die Krankenstation trug. Absolut nichts bekamen wir davon mit. Erst eine Woche später kam Kari wieder zu sich und kurze Zeit später, wurde ich von ihren Schreien munter. Es dauerte nicht lange, bis ich in ihre wütenden Schreie einstimmte, denn auch ich wollte nicht wieder hier sein. Wir hatten unsere einzige Möglichkeit versaut, unserer Schule zu entkommen. Lange brauchten Dunja und Konrad, ehe sie uns beruhigt hatten. Noch länger allerdings brauchten sie, um mit uns reden zu können. Kari, wie auch ich, wollten nicht mit den Verrätern reden, wie wir unsere Retter nannten. Völlig verstört wie wir zwei waren, brauchten Konrad, Petrow, Dunja und Narciza fast eine Woche, bis wir überhaupt wieder ein Wort sprachen.

Böse fuhr ich Doktor Konrad an, der immer ständig das Gleiche fragte: "Warum seid ihr denn ausgerissen? Warum habt ihr nicht wenigstens versucht, aus der Höhle zu entkommen. Ihr hättet es locker schaffen können."

"Lassen sie Kari in Ruhe. Lassen sie uns doch einfach in Ruhe. Warum haben sie uns nicht liegen lassen, an unserem See? Lange hätten wir nicht mehr gebraucht und wir wären im Himmel gewesen. Warum musstet ihr uns hierher zurück bringen, in diese Hölle?" Schrie ich unseren Doktor an.

Still in mich hinein weinend, drehte ich mich zur Wand um, weil ich mit diesem Verräter nichts mehr zu tun haben wollte. Kari machte es genauso wie ich, sie drehte sich weg von dem Mann der uns zwar gerettet, aber in unseren Augen zurück in die Hölle gebracht hatte. Wir wussten beide, dass unsere Fahnenflucht, die wir begangen hatten, nicht ohne Strafe bleiben konnte. Vor allem wussten wir, dass wir unseren Kameraden in der Stube wieder unter die Augen treten mussten. Davor graute uns am meisten. Wie oft hatte ich meinen Leuten Mut gemacht und ihnen gesagt, irgendwann wird alles gut. Aber meine Kameraden, wurden auch nie so oft bestraft, wie Kari und ich. Wir beide fingen alle schlimmen Strafen von ihnen auf und ließen uns stattdessen auf den Hof stellen, nur um sie zu schützen. Das wir ausgerissen waren, war ein Verrat an unseren Freunden. Aber egal wie stark man sein möchte, irgendwann konnte man nicht mehr. Irgendwann kam für jeden der Tag, an dem er die Last, die man ihn auf die Schultern legte, nicht mehr tragen konnte. Immer wieder hatten wir der Gruppe gesagt, sie sollen sich zusammenreißen und aufpassen, was sie machen würden. Aber sie mussten ja nie ausbaden, was sie sich eingebrockt hatten. Das mussten wir, also Kari und ich meistens ausbaden, nur um die Stärke unserer Gruppe zu erhalten. Die anderen Kameraden kamen noch weniger mit dem Schlafentzug klar, als wir. Also stellten wir uns immer schützend vor sie. Jetzt bekamen wir die Rechnung: Würden unsere Kameraden trotz der versuchten Flucht, zu uns halten oder würden sie den Ausbildern folgen und uns mit Verachtung strafen, so wie uns mit unserem Schwur täglich eingebläut wurde. Davor graute uns mehr, als vor der Bestrafung. Wie sehr wir uns da getäuscht hatten, würden wir schneller herausfinden, als uns lieb war.

*

Die Strafe erhielten wir auch nach nur wenigen Tagen. Sobald wir wieder einigermaßen auf den Beinen stehen konnten, mussten wir uns für sieben lange Tage auf den Exerzierplatz stellen und von jedem der an uns vorbei ging, anspucken lassen. Mit dieser Strafe konnten wir leben. Es war zwar erniedrigend, so behandelt zu werden, aber daran waren wir gewohnt. Auch, dass wir zwei, beim Appell eine Woche lang, vor der versammelten Mannschaft herunter geputzt wurden, machte uns kaum etwas aus. Die dritte Strafe allerdings, brach nicht nur Kari, sondern auch mich, vollkommen.

Wir bekamen die schlimmste Strafe, die man sich als Erwachsener vorstellen konnte. Zwei junge Menschen, im Alter von acht und zehn Jahren, konnte diese Strafe allerdings völlig zerstören. Wir wurden beide eine Woche lang, in eine völlig dunkle Kiste gesperrt, die nur ein Meter mal ein Meter groß war und genauso hoch war. Diese Kiste hatte eine Tür und einen schmalen Schlitz. Durch die Tür stiegst du in die Kiste, und einmal am Tag ging sie auf, damit man sie mit einem Wasserstrahl reinigen konnte. Durch den Schlitz, bekam man täglich eine Tasse Wasser in die Kiste gestellt. Schmiss man das Wasser um, weil man ja in der Kiste nichts sah, hatte man Pech. Trank man allerdings das Wasser, hatte man auch Pech, denn in der Kiste gab es keine Möglichkeit, Stuhl oder Urin abzusetzen. Entweder machte man in die Hose oder man machte in eine Ecke der Kiste. Da man aber nach wenigen Minuten, in der Kiste schon sämtliche Orientierung verloren hatte, lag man irgendwann in seinen eigenen Exkrementen und nicht nur man selbst, sondern auch die Kiste stank dann bestialisch.

Diese Kiste war die schrecklichste Strafe, die sich Radujew für uns Kinder ausgedacht hat. Es war einfach die Hölle, dagegen war unsere Schule, das reinste Luxushotel. Nach dem Aufenthalt in der Dunkelzelle, wie Radujew diese Kisten nannte, war nichts in unserer Schule mehr schlimm. Unser Direktor hatten etwas gefunden, dass noch schlimmer war, als unsere Schule überhaupt. Vor allem sah man uns nichts an, von der Bestrafung. Ihr denkt vielleicht, ach das bissel Dunkelheit, was ist da schon schlimmes dabei. Da täuscht ihr euch gewaltig.

Mit dieser Kisten Strafe, hatte es Radujew geschafft, mich völlig zu zerbrechen und dafür zu sorgen, dass ich bis zum Beginn der Sommerferien in der vierten Klasse, ein braver alles machender Rekrut wurde. Der sich nicht einmal mehr traute, ohne Erlaubnis Luft zu holen. Nur, um nie wieder dort hinein zu müssen, hätte ich Kari getötet oder sie mich. Bei Kari war das genau das Gleiche. Sie funktionierte nach dieser einen Woche, wie ein Roboter. Sie sprach nicht mehr und machte nur noch das, was ihr befohlen wurde, genau wie ich. Befahl man uns esst, dann aßen wir. Befahl man uns das nicht, saßen wir vor dem gefüllten Teller und rührten es nicht an. Wir aßen nichts, wir tranken nichts, aus purer Angst, wieder mit der Dunkelzelle bestraft zu werden.

Die Dunkelheit in der Kiste war unvorstellbar grausam. Klar nachts war es überall dunkel. Aber das war eine andere Dunkelheit, als in der Kiste. Es gab in Zimmern oder in der Natur immer irgendwelche dunkle Ecke. Aber auch dort gab es hellere oder dunklere Schatten, es war dort nie so eine vollkommene Dunkelheit. In dieser Kiste dagegen war alles von einem gleichmäßigen schwarz, ohne einen Nuance unterschied. Nicht der kleinste Lichtstrahl drang hinein. Das schlimmste allerdings war, dass diese Kiste schallisoliert wurde und man auch kein noch so kleines Geräusch hörte. Das wurde gemacht, weil man irgendwann in dieser Kiste anfing zu schreien und man die anderen Bewohner der Schule, vor den Schreien schützen wollte. Wenn sich am Morgen die Klappe öffnete, um mit einem Wasserstrahl die Kiste zu reinigen, warst du blind. Das Licht tat so in den Augen weh, dass du schreien musstest, ob du das wolltest oder nicht. Du drehtest dich weg vom Licht, um das Brennen in deinen Augen etwas zu lindern. Wenn abends deine Tasse mit Wasser kam, spürtest du das, wenn der Riegel für die Klappe geöffnet wurde. Dann schloss du schon die Augen, wenn du diese kleine Vibration spürtest, die beim Aufschieben des Riegels entstanden. Nur um nicht noch einmal, durch diesen Schmerz gehen zu müssen. Vor allem wurde es mit jedem verdammten Tag schlimmer, den du in der Kiste warst. War die Tür oder die Klappe geschlossen, wünschtest du dir, sie würde sich gleich wieder öffnen. War sie offen, wünschtest du dir, sie bliebe für ewig geschlossen. All deine Gefühle spielten verrückt. Du wurdest in einen Gefühlskarussell, hin und her geschleudert und fandest nirgends einen Halt.

Das Gehirn war ein eigenartiges Organ, es war das einzige Organ, das nur mit Reizen von draußen richtig funktionieren konnte. In dieser Dunkelheit spielte es völlig verrückt. Gab es allerdings keinerlei Reize, suchte es sie sich und fand die unmöglichsten Sachen, um völlig durchzudrehen. Es herrschte völlige Dunkelheit in der Kiste und vor allem waren da keinerlei Geräusche. Du sahst deine Hand vor den Augen nicht, wenn du sie auf deine Nasespitze hieltst. Du spürtest sie zwar, aber du konntest sie nicht sehen. Man war sich nicht sicher, ob man stand oder ob man lag. Man verlor völlig die Orientierung in der Kiste, weil man absolut nichts mehr sah. Die Kiste war aber so klein, dass man nicht darin stehen konnte. Man musste sich zusammenrollen und stieß trotzdem mit den Kopf und den Füßen an die Wand. Nicht einmal ich, die Kleinste und zierlichste aus der deutschen Klasse, hatte damals eine Chance, mich diagonal auszustrecken, weil die Kiste einfach zu klein war. Da man aber auch nichts hört, suchen die Ohren nach irgendwelchen Geräuschen, die sie kannten. Aber da war nichts. Glaubt mir eins, es war die wahr gewordenen Hölle auf Erden und die Bestrafung, vor der sich wirklich für den Rest unserer Schulzeit, alle fürchteten. Nach einer halben Stunde absoluter Dunkelheit, hörte man auf einmal etwas. Man konnte, das Geräusch aber nicht einordnen. Dieser verdammte Ton wurde immer lauter und lauter und lauter. Er machte eine ungeheurere Angst, weil der Ton auf dich zukam und man es nicht einordnen konnte, woher dieser Ton überhaupt kommt. Längst hatte man in der verdammten Dunkelheit, völlig die Orientierung verloren. Man wusste nach wenigen Minuten nicht mehr, wo oben und unten, rechts oder links, hinten oder vorne war. Irgendwann hatte man das Gefühl, dass die Kiste immer kleiner wurde, weil man sich nur ein einziges Mal lang machen wollte. Zu dem ersten Geräusch, kamen immer mehr Geräusche dazu, die man genauso wenig einordnen konnte. Das macht einen eine ungeheure Angst. Dinge die man kannte, konnte kein Kind erschrecken. Aber Sachen die man nicht kannte, umso mehr. Irgendwann merkte man, dass die Geräusche, das einen so erschreckte hatte, zu einen selber gehörten. Es war das eigene Herz das schlug. Das Zischen kam aus der eigenen Lunge, wenn man atmete und das Blubbern war das Geräusch, das in den eigenen Därmen entstand, wenn der Hunger kam. Ihr mögt jetzt vielleicht darüber lächeln, aber diese Geräusche machen einen, in dieser absoluter Dunkelheit, eine wahnsinnige Angst. Sie gaugelten einem vor, da wäre etwas in der Kiste, dass dich bedrohen könnte. Aber du sahst ja die Hand vor deinen Augen nicht. Bei jedem Geräusch, das neu auftauchte, überlegte man, was das war und grübelte solange darüber nach, bis man heraus bekommen hatte, wo es her kam und was es zu bedeuten hatte. Es kamen einen die absurdesten Gedanken, wer oder was für die Geräusche verantwortlich sein könnte. Glaubt mir eins, so fühlte es sich an, wenn man lebendig begraben und tief unter der Erde lag. Sich vor allem nicht selber befreien konnte.

Wir hatten in dieser Kiste alles probiert, denn siebenmal vierundzwanzig Stunden, waren eine verdammt lange Ewigkeit. Wir hatten versucht sie auseinander zu drücken, zu treten, zu schlagen, aber nichts hatte geholfen. Die Dunkelkammern waren so stabil gebaut, dass man sie von innen heraus, einfach nicht zerstören konnte. Wenn man irgendwann, jegliches Raum und Zeitgefühl verloren hatte, war es eine endlose Strafe, die mit unsäglichen Schmerzen beendet wurde. Man war freute sich nur beim allerersten Mal darauf, endlich aus der Kiste zu kommen. Aber die Strafe endete nicht, wenn die Kiste aufging. Dann bekamst du eine weitere und noch schlimmere Strafe. Es dauerte Stunden voller Schmerzen, bis sich die Augen wieder etwas ans Licht gewöhnt hatten. Vor allem aber, bis du deine Beine wieder spürtest und die Schmerzen in den steifen Gelenken nachließen. Es dauerte Tage, bis deine Augen wieder einigermaßen richtig funktionierten. Beim zweitemal Bestrafung, mit der Dunkelkammer, wurde es noch schlimmer. Du wusstest dann nämlich, was nach der Kiste auf dich zukam und wolltest das nicht noch einmal erleben.

Ich glaube mich hatte in dieser Zeit nur eins gerettet, meine Gabe des Träumens und meine unendlichen Fantasie. Diese Gabe, wie ich es immer nenne, erlaubte es mir dieser Kiste zu entfliehen. Die Fähigkeit mich von Orten weg zu träumen, die mich in Angst und Schrecken versetzten und wo es mir nicht gut ging. Ich stellte mir in meiner Fantasie eine große Wiese vor. Auf der ich mit Klärchen, meinem Herrn Bär und Donald Duck, spazieren ritt und mich in die Wälder auf den Drachenbergen zurückziehen konnte und als freier Mensch allerlei Abenteuer erlebte. Hätte ich diese Fähigkeit nicht gehabt, ich glaube ich wäre an diesen Kisten völlig zerbrochen. Aber die sieben Tage hinterließen auch bei mir, einen nicht zu unterschätzenden Eindruck. Ich war für Monate völlig verstört. Nur in den ersten Tagen, half mir meine Fantasie, der Kiste zu entfliehen. Irgendwann funktionierte dieser Trick nicht mehr und die Dunkelheit holte mich zurück in die Realität. Kari, die nicht so viel Fantasie, wie ich besaß und sich nicht wegträumen konnte, wäre fast völlig daran zerbrochen, an diesem einen Mal Dunkelkammer. Sie brauchte nie wieder dort rein, jedenfalls nie wieder für eine ganze Woche. Lieber hatte ich dann ihre Strafe auf mich genommen, um sie zu beschützen. Da ich nur zu gut wusste, dass sie ein weiteres Mal, diese unmenschliche Tortur nicht überleben würde.

Sebastian wurde nur für drei Tage in die Kiste gesperrt, etwa zwei Jahre nach unserem Fluchtversuch, weil er seine Waffe nicht geputzt hatte. Er hatte sich nie wieder davon erholt. Ich behaupte noch immer, dass er bis zu seinem Tod, in eben dieser Kiste gefangen blieb. Er hat seine Kiste nie wieder verlassen können. Er wurde Anfang des Jahres, wegen einer Bagatelle mit drei Tagen Kiste bestraft und kam nach neun Wochen auf der Krankenstation, zurück nach Deutschland und starb im Jahr 2011 in der Psychiatrie, in die er Anfang 1970 eingeliefert wurde. Erst nach der Wende gelang es mir, ihn ausfindig zu machen und erzählte den dortigen Ärzten, was damals wirklich passiert war. Trotzdem hatte nie wieder jemand Zugang zu Seb, wie wir ihn nannten gefunden. Vielleicht machte es deutlich, wie hart diese Strafe wirklich war.

Manchmal denke ich, dass Radujew ein ausgezeichneter Beobachter war. Er fand immer wieder unmenschlichen Strafen, die uns Kinder völlig einschüchtern konnten. Ich glaube er hatte seit dem Tag, an dem er die Leitung der Schule übernahm, nie etwas anderes gemacht, als sich schlimme Strafen auszudenken und sie vor allem an mir auszuprobieren. Das war seine größte Freude und sein größtes Talent.

*

Als wir nach der Woche Dunkelkammer, zurück in unsere Stube kamen. Waren Kari und ich völlig blind und brauchten fast zwei Wochen, bis wir wieder einigermaßen klar sehen konnten. Pavel, der uns in die Stube brachte, sorgte dafür, dass man uns erst einmal in Ruhe ließ, bis er den Doktor geholt hatte. Kari und ich waren nur noch ein Häufchen Unglück, ein Schatten von uns selbst.

Ich glaube, wäre einer unserer Kameraden, damals auf uns zugekommen, wir hätten ihn ohne zu zögern einfach getötet. Solch eine Angst hatten wir, weil wir nichts mehr sahen. Kari und auch ich, waren völlig von der Rolle und in einer absoluten Panik, die ich seit dieser Zeit, nie wieder erlebt habe. Wir wussten weder wo wir sind und vor allem nicht, wer in unserer Nähe war und das machte uns eine Höllenangst. Wir sahen ja nichts. Klar hatten wir begriffen, dass wir nicht mehr in der Kiste steckten, aber es war immer noch völlig dunkel, um uns herum. Nein das stimmt eigentlich nicht. Es war um uns herum eine gleißende Helligkeit, die noch mehr weh tat, als die Dunkelheit davor. Trotzdem es unnatürlich hell um uns herum war, waren wir vollkommen blind. Etwas dass wir uns nicht erklären konnten und wovon wir dachten, dass es jetzt immer so bliebe.

Erst eine halbe Stunde später kamen Dunja, Petrow und Doktor Konrad zu uns, die von Pavel angerufen wurde. Unser Hausmeister hatte Angst, um sich und unsere Kameraden, weil er nicht einschätzen konnte in welcher psychischen Verfassung, wir waren. Er stufte uns, so gestand er mir später, als überaus gefährlich ein und war sich sicher, dass wir nicht mehr wussten, was wir taten. Da stimme ich mit ihm völlig überein. Ich hätte damals jeden angegriffen, ohne darüber nachzudenken, der es auch nur gewagt hätte, mich zu berühren. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne, weil ich ihnen nicht mehr vertraute.

Ich weiß noch wie heute, als die Kiste aufging und mir jemand heraushelfen wollte, drehte ich völlig durch. Die zwei Betreuer, die den Befehl bekamen, uns aus der Kiste zu holen, hatten alle Hände voll zu tun. Da Kari und ich uns wie verrückt gegen jede Art von Berührung wehrten. Die Schmerzen in unseren Augen und in den Gelenken, die wir seit einer Woche nicht mehr ausgestreckt hatten, brachten uns um und raubten uns den letzten bisschen Verstand, der uns geblieben war. Wir sahen nichts und jemand griff nach uns. Wir gerieten in eine absolute Panik. Als mich Pavel anfasste, um mich nach drüben in unsere Stube zu bringen, fing ich an zu schreien und trat, biss und schlug, wie eine Wahnsinnige um mich. Genauso erging es den Betreuern mit Kari. Etwas, dass ich nicht sehen konnte, berührte mich. Auch Kari erging es nicht besser, wie mir. Ich glaube zu diesem Zeitpunkt, hatten weder Kari noch ich realisiert, dass wir nicht mehr in der Kiste waren.

Pavel, der uns ja alleine zurück in die Stube bringen musste, hatte seine liebe Not mit uns Beiden. Da wir nichts sahen und auf jede Berührung mit wahnsinnigen Schreien reagierten, musste er sehr viel Geduld aufbringen, bis er endlich zu uns durchdrang. Pavel erzählte mir viele Jahre später einmal, dass das sein schlimmster Tag auf unserer Schule war. Den er bis zu seinen Sterbetag nie vergessen würde. Und er Radujew gesagt hatte, er würde diese Aufgabe kein zweites Mal übernehmen, lieber würde er kündigen. Er hätte viele Jahre lang, deshalb schlimme Alpträume gehabt. Erst durch die ständige Wiederholung, immer der gleichen Worte, hätte er dann erreicht, dass wir uns helfen ließen. Ich vermute, durch seine ruhige und freundliche Stimme, kam er irgendwann, zu unseren verworrenen Geist durch und konnte uns klar machen, dass er uns in unser Zimmer bringen wollte. Dass wir uns dann in unser Bett legen könnten, um uns zu erholen. Das wir dreckig und beschießen waren und wir stanken wie eine ganze Herde Iltisse, war Pavel glaube ich, gar nicht richtig bewusst geworden oder er hatte es einfach nur beiseitegeschoben.

Erst als Dunja mit Doktor Konrad und Petrow in den Raum kamen und alle darin begrüßten:

"Verdammt wie stinkt es denn hier", wurde auch Pavel das Ausmaß des Gestankes bewusst, den Kari und ich verbreiteten.

Aber selbst, wenn wir es gewollt hätten, wir wären gar nicht in der Lage gewesen, uns zu waschen. Fassungslos sahen uns die vier Erwachsenen an. Wir waren völlig fertig, und völlig verängstig und saßen unter unseren Betten. Uns so klein wie möglich machend, um ja keine Angriffsfläche zu bieten. Solche Angst hatte uns diese Bestrafung gemacht. Vor allem hatte sie uns völlig aus unserem seelischen Gleichgewicht gebracht. Genau wie bei Pavel fingen wir an zu schreien, sobald uns einer berührte. Dabei spielte es keine Rolle, ob es Kameraden aus der Stube versuchten oder ein Erwachsener war, der uns berühren wollte. Wir hatten vor allem und jeden Angst.

Konrad verzweifelte dieses Mal völlig an uns. Da er uns trotz seiner endlosen Geduld, nicht freiwillig unter unseren Betten hervor holen konnte. Nach fast acht Stunden gut Zuredens, gab Konrad endlich auf. Da aller Zuspruch nichts mehr half, holte er sich Narciza und Idina dazu, die beiden Sanitäterinnen, die für die Krankenstation eingeteilt waren. Vor allem waren beide sehr gute Nahkampftrainer, die uns Kinder körperlich und wie auch kampftechnisch gewachsen waren. Entgegen seiner sonstigen Art, musste der Arzt diesmal, mit purer Gewalt gegen uns vorgehen, um uns unter den Betten hervorzuholen. Alles Gute Zureden hatte dem Doktor hier nichts genutzt, der eigentlich gegen solche Gewaltakte war.

Idina und Narciza bekamen uns nur einzeln unter dem Bett hervor und in die Dusche auf der Krankenstation. Sie mussten uns fesseln, um uns bändigen zu können, so bissen, traten und schlugen wir um uns. Wir mussten allerdings duschen, da wir voller Urin und Exkremente waren, die an uns immer wieder getrocknet waren. So gut es ging, wurden wir durch die beiden Sanitäterinnen erst einmal gewaschen und neu angezogen. Vor allem aber, kontrollierten sie uns auf Verletzungen, die bei dem Kampf mit uns entstanden sein konnten. Nach weiteren vier Stunden, hatten uns die beiden Trainerinnen endlich in den Krankenbetten fixiert und Konrad konnte uns ruhig spritzen. Völlig fertig von dem stundenlangen Kampf und durch die Wirkung der Spritze, schliefen wir beide erst einmal. Unsere beiden Nahkampftrainerinnen wurden im Nachhinein auch erst einmal von Konrad verarztet, da dieser Kampf nicht ohne Blessuren für die beiden ausgegangen war. Zu heftig hatten wir uns zur Wehr gesetzt. Selbst das warme Wasser, im Duschraum der Krankenstation, brachte uns nicht zurück in die Wirklichkeit.

Es dauerte Tage, bis wir wieder etwas sahen und vor allem, wieder einigermaßen ansprechbar waren. Mit Ruhe und guten Zusprechen, war an uns beide nicht mehr heranzukommen. Konrad machte Radujew große Vorwürfe, dass er die psychische Verfassung von Kari und mir zu Verantworten hätte. Dass wir beide für mehrere Wochen auf der Krankenstation liegen mussten. Denn Kari und auch ich, lagen bis Ende Mai 68 bei Konrad auf Station, bis er uns nach unten auf die Stube ließ. Trotzdem nässten wir danach, über ein Jahr lang, jede Nacht ins Bett. Es dauerte lange bis wir diese Sache wirklich überwunden hatten und die Lehrer wieder einigermaßen Zugang zu uns fanden. Lange Zeit funktionierten wir nur wie Roboter und antworteten nur noch mit einer Geste, für ja und nein. Selbstständig machten wir gar keine mehr und die Lehrer beschwerten sich ständig bei Konrad darüber, dass wir nicht ordentlich im Unterricht mit machen würden.

Zum Glück kümmerten sich unsere Kameraden fürsorglich um uns, so dass wir das Erlebte einigermaßen schnell verarbeiten konnten. Sie sorgten dafür, dass wir aßen und tranken, zogen uns durch alle Trainingsmaßnahmen. Bis wir langsam begriffen, dass wir in ihrer Nähe sicher waren und sie auf uns aufpassen würden. Unser Teamgeist machte sich also bezahlt, uns wurde geholfen. Obwohl wir das eigentlich nicht verdient hatten. Ich glaube durch diese heftige Bestrafung mit der Dunkelzelle, die wir erhalten hatten, war der Verrat den wir damals an unseren Kameraden ja eigentlich begangen hatten, gesühnt.

Keiner von ihnen legte es darauf an, in die Dunkelzelle zu kommen. Erst ein reichliches halbes Jahr später waren Kari und ich dazu in der Lage, unseren Kameraden zu erklären, warum wir ausgerissen waren. Auf dieses Gespräch hatte unser Schularzt gepocht. Da er nicht zulassen wollte, dass wir noch einmal in solch eine Situation kamen. Er schilderte unserer Stube immer wieder, in welch schlechter Verfassung er uns gefunden hatte. Nur einen halben Tag später, hätten wir Erfolg gehabt und wären unserer Schule entkommen.

Zum Teil war es ja auch die Schuld der anderen Kameraden, die immer wieder Strafen, die eigentlich sie selber aussitzen mussten, auf uns abgewälzt hatten. Irgendwann konnten wir das nicht mehr ertragen und fühlten uns, von allen Seiten im Stich gelassen und angegriffen. Erst als wir das geklärt hatten, trat in unserer Stube wirklich wieder Ruhe ein und wir kämpften wieder vereint, gegen unseren größten Feind auf der Schule, gegen Radujew.

***

*** Gefühle sind verboten ***

***

Ja das mit den Gefühlen, das war so eine Sache, die ich bis zum heutigen Tag nicht wirklich in den Griff bekommen hatte. Gefühle unterdrückte ich immer noch so gut es halt ging. Ich zeigte sie nur sehr selten. Das war ein Thema, über das wir in meiner Familie und meinem Freundeskreis leider viel zu oft diskutierten. Nur wer mich sehr genau kannte, bekam sofort mit, wenn ich mies drauf war. Laut zu lachen und zu weinen, habe ich erst viele Jahre nach meiner Schulzeit gelernt und es geschah heute noch äußerst selten, dass ich es in der Öffentlichkeit tat. Vor allem für neue Leute in unseren Einheiten, war das oft schwer. Die meisten waren es nicht gewohnt, dass man auf solche Sachen achten musste. Oft nannte man mich ein eiskaltes Luder, was mich immer ärgerte, denn ich war das nicht. Ich hatte leider viel zu viele Emotionen und es fiel mir oft schwer sie zu kontrollieren. Ich weiß es ist ein Widerspruch in sich selbst, aber es kommt der Wahrheit am nächsten.

Es war auch heute noch so, dass sich bei mir mit einem Mal die Emotionen entluden, die ich oft Monate lang unterdrücken konnte. Oft passierte es bei Nichtigkeiten, dass ich aus der Haut fuhr oder wie es meine Kollegen oft nannten, mir der Kragen platzte. Das behaupteten jedenfalls meine Freunde und meine Familie. Warum das so war, kann ich bis heute nicht genau erklären. Ich vermute, dann wurde der Duck in mir einfach zu hoch. Das Übel lag, wie viele Unarten von mir, in meiner Kindheit. Ich weiß man sollte nicht alles auf seine Kindheit schieben, aber vieles nahm nun einmal dort seinen Anfang. Sachen die man sich in seiner Kindheit angewöhnt hatte, ließen sich im Alter sehr schwer bekämpfen. Wobei wir wieder einmal beim Thema wären, meiner Schulzeit.

*

Wir mussten in der ersten Klasse sehr schnell lernen, uns nie anmerken zu lassen, wie wir drauf waren. Dann nämlich hatten uns unsere Lehrer, nämlich in der Hand. Merkten sie, dass wir schlecht drauf waren, warum auch immer, stocherten sie so lange in der Wunde herum, bis wir uns provozieren ließen. Nur damit sie einen Grund hatten, uns zu bestrafen. Bekam man zu oft deswegen eine harte Strafe aufgebrummt, gewöhnt man sich halt ab, solche Dinge noch zu zeigen. Vielleicht lag die Ursache dieses eigentlichen Problems. Das ja nicht nur bei mir der Fall war. Oder es lag bei einem Vorfall, der in der 5. Klasse passiert war, dass wir unsere Gefühle so gut verbargen, um nicht ständig angreifbar zu sein. Dieser Vorfall, hatte uns, so glaube ich es heute, sehr nachhaltig geprägt.

Wir waren ja eine gemischte Klasse und die in der ersten Klasse aus zehn Mädchen und fünfzehn Jungs bestand. Also kannten wir den Unterschied zwischen den Geschlechtern, sehr genau. Es ließ sich ja vor uns nicht verheimlichen, da wir in einem Raum lebten, uns wuschen und vierundzwanzig Stunden am Tag zusammen waren. Trotzdem verschwammen die Unterschiede irgendwann. Vor allem nach diesem schweren Unfall, der sich während des Trainings ereignete und dem Trost, den alle danach suchten.

*

Wie wir es seit der ersten Klasse schon hunderte Male gemacht hatten, bauten wir wieder einmal eine Seilbrücke, über eine schwierig zu überwindende Schlucht. Unsere Brücken blieben ja nie lange bestehen. Sie wurden immer wieder von den Betreuern eingerissen, damit wir im Training blieben. Irgendwann bekam man schließlich in eine gewisse Routine, die, wie ich seit diesem Tag wusste, nicht sehr gut war. Da man die Handgriffe automatisch machte und nicht mehr über seine Tätigkeit nachdachte. Gerade bei solchen kniffligen Sachen, bei denen es um die Sicherheit aller ging, durfte das nicht passieren. Glaubt mir, diesen Fehler haben wir nur ein einziges Mal gemacht, denn wir haben ihn sehr teuer bezahlt. Danach kontrollierten wir jeden Baum, jeden Fels, jedes Seil, jeden Haken und jedes Band aufs Genauste.

Der Trainingsauftrag hieß, bringt die "Verletzten" von einer Seite der Schlucht zur anderen und nutzt dazu eine Nepalbrücke. Wie gesagt, wir hatten das schon viele hunderte Male gemacht und absolvierten jeden Handgriff schon aus dem Schlaf heraus. Wo wir auch bei der grundlegenden Ursache, des tragischen Unfalls waren: Unseren ständigen Schlafmangel.

Wir hatten Tags zuvor einen der vielen Übungstests, die wir in einem Schuljahr machen mussten und kamen erst kurz vor 3 Uhr am Morgen in der Schule an. Es war Anfang Februar 1969 und es war schweinekalt. Das Thermometer zeigte minus 18°C an, also eine Temperaturen, wo man sich nicht gern lange draußen aufhielt. Schnell legten wir uns für eine reichliche Stunde hin, um wenigstens etwas aufzutauen und noch einige Minuten zu schlafen. Völlig übermüdet und vor allem Kräftemäßig ausgelaugt, standen wir um 4 Uhr 30 auf dem Exerzierplatz, zu unserem täglichen Fahnenappell. Halb schlafend nahmen wir unsere Tagesbefehle entgegen und machten uns, nach dem eilig eingenommen Frühstück, auf den Weg zum Übungsgelände. Auf dem wir unsere Ausbildung heute bekommen sollten. Die Trainer fuhren immer später los, gerade dann wenn es arg kalt war. Da sie ja mit dem Jeep fahren konnten und in Ruhe frühstücken wollten. Wir allerdings mussten wie immer laufen. Völlig fertig gönnten wir uns eine kleine Pause, da wir die Stelle zum Brücken bauen sehr genau kannten. Wir wussten, wo wir die Seile festzurren mussten. Ein Lagerfeuer hatten wir schnell gemacht und setzten uns, eng aneinander gekuschelt, drum herum. Da wir fast alle sehr gute Kletterer waren, gönnten wir uns diese zehn Minuten Pause noch. Da das, was wir vor hatten, eine kräftezehrende Angelegenheit war, so dass wir uns noch etwas ausruhen konnten. Wir würden dann die schnellsten Kletterer losschicken, die die Seile auf der anderen Seite der Schlucht befestigen mussten. So hatten wir es immer gemacht und waren gut damit gefahren. Also schliefen alle, bis auf Rudi, Andi und Kalle, die die Aufgabe der Wachposten übernommen hatten. Sie waren unseren schlechtesten Kletterer. Auf diese Weise, konnten wir uns noch etwas zu erholen. Die drei würden dann schlafen, wenn wir die Brücke zusammenbauten. So hatten wir die Erfahrung gemacht, dass wir rechtzeitig fertig waren und nur das zählte. Wie gesagt, es hatte sich Routine in unseren Brückenbau eingeschlichen. Wir griffen einfach auf unsere gemachten und bewährten Erfahrungen in dieser Übung zurück. Beachteten allerdings dabei einen wichtigen Punkt nicht richtig, nämlich die Temperaturen, die an jenen verhängnisvollen Tag herrschten. Das Brücken bauen machten wir gern, aber nur an Übergängen die anspruchsvoll waren und die wir noch nicht kannten. Nach einer viertel Stunde erklang der Schrei eines Kauzes, das Zeichen dass uns Kalle machte, um zu signalisieren, dass er die Jeeps unseres Ausbilders in der Ferne entdeckt hatte.

Wir sprangen also auf und begannen zügig mit dem Abseilen unserer Kletterer. An dieser Stelle achteten wir sehr genau, auf die Sicherung der Kletterer. Wir waren dabei immer sehr genau, denn durch die Überhänge an diesen Felswänden war das Abseilen gefährlich. Einige Stellen in der Wand waren heimtückisch. Die in dieser Steilwand vorhandenen Bruchstellen, waren nicht ungefährlich und es hatte hier schon einige sehr unschöne Unfälle, in den Gruppen der Russen und Rumänen gegeben. Da sie diese Stelle immer wieder unterschätzt hatten. Wir waren da sehr vorsichtig und gingen auf Nummer sicher. Aber wir waren auch sehr spät dran und wollten keinen Ärger mit den Ausbildern bekommen, also mussten wir uns beeilen. Trotzdem Ivankos heute die Aufsicht für uns hatte, mussten wir es ja nicht übertreiben. Ärger wollten wir alle nicht haben.

Der steile Abgang in der Felswand ging fünfunddreißig Meter in die Tiefe und wir mussten einmal das Seil umhängen, da unsere Seile nur eine Länge von Zwanzig Metern hatten. Außerdem trugen die Kletterer das Zugseil mit sich, das man erst nach und nach abwickeln musste. Da wir an dieser Stelle schon einige Male gearbeitet hatten, besaßen wir einen Standplatz, den wir immer wieder nutzen konnten und an dem wir das Seil umhängen konnten. Er lag etwas versteckt, unmittelbar neben einer Spalte, in der sich der Ablasser des Seiles zusätzlich sichern konnte, um seinen Kletterpartner am Seil nach unten zu lassen. Wie immer bat ich die Fünf, die Haken aufs Genauste kontrollieren und lieber einen neuen Standplatz zu bauen, anstatt ein Risiko einzugehen und den alten verwitterten Haken noch einmal zu benutzen. Wir sicherten uns immer doppelt ab, denn durch das Verwittern des Felsens, kam es schnell einmal dazu, dass wir einen Sicherungshaken verloren und so war derjenige der abseilt wurde, gegen den Sturz in die Tiefe gesichert. Genauso machten wir es auf der gegenüber liegenden Seiten, an der ja unsere fünf schnellsten Kletterer, auch wieder nach oben steigen mussten. Sie mussten, bis Ivankos hier war, zu mindestens in der Wand sein und die Hälfte der Strecke nach oben geschafft haben. Wie immer klappte das Abseilen besser, als der Aufstieg und ich stand wieder einmal wie auf Kohlen, oben an der Kante des Abhangs und verfluchte mich, dass ich nicht mitgegangen war. Aber ich war nicht schnell genug beim Aufstieg, mir fehlte einfach die notwendige Größe, um an den nächsten Griff zu kommen. Ich war mit Abstand die Kleinste in der Gruppe und noch ein Stück kleiner als der kleinste Junge, das war mein Hauptproblem beim Klettern. Außerdem war ich ungeschickt beim Klettern mit Schuhen, ich zog es vor Barfuß zu klettern. Bei minus 18°C war das allerdings nicht empfehlenswert. Zehn Zentimeter Größen Unterschied machten oft viel aus, um einen sicheren Griff zu finden, den die Größeren und Schwereren der Gruppe nutzten, um sich ein Stück weiterzuziehen. Oft kam ich an diese kleinen Mulden nicht ohne Hilfe heran. Hilflos, auf der anderen Seite zu stehen und zu gucken zu müssen, wie die anderen sich, an der schlimmsten Stelle des Aufstiegs in die Höhe quälten, war für mich immer die Hölle. Da ich immer um die Sicherheit der Kletterer besorgt war.

Juri kam zu mir und zog mich ein Stück vom Rand der Schlucht weg. "Verdammt noch mal Charly, willst du runterfallen. Du nutzt denen drüben nichts, wenn du tot auf dem Boden der Schlucht liegst", schimpfte sie mich aus.

Sie wusste nur zu genau, wie sehr ich mir Sorgen, um unsere Kletterer machte. Oft vergaß ich dabei meine eigene Sicherheit.

"Hast ja Recht, Juri", stimmte ich ihr zu und folgte ihr brav zurück, zu den Anderen.

Man sah von dieser Stelle aus genauso viel, wie von der Kante des Felsens. Kopfschüttelnd sahen mich alle an. Es war immer dasselbe mit mir. Wenn ich recht überlegte, traute ich eigentlich niemand zu hundert Prozent. Ich kontrollierte viele Dinge doppelt und dreifach, weil ich mir sicher sein wollte, dass wirklich alles so war, wie es sein sollte. Heute noch denke ich, dass ich den schlimmen Unfall hätte verhindern können, wenn ich selber mit geklettert wäre. Bei aller Zeitnot, die wir durch unsere kurze Ruhephase hatten, wäre ich auf Nummer sicher gegangen und hätte die Seilhalterung noch einmal überprüft. Aber hätte, können und sollen, waren Worte, die im Nachhinein einfach nichts mehr halfen. Vorwürfe brachten auch hinterher nichts mehr, es war halt passiert und würde nie wieder passieren. An diesen Tag hatte ich allerdings, nicht für umsonst, ein verdammt schlechtes Gefühl in meinem Bauch. In der Zukunft würde ich mehr auf meine Bauchgefühle hören, das begriff ich an diesem Tag.

"Charly, es ist alles gut", redete mir nun auch noch Pepe ins Gewissen.

Der sah, wie ich auf meinen Fingernägeln kaute. Das war ein typisches Zeichen für mich, dass ich hochkonzentriert, auf die anderen war und mir ernsthafte Sorgen machte.

"Lasst mich einfach in Ruhe. Ich hab so ein scheiß Gefühl in meinem Bauch, dass gleich etwas Schlimmes passiert", pulverte ich ihn unbewusst an.

Meine Leute stöhnten auf. Wenn ich schon laut über ein schlechtes Gefühl sprach, passierte meistens irgendetwas Schlimmes. Aber unsere Kletterer kamen alle Fünf heil oben an und zogen sofort das Erste Seil zur anderen Seite hinüber. Als Ivankos bei uns ein traf, waren wir also schon beim Bau der Brücke. Erleichtert atmete ich auf. Das Schlimmste, so dachte ich Leichtsinnigerweise, hatten wir geschafft. Der Rest war nur noch ein Kinderspiel.

Wir ließen erst unsere Kletterer, dass Trageseil hinüberziehen und ihr Seilende am vorgesehen Baum befestigen. Das Trageseil, also das Seil auf dem wir später laufen mussten, wurde mit einem sogenannten Zimmermannsschlag befestigt. Das war eine bewährte Knotentechnik, die vielen auch unter den Namen Achterknoten bekannt war. Um den Baum wurde ein Band gelegt, um den Baum zu schützen und daran wurde dann das Seil geknotet. Auf diese Weise konnten wir das zehn Millimeter starke Trageseil, unserer Nepalbrücke, am vorgesehenen Platz befestigen. Da die Schlucht über vierzig Meter breit war, mussten wir dafür sorgen, dass die Bodenbefestigung richtig saß und sich nicht wieder lösen konnte, weil sich die Wurzeln aus dem Boden lösten. Die Standhaftigkeit der Bäume, kontrollierten meine Kameraden auf der anderen Seite der Schlucht ordentlich. Ich war beruhigt und kümmerte mich um meinen Teil der Arbeit, der Kontrolle und Anwendung unserer Flaschenzüge. Davon hing das Leben aller ab, die diese Brücke betreten würden. Danach holten wir unser Zugseil zurück, um auch die beiden Haltetaue nacheinander auf die andere Seite ziehen zu können. Die drei Seile, Tragseil und rechts und links ein Halteseil, wurden wie ein V gespannt und man konnte sich rechts und links festhalten, wenn man über das Trageseil lief.

Nach dem das Trageseil auf der anderen Seite ordentlich befestigt war, konnten wir auf unserer Seite die Flaschenzüge am Seil anbringen und das Seil spannen. Die Seile durften nicht mehr als zehn Prozent durchhängen, ansonsten war die Brücke nicht sicher genug. Fertig mit dem Spannen des Trageseils, widmeten sich diejenigen von uns, die fürs Spannen der Seile zuständig waren, um das erste der beiden Halteseile. Die Zugmannschaft, holte das Zugseil zurück und befestigte das zweite Halteseil daran, damit die Kletterer es auf der anderen Seite befestigen konnten. Schnell war auch das dritte Tauende auf der anderen Seite befestigt. Wie ich heute wusste, viel zu schnell. Im Seitenblick hatte ich gesehen, dass alle Gurte und Seile kontrolliert wurden, das beruhigte mich. Aber scheinbar wurden die Gurte nur auf Sicht kontrolliert und nicht auf Schäden untersucht. Ich vermute, durch die Kälte und die damit steifen Finger der Kletterer, wurden die kleinen Schäden der Bandschlinge übersehen. Wenn man selber eine komplizierte Arbeit machte, die volle Konzentration erforderte, achtete man nicht so genau darauf, was die anderen machten. Das Spannen der Seile, war eine verdammt knifflige Aufgabe. Da die Seile nicht zu locker, aber auch nicht zu fest gespannt sein durften. Das war erste und letzte Mal, dass uns dieser Fehler passierte. Weil sich unsere Kletterer beeilen wollten und bedingt durch die Kälte, nahmen sie einfach den Baum, den wir immer genutzt hatten und legten das Band ohne genaue Untersuchung einfach darum. Sie übersahen dabei Nägel die irgendwer in den Baum geschlagen hatte. Gerade im Winter war das mehr als gefährlich, weil das Material dann noch empfindlicher war. Sie legten gewohnheitsgemäße eine doppelte Bandschlinge, um den Baum und bemerkten nicht, dass die aufgeraut Stelle der Bandschlinge, genau über den Nagel lag. Das war ein tödlicher Fehler, der vermeidbar gewesen wäre. Den Nagel hätte man herausholen müssen und wir hatten immer genügend Bänder mit, so dass man das Band hätte tauschen können und nichts wäre passiert.

Natürlich spannten wir die Seile ordentlich und Ivankos überprüfte jedes einzelne Band und Seil, so wie es ordnungsgemäß durchgeführt werden musste. Auch auf der anderen Seite der Schlucht, kontrollierte unser Betreuer, ob alles in Ordnung war. Unsere fünf Kletterer kamen zurück und überquerten nach einander, die Brücke ohne jegliche Probleme. Sie befestigten beim zurück Kommen, sogar die sogenannten Stabilisierungsseile, so dass die Träger der "Verwundeten" einen besseren Halt hatten. Diese Querseile, wie wir sie immer nannten, waren eigentlich nur dazu gut, das Umsetzen des Karabinerhakens zu üben. Denn nur die Querseile brachten keine Stabilität in diese Art des Brückenbauens. Um eine Nepalbrücke dazu zu bringen stabil zu sein, war viel mehr nötig und so viel Zeit hatten wir nie. Zu mehr als das Üben, des Umsetzen eines Karabinerhakens, waren die deshalb nicht nutzbar. Diese Art der Seilbrücken war sehr instabil und es gehörte eine unglaubliche Körperbeherrschung und viel Mut dazu, sie zu überwinden. Angst vor Höhen durfte man auf diesen Brücken nicht haben, dann gab es wirklich ein Unglück. Vor allem, darüber mit einem "Verwundeten" auf den Rücken oder einer Trage zu laufen war sehr schwierig. Man war zwar mit zwei Sicherungsseilen rechts und links am Halteseil gesichert, aber es blieb immer noch eine verdammt wacklige Angelegenheit. Vor allem musste der Hintermann bei jeder Querstrebe vier Haken umwechseln, wenn man einen "Verwundeten" auf der Trage trug oder jeder der einen "Verwundeten" auf seinen Rücken trug.

Nach der Abnahme des Seiles, durch unseren Ausbilder, mussten wir diesen Balanceakt, nun hinter uns bringen, vor denen uns immer so sehr graute. Keiner von uns hatte noch Höhenangst oder Probleme mit dem Gleichgewicht. Selbst ich konnte, mit meinem kaputten Ohr und dem dadurch gestörten Gleichgewichtssinn, ohne weitere Probleme auf dieser Brücke laufen. Wir hatten das schon so oft geübt, dass es uns keine Angst mehr machte. Das wirkliche Problem, war derjenige den du auf deinem Rücken oder auf einer Trage über diese Brücke bringen musstest. Verhielt derjenige sich nicht vollkommen still, brachte er dich und deinen Vordermann völlig aus dem Gleichgewicht und du stürztest, ob du das nun wolltest oder nicht, in die Tiefe. In solch einem Moment, nutzt dir auch dein Gleichgewicht nichts mehr. Nochmals machte ich meine Gruppe auf diesen Punkt aufmerksam, da dieses verdammte ungute Gefühl, nicht aus meinem Bauch verschwinden wollte.

Tief holten wir alle Luft und machten uns bereit, für unsere eigentliche Aufgabe. Wir sollten immer mit zwei Mann, einen "Verwundeten" auf einer Trage, über die unüberwindbare Schlucht transportieren. Schnell waren aus unserem Gepäck, die Decken herausgeholt und mit dünnen Baumstämmen, acht Tragen gebaut. Wir nahmen unsere Gürtel, um diese als Tragegurten zu nutzen. Immer ein Paar ging mit einem "Verwundeten" über die Brücke und wechselte dann vom "Verwundeten" zum Träger. So dass Jeder einmal getragen wurde und zweimal tragen musste. Zum Schluss mussten nur Andi und Kalle noch einmal über die Seilbrücke, um ihre Rucksäcke zu holen, die sie vergessen hatten mitzunehmen. Ich atmete schon auf, denn alles war gut gegangen und niemand wurde verletzt. Aber immer noch hatte ich dieses blöde Gefühl in meinem Bauch und kaute auf meinen Finger herum. Eine schreckliche Angewohnheit, die ich nie abgelegt habe.

Auf die andere Seite der Brücke kamen Andi und Kalle noch ohne Probleme und holten ihre Rucksäcke. Plötzlich gab es ein eigenartiges Geräusch oder war es mehr eine Erschütterung, ich konnte es nie sagen. Oft spürte ich Geräusche mehr, als dass ich sie hörte. Ich war ja, dank Ranjow, auf meinem rechten Ohr taub. Der Mensch ersetzt aber Sinne, bis zu einem gewissen Grad durch andere Sinne, wenn eins nicht mehr so funktionierte, wie es sollte. Bei Kindern war diese Art Ersatzhörens noch ausgeprägter, als bei Erwachsenen.

"Was war das? RUHE", rief ich.

Da ich nicht wusste, was das gerade war, dass ich wahr genommen hatte. Durch mein Rufen aufmerksam geworden, lauschten die Anderen ebenfalls. Ich sah mich um, aber es war zu spät. In dem Moment in dem Kari schrie: "RUNTER ... Runter vom Seil", war es schon zu spät, zum Reagieren.

Das Seil pfiff nur so um uns herum und Andi und Kalle hingen nur noch an einem Sicherungsseil, ungefähr in der Mitte der Seilbrücke. Uns saßen allen der Schrecken in den Gliedern und ich schaute erst einmal, ob jemand von uns verletzt war. Zum Glück hatte niemand das Seil abbekommen. Ivankos, der noch auf der anderen Seite stand, sah entsetzt zu den beiden Kindern, die am Sicherungsseil in der Mitte der Schlucht hingen. Durch das losschnellen des Seiles, kamen beide aus dem Gleichgewicht und stürzten in die Tiefe.

"Bewegt euch so wenig wie möglich", rief ich den Beiden zu. "Könnt ihr eure Rucksäcke, ohne euch groß zu bewegen abwerfen", wollte ich von meinen Kameraden wissen. Da erst sah ich wie ernst die Situation wirklich war. "Scheiße, wir müssen uns beeilen", brüllte ich meine Leute an, die immer noch völlig erstarrt neben mir standen. "Kalle hat es schwer erwischt, er verblutet uns."

In dem Moment sah ich erst was geschehen war. Mein erster Gedanke, dass jemand das Seil abbekommen hatte, war richtig. Kalle bekam das Seil ab und es riss ihm das Handgelenk auf, das jetzt wie verrückt blutete. An für sich keine schwere Verletzung, die sich gut behandeln ließ, aber Kalle hing fünfunddreißig Meter über der Schlucht und hielt sich mit der gesunden Hand am Sicherungsseil fest. Wir mussten erst einmal an ihn heran kommen. Ich holte zwei Seile aus meinem Rucksack und sicherte mich an einem Seil. "Um den Baum mit dem Trageseil sichern. LOS MACHT HIN!" Jetzt wurde ich laut, weil sich immer noch keiner rührte. Endlich kamen die anderen zu sich. "Conny, du kommst mit mir, nehme auch zwei Seile und ihr sichert uns. Ich kann nicht beide hoch holen", gab ich jetzt klare Kommandos.

Conny war der leichteste und der kleinste der Jungen, nur so hatten wir eine Chance an die beiden, die am Sicherungsseil hingen, heran zu kommen.

"Kari, Stef, Seb, Pet und Kati, ihr fünf klettert ins Tal, nehmt zwei Tragen mit und Verbandszeug. Ihr bindet Kalle den Arm sofort ab, der verblutet uns", schrie ich ihnen noch über die Schulter zu und sah aus den Augenwinkeln, dass die anderen meine Zurufe mitbekommen hatten. Andi versuchte in der Zwischenzeit zu Kalle zu kommen. "Andi bleibe, wo du bist, du machst die Brücke noch instabiler als sie jetzt schon ist. Rede mit Kalle. Er soll seinen Arm abdrücken, wir sind gleich bei euch", machte ich den beiden Mut.

Mir war himmelangst und bange, denn die Brücke knarzte bei jedem Schritt mehr. Die Gefahr, dass sie bei vier Leuten und dem Gepäck von Andi und Kalle ganz nach gab, war enorm hoch. "Conny geh zurück, das hält die Brücke nicht. Gib mir deine Seile mit, ich muss das alleine versuchen", bat ich meinen Kameraden, da ich die leichteste von uns war.

Es nutzte niemanden etwas, wenn die Brücke völlig zusammenfiel. Wir mussten sehen, dass ich die beiden alleine nach unten bekam. Hoffentlich reichte meine Kraft dazu noch aus. In dem Moment, besann sich leider Ivankos auf seine Aufgabe und wollte mir entgegen kommen.

"Bleiben sie wo sie sind, das hält die Brücke nicht mehr. Wenn sie mit ihrem Gewicht auch noch auf das Seil kommen, gibt es eine Katastrophe", brüllte ich ihm zu.

Ivankos hatte sich zwar selbst gut gesichert, aber er berechnete die Rucksäcke der Leute, in das Gewicht nie mit ein. Unsere Rucksäcke hatten ein Gewicht von fünfzig bis sechzig Kilo. Ich sah kurz nach hinten und war froh, dass Conny vom Seil war und ängstlich zu Ivankos hinüber sah.

Er nahm mir das Kommando ab und schrie unseren Ausbilder an. "Zurück sie Idiot, sie bringen alle in Gefahr", dabei drehte er sich um und schnauzte alle aus unserer Gruppe an. "Weg von den Seilen, passt auf die Seile auf", rief er panisch.

Auch Conny hatte die Gefahr erkannt, die da auf uns zukam. Ich hoffte inständig, dass das Seil uns solange trug, dass ich wenigstens Kalle nach unten lassen konnte. Andi konnte ich ein Seil zuwerfen. Aber das Seil mochte uns nicht, denn Senkos wog um die hundert Kilo. Er war viel zu schwer, da jetzt fast vierhundert Kilo auf dem Seil lasteten. Es gab einen weiteren Ratsch und das zweite Halteseil gab nach. Zum Glück hatte ich mich mit einem zusätzlichen Seil gesichert und Ivankos auch. Wir hingen jetzt nur noch an diesen Sicherungseilen, da wir durch das Wegducken, des um uns herumfliegenden Halteseils, auch das Gleichgewicht verloren. Andi und Kalle dagegen stürzten in die Tiefe. Da sich nun das zweite Halteseile ausgefädelt hatte, wie wir das bei uns immer nannten. Andi und Kalle hingen ja nur noch an den Halteseilen. Dadurch, dass jetzt die letzte Sicherung weg war, mit der die beiden noch auf der Brücke gehalten wurden, kam es zu der Katastrophe. Die Conny und ich kommen sahen, als Ivankos auf die Brücke trat. Ich schrie vor Wut auf, denn die beiden hätten nicht sterben brauchen, wenn Ivankos auf uns gehört hätte. Aber immer wussten die Ausbilder alles besser. Obwohl er aus vierzig Meter Entfernung, überhaupt nicht einschätzen konnte, was auf unserer Seite los war.

Böse knallte ich gegen den Felsen und dankte wieder einmal meiner Stahlplatte im Kopf, dass mir diese Platte das Leben gerettet hatte. Ohne diese Platte hätte ich mir beistimmt einen Schädelbruch zugezogen, so wie ich mit dem Kopf an den Überhang geknallt war.

"Lasst mich nach unten", rief ich hoch zu denen die mich sicherten.

Aber ich sah schon von oben, dass wir da nicht mehr helfen brauchten, denn Andi lag völlig verdreht da und Kalle hatte aufgehört zu bluten.

Kaum, dass ich unten angekommen war, machte ich mich aus der Sicherung los und lief zu den beiden Kameraden hin.

"Klettert hoch und helft Ivankos nach oben. Hier können wir nichts mehr machen", befahl ich den fünf Kletterern.

Tränen liefen mir übers Gesicht und ich konnte es nicht verhindern. Ich war völlig fertig. Wir hätten eine kleine Chance gehabt, wenn sich Ivankos nicht eingemischt hätten. Jetzt waren zwei meiner Leute Tod und nichts konnte ihnen mehr helfen. Ich blieb einfach sitzen, wo ich saß und rührte mich nicht mehr. Jetzt kam auch bei mir der Schock und ich konnte nichts mehr dagegen machen. So ging es mir in meinem Leben immer, passierte etwas, konnte ich alles ausschalten, um mich herum und in mir selbst. War die Gefahrensituation dann vorbei, kam der Schock in doppelter Stärke zurück und machte mich völlig fertig. Fast eine Stunde saß ich bei meinen beiden toten Freunden und war zu nichts zu gebrauchen.

Ivankos hatte in der Zwischenzeit Hilfe geholt und auch alle anderen, saßen um mich herum und starten unsere beiden toten Freunde an. Eine unfassbare Wut stieg in mir hoch. Hätte Ivankos nicht gleich Hilfe holen können, statt die kleine Chance auf Rettung die wir hatten zu zerstören. Ich weiß es ist ungerecht, denn die Ursache für den Fehler, lag bei uns und nicht bei Ivankos. Trotzdem ärgerte mich sein Verhalten sehr und bei der Auswertung des Unfalls, brachte ich das auch sehr deutlich zur Sprache. Nach dem ich mich beruhigt hatte, untersuchte ich die Bänder und Seile um den Fehler zu finden, der zu diesem Unfall geführt hatten. Es waren eindeutig die Bänder der Halteseile, die verbraucht waren und durch den Nagel im Baum völlig zerstört wurden. Man hätte sie durch neue ersetzt müssen und vor allem den Nagel im Baum entfernen müssen. Nur hatte niemand darauf geachtet, auch ich nicht.

Ich habe bis heute keine Ahnung, ob ich das Sterben meiner Kameraden hätte verhindern können. Aus meiner heutigen Erfahrung heraus, bestand die Chancen beide Kameraden zu retten, bei vielleicht zwei Prozent. Höchstwahrscheinlich wäre für Kalle jegliche Hilfe zu spät gekommen, da er schon am Sicherungsseil gestorben war. Aber Andi hätte nicht sterben brauchen, dessen Chancen standen wesentlich höher. Da war ich mir völlig sicher. Alle Seile Bänder und Sicherungsleinen, wurden nach dem Unfall eingeschickt und meine Einschätzung wurde von Fachleuten bestätigt. Das zweite Seil war nur gerissen, weil Ivankos durch sein Gewicht, das Trage- und das Halteseil überlastet hatte und das bereits angerissene Halteband der Seile überlastete.

Ich war nur froh, dass das Seil beim "Verwundetentransport" noch gehalten hatten, sonst hätten wir jetzt drei Tode in Moskau liegen. Trotzdem lagen jetzt zwei tote Kameraden in der Pathologie, in Moskau und warten auf die Abholung durch uns. Nicht einmal im Tod gönnte man uns die Heimreise. Unsere Kameraden durften erst im Juli mit uns nach Hause fliegen, vorher konnten sie nicht beerdigt werden. Da Radujew einen Flug aus Kostengründen nach Deutschland untersagt hatte. Wütend waren wir über diese zusätzliche Demütigung, unserer Freunde, dass wir für uns Rache geschworen hatten. Egal welche Strafe man uns dafür aufdrücken würde. Diesmal, würde ich nicht die Einzige sein, die den Befehl, zur Beileidsbekundung verweigern würde. Wir würden unsere eigene Zeremonie abhalten, egal was die Betreuer und Lehrer sagen würden.

Da viele von uns nicht mit dem Tod von Andi und Kalle klar kamen, erzählte ich ihnen die Geschichte, die mir mein Großvater nach dem Tod von Birgitt erzählt hatte und die mir half, mit ihrem Tod klar zu kommen. Auch meinen Freunden half diese Geschichte vom "Schönerem Herzen" sehr. Da es etwas war, das uns verband und uns half diesen verdammten Schmerz, in unserem Herz ertragen zu können. Drei Tage nach dem Unfall, saßen wir mitten in der Nacht in unserer Stube auf den Boden und nahmen Abschied von unseren beiden Kameraden, die wir nicht hatten retten können.

Ich hatte gerade allen die Geschichte vom schöneren Herzen erzählt, als die Tür zu unserem Zimmer aufging und uns ein Betreuer zum Nachtlauf abholen wollte. Wir ignorierten alle einfach dessen Anweisung, durch ein leichtes Kopfschütteln von mir. Wir mussten mit dieser Sache abschließen, sonst würden wir daran zugrunde gehen. Wenn man uns die Beerdigung nicht machen ließ, dann mussten wir hier in unserer Stube einen Abschluss finden. Den nahmen wir, in dem wir über unsere Toten sprachen, was wir erlebt hatten mit ihnen und vor allem, wie sie uns stets geholfen hatten. Das erste Mal erlebten wir, dass unsere Betreuer auch ein Herz hatten. Wir bekamen für unsere Befehlsverweigerung, keine Strafe. Sie standen an der Tür zu unserem Zimmer und sahen uns bei unserer Art zu trauern zu. Am Ende unserer Schulzeit in Shera, sagte mir Ivankos einmal, es wäre die schönste Art von jemanden Abschied zu nehmen, die er je erlebt hatte. Als wir unseren Freunden alle versprochen hatten, für sie mit zu leben, standen wir auf und gingen schlafen. Immer zwei Freunde zusammen in einem Bett. Die Betreuer ließen uns das erste Mal, unseren Willen, wir wären sowieso nicht in der Lage gewesen zu laufen. Wir weinten alle und hielten uns nur mit Mühe auf den Beinen. Aber wir hatten für uns einen Abschluss gefunden.

*

Seit dem Unfall, von Andi und Kalle, war es verdammt ruhig in unserer Stube geworden. Wir alle hatten am Tod unserer beiden Kameraden böse zu knaupeln. Die Schuld an dem tragischen Unfall bekamen natürlich nur wir, da wir, so Radujews Meinung, schlampig gearbeitet hätten. Die Bestrafung für den Tod zweier Gruppenmitglieder, bekam der Gruppenführer, also ich. Obwohl die Bestrafung sehr mild war, denn ich musste nur für vierundzwanzig Stunden in die Kiste. Das bewies uns wieder einmal, was wir wert waren und vor allem, wie hoch man den Wert unseres Lebens, auf dieser verdammten Schule einschätzte.

Fünf meiner Kameraden, machten sich noch schwerere Vorwürfe, als ich. Nicht nur weil Radujew wieder einmal mich, für Geschehnisse bestraft hatte, an denen ich keine Schuld trug. Sondern weil die Fünf, ihre Aufgaben nicht ordnungsgemäß durchgeführt hatten. Nur ihren Aufgabenbereich oblag es, die Gurte und die Bäume auf Beschädigungen zu kontrollieren. Genauso wie es mir oblag, die Flaschenzüge und Seile auf unserer Seite zu kontrollieren. Das hatten sie nicht ausreichend getan. Wie hätte ich darauf Einfluss nehmen sollen? Ich stand vierzig Meter entfernt, auf der anderen Seite einer fünfunddreißig Meter tiefen Schlucht. In Zukunft würde ich bereits vor losgehen, alles kontrollieren, dann war ich sicher, dass wir nur einwandfreies Material dabei hatten. Hinterher war man immer schlauer. Was halfen hier Schuldzuweisungen? Sie würden nur das Gegenteil bewirken, von dem, was wir erreichen wollten. In Zukunft würden wir noch genauer hinschauen und auf Verschleiß, eher reagieren. Verdammt wir waren Kinder von zehn bis zwölf Jahren, wir konnten einfach diese Art der Gefahren, noch gar nicht richtig einschätzen. Klar das Band sah etwas mitgenommen aus, aber, dass das solche verheerenden Auswirkungen mit sich brachte, begriffen wir erst nach dem Unfall und würden in Zukunft darauf achten. Es waren schließlich unsere Freunde, die durch diese Nachlässigkeit, die ich immer noch auf die völlige Übermüdung meiner Leute schob, ihr Leben verloren. In Zukunft würden wir solche Fehler vermeiden und eher Gurte und Seile wechseln.

Dadurch, dass ich ja einen Tag in die Kiste musste, konnten alle aus der Stube "Nemetskiy" nur einfaches Training auf den Laufbahnen unseres Sportplatzes machen und Übungen in der seit kurzem fertig gestellten Turnhalle machen. Ohne den Gruppenführer, der ich ja immer noch war, durften sie das Gelände nicht verlassen. Auch so eine sinnlose Änderung, die Radujew nach der Übernahme der Schule von Senko eingeführt hatte. Am Schlimmsten machte sich glaube ich Arnold und Anne fertig. Sie machten sich Vorwürfe, die Gurte nicht beim Holen genügend kontrolliert zu haben. Niemanden nutzte es etwas, sich wegen dem was passiert war, nachträglich fertig zu machen. Wichtig war doch nur, aus eben diesen Fehlern zu lernen, damit sie nicht ein weiteres Mal passieren konnten. Das sagte ich ihnen immer wieder. Die gemeinsame Trauer, um Andi und Kalle, festigte die Freundschaft der beiden immer mehr.

Wie es oft in größeren Gruppen ist, kam nicht jeder mit jedem in der Gruppe klar. Grüppchen, gab es auch bei uns in der Stube "Nemetskiy". Allerdings zogen wir alle an einem Strang. Ich merkte sehr schnell, dass man eine Grüppchenbildung in einer Gruppe nie völlig verbieten oder unterdrücken konnte. Deshalb lernten wir in den letzten fünf Jahren zu akzeptieren, dass es Personen gab, die man lieber mochte, als andere. Meistens waren vier bis fünf Kinder, die gemeinsame Interessen hatten. Aber es gab auch den einen oder anderen Eigenbrötler, wie Conny, Kari und mich. Die einen liebten es Dinge zu bauen, andere zeichneten gern, wieder andere hingen lieber in ihren Gedanken, den fantastischen Geschichten hinter her, die wir uns gegenseitig erzählten und träumten sich in eine andere Welt. Wir lernten damit zu leben, dass wir nicht alle gleichermaßen liebten. Wichtig war nur eins, dass wir egal, um was es ging, immer für einander da waren. Der Ausschlag für dieses gegenseitige helfen, waren nicht die Tests, die wir ständig machen mussten, sondern das was wir auf der Schule erlebten. Zum Beispiel die Bestrafung mit der Dunkelzelle, die den Anderen zeigte, dass auch wir "Starken" nicht unangreifbar und vor allem nicht unverletzlich waren. Dass auch die Starken in der Gruppe, ab und an Hilfe brauchten, um hier überleben zu können. Dass man mit Ignoranz, für die Gefühle der Anderen, diese nicht nur ins Abseits stellte, sondern sie zu Taten trieb, die sie normalerweise nie gemacht hätten, wie unser Ausreißen aus der Schule bewiesen hatte. Ich glaube, dass die Erlebnisse, wie das Ausreisen von Kari und mir, aus der Schule und die vielen Bestrafungen danach, den Anderen klar gemacht hatten, wie sehr wir beide fehlen würden, wenn wir nicht mehr da waren. Deshalb achteten wir so sehr auf unsere Kameraden, um solche Ausschreitungen in Zukunft zu verhindern. Trotzdem wir gegenseitig unsere Gefühle sehr wohl spüren konnten, uns verband ja nicht nur die Enge der Räumlichkeiten in den wir lebten, sondern auch das gleiche Leid, konnten wir nicht immer einschätzen, wie es den anderen ging. Das bewiesen nicht nur, Kari und ich, sondern auch Anne und Arno, mehr als deutlich. Wir waren gut geworden, im Verbergen unserer Gefühle und die Meister in diesem Verbergen, waren meiner Meinung nach immer Anne und Arno gewesen. Danach änderten wir einiges in unserer Gruppe, beim Auftreten von Problemen, fingen wir an offen darüber zu reden. Damit wuchs auch das Vertrauen der Gruppenmitglieder untereinander. Da wir die Gruppe gemeinsam und vor allem offen führten, wusste jeder, wo vom Anderen, die so genannte Angstzone lag.

Durch den Unfall von Andi und Kalle, den beiden besten Freunden von Anne und Arno, fielen auch die beiden, in einen tiefen Abgrund. Ich wusste zu genau, wie schlimm das war, denn mir ging es nach Birgitts Tod ebenso. Sie verloren jegliches Gefühl und waren nur noch für diesen Schmerz offen. Ein Schmerz, der beide systematisch zerfraß, weil sie mit niemanden darüber sprechen wollten. Egal wie viele Gespräche Doktor Konrad und ich mit den beiden führten, sie wurden immer ruhiger und in sich gekehrter. Irgendwann im Frühjahr dieses verdammten Jahres wurden die beiden, sich umarmend auf dem Hof erwischt. Als Anne ihrem Freund, damit ist der kameradschaftliche Freund gemeint, einen Kuss auf die Wange gab und ihm, mit den Daumen, die Tränen von den Augen wischte, weil er gerade still vor sich hin geweint hatte. Dieser kleine freundschaftliche Kuss, reichte aus, um einen Lawine ins Rollen zu bringen. Ja klar, Arno war elf Jahre alt und Anne zehn, aber dort Gefühle hinein zu interpretieren, war völliger Blödsinn. Klar mochten wir den einen Kameraden mehr als den anderen, aber von Liebe war da nie die Rede. Dazu waren wir viel zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um an solche Sachen zu denken. Außerdem hatten wir alle, nicht nur ich, durch die Belohnungstage, überhaupt kein Interesse am Sex und dem, was damit zusammen hing. Wie gesagt, wir waren damit beschäftigt am Leben zu bleiben. Aber die Lehrer sahen das anders. Als sie Arno und Anne, bei ihrem freundschaftlichen Kuss erwischten, ging bei uns die Hölle los. Als erstes wurden beide vor versammelter Mannschaft heruntergeputzt und lange Zeit, bei jedem Morgenappell als abschreckendes Beispiel vorgeführt. Sie bekamen fünf Tage Kiste und als ob das nicht schon genügend Strafen gewesen wären, bekamen sie ständig Hof aufgebrummt. Von den sieben Nächten einer Woche, hatten sie höchstens zwei Nächte in denen sie etwas zum Schlafen kamen. Da sie die restliche Zeit auf dem Hof standen. Man sah es ihnen schon nach wenigen Wochen an, dass sie nicht mehr lange durch hielten. Egal, was die beiden auch versuchten, sie wurden ständig von den Lehrern herausgezogen und man sagte ihnen unsittliche Berührungen nach. Das gegenseitige Berühren, war uns strengstens untersagt und bei Strafe verboten.

Obwohl ich mich hätte freuen können, denn ich hatte seit dem sich Radujew, auf die Beiden eingeschossen hatte, das erste Mal ein wenig Ruhe in meinem Leben, auf der Schule. Aber ich konnte mich absolut nicht darüber freuen. Nur zu gut wusste ich, wie sich das ständige Herausziehen aus der Gruppe anfühlte. Ständig im Visier des Ubiytsa, des Schlächters zu sein, wie wir schon seit langer Zeit, Oberst Radujew nannten, war die Hölle auf Erden. Wie ich nur zu gut wusste, entkam dem Ubiytsa keiner so schnell, Er hatte mich schon seit fünf langen Jahren auf dem Kicker. Egal, was wir versuchten, um die Beiden zu schützen, es half alles nichts. Man konnte sich vorstellen, wenn ein Kind mit elf Jahren, so unter Dauerbeschuss geriet, wie die beiden, dass es irgendwann ein Punkt gab, an dem nichts mehr ging. Jeden Tag fiel es unseren beiden Kameraden schwerer, das Paket zu tragen, was Radujew auf sie abgeladen hatte. Jeden Tag wurde diese Last schwerer, wie ich nur zu genau wusste. Ich wusste nicht wie ich ihnen helfen sollte. Nur sie selber konnten sich helfen, entweder in dem sich dicht machten und die Bestrafungen einfach hinnahmen, so wie ich es seit Jahren machte. Oder ... aber über diese Variante wollte ich nicht nachdenken und sie leider auch nicht sehen.

Doktor Konrad, mit dem ich über vieles reden konnte, was mir auf der Seele lag, konnte auch nichts dagegen unternehmen, ohne zu riskieren, dass er aus dem Projekt, als störend entfernt wurde. Trotzdem holte er Anne und Arno immer wieder nach oben auf die Krankenstation, um sie vor der Bestrafung Radujews für einen Kuss auf die Wange zu beschützen. Nach über fünf Monaten des ständigen Mobbings, anders würde man das heute nicht mehr nennen, wurde es den beiden zu viel und sie schmissen das Handtuch. Ihrer engsten Freunde beraubt, sehnten sie sich nichts mehr herbei, als wieder mit ihnen zusammen zu sein und ihre Ruhe zu haben. Ach wie gut, konnte ich den beiden Nachfühlen. Ich hatte nur eine beste Freundin verloren und wäre fast daran zerbrochen, die beiden hatten sogar, ihre zwei besten Freunde gehen lassen müssen, die noch dazu auf unschöne Art und sinnlose Weise von uns gegangen waren. Wie unendlich groß, muss ihr Schmerz gewesen sein? Frage ich mich immer noch, nach so vielen Jahren.

Man sagt zwar oft leichtsinniger Weis, Schmerzen potenzieren sich nicht. Meines Erachtens stimmt das nicht wirklich. Es kommt auf die Art des Schmerzes an. Seelischer Schmerz kann sich potenzieren, da sich mit jedem neuen Schmerz, sich die Last auf deiner Seele erhöht und du nicht unendlich viel ertragen kannst. Wir trugen schon schwer genug an der Last unseres eigenen Lebens, das auf unseren Seelen lag, wie ein riesiger Steinblock. Den Verlust unserer Freunde und dazu kamen bei den Zweien, die ständige Anfeindung durch die Betreuer und der Lehrer und vor allem aber, durch die Rumänen und Russen aus den anderen Stuben, wurde zu einer Belastung die zu groß war. Irgendwann kam der Punkt, an dem man das alles nicht mehr ertragen konnte. Obwohl wir versucht hatten ihnen zu helfen, verloren sie auch noch den Glauben an die Gruppe. Wir hatten ja alle noch unsere Freunde, wir konnten ihnen nicht nachfühlen und schon gar nicht einschätzen, wie schwer sich diese Last anfühlte. Wir hatten so um die beiden gekämpft. Hätten sie doch nur noch zwei Wochen durchgehalten, dann wären wir in die Sommerferien gefahren und sie hätten sich in ihren Familien etwas erholen können. Aber sie konnten einfach nicht mehr.

In den frühen Morgenstunden des 17. Juli 1969 war ein Punkt erreicht, an dem nichts mehr ging. In der Zeit als wir laufen mussten und sie unbeobachtet waren, holten sich die Beiden ihre Messer aus den Spinden und warteten, bis wir wieder in der Stube waren. Da in der Zeit alle anderen Betreuer schliefen und Radujew meistens so besoffen war, dass er nichts mehr mitbekam, nutzten die Beiden dazu, dieses Spiel Radujews zu beenden. Sie verließen ihren Platz auf dem Hof. In der Zeit, während wir noch einmal kurz schliefen. Wir wissen bis heute noch nicht, wie die Beiden es gemacht hatten, aber wir ahnten sehr wohl, was geschehen war.

Wir erfuhren erst am nächsten Morgen, von einem anderen Schüler, aus der russischen Stube, das Radujew in unserer Abwesenheit noch einmal auf dem Hof gekommen war. Dort hätte er die beiden angeschrien wie ein Berserker, dass sie nicht hier so eng bei einander stehen sollten und das sie sich morgen, nach dem Morgenappell, bei Pavel melden sollten, um sich eine Woche Kiste abzuholen. Diese Strafe, eine Woche Kiste, war meines Erachtens die Strafe, die unseren beiden Freunden, das Genick brach und für ihre Tat die Verantwortung trug.

Noch zu gut, waren alle unsere Aussehen und das Durchdrehen, nach der einen Woche Kiste in Erinnerung. Keiner wollte so lange, in diesem Drecksloch bleiben, es war einfach nur die Hölle. Es war eine nicht enden wollende Bestrafung, durch Radujew. In dem zerrütteten psysischen Zustand, in dem die Beiden seit Wochen feststecken oder sollte lieber man sagen, einem wahr gewordenen Albtraum, war es der Punkt der das Fass zum überlaufen brachte. Anne und Arno wollten und konnten nichts mehr ertragen. Ihr Trost spendender Kuss, hatte über fünfzig nachfolgende Strafen, nach sich gezogen. Es war der Punkt erreicht, wo das Leben keinen Spaß mehr machte und sie das Handtuch schmissen. Als alle schliefen, setzen sich die beiden wahrscheinlich hin und schrieben uns einen kurzen Brief.

"Es tut uns leid, dass wir euch in Stich lassen. Wir wollen nicht so weitermachen. Wir gehen zu Andi und Kalle. Dort haben wir unsere Ruhe. Euch trifft keine Schuld. Wir können nicht so weiter leben. Macht es gut. Wir helfen uns gegenseitig in den Tod. Anne und Arno."

Mehr hatten sie uns nicht geschrieben, aber der Zettel sagte uns alle. Wir fanden ihn erst kurz vor unserer Heimreise, als wir unsere heimliches Hab und Gut, aus unserem Versteck holten. Kurz bevor wir zur der Beerdigung, von nun mehr vier unserer Kameraden flogen. Wir gönnten den beiden ihren Frieden, auch wenn sie auf eine der brutalsten Weise starben, die wir uns vorstellen können. Trotzdem hatte nie jemand von uns, je ein böses Wort über den Weggang der Beiden verloren. Wir verstanden nur zu genau, was sie uns damit sagen wollen. Auch wir hatten alle keine wirkliche Lust mehr, hier zu bleiben und weiter zu leben. Ich gebe zu, dass wir damals darüber nachgedacht hatten, ihnen geschlossen zu folgen. Allerdings muss ich gestehen, dass unser Leidensdruck noch nicht hoch genug war, um so etwas durch zu ziehen. Ich hatte viele böse Situationen in meiner Schulzeit, aber ich hätte es nicht fertig gebracht, Kari meiner zweiten, besten Freundin in der Schule, die Kehle durch zu schneiden und vor allem mir selber. Ich weiß nicht warum das so war, aber ich weiß, dass ich niemals selber, bei mir oder meinen Freunden Hand anlegen könnten, um sie und mich zu töten. Irgendetwas trieb mich dazu, immer weiter zu leben.

Obwohl das auch nicht ganz stimmt. Als Birgitt damals starb, wollte ich auch nicht mehr leben und es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte mich zu tote gehungert. Aber mich selber zu erschießen, zu erhängen oder zu vergiften, dazu fehlte und fehlte mir heute noch der Mut. Besser könnte ich die Gedanken nicht erklären, die mich jedes Jahr im Juli einholen. Die Gedanken die es mir schwer machten, diese Monate Juli und August zu genießen. Weil einfach zu viele Menschen, die ich auf meine verdrehte Art, innig geliebt und immer beschützt hatte, beerdigt wurden und damit ein Schlussstrich unter ihr Leben gesetzt wurde. Oder war es einfach der Tatsache geschuldet, dass ich geschworen hatte, für meine Kameraden mit zu leben, weshalb ich mein eigenes Leben nie selber beenden könnte. Keine Ahnung und ich glaube diese meine Gedanken, wird auch nie jemand wirklich nachvollziehen können. Wie denn auch, dazu müsste er so groß geworden sein wie wir.

Normal bin ich nicht, das weiß ich schon lange. Ich hatte nie die Möglichkeit zu lernen, wie ein normaler Mensch denkt. Ich muss auch nicht normal sein, denn ich will ja nur, dass es allen gut geht. Bedeutet das, dass derjenige den Freitod wählt, muss es halt so sein. Es war sein Leben, das er beendet und ich hatte kein Recht mich in sein Leben einzumischen. So schwer es mir auch fiel, solche Menschen zu verstehen. Böse wäre ich nur geworden, wenn derjenige Unschuldige in sein Leid hinein gezogen hätte, was leider einige meiner Kameraden später getan hatten. Das ging in meinen Augen überhaupt nicht.

Ich glaube, ich kann gerade eure Gedanken hören.

Was war mit den Eltern und den Familien von Anne und Arno oder Andi und Kalle. Oder wie war es bei anderen Selbstmördern. Aus dem normalen Leben heraus, kann man das glaube ich gar nicht so einfach beantworten. Jedenfalls nicht in jedem Fall.

Aber in unseren Fällen schon. Genau das war ja der Punkt, warum ich bei Birgitts Beerdigung so abgedreht war. Hätten Birgitts Eltern ihre Tochter nicht zurück in die Schule geschickt, könnte sie heute noch leben. Aber sie taten es und hatten sie damit zum Sterben nach Russland geschickt. Viel anders war das auch nicht, im Fall von Andi und Kalle. Da standen auf einmal Erwachsene Menschen vor dir, die zu Verantworten hatten, das Andi und Kalle mit elf Jahren Seilbrücken bauen und überqueren mussten und sie weinten, um ihre Kinder und gaben nur anderen die Schuld. Klar durften sie traurig sein, das Recht möchte ich ihnen nicht absprechen. Aber sie hatten es doch zu verantworten, dass ein sechsjähriger Junge, seit Jahren in dieser gottverfluchten Hölle leben musste. Dass er statt mit Autos zu spielen oder Fahrrad zu fahren, Seilbrücken bauen musste. Es lag doch in ihrer Verantwortung, diese Kinder zu beschützen. So wie es heute in unserer Verantwortung lag, dass wir Erwachsenen unseren Kindern beschützen sollten. Egal was mit mir selber passieren würde, ich würde niemals zulassen, dass man meine Kinder in solch eine Hölle geschickt hätte. Wenn ich es aber getan hätte und nach einem Jahr merken würde, dass es meinem Kind nicht bekommt, wäre es mir egal, was man mit mir täte. Ich würde mein Kind sofort von dieser Schule nehmen. Weil mein Kind wichtiger war, wie ich. Lieber würde ich in einem Gefängnis leben, als dass ich mein Kind in ein Gefängnis schicken würde. Denn unsere Schule war nichts anderes als ein Gefängnis. Wir hatten Gitter vor den Fenstern, durften unseren Raum nur verlassen, wenn wir den Auftrag dazu bekamen. Unsere Schule war rund um die Uhr bewacht und wir hatten S-Draht auf den Mauerkronen. Wo ist da also der Unterschied, zu einem Knast?

Im Fall von Anne und Arno, Maße ich es mir noch etwas deutlicher an, diese Frage aus meiner Sicht zu beantworten. Die Eltern der beiden waren und sind, bis heute in meinen Augen schuldig, an der Tatsache, dass Anne und Arno sich getötet mussten, weil sie ihr Leid nicht mehr tragen konnten. Ihre Eltern trugen in meinen Augen die volle Schuld daran, dass zwei Kinder von zehn und elf Jahren, ebendiese Last nicht mehr tragen konnten. Die Last die sie von ihren Eltern aufgedrückt bekamen. Aus dem einfachen Grund, weil sie es ermöglicht hatten, dass die beiden kleinen Kinder, in solch ein Projekt "Kader für den Staat" aufwachsen mussten. Spätestens nach den ersten Ferien, konnten sich jeder, normal denkender Erwachsene, an allen zehn Fingern abzählen, wo das Hinführen musste. Hätten sie ihre Verantwortung selbst getragen und die Teilnahme ihres Kindes, an diesem unmenschlichen Projekt gestoppt, dann könnten wirklich alle fünfundzwanzig Kinder, die wir Anfangs waren heute noch leben. Weder Birgitt, Andi, Kalle, Anne, Arno, Archi, Berni, Conny, Jule, Kari, Ole, Oli, Pepe, Rudi, noch Sam, hätten sterben müssen. Fünfzehn Kinder könnten heute selber Kinder und Enkel haben. Vor allem hätte mein Freund Seb nicht einundvierzig Jahre in der Psychiatrie gelebt. Aber das ist ja nicht genug, an toten Kindern, bis Ende des Jahres 1979, lebten nur noch zwei von den Fünfundzwanzig in Shera eingeschulten Kindern nämlich Seb und ich. Alle übrig geblieben Kinder, hatten nach der Schule den Freitod gewählt, weil sie mit dem Leben in Deutschland nicht klar kamen. Auch Adi, Stef, Sami, Pille, Pet, Kati, Juri und Jo wählten den Weg, den Anne und Arno gewählt hatten, um endlich frei zu sein, weil sie die Last ihres Lebens nicht mehr tragen konnten. Keiner kann begreifen, wie falsch sich das für mich immer noch anfühlte? Ich hatte elf Jahre lang immer um das Leben meiner Leute und mein Leben gekämpft. Und ich war jämmerlich gescheitert. Aber verdammt nochmal, ich war die jüngste in der Klasse. Wisst ihr wie oft ich mich frage, was ich falsch gemacht hatte. Warum lebe ich immer noch und all meine Freunde waren Tod?

Mir war schon klar, dass diese Anschuldigungen von meiner Seite, die Härte waren und absolut nicht zu einer Beerdigung passten. Aber verdammt nochmal, sie waren wahr. Auch dann, wenn man diese Anschuldigungen, nicht hören wollte. Ich stand schon immer mit dieser meiner Meinung alleine da, weil es verdammt harter Brocken waren, die ich anderen an den Kopf warf. Aber immer, wenn wir notgedrungen wieder einmal das Thema Tod in unseren Einheiten hatten und notgedrungen darüber diskutieren mussten, machten genau diese meine Worte, vielen meiner Leute klar, wie nachhaltig eine einzelne Entscheidung war die wir trafen. Mit welcher hohen Verantwortung wir lebten und wie leichtsinnig wir mit unseren Entscheidungen umgingen, die wir über einen anderen Menschen treffen mussten.

Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, wie alt derjenige war, über dessen Kopf wir Entscheidungen fällten. Ob es der Großvater oder der Nachbar war, spielte keine Rolle. Aber gerade bei Kindern, lag diese unsere Verantwortung, noch um einiges höher. Leider vergessen das viele zu gern und gingen oft die einfachsten Wege. Vielleicht, um sich ein Gefängnisaufenthalt zu ersparen oder aber, um die Bildungschancen eines Kindes zu erhöhen, um einmal mit der Aussage von Birgitts Eltern zurück zu kommen. Tolle Idee, aber der falsche Weg, konnte ich dazu nur sagen. Birgitt wäre es bestimmt lieber gewesen, als Mutter am Herd zu stehen, statt tot in einem Grab zu liegen. Versteht ihr, was ich meine.

Immer noch war diese verdammte Wut in mir, die ich damals schon in mir trug und die mich daran hinderte, auf Beerdigungen zu gehen. Da ich dort nur mit Mühe meine Wut verbergen konnte und ich nicht wollte, dass noch einmal meine Wut jemand traf, der nichts dafür konnte. Wie damals bei Birgitts Beerdigung. Auch ich hatte mich im Laufe der Jahre geändert und stand heute, vielen meiner verdrehten Gedankengänge von damals kopfschüttelnd gegenüber. Aber das Verständnis hatte ich damals mit meinen gerade einmal zehn Jahren noch nicht.

Heute verstehe ich einige der Entscheidungen besser. Aber diese Wut in mir, konnte ich immer noch nicht besiegen. Kommt das Gespräch auf die damalige Zeit, schießt sie immer noch, wie eine unkontrollierbare Bombe in mir hoch und beherrscht mein gesamtes Tun. Leider hatte ich bis heute keine Möglichkeit gefunden, die Schlimmsten meiner Emotionen vollständig zu unterdrücken, die Wut und der Hass auf Menschen, die Kindern ein Leid antun. Das ging mir bei allen Eltern von Kindern so, mit denen ich im Laufe der Jahre zu tun hatte. Oft wurde ich dazu geholt, wenn Kinder in einen Fall involviert waren. Da ich immer den Zugang zu den Kindern fand. Aber man ließ mich nie mit den betroffenen Erwachsenen reden, denn nicht nur einmal, war ich diesen Menschen gegenüber richtig ausgerastet, weil meine Emotionen hochschossen. Aber lassen wir das. Hier geht es um Kalle, Andi, Anne und Arno.

*

Am 29. Juli 1969, also vierzehn Tage, nach Annes und Arnos Tod, hatten wir unseren Abschlusstest und flogen im Anschluss, einen Tag eher als sonst, nach Hause. Da alle vier Kinder aus dem Raum oder Umkreis von Berlin stammten, wurde von Seiten der Projektleitung eine gemeinsame Trauerfeier organisiert. Wir bekamen sogar eine Gala Uniform, damit wir einen guten Eindruck bei den Hinterbliebenen hinterließen. Wir übten das Schließen des Sarges und das ausbreiten der Flagge über den Särgen. Vor allem aber wie wir die Beileidsbekundungen, an die Trauernden Eltern vortragen sollten. Am schwierigsten, war das Tragen des Sarges, zu den offenen Fahrzeugen, auf dem man die Toten zu ihrer letzten Ruhestätte überführen wollte. Die familiäre Trauerfeier würde an einem anderen Ort stattfinden, an der wir nicht teilnehmen durften.

Was die Erwachsenen nicht bedachten, war unser Hass den wir mittlerweile, vor allem auf die Erwachsenen hatten. Wir beschlossen als Gruppe, diese Heuchelei von Trauer, nicht länger mitzutragen. Wir wollten ausbrechen aus den Normen, die man uns ständig aufzwang. Weil man uns nie gestattete wir selber zu sein und vor allem, weil man uns nie erlaubte unsere Trauer auf unsere Weise vorzubringen. Es ging hier schließlich um unsere Freunde, die gestorben waren und wir würden sie auf unsere Weise betrauern und ehren. Allerdings waren wir älter geworden und würden niemand seine Trauer nehmen und schon gar nicht eine Trauerfeier stören. Aber wir würden auch nicht heucheln, das hatten wir uns nach dem tragischen Tod von Andi und Kalle geschworen.

Als wir den Friedhof in Berlin Mitte betraten und das Krematorium, in dem die Trauerfeier stattfinden sollte, war die Halle schon voller Menschen. Wir deutschen Kinder standen hinten in der letzten Reihe und mussten uns mit anhören, was die Erwachsenen über unsere toten Kameraden sagten. Keiner der Redner kannte unsere Kameraden auch nur ein bisschen, denn ihre Reden waren viel zu allgemein und sagten mit keinem Wort, was unsere Kameraden durchgemacht hatten. Mit jedem Wort, das von den Rednern bei der Trauerfeier gesagt wurde, stieg mehr Wut in uns hoch, da keines ihrer Worte der Tatsache entsprach. Wie immer wurde unser wahres Leben, völlig totgeschwiegen. Weder die Lehrer rückten mit der Wahrheit heraus, um die wahre Todesursache der vier, noch die Angehörigen. Es war ständig nur die Rede von einem tragischen Unfall, der während eines Geländelaufes geschehen wäre.

Kurz bevor wir die Trauerfeier betreten hatten, wurden wir noch einmal sehr eindringlich, an unser gutes Benehmen erinnert und mich zog Radujew extra heraus. Nur zu gut waren ihm und den anderen Lehrern mein Ausraster, bei Birgitts Beerdigung in Erinnerung. Uns wurde wie immer nicht zugestanden, dass wir mittlerweile fünf Jahre älter waren und dass wir schon lange keine kleinen Kinder mehr waren.

"Rekrut Dyba, solltest du dich wieder so daneben benehmen, wie das letzte Mal, verspreche ich dir, dass du diesen heutigen Tag nicht überleben wirst. Reiße dich zusammen. Wenn du denkst sieben Tage Kiste wären eine Strafe, verspreche ich dir, dass du dieses Mal zwei Wochen drin bleibst und den Rest des Schuljahres nicht wieder froh wirst. Dann liegst du auch bald da vorn und wirst von deinen Angehörigen betrauert. Hast du das verstanden?"

"Jawohl, Genosse Oberst. Aber es macht mir nichts aus, da vorn zu liegen und mich betrauert sowieso niemand", gab ich ihm böse Widerworte.

"Halte deine freche Schnauze, Dyba. Dass dir das egal ist, weiß ich schon lange. Aber deinen Eltern wird das nicht egal sein", wollte er mich zusätzlich unter Druck setzen.

Dieser Arsch hatte nach fünf Schuljahren immer noch nicht gerafft, dass ich meinen Eltern völlig egal war und sie sich ein Scheißdreck darum scheren würden, was aus mir wurde. Er hatte noch nicht begriffen, warum ich meinen täglichen Schwur, immer noch nicht mit sprach. Er wollte die Tatsachen einfach nicht sehen. Unser Ubiytsa, wie wir untereinander Radujew immer nannten, würde es nie begreifen. Er sah den Tatsachen einfach nicht in die Augen. In seinem versoffenen Leben sah der Schlächter einfach nicht, was um ihn herum geschah.

"Hast du mich verstanden, du kleines Mistvieh?" Setzte er noch einmal nach, da ich zu seinen Worten schwieg.

"Darf ich offen sprechen, Genosse Oberst?"

"Ich will nur wissen, ob du mich verstanden hast?"

"Jawohl Genosse Oberst, ich habe sie verstanden. Sie haben laut genug gesprochen", versuchte ich, seine Wut auf mich zu konzentrieren.

Im Seitenblick sah ich schon, wie meine Kameraden immer kleiner wurden. Ich glaube alle hatten Angst davor, sich so offen gegen unsere Lehrer aufzulehnen. Ich konnte das gut verstehen. Aber wir mussten unser Leben selber in die Hand nehmen. Da sich keiner der Erwachsenen, auch nur einen Gedanken über uns machte. Wenn wir nicht wollten, dass alle nach und nach zu ihrer letzten Ruhe getragen wurden, mussten wir einmal Stopp sagen. Bis hier her und nicht weiter. Aber ich würde meinen Kameraden freie Hand lassen, sollten sie selber entscheiden, ob wir die Trauerfeier, um der es um unsere Kameraden ging, nach unseren Konditionen gestalten würden. Niemals ließ man uns mitbestimmen und niemals bekamen wir ein Mitspracherecht. Also mussten wir uns das endlich einmal einfordern. Da ich als Kleinste der Gruppe immer als Erste laufen musste, war ich auch als erste mit der Beileidsbekundung an der Reihe. Sollten die anderen doch selber entscheiden, wie sie vorgehen wollten. Ich würde mich an unsere Absprache halten.

"Dann zurück mit dir in die Reihe und denke an meine Worte", betonte er nochmals, dass nichts ohne Folgen bleiben würde.

Ich drehte mich, vor dem Loslaufen, kurz zu meinen Freunden um, gerade so lange, bis ich ein Nicken von den Kari sah. Das hieß nichts anderes, als dass wir wie abgesprochen vorgehen würden. Ich war froh, dass meine Kameraden nicht wieder die ganze Last auf meinen Schultern ablegen würden. Nach den nicht enden wollenden Trauerreden, wurden wir nach vorn geschickte, um unseren Teil der Trauerfeier zu übernehmen und den Eltern der vier toten Kameraden, unser Beileid zu bekunden. Ich lief allerdings an deren Eltern vorbei und alle anderen folgten mir, ohne unser Beileid zu bekunden. Ansonsten hielten wir uns fast ans Protokoll.

Langsam wie vorgeschrieben, liefen wir nach vorn, zu den vier Särgen und stiegen auf das Podest, auf dem man die Särge unserer Kameraden aufgebahrt hatte. Immer vier von uns schlossen einen Sarg und einer stand traditionsgemäß mit der Flagge über dem Arm, neben den Sarg. Die Vier die den Sarg geschlossen hatten, nahmen die Flagge und breiteten sie über den Sag aus. So weit gingen wir mit dem vorgeschriebenen Protokoll mit.

Allerdings würden wir alle kein Beileid heucheln, denn wir waren alle der gleichen Meinung, dass das nicht nötig war. Wir zwanzig Kinder nahmen auf unsere Art Abschied. Wir stellten uns in einem Kreis, um die vier Särge herum und fassten mit der linken und rechten Hand auf die Schulter des Nachbarn und bildeten auf diese Weise eine geschlossene Einheit. Wir knieten nieder vor den Särgen nieder, die wir in unseren Kreis eingeschlossen hatten, wir rührten uns nicht mehr und schwiegen, eine ganze Minute lang. Danach nahmen die rechte Faust ans Herz, mit der linken Hand hielten wir den Kontakt zum Nachbarn. Wir standen geschlossen auf und streckten unsere rechten Hände aus, um die Särge zu berühren und sprachen leise, nur für unsere Kameraden, unseren eigenen Schwur:

*

Ihr habt für immer euren Frieden gefunden.
Lebt in unserem Herzen weiter.
Schlaft gut Kameraden.
Wir schwören bei unserem Leben:
Wir leben ab dem heutigen Tag, für euch mit.

*

In dem wir ihnen noch einmal versprachen, dass wir für unsere Kameraden mit leben würden, nahmen wir uns in die Verantwortung, für unser eigenes Leben nehmen. Im Anschluss salutierten wir vor den vier toten Kameraden, die wir nun nie wieder sehen würden. Danach drehten wir uns zackig um und gingen wie es bestimmt wurde, zu den Särgen, um sie nach draußen und zu den wartenden Fahrzeugen zu bringen. Die Beileidsbekundungen verweigerten wir, auch auf die Gefahr hin, dafür eine harte Strafe zu bekommen. Wir hatten unseren Kameraden, das letzte Mal die Ehre erwiesen: Nur das war für uns wichtig. Ich denke keiner von den Trauergästen, sah darin die Bösartigkeit oder eine Beleidigung, die uns viele der Lehrer unterstellten. Einige nickten sogar anerkennend, sie fanden die Geste wunderschön. Man sah uns unsere Trauer an, denn uns allen liefen die Tränen über das Gesicht, wir hatten das nicht verhindern können. Denn wir litten sehr unter den Tod der vier Kameraden.

Auf Kommando hoben wir die Särge hoch, auf unsere Schultern, und der fünfte trug das Bild des Verstorbenen. Langsam und im vorgeschrieben Schritt und einem angemessenen Tempo, trugen wir die Särge nach draußen: Schweigend und mit von Tränen nassen Gesichtern, liefen wir an den Angehörigen und den Trauergästen vorbei, um den Verstorbenen eine letzte Ehre zu erweisen. Wir stellten die Särge, im gleichen Moment, auf die vier offenen Wagen und legten die davor abgestellten Kränze auf und neben den Sarg. Vor den Sag, stellten wir das Bild des Verstorbenen und salutierten ein letztes Mal vor ihnen. Immer fünf von uns, blieben neben und hinter einem der Wagen stehen und warteten, dass wir den Befehl zum Gehen bekamen. Lange mussten wir warten, bis man uns hieß, zu unseren Fahrzeugen zu gehen, die uns nach Hause brachten. Vor allem bis die Trauerkolone sich in Bewegung setzte und unsere Kameraden ebenfalls nach Hause brachte.

*

Keiner von uns sprach ein Wort. Wir waren viel zu aufgewühlt, um auf die Worte unserer Lehrer zu hören. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe keine Ahnung, was die Lehrer zu uns gesagt haben. Es war mir damals und ist mir heute noch egal. Aber mein Herz blutete, als ich aus den Bus, der uns zum Flughafen bringen sollte, sah wie meine Kameraden sich auf ihren letzten Weg machten. Ich glaube es ging nicht nur mir so und wir weinten noch in den beiden Helikoptern, die uns einmal in den Süden und nach Norden zu unseren Zubringer Bussen bringen sollten. In unseren Fliegern war es nie laut, aber diese Stille, an diesen Tag, war unheimlich. Wortlos stiegen wir in unseren Bus, der uns von Leumnitz aus, zu den Sammelpunkten bringen sollte. Wieder stieg ich alleine aus den Bus und nur mein Großvater stand am Bahnhof und wartete auf mich.

Als er mit mir reden wollte, schüttelte ich den Kopf und wir liefen wie so oft, während meiner Schulzeit, schweigend nebeneinander her. Diesmal wählte ich den längeren weg, obwohl meine Füße wie jedes Jahr völlig zerschunden waren. Aber der Schmerz erinnerte mich daran, dass ich am Leben war und diese Schmerzen noch spüren konnte. Mein Großvater ließ mich in Ruhe und harkte nicht nach, warum ich schon wieder so schweigsam war. Mein Gesicht sprach glaube ich Bände, wie ich aus seinen Tagebüchern erfuhr. Vor allem müssen diese Ferien, außergewöhnliche Tage für ihn gewesen sein, denn das schrieb er immer wieder in seinen Tagebuch, vor allem ohne diese ständige Trauer, mit der er sonst dort hineinschrieb.

*

  1. August 1969

Endlich kommt Lotty wieder. Verdammt, warum zog sich eigentlich das Jahr so ewig hin. Es gab Zeiten in meinem Leben, in denen ich dachte: Wo nur waren die Jahre geblieben?

Heute war es völlig anders. Die Tage und Wochen schleppten sich dahin und waren wie angewurzelt und man hatte das Gefühl in einer Zeitschleife festzusitzen. Die Zeit ging einfach nicht voran. An was lag das bloß. Lag es an mir, dass ich die wenigen Tage mit meiner Enkelin, so sehr herbeisehnte, dass die Zeit nicht vergehen wollte. Oder lag es an meiner Angst, die sich immer in mein Herz schlich, wenn ich an meine kleine Lotty dachte. Was war nur in diesem halben Jahr wieder geschehen? Wie würde sie dieses Mal nach Hause kommen und vor allem, in welchem seelischen Zustand würde sie dieses Mal sein? Ich denke es lag an der Angst, die ich hatte, vor dem ersten Wiedersehen nach Monaten.

Gerade hatte ich meine Enkeltochter vom Bahnhof abgeholt. Sie sah aus wie ein kleiner Soldat. In ihrer Uniform, die sie trug, sah sie toll aus. Dieses Jahr trugen sie nicht wieder diesen schwarzen Overall oder Kadetten Uniform, sondern eine Art Gala Robe. Sie hatten eine türkisfarbene Uniform an, in den engen ledernen Stiefel waren die Hosenbeine gesteckt, eine Schildmütze mit rotem Band und weiße Handschuhe. Die Uniform, die sie als Soldat der Landstreitkräfte auswies und anzeigte, dass sie zu einem besonderen Anlass gewesen waren. Normalerweise trugen alle einfachen Soldaten in Russland, einen khakifarbene Uniform und ein Cappy. Kaum, dass wir zu Hause waren, hatte sich Lotty hingelegt und schien völlig fertig zu sein. Ich glaube, dass sie geweint hatte. Ihre Augen waren gerötet und sie war noch ruhiger, als sie es sowieso immer war, seit dem sie in diese verdammte Schule gehen musste. Keine Ahnung, was da schon wieder passiert war. Würde ich es einmal erleben, dass man mir das Kind nach Hause schickte, ohne dass es völlig verstört war. Wie kann man Kinder nur so leben lassen? Kinder sollten lachen und Blödsinn machen. Wann hatte ich meine Lotty eigentlich das letzte Mal lachen sehen. Fragte ich mich gerade. Das war schon eine Ewigkeit her, damals war sie noch nicht in der Schule.

Lassen wir sie einfach erst einmal schlafen. Länger als zwei oder drei Stunden würde Lotty sowieso nicht schlafen, dass tat sie nie. Mal sehen, ob sie vielleicht dieses eine Mal, etwas von sich aus erzählte. Ich hoffte es sehr, ich wollte nicht wieder in alten Wunden stochern.

*

  1. August 1969

Heute Morgen sah Lotty schon um einiges besser aus. Sie saß schon in der Stube am Fenster, wie immer, wenn wir aufstanden und wir waren bestimmt keine Langschläfer, das waren wir noch nie. Immer wieder fragte ich mich, wie ein Kind mit so wenig Schlaf auskam. Sogar den Frühstückstisch hatte sie schon gedeckt.

Das erste Mal, seit dem ich meine Enkelin kannte, hatte Lotty von sich aus, etwas bei uns gemacht hatte. Das war ein großer Fortschritt für sie. Etwas war in diesem Halbjahr mit ihr passiert. Aus dem schüchternen kleinen Fräulein, war eine selbstbewusste junge Lady geworden, die genau wusste, was sie tat. Vor allem kam sie von sich aus, auf mich zu und fragte beim Frühstück, ob wir in den Martinsgrund gehen könnten. Das hatte ich in all den Jahren noch nie erlebt. Sonst funktionierte unsere Kleine, die ersten Tage, immer nur wie ein Roboter. Zieht nun endlich in Lottys Leben, so etwas wie Normalität ein, oder hat sie sich mittlerweil an dieses Leben gewöhnt. Ich werde sehen, warum Lotty ihr Schweigen von sich aus gebrochen hatte. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen. Komisch, ich hatte so etwas von Lotty gar nicht mehr erwartet.

Lange hatten wir heute vor Klärchens Gehege gesessen und die Pferde beobachtet. Ich glaube langsam gehörten wir schon zum Inventar, des Tierparkes. Heute brachte uns der Pfleger ein paar Möhren und ließ uns ins Gehege der Pferde hinein. Sooft hatten wir schon hier gesessen und nie hatte jemand aus dem Tierpark, etwas zu uns gesagt. Lag es daran, dass wir oft stundenlang einfach nur die Tiere beobachteten oder lag es daran, dass Lotty mittlerweile die Pferde zu sich rufen konnte.

Keine Ahnung wie meine Kleine das fertig brachte. Sie ging ans Gatter des Geheges und gab ein Grummeln von sich. Wir nannten das auf dem Gestüt immer Blubbern, wie es in der Fachsprache hieß. Es ist ein eigenartiges Geräusch, das mit der Zunge und dem Kehlkopf erzeugt wurde. Ich selber hatte erst ganz selten erlebt, dass ein Mensch diesen Ton nachmachen konnte. Ich für mein Teil, bekam diesen Ton nie hin. Wo hat Lotty das nur gelernt? Schon in den letzten Winterferien fiel mir auf, dass sich Lotty mit Tieren regelrecht unterhalten konnten. Vor allem, dass sie in eine völlig andere Welt abtauchte, wenn sie von Tieren umgeben war. Mir war das gar nicht bewusst. Als ich sie am Gehege fragte, woher sie das können und wüsste, meinte sie durch Beobachtungen der Tiere. Das ist ein ungeheures Talent, aber ihr war nicht bewusst, dass kaum ein Mensch, so genau auf die Laute der Tiere achtete und sie dann auch noch nachahmen konnte. Meistens kamen von Lotty, dann solche Bemerkungen, dass können von uns alle. Außerdem spüren die Tiere, dass wir ihnen nichts tun würden und sie hätten Tieren schon oft geholfen. Wie genau musste sich Lotty mit den Tieren beschäftigt haben. Na ja eigentlich, machte sie das ja schon immer, so lange wie ich sie kannte. Sie konnte schon in der WoKi mit der Katze reden, das war mir nur nicht bewusst.

Dieses Blubbern oder Grummeln, holte die Pferde zu uns. Für mich sah es so aus, als wenn Lotty den Pferden sagen wollte, kommt zu mir, ich bin einsam. Es dauerte nicht lange und wir beiden waren umringt, von der gesamten Herde. Lotty schmiegte sich an jedes Pferd und rieb ihren Kopf und das Gesicht an dem Hals der Tiere. Sie hatte alles um sich herum vergessen. Wir wurden von den Pferden begrüßt wie alte Freunde, die man lange Zeit nicht gesehen hatte. Von weiten wurden wir dabei von einem der Pfleger beobachtet, der uns dann ins Gehege ließ und uns die Möhren brachte. Es war ein unglaubliches Erlebnis, für mich, dass wir in das Gehege durften. So nahe war ich den Pferden lange nicht mehr. Vor allem als Charlotte die Tiere rief, um sie mit den Möhren zu füttern. Dabei passte sie genau auf, dass auch jedes Tier ein Stück Möhre bekam. Lotty war glaube ich ganz weit weg und in einer ganz anderen Welt versunken. Etwas eifersüchtig war ich auf die Pferde, denn Lotty hatte mich völlig vergessen.

Plötzlich griff sie in die Mähne des Leithengstes und zog sich auf dessen Rücken. Obwohl der Hengst keinen Sattel hatte, saß sie auf dem Pferd, als hätte sie noch nie in ihrem Leben etwas anders gemacht, als zu reiten. Ich war völlig sprachlos. Genauso plötzlich wie sie aufgesessen war, ritt sie mit der ganzen Herde davon. Sich nur mit den Beinen auf den Hengst halten, breitete sie die Arme aus und genoss die Freiheit der Pferde. Ich ging aus dem Gehege und setzte mich auf die Bang und sah ihr einfach zu. Der Pfleger kam zu mir herüber und meinte zu mir. So etwas hätte er noch nie erlebt. Der Leithengst, würde normalerweise jeden wegbeißen, der in seine Nähe kam. Man könnte ihn nur untersuchen, wenn man ihn vorher betäuben würde. Dass er sich reiten ließ, war für den, mit Pferden erfahren Pfleger, etwas völliges Neues. Sprachlos setzte er sich neben mich und sah Lotty zu, wie sie mit den Pferden herumtobte. Ihre Enkelin kann wirklich gut mit Tieren um gehen, musste er noch loswerden, bevor er wieder seiner Arbeit nachging. Nach einer halben Stunde brachte der Hengst Lotty wieder zum Tor. Lotty sagte ihm irgendetwas ins Ohr und auf einmal quietschte sie und stampfte mit einem Bein auf. Der Hengst sprang darauf an und Lotty rannte wie eine Verrückte, um den Hengst herum und die Beiden spielten mit einander. Keine Ahnung, was sie mit dem Hengst trieb. Ich hatte als junger Mann auf einen Rittergut gearbeitet und habe dort geholfen Pferde zu züchten, aber niemals hatte ich solch ein ausgelassenes Spiel zwischen Menschen und Pferden beobachten können. Manchmal war mir meine Kleine unheimlich. Sie hatte Talente, die tief in ihr vergraben waren und von denen keiner etwas wusste. Das erste Mal seit Jahren, hatte ich das Gefühl, dass Lotty glücklich war. Genauso etwas hatte ich mir schon lange gewünscht. Auch ich konnte seit langer Zeit, das erste Mal wieder etwas entspannen. Ich war genauso glücklich wie meine Lotty. Wenn ich das meiner Klara erzähle, die wird mir das gar nicht glauben wollen. Viel zu lange hatten wir getrauert, um unser kleines Mädchen. Hatten wir die Kleine dadurch mit herunter gezogen, ohne dass wir das wollten. Ich würde Lotty das einmal fragen müssen. Lange tobten der Hengst und Lotty vor dem Gatter des Geheges herum und spielten fangen. Irgendwann rief sie den Hengst zu sich und verabschiedete sich und war mit einem Sprung über das Gatter und aus dem Gehege.

Mit einem hämmernden Herz, setzte sich Lotty neben mich und sah mich verlegen an. "Entschuldige Dedushka, ich wollte dich nicht so lange alleine lassen. Aber Kalle wollte spielen", entschuldigte sie sich leise bei mir.

"Wer ist Kalle", rutschte mir die Frage heraus, obwohl ich eigentlich ahnen konnte, wer gemeint war.

"Der Hengst, Ded", antwortete sie mir sofort.

"Seit wann hat der Hengst denn einen Namen, Lotty?"

"Seit heute Ded, ich habe ihn gefragt, ob er einen Namen hat und er hatte noch keinen. Deshalb habe ich ihn Kalle genannt. So hieß ein Freund auf meiner Schule, er ist vor einem halben Jahr gestorben. Da hinten der Schecke, heißt Andi und da vorn der Braune, der mit seiner Freundin herum steht heißt Arno und seine Freundin habe ich heute Anne getauft. Ganz hinten die große rote Stute heißt Birgitt. Ich habe es vorhin Kalle erklärt und er meinte, da sie alle keinen Namen haben, kann ich sie so nennen. Er findet es schön. Für die anderen habe ich noch keine Namen, aber die kommen bestimmt noch, Dedushka", erklärte sie mir.

Ich war erstaunt über ihre lange Rede und dass sie so offen mit mir sprach. Normalerweise musste man Lotty jedes Wort aus der Nase ziehen. Es freute mich, dass sie etwas offener war. Aber tief in mir war eine Angst, dass sie sich sofort wieder zurückziehen würde, falls ich etwas Falsches sagen würde. Ich wollte sie nicht erschrecken, aber meine Neugier war größer.

"Was heißt denn Ded und Dedushka? Kannst du mir das erklären?"

"Ded und dedushka, heißt so viel wie Großvater. Entschuldige", zog sie sich sofort wieder zurück.

Genau davor hatte ich Angst. "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Lotty. Ich kannte das Wort nur nicht. Wieso hast du den Pferden nicht alle Namen gegeben?" Fragte ich unvorsichtigerweise.

Lotty verschloss sich wieder ganz. So einfach also war es, die kleine Pflanze Vertrauen, in meinem kleinen Mädchen zu zerstören. Wie lange würde ich nun wieder warten müssen, bis sich Lotty wieder etwas öffnen würde.

*

  1. August

Jeden Tag waren wir jetzt im Martinsgrund und es tat gut zu sehen, dass Lotty immer wieder ein Stück auftaute, wenn wir an das Gehege der Pferde kamen. Auch an anderen Gehegen stellte ich schnell fest, dass Lotty die Tiere zu sich rufen konnte. Immer wieder beobachtete ich, Lottys eigenartiges Verhalten, wie die Kleine völlig in die Tiere versinken konnte. Vor allem aber, dass die Tiere so sofort als Teil ihres Rudels oder ihrer Herde ansahen. Auch die Pfleger stellte das sehr schnell fest. Heute hatten wir etwas Ähnliches erlebt, wie bei den Pferden. Der Pfleger des Wolfsgeheges sah unserer Kleinen ewig zu, als er kam, um die Tiere zu füttern. Völlig versunken stand sie an dem Gehege, und griff ohne jegliche Angst, durch das Gatter. Dort saßen zehn Wölfe am Zaun und Charlotte graulte sie hinter den Ohren. Vorsichtig, um die Wölfe nicht zu erschrecken, wandte sich der Pfleger an Lotty.

"Du lebst gefährlich meine Kleine, wenn du durchs Gatter greifst, da kannst du schnell gebissen werden, junges Fraulein."

"Die beißen mich nicht. Die wissen, dass ich lieb zu ihnen bin", stellte Lotty ihr Verhältnis zu den Wölfen richtig und nahm den Pflegern die Angst vor den Wölfen."

"Kleine, das sind keine Hunde sondern Wildtiere. Die beißen schnell mal zu."

Wieder schüttelte mein kleines Mädchen den Kopf. "Die Beißen mich nicht. Selbst die freien Wölfe in der Taiga beißen mich nicht und die sind im Winter verdammt hungrig. Die Wölfe wissen, dass ich sie liebe", klärte Lotty den Pfleger auf.

"Du hast wirklich keine Angst vor den Wölfen?"

Lotty schüttelte den Kopf und sah den Pfleger lange an.

Der lächelte sie zurück. "Willst du mir beim Füttern helfen?"

Als erstes sah Lotty zu mir, als ich nickte, nickte unsere Kleine auch.

"Na dann komm", der Pfleger drückte Lotty einen Eimer in die Hand und ging ins Gehege hinein, um die Tiere zu füttern.

Was er dann erlebte, ließ ihn Zeit und Raum vergessen. Staunend sah er diesem Wunder zu. Lotty folgte dem Tierpfleger still und leise. Kaum dass Lotty das Wolfsgehege betreten hatte, kamen die Wölfe auf sie zu und Lotty saß alleine, umgeben von Wölfen mittendrin. Lotty griff in den Eimer und gab dem ersten Wolf ein Stück Fleisch. Es war der Leitwolf, wie mir der Tierpfleger anschließend erklärte. Nach und nach bekamen alle Wölfe etwas zu fressen und Lotty achtete dabei darauf, dass jedes Tier gleichviel bekam. Bis jedes der Tiere ein Stück Fleisch bekommen hatte. Jetzt reicht der Pfleger ihr den zweiten Eimer und schüttelte den Kopf. Sofort verließ er das Gehege und setzte sich auf die Bank die davor stand.

"Sie wissen schon, dass die Kleine normalerweise von den Wölfen zerfleischt werden würde? Können sie mir erklären, was hier los ist. Ralf erzählte mir vor ein paar Tagen, dass die Kleine den Hengst gezähmt hätte, mit dem wir ständig arge Schwierigkeiten hatten."

Das wusste ich nicht, muss ich ehrlich zugeben. "Woher sollte ich das denn bitte wissen?"

"Was hatte die Kleine nur an sich, dass alle Lebewesen so auf sie standen."

Lange unterhielt ich mich mit den jungen Mann, der völlig von der Rolle war und gemeinsam beobachteten wir unser kleines Mädchen.

Kaum dass auch der zweite Eimer leer war, kuschelten sich die Wölfe aneinander, um etwas zur Ruhen. Mitten in dem Rudel legte sich auch Lotty hin. Sie hatte alles um sich herum vergessen. Sie rollte sich einfach zusammen und lag mit ihrem Kopf auf dem Körper des Leitwolfes. Über eine Stunde lag sie völlig still. Es schien mir so, als ob sie die Ruhe der Tiere in sich einsaugen würde. Noch nie hatte ich erlebt, dass Lotty über den Tag schlief. Jetzt tat sie es, mitten unter den Wölfen. Sie schien sich völlig sicher zu fühlen.

Als der Pfleger auf stand und ins Gehege gehen wollte, hob der Alphawolf des Rudels den Kopf und zog die Lefzen nach oben und zeigte sein vollständiges Gebiss. Ein Zeichen, dass er auf Abwehr ging. Vor allem zeigte er damit, dass er meine Lotty beschützen würde. Kopfschüttelnd ging der Pfleger wieder zurück und setzte sich wieder zu mir auf die Bank.

"Das gibt es doch nicht", sprach er zu mir und war völlig von der Rolle. "Die Wölfe sehen ihre Kleine als Teil des Rudels an und würden jeden zerfleischen, der auch nur in die Nähe der Kleinen kommen. Ihre Enkelin hat Recht, die Wölfe würden sie nie verletzen. Ich fasse es nicht."

Nach einer weiteren halben Stunde, regte sich Lotty und verabschiedete sich von den Wölfen. Sie setzte sich hin und fing an zu heulen, wie es nur Wölfe können und alle zehn Wölfe stimmten in das Geheule ein. Wenn ich ehrlich bin, lief es mir eiskalt über den Rücken. Lotty stand auf, nahm die beiden jetzt leeren Eimer und verließ mit einem Sprung über das Gatter, dass ihr keiner zugetraut hatte, das Gehege. Sofort kam sie auf uns zu und stellte die Eimer vor dem Pfleger ab.

"Der kleine Wolf ganz hinten", sie sah den Tierpfleger an. "Der kann nicht richtig fressen. Den sollte sich einmal ein Arzt ansehen", berichtete Lotty, den Pfleger von der Tatsache, dass mit einem der Tiere etwas nicht stimmen konnte.

"Welchen meinst du denn?" Erkundigte sich der Pfleger.

Lotty stand auf und ging ans Gatter und rief den Wolf. Zusammen mit dem Alpha Tier, kam der Wolf ans Gatter. Mir wurde ganz anders, als Lotty dem Wolf ins Maul fasste und es öffnete. Auch dem Tierpfleger blieb die Luft weg, als er sah, was unsere Kleine da machte. Aber jetzt sah auch der Tierpfleger, warum der Wolf nichts fressen konnte. Am hinteren Backenzahn gab es eine groß Zyste, in die sich das Tier etwas ein gebissen hatte. Dadurch war es zu einer eitrigen Zyste gekommen und die konnte nur der Tierarzt entfernen.

"Danke Kleines, ich kümmere mich darum", sofort stand der Tierpfleger auf und verschwand in Richtung des Gebäudes, in dem sich das Büro des Tierparkes befand.

Nochmals graulte sie dem Wolf hinter den Ohren und sagte den beiden etwas auf Russisch, schon verschwanden die zwei Wölfe und liefen zu ihrem Rudel.

Es war ein unglaubliches Erlebnis und ich staunte nur so über die Fähigkeiten, die meine Lotty auf einmal zeigte. So erfrischend war es zu sehen, wie Lotty hier in dem Tierpark aufblühte und wie sie vor allem mit den Tieren umging. Nicht das erste mal kam mir der Gedanke, dass genau das der richtige Beruf für unsere Lotty gewesen wäre. Wenn sie denn eine Wahl gehabt hätte. Dieses Mal, so egoistisch das klingen mag, hatte ich schöne Erinnerungen an den Besuch meiner Lotty.

*

  1. August 1969

Morgen ist es so weit, Lotty muss zurück nach Russland und wir waren wieder ein halbes Jahr ohne unseren kleinen Engel. Mein Herz blutete schwer an dieser Tatsache. Aber es ließ sich nicht ändern. Lotty hatte sich in den zehn Tagen wirklich einmal erholt. Sie hatte keine Augenringe mehr und wirkte viel entspannter als sonst. Leider war ich immer noch nicht an sie herangekommen. Sie zog sich sofort zurück, sobald ich auch nur eine Frage nach der Schule stellen wollte. Deshalb ließ ich es einfach wie es war. Obwohl mich schon interessiert hätte, was auf der Schule geschehen war. Aber ich wollte das bisschen Vertrauen nicht gleich wieder zerstören, was sich zwischen ihr und mir aufgebaut hatte. Es war wichtiger als meine Neugier.

*

Wie Recht mein Großvater mit seinen Überlegungen hatte. Wäre er in diesen Tagen, weiter in mich eingedrungen, hätte er alles wieder zerstört. So war ein Vertrauen gesät, das nun ein halbes Jahr Zeit hatte, um zu wachsen und endlich hatte ich jemand gefunden, dem ich rückhaltlos und ohne Druck vertrauen konnte. Beim nächsten Besuch würde ich mein Schweigen dann brechen. Denn ich konnte die Last meines Lebens, einfach nicht mehr alle ein Tragen. Auf meinen Schultern lastete eine zu große Verantwortung. Die Geduld, die mein Großvater all die Jahre aufgebracht hatte, wurde endlich belohnt. Obwohl, belohnt war nicht der richtige Ausdruck, denn mein Großvater, das ahnte ich heute, hatte mehr als ich selber, an den Geschichten zu tragen, die in unserer Schule mit uns geschehen waren. Ich vermute stark, hinterher hätte er am liebsten das bisschen Vertrauen lieber zerstört gesehen, als zu erfahren, wie es uns wirklich ging, in unserer Schule. Aber wie es im Leben war, hatte jede Medaille zwei Seiten. Auch diese bittere Pille musste mein Großvater, genau wie Eva schlucken und ich glaube beide hatten schwer daran zu knaupeln. Es war keine leichte Kost, die er da zu sich nahm und noch nehmen würde.

*

Diese Ferien hatte ich noch heute, als etwas ganz besonderes in Erinnerung behalten. Es waren für mich wirklich die ersten Ferien, in denen ich mich richtig erholen konnte. Bis heute könnte ich nicht sagen, woran das genau gelegen hatte. Ich vermute aber stark, es lag daran, dass wir mit der Trauerfeier um unsere verlorenen Kameraden, für uns selber einen Abschluss gefunden hatten und dadurch mit einem gestärkten Selbstbewusstsein, aus dieser Geschichte heraus gekommen waren. Wir hatten erkannt, dass wir nicht mehr alles schlucken mussten und Einfluss auf unser Leben nehmen konnten.

Dadurch, dass wir endlich einmal keine Last aus der Schule, mit in unser anders Leben nehmen mussten, trat endlich einmal ein Erholungseffekt ein und wir konnten neue Kraft für das nächste halbe Jahr tanken. Ich war meinen Großvater dankbar, dass er meine Leichen, die ich ja wirklich mit mir herum trug, im Keller ließ und mir meine schwer erkämpfte Ruhe ließ. Durch das Zusammensein mit den Tieren, fand ich einen Ruhepol. Mein Großvater hatte es richtig erkannt. Die Pferde gaben mir das Gefühl der Freiheit und die Wölfe sorgten für meinen Schutz. Denn seit langer Zeit, schlief ich in ihrer Gegenwart, das erste Mal Traumlos und sehr tief. Genau das war es aber, was ich so dringend suchte. Einen Ort an dem ich völlig abschalten konnte und mir nicht schon wieder Gedanken, um den nächsten Tag und die nächsten Stunden machen musste. Einen Ort, an denen andere Wesen auf mich aufpassen würden, statt dass ich, auf die anderen aufpassen musste. Einen Ort ohne Verantwortung und ohne Gefahren. Auch wenn ich heute wusste, dass ich diese Verantwortung nie völlig ablegen konnte: Dass zeigte die Tatsache, dass ich den Pfleger auf die Sache mit dem vereiterten Zahn des Wolfes hinwies, konnte ich etwas los lassen. Gerade dieses nicht Loslassen können, war mein Hauptproblem nicht nur in der Schulzeit, sondern während meines gesamten Lebens. Weil ich mich ständig für alle anderen Verantwortlich fühlte, dadurch, dass ich die Gruppenleitung hatte. Passierte etwas, gab ich mir die Hauptschuld, dann hatte ich auf meine Freunde nicht genügend aufgepasst.

***

*** Muss Kari sterben ***

 ***

Wie hieß es immer so schön, langsam müsste ich mal in die Puschen kommen. Es war schon November und immer noch war ich mit dem Buch nicht am Ende angekommen. Wie immer war der Oktober hektisch und ließ uns kaum Luft zum Atmen. Langsam wurde es draußen kälter und die Menschen zogen sich wieder in ihre Höhlen zurück, wie ich es so gern nannte. Dadurch wurde auch unser Leben wieder etwas ruhiger.

Meine Familie hatte sich nicht mehr gemeldet und ich war sehr dankbar, für die Ruhe die sie mir gaben. Auch hatte ich mich in den letzten Wochen wieder etwas erholt. Zwar passten meine Overalls immer noch nicht wieder, aber mein Gewicht hatte sich wieder etwas normalisiert und lag wieder in einem etwas besseren Bereich. Keiner machte sich mehr Sorgen extreme Sorgen um mich. Dadurch, dass ich wieder mehr aß und vor allem auch etwas bei mir behalten hatte, sah ich wieder aus, wie eine Charlotte aus zu sehen hatte. So drückte es jedenfalls Micha aus, mit dem ich wieder alles zusammen machte und für unsere Teams plante.

Auf Arbeit hatten sich wieder alle beruhigt und wir genossen die Möglichkeit, uns etwas zurückziehen zu können, mit größten Vergnügen. Die Angst die Micha hatte, vor diesem Experiment mit dem Rückzugsraum, hatte sich nicht bewahrheitet und die Gruppen teilten sich nicht in Grüppchen auf und es sonderte sich keiner ab. Nicht einmal ich verkroch mich lange in der Einsamkeit. Im Stillen ärgerte ich mich sehr, dass wir diese Ruhezone nicht schon viel früher eingerichtet hatten. Viele unserer Kollegen, nutzen diese Möglichkeit, um in Ruhe Briefe nach Hause zu schreiben oder einfach einmal zu lesen. Vor allem aber dazu, sich aus der Masse, einmal eine Stunde zurückziehen zu können. Ständig aufeinander zu hocken, war oft anstrengend und es gab Tage, da nervte ein einfach alles. Genau dann war es gut, wenn man einen Ort hatte, wo man alleine seinen Gedanken nachhängen konnte. Wir hatten jetzt sogar ein Aquarium in der Leseecke aufgestellt, in der man einfach mal seinen Gedanken nachhängen und die Fische beobachten konnte. Auch wenn wir alle gut miteinander auskamen, das Bedürfnis einmal Ruhe zu haben, blieb in uns allen erhalten und war tief in uns Menschen verwurzelt.

Viel musste ich eigentlich nicht mehr erzählen, was wissenswert war. Oder besser gesagt, es würde sich alles nur ständig wiederholen und gerade das wollte ich vermeiden. Jeder, der das Buch bis hier her gelesen hatte, begriff von alleine, dass unser Leben halt alles, aber nicht normal war und konnte sich vorstellen, dass die Umstellung für uns, auf das normale Leben nie einfach werden würde. Dass hatte sich ja auch im Nachhinein, als wahr erwiesen.

Die einmal vier und einmal zehn Tage im Jahr, die wir "zu Hause" verbrachten, waren immer nur Ausnahmesituationen. Sie reichten bei weitem nicht aus, um das wirkliche Leben kennen zu lernen. Ich glaube, das war unser Hauptproblem, das wir nach der Schule bekamen. Dass wir ein normales Leben absolut nicht kannten und uns dieses Leben, nach der Schule, völlig überfordern würde. Obwohl es so viel ruhiger war, als unser bisheriges Leben, kamen wir nicht damit klar. Zuhause bekamen wir immer nur die "schönen" Dinge sehen, bei unserem Aufenthalt in Deutschland. Wir nahmen nie Anteil, an den Problemen, die es im Zusammenleben mit anderen Menschen gab und lernten nie so zu reden.

Meiner Meinung nach, taten uns unsere Familien nichts Gutes, dass sie alle Streitigkeiten und Zankereien, und vor allem alle Probleme von uns fern hielten. Genau dort sehe ich nämlich die Ursache dafür, dass wir so viele Situationen erleben mussten, die oft, zu sehr heftigen Auseinandersetzungen, mit uns führten. Uns vor allem an unserem neuen Leben schließlich verzweifeln ließ. Die uns oft völlig überforderten und dazu führten, dass viele von uns einfach aufgaben und lieber den Freitod wählten, weil sie mit dem neuen einfachen Leben nicht mehr klar kamen.

Warum ich nicht aufgab? Gab ich wirklich nie auf? Doch ich gab oft auf und schmiss nicht nur einmal das Handtuch. Warum ich also heute noch lebe? Diese Frage kann ich gar nicht so genau beantworten. Vielleicht lag es daran, dass ich schon immer ein kleiner Eremit war und es gewohnt war, für das, was ich wollte oder nicht wollte, zu kämpfen. Oder es lag einfach daran, dass ich immer wieder Menschen traf, die wahnsinnig viel Geduld mit mir hatten und mir alles Neue erklärten. Aber diese Menschen trafen die anderen auch. Nur hatte ich sehr zeitig lernen müssen, Stopp zu sagen, bis hier her und nicht weiter. Sei es nur deshalb, um in Frieden leben zu können. Auch wenn meine Geschichten in diesem Buch immer wieder davon erzählten, dass ich mich für andere stark gemacht hatte, blieb ich, tief in meinem Inneren, immer ein Einzelkämpfer. Warum das so war, denke ich, lag an meinem Leben im Allgemeinen. Ich hatte nie jemanden, außer meinem Großvater, der für mich gekämpft hatte und der war nie lange für mich da. Ich musste mich immer selber kümmern. Etwas, dass die anderen Kinder nie machen brauchten und deshalb auch in der Schule, so schnell aufgaben, mit ihrem Kampf um ihr eigenes Leben. Dadurch verließen sie sich immer auf andere und gaben das Kommando, über ihr Lebensschiff, immer viel zu schnell aus der eigenen Hand. Erst beschützten sie ihre Eltern und in der Schule beschützte ich sie, so gut es halt ging. Als sie dann ins normale Leben kamen und keiner mehr da war, der ihnen half, stürzten sie ins Bodenlose. Sie verloren jeden Halt und es war keiner da, der in der Lage war, sie auffangen zu können. Vielleicht hätte ich ihnen das beibringen müssen, dieses kämpfen für sich selber. Aber wäre ich dazu überhaupt in der Lage gewesen? Aus meiner heutigen Sicht, war ich das nicht, denn ich war sowieso schon überfordert damit, uns alle am Leben zu halten. Ich war viel zu jung, für diese Aufgabe und eigentlich, hätten laut meinen Großvater, mich die "Großen" beschützen müssen. Da ich mit Abstand die jüngste und Kleinste war. Auch mir hatte mein Großvater seine Sichtweise der Familie, beigebracht. Aber ich hatte keine Zeit mir diese Ansicht zu verinnerlichen und hätte mich auch nie damit identifizieren können. Mich hatte all die Jahre niemand aus der Familie je beschützt, außer meinem Großvater und der hatte jämmerlich versagt. Dass hatte er sogar selber begriffen und in seinen Tagebüchern zugegeben.

Wie hätte ich also diese Voraussicht auch noch aufbringen können. Es wäre gar nicht möglich gewesen, meinen Kameraden eigene Verantwortung zu überlassen. Viele von ihnen hätten dann die Schulzeit gar nicht überlebt. Deswegen hatte ich ihnen ja immer wieder geholfen, auf den Beinen zu bleiben. Anders würde ich das heute nicht einschätzen. Aber das Vorausschauen, war leider nur aus der Sicht möglich, die man aus der Ferne hatte. So weit wie ich jetzt vorausschauen konnte, dazu wäre ich damals nicht in der Lage gewesen. Unsere Voraussicht lag darin, den Tag zu überleben. Wir kämpften jeden einzelnen Tag unserer Schulzeit, ums überleben, wie ihr gleich merken werdet.

Lest einfach weiter und ihr stellt schnell fest, dass wir alles konnten, aber nicht Jahre voraus planen, um zu erahnen, was nach unserer Schulzeit passieren würde.

 *

Es war kurz vor dem Jahresende des Jahres 1969 und wir waren völlig fertig. Es war ein sehr kalter Winter, der schon seit Anfang Oktober Einzug gehalten hatte. Müde rieben sich die meisten von uns die Gesichter, wir waren völlig geschafft. Gestern Abend oder besser heute Früh, war es sehr spät geworden. Manchmal hatten meine Kameraden, genau wie ich, das Gefühl, dass die Ausbilder etwas verpassen würden, wenn sie unsere Klasse, einmal länger als drei Stunden am Stück, schlafen lassen würden. Wie oft wurden wir von den Rumänen und der russischen Stube, in der letzten Zeit gefragt, warum wir ständig so müde aussehen würden. Komischerweise kamen die anderen Stuben, immer frisch und ausgeruht zum täglichen Appell. Deshalb wussten wir, dass die Lehrer immer nur uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf holten. Aber was half das Jammern, davon wurde unser Leben auch nicht besser. Schnell liefen alle aus unserer Truppe, in die Dusche, um die restliche Müdigkeit abzuspülen, mit dem eisig kalten Wasser, dass es bei uns immer nur gab. Hastig nahmen wir unser Frühstück ein, das wie jeden Tag, aus nur einer Marmeladenschnitte und einer Tasse Tee für mich und einem Glas Milch für die anderen bestand. Wir waren jetzt schon das sechste Jahr hier und noch immer gab es nicht mehr zu essen. Viele von uns hungerten ständig und wir hatten uns angewöhnt, alles Essbare, dass wir fanden, in uns hineinzustopfen, nur um einmal dieses ständige Hungergefühl los zu werden. Die Jungs unserer Gruppe litten noch mehr unter dem Hunger, als wir Mädchen.

Wir hasteten nach unten auf den Hof und stellten uns zum Apell auf. Oberst Ivankos, der diensthabende Offizier, stand schon auf den Exerzierplatz und wartete ungeduldig auf unsere Gruppe. Wenigstens wurden wir von ihm, einmal nicht angeschrien, Oberst Ivankos beugte sich zu den anderen Offizieren hinüber, um diese darüber zu unterrichten, weshalb wir so spät kamen. Ivankos wusste nur zu genau, dass wir nicht gebummelt hatten und wo wir herkamen. Er war der einzige unserer Ausbilder, der in der Nacht mit uns lief und uns nicht nur vom Jeep aus beschimpfte. Bei ihm gab es auch kurze Verschnaufpausen zum Luftholen und er lief nur anderthalb Stunden mit uns, so dass wir uns noch einmal kurz hinlegen konnten.

„Achtung, stillgestanden“, gab Jurina das Kommando sich aufzustellen, als diensthabender Gruppenführer, den wir seit Anfang des Schuljahres, abwechselnd bei Appel übernehmen mussten.

Sofort stellten sich alle Schüler aus der Stube "Nemetskiy", in Reih und Glied und nahmen Haltung an. Die Füße parallel und etwas gespreizt, den Kopf gerade aus und den Blick auf den Fahnenmast gerichtet, der sich genau hinter dem Oberst befand. Die Hände wurden hinter dem Rücken locker aufeinander gelegt, sodass sie auf dem Gesäß lagen. Die Schultern zurückgenommen und das Kinn hoch. Keinerlei Emotionen lagen auf unseren Gesichtern und den Gesichtern der anderen Zöglinge des Obersts. Ivankos lief die Reihe ab und innerlich atmeten wir Schüler auf, denn er hatte einmal nichts zu meckern. Das konnte allerdings nur bedeuten, dass etwas Arges auf uns zukam. Sonst hätte der anspruchsvollste Lehrer unseres Ausbildungszentrums, den halb geöffneten Knopf, an Stefs Overall, schon längst entdeckt. Er war allerdings so auf das Kommende fixiert, sodass er darauf nicht achtete. Die Hände auf den Rücken, mit einem steifen Kreuz, lief er einmal die Reihe der zwanzig deutschen Schüler ab. In dem Moment, in dem der Oberst zurück an den Fahnenmast lief, schloss Stef schnell seinen Knopf richtig. Erleichtert atmete er auf, da jetzt alles in Ordnung war und Ivankos, hatte die kleine Bewegung, zum Glück nicht bemerkt. Der Oberst Ivankos stellte sich exakt in der Mitte vor die Reihe und sah uns, seine Untergebenen ernst an.

Im Gleichen Moment wussten wir, warum Ivankos so nachsichtig war, denn unser größter Alptraum kam soeben, früh um 4 Uhr 30, um die Ecke und versaute uns damit den Tag. In dem Moment wussten wir, dass ein Tag auf uns zukam, der an Härte nicht zu überbieten war. Radujew beim Morgenappell zu sehen, war ein mehr als schlechtes Vorzeichen. Da kamen schlimme Dinge auf uns zu, die wir nicht beeinflussen konnten. Erst einmal lief auch Radujew die Linie der Rekruten ab und wir waren alle froh, dass Stef seinen Knopf hatte schließen können. Solch ein Vergehen, hätte uns allen eine Strafe eingebracht. Innerlich machten wir uns auf das Schlimmste gefasst.

„Wie ihr alle wisst...", begann Radujew mit seiner schrillen und eisigen Stimme, die jedem im Glied Gänsehaut über den Rücken jagte. "...ist heute der erste Probelauf, für den im Januar geplanten Härtetest. Dieses eine Mal, wird der Test etwas anders ablaufen, als ihr das von den vergangen fünf Jahren gewohnt seid“, genau beobachtete er seine Schützlinge und ein kurzes Grinsen huschte über sein hartes und verhärmtes Gesicht. Allerdings zeigte keiner der Schüler, auf diese Eröffnung hin, nur die geringste Reaktion. Es sah aus, als ob er gegen Marionetten sprach, die völlig emotionslos in Reih und Glied vor ihm standen. Grinsend sah er seine Schüler an, denn er hoffte, dass nur einer darunter war, der stöhnen würde. Er wusste genau, dass sich alle auf einen langen Marsch von knappen hundert Kilometer eingestellt hatten. Es tat ihm jedoch keiner diesen Gefallen und zeigte eine winzige Reaktion. Man sah dem Ausbilder an, wie wütend ihm diese Gefühlskälte machte. Aber, er würde uns Schüler, diesmal sowieso richtig ran nehmen, mit ihren elf Jahren waren sie alt genug, um richtig getestet zu werden. Schließlich hatte er den Befehl bekommen, diesmal härtere Bandagen anzulegen und von den Schülern das Letzte zu fordern. Diese faule Bagage ins Wasser zu jagen, bei einer Temperatur von minus 5° Celsius, würde ihm Spaß machen. Er wusste schließlich, dass viele von seinen Rekruten, das Wasser hassten wie die Pest. Sie genau zu dem zu zwingen, was sie am wenigsten mochten, lag ihm im Blut. In den Augen der Schüler, war er die Boshaftigkeit in Person und wurde nicht für umsonst, unter den Rekruten Ubiytsa, der Schlächter genannt. Es gab niemanden in der Schule, der schlimmer war, als dieser Ausbilder. Ausgerechnet dieser Lehrer, musste ihr unmittelbarer Vorgesetzter sein.

Die Gruppen ahnte Schlimmes. Das Aufblitzen von Häme in dem Gesicht ihres Vorgesetzten bedeutete, dass unerfreuliche Dinge auf sie zukamen. Es versuchten jedoch alle, sich nichts von dieser Angst anmerken zu lassen. Diese Genugtuung würden sie ihm nicht gönnen. Kathinka unterdrückte mühsam den Hustenreiz, sie war schlimm erkältet und Jo hielt sich nur mit Mühe gerade. Seine gebrochenen Rippen schmerzten, dass es ihm die Tränen in die Augen trieb. Aber es half nichts. Schwäche zu zeigen, war ein großer Fehler. Oberst Radujew würde diese Schwäche sofort, gegen uns einsetzen und den Test noch schlimmer machen, als er so schon werden würde. Alle dreiundfünfzig Schüler der Militärischen Akademie von Yrksenky, die kurz nur MAY genannt wurde, sahen offen den untersetzten Oberst an und wichen dessen Blick, nicht um einen Millimeter aus. Sechzehn Russen, siebzehn Rumänen und zwanzig Deutsche, warteten auf die Hiobsbotschaft des Ubiytsa. Der nur dann auf der Bildfläche erschien, wenn es sich lohnte, sich an dem Unheil anderer zu laben.

Radujew, der mit seinen hundertsechsundsiebzig Zentimetern nicht gerade groß war, aber durch seine hundertzehn Kilo pure Muskelmaske, unwahrscheinlich durchtrainiert wirkte, sah sich auf den Exerzierplatz um. Der Rumäne galt als unvorstellbar zähzornig und war nicht nur für die Schüler, sondern auch für das Lehrerkollegium, der wahr geworden Alptraum. Vor einem Jahr übernahm der Oberst die Stelle des Direktors, von seinem Vorgänger Oberst Senko, der nach schwerer Krankheit in den Ruhestand versetzt wurde. Von Radujew eine Bestrafung zu bekommen, war gefährlich und keiner ging dieses Risiko freiwillig ein. Oft genug bekamen wir alle, von dem fast weißblonden Oberst Prügel, nur weil wir irgendeinen seiner Befehle nicht hundertprozentig, zu seiner Zufriedenheit ausgeführt hatten oder weil er einfach wieder einmal schlechter Laune war. Seine eiskalten blauen Augen, jagten jeden der Schüler Angst ein. Wenn diese Augen einen musterten, wurde einen ganz anders. Es führte nicht nur, dessen klirrende hohe Stimme, für ein ausreichend großes Gänsehautpotential. Die Gänsehaut lief einen schon über den Rücken, wenn er einen direkt ansah. Sagte der Oberst etwas zu uns, kam nur Unheil heraus oder schmerzhafte Beschimpfungen. Beschimpfungen wurden bei ihm immer von heftigen Schlägen bekleidet. Radujew musste nicht schreien, obwohl er das oft tat. Auch so ging seine hohe Stimme, durch Mark und Bein. Sie verunsicherte die Schüler oft genug, genau wie seine Augen. Man konnte diesem Blick auch nicht ausweichen, denn das deutete der Oberst als Schwäche. Das alleine konnte schon dazu führen, dass man eine Tracht Prügel bezog, wie Jo gestern wieder einmal zu spüren bekam. Also sah die gesamte Schülerschaft, den verhassten Vorgesetzten, direkt in die Augen und warteten geduldig auf das, was da jetzt wohl auf sie zukommen mochte. Fast alle bekamen Bauchweh, denn der gehörte Satz, bedeutete nichts Gutes.

Oberst Radujew ließ ein hämisches Grinsen, in seinem Gesicht zu und sprach weiter. „Da das Wetter heute sehr warm ist, werden wir zusätzlich, zu dem geplanten Lauf, eine Durchquerung des Yrksenkysees durchführen. In der Mitte des Sees, werdet ihr ein Floß vorfinden, dieses werdet ihr unterschwimmen und den daran, für jeden markierten, Gegenstand entfernen und ans andere Ufer bringen. Dieser Gegenstand, wird einen Befehl enthalten, wie ihr ab diesen Punkt weiter vorzugehen habt. Darin ist die weitere Route enthalten, die ihr zu laufen habt. Ihr werdet auch diesmal nicht als Gruppe laufen, sondern in Abständen von zehn Minuten starten. Sodass jeder von euch gezwungen sein wird, selber zu handeln. Es ist nicht erlaubt, sich gegenseitig zu helfen. Tut ihr das, bekommt ihr eine harte Strafe. Habt ihr das alle verstanden?“, fragte er in die Runde.

„Jawohl, Genosse Radujew“, antwortete die Teams einstimmig.

Was blieb uns Schülern auch anderes übrig. Dass er ein Arschloch war, wollte er bestimmt nicht hören. Allen war klar, dass es reine Schikane war, uns bei diesen Temperaturen ins Wasser zu jagen. Es half aber nichts, sich hinzustellen und sich zu wiedersetzen. Allen war klar, dass dieser Test die Hölle werden würde. Das Wasser des Yrksenkysees war schon im Hochsommer, durch seine Tiefe von über achtzig Metern, eisigkalt und jetzt im Dezember, war er noch kälter und begann an einigen Stellen schon zu zufrieren. Auch bedeutete es, dass alle bei diesen Außentemperaturen verdammt aufpassen mussten, dass ihre Begleitung nicht nass wurde. Gut, dass es ein Floß gab, so konnten sie zum Tauchen ihre Rucksäcke wenigstens ablegen und die Sachen blieben einigermaßen trocken. Jurina sah zu den Füßen vom Oberst Radujew und signalisierte ihm auf diese Weise, dass sie etwas sagen wollte.

„Sneider, was willst du. Was bitte, ist an meinem Befehl nicht zu verstehen?“, bellte er unseren diensthabenden Gruppenführer an. Der Einzige, der außer dem Zugführer das Recht hatte, sich eine Sprecherlaubnis einzufordern und Probleme innerhalb der Gruppe vorzubringen oder Fragen zu stellen.

„Genosse Radujew, entschuldigen sie bitte, Genosse Oberst. Ich möchte sie darauf hinweisen, dass Rekrutin Kathinka Kraus, sehr hohes Fieber hat. Sie hat eine beginnende Lungenentzündung, Genosse Oberst. Wenn sie in das kalte Wasser muss, wäre es nicht gut. Ich wollte sie darum bitten, sie von diesem Teil des Vortestes zu befreien, indem sie ins Wasser muss, Genosse Oberst. Doktor Konrad wollte noch mit ihnen darüber sprechen“, brachte Juri vor und damit zum Ausdruck, dass es Wahnsinn wäre diese Schülerin ins kalte Wasser zu schicken. „Wäre es vielleicht möglich für Kathinka, eine Ausweichvariante zu finden oder sie diesen Teil des Testes zu einem späteren Zeitpunkt durchführen zu lassen, Genosse Oberst“, wagte sich Jurina verdammt weit vor. Sie hatte Angst um ihre Freundin, der es sowieso schon nicht gut ging. Wenn sie aber ins Wasser musste, würde das zu einer massiven Gefährdung, ihrer schon angeschlagenen Gesundheit führen, wenn nicht sogar schlimmeres, ihren Tod.

„Alle nehmen an dem Test teil, so wie ich es euch gesagt habe. Schluss mit dieser Diskussion, ihr raubt mir meine kostbare Zeit“, brüllte er Jurina an. „Beginn des Testes, ist in einer halben Stunde und zwar in voller Montur. In die Rucksäcke kommen vierzig Kilo Gewichte. Ich mache Stichproben. Abtreten“, wütend drehte sich Radujew um und konnte nicht glauben, dass einer der Schüler die Frechheit besaß, für einen anderen einzutreten.

Das würde sich Radujew nicht gefallen lassen, ihm würde schon eine passende Bestrafung, für Jurina einfallen. Der Oberst ließ die Gruppen einfach stehen und lief fröstelnd und die Schultern nach oben ziehend, zurück in sein Besprechungszimmer, um den Betreuern die Tagesaufgaben zu geben und die Beobachtungsposten für den Test einzuteilen, die er gestern mit Petrow und Konrad abgesprochen hatte. Immer bleib die gesamte Organisation solcher Test an ihm hängen, ging es ihm durch den Kopf. Er musste sich etwas einfallen lassen, diese Arbeit an Anton oder Sascha weiter zu geben, damit er mehr Zeit für seine Hobbys hatte. Diese Arbeit hier in der Schule mit diesen undankbaren Bälgern, ging ihn gewaltig auf die Nerven. Kurz und bündig, wies er die ihm unterstellten Kollegen in ihre heutigen Aufgaben ein und verschwand sofort, ohne auf Rückfragen zu warten, in seinem Büro. Endlich hatte Radujew Zeit für sich und würde erst einmal nach unten ins Dorf fahren und seinen Schwager besuchen. Sollten sich doch die Anderen, um diesen bescheuerten Test kümmern, es reichte schon, wenn er immer die Arbeit der Planung hatte. Durchführen und kontrollieren konnten den Test andere. Erstens konnte er, wenn einem dieser Bälger etwas geschah, die Schuld anderen aufhalsen. Er war ja nicht da und konnte das Geschehene nicht verhindern. Außerdem, war es ihm heute einfach zu kalt.

Im Besprechungszimmer blieben, die Kollegen der MAY geschockt zurück und sahen sich fassungslos an. Lew Titow, der Lehrer für die Ausbildung der Kampfschwimmer und Tauchtrainer der Schüler, brachte wohl zum Ausdruck, was alles anderen des Kollegium dachten und sich nicht trauten auszusprechen, im Beisein des Leiters der Institution. Die Mitarbeiter der MAY, hatten genau so viel Respekt vor Oberst Radujew, um dies nicht als Angst zu bezeichnen, wie die Schüler. Dieser war in Militärkreisen als einer der erbarmungslosesten Ausbilder verschrien, denn es in Rumänien gab. Ausgerechnet ihn, mussten sie seit einem Jahr, als Vorgesetzten ertragen. Titow war der erste der wieder Worte fand, und diese auch zum Ausdruck brachte.

„Hat der nicht mehr alle Tassen im Schrank? Die Kinder bei diesen Temperaturen in den See zu jagen, das ist Mord“, kopfschüttelnd sah Titow seinen Freund und Kollegen Oberst Konrad an. Wie er, glaubten auch alle anderen, sie wären im falschen Film gelandet.

„Doktor, können sie nicht versuchen diesen Wahnsinn zu unterbinden. Die Kinder sind hinterher alle krank. Was soll dieser Unsinn eigentlich? Ich bin heute mit Neoprenanzug und Tauchausrüstung eine halbe Stunde im Wasser gewesen und bin fast erfroren. Die Kinder müssen, ohne jeglichen Schutz ins Wasser. Die müssen bei einer Wassertemperatur von drei bis vier Grad Celsius, über zwei Kilometer schwimmen. Zum Teil beginnt der See an der Oberfläche Eis zu bilden. Auch wenn die Kinder regelmäßig im See schwimmen, aber doch nicht quer rüber. Hat Radujew sie nicht mehr alle? Das sind fast zwei Kilometer. Sascha sage doch auch mal etwas dazu“, wütend sprach Petrow den Trainer für die Ausbildung im Überlebenstraining an, der stand da und zuckte mit den Schultern. Wütend sah Anton Petrow deshalb zum Schularzt.

„Anton, guck mich nicht so an. Ich habe mich gestern Abend nicht für umsonst mit Radujew in den Haaren gehabt und dermaßen angebrüllt, dass meine Frau es noch in unserem Quartier auf der anderen Seite des Gebäudes hören konnte. Er lässt nicht mit sich reden. Er begründet seine Entscheidung damit, dass er den Befehl bekam, die Kinder härter ranzunehmen. Dass er die Kinder damit umbringt, geht in dessen versoffenes Gehirn wahrscheinlich gar nicht rein. Ich kann dagegen nichts machen, ohne zu riskieren, dass ich gefeuert werde. Wer soll dann die Kinder schützen, denkt ihr der nächste Arzt, den Radujew einstellt, wird für die Kinder sein, das glaube ich eher nicht“, traurig kamen die letzten Worte des Arztes über dessen Lippen. Konrad wandte sich deshalb an Pavel, den Hausmeister der MAY.

„Pavel, kommst du an die Kleine heran, ohne dass Radujew davon Wind bekommt?“

„Klar Herr Doktor, ich muss denen doch noch offiziell die Gewichte bringen. Radujew weiß nicht, dass ich die gestern Abend schon verteilt habe. Als sie sich mit ihm in den Haaren hatten. Das habe ich extra so eingerichtet. Manchmal denke ich halt mit“, grinsend sah er den Arzt an.

Es war nicht das erste Mal, dass Pavel Bote zwischen den Arzt und den Kindern spielen musste. Er hasste seinen Schwager und konnte nicht verstehen, dass sein Bruder die Schwester Radujews geheiratet hatte und noch dazu gern mit Radujew zusammen war.

„Gut mitgedacht Pavel. Pass auf, du gibst Charly bitte diese Schachteln. Erkläre ihr nur kurz …“, leise erklärte Petrow dem Hausmeister, wie dieses Medikament wirkte und dass zweite Medikament für Kati und die Kapseln für Jo wären. Falls es den Beiden noch schlechter ging und sollten sie nach dem Test sofort auf die Krankenstation kommen. Pavel nickte und wollte schon verschwinden.

„Warte Pavel“, bat Titow den Hausmeister, um einen wenig Moment Geduld. „Doktor, was ist mit Kathinka?“, wollte er jetzt Genaueres wissen.

Kurz erläuterte ihm Konrad das Krankheitsbild und dass es Wahnsinn wäre, das kranke Mädchen ins Wasser zu scheuchen und das gleiche sei bei Johannes der Fall, der mit seinen vier gebrochenen Rippen, kaum Luft bekäme. Aber er nicht hatte durchsetzen können, die beiden kranken Kinder auf der Krankenstation zu belassen. Kopfschüttelnd hörten sich die Lehrer an, was dieser berichtete. Nach dem Konrad geendet hatte, war einen kurzen Moment betretendes Schweigen. Tief holte Petrow Luft, rieb sich nervös das Gesicht und schüttelte dann den Kopf.

„Egal, was Radujew, dieser verdammte Schlächter, sagt. Ich nehme das auf meine Kappe. Pavel, du sagst Charlotte bitte, Kathinka und Johannes auf keinen Fall ins Wasser gehen sollen. Sie sollen einfach außen herum laufen. Wir sind Lehrer und keine Mörder. Sie soll diejenigen, die das überhaupt nicht schaffen, mit dem Schwimmen, mitlaufen lassen, aber um Gottes willen nicht alle.“

Pavel nickte und verschwand aus dem Besprechungszimmer, um den Kindern diese guten Informationen zu bringen und nahm eine Kiste mit falschen Gewichten, zur Tarnung mit. Zum Glück waren nicht alle Lehrer dieser Schule, solche Monster wie Radujew. Die meisten versuchten das Leben ihrer Zöglinge, wenigstens einigermaßen erträglich zu gestalten. Fast alle von ihnen hatten selber Kinder und fanden das, was man hier machte nicht in Ordnung. Konnten sich aber nicht gegen ihre Befehlslinien wehren. Vielen machte dieser Arbeit zu schaffen, doch Befehle waren da, um befolgt zu werden und bei Radujew hatte man keine große Handlungsfreiheit.

 *

Nachdem Radujew den Exerzierplatz verlassen hatte, drehte sich die Klasse zackig um und lief in geordneter Formation zurück in den Schlafraum, um sich für den Test auszurüsten. Es gab eine vorgeschriebene Bekleidungsordnung für den Test, genau wie das Gepäck aufs Genauste, vorgeschrieben war. Dazu kamen noch die Gewichte, die wir zusätzlich zu unseren schweren Rucksäcken mitnehmen mussten. Die unsere Tests zusätzlich erschweren sollten. Alleine der Rucksack wog schon knappe dreißig Kilo, ohne die Zusatzgewichte, die jedes Jahr schwerer wurden. Wenn man bedachte, dass wir selber nur zwischen vierzig und fünfzig Kilo wogen, war das verdammt schwer.

Kaum hatten wir Schüler unsere Stube betreten und die Tür geschlossen, stöhnten alle auf. Es gab keine große Möglichkeit, von dieser vorgeschriebenen Linie abzuweichen oder sich vom Test befreien zu lassen. Nicht einmal Doktor Konrad hatte einen großen Handlungsspielraum, wenn es um das Mitspracherecht bei den Test ging, um den Schülern zu helfen. Er war nicht der Einzige, der immer wieder versuchte, sich schützend vor uns Kinder zu stellen und sich für unsere Gesundheit einzusetzen. Oft ließ Konrad seine Patienten einige Tag länger als nötig, auf der Krankenstadion, um ihnen eine kleine Auszeit und dadurch eine etwas längere Erholungszeit zu geben.

Auch hatte Konrad, extra für solche Einsätze, auf eigene Kosten, imprägnierte Jutesäcke für alle Kinder der MAY anfertigen lassen, in denen die Schüler ihre Schuhe und Anziehsachen, wenigstens etwas vor Nässe schützen konnten. Das einzige Zugeständnis, das Radujew den Doktor gemacht hatte, so nahmen alle zu der bereits gepackten Ausrüstung, die Jutesäcke aus ihren Spinden und steckten sie noch in den Rucksack. Auch wurden die von Pavel am Abend zuvor verteilten Gewichte, in die dafür vorgesehen Taschen des Rucksackes gesteckt.

Kaum, dass Kathinka fertig mit dem Packen war, setzte sie sich weinend auf ihr Bett. Sie wusste, was dieser Test für sie bedeutete. Mir tat meine Freundin in der Seele leid, aber mir waren auch als Zugführerin Grenzen gesetzt, die ich nicht überschreiten konnte. Ich setze mich zu ihr, um sie etwas zu trösten. Auch mir war bewusst, was für eine Gefahr für Kati bestand, wie Kathinka von allen genannt wurde.

„Kati, bleibe ganz ruhig. Es hilft dir nichts, dich jetzt so aufzuregen. Dann wird dein Fieber noch höher, als es sowieso schon ist. Wir bekommen das schon hin. Du weißt doch, der Doktor, würde nie zulassen, dass uns etwas passiert. Er wird sich schon etwas einfallen lassen. Komm beruhige dich“, sagte ich leise zu meiner völlig aufgelösten Freundin und nahm sie tröstend in den Arm.

Was hätte ich auch anderes sagen sollen. Uns allen war klar, dass Radujew, soeben Katis Todesurteil unterschrieben hatte. Dieses Mal fand auch ich keine Möglichkeit, um zu helfen oder Lösungen, die keiner mehr vermutet hätte. Ich wusste nicht, wer am See die Aufsicht hatte und kam auch nicht an den Doktor heran. Pavel konnte ich auch nicht bitten, ohne dass dieser wieder Ärger bekommen würde. Aber es half niemanden, sich von der gegebenen Situation verunsichern zu lassen. Vor allem, musste ich versuchen, alle anderen zum positiven Denken zu animieren. Sonst würde uns dieses Leben hier, bald alle zerstören. Ich versuchte den anderen immer meine Denkweise beizubringen: „Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen“. Meistens behielt ich mit dieser Aussage Recht. Man hätte es auch einfacher sagen können: "Wenn du denkst es geht nichts mehr, kommt irgendwo eine Hilfe her." Wir hatten nur noch fünfundzwanzig Minuten, in dem ich mir etwas einfallen lassen konnte. Vor allem brauchten wir alle, noch etwas Ruhe. Damit wir diesen harten Test überhaupt überleben konnten.

„Legt euch noch ein paar Minuten hin, der Tag wird hart, aber wir bekommen das schon hin“, gab ich deshalb den Befehl, dass sich alle beruhigen sollten.

In dem Moment, als auch ich mich noch einige Minuten ausruhen wollte, erschien der Hausmeister der Schule in der Tür unseres Schlafraumes. Er winkte mich zu sich heran, weil er noch Gewichte verteilen wollte. 'Wieso eigentlich?' Fragte ich mich, als auf einmal bei mir der Groschen fiel.

Pavel, war der Engel unserer Schule, wie er von uns Schülern oft genannt wurde. Weil er immer den Boten zwischen den Doktor und uns Kindern spielte. Nie war er böse darüber, sondern freute sich immer, wenn er helfen konnte. Des Öfteren schmuggelte Pavel einmal ein Brot, in unser Versteck. Anfangs wunderten wir uns immer, wo das Brot herkam, bis wir ihn eines Tages einmal erwischten, wie er aus unserem Raum kam. Erleichtert atmete ich auf, denn von seinen Informationen würde der gesamte Test abhängen. Er versuchte uns im Stillen immer zu helfen.

„Charly, ich soll dir von Petrow sagen, er hat den Dienst am See. Du sollst also, dafür sorgen tragen, dass diejenigen, die nicht ins Wasser können, außen herum laufen. Aber wirklich nur diejenigen die besonders gefährdet sind. Du weißt, oft macht der Oberst Stichproben. Petrow, ich, wie auch Titow, glauben aber nicht, dass der heute irgendwo auftaucht wird. Zum Ersten ist es ihm heute viel zu kalt und zum Zweiten hat mein Bruder heute Geburtstag. Der wird sobald ihr los seid, hinunter ins Dorf verschwinden, um zu saufen“, erklärte Pavel mir flüsternd und gab mir eine Schachtel mit Tabletten. „Doktor Konrad sagte mir, die sollt ihr alle schlucken, bevor ihr ins Wasser geht. Diese Tabletten treiben eure Temperatur etwas nach oben, sie erzeugen eine Art künstliches Fieber, ohne dass ihr krank seid. Dadurch kühlt ihr nicht so aus. Es sind ja fast zwei Kilometer, die ihr im eisigen Wasser schwimmen müsst. Ihr sollt sie unmittelbar, vor dem ins Wasser gehen, schlucken. Die anderen Tabletten sind für Kathi und Jo. Eine soll sie gleich nehmen und die anderen, falls es ihr noch schlechter geht, als jetzt. Jo auch, der Doktor hat dir einen Zettel geschrieben“, liebevoll streichelte über mein Gesicht.

Keine Ahnung warum, aber Pavel mochte mich schon vom ersten Tag an, den ich auf dieser verdammten Schule war. Wie oft hatte er mich schon vor Radujew gerettet, wenn ich Äpfel geholt hatte. In dem er mich einfach für Arbeiten einspannte, die er hätte auch gut und gern alleine machen könnte. Wie oft hatte er mir als Belohnung Brot zugesteckt. Arbeiten, wie zum Beispiel das Ausästen der Bäume. Er hätte sich nur eine Leiter nehmen brauchen. Wahrscheinlich wäre das, vor allem für die Bäume gesünder gewesen. Dafür hatte ich nämlich überhaupt kein Talent. Aber ab und an, mussten wir einmal heimlich aus unserem Zimmer verschwinden, einfach um einmal alleine zu sein oder um noch etwas Holz für unsere zu sammeln, oder aus der Küche etwas zu Essen zu holen. Die Mauern unserer Schule stellten schon lange kein Hindernis mehr für uns dar und wir konnten uns gut anschleichen. Dazu waren wir so zu gut ausgebildet wurden. Unsere Küchenfeen hatten immer etwas für uns übrig, damit wir nicht zu sehr hungern mussten. Gerade im Winter, wenn es eisig kalt war, brauchten wir zusätzlich Nahrung und selten reichte unser Holz von einem Tag bis zum nächsten. Dazu hatten wir viel zu wenig Zeit, um genügend Holz zu sammeln. Erwischte uns dabei einer, der uns nicht gut gesonnen Lehrer, deckte uns stets Pavel und gab vor, dass er unsere Hilfe gerade gebraucht hatte. Er war halt unser Engel der Schule.

Laut und so, dass es alle hörten, denn auf dem Gang war auch das Büro von Radujew, sagte er. „Hier die Gewichte, die müsst ihr tauschen und macht hin, dass ihr raus kommt, ihr seid nicht zum Faulenzen hier“, dabei grinste er mich breit an und griff in die Kiste, ließ die Gewichte etwas klappern.

Dabei drehte Pavel die Augen bis Anschlag, sodass nicht nur ich mir das Grinsen und laut loslachen verkneifen musste. Wir wussten nur zu gut, dass das Pavel nur machte, um Radujew zufriedenzustellen. Nach knapp zwei Minuten, solange hätte der Tausch gedauert, drehte sich Pavel um und verschwand aus der Nähe unseres Schlafraumes. Es wurde nicht gern gesehen, wenn er sich zu lange und zu intensiv mit uns Kindern abgab.

„Danke“, flüsterte ich ihm noch hinterher, führte die Faust ans Herz und dann zum Mund und küsste sie und streckte sie ihm hinterher. Pavel nickte kurz und lief zu den Russen, um auch ihnen, die Grüße von Doktor auszurichten und die Tabletten zu übergeben. Ich dagegen verschwand sofort im Zimmer. Kurz las ich noch den Zettel durch, den Konrad extra in die Schachtel der Tabletten gesteckt hatte. Es war die genaue Dosierung, des Medikamentes, welches nicht ungefährlich war. Trotzdem konnten wir mit den Risiken leben. Es war besser, als die komplette Auskühlung unserer Körper. Durch das anschließende Laufen, würde sich das Medikament, sowieso schnell wieder abbauen und war vor allem im Anschluss, kaum noch nachweisbar. Falls Radujew auf die Idee kam, uns zu testen. Unser guter Doktor ließ sich halt immer etwas einfallen, damit es für uns nicht gar zu schlimm wurde. Ich ahnte nur zu gut, dass er extra Petrow, dem am besten ausgebildeten Lehrer, für die erste Hilfe am See angefordert hatte. Da dieser auch Rettungsschwimmer war und im Falle der Fälle in der Lage war uns zu helfen. Besser noch als Narciza und Induna, die zwar Sanitäter, die aber keine Rettungsschwimmer waren. Der Beobachter am See hatte es gut, denn er saß in einem Boot und fuhr neben den Schwimmern her. Deshalb auch der Abstand von zehn Minuten. So, konnte er ständig wieder zurück zum anderen Ufer fahren, da er ja einen Motor hatte.

„Herhören“, rief ich leise in den Raum. Sofort kamen alle zu mir heran, damit ich nicht so laut sprechen musste. Ab und an hatten unsere Wände schon einmal Ohren und trugen Radujew alles zu. „Wir machen es wie folgt. Die Reihenfolge wie ihr lauft, lege ich ja fest. Kati, du läufst als erstes, damit haben wir anderen eine Chance, dich schnell einzuholen. Ihr wisst, die meisten der Beobachter verpetzen uns nicht. Denen ist es nur wichtig, dass wir alle heil ankommen. Das wie, ist denen doch völlig egal. Versprich mir du läufst schön langsam zum See, ohne dass du dich zu sehr anstrengen musst. Mache wirklich langsam, sonst schießt dein Fieber wieder zu hoch. Die hier nimmst du gleich. Geht das klar“, fragend sah ich unsere kranke Kameradin an, um die ich mir wirklich Sorgen machte.

Lächelnd und Mut machend zunickend, reichte ich ihr eine Tablette. Die diese ohne zu Zögern nahm, immer noch liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Aber darum konnte ich mich jetzt leider nicht kümmern. Wir hatten nicht mehr sehr viel Zeit, um uns eine Strategie für diesen Test auszudenken. Oder vielmehr ich, denn die anderen waren viel zu sehr geschockt, um klar denken zu können. Darin bestand halt schon lange meine Stärke, dass ich die Nerven behielt, wenn es kritisch wurde. Wir brauchten allerdings eine gewisse Strategie für diesen Test, denn in dem Moment, in dem es losging, konnten wir uns untereinander nicht mehr absprechen.

„Kati, verdammt höre auf zu weinen oder willst du, dass dich Radujew noch härter ran nimmt“, schimpfte ich meine kranke Freundin jetzt aus und wandte sich an die anderen. „Also wir laufen in folgender Reihenfolge. Kati, Jo, Pet, Ole, Stef, Berni, Pepe, Juri, Jule, Pille, Kari, Seb, Sami, Oli, Adi, Sam, Rudi, Conny und zum Schluss ich. Leute ihr müsst hinlaufen, dass ihr zu den anderen aufholt. Immerhin haben wir zu Kati drei Stunden und zwazig Minuten Zeit, die wir aufholen müsst. Dass heißt, ihr müsst Abkürzungen laufen. Es hilft nichts ehrlich zu kämpfen, wenn wir hinterher alle eine Lungenentzündung haben. Also Kati, du schwimmst nicht, sondern läufst um den See. Ab dem See gibst du richtig Gas, du musst zeitgleich mit uns ankommen, du weißt, das sind fast dreißig Kilometer, die ihr um den See herum laufen müsst. Denke dir den kürzesten Weg aus, bis zum See. Also mache bis zum See langsam, teile deine Kraft richtig ein, du auch Jo. So holen euch die anderen ein“, ernst sah ich meine Freunde an, die betreten nickten. Wandte sich jetzt den anderen zu. „Petrow hat den Beobachtungsposten am See. Juri, Jule und Pille, ihr müsst Kati und Jo, bis zum See unbedingt eingeholt haben, egal wie ihr das macht, also bummelt unterwegs nicht. Ihr lauft mit ihr zusammen, um den See. Die anderen schwimmen zusammen als Pulk, über den See. Petrow wird froh sein nicht stundenlang auf dem kalten See bleiben zu müssen. Oli, du schwimmst mit Ole und Archi du mit Stef. So haben wir die Sieben schlechtesten Schwimmer und die Kranken, sicher durch den See bekommen. Pepe, du holst unter dem Floß den Gegenstand von Oli. Pet, du den von Achi. Seb, du den von Stef. Ich den von Pille. Sami den von Juri. Rudi den von Kati. Conny du den von Jule. Sam den von Ole und Berni holt den von Jo. Alle anderen kümmern sich nur, um ihre Gegenstände. Merkt euch genau, welcher Gegenstand von wem ist. Stef und Ole, ihr beiden schwimmt ohne Pause mit Oli und Archi durch, da werdet ihr schon genügend Probleme bekommen. Ihr nehmt ihnen die Rucksäcke ab, dann müssten sie beiden die Strecke mühelos schaffen. Wenn ihr nicht mehr könnt, schreit um Hilfe, dann nimmt einer von uns, einen der Rucksäcke. Die Anziehsachen nimmt Petrow von euch in sein Boot. Also los machen wir, dass wir raus kommen, umso schneller haben wir den Mist hinter uns. Denkt daran, wir geben die Reihenfolge anders herum an. Der Ubiytsa dreht den Spieß sowieso immer um. Kati, Pet und Ole macht den Weg für die anderen sichtbar, die haben nicht euren Orientierungssinn. Nicht, dass sich noch jemand verirrt und wir euch noch suchen müssen. Wenn alle über den See sind, laufen wir im Abstand von sieben Minuten los, so merkt, dass keiner der Betreuer, die auf dem Exerzierplatz auf uns warten. Falls wir uns dort nicht besprechen können, bleibt alles so wie eben besprochen. Sonst gebe ich noch einmal konkrete Anweisungen. Ab durch die Mitte, wir schaffen das schon“, befahl ich meiner Gruppe, den Mut zu behalten.

Kati hatte mittlerweile endlich aufgehört zu weinen und auch Jo sah dem Test nicht mehr so bange entgegen. Mit kaputten Rippen zu schwimmen hatte ihm Panik bereitet. Es tat schon weg genug, mit kaputten Rippen unseren Rucksack zu tragen, dazu musste man nicht noch im eisigen Wasser schwimmen.

In dem Moment fielen mir die Tabletten ein. „Jo du nimmst jetzt sofort noch zwei der Schmerztabletten ein. Zwei jetzt und dann noch eine, wenn es zu arg wird, mit deinen Schmerzen, kannst du noch eine nehmen. Nimm nicht zu viele, die machen blöd im Kopf, soll ich dir ausrichten. Der Doktor hat mir die geschickt. Ach, jeder von euch, holt sich bei mir eine Tablette, die nehmt ihr, wenn ihr ausgezogen seid und kurz bevor ihr ins Wasser geht. Die Tablette verhindert, dass eure Körpertemperatur zu tief sinkt. Also los! Bringen wir das Ganze hinter uns, dann haben wir es geschafft und es wird ruhiger bis Ende Januar“, munterte ich meine Kameraden nochmals auf, die völlig deprimiert waren.

Dass wir nur noch diesen einen verdammten Test hinter uns bringen mussten und es danach erst einmal keine schlimmen Sachen mehr zu bewältigen gab, hatte wieder einmal keiner registriert. Jeder schnappte sich seinen Rucksack und in geordneter Formation, so wie es sich gehörte, ging es nach draußen auf den Exerzierplatz.

Dort wurden wir schon ungeduldig von Radujew erwartet. Der Oberst stand mit einer dicken Tschapka, einer dicken gefütterten Fellmütze, Handschuhen und einen Fellmantel bekleidet, vor dem Mast und wartete auf unsere Gruppe.

 *

 „Wird es nun langsam“, brüllte er uns Schüler an. Sofort stellten wir uns alle in Reih und Glied auf. „Dyba, gib mir sofort den Zettel, mit der Startreihenfolge und das ein bisschen dalli“, fuhr er mit seiner Brüllerei fort.

„Jawohl, Genosse Radujew“, meldete ich, dass ich seinen Befehl vernommen hatte und lief auf ihn zu. Ordnungsgemäß salutierte ich vor ihm und überreichte ihm den Zettel, mit der Reihenfolge der Starter. Nur jetzt keinen leichtfertigen Fehler machen, sagte ich mir immer wieder in Gedanken. Mühsam verkniff ich mir jede Art von unnützen Kommentaren, nur um Radujew ja nicht zu provozieren. Das machte ich leider viel zu oft.

Radujew sah nur kurz auf die Namen und schüttelte den Kopf. „Das könnte euch Bagage gefallen, die schnellsten Läufer zuerst. Dyba, du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich zuerst loslaufen lasse. Du elende Egoistin, du Kameradenschwein, willst du wirklich, dass deine Kameraden hier warten und frieren, während du schon loslaufen kannst. Ihr starte in der umgekehrten Reihenfolge, die hier auf den Zettel steh. Du bist die letzte Dyba. Du kannst ruhig etwas frieren, bevor du losläufst“, brüllte er mich als Zugführerin an.

Zackig salutierte ich und machte eine Kehrtwendung, um zurück ins Glied zu treten. Verdammt, mache jetzt nur nicht dem Fehler und grinse, oder lasse dir irgendetwas anmerken. Versuchte ich mir jede Gesichtsregung zu verkneifen. Ich musste mich dermaßen anstrengen, um nicht lauthals loszulachen.

Der Oberst war so etwas von berechenbar, dass es schon keinen Spaß mehr machte, ihn auszutricksen zu wollen. Von uns Schülern verlangte er immer, dass niemand eine unserer Reaktionen vorausahnen konnte. Bei ihm jedoch, konnte man fast alle Handlungen voraussagen. Aber, das war nur gut für uns Schüler. Durch diese Berechenbarkeit Radujews konnten wir Schüler so starten, wie wir die Reihenfolge gerade besprochen hatten und konnten wie geplant vorgehen.

Kati lief als erstes los, nachdem sie ihre Karte bekommen hatte. Da sie sich Zeit lassen sollte, damit wir anderen zu ihr aufschließen konnten, hatte sie genügend Zeit die Strecke für die Nachfolgenden zu markieren. Im Spurenlesen, war die Gruppe gleichstark, nur gab es gewaltige Unterschiede im Lauftempo und vor allem bei der Orientierung im freien Gelände. Vor allem konnten einige meiner Leute, gerade einmal so schwimmen und hatten mit dem schweren Gepäck enorme Schwierigkeiten, sich lange über Wasser zu halten. Eine Strecke von über tausendneunhundert Metern mit Gewicht zu schwimmen, lag nicht jeden in unserer Gruppe.

Das Schwimmen war schon im Sommer, der blanke Horror, da der Yrksenkysee, unwahrscheinlich tief war und selbst im Hochsommer, nur eine Temperatur von circa 10 °C hatte. Bei Tauchübungen hatte Hauptmann Titow einmal erwähnt, dass man bis zum Grund des Sees, nur mit einer Spezialausrüstung tauchen konnte. Er selber hätte diesen See, nur bis zu einigen der tieferen Stellen auf maximal achtzig Meter erkundet, tiefer wäre er nicht gekommen. Wie tief die tiefste Stelle des Sees war, konnte in der MAY keiner genau sagen.

Wir nutzten die unterschiedlichen Fähigkeiten der Gruppe immer maximal aus. Die Stärkeren halfen den Schwächeren, das war unsere Stärke. So hatte halt jeder in der Gruppe seine Stärken und Schwächen. Meine größte Schwäche war die Orientierung, egal was die anderen versucht hatten, ich würde mich in einem mir völlig unbekannten Gebiet hoffnungslos verlaufen.

Auch, wenn ich als Zugführerin, in vielen Dingen sehr gut war, hatte ich doch erhebliche Probleme, mich in unbekannten Gebieten zu orientieren. Es war und blieb für mich ein Buch mit sieben Siegeln, mich an etwas anderem, als einer Karte zu orientieren. Da, wo Kati sich nur an Hand von Bäumen und Moosen orientierte oder an den Sternen, brauchte ich immer einen Kompass und eine Karte. Selbst dann, war es nie sicher, ob ich auch wirklich dort ankam, wo ich ankommen sollte. War ich allerdings in einem Gebiet schon einmal gewesen, dann fand ich den Weg immer zurück. Keiner meiner Leute hatte das je verstanden und ich konnte nicht erklären, warum das so war. Es war als hätten sich Bilder aus meiner Umgebung, in mir eingebrannt und ich brauchte dann nur diese Bilder aufzurufen, so dass ich wieder wusste, wo ich im Moment war. Aus diesem Grund, konnte ich immer meine Leute nach Hause führen, bei dem Abschlusstests. Da ich mir auf dem Hinweg, den Rückweg schon einprägte. Ich lief die Strecke dann rückwärts ab. Anders könnte ich diese Macke von mir, einfach nicht erklären.

Frierend standen wir Schüler, die wir ja nur in unsere Overalls bekleidet waren, auf dem Exerzierplatz und warteten darauf, endlich losgeschickt zu werden. Endlich, nach drei Stunden und zwanzig Minuten, war auch ich an der Reihe und lief mit hoher Geschwindigkeit los. Ich musste zu meinem Vordermann zehn Minuten herauslaufen.

Conny, so hatten sie sich abgesprochen, würde nur in einem sehr langsamen Tempo laufen, sobald er aus der Sichtweiter der Schule war und so auf mich warten. Wir beiden mussten einen Weg laufen, der um einiges schwieriger war, aber um die Hälfte kürzer, als die anderen Läufer. Da ich diese Abkürzung noch nie gelaufen war, hatte ich keine Chance diesen Weg alleine zu finden. Die Strecke, die wir heute laufen mussten, kannten wir alle noch nicht und so war ich vollkommen auf Connys Hilfe angewiesen.

Der schwarzhaarige Conrad, der von allen nur Conny gerufen wurde, war ein zäher kleiner Bursche, von nur hundertachtundfünfzig Zentimetern und knappen achtundfünfzig Kilo, der es faustdick hinter den Ohren hatte. Obwohl er mit Abstand der kleinste Junge in der Gruppe war, hatte kaum einer der anderen Schüler, eine Chance gegen ihn. Er war in fast allen Bereichen sehr gut und vor allem, unwahrscheinlich schnell.

Ich dagegen, war eines der kleinsten Mädchen auf der MAY, und die Kleinste der deutschen Gruppe und mit meinen zehn Jahren, gerade einmal hundertvierundvierzig Zentimeter groß und wog, knappe fünfzig Kilo. Trotz meines Gewichtes, war ich nicht dick, sondern eine geballte Ladung Muskelmasse. Ich war genauso ein schwarzhaariger Teufel wie Conny, nur hatte ich nicht wie er blaugraue, sondern dunkelbraune Augen. Ich gehörte zu einen der besten Schützen aus der Gruppe und im Nahkampf, konnte ich es, dank Narciza, mittlerweile selbst mit Radujew und Ranjow aufnehmen. Das, was ich an Gewicht und Größe zu wenig hatte, machte ich durch meine gute Technik und vor allem meine schnellen Reflexe wett. Das war einer der Gründe, weshalb mich Oberst Radujew so sehr hasste. Er war die ersten fünf Jahre mein Trainer für Nahkampf gewesen und ihm gelang es, seit fast zwei Jahren nicht mehr mich auf die Matte zu legen. Der gefürchtetsten Ausbilder der Akademie, konnte seine kleinste Schülerin, nicht auf die Matte zu legen und dass schon seit Ewigkeiten. Es war mir klar dass ihn das mächtig gegen den Strich ging.

Zügig lief ich den von Conny markierten Weg entlang und nach fünfzehn Minuten, hatte ich zu ihm aufgeschlossen. Wir beiden machten eine kurze Pause und holten erst einmal kurz Luft. Kaum, dass ich wieder zu Atem gekommen war, gab ich den Befehl zum Aufbruch.

„Also los, Conny mache hin, wir müssen weiter“, schon liefen wir beide einen schmalen Waldweg entlang, immer Richtung Norden. Dort lag der Yrksenkysee, zu dem wir mussten.

Conny lief vor mir her und immer auf ein Bergplateau zu, das uns entgegen ragte. Wir hatten zwei Möglichkeiten, einmal um den Berg oder einmal darüber hinweg. Ein schmaler Weg, lief um den Berg, den man wählen konnte, doch kurz vor dem Weg, bog Conny nach Osten ab und kam an einer Steilwand zum Stehen.

„Charly, wir haben zwei Möglichkeiten, die Steilwand hochzuklettern oder außen herum zu laufen“, zeigte er mir, schwer atmend, die vorhandenen Möglichkeiten auf.

„Conny, was geht schneller?“, erkundigte ich mich bei Conny, weil ich keine Ahnung hatte, wie viel Kilometer wir durch die Wand sparen würden.

„Charly, wenn wir außen herum laufen, sind das gute dreißig Kilometer. Zum Klettern brauchen wir, mit etwas Glück und vielleicht zwanzig Minuten.“

„Klettern“, gab ich und immer noch nach Atem ringend zur Antwort.

Conny nahm sein Rucksack ab und holte ein Seil heraus. Ich tat es ihm nach und gab ihm aus meinem Rucksack ein zweites Seil. Die Seile gehörten zu unserer standartmäßigen Ausrüstung, die wir bei jeden Test, immer dabei hatten. Gekonnt knotete Conny die Seile mit einem doppelten Spierenstich zusammen, so kamen wir auf knappe achtundzwanzig Meter Seillänge. Das müsste reichen, damit wir unsere Rucksäcke hochziehen konnten, die wir zum klettern zurücklassen mussten. Mit einem Roringsteg, mit einem halben Schlag, das war auch eine Knotentechnik der Alpinisten, befestigte Conny das Seil an den Trageriemen beider Rucksäcke und das andere Ende an meinem Gürtel, da ich wesentlich mehr Kraft hatte, als mein Freund. Ich kletterte vor, da ich ein sicherer Klettere von uns beiden war und dadurch schneller in der Wand klettern konnte, als der etwas langsamere Conny.

Wir nutzten die in der Steilwand vorhandenen Risse, um uns nach oben zu arbeiten. Zum Glück war die Steilwand nicht all zu hoch, sodass wir mit einem Zug die Rucksäcke nachholen konnten. Die knappen zwanzig Meter Höhe der Steilwand, waren zwar nicht ungefährlich und es war purer Wahnsinn, sie ohne Sicherung zu erklimmen. Aber was hätten wir machen sollen. Es war für uns die einfachste Methode die drei Stunden Rückstand zu den ersten Läufern aufzuholen. Wir hatten beide viel Erfahrung im Klettern und hatten solche Wände schon hunderte Male und bei jedem Wetter bestiegen. Wir kamen schneller voran, als wir am Anfang dachten. Außerdem benutzen wir, alte in der Wand befestigte Ringe, um Conny und mich, wenigstens etwas gegen einen Absturz zu sichern. An besonderen schwierigen Stellen wartete ich auf Conny, um ihm so über diese Stellen zu helfen. Am Überhang der Steilwand, die kurz unterhalb der höchsten Stelle war, sicherten wir uns in einer Standschlinge. Auf diese Weise hatten wir genügend Standsicherheit in der Wand. Die Standschlingen bauten wir aus den beiden Gürteln unserer Overalls. So konnte ich Conny nach oben zu helfen, ohne uns in Gefahr zu bringen. Das war zwar nicht besonders sicher, aber was sollten wir machen. Da beide keine Kletterausrüstung dabei hatten, mussten wir halt das nutzen, was uns zur Verfügung stand. Zum Glück hielten die Ringe und vor allem unsere Gürtel, die Belastungen aus. Wir beide waren dadurch wesentlich schneller nach oben geklettert, als wir es erst dachten.

Kaum, dass wir oben angekommen waren, zogen wir gemeinsam, unsere beiden Rucksäcke nach oben. Sofort nahmen wir die Rucksäcke wieder auf den Rücken und liefen weiter, ohne eine Pause zu machen. Durch die Steilwand hatten wir uns eine große Strecke zu laufen gespart und sahen von weitem, unten im Tal, Sami, Oli, Kalle, Sam und Rudi als Gruppe laufen. Alle waren sehr gute Läufer und holten gut zu den davor laufenden Kameraden auf. Keine fünf Minuten später, sahen wir die nächste Gruppe mit Jule, Andi, Pille, Kari und Seb. Also, hatten wir beiden richtig gut aufgeholt.

Zügig liefen wir auf den See zu, der nur noch zehn Kilometer entfernt sein konnte. Bis zu dem Punkt, mussten auch wir beiden die Gruppen eingeholt haben. Das war nicht so einfach, denn wir mussten auf der anderen Seite des Berges, erst wieder herunter. Der Abstieg auf der anderen Seite des Plateaus, war allerdings nicht so gefährlich, wie die Steilwand die wir eben hochgeklettert waren. Allerdings war sie schlecht zu laufen. Deshalb gaben wir oben auf dem Plateau, noch einmal richtig Gas, sodass wir den Abstieg in Ruhe vornehmen konnten.

Vorsichtig liefen wir den schmalen und brüchigen Serpentinenweg nach unten. Vorsichtig und langsam, setzten wir einen Fuß vor den anderen. An vielen Stellen war der Weg mehr ein Sims, als ein begehbarer Weg und war stellenweise so brüchig, dass wir uns kaum trauten, darauf zu treten. Zum Glück hielt der Weg, unser Gewicht aus und wir kamen ohne Probleme nach unten. Oben am Abstieg, hatten wir uns gegenseitig mit einem Seil gesichert und so tasteten wir uns Schritt für Schritt, an der Wand entlang und im wahrsten Sinne des Wortes, vorwärts. Kaum, dass wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten, liefen wir wieder im hohen Tempo weiter. Noch ungefähr drei Kilometer, trennten Conny und mich vom See. Fast zeitgleich, kamen wir mit den anderen Gruppen an, die sich auch eingeholt hatte. Wie immer funktionierten in unserem Team, die Absprachen reibungslos.

Kurz holten wir alle erst einmal Luft und machten eine kleine Pause. Alle ließen wir uns dort fallen, wo wir gerade standen und gönnten uns ganze fünf Minuten Ruhe. Alle egal ob Jungs und Mädels, wir mussten erst einmal Luft bekommen.

 *

 „Charly, wir haben uns auf den Weg hier her, etwas überlegt“, begann Juri schwer atmend, als erste zu sprechen. „Wir nehmen von Archi und Oli, die Rucksäcke mit. Stef und Ole werden genug Probleme haben, die beiden durch den See zu bekommen, nur mit ihren eigenen Rucksäcken beladen“, boten die fünf Läufer Hilfe an.

Ich nickte und war sehr darüber erfreut, dass sich endlich auch die Anderen einmal, Gedanken machten, wie man den Schwächeren helfen konnte und nicht die Planung der Tests, alleine meiner Verantwortung übergaben. Deshalb war ich sehr dankbar für Juris Vorschlag, vor allem einverstanden und sah die fünf aufmunternd an, die eine große Strecke laufen mussten.

„Oli, du gibst deinen Rucksack Pille und du Archi, gibst deine Sachen Juri und ihr Fünf wechselt euch mit dem Tragen ab. Versucht bitte Jo und Kati nicht mehr als nötig zu belasten, die sind sowieso schon angeschlagen genug. Ihr anderen zieht euch sofort aus und rein ins Wasser mit euch. Vom Zögern wird das Wasser auch nicht wärmer. Nehmt eure Tabletten. Juri, Pille, versucht Kati und Jo ohne zusätzlichen Ballast laufen zu lassen. Kati glüht doch schon wieder. Sie hat bestimmt schon wieder hohes Fieber und Jo kann sich kaum noch bewegen. Kati, du nimmst das hier. Das hat mir der Doktor für dich mitgegeben, damit dein Fieber nicht zu hoch wird. Jo nimm dir noch eine von den Tabletten. Du nützt niemanden etwas, wenn du vor Schmerzen umfällst. Also los, beeilt euch“, gab ich das Kommando zum Start, für die Läufer und die Schwimmer.

Mir wurde bei dem Gedanken schlecht in das eisige Wasser zu müssen, aber das durfte ich den anderen nicht zeigen. Wir zogen uns alle aus und steckten unsere Sachen in die Jutesäcke und schnürten diese fest zusammen und oben auf die Rucksäcke. Bekleidet nur in Turnhosen und die Mädchen zusätzlich mit einem Bustier, stiegen wir in das eisige Wasser. Wir schwammen, nach dem wir wieder atmen konnten, als Pulk los. Die Schwachen in der Mitte und die guten Schwimmer außen, sodass wir die unsicheren Schwimmer immer im Augen behalten konnten. Petrow, fuhr in einem sicheren Abstand neben der Gruppe her und suchte den Blickkontakt zu mir.

„Ich schwimme einmal kurz rüber zu Petrow, der will etwas von mir. Ihr bleibt alle zusammen. Ich hole euch schnell wieder ein“, informierte ich die Gruppe und schwamm zu dem Motorboot und hielt mich an der Reling fest. Kaum, dass ich mich festhalten konnte, beugte sich Petrow nach unten.

„Charly, achtest du darauf, dass diejenigen die gelaufen sind, wenigstens die Ärmel etwas nass haben. Nicht, dass das alles heraus kommt. Radujew bringt mich um und verfüttert mich an die Fische, wenn das rauskommt. Aber es ist auch nicht normal, was er mit euch macht“, bat er mich auch auf solche Kleinigkeiten zu achten. „Kleines, dreh dich mal ein Stück. Ich konnte dir das vorher leider noch nicht geben, weil ich nicht wusste, ob Radujew noch deinen Rucksack kontrolliert würde. Aber, dem war es viel zu kalt, das war unser Glück. Ich stecke dir hinten zwei Flaschen Wodka rein, die könnt ihr dann aufteilen. Am anderen Ufer habe ich schon ein Feuer gemacht, drauf steht ein großer Kessel mit Tee und daneben in dem Gebüsch sind zwanzig Becher für euch. Charly du machst jeden einen kräftigen Schluck Wodka in den Tee. Ich weiß ihr solltet keinen Alkohol trinken, aber bei der Kälte hilft euch das, den Kreislauf wieder hochzubekommen und vor allem wieder schneller warm zu werden. Das ist mit Doktor Konrad abgesprochen. Den Rest Wodka lasst ihr am Feuer liegen. Charly, passe auf das keiner betrunken wird, trinkt nur so viel, dass euch etwas warm wird. Den Rest räume ich dann weg. Wenn das Radujew mitbekommt, können wir immer noch sagen, wir die Betreuer haben etwas getrunken, weil uns so verdammt kalt war. Dann bekommen wir zwar Ärger, aber damit können wir leben“, breit grinste mich der Tauchlehrer an.

„Danke Genosse Oberst, das können wir gut gebrauchen. Genosse Petrow, Kati und Jo sollte ich glaube ich nichts geben, die haben beide starke Medikamente eingenommen. Irgendeiner hatte mal erwähnt, dass sich das nicht mit Alkohol verträgt. Oder stimmt das nicht? Ich achte darauf, dass die drei etwas nass sind. Es wird mir eine Freude sein, die drei nass etwas zu spritzen, Genosse Oberst. Die haben es so gut, nicht in die verdammte Kälte zu müssen. Keine Angst, keine von uns mag Alkohol, Genosse Oberst. Bitte lassen sie mich weiter schwimmen. Es ist elende kalt im Wasser, bitte, Genosse Petrow“, erklärte Petrow zähneklappernd.

„Dann macht hin, dass ihr aus dem Wasser heraus kommt. Lass Kati und Jo aus, da hast du Recht. Charly, spare nicht mit dem Wodka, der heizt euch auf. Ihr holt euch den Tod, mit jeder Minute die ihr länger als nötig im Wasser seid.“

Ich nickte wissend und stieß sich von dem Boot ab und schwamm zügig hinter den anderen her. Die waren schon fast am Floß angekommen. Kaum dass ich die Gruppe wieder erreicht hatte, hievten schon die ersten ihre Rucksäcke auf das Floß, um zu tauchen. Nach und nach holten alle ihren Gegenstand, der nichts anders war, als ein Jutesäckchen mit einem Reagenzglas, in dem ein Zettel steckte. Auf dem Jutesack stand die jeweilige Personenkennzahl. Sodass die Zuordnung nicht schwer werden würde.

Archi, Oli, Ole und Stef, schwammen gleich weiter, sodass sie aus dem Wasser kamen, den Archi und Oli kamen nur sehr mühsam voran und wir anderen, würden die vier schnell wieder einholen. Der Rest würde warten bis alle ihr Jutesäckchen geholt hatten und würde den Vieren im Pulk folgen. Die vier würden dann von der Gruppe wieder aufgenommen werden, so dass man Ole und Stef im Notfall helfen konnte, auf den letzten Metern.

 *

Conny, Sami, Berni, Seb und ich hatten die Jutesäckchen von unseren Kameraden und die eigenen schon geholt, als das Unglück geschah. Als Kari sich ihr Jutesäckchen holen wollte, hielt sie sich von unten am Floß mit einer Hand fest, weil sie mit ihren kalten Händen das Säckchen nicht abbekam und rutschte ab. Ihr Hand glitt, zwischen zwei der Baumstämme und verklemmte sich dermaßen, dass sie die Hand nicht mehr heraus bekam. Sie begann in ihrer Panik, an ihrer Hand zu ziehen und zu zerren, dadurch schwoll die Hand immer stärker an, sodass sie ihre Hand ohne fremde Hilfe, nicht mehr freibekommen konnte. Nicht gleich bekamen wir mit, in welche lebensgefährliche Lage unsere Kameradin gekommen war. Irgendwann allerdings wunderte ich mich, dass Kari nicht mehr auftauchte und begriff sofort, dass etwas geschehen sein musste.

Kari war noch nie eine besonders gute Taucherin und von daher, schon viel zu lange unter Wasser. Also tauchte ich noch einmal nach unten, um nachzusehen, wo Kari blieb. Entsetzt blickte mich meine Freundin an und versuchte, wie verrückt ihrer Hand zu befreien. Da ihr langsam die Luft knapp wurde. Panik stand in ihrem Gesicht. Ich schwamm zu ihr hin und gab ihr mit einem Kopfschütteln und Zeichen zu verstehen, dass sie das nicht machen sollte. Legte meinen Mund auf den Mund von Kari und blies ihr meine verbleibende Luft in den Mund. Auf diese Weise musste Kari nicht ersticken. Sofort schwamm ich nach oben und schnappte nach Luft.

„Conny, Kari klemmt fest, bringe ihr Luft“, rief ich atemlos dem Freund zu und holte erst einmal tief Luft. Zum Glück, hatten wir solche Tauchunfälle, während des Trainings geübt. Versuchte erst einmal wieder Luft zu bekommen. Pille der gehört hatte, was ich Conny zurief, holte ebenfalls Luft und tauchte Conny hinterher. Dieser kleine Augenblick genügte damit ich wieder zu Luft kommen zu lassen. „Alle tauchen abwechselnd zu Kati hinunter. Bildet eine Kette. Wenn einer auftaucht, geht der nächste nach unten. Wir müssen die Hand frei bekommen. Sorgt dafür das Kari nicht erstickt“, befahl ich meinen Kameraden. Ich musste erst einmal überlegen, wie wir Kari freibekommen konnten, ohne dass es hinterher Ärger gab.

Conny, der gerade wieder auftaucht, schickte Rudi nach unten. „Conny, du kümmerst dich darum, dass Kari nicht mehr an der Hand zerrt. Sonst bekommen wir sie nie los. Vor allem sorge dafür, dass sie viel Luft bekommt. Ich lasse mir etwas einfallen. Versuche sie zu beruhigen“, erklärte ich Conny, der nickte mir kurz zu und war schon wieder abtaucht.

Sam tauchte ebenfalls ab, dann Conny, dann Jule, dann Pepe, dann Pet. Nach einander kamen alle wieder hoch und holten Luft. Immer wieder tauchten sie nach unten, um der gefangen Freundin Luft zu bringen. Ich legte meinen Rucksack wieder aufs Floß und schwamm im hohen Tempo, auf das Motorboot zu.

Petrow war etwa hundert Meter von uns Kindern entfernt und stand, mit einem Fernglas Ausschau halten im Boot. Der Oberst hatte noch gar nicht mitbekommen, dass da ein Unglück geschehen war. Er stand im Boot und sah den vier Schwimmern hinterher, die sichtbare Probleme hatte. Er achtete gar nicht darauf, was beim Floß los war, weil er wusste, dass ich mich um die andern kümmern würde. Dass es Schwierigkeiten gab, überraschte ihn voll und ganz.

„Genosse Oberst, wir haben am Floß, arge Problem. Hätten sie eventuell ein Brecheisen dabei“, bat ich um das, was ich brauchte und um Petrows Hilfe.

„Ja klar, einen Moment. Charly was ist denn passiert?“, erkundigte sich Petrow nervös und richtete seine Aufmerksamkeit aufs Floß.

Erst jetzt sah er, dass immer wieder Schwimmer verschwanden und kurz danach nach Atem ringenden wieder auftauchten. Er konnte sich denken was da passiert war. Genau davor hatte er Radujew gestern Abend gewarnt.

„Genosse Oberst, Kari ist abgerutscht und steckt mit der Hand im Floß fest. Lange können wir sie nicht mehr beatmen. Ich brauche etwas, mit dem ich die Stämme auseinander brechen kann, Genosse Oberst. Sonst erstickt uns Kari, Genosse Petrow“, schon hielt mir der Tauchlehrer ein Brecheisen hin.

„Soll ich mit rüber kommen, Charly“, erkundigte er sich vorsichtshalber. „oder bekommt ihr das alleine in den Griff?“

„Genosse Oberst, ich weiß nicht, wie fest die Bäume zusammen gebunden sind, kann ich sie notfalls auseinander schneiden oder bekommen wir dann Ärger“, fragend sah ich unseren Ausbilder an.

„Charly, versucht es erst so, wenn es nicht geht, gebt ihr mir ein Zeichen, dann komme ich zu euch herüber geschwommen. Keine Angst, ich verpetze euch nicht“, erklärte er, mit einem Lächeln.

Sofort schwamm ich los. In dem Moment als ich am Floß ankam, tauchte Rudi auf, der kräftigste der Gruppe.

„Rudi, hoch aufs Floß mit dir, du musst die Bäume auseinanderdrücken“, befahl ich dem gerade auftauchenden Freund und drückte ihm das Brecheisen in die Hand. Rudi stemmte sich sofort auf das Floß und kletterte hoch. Suchend sah er sich um und rief sich das Floß von unten in Erinnerung, um die beiden Baumstämme zu finden, zwischen denen Kari festhing. In der Zwischenzeit tauchten wir immer auf, holten Luft und tauchten wieder nach unter. Langsam wurde es kritisch, denn zu dem Sauerstoffmangel, kam die eisige Kälte, die uns immer mehr zu schaffen machte. Endlich entdeckte Rudi die Fingerspitze von Kari. Als ich auftauchte rief er mir zu.

„Charly, ich habe die Stelle und werde drücken, vielleicht könnt ihr von unten etwas ziehen. Egal, wenn einer von den Finger bricht, der wächst wieder zusammen“, erklärte er.

Ich nickte, als Pepe auftauchte, ordnete ich an. „Pepe, du bleibst hier. Du gibst uns Zeichen, wenn Rudi drückt. Die flache Hand heißt Stopp und die Faust, wir sollen ziehen.“

Schon holte ich mir noch einmal Luft und tauchte nach unter. Immer wieder kamen die anderen Kameraden, um Kari Luft zu bringen. Langsam jedoch wurde es immer kritischer, uns ging durch die Kälte langsam die Kraft aus. Auch mir machte die Kälte langsam richtig zu schaffen. Ich sah nach oben zum Rand des Floßes und sah eine Faust. Kräftig packte ich das Handgelenk von Kari und zog, mich mit den Füßen gegen das Floß stemmend, an Karis Arm. Die Hand saß völlig fest und rührte sich nicht einen Millimeter. Nochmals zog ich mit voller Kraft, mir ging die Luft aus. Es klappte einfach nicht. Pet die gerade nach unten kam, gefolgt von Jule, schwamm zu mir, um mir Luft zu bringen und uns so Zeit zu sparen. Jule schwamm sofort dagegen wieder zu Kari. Sam gab mir noch einmal ein Zeichen, dass er mit ziehen würde. Pepe machte wieder eine Faust, Sam und Charly zogen mit aller Gewalt, an Karis Hand, auch auf die Gefahr hin, ihr die Hand zu brechen. Wir dachten schon, dass wir es nicht schaffen würden, als die Hand aus dem Spalt rutschte und wir alle drei in die Tiefe schossen. Kaum dass Kari frei war, zog ich sie weiter am Handgelenk festhalten in Richtung Wasseroberfläche. Sam der abgerutscht war, tauchte uns beiden Mädels hinterher und fasste ebenfalls nach Karis Hand, um mir zu helfen. Kaum an der Wasseroberfläche angekommen, schnappten wir alle drei nach Luft. Rudi und Pepe griffen nach der fast bewusstlosen Kari und zogen sie auf das Floß. Sofort begannen beide Jungs, unsere völlig unterkühlte Freundin, aufzuwärmen, indem sie ihrer Arme und Beine rubbelten. Wir anderen hielten uns am Floß fest, um erst einmal wieder richtig Luft zu holen. Nach dem ich wieder einigermaßen Luft bekam, drehte ich mich zu Petrows Boot um und zeigte mit dem Daumen nach oben, sodass auch er Bescheid wusste, dass wir Kari hatten.

Während sich Rudi und Pepe, um unsere völlig fertige Freundin kümmerten, tauchten Sami und ich nochmals unter das Floß, um die restlichen Jutesäckchen, für die anderen in der Gruppe nach oben zu holen. Verteilten sie an die jeweiligen Kameraden. Auch, wenn wir am liebsten alle weinen würden, wir konnten uns keine langen Pausen mehr leisten. Wir mussten schnellst möglich aus den kalten Wasser heraus. Die Rettungsaktion hatte uns fast zehn Minuten gekostet, die wir zusätzlich im kalten Wasser zubringen mussten. Petrow, der froh war, dass die Kinder alleine klar gekommen waren, kam auf das Floß zugefahren.

 *

 „Charly, alles in Ordnung, bei euch?“, wollte er wissen.

„Jawohl, Genosse Oberst. Bitte, wir müssen aus dem Wasser raus, Genosse Petrow“, bat ich darum, gleich weiterschwimmen zu dürfen.

„Kinder, gebt mir eure Rucksäcke, ohne Diskussion“, befahl er in einem keinen Widerpart zulassenden Ton. „Die bekommt ihr am Ufer wieder“, lächelnd sah er die Kinder an. „Kari, kannst du noch schwimmen?“

Kari nickte, sie hatte sich von ihrem Schrecken soweit erholt, dass sie wieder normal atmen konnte. „Jawohl, Genosse Oberst“, antwortete sie erleichtert und am ganzem Körper zitternd. Nicht nur wegen der Kälte, sondern auch wegen des Schrecks.

„Dann los, deine Hand sehe ich mir am Ufer an. Die Rucksäcke lasst ihr auf dem Floß“

Sofort gingen wir wieder ins Wasser und waren froh, die Rucksäcke nicht auch noch mitnehmen zu müssen. Wir alle waren nach den zehnminütigen Kampf, um Karis Leben, völlig geschafft und am Ende unserer Kräfte.

Petrow machte das Floß am Boot fest, da er das Floß sowieso zum Ufer ziehen musste, zog er es mit den Rucksäcken hinter sich her. So sparte er sich das umladen, was nicht ganz ungefährlich gewesen wäre. Vor allem hatten wir aber nicht noch das schwere Gepäck beim Schwimmen dabei. Der Oberst war erleichtert, dass das alles noch einmal so gut ausgegangen war. Zeitgleich mit uns Kindern, kam er am Ufer an. Wir zogen zusammen, das schwere Floß an Land und einige liefen als erstes an das Feuer, um sich aufzuwärmen

„Die nassen Sachen ausziehen und die trockenen Sachen anziehen. Sofort“, befahl ich sehr ungehalten.

Wie immer war ich die Einzige, die noch normal denken konnte und die Lage in den Griff hatte. Das war einer der Gründe, warum mich meine Freunde immer wieder zur Zugführerin gewählt hatten. Bei mir würde der Schock erst heute Abend kommen, dann wenn ich zur Ruhe kam. Ich trieb meine völlig geschafften Kameraden an, sich auszuziehen und die trockenen Sachen anzuziehen, vor allem aber Schuhe, denn es war arschkalt geworden. Kaum waren wir angezogen, stellten wir uns soweit es ging an das Feuer, um wenigstens etwas warm zu werden. Als ich an alle Tee verteilen wollte und die beiden Wodka Flaschen aus dem Rucksack holte, schüttelte der Oberst den Kopf.

„Charly, gönne dir jetzt auch einmal eine kleine Pause. Ich mache das. Du hast genug getan für heute“, dankbar sah ich unseren liebsten Lehrer an.

Petrow war immer so zu uns, bei ihm das war keine Ausnahme, sondern die Regel, dass er im Rahmen seiner Möglichkeiten, nett zu uns war. Dafür war ich ihm sehr dankbar. Er war einer der Ruhepole in unserer Schule, genau wie Doktor Konrad und Kapitan Titow, was nach den deutschen Rängen, in etwas dem des Hauptmanns entsprach.

Tief holte ich Luft und sah den Oberst erleichtert an. Auch ich war am Ende meiner Kräfte und konnte nicht mehr. Am liebsten würde ich weinen, aber dazu hatten wir keine Zeit. Vor allem durfte ich meinen Freunden nicht zeigen, dass ich vor Sorgen fast umgekommen war. Wenn ich ehrlich war, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass wir Kari retten konnten. Mein Herz schlug bis hoch in den Hals und raste wie verrückt. Meine Hände zitterten so, dass ich den Becher, mit Tee kaum halten konnte. Und das nicht, weil mir so kalt war, sondern weil mir gerade kotzübel wurde.

Petrow der sah, dass wir Kinder uns kaum noch auf den Füßen halten konnten, übernahm das Verteilen des Tees und gab in jeden Tee einen ordentlichen Schluck Wodka. Sodass uns endlich wieder etwas wärmer wurden. Langsam wurden aus den fast lilafarbenen, wieder blasse fast normale Gesichter und Hände. Ganze zehn Minuten Ruhe gönnten wir unserer Gruppe. Kaum hatten wir uns alle etwas erholt, mahnte ich zum Aufbruch.

„Genosse Oberst, vielen danke“, wandte ich mich an unseren Ausbilder.

Ich wusste nur zu genau, dass wenn das herauskam sollte, bekäme Petrow tüchtigen Ärger. Radujew kannte da keine Gnade und würde unseren Lehrer ordentlich zur Rechenschaft ziehen. Der Oberst hatte schon einige böse Auseinandersetzungen, wegen uns deutschen Kindern bekommen.

„Hoffentlich bekommen sie keinen Ärger, wegen uns, Genosse Petrow“, erklärte ich deshalb.

Der Oberst winkte ab und zog mich kurz in seinen Arm. "Danke Charly", flüsterte er mir ins Ohr.

Ich glaube ihm war nur wichtig, dass uns Kindern nichts geschehen war. Vor allem war er uns mehr als dankbar dafür, dass wir ihn nicht gezwungen hatten, nochmals in das eisige Wasser zu springen. Schon heute früh, musste er unter dem Floß die Beutel anbringen und das war heftig. Er wusste also nur zu genau, wie wir Kinder uns fühlten.

„Kommt hoch Leute, wir müssen los. Beim Laufen wird euch schneller warm. Kati, du läufst als erste los“, befahl sie ihrer Freundin. „Bitte markiere den Weg, wir können alle nicht mehr“, flüsterte sie der Freundin ins Ohr.

Kati lächelte mich kurz an und nickte kaum merklich zu und lief sofort los. In einem Abstand von sieben Minuten, wurden alle auf den Weg geschickt, sodass zum Schluss nur noch ich das wärmende Feuer verlassen musste. Erleichtert nickte ich Oberst Petrow noch einmal zu und lief meinen Kameraden hinterher. Die restlichen zwanzig Kilometer, hatten wir bald hinter uns gebracht und wurden auf dem Exerzierplatz von den Betreuern in Empfang genommen.

Jeder gab sein Jutesäcken ab. Die Zeiten wurden notiert und wir stellten uns auf unseren Platz vor den Fahnenmast. Als letzte kam ich angelaufen. Kaum hatte ich das Ziel erreicht und mein Jutesäcken abgeben, kam auch schon Radujew anmarschiert. Es waren knappe zehn Stunden vergangen.

 *

 „Wie kann man für nicht einmal hundert Kilometer, zehn Stunden brauchen? Was habt ihr faule Bagage, denn unterwegs getrieben? Charly, kannst du mir das erklären“, brüllte er als erstes mich, als Zugführerin, an.

„Genosse Oberst, wir haben unser Bestes gegeben“, sprach ich einfach. Es war egal, was ich sagen würde, nichts würde diesen Menschen heute zufriedenstellen. Schon bei der Ankunft des Obersts, auf dem Exerzierplatz, sahen alle, dass dieser angetrunken war. Auch, war er wütend, dass er heute hier noch einmal in der Schule erscheinen musste. Viel lieber wäre er bei der Feier geblieben. Da er dort wieder hinwollte, entließ er die Kinder ohne weitere Kommentare. Nicht nur wir Schüler, sondern auch die Lehrer atmeten auf.

„Die Auswertung des Testlaufs, werde ich morgen vornehmen. Abtreten“, donnerte Oberst Radujew.

Ich war mehr als nur froh, so glimpflich davon zu kommen und gab das Kommando zum Abmarsch. „Links kehrt und im Gleichschritt marsch“, befahl ich meiner Truppe und wir Kinder gingen in unseren Raum. Keine Minute später stand Doktor Konrad, der von Petrow informiert wurde, im Raum und untersuchte uns alle, auf eventuelle gesundheitliche Schäden. Zum Glück waren wir zwar alle unterkühlt, aber außer das Kari einen ausgerenkten Finger hatte, waren wir alle bei einigermaßen Gesundheit.

Alle würden morgen wahrscheinlich eine tüchtige Erkältung haben und krank sein, doch das hatte sich der Oberst selber zuzuschreiben. Mit den Betreuern wurde abgesprochen, den Kindern einige Tage Ruhe zu gönnen, nach dieser Strapaze. Man würde die Temperaturen etwas höher in die Krankenblätter einschreiben. Doktor Konrad befahl uns Kindern, dass wir unsere Trainingsanzüge an ziehen sollten. Da Radujew schon wieder nach unten ins Dorf verschwunden war, konnte uns der Schularzt, in die Sauna schicken. Endlich war es möglich, dass wir uns erst einmal richtig aufwärmen und vor allem durchwärmen konnten.

Pavel würde dafür sorgen, dass Radujew, heute nicht mehr hier erscheinen würde. Pavels Bruder, war der Schwager von dem Radujew. Der würde Radujew so abfüllen, dass dieser im Dorf seinen Rausch ausschlafen musste und würde gleich morgen früh weiter mit ihm trinken.

Dadurch konnten sich die Lehrer, wie auch wir Kinder uns richtig erholen. Vor allem würden durch die Sauna, die Auswirkungen der Unterkühlung nicht so schlimm werden. Dankbar sahen wir unseren Doktor an und marschierten in die Sauna. Wir genossen diesen seltenen Luxus, uns richtig aufwärmen zu können, von ganzem Herzen. Es zeigte uns, dass es auch für uns Menschen gab, die gut zu uns waren und ihren Job für uns riskierten.

Nur durch den Zusammenhalt der Kinder und das menschliche Verhalten der Betreuer war es möglich, dass wir Kinder diesen Test, ohne Tode überstanden haben.

 *

Eins hatte sich wieder einmal bestätigt. Dass es auch unter den Russen, Rumänen und Deutschen, auch Erwachsene mit Herz gab. Die uns ein wenig wie Menschen behandelten. Dafür war ich diesen Leuten sehr dankbar. Genau das war der Punkt, warum es mir nicht möglich war, die Bewohner dieser Länder im Allgemeinen nicht zu mögen, denn selbst auf unserer Schule gab es Menschen mit Herz. Glaubt mir eins, das war etwas Seltenes, dass wir in unserer Kindheit kennen lernen durften.

***

 

Impressum

Texte: (c) Text, Figuren, Bilder und Cover liegen bei der Autorin Katja Neumann – 2015
Bildmaterialien: (c) Text, Figuren, Bilder und Cover liegen bei der Autorin Katja Neumann – 2015
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle die keine schöne Vergangenheit hatten und alle diejenigen die immer noch im Glauben sind, dass alle Kinder spielen, lachen, weinen und singen dürfen, wann immer sie wollen. Vor allem aber an diejenigen, die gern lesen und keine Angst vor tiefgehenden Gefühlen haben.

Nächste Seite
Seite 1 /