Cover

Copyright

Teil 1 ... Die Hundert

Teil 2 ... Team 98

...Teil 3 ... Die letzten der Hundert...

Teil 4 ... Horror fürs Team

Teil 5 ... Kahlyns Neubeginn

Teil 6 ... Kahlyns Wut

 

Der Roman, einschließlich aller seiner Teile, sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung Autorin unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Die Personen und Handlungen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

Impressum: 1. Auflage 2012

Mail: feenwinter@freenet.de

© Cover-Gestaltung: Katja Neumann

© Grafiken: Katja Neumann

Lektorat: Katja Neumann

Layout, Design: Katja Neumann

Letzte Überarbeitung(16.) 05. Juni 2017

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Infos zum Buch...

Kahlyn ist ein Mädchen, zu breit für ihre Größe, bei 166 Zentimetern und 80 Kilo, ist man alles, aber nicht schlank. Kahlyn sieht anders aus als normale Menschen und stößt deshalb immer auf Abwehr. Zu jung für eine Polizistin, dann noch so ein Sonnenbrillentyp, den keiner mag. Aber sie täuscht ihre Kollegen und ihre Gegner nicht lange. Zieht sie sich zum Training oder zum Kampf aus, begreift man seinen Irrtum schnell. Kahlyn besteht nur aus Muskulatur, gepaart mit einem unwahrscheinlich großem Herzen und einem unwahrscheinlichen Wissen, den Kampf betreffend. Von ihr können erfahrene Kämpfer noch etwas lernen und wenn es Anstand und Menschenliebe ist.

Einerseits kindlich ist, denn sie ist erst sechzehn Jahre alt, auf der Anderen Seite hat sie einen scharfen Verstand und ein unwahrscheinliches Talent die richtige Taktik, zum richtigen Zeitpunkt anzuwenden. Das wichtigste für Kahlyn ist es, dass ihre Freunde, aber auch ihre Gegner wenn möglich nicht verletzt werden.

Kraft braucht Kahlyn, ohne sie könnte sie ihre Fähigkeiten gar nicht einsetzen. Ihre Intelligenz, Auffassungsgabe und die Fähigkeit sich in Verbrecher hineinzuversetzen zeichnet sie aus und hebt sie immer aus der Masse der Kämpfer hervor, obwohl sie es wie die Pest hasst, im Mittelpunkt zu stehen.

Kahlyn ist allerdings nicht nur eine ausgezeichnete Kämpferin. Sie ist auch eine Ärztin, die fast alles retten und richten kann. Die sich allerdings oft selbst zu wenig beachtet und ihr eigenes Wohl immer an allerletzte Stelle stellt. Sie denkt stets erst andere denkt und dann an sich. Die trotz alle weiß, dass sie nicht alles kann und nicht alles weiß.

Stellt man Kahlyn mitten ins normale Leben, bricht sie plötzlich zusammen. Unbekannte Gefühle und Emotionen erwarten unsere, im zivilen Leben, völlig unerfahrene und total überforderte Kämpferin. Sie kommt mit den für uns alltäglichen Situationen so wie ihre Kameraden aus der Schule, des "Projektes Dalinow" überhaupt nicht klar. Jede für uns normale Begebenheit, bringt sie an den Rand der seelischen Verwirrtheit und an die Grenze des Ertragbaren.

Sie spricht die gleiche Sprache wie wir, trotzdem versteht sie uns nicht. Kahlyn, die sonst so tapfere und erfahren Kämpferin, die in ihrem Leben viele schlimme Dinge erlebt und überlebt hat, ist mit dem Alltag in der normalen Welt völlig überfordert.

Sie muss wie ihre Kameraden, mit denen sie bis vor zum Beginn der Geschichte sehr eng zusammenlebte, wie ein Baby erst das Laufen lernen. Schritt für Schritt ertastet sie sich diese neue Welt.

Kontakt mit den normalen Alltagssituationen, lösen alte schlimme Erinnerungen aus und treiben unsere tapfere Kämpferin immer mehr in den Wahnsinn. Und bringen nicht nur Kahlyn sondern auch ihre Kollegen der Grenze des Ertragbaren immer näher.

Geschwächt vom monatelangen Kampf, halb krank und getrennt von ihren Freunden mit denen sie ein Leben lang zusammen war, kommt sie auf eine neue Dienststelle. Sie hat das erste Mal in ihrem Leben, Ruhe und Friede. Bekommt Kontakt zu anderen, ihr wohl gesinnten, allerdings unbekannten Menschen und muss das erste Mal in ihrem Leben nicht ständig kämpfen.

 

Was das für sie bedeutet, könnt ihr in dieser Geschichte nachlesen. Also viel Spaß ich hoffe es gefällt euch…

 

Viel Spaß beim Lesen Eure Katja Neumann

Erinnert euch ...

 

Nach dem Start des "Projektes Dalinow", erfahren die Mitarbeiter, dass sie unter völlig falschen Informationen in dieses Projekt gelockt wurden. Lug und Trug nutzte die Leitung des Projektes um die Besten der Besten in dieses menschenunwürdige Projekt zu locken. Schnell begreifen die Mitarbeiter des "Projektes Dalinow", dass sie gekauft wurden, durch Luxus und überdurchschnittliche Bezahlung. Als sie ihren Fehler erkannten, war es allerdings zu spät für einen Ausstieg.

Die versprochenen "Hundert" Soldaten, die sie betreuen und untersuchen sollten, mussten erst geboren und groß gezogen werden. Viele der Mitarbeiter verloren ihr Herz an diese sonderbaren und immer freundlichen Kinder, die in der nahen Zukunft, den perfekten Soldaten verkörpern sollten. Das Experiment des Militärs, die Züchtung eines unschlagbaren Kämpfers scheint gelungen, wenn da nicht diese Teamleiterin des "Teams 98" wäre und alle Bemühungen der Wissenschaftler zerstörte.

Kahlyn, die im "Team 98" das Sagen und die Befehlsgewalt hat, ist immer an der vordersten Front zu finden und verlangt von ihren Kameraden, dass diese bestimmte Normen stets einhielten.

Das passt dem ewig betrunkenen Oberstleutnant Mayer, dem Projektleiter nicht und bringt ihn dazu sich die schlimmsten Foltermethoden auszudenken, die man sich vorstellen kann. Der Hass der "Hundert", wie man die genetisch veränderten Soldaten nennt, wird immer größer und ihr Vertrauen zu normalen Menschen schwindet mit jeder Folter mehr.

Es gibt nur sehr wenige Menschen denen die "Hundert" ein wenig vertrauen, dazu gehören Doko Jacob, Dika Anna, Oberst Fleischer, Pille, Gosch, Conny und einigen Leuten aus dem Projekt. Niemals geben die "Hundert" alles von sich preis, denn viel zu oft wurden sie enttäuscht und ausgenutzt.

Viele schlimme Situationen haben die Kinder in den letzten sechszehn Jahren überlebt. Sie wurden gefoltert, ermordet und lernten die schlimmsten Abgründe der Menschheit kennen. Nur wenige schöne Erlebnisse, wie die Begegnung, mit den Mönchen der Mitte oder den Kämpfern der Soko Tiranus, haben die Kinder erleben dürfen.

Von den Anfangs "Hundert" Kindern, sind nach sechszehneinhalb Jahren nur noch neun übrig. Selbst nach dieser langen Zeit, haben sie noch keinerlei Rechte. Sie werden ohne ihre Einwilligung einfach auf neun verschiedene Dienststellen verteilt. Keiner bedenkt den Schaden, an der noch immer kindlichen Seele, dieser schwergeprüften Kämpfer. Immer wieder werden nur die Bedürfnisse der Anderen im Augen behalten. Nach den Bedürfnissen der "Hundert" wird niemals gefragt.

Entmündigt wie diese Kinder sind, glauben sie nicht mehr daran, dass es auch für sie Gerechtigkeit und ein Leben im Frieden und ohne Folter geben kann. Sie haben einfach aufgegeben.

Auch Kahlyn, die Kleinste im Team, diejenige die durch ihre geringe Größe immer herausgezogen wurde, resigniert am Ende ihrer Schulausbildung vollkommen und ergibt sich ihrem Schicksal nur noch hin, ohne dagegen anzukämpfen.

Kapitel 1

Wir schrieben heute den 31. August 1975, unseren letzten Schultag. Es war der heißeste Sommer den wir seit langem erlebt hatten. Immerhin war wir jetzt schon ungefähr sechszehn Jahre alt und konnte uns noch an jeden Tag in unserem Leben erinnern. Gestern zeigte das Thermometer 42°C im Schatten an. Selbst uns lief, bei diesen Temperaturen, der Schweiß in Strömen den Rücken hinunter, während wir auf den Einsatzbefehl warteten. Wir befanden uns im Moment, auf dem Rückflug von Chelm, zu unserer Basis, die sich im "Projekt Dalinow" befand und unserer Schule. Zum Glück, waren die Temperaturen in unserer Antonow An-2TP, zum Aushalten, dafür hatten die Piloten gesorgt. Aber das war das einzig angenehme im Moment.

Wir waren ausgehungert, durstig, verschwitzt, blutig und sahen aus, wie wir uns fühlten. So als wenn wir uns acht Wochen lang nicht gewaschen hätten. Wir stanken wie eine ganze Herde Skunks, was wir diesmal zu Recht zuhören bekamen. Unsere Gesichter waren mit Blut und Dreck verschmiert und unsere Wunden bluteten still und leise vor sich hin. Nicht einmal die Gelegenheit zum Duschen hatten wir nach dem Kampf bekommen. Kaum dass ich den Einsatz an den Verantwortlichen abgegeben hatte, hieß es rauf auf den LKW und ab zum Flugplatz, weil wir keine Zeit mehr hatten.

Verbinden durften wir uns sowieso immer erst, wenn wir vom Rapport zurück kamen. Dabei spielte es keine Rolle, wie schwer wir verletzt waren. Wir waren entbehrlich. Es war wie immer, man fragte einfach nicht, ob wir auch Bedürfnisse hatten. Wir waren nur Marionetten in einem strategischen Spiel und wurden nach Belieben, hin und her geschoben. Ohne Rücksicht auf Verluste, die wir dabei erlitten und es wurde nie danach gefragt, was wir davon hielten oder gar, was wir eigentlich wollten. Immer hieß es nur, ihr schafft das schon, habt euch nicht so zimperlich.

Soeben hatten wir einen langen, fast fünf Tage dauernden Einsatz in der VR Polen, hinter uns gebracht. Chelm eine Stadt in der Woiwodschaft Lublin, lag etwa vierzig Kilometer Luftlinie östlich der Stadt Lublin, unweit der Grenze zur Ukraine.

Wir waren müde und jeder einzelne Knochen tat uns weh. Wir wollten nur eins, endlich einmal tief und behütet schlafen. Ohne die Angst, von unbekannten Geräuschen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Vor neun Tagen hatten wir das letzte Mal ein Bett gesehen und richtig schlafen können und vor sechs Tagen das letze Mal geduscht, etwas gegessen und getrunken. Wir waren liefen alle am Limit und brauchten mehr als nötig den Schlaf, etwas Ruhe, Wasser und ein wenig Nahrung.

 

Müde und mit völlig verspannter Muskulatur, versuchte ich wieder einmal vergeblich eine Stellung zu finden, in der ich schlafen konnte. Das lag allerdings nicht an der Bequemlichkeit Sitzen, dass ich keinen Schlaf fand, sondern nur an mir selbst. Warum ich keinen Schlaf fand, war einfach zu erklären. Meine Gedanken kreisten unaufhörlich, nur um ein und dasselbe Thema: Was würde ab morgen werden?

Wir mussten, sobald wir in der Schule ankamen, unseren Dienst in einer neuen Dienstelle antreten, da unsere Ausbildung abgeschlossen war. Ich hoffte so sehr, dass wir wenigstens so viel Zeit bekamen, um in Ruhe zu duschen und etwas zu Essen. Allerdings, wie ich unseren Vorgesetzten, Oberstleutnant Mayer kannte, würde das letztere wohl wieder einmal ausfallen. Es würde wie immer sein und heißen, "Macht hin wir haben keine Zeit. Beeilt euch ihr Drecksäcke. Denkt an den Zeitplan. Beeilung ich Faultiere, Hauptsache ihr seht wieder einigermaßen aus sauber aus, ihr abscheulichen Kreaturen. Alles andere ist egal", wie ich das alles hasste.

Warum gingen eigentlich immer nur mir, solche Gedanken durch den Kopf? Die anderen nahmen es immer alle wie es kam. Nur ich konnte bestimmte Dinge einfach nicht akzeptieren. Ich konnte mich in all den Jahren immer noch nicht damit abfinden, wie der letzte Dreck behandelt zu werden. Wieder fingen sich meine Gedanken an, sich wie ein Karussell, um morgen zu drehen.  

Klar ich war schon öfters von meinen Kameraden getrennt, aber ich wusste stets, dass ich zu ihnen zurückkehren konnte. Meine Freunde allerdings, waren immer zusammen und kannten keine Trennung vom Team, für sie würde es die Härte werden. Für uns würde es ab dem heutigen Tag, kein UNS mehr geben. Ab dem 1. September, also ab morgen würde es eine Trennung für die Ewigkeit sein. Mir war schlecht vor Angst und mit jedem Kilometer, dem wir näher an unsere Schule heranflogen, wurde mir schlechter.

Ich würde für mich bestimmt einen Weg finden, auch mit dieser neuen Situation klar zu kommen. Bis jetzt war mir das immer gelungen und ich musste in meinem Leben schon viele schlimme Situationen durchleben. Aber mir wurde angst und bange bei dem Gedanken, was das für meine Freunde bedeutete. Zu viele waren in den letzten sechszehn Jahren gestorben und ermordet wurden, und vor allem in den letzten Jahren schlafen gegangen, weil sie nicht mehr leben wollten. Zu viele von meinen Freunden hatte ich nicht retten können, die jetzt unter unserem Baum ihre letzte Ruhe gefunden hatten.

Meine noch lebenden Freunde waren ab morgen mit all ihren Ängsten und Problemen alleine und es war niemand mehr da, der ihnen Mut machen konnte oder ihnen Auswege aufzeigte. Wir benötigten Vertrauen, um über unsere Sorgen und Ängste sprechen zu können. Vertrauen allerdings wurde nicht innerhalb wenigen Augenblicken aufgebaut, es musste langsam wachsen. Wir waren fremden Menschen gegenüber viel zu misstrauisch, um sie sofort nah an uns heranzulassen. Vertrauen benötigte sehr viel Zeit, um zu wachsen und diese Zeit hatten wir nicht.

Die Menschen, die wir in der Schule unsere Freunde nannten und denen wir einigermaßen vertrauten, hatten uns in den letzten Wochen immer wieder erklärt, dass wir unseren neuen Teams bedingungslos vertrauen könnten. Beim Aussuchen der Teams, hätte man sich sehr viel Mühe gegeben. Aber es blieben für uns völlig fremde Menschen, die wir noch nie in unserem Leben gesehen hatten. Wenn wir unseren Freunden vertrauen würden, könnten wir auch den neuen Teams vertrauen, sagten sie. Die uns nahe stehenden Menschen im "Projekt Dalinow" verstanden unsere Ängste einfach nicht. Sie hatten nie eine Möglichkeit gefunden, unsere enge Verbundenheit begreifen, da sie selber solch eine innige Verbindung nicht kannten.

Für mich war das Schlimmste am morgigen Tag, dass ich ab diesem Zeitpunkt meine Freunde nicht mehr beschützen und vor allem nicht mehr auf sie aufpassen konnte. Nie wieder konnte ich sie medizinisch versorgen, wenn sie verletzt oder krank waren. Wer, wenn nicht ich, würde dafür sorgen tragen, dass sie genug schliefen und etwas zu essen bekämen. Den Anderen war es schon immer völlig einerlei, wie es uns ging. Außer den wenigen Menschen im "Projekt Dalinow", die sich unsere Freunde nannten, und die nicht nur einmal ihr Leben und ihre Gesundheit für uns riskiert hatten, interessierte sich niemand für unser Befinden.

Den Menschen konnten wir nicht trauen, zu oft hatten sie uns enttäuscht und verraten. Zuviel Leid hatte uns unser Vertrauen eingebracht und wir blieben deshalb vorsichtig. Eine lähmende Angst stieg in mir hoch. Alle Vorbereitungen und Bemühungen der Jacobs, uns auf den morgigen Tag gut vorzubereiten, hatten nicht geholfen, mir diese wahnsinnige Angst zu nehmen. Ich hatte keine Angst um mich, sondern um meine Kameraden, für die ich all die Jahre gekämpft und durch viele Höllen gegangen war.

Dika und Doko, wie wir Schwester Anna und unseren Schularzt nannten, wussten nichts von diesen unseren Ängsten. Nie hatten wir uns Menschen gegenüber völlig geöffnet. Vor allem so weit geöffnet, dass sie in der Lage waren, uns gänzlich zu verstehen. Nie hatten wir volles Vertrauen, nicht mal zu den Menschen, die sich unsere Freunde nannten und die von uns dachten, dass wir es wären. Zwischen den Menschen und uns, stand eine unsichtbare und nicht überwindbare Barriere. Zu oft wurden wir enttäuscht und hintergangen. Wir trauten nur uns, den "Hundert", vollständig. Unter uns gab es keine Lügen und nur ganz selten Verrat. Bei den Menschen, wusste ich das nie.

Unserer Verbindung, die heute noch getrennt werden sollte, war etwas Unbeschreibliches und wunderschönes. Sie war einzigartig auf der Welt und durch nichts zu ersetzen. Konnten wir wirklich lernen ohne diese, für uns so wichtige Verbindung zu leben. Ich war mir da nicht sicher und ich konnte es mir ehrlich gesagt, auch nicht vorstellen. Denn diese Verbindung bestand schon vor unserer Geburt. Wir waren schon innerhalb der Inkubatoren, miteinander verflochten. Was nur sollte jetzt aus uns werden? Immer wieder kam diese Frage in mir hoch und ließ mich einfach nicht zur Ruhe kommen. Vor allem raubte sie mir den dringend benötigten Schlaf, den ich zur Erholung brauchte.

Konnte ich ohne meine Freunde klar kommen und vor allem sie ohne mich? Würden wir uns jemals wieder sehen? Noch viele andere Fragen schwirrten mir durch den Kopf, wie ein Bienenschwarm, den man aufgescheucht hatte. Ich konnte es nichts dagegen tun. Ich kam mir vor wie in einem Hamsterrad, welches sich drehte und drehte und drehte …

 

Am liebsten würde ich für immer in meiner Schule bleiben, vor allem bei meinen Freunden, mit denen ich groß geworden war. Mit ihnen konnte ich ohne Worte, siegreich kämpfen und leben, und musste mich niemals erklären. Seit über sechszehn Jahren waren wir tagtäglich zusammen und wussten ohne darüber zu sprechen, was der andere dachte oder fühlte.  

Gefühle die man keinem zeigen durfte, waren trotzdem vorhanden und wir hatten außer unserer Verbindung, keinerlei Möglichkeiten Gefühle zu zeigen. Meine Freunde kamen noch weniger aus sich heraus als ich. Ich war das, was man eine Temperamentsschleuder nannte, so nannte mich unser Doko oft aus Spaß. Nach außen, wurden wir immer als gefühllos beschrieben, was wir allerdings nicht waren.

Untereinander wussten wir genau, was in uns vorging und wir zeigten uns unsere Gefühle auch. Wir lachten uns in bestimmten Situationen halb tot oder weinten weil wir traurig waren und wir spürten die Verzweiflung unserer Freunde. Nur sahen es die Anderen, wie wir normale Menschen nannten, nicht. Ich fragte mich seit einem Jahr, solange wussten wir jetzt, dass wir getrennt werden sollten, wie das mit unseren neuen Kollegen funktionieren sollten. Mir wurde immer banger zumute und ich bemerkte, wie ich mich wieder einmal in meine verfluchte Angst hineinsteigerte. Die Menschen aus unserem näheren Umfeld, hatten mit den Jahren zwar gelernt, zu sehen wie wir uns fühlten, aber das hatte Jahre gedauert und geschah meistens nur in Extremsituationen. Ein Lächeln oder ein wenig Traurigkeit oder Verzweiflung nahmen sie gar nicht wahr. Wie verdammt nochmal, sollte das mit den neuen Kollegen funktionieren? Ich wusste und konnte es nicht einzuschätzen. Genau das machte mir halt so furchtbare Angst. Ich war es gewohnt über jede Situation den Überblick zu behalten, denn ich war seit fünfzehn Jahren Teamleiter und für meine Leute verantwortlich. In all den Jahren hatte ich diese Verantwortung nie abgegeben. Es ärgerte mich ungemein, dass sich nie jemand die Mühe gemacht hatte uns zu fragen, was wir wollten und wie wir uns unser Leben nach der abgeschlossenen Ausbildung vorgestellt hatten. Wir hätten bestimmt eine Möglichkeit gefunden, die für alle akzeptabel gewesen wäre. Aber ich hatte in den letzten Jahren begreifen müssen, dass meine Kameraden und ich, keinerlei Rechte besaßen. Jedes Tier auf der Welt, besaß mehr Rechte als wir. Wir waren nur das Eigentum des Militärs und würden es bis zu unserem Tod bleiben. Also mussten wir wieder einmal, alleine mit unseren Problemen klar kommen, egal was geschehene würde. Weil es niemanden interessierte, was wir wollten und es für uns nur eine Pflicht gab, Befehlen zu gehorchen und sie hundertprozentig zu erfüllen. Wir hatten aufgegeben uns gegen das unvermeidliche zu wehren, wir hatten vor einem Jahr begriffen, dass wir dieses Leben akzeptieren mussten, ob wir wollten oder nicht.

Ein zweites großes Problem, sah ich auf uns alle zukommen, wir sprachen nicht viel. Untereinander brauchten wir keine laut gesprochenen Worte, um uns zu verständigen. Oft hatte man uns als die Stille-Brigade bezeichnet, weil wir nie sprachen. Aber keiner wusste oder besser begriff, dass wir uns auf unsere Weise unterhielten. Obwohl wir im letzten Jahr oft versucht hatten es den Anderen zu erklären. Vielleicht ahnten Schwester Anna, Dr. Jacob oder der Oberst Fleischer, dass wir andere Möglichkeiten der Kommunikation untereinander hatten, aber sicher waren wir uns da nicht. Die einigsten Menschen in der Schule und unserem Umfeld, die uns immer gut gesinnt waren. Aber Fremde wussten und ahnten davon nicht einmal etwas.

Was sollten wir machen? Wir durften uns nicht gegen unsere Vorgesetzten wehren, denn taten wir das, bezahlten wir diese Entscheidung mit unseren Leben. Das hatte man uns oft genug bewiesen. Auch, wenn wir alle einer Meinung waren, dass wir in der Schule bleiben wollten, mussten wir einem gegebenen Befehlen gehorchen. Dder Befehl der Versetzung in eine andere Einheit, gefährdete keinem Unbeteiligten und konnte daher nicht verweigert werden. Daher waren diese Befehle bindend, man konnte und durfte sich darüber nicht hinweg setzen.

Also blieb mir nur eins übrig, die mir verbleibende Zeit im Transporter zu nutzen, um ein wenig schlafen. Noch konnte ich es. Denn ich wusste, die anderen waren wachsam. Dann, wenn wir in der Schule ankamen, ging es ab unter die Dusche, dann ab zur neuen Dienstelle. Wie immer ohne Pause und ohne Erholung.

 

Ich rollte mich so gut es ging auf meinen Platz zusammen und presste den Rücken gegen die Wand. Drückte die Hand, auf die immer noch blutende Wunde, die ich später noch versorgen musste. Im Moment war ich einfach zu müde und zu kaputt, um mich selber noch zu versorgen. Vier schwere Verletzungen, bei den anderen hatte ich gerade versorgt. Keine so schlimm, dass jemand ausfiel, aber schmerzhaft genug, um als unangenehm empfunden zu werden.

Rafik hatte eine böse Schnittwunde im Bauchbereich. Er hatte Glück, nur einen halben Zentimeter mehr nach links, hätte es die Leber erwischt. Dann wäre ein stationärer Aufenthalt, nicht abwendbar gewesen. Oberstleutnant Mayer hatte ihn zur Schnecke gemacht, wie so etwas passieren konnte. Rafik, war aber auch immer vom Pech verfolgt. Ihn erwischte es fast immer.

Sina hatte einen Bruch und einen Kreuzbandriss, im linken Schultergelenk. Das würde sie ein paar Tage im Dienst etwas einschränken. Die Schulter würde ihr ein paar Tage Probleme machen, damit musste und konnte sie leben und die Schmerzen konnte sie sich wegspritzen.

Andi hatte einen Bruch am Nasenbein und Jochbein erlitten. Beides konnte ich richten, nur mit den Blutergüssen in seinem Gesicht, würde er keinen so guten Eindruck in seiner neuen Einheit machen. Dagegen war ich im Moment einfach machtlos, ich war einfach zu müde, um die Blutergüsse auch noch zu behandeln. Die konnte er mit der Hämlo-Salbe selbst behandeln und in zwei bis drei Tagen waren die von alleine verschwunden Die Nase würde wohl nicht wieder ganz gerade werden. Andi war aber auch selber schuld, wie oft hatte ich ihm schon gesagt, er sollte seine Deckung nicht immer vernachlässigen. Immer wenn jemand kleiner als er war, dachte er, sie kämen nicht an ihn ran. Dabei hatte er es immer, mit kleineren Kämpfern zu tun. Mit seinen zweihundertvier Zentimetern, war er ja nun nicht gerade ein Zwerg. Er war oft so überheblich, kein Wunder also, dass sein Nase schon achtmal gebrochen war. Langsam müsste er sich doch merken, dass ein Schlag auf die Nase weh tut.

Meine Freundin Rashida, hatte es von allen am Schlimmsten erwischt, ein glatter Lungendurchschuss. Allerdings hatten wir sie so weit hinbekommen, dass sie morgen ihren Dienst antreten konnte. Auch, wenn sie wenigstens noch drei Wochen Schondienst schieben musste. Das ließ sich nun nicht mehr ändern und die neue Dienststelle konnte und musste damit leben. Deshalb war sie trotzdem voll einsatzfähig und nur das zählte.

Ich hörte aus der Kommandokabine, Oberstleutnant Mayer brüllen, wie ein Berserker. Bekam wie alle anderen mit, wie er Rashida auf seine gemeine Art herunter putzte. Sie tat mir leid, sie war schon gestraft genug, mit der Verletzung und bekam kaum Luft. Aber dieser Unmensch musste sie noch anschreien, wie ein wild gewordener Stier. Herr Gott nochmal, es waren über vierzig Leute, die bei jeder Angriffswelle auf uns zukamen und wir waren nur noch neun todmüde Kämpfer.

Warum, fragte ich mich wohl zum millionsten Mal, waren eigentlich immer wir schuld? Nur uns traf die Schuld, wenn etwas schief ging. Die Aufklärung hätte wissen müssen, dass es ein Hinterhalt war. Aber nein, wenn etwas schief lief, lag es immer an uns. Wir hatten die Arbeit, wir hatten die Schmerzen und wir hatten die Schuld. Das nannte man ausgleichende Gerechtigkeit. Eine unsagbare Wut stieg in mir hoch. Ich versuchte sie in den Griff zu bekommen, in dem ich mich auf meine Atmung konzentrierte. So war es jedes Mal mit mir, ich kochte immer gleich über. Einfach schlimm war das mit mir. Es war überhaupt kein Wunder, dass ich nie zur Ruhe kam.

Was würde ich dafür geben, so wie Rashida zu sein. Immer ruhig und ausgeglichen, immer über den Dingen stehend. "Wir hatten uns gut geschlagen", würde meine Freundin sagen. "Schließlich haben wir überlebt." Innerlich musste ich lachen, man konnte ihr einfach nicht widersprechen. Dann würde sie mit mir schimpfen, weil ich immer wieder alles durchging. Sie würde mich böse anschauen und sagen: "Vergesse einfach die ganze negativen Sachen, das macht dich nur kaputt." Recht hatte sie ja. Das auch dieses Mal alles noch so gut ausgegangen war, hatten wir nur unserer guten Ausbildung, aber vor allem unserem engagierten Einsatz zu verdanken. Aber statt dass man nur einmal sagen würde. "Leute, das habt ihr gut gemacht, danke für euren Einsatz!" Bekamen wir immer nur so etwas zu hören.

"Wieso konnte das passieren? Seid ihr hirnlosen Kreaturen nicht mal in der Lage die einfachsten Befehle auszuführen, ohne das ihr irgendwelche Verletzungen ab bekommt?' Oder. "Ihr verdammten Scheisshaufen seid zu dumm, einen Eimer Wasser auszuschütten, lieber sauft ihr ihn aus." Dabei hätte der Oberstleutnant, keine zehn Minuten diesen Einsatz überlebt. Die blanke Wut, kochte wieder in mir hoch. Ständig wurden wir nur angemotzt, heruntergeputzt und ständig beleidigt. Wir hatten uns wahrscheinlich nichts anderes verdient.

Auch ich war gerade beim Rapport und hatte mir meinen Anschiss abgeholt. Das nur, weil ich mir bei einem der Kämpfe, gegen die Aufrührer, eine Stichwunde zu gezogen hatte. Keine Ahnung, ob ich das hätte verhindern können. Ich war einfach zu müde und zu kaputt, um normal zu reagieren und vor allen, um klar denken zu können. So wie wir die Leute ausgeschaltet haben, kamen neue. Verdammt nochmal, wir waren nur zu neun Leute, eigentlich hätte ich vier Einheiten, also vierzig Leute für den Einsatz gebraucht, um eine reale Chance zu haben. Die waren bei jeder Angriffswelle, weit über vierzig Kämpfer, vor allem waren sie immer ausgeruht. Wir dagegen konnten nie schlafen. Ich hasste den Oberstleutnant nur noch. Am liebsten würde ich einmal in die vorderste Linie bei solch einem Kampf stellen oder ihn gar umbringen. Aber er war mein Vorgesetzter, ich hatte ihn zu achten und musste gehorchen. Nur gut, dass er meine Gedanken nicht lesen konnte. Mühsam versuchte ich meine unkontrollierte Wut in den Griff zu bekommen. Im Gegensatz zu meinen Kameraden, konnte ich solche Sachen nicht so gut wegstecken. Ich war einfach zu impulsiv, ließ mich zu oft von meinen Gefühlen leiten, halt eine Temperamentsschleuder. Das hatte mir immer wieder viel Ärger eingebracht. Oberstleutnant Mayer, hatte mich schon seit vielen Jahren auf dem Kicker. Leider schaffte er es immer noch mich zu provozieren und aus der Reserve zu locken. Erst seit etwa vierzehn Jahren, hatte ich das einigermaßen in den Griff bekommen. Nur ab und zu schoss ich noch über das Ziel hinaus, wenn der Oberstleutnant es zu sehr übertrieb.

Eines Tages, wir waren noch nicht einmal ganz ein Jahr alt, nahm mich Jaan, mein bester Freund zur Seite und ließ mir die Leviten.

"Lyn, höre auf immer gleich zu brüllen, merkst du nicht, dass der dich nur provoziert. Weißt du, was du machst, wenn er dich das nächste Mal, provozieren will?"

Mit den Schultern zuckend, sah ich ihn an.

"Antworte ihm ganz leise. Ich weiß das ist schwer, aber mit deinen Ausbrüchen, schadest du nur der Gruppe. Du weißt doch, wir werden immer alle bestraft. Das ist nicht nett von dir, dass wir immer wieder, wegen dir Strafen bekommen. Der weiß genau wie er dich provozieren kann und du fällst jedes Mal wieder drauf rein."

Seit dieser Unterredung beherzigte ich, so gut es halt ging, was mir Jaan gesagt hatte. Aber nutzen tat es nicht viel. Durch mich bekam die Gruppe, trotzdem noch die meisten Strafen. Ich konnte es einfach nicht verhindern.

Manchmal dachte ich, dass es daran lag, dass ich mit Abstand die Kleineste im Team war und dadurch halt immer auffiel. Ich maß fast dreißig Zentimeter und wog gute fünfundzwanzig Kilo weniger als der Zweitkleinste aus unserem Team. Warum das so war, wusste ich nicht mehr genau. Aber solange ich denken konnte, hatte mich der Oberstleutnant auf dem Kicker. Er fand immer etwas, weswegen er die gesamte Gruppe, wegen mir bestrafen konnte.

Das sagte ich Jaan auch, nach einigen Wochen. "Siehst du Jaan es spielt keine Rolle, was ich mache. Er findet immer etwas. Sag mir, was ich noch machen soll? Er will uns bestrafen, du kennst ihn doch."

Jaan nickte damals und fing schallend an zu lachend, erklärte mir dann breit grinsend. "Stimmt schon, was du da sagst, Lyn. Aber unsere Ohren tun nicht mehr weh, wenn ihr fertig seid. Wenigstens du, schreist dann nicht mehr herum. An das Gebrüll, vom Oberstleutnant, sind wir ja gewöhnt. Nur nicht an deins", antwortete er und die gesamte Gruppe, krümmte sich vor Lachen. Damit war das Thema beendet. Innerlich grinsend, gab ich ihm einen Klaps. Jaan stimmte, wie auch ich, in das Lachen der anderen ein.

Wieder einmal hatte es der Oberstleutnant nicht geschafft, die Gruppe zu entzweien. Egal, was er machte und wie sehr er versuchte uns gegeneinander aufzuhetzen, wir waren immer ein Team und hielten stets zusammen. Wir ertrugen jede Bestrafung, als Gruppe. Was wird nur jetzt werden? Kam ich wieder auf meine ursprünglichen Gedanken zurück, denn ich war in die Vergangenheit abgeschweift.

In dem Moment kam Rashida vom Rapport zurück, ihre Augen grinsten mich schelmisch an. "Man, hat der heute wieder eine Laune. Weißt du schlimmer als hier, kann es auf der neuen Dienststelle auch nicht sein."

Rashida war bemüht, sich so wenig wie möglich zu bewegen und setzte sie sich mir gegenüber. Sie lehnte sich entspannt zurück und schloss völlig geschafft ihre Augen. Wie fast immer, sprach sie noch zu mir, bevor sie einschlief. Ich glaube das würde mir am meisten fehlen.

"Schlaf ein wenig Täubchen. Morgen wird ein langer Tag. Wenn wir zermartert aussehen, hat er gleich wieder etwas, warum er uns zur Schnecke machen kann. Du weißt doch, er findet immer etwas. Also liefere ihm nicht noch einen Grund. Ab morgen, sind wir ihn hoffentlich für immer los. Komm schlaf ein wenig, mein Täubchen. Höre auf meinen Atem."

Sie schenkte mir ihr schönstes Lächeln und ich gab es ihr zurück. Obwohl mir überhaupt nicht nach Lachen zumute war. Rashida war mir die Liebste aus der ganzen Gruppe, weil sie mich schon immer, einfach so nahm wie ich war. Sie nannte mich auch als Einzige, Täubchen. Weil ich umso vieles kleiner war, als die anderen im Team. Keine zwei Minuten später, hörte ich sie gleichmäßig atmen. Ein Zeichen dafür, dass sie schlief, wenn auch nicht sehr tief. Genau wie meine anderen Kameraden, hatte sie dann ruhige gleichmäßige Atemzüge. Auf diese konzentrierte ich mich. Das und das Brummen des Transporters, sollten mir helfen, in den Schlaf zu kommen. Ich schätzte, dass wir noch drei bis vier Stunden Zeit hatten, bis wir zu Hause ankamen. Müde schloss ich die Augen, versuchte in den Atemrhythmus der anderen zu kommen. Seit einigen Monaten versuchten wir alle, vor allem ich, alleine zu schlafen. Einfach, um uns daran zu gewöhnen. Die Anderen, schafften das auch ganz gut. Nur ich hatte damit meine Probleme. Also versuchte ich mich auf die Atmung der anderen zu konzentrieren. Das hatte mir immer geholfen einzuschlafen. Diesmal wollte es absolut nicht klappen, durch die viele Gedanken die mir durch den Kopf gingen.

Das war schon immer mein großes Problem. Ich konnte nicht so schnell herunterfahren, wie die anderen. Die verdrängten einfach das, was war und konzentrierten sich auf das, was als nächstes kam. Ich dachte einfach zu viel nach. Überlegte wie ich Verletzungen hätte verhindern könne oder wie ich besser hätte vorgehen können. Vor allem suchte ich nach Fehlern in meiner Taktik, um es das nächste Mal besser zu machen. Unruhig, verfiel ich wieder einmal, in einen Schlaf voller Alpträume. Immer wieder sah ich die Gesichter von den Toden, roch sogar das Blut des Kampfes. Unruhig atmend, kämpfte ich mich wieder zurück, an die Bewusstseinsoberfläche, um wieder munter zu werden und fühlte mich wie zerschlagen.

 

Langsam, um die anderen nicht zu wecken, griff ich nach meinem Medi-Koffer. Öffnete so leise es ging, die Verschlüsse. In diesem Koffer war alles, was man für ein Feldlazarett benötigte, Skalpelle, Klammern, Nähzeug, auch Antibiotika, Verbandsmittel und Schmerzhemmer. Der Vorteil unserer Koffer war, dass alles seinen festen Platz hatte und man blind zugreifen konnte. Ein weiter kleinerer Koffer befand sich Chemikalien, in kleinen Ampullen, die es uns ermöglichten, durch zielgerichtete Kombination, jedes beliebige Medikament selbst anzufertigen. Auch, wenn keiner unserer Sanitäter mehr in der Lage war zu sprechen, konnte man durch einfache Zeichen den Anderen verständlich machen, dieses Medikament benötige ich. Die Buchstaben A bis Z, waren verbunden mit einer Zahl. Zu jeder dieser Adresse, gab es eine Schablone, die einem zeigten, in welcher Reihenfolge und Menge, welche Chemikalie benötigt wurde.

Ich tastete nach dem Kleber und strich damit die Wundränder, der tiefen Stichwunde ein. Nahm daraufhin den kleinen Brenner aus dem Koffer, zündete die Flamme und behandelte damit die Wundflächen. Drückte im Anschluss die Wunde zusammen. Durch die Hitze, wurden die Blutgefäße verschlossen und es hörte sofort auf zu bluten. Der Kleber entfaltete seine ganze Kraft und sorgte so dafür, dass die Wunde zusammenwachsen konnte. Es war zwar eine etwas schmerzhafte Prozedur, aber wirksamer, als wenn man nur nähte. Außerdem, verhinderte diese Art der Wundversorgung, dass bei uns der Brand in die Wunde kam. Mit Faden und Nadel, nähte ich die kleine bis vor kurzen, aber starkblutente Wunde trotzdem zusammen, einfach zur Sicherheit. So dass sie nicht, bei der nächsten heftigen Bewegung, wieder aufging. Dann spritzte ich mir das F28, ein Mittel das gegen Entzündungen wirkte und die Heilung förderte. Ein Pflaster drauf, schon war Ruhe. Ich räumte den Koffer wieder zusammen, das gebrauchte Material kam in den kleinen Abfallbehälter, wie auch die angestochen Ampullen. Wenn wir in der Schule ankamen, würden alle unsere Koffer, von Schwester Anna, sofort wieder aufgefüllt. So dass sie beim nächsten Einsatz, wieder mitgenommen werden konnten.  

Wieder einmal hatte ich mir einen Anpfiff eingefangen, weil ich das meister Material verschwendet hatte. Aber daran war ich schon lange gewohnt. Das war nach jedem Einsatz so. Meine Freunde nutzten ihre Koffer nur unterwegs, wenn ich nicht erreichbar war. Sie hatten zwar wie ich, alle dieselbe Ausbildung, im Bereich der medizinischen Versorgung, aber meistens ließen sie sich von mir behandeln. Warum sollte ich alle neun Koffer plündern? Es war in meinen Augen, einfach kostengünstiger, alles aus einem Koffer zu nehmen. Vor allem brauchten wir dadurch, viel weniger Ampullen. Aber der Oberstleutnant, nahm das immer zum Vorwand, um mich herunterzuputzen, genau wie vorhin. Jetzt musste ich sogar grinsen. Wann hatte er mich in den letzten sechszehn Jahren einmal nicht herunter geputzt? Irgendwie konnte ich mich nur an zwei Situationen in meinem Leben erinnern, an dem er mich nicht anbrüllte. Eine davon war verbunden mit sehr schlimmen Erinnerungen. Deshalb war es besser er brüllte mich an, es war einfach gesünder. Kam mir so der Gedanken. Oberstleutnant Mayer, der gerade den Gang entlang kam, entdeckte, dass ich noch nicht schlief. Böse sah er zu mir und sofort polterte er los. Ich sprang sofort auf und stellte mich ordnungsgemäß hin.

"Warum schläfst du kleine Mistkröte, wieder nicht? Es ist immer das gleiche mit dir, Bastard. Nur Ärger haben wir mit dir. Ich denke ihr solltet fit sein, wenn ihr den Dienst in Eurer neuen Dienststelle anfangt. Da kannst du nicht aussehen, wie zehn Tage kaum geschlafen, du Dreckvieh."

Das hatten wir aber, dachte ich so bei mir. Trotzdem senkte ich den Kopf, schaute wie gewohnt zu meinen Füßen.

"Sprich, Kahlyn", kam sein Befehl. Es war erstaunlich, dass er seit zwei Monaten, endlich unsere Namen kannte. Es tat verdammt gut, nicht immer nur mit einer Nummer, angesprochen zu werden. Dadurch kam es einen vor, als ob man ein kleines bisschen mehr Mensch wäre. Bis vor kurzen, hieß ich nämlich immer noch, 98. Obwohl wir schon lange, richtige Namen trugen. Aber was war bei uns schon normal. Nicht mal reden durften ohne Erlaubnis. Deshalb musste ich den Sprechbefehl immer abwarten.

"Genossen Obstleutnant, ich musste noch meine Wunde versorgen, Sir. Ich habe auch schon etwas geschlafen, Sir. Allerdings wollte die Wunde nicht aufhören zu bluten, Sir. Ich werde, jetzt sofort noch etwas schlafen, Sir."

Ich schaute geradeaus, ohne dem Vorgesetzten, direkt in die Augen zu sehen. Der konnten unsere Augen nicht leiden, empfanden es unangenehm, in die silberglänzenden Augen zu sehen. Unsere Augen schauten nicht nur anders aus, sondern waren auch sehr Lichtempfindlich. Deshalb mussten wir, immer Brille tragen oder an den Betreuern und dem Oberstleutnant vorbei sehen. Der Oberstleutnant dreht sich wortlos um und ging weiter nach vorn ins Cockpit und ließ mich wieder allein. Erleichtert holte ich Luft.

Mich wieder hinsetzend, kehrte ich zu meinem letzten Gedanken zurück, zu unseren Augen. Oft hatte ich als ich noch ganz klein war, die Betreuer und auch meine Vorgesetzen für ihre schönen eigenartigen Augen bewundert. Wollte genau wie sie, solche schönen blaue oder braune Augen haben, die in der Mitte einen schwarzen Punkt hatten, der mal größer und mal kleiner wurde, je nachdem wie viel Licht vorhanden war. Allerdings erklärte uns Doko Jacob, dass wir mit diesen Augen, nicht so gut sehen könnten. Also war ich froh, dass ich meine Augen hatte.

Mühsam holte ich mich aus meinen Gedankenkarussell. Ich schloss, meine Augen wieder und konzentriere mich auf die gleichmäßigen Atemzüge meiner Kameraden. Diesmal gelang es mir, fast sofort einzuschlafen. Es kam ein erholsamer, wenn auch unzureichender Schlaf über mich. Kaum eine halbe Stunden später, landete unsere Antonow An-2TP, auf der zum Schulgelände gehörenden Landebahn. Das ist eine kleine Maschine, die nur zwölf Personen Platz bietet und eigentlich nur zum Transport vorgesehen ist. Dadurch hatte die Maschine nur Klappsitze und ist nicht besonders bequem. Wenn Mayer nicht mit uns fliegt, legen wir uns immer in den Gang, aber das geht nur wenn wir alleine sind.

 

Erleichtert endlich zu Hause zu sein, verließen wir sofort, in ordentlicher Formation, die Antonow. Eilten im Laufschritt auf die Gangway zu. So nannten wir, den unter die Oberfläche führenden Zugang, der zu unserem Raum führte.

Rashida fiel es sichtbar schwer, mit dem vorgegebenen Tempo Schritt zu halten. Also drosselte ich das Tempo ein wenig, sofort fing ich mir wieder, eine Rüge, von dem auf einen Multicar sitzenden Oberstleutnant ein.

"Tempo du faules Stück Dreck, wir sind hier nicht in einem Rentnerverein."

Mühsam unterdrückte ich meine Wut und meine Gedanken waren bei Rashida.

"Das geht schon. Ist doch nicht sehr weit. Lauf einfach das gewohnte Tempo. Täubchen, ich schaffe das schon."

Ungern zog ich das Tempo wieder an, aber was blieb mir anderes übrig, wenn wir nicht schon wieder Stress mit Mayer bekommen wollten. Kurze Zeit später, erreichten wir das Gebäude und verschwanden in unserem Reich. Ich war froh, dass wir zu Hause waren. Gleichzeitig wurde es mir aber schwer ums Herz, es war das letzte Mal, dass wir nach Hause kamen.  

Sofort nachdem wir unseren Raum betraten, gingen wir in die Duschen und dann zum Friseur. Dort bekamen wir unseren obligatorischen, acht Millimeter Schnitt. Schwester Anna, unsere Dika und der Engel unserer Schule, hatte während unserer Abwesenheit, schon unsere paar Habseligkeiten in den neuen Rucksäcken verstaut, die wir mitnehmen durften. Außerdem stand sie sofort bereit, um mit dem Doktor zusammen, unsere Koffer in Empfang zu nehmen und diese aufzufüllen. Die Beide wussten, dass wir nicht viel Zeit hatten. Sie kannten, den stets engen Zeitplan, den Mayer uns vorgab. Nach dem Friseur, gingen wir noch einmal kurz unter die Dusche, um die restlichen Haar abzuspülen. Danach sofort, in unseren Raum, der zweiunddreißig mal fünfundzwanzig Meter groß war.

Es war ein dunkelgrüner, schmuckloser Raum ohne Fenster. Für Frischluft, sorgten ein kleines Gebläse, an der Wand und ein Abzug. Es war der einzige Raum im Projekt, in dem wir immer ohne unsere Brillen leben konnten. An den Wänden standen hintereinander, noch neun Stahlpritschen, mit einer Decke. Vor jeder Pritsche, stand ein doppeltüriger Spind und Waffenschrank. In der Mitte des Raumes stand eine lange Tafel mit noch neun Stühlen. Viel zu groß war der Raum für uns geworden. Ich konnte mich dunkel daran erinnern, dass das mal ganz anders war. Es gab Zeiten, da hatten wir hier mit dreiundachtzig Leuten gelebt. Jetzt dagegen, war unser Raum einfach nur leer. Wenn ich den Raum so betrachte, der seit über sechzehn Jahren mein zu Hause war, dachte ich so bei mir, vielleicht war es gut, dass wir endlich hier weg kamen. Im gleichen Atemzug fiel mir jedoch ein, dass es auch eine Trennung von meinen Freunden bedeutete und wieder wurde mir ganz bange im Herzen. Mit niemand kam ich so gut aus, wie mit meinen Kameraden. Aber, was nutzte es hier zu stehen und Dingen nachzuweinen, die man nicht ändern konnte.

Ich gab mir deshalb einen Ruck und ging auf mein Bett zu, welches ganz hinten in der rechten Ecke stand. Ich nahm meine Brille ab und rieb mir müde die Augen. Ich zog die neue, extra für den heutigen Tag, angefertigte dunkelgrüne Uniform an. Das dazu gehörige pastellfarbenen Hemd und setzte das Cappy auf. Nur widerwillig zog ich die bereitgestellten Stiefeln an. Das erste Mal in unserem Leben, mussten wir ab dem heutigen Tag, ständig Stiefeln tragen. Das würde eine riesige Umstellung werden, sonst liefen wir immer barfuß. Keiner von uns war das laufen in Schuhen gewohnt.

Ein letztes Mal, setzte ich mich auf mein Bett, in dem ich mein Leben lang geschlafen hatte. Am liebsten würde ich mich darauf legen und noch etwas schlafen. Aber die anderen waren ebenfalls fertig angezogen. Wir warten nur noch auf Rashida, die immer noch bei Doko Jacob auf der 6/rot war, um sich ihre Diensttauglichkeits-Bescheinigung zu holen. Rafik, Sina und Andi, hatten sie schon gemacht und wir anderen brauchte diese Bescheinigung nicht. Da unsere Verletzungen nicht nennenswert waren. Die Drei konnten also heute ebenfalls in die neue Dienststelle wechseln. Bei Rashida stand es noch nicht fest, ob der Doko die Bescheinigung ausstellen würde. Ich hoffte nur, dass unser Doktor nicht anders entschied. Rashida bekäme, wenn der Doko anders entschied, richtig Ärger mit dem Oberstleutnant. Außerdem musste sie dann alleine und in der Nähe von Mayer verbleiben. Davor hatte ich große Angst, sie wäre dann ohne Schutz den Launen unseres Vorgesetzten ausgeliefert. Endlich kam auch Rashida, zu uns in den Raum. Schnell ging auch sie noch duschen und wir halfen ihr beim Anziehen.

"Kahlyn, Doko lässt dich grüßen. Ich soll dir sagen, du hast wieder einmal gute Arbeit geleistet. An uns alle, liebe Grüße, auch von Dika Anna, soll ich noch ausrichten. Fürs Essen soll ich euch von beiden sagen, blieb leider keine Zeit. Der Oberstleutnant hätte es per Funk verboten, dass wir etwas zu essen bekommen. Sie haben sich deshalb nicht getraut uns einen Brei zumachen, auch, um zu vermeiden das Mayer heute noch ausflippt. Wir sollen vor allem die Ohren steif halten und gut auf uns aufpassen."

Zärtlich lächelte sie mir und den anderen zu. Das war typisch für die Beiden. Ich glaube die Beiden waren die einzigen, hier in der Schule, die uns wirklich vermissen würden. Wir die Beiden aber auch, sie gehörten zu den wenigen Menschen hier im "Projekt Dalinow", die immer für uns da waren und nicht nur einmal, ihr Leben für uns riskierten. Unsere Gedanken werden in der Zukunft, oft bei den Beiden verweilen. Da der Arzt und seine Frau, uns am nächsten von allen standen und wir würden die Beiden auch sehr vermissen. Wie oft hatten sie uns gesundgepflegt oder uns einfach nur in den Armen gehalten, wenn es uns schlecht ging und ständig gegen Mayer gekämpft. Nicht nur einmal wurden die beiden, deshalb fast totgeschlagen, vor allem unser Doko. Deshalb waren wir ihnen auch nicht böse, dass sie uns heute nicht heimlich eine Mahlzeit zusteckten. Das letzte Mal als sie das versucht hatten, hatte Mayer unseren Doko fast getötet. Das Risiko, hatte ich den beiden erklärt, würden wir nie wieder eingehen, es war viel zu hoch.

Wie immer blieb uns nicht ein Moment zum Atem holen. Wir mussten los, die Zeit drängte. Deshalb verabschiedeten wir uns schon hier in unserem Raum voneinander. In dem wir uns alle noch einmal in den Arm nahmen. Bei vielen von uns liefen Tränen übers Gesicht.

Nicht nur ich hatte Angst vor dem, was auf uns zu kam. Auch, wenn der Doko und die Dika immer wieder behaupteten, dass es uns ab morgen wesentlich besser gehen würde. Das wir ab den morgigen Tag, endlich wie Menschen behandelt werden würden und unsere Schule nicht vermissen bräuchten. Trotzdem uns die zwei nie belogen haben, konnten wir ihnen das nicht wirklich glauben. Nur ganz selten in den letzten sechszehn Jahren, wurden wir so behandelt. Warum also, sollte das ab morgen anders werden? Also nahmen wir jetzt und hier von einander Abschied. Denn so gut kannten wir Oberstleutnant Mayer, der würde uns dazu überhaupt keine Gelegenheit geben. Keine drei Minuten später ging es im Laufschritt, zum Abschlussappell und nach vorn in die Mensa der Angestellten, die wir heute das erste Mal betreten durften.  

Die Mensa war ein riesiger Raum, der einfach wunderschön war. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Hier hätte ich gern gelebt und noch lieber gearbeitet. Ganz anderes sah es hier aus, als die Räume, die uns zur Verfügung gestanden hatte. Er war hell und vor allem gab es dort Glasbehälter mit wunderschönen Fischen. Gern hätte ich mir die Tiere einmal genauer angesehen. In einer anderen Ecke, standen Regale voller Bücher. Ach wie gern hätten wir diese gelesen. Auch meine Freunde schielten auf die Bücherregale und wäre nur zu gern dort hingelaufen. Aber, uns stand so etwas nicht zu. Wir waren nur dazu da, die Dreckarbeit für andere zu machen und ohne zu murren, zu gehorchen. Im Laufschritt liefen wir an den Mitarbeitern des Projektes vorbei, die alle gekommen waren, zu unserem Erstaunen, um uns zu verabschieden.

"In Reih und Glied Aufstellung nehmen und schaut euch hier nicht zu auffällig um", bat ich meine Freunde innerhalb der Verbindung.

Ich sah Heiko und Chris von der Wachmannschaft, die uns schon oft geholfen hatten, aber auch Mathias, erblickte ich unter den Wartenden und unseren Hausmeister Zimmermann. Der uns oft gegen Mayer half und uns versteckte. Den wir so oft zur Hand gegangen waren. Irgendwie sahen alle traurig aus. Wieso eigentlich? Sie konnten jetzt endlich nach Hause und brauchten wie wir, keine Angst mehr zu haben, ständig vom Oberstleutnant zusammengeschlagen oder angebrüllt zu werden. Auch für sie würde in einigen Wochen, der Aufenthalt hier zu Ende sein. Es fing für alle ein neues und, so hofften der Doko und die Dika, ein besseres Leben an.

Vorn auf der Bühne standen der Doko, unser Doktor Jacob und seine Frau Anna, Doktor Zolger und Doktor Anderson, aber auch der Oberstleutnant Mayer und Generalmajor Hunsinger, der Projektleiter. Dieser bedankte sich in einer kurzen Rede für die erbrachten Leistungen, bei den Mitarbeitern des Projektes und übergab diesen mit einem gekünstelten Lächeln ihre Zertifikationen. Sprach mit vielen leeren Worten seinen Dank aus.

Komischer Weise bedankte Hunsinger sich auch überschwänglich bei Oberstleutnant Mayer für seine gute Arbeit. Dass ich nicht lachen musste. Wenn dieser Unmensch nicht gewesen wäre, könnte noch mindestens die Hälfte meiner Leute leben. Wut kochte in mir hoch.

"Täubchen, komm beruhige dich. Raste jetzt hier nicht noch aus. Es sind nur noch wenige Minuten, dann sind wir hier für immer weg. Bleibe ruhig bitte, sonst bekommst du heute noch eine Strafe. Halten nur noch ein paar Minuten durch, bitte Täubchen. Nur mir zu liebe", bat mich schwer atmend Rashida.

Meine beste Freundin, die immer die Ruhe weg hatte und die mich sechzehn Jahre beschützt hatte. Wie konnte ich mich ihr widersetzen, wenn sie mich darum bat, mich ruhig zu verhalten. Sie hatte ja Recht, aber bei sowas ging einfach die Wut mit mir durch. Mühsam versuchte ich mich zu beruhigen und versuchte ruhiger zu atmen. Schon Rashida zu liebe, denn ich merkte, dass es ihr nicht sehr gut ging. Meine Augen suchten den Blickkontakt zu Dika und den Doko, beide lächelten mich an. Ich glaube die wussten genau, was in diesem Moment in mir vor sich ging. Doko schüttelte ganz leicht den Kopf, also atmete ich tief durch und versuchte mich zu beherrschen. Sie hatten ja alle Recht, bald war ich hier von weg.

Auch, wenn es mir Angst machte, so stimmte ich Rashida zu. Schlimmer als hier, konnte es für uns kaum noch werden. Also konzentrierte ich mich auf Rashida, gab ihr einige Ratschläge wie sie ihre Atmung noch verbessern konnte. Sagte ihr die Dossierung von Medikamenten, die sie anwenden sollte und wie lange, damit es ihr schnell besser gehen konnte. Endlich war die Lobrede an Mayer vorbei. Ich hatte es geschafft ruhig zu bleiben und nicht hier vor aller Augen auszurasten.

Generalmajor Hunsinger wandte sich nach seiner langen Rede an die Angestellten, sogar noch kurz an uns. Ich konnte es nicht glauben, der arrogante Kerl hatte uns wahrgenommen. Hunsinger bat uns in zwei Sätzen, dem Projekt keinen Ärger zu machen und uns vorschriftsmäßig zu benehmen.

"Ihr Schüler habt in den letzten sechszehn Jahren alles gelernt, was ihr wissen müsst, um gute Polizeikräfte zu werden. Wendet euer Wissen, zum Wohl des Volkes und unseres Staates an und macht dem Projekt keine Schande."

Dies waren die einzigen Worte, die er an uns richtete. Wir bekamen natürlich keinen Dank, kein Lob oder gar Anerkennung für das, was wir in den letzten Jahren geleistet hatten. Wir waren diese Worte nicht wert. Im Anschluss wurden uns wortlos die Personalakte und unserer Zeugnisse übergeben. Alles abgeheftet in einem Dossier. Infolgedessen waren wir aus dem Projekt entlassen und konnten endlich aus unserer alten Hölle verschwinden, und in einer anderen neuen Welt fußzufassen. Ich hoffte sehr, dass es nicht wieder solch eine schlimme Hölle wurde, wie hier.

Hunsinger verabschiedete sich von allen Projektmitarbeitern, mit der Bitte, morgen Abend um 20 Uhr zur offiziellen Abschiedsfeier pünktlich zu erscheinen und verließ mit seinen Führungskräften die Bühne. In dem er nach hinten, durch eine Tür verschwand. Oberstleutnant Mayer wartete bis alle Mitarbeiter die Mensa verlassen hatten und trat dann vor uns.

Wir durften nicht wie alle anderen einfach gehen, sondern mussten unseren Entlassungsbefehl abwarten. Oberstleutnant Mayer trat noch einmal vor uns, um noch ein letztes Mal das Wort zu ergreift. Nach dem er sich versichert hatte, dass wir uns mit ihm allein in der Mensa aufhielten, begann er mit seiner Abschiedsrede, die nur für unsere Ohren bestimmt war.

"Hört zu ihr Bastarde. Ich möchte noch einmal betonen, dass ich nicht will, dass mir Klagen kommen. Auch, wenn ihr nicht mehr meinem Kommando unterstellt seid, finde ich euch überall. Habt ihr das verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir", kam die neunstimmige Antwort.

"An die Weicheier unter euch", damit meinte er diejenigen, die sich beim Einsatz, schwere Verletzungen zugezogen hatten. "Ihr werdet ab morgen Dienst tun, als wärt ihr gesund. Habt ihr das verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir."

Wir nickten.

Daraufhin fuhr Mayer fort. "Ihr Bastarde habt hier alles gelernt, was ihr wissen müsst. Sogar einiges mehr, als notwendig war. Nun müsst ihr nur noch lernen, mit anderen Menschen klar zu kommen. Respekt und absoluter Gehorsam, mehr erwartet niemand von Euch. Habt ihr das verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir", antworteten wir ihm wieder.

Was hätten wir ihn auch anderes sagen sollen. Am liebsten hätte ich ihm gesagt, dass er sich verpissen soll. Dass uns sein dämliches Geschwafel und seine Beleidigungen, einfach nur noch auf die Nerven fielen. Aber das durften wir ihm ja nicht sagen. Noch viele andere unschöne Sachen würde ich ihm gern an den Kopf schmeißen, aber ich hielt lieber den Mund. Sagte ihm aber in Gedanken meine Meinung. Meine Freunde amüsierten sich köstlich. Sie kannten diese meine Gedankenreden nur zu gut. Vor allem sagte ich auch deshalb nichts, weil all meine Freunde mich immer wieder baten ruhigen bleiben. Ich sollte einfach nur auf Durchzug schalten, es wäre gleich vorbei. Aber Mayer konnte mich nicht einmal heute in Ruhe lassen. Ich glaube der Oberstleutnant konnte einfach nicht mehr aus seiner Haut. Selbst jetzt musste er noch gezielt gegen mich vorgehen. Tief holte ich Luft und konzentrierte mich auf das, was mir meine Freunde sagten, nur um nicht auf Mayer reagieren zu können. Es gelang mir sogar, dass die Worte an mir abprallten wie ein Springball an einer Wand.

"HaHhHVor allem, von dir du kleine Mistkröte, verlange ich absoluten Gehorsam! Benehme dich ja. Sonst komme ich auch, in deine neue Dienststelle. Das verspreche ich dir hier, vor deinen Missgeburten. Den Tag an dem du mich noch einmal zu Gesicht bekommst, wirst du verfluchen, du Ausgeburt der Hölle. Denn wenn ich erscheine, dann kannst du etwas erleben, du verdammtes Drecksvieh. Dagegen ist die Behandlung die du bis jetzt bekommen hast, lieb und nett gewesen. Vergesse das nicht, du dreckiges Stück Scheisse. Hast du das verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir", gab ich zur Antwort und verdrehte die Augen.

"Euch Anderen, brauche ich das ja nicht zu sagen. Bei euch klappt das ja einigermaßen. Nur dieser Rotzgöre hier, muss man immer noch Anstand und Benehmen beibringen. Etwas anderes noch. Ihr esst gefälligst nichts von den Lebensmitteln, die man euch anbietet. Eure neuen Dienststellen haben von uns, eure Nahrung bekommen. Alle anderen Sachen vertragt ihr nicht. Ebenfalls mit den Getränken müsst ihr aufpassen, soll ich euch von Doktor Jacob, extra noch einmal sagen. Es ist nur Wasser erlaubt. Habt ihr das verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir."

"Denkt daran, immer eure Brillen zu tragen oder die Kontaktlinsen zu nutzen. Viele eurer Kollegen werden mit der Art, Eurer abartigen Augen schwere Probleme haben. Daran kann man halt gleich sehen, dass ihr keine Menschen seid. Es macht euch zum Glück zu dem, was ihr immer sein werdet, zu absoluten Außenseitern und Missgeburten", streng sah er von einem zum anderen.

Zum Abschluss sagte er in einem fast freundlichen Ton, den wir schon seit vielen Jahren nicht mehr von ihm gehört hatten.

"Ihr fahrt jetzt zu euren neuen Dienststellen. Abtreten! Draußen stehen Eure Taxen, die Euch vor Ort bringen. Eure Waffen werden euch heute noch gebracht."

Wortlos drehten wir uns um. Froh diesen Menschen nie wiederzusehen. Das war das einzig Gute an der ganzen Sache. Geordnet wie wir es immer taten, verließen wir das letzte Mal gemeinsam unsere Schule. Würde dies ein Abschied ohne Widerkehr werden? Wir wussten es wirklich nicht.

Kapitel 2

Vor der Tür der Schule standen neun Taxen, die uns in neun verschiedene Dienststellen bringen würden, die in der ganzen Republik verteilt waren. Jeder von uns wusste genau, zu welchem Taxi er gehen musste. Wir wurden in alle Himmelsrichtungen verschickt und würden in Zukunft viele hundert Kilometer voneinander getrennt arbeiten. Mein Taxi war das Erste und deshalb musste ich bis ganz nach ganz vorn laufen. Es war der Wagen mit dem Kennzeichen für Gera. Auf dessen Nummernschild, standen die Buchstaben NN. Ich ging auf das Taxi zu und mit jedem Schritt, wurde es mir schwerer ums Herz. Nur zögernd wollte ich mein Taxi besteigen. Mir war das erste Mal in meinem Leben, vor Angst richtiggehend schlecht. Das einsteigen in das Auto, hatte so etwas Endgültiges. Mein Herz zog sich zusammen und ich hätte schreien mögen. Durfte ich mich so gehen lassen? Nein, ich musste stark sein, für meine Freunde. Ich verschloss meine Empfindungen und setzte mein schönstes Lächeln auf, um es meinen Freunden nicht noch schwerer zu machen. Obwohl mir das unsagbar schwer fiel.

Ich sah über meine Schulter zurück, zu meinen Freunden. Teja, Rafik, Sina, Rashida, Jaan, Andi, Cankat und Raiko, sie waren die letzten der "Hundert". Alle schauten zu mir. Ich lächelte ihnen in Gedanken aufmunternd zu. Mir war bewusst, dass es ihnen ähnlich ging, wie mir. Die vergangen sechszehn Jahre waren wir nie lange getrennt. Wenn dann nur für kurze Zeit. Wir wussten stets, dass wir uns bald wiedersehen würden. Ich fühlte mich so einsam und verlassen, wie die anderen. Als ob man ein Teil von mir abgeschnitten hätte. Panik kroch in mir hoch, eine eigenartige gallertartige Masse, wirbelte in meinem Magen herum. Es löste in mir das Gefühl aus, gleich erbrechen zu müssen. Ich fing innerlich an zu zittern, der Druck in mir wurde immer größer. Ich konnte nicht mehr die Starke spielen. Ich konnte plötzlich nicht mehr für andere die Verantwortung übernehmen, die Panik überrollte mich und ich rief von Angst gelähmt, nach meiner Freundin Rashida. So ein Gefühl, hatte ich noch nie erlebt.

"Täubchen, habe keine Angst, wir sehen uns bald wieder. Sei stark, verspreche mir das", rief sie mir gedanklich zu.

Sie wollte mich durch diese ruhig gesprochenen Sätze beruhigen. Am liebsten hätte ich all meine Sachen hingeschmissen und wäre zu ihr gerannt, als ich am Tor Mayer entdeckte. Ich schloss kurz die Augen und versuchte mich zu beherrschen. Die Panik allerdings bekam ich nicht in den Griff. Genauso wenig wie die anderen, die ebenfalls unschlüssig am Taxi standen. Auch Rashida versuchte ihre eigene Panik zu unterdrücken, um mir Ruhe zu geben. Allerdings gelang es auch ihr nicht ganz. Ich geriet immer mehr unter Druck. Was sollte ich tun? Es gab einen eindeutigen Befehl, diesem musste ich, ob ich wollte oder nicht, gehorchen. Es lag keine Gefahr für die anderen vor. Also auch kein Grund, dem Befehl nicht hundertprozentig zu auszuführen. Keiner konnte etwas dagegen machen, keiner von uns.

Wir hatten keinerlei Rechte, das begriff ich wieder einmal. Tief holte ich Luft und riss mich zusammen. Mir wurde bewusst, dass ich es den anderen noch schwerer machte. Auch, wenn es uns innerlich zerriss, das Leben musste weiter gehen. Wie so oft, wenn wir dachten es ging nichts mehr weiter und wir würden am liebsten sterbe, würde es weiter gehen. Es musste ja. Egal, ob es uns gefiel oder nicht, wir mussten gehorchen. Also gab ich schweren Herzens den Befehl, der unser Leben völlig verändern sollte. Aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

 

"Steigt ein, der Oberstleutnant ergötzt sich an unserem Leid. Wir wollen ihm das nicht gönnen. Außerdem guckt er schon ganz böse, ich will nicht, dass ihr jetzt noch bestraft werden. Ich werde euch alle vermissen. Aber sehen wir es, wie der Oberst in der Soko es immer gesagt hat, wir leben noch. Bestimmt sehen wir uns irgendwann wieder. Ich werde euch vermissen. Bitte passt auf euch auf."

Tief durchatmend sah ich noch einmal zu meinen Freunden und nickte ihnen kurz zu. Nahm meinen Rucksack und meinen Medi-Koffer und legte alles in den Kofferraum des Taxis. Lief nach vorn zur offenstehenden Beifahrertür und stieg ein. Es nutzte nichts sich gegen etwas zu wehren, dass man nicht ändern konnte. Auch der Fahrer war eingestiegen und schloss gerade die Autotür.

Ich schaute, aus dem Augenwinkel zu dem Fahrer. Einem ziemlich korpulenten Mann, der vielleicht Ende fünfzig sein mochte. Der sich gerade anschnallte und freundlich lächelnd zu mir herüber blickte.

"Schnall dich bitte an junge Frau. Wir müssen los. Du bist verdammt spät dran. Ich warte hier schon seit vier Stunden. Bitte, wir müssen losfahren, denn wir haben noch eine lange Fahrt vor uns", erklärte er mir wortreich. Freundlich sah mich der Fahrer an und fügte breit grinsend hinzu "Ich hoffe wir vertragen uns?"

Sofort schnallte ich mich an und kam somit seiner Bitte nach. Dankend nickte mir der Fahrer zu, setzte den Blinker und fuhr los. Zwar hörte ich seine Worte, allerdings verstand ich ihren Sinn nicht wirklich. Nun wurde auch den anderen bewusst, dass wir uns höchst wahrscheinlich, nie wieder sehen würden und wir verabschiedeten uns noch einmal von einander. Schnell gaben uns noch einige letzte Ratschläge. Versprachen uns, in Verbindung zu bleiben, auch wenn wir noch nicht wussten wie. Es war ein heilloses, durcheinander Gerede, so dass ich den Fahrer, gar nicht richtig verstehen konnte.

"Hallo", sprach der Fahrer, mich nochmals an. Verwundert sah ich an ihm vorbei. Genauso wie wir es gewohnt waren. Sah ich niemanden direkt in die Augen und signalisierte ihm so, dass ich reden wollte. Lachend zwinkerte er mich an und meinte.

"Du redest wohl nicht mit jedem?"

Als ich immer noch nichts sprach, zuckte er mit den Schultern.

"Weißt du, sechs Stunden Fahrt, können verdammt lange dauern, wenn man nicht miteinander redet", wieder blickte er zu mir hinüber.

Ich sah allerdings geradeaus auf die Straße. Man merkte, dass er langsam aber sicher wütend wurde, weil ich ihm nicht antwortete. Wir durften, nicht ohne Aufforderung reden, das hatte man uns in den letzten Wochen, regelrecht eingeprügelt. Ich wusste, wenn ich ganz ehrlich war, nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich war nicht im Einsatz, auch lag kein medizinischer Notfall vor. Also schwieg ich.

Plötzlich, donnerte er mich böse an. "Rede mit mir, verdammischt nochmal."

Ich drehte ihn meinem Kopf zu. "Sir, Ich würde gern etwas schlafen, Sir. Wir kommen gerade, von einem Einsatz, Sir", antwortete ich ihm völlig zusammenhangslos.

Ich wusste gar nicht, was er mich gefragt hatte. Im Hintergrund, hörte ich die Stimmen der anderen, die völlig verzweifelt waren. Vorzugeben schlafen zu wollen, war mein erster Gedanke gewesen. Ich sah an ihm vorbei und wunderte mich, dass er erschrocken aussah. Warum war dieser Mann erschrocken? Fragte ich mich verwundert. Sogleich schob ich diese Frage wieder zur Seite. Meine Freunde im Hintergrund lenkten mich völlig ab.

"Oh, das wusste ich nicht. Dann schlaf erst einmal. Möchtest du dich hinten hinlegen? Da kannst du besser schlafen. Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Aber du antwortest ja nicht."

Verwundert bemerkte ich, dass es ihm wirklich leid tat. Etwas, das wir von der Schule her nicht kannten. Wurden wir angebrüllt, waren wir selber schuld. Auch wenn wir nicht wussten, warum? Wir hatten irgendetwas, falsch gemacht. Was spielte da eine untergeordnete Rolle.

"Sir, Sie hatten mir nicht erlaubt zu sprechen, Sir", erschrocken hielt ich inne.

Der Fahrer lächelte mich allerdings an. "Oh, ich wusste nicht: dass ihr so streng, erzogen wurdet. Also schlaf ruhig und wenn ich dich etwas frage, antworte mir bitte. Ich hasse es wie die Pest, auf Antwort warten zu müssen."

Ich nickte kurz. "Sir, jawohl Sir."

Also lehnte ich mich zurück und machte es mir so bequem, wie es halt in einem Auto ging. Auf diesem Beifahrersitz konnte ich mich nicht zusammenrollen, saß also aufrecht und schloss die Augen. Im Seitenblick sah ich, wie er ärgerlich den Kopf schüttelte. Jetzt konnte ich mich wieder auf meine Freunde konzertieren. Vergeblich versuchte ich, eine einigermaßen bequemere Stellung zu finden. Der Beifahrersitz war nicht sonderlich bequem. Schob mir das Cappy ins Gesicht und atmete gleichmäßig. Tat als wenn ich schlafen würde. Meine Freunde und ich sprachen noch eine ganze Weile miteinander. Rashida versicherte mir immer wieder, dass wir uns bald wieder sehen würden. Ich wollte es so gerne glauben. Allerdings je weiter wir uns voneinander entfernten, umso leiser wurden die Stimmen der Anderen. Irgendwann, hörte ich sie nicht mehr. Es herrschte auf einmal Totenstille in meinem Kopf.

Die gallertartige Masse begann wieder in meinem Magen hin und her zu schwabbeln. Mir wurde immer schlechter. Ich konnte nichts dagegen tun. Die Panik von vorhin, kam mit voller Macht zurück. Diesmal war keine Rashida da, die mich beruhigen konnte. Obwohl ich schon so einige Male von meinen Freunden getrennt war, wenn ich in der Soko war und diese Stille kannte, überkam sie mich plötzlich mit voller Wucht. Auch weil ich wusste, diesmal war es anders und es würde für immer so bleiben. Mir wurde hundeelend und immer schlechter. Ich begann stoßweiße zu atmen und gegen diesen Brechreiz anzukämpfen. Es wollte mir nicht gelingen, diesen Brechreiz zu besiegen. Immer mehr Mühe kostete es mich, nicht zu erbrechen. Der Fahrer bekam das schnell mit.

"Ist dir nicht gut, Mädchen?"

Ich nickte krampfhaft, konnte ihm aber nicht mehr antworten und zeigte mit der Hand kurz nach dem Straßenrand. Hielt anschließend die Hand vor den Mund. Sofort fuhr er an die Seite. Schnell stieg ich aus und gab meinem Magen nach. Es dauerte lange bis ich aufhörte mich zu erbrechen. Erbrach immer wieder Galle und zum Schluss Blut, da mein Magen völlig überreizt war. Das Monster in meinem Magen, hatte gesiegt. Mitleidig stand der Fahrer, neben mir. Er wusste nicht, was er tun sollte, dann reichte er mir ein großes weißes Taschentuch.

"Geht es wieder? Oder brauchst du einen Arzt? Musst du eventuell etwas essen oder trinken?", sprudeln die Fragen aus ihm heraus.

Ich schüttelte, nur den Kopf. "Sir, ich brauche keinen Arzt, Sir. Ich bin selber Ärztin, Sir. Könnte ich bitte etwas, aus meinen Koffer holen, Sir?", bat ich ihn verlegen, ohne Sprecherlaubnis.

"Natürlich. Komm mit. Ich mach dir hinten auf."

Er ging zum hinteren Teil des beigen Wartburgs und schloss mir den Kofferraum auf. Ich nahm mir aus meinem Medi-Koffer, eine Schachtel mit Tscenns, kleine weiße Pillen, die hochwertige Proteine, Eiweißstoffe und Traubenzucker, in sehr hoher Konzentration enthielten. Ich gab sie immer, bei schweren Magenproblem, oder Bauchverletzungen, wenn man nichts essen konnte. Mir hatten sie in Chile das Leben gerettet. Damals war ich kurz vorm Verhungern. So weit war es noch lange nicht. Trotzdem hatten wir vor sechs Tagen das letzte Mal etwas gegessen und mein Hunger war unerträglich. Durch das Erbrechen, war das Gefühl des Hungers noch größer geworden. Mir tat vor Hunger der Magen weh. Ich musste mir irgendetwas zuführen, um meinen Magen zu beruhigen. Auch, wenn ich wusste, dass es nicht viel helfen würde. Das Schlechtsein, kam nicht allein vom Hunger, sondern von der Panik, die mich plötzlich erfasst hatte. Es war so verdammt still, um mich herum und das Schlimmste war, es würde für immer so bleiben. Ich glaube diese Erkenntnis, dass es jetzt immer so still sein würde, war schlimmer, als der Hunger. Nach dem ich eine der Pillen zu mir genommen hatte, ging es mir etwas besser. Ich schob den Gedanken an meine Freunde erst einmal beiseite. Dazu hatte ich noch genug Zeit. Wir mussten weiter.

Der Fahrer sah mich besorgt an. "Geht es wieder?"

"Sir, ja, Sir", gab ich sehr einsilbig zur Antwort. "Sir. Es ist wieder in Ordnung. Es war nur die Aufregung. Sir", setze ich noch schnell nach, um ihn freundlicher zu stimmen.

"Dann können wir weiterfahren? Es wird langsam knapp, mit der Zeit."

Ich nickte nur.

Da ich absolut keine Lust hatte, weiter mit dem Fahrer zu reden. Ich wollte einfach nur meine Ruhe haben. Ich stieg wieder ein, schnallte mich an. Wieder versuchte ich, eine einigermaßen bequeme Stellung auf dem Beifahrersitz zu finden. Der Taxifahrer griff an die Lehne und schraubte daran herum, so dass sie nicht mehr so steil stand.

"Ich glaube so ist es bequemer zum Schlafen", meinte er freundlich zu mir.

"Sir, danke, Sir, das ist wirklich nett von ihnen, Sir", bedankte ich mich freundlich.

Schob im Anschluss mein Cappy über die Brille und horchte in mich hinein. Aber diese unnatürliche Totenstille blieb. Da war einfach nichts mehr kein Ton, kein Wort, kein Gefühl, einfach nichts. So sehr ich mich auch anstrengte, es war nichts mehr zu spüren oder zu hören. Schließlich gab ich auf. Ich musste akzeptieren, wie es war.

Außerdem war ich todmüde. Irgendwie hatte der Oberstleutnant Recht. Es machte keinen sehr guten Eindruck, wenn wir total übermüdet, in der neuen Dienststelle ankamen. Es war jetzt kurz nach 4:30 Uhr morgens. Pünktlich um 7 Uhr sollten wir in der Dienststelle sein. Dadurch hatte ich noch genug Zeit, zum Schlafen. Langsam atmete ich ein und aus und konzentrierte meine gesamte Aufmerksamkeit auf die Atmung. Die einfachste Technik, um in einen tiefen und ruhigen Schlaf zu kommen, wenn die Umgebung stimmte und man sich sicher fühlte. Diesmal half es mir, in einen erholsamen, wenn auch nicht besonders tiefen Schlaf zu fallen. Trotz allem, nahm ich alles um mich herum wahr. Ich würde bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr, sofort munter werden. So verging der Rest der Fahrt schnell und ereignislos. Ich glaube der Fahrer war genauso froh wie ich, dass wir endlich angekommen waren. Irgendwo tat er mir sogar leid. Aber ich konnte es nicht ändern, nicht heute jedenfalls.

"Wir sind gleich da junge Frau", wollte er mich wecken. Wir fuhren gerade an eine große Ampelkreuzung heran und mussten anhalten. Schon eine ganze Weile schlief ich nicht mehr und setzte mich sofort auf. Wir überquerten die Kreuzung und fuhren kurz nach dem Kreuzungsbereich, in eine der dort vorhandenen Parkbuchten. Der Fahrer stieg aus und kam um das Fahrzeug herum, um an den Kofferraum zu kommen und meine Tür zu öffnen. Als Fahrer des Taxis mir mein Gepäck aus dem Kofferraum geben wollte, war ich allerdings schneller. Da ich für den Tod hasste, wenn fremde Menschen meine Sachen anfassten. Schnell griff ich nach meinem Medi-Koffer und meinen Rucksack. Sofort schnallte ich mir den Rucksack auf den Rücken und nahm den Medi-Koffer in die linke Hand.

"Ich hoffe, du hattest eine einigermaßen gute Fahrt", erkundigte sich der Fahrer.

Ich nickte ihm dankend zu.

"Alles Gute wünsche ich Dir, Mädchen. Schau mal, du musst hier über die Straße und vorne, an der Spitze des Hauses, ist der Eingang zur Wache. Die Tür mit dem großem Wappen."

Er zeigte auf ein Gebäude, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Zum Abschied, hielt er mir die Hand hin.

Gewohnheitsgemäß salutierte ich vor ihm. "Sir. Danke Sir."

Im gleichen Atemzug drehte ich mich um und ließ ihn einfach stehen. Ich wollte und konnte nicht mit ihm reden, jedenfalls im Moment nicht. Ich war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt. Mit festen Schritten, ging ich zielsicher auf die Ampel zu, überquerte die Straße und lief dann eilig auf den Eingang meiner neuen Dienstelle zu.

 

Meine neue Dienststelle stellte sich als ein altes vierstöckiges Backsteingebäude heraus, das in Form eines übergroßen Vs gebaut wurden wahr. Es gab in jeder Etage kleine Erker, die waren an der Spitze des Vs und darin waren Fenster eingebaut. In den standen Pflanzen und Blumen, verwundert sah ich hinauf zu den erleuchteten Fenstern. Ich hatte mir meine neue Dienststelle ganz anders vorgestellt. Ungefähr so wie unsere Schule oder das Gelände der Soko Tiranus. Aus einem der Fenster im dritten Stockwerk, in dem ebenfalls Licht brannte, sah ein junger Mann heraus und nickte mir freundlich zu.

Irritiert lief ich weiter auf den Eingang zu. Auf beiden Seiten des Gebäudes, entlang der Fassade, befanden sich Fußwege, so nannte man das glaube ich und daneben wurde das Gebäude von zwei Straßen eingesäumt. Gegenüber lag ein flaches Gebäude, in denen es verschieden Dinge gab. Ich hatte so etwas schon einmal gesehen. Der Doko bezeichnete diese Art Gebäude, als Kiosk. Daran grenzte ein wunderschöner Park, mit uralten Bäumen, der gefiel mir sehr gut. Auf der anderen Straßenseite waren ebenfalls viele Gebäude. Dort wo die beiden Straßen die am Gebäude vorbeiführten sich trafen, befand sich eine Brücke. Alleine in diesem Kreuzungsbereich gab es drei Ampelanlagen, das bedeutete, dass hier viele Fahrzeuge fuhren. Das komische an der einen Straße war, dass Gleise darauf waren. Nur waren diese Gleise zu schmal für einen Zug. Nachdenklich grübelte ich darüber nach, zu welchem Zweck diese Gleise dienten. Ich riss mich aus der Grübelei, das würde ich schon noch herausbekommen.

Ich drehte mich wieder zu dem Gebäude vor mir um. Der Eingang der Dienststelle, war genau, an der Spitze des Vs und lag unterhalb der Erker. Es führten von rechts und links, eine Treppe mit je sechs Stufen hinauf zu einer großen rotbraunen mit Ornamenten eingerahmte Tür. Sie besaß zwei messingfarbene Türklinken, die Löwenköpfe darstellten. Auf der Eingangstür, war das Stadtwappen der Stadt Gera befestigt, das ungefähr einen halben Meter hoch war. Das Wappen war ein schräggestelltes dreikantiges Schild und darin, stand aufrecht ein nach rechts schauender goldener, aber ungekrönter Löwe mit zwei Schwänzen, auf einer schwarzen Grundfläche. Ein wunderschönes Wappen, das mir sehr gut gefiel. Ich schaute es mir genau an und fuhr mit dem Finger die Konturen nach. Nach einer Weile, begann eine Turmuhr zu schlagen. Also musste ich mich beeilen. Das Schlagen durch Glocken zeigte mir an, dass es gleich 7 Uhr in der Früh war. Wenn ich nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen wollte, sollte ich mich langsam aber sicher einmal in Bewegung setzen und mich in die Höhle des Löwen begeben. So drückte es immer der Doko aus, wenn er zu Mayer hoch musste. Hier passte der Spruch irgendwie hin, stellte ich in mir grinsend fest.

Ohne zu zögern öffnete die rechte Seite der großen Tür und betrat das erste Mal in meinem Leben, meine neue Dienststelle. Ich kam in eine Art Vorraum, die durch eine zweigeteilte Schwingtür vom restlichen Gebäude abgetrennt wurde. Alles sah hell und freundlich aus, ganz anders als ich das von Zuhause gewohnt war. Auch diese öffnete ich und kam in einen großen Flur. Von hier aus gingen rechts und links viele Türen ab. Suchend sah ich mich um und wurde gleich fündig. Rechts vor mir, gleich hinter der Schwingtür, gab es eine Tür mit dem Schild "ANMELDUNG". Erleichtert atmete ich auf, denn es war meine größte Angst gewesen, dass ich nicht wusste, wo ich hingehen sollte.

 

Auf die Tür der "Anmeldung" ging ich zu. Laut klopfte ich an und wartete das Herein ab. Nach der Aufforderung, betrat ich den großen Raum und sah mich auch hier erst einmal um. Eine Kollegin, um die fünfundzwanzig Jahre, mit kurzem rotem Haar, stand hinter einem sehr hohen Tresen. Dieser reichte mir bis unter die Achsen und ich hätte mich auf die Zehenspitzen stellen müssen, wenn ich mit der Wachtmeisterin hätte reden wollen, damit ich sie sah. Also war der Tresen gute hundertzwanzig Zentimeter hoch. Allerdings entdeckte ich im gleichen Augenblick zwei Stufen nach oben, auf ein Podest. So dass man am hinteren Ende des Tresens, gut darüber schauen konnte. Da die Kollegin eine Uniform trug, nahm ich stark an, dass sie zu den Mitarbeitern der Polizeidienststelle gehörte. Sie stand am Ende des Tresens und sah mich fragend an. Musterte mich mit einem Blick aus Neugier und Verärgerung, den ich nicht so richtig einordnen konnte.

"Guten Morgen, Ich bin Wachtmeisterin Sören, was kann ich für Sie tun?"

Ich salutierte, so wie man es uns beigebracht hatte. "Mam, Leutnant Kahlyn meldet sich zum Dienst, Mam. Mir wurde aufgetragen, mich bei Major Sender, heute punkt 7 Uhr zum Dienst zu melden, Mam."

Die Kollegin, die hinter dem Tresen stand, sah mich mehr als nur verwirrt an. Keine Ahnung, weshalb sie das tat. Ich überlegte ob ich etwas falsch gemacht hatte. Allerdings war ich mir keiner Schuld bewusst. Wir wurden auf den heutigen Tag, seit Wochen intensiv vorbereitet. Ich hatte alles genauso gemacht, wie man es uns beigebracht hatte. Da ich nichts mehr sagte, drehte sie sich um und ging zum Schreibtisch. Immer noch sichtlich verwirrt, griff die mir gegenüberstehende Kollegin, nach dem Telefon und wählte einige Nummern. Als der Angewählte das Gespräch annahm, meldete Sören sich im lockeren Plauderton. Dieser brachte nun mich meinerseits dazu irritiert zu gucken.

"Rudi, hier ist Sören von der Anmeldung. Erwartest du heute Besuch? Bei mir steht ein junges Mädchen, welches sich als Leutnant Kahlyn vorgestellt hat und mit dir reden will. Kommst du mal schnell nach vorn, bitte."

Der Gesprächspartner antwortete etwas, die Wachtmeisterin legte auf und kam, mit den Augen drehend, auf mich zu.

"Mal wieder typisch Senders. Tut mir leid. Du musst einen Moment warten. Es ist immer dasselbe, mit diesem Herrn dort hinten. Sender ist gerade in einer Besprechung und es dauert noch eine Weile. Willst du etwas trinken?", fragte sie mich freundlich.

Im gleichen Plauderton, mit dem sie gerade mit dem Major gesprochen hatte. Wo war ich hier nur hin geraden? Ging es mir durch den Kopf. Das konnte ja heiter werden. Wie konnte sie es wagen einen Vorgesetzten, ohne seinen Rang an zu sprechen. Ihn auch noch duzen. Das war respektlos und ungehörig, ging es mir durch den Kopf. Da ich nicht antwortete, nahm sie wohl an, dass ich nichts haben wollte.

"Komm mit. Ich zeige dir, wo du warten kannst."

Es war ungeheuerlich. Auch mich duzte sie einfach und sprach mich ohne Rang an. Aber man sagte uns in der Schule, wir sollten uns nicht gleich, in ein schlechtes Licht rücken. Also nahm ich es, wie es war. Außerdem waren mir persönlich Rangabzeichen, nie wichtig gewesen. Die waren nur unseren Lehrern und Betreuern wichtig. Ich selber, würde das aber nie tun. Mich irritierte dieses Verhalten total und verunsicherte mich noch mehr. Seit ich denken konnte, hatten wir immer alle, mit dem Rang ansprechen müssen. So etwas, ging einem ins Blut über. Wachtmeisterin Sören brachte mich in einen Wartebereich, in dem schon einige Leute saßen.

"Setz dich einfach irgendwo hin. Ich denke das wird ein wenig dauern. Wenn die eine Versammlung haben, dauert das meisten ein bis zwei Stunden. Also wundere dich nicht", erklärte sie mir auf dem Weg in den Wartebereich.

Kaum, dass wir den Raum betreten hatten, stürmten die Wartenden wütend auf die Wachtmeisterin zu. Alle sprachen auf gleichzeitig auf die arme Wachtmeisterin ein, um sich über die langen Wartezeiten, zu beschweren. Irgendwo tat sie mir jetzt leid, denn eins musste man ihr lassen, sie war ausgesprochen freundlich. Obwohl einige richtig bösartig zu ihr waren.

Ich nahm meinen Rucksack ab, stellte ihn und den Medi-Koffer in die Ecke. Von der aus, ich den gesamten Raum, im Auge behalten konnte. Stellte ich mich, etwas seitlich vor meinen Sachen hin. Die Beine etwas gespreizt, um das Gewicht gleichmäßiger zu verteilen, so konnte man einfach länger stehen. Nahm die Hände auf den Rücken und wartete darauf, dass man mich abholen würde. Hinsetzten kam für mich nicht in Frage, das durften wir nie. Auch, wenn es mir die Wachtmeisterin erlaubt hatte. Sören war im Rang weit unter mir und vor allem, hatte sie nichts mit der Abteilung zu tun, in der ich heute meinen Dienst antreten sollte. Ich wollte nicht wegen Ungehorsam, gleich den ersten Tag auffallen. Die Kollegin tat mir irgendwie leid, denn die Menschen die sich hier im Raum aufhielten, wurden immer ausfallender gegenüber Wachtmeisterin Sören. Einige davon wurden richtig laut und pulverten die Kollegen sogar an. So schlimm, dass ich am überlegen war, ob ich denn eingreifen sollte. Ich hörte verschiedene Satzfetzen, in diesem Durcheinander.

"Wie, das weiß ich…"

"Macht hin ihr faules Pack …"

"Unerhört…"

"Was erlaub…"

"Trinkt gefällig später euren Kaffee, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit, ihr faulen Säcke", brüllt sie ein älterer Herr an.

Ich war wirklich kurz, davor der Kollegin zu Hilfe zu eilen. Als Sören mit energischer Stimme für Ordnung sorgte.

"Ruhe", brüllte diese auf einmal in die Runde.

Mit einem Schlag verstummen alle im Raum Anwesenden.

"Verdammt noch mal Leute, es ist doch gerade einmal 7 Uhr durch. Normalerweise haben wir erst ab 9 Uhr für euch geöffnet. Also, auch wenn sie alle heute eher bestellt wurden, es dauert etwas. Es gibt Dinge die auch wir nicht beeinflussen können. Bitte setzten sie sich wieder hin. Wenn sie hier rumschimpfen und mich beleidigen, davon geht es auch nicht schneller", sprach Sören, jetzt wieder in einen ruhigen freundlichen Ton.

Ich bewunderte die Wachtmeisterin, dass sie trotz der Beleidigungen, immer noch so ruhig und besonnen handelte. Mein Respekt für sie wuchs. Denn sie handelte in meinen Augen sehr souverän. Sie lächelte gewinnend zu den Wartenden.

"Ich kann ihren Frust verstehen. Auch ist mir bewusst, dass heute der Zeitplan etwas sehr durcheinander geraden ist und dass es etwas länger dauert. Bitte haben sie auch für uns Verständnis. Die Kollegen sind vor fünfzehn Minuten erst von einem Einsatz zurückgekommen. Also bitte, haben sie noch einen Moment Geduld. Ich rufe sie gleich, nacheinander auf. Lassen sie meinen Kollegen wenigstens die Zeit zum Duschen und dass sie eine saubere Uniform anzuziehen können", erneut lächelte sie spitzbübisch zu den Leuten, die um sie herum standen. "Sie wollen bestimmt nicht von dreckigen und verschwitzten Polizeibeamten empfangen werden. Es muss doch wohl machbar sein, dass sie dafür Verständnis aufbringen."

Murrend und zum Teil immer noch vor sich hin schimpfend, gingen alle wieder auf ihre Plätze. Die Wachtmeisterin verschwand aufatmend, aus dem Wartebereich und nickte mir noch einmal kurz zu. Sofort war Sören verschwunden. Endlich wurde es wieder etwas ruhiger hier im Raum. Die Leute fingen an miteinander zu reden oder unruhig hin und her zu laufen. Ich hatte dadurch die Muse, alle genau zu beobachten.

Da war eine junge Frau, die ständig an ihren Nägeln kaute, so wie es Oberstleutnant Fiedler immer machte, wenn er nervös war. Lächelnd stellte ich das bei mir fest. Also gab es noch mehr mit dieser schlechten Angewohnheit. Bei ihr saß, eine ältere Dame die beruhigend auf sie einsprach und ihr ständig das Gesicht streichelte. Beruhigend lächelte diese Frau ihr zu. Der ältere Herr, der die Wachtmeisterin gerade so an gepulvert und beleidigt hatte, saß dagegen ruhig auf dem ersten Stuhl am Eingang und las in aller Seelenruhe eine Zeitung. Etwas abseits von allen saßen zwei junge Burschen. Diese stritten sich leise darüber, was sie sagen sollten. Die dachten bestimmt, dass ich auf diese Entfernung nichts hören würde. Eine Frau um die vierzig, saß kurz vor mir auf einen der Stühle und weinte still vor sich hin.

Es verging noch eine gute halbe Stunde, bis sich etwas tat. Es war bereits 7 Uhr 40, als es zu einer ersten Lautsprecherdurchsage kam und der erste Wartende aufgerufen wurde. Nach einander kamen alle an die Reihe und verließen den Raum. Langsam wurde es hier leerer. Neue Leute betraten den Raum, auch diese gingen wieder. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Viele der Bürger, die in der Wartezone Platz nahmen, starrten mich verwundert an. Musterten mich von Kopf bis Fuß. Einige fingen sogar an, über mich zu reden. Ich hatte keine Ahnung, warum sie das taten. Hatten sie noch nie eine Polizistin gesehen? Die hier warten musste. Oder lag es wieder einmal, an meiner dunklen Brille, die sie störte. Einige von diesen Menschen warfen mir, einen nicht gerade freundliche Blicke zu. Lange stand ich nun schon in meiner Ecke. Siebenundvierzig Menschen kamen und gingen wieder. Nur ich wartete immer noch hier und wurde nicht aufgerufen oder abgeholt.

Zum Schluss war ich froh darüber, dass ich nur noch alleine im Raum war. So wurde ich wenigstens nicht mehr angestarrt. Mittlerweilen ging es schon mit großen Schritten, auf 14 Uhr zu. Ich stand seit fast sieben Stunden, wartend in dem Raum. Das störte mich nicht besonders, da ich diese Warterei aus der Schule kannte. Dort ließen uns die Vorgesetzten auch gern einmal warten. Nur, um einen auf diese Weise gefügiger zu machen oder weichzukochen, wie ich das immer nannte. Deshalb waren wir es gewohnt, irgendwo herumzustehen und zu warten. Es gab für uns schlimmere Strafen, als den Befehl ein einem bestimmten Fleck stehenbleiben zu müssen.

 

Kurz nach 16 Uhr, kam die junge Wachtmeisterin wieder in den Raum. Erschrocken und noch mehr darüber erstaunt, mich immer noch an derselben Stelle stehen zu sehen, fuhr sie mich ziemlich barsch an.

"Wieso bist du denn noch hier? Sag bloß, du hast die ganze Zeit hier gestanden?", erkundigte sie sich verwundert bei mir, mit einer ziemlichen Wut im Bauch, die ich auf mich bezog.

Was hätte ich denn machen sollen? Zum Ersten, wusste ich nicht, wo ich hätte hingehen sollen und zum anderen, hatte sie mir doch gesagt, ich sollte hier warten, bis ich geholt werden würde. Da ich nicht aufgefordert wurde, zu sprechen, gab ich auch keine Antwort.

"Sag mal, kannst du oder willst du nicht reden? Mach den Mund auf, verdammt nochmal, wenn ich dich etwas Frage. Vor allem setze diese bescheuerte Brille ab. Hier scheint doch keine Sonne", herrschte sie mich ziemlich ungehalten an.

Der Tag musste wohl sehr stressig gewesen sein. Wachtmeisterin Sören, sie sah ziemlich fertig aus.

"Mam, sie hatten mich heute früh dazu angehalten, ich soll hier warten, bis ich geholt werden, Mam. Das tue ich auch, Mam. Ich wurde bis jetzt noch nicht aufgefordert, irgendwo anders hinzugehen, Mam. Außerdem, beantworten sie sich die Frage doch einmal selbst, wo hätte ich hin gehen sollen, Mam? Ich kenne mich hier überhaupt nicht aus, Mam. Wir beachten gegebene Befehle sehr genau, Mam. Mir wurde gesagt, ich soll alle Befehle, aufs Genauste befolgen, Mam, die man mir hier auf der neuen Dienststelle gibt, Mam. Die Brille muss ich auflassen, entschuldigen sie, Mam. Das Licht ist nicht gut für meine Augen, Mam."

Die Wachtmeisterin sah mich zweifelnd an. "Ja klar, das sagen sie alle. Runter mit der Brille, Sender wird verrückt, wenn er dich mit der Brille sieht", poltert sie gleich wieder los. "Heute war hier den ganzen Tag der Teufel los. Ich bin eh schon am kochen. Also ärgre mich nicht zusätzlich. Das bekommt hier keinen."

Wieder ließ ich die Beschimpfungen, an mir abprallen. Was sollte ich auch dazu sagen? Was ich ihr am liebsten sagen würde, wäre nicht gut, schon gar nicht an meinem ersten Tag hier.

"Verdammischt nochmal, hat es dir die Sprache verschlagen oder hast du deine Stimme und deine Ohren verloren. Nehm die Brille ab. Habe ich dir eben schon einmal gesagt und rede verdammischt nochmal, mit mir."

Ich schluckte, die in mir aufkommende Wut herunter. Leise und ruhig antwortete ich ihr, um sie aufzuklären, dass auch sie eine Rangordnung einzuhalten hatte. Was war das hier nur für ein Sauhaufen von Dienststelle, ging es mir durch den Kopf? Wo war ich hier nur hingeraten? Dass konnte ja noch heiter werden, tief holte ich Luft.

"Mam, ich habe den Befehl von meinem Oberstleutnant, die Brille immer aufzulassen, Mam. Da sie als Wachtmeisterin, im Rang unter ihm stehen und auch mir Rangmäßig unterstehen, Mam, werde und muss ich ihrem Befehl nicht gehorchen, Mam. Major Sender, steht auch rangmäßig unter meine ehemaligen Vorgesetzten, Mam. So dass ich, solange ich noch nicht mit ihm persönlich gesprochen habe und keinerlei anderen Befehlen bekomme, meinem jetzigen Vorgesetzten gehorchen muss, Mam. Da er mein neuer Vorgesetzter ist, werde ich seinen Befehlen, dann auch Folge leisten, Mam. Aber erst, nachdem ich mit ihm persönlich gesprochen habe und damit offiziell zum Team gehöre, Mam. Bis zu diesem Zeitpunkt, gelten noch die Befehle, die ich von meinem Oberstleutnant bekam, Mam, solange bin ich noch Mitglied des Teams 98, deren Teamleiter ich war, Mam. Die Befehle meines alten Vorgesetzten waren eindeutig, Mam. Ich sollte die Brille immer auflassen, Mam. Natürlich antworte ich ihnen, Mam. Wenn sie eine Antwort von mir verlangen, Mam", wütend raufte sich die Wachtmeisterin, ihre roten kurzgeschnittenen Haare. Noch wütender herrschte sie mich an.

"Na das kann ja heiter werden, mit dir. Komm mit."

Ich nahm meine Sachen auf und folgte ihr sofort. Ich war froh hier endlich verschwinden zu können. Lange genug hatte ich hier gestanden und gewartet. Wir gingen durch einige andere Zimmer hindurch und kamen wieder in einen Flur. Gleich darauf betraten wir einen großen Bereitschaftsraum. Ohne vorherige Ankündigung, fing Wachtmeisterin Sören an, in den Raum zu brüllen. Wütend lief sie auf einen muskulösen, unrasierten hundertfünfundachtzig Zentimeter großen etwa fünfundneunzig Kilo schweren Kollegen zu. Der etwa neununddreißigjährige, allerdings schon grauhaarige Mann sah sie lächelnd an. Mit beiden Fäusten schlug sie dem Kollegen vor die Brust.

"Sag mal Rudi, hast du jetzt endgültig deinen letzen Verstand verpennt? Oder tickst du generell nicht mehr ganz sauber? Nicht genug, dass heute vorn in der Anmeldung die Hölle los war. Nein, das reicht ja nicht, um mich auf die Palme zu bringen. Es reicht auch nicht, dass ich ständig von den Leuten vollgemotzt werde. Nein ... nein ... nein ... das ist immer noch nicht genug", dabei funkelte sie den Major mit bösem Blick an. "Nein, weil das nicht genug ist, schickt man auch noch so ein Greenhorn zu mir. Was mich belehren tut. So einen alles besser wissenden kleinen und noch nicht einmal ausgewachsenen Leutnant. Der kaum über die Tischkante gucken kann und beim Pinkeln Hilfe braucht. Vor allem, von nix keine Ahnung hat, weil er noch grün und feucht hinter den Ohren ist. Der mich über die Rang und Befehlsfolge belehrt. Nein, das reicht auch noch nicht. Da gibt es auch noch so einen grauhaarigen blöden Major der scheinbar sein Hirn verpennt hat. Rudi, ich habe dich heute früh, um punkt 7 Uhr darüber informiert, dass du Besuch hast", brüllte sie ihn jetzt richtig an und schlug dabei, jedes Wort betonend, gegen Senders Brust. "Aber den Herrn Major, stört das ja überhaupt nicht. Nein der hat ja so viel zu tun, dass er sich nicht einmal rasieren kann. Was soll dieser, alles besser wissende Leutnant, eigentlich von uns denken? Frage ich dich. Schämst du dich überhaupt nicht? Du stehst hier wie aus einen Lumpensack gezogen und machst nicht mal deinen Job. Geschweige denn, dass du dich um deine Besucher kümmerst", böse und immer wütender, hämmerte sie gegen die Brust des Majors.

Sender dagegen, griente vor sich hin.

"Da kannst ruhig lachen Rudi. Ich finde das schon ganz schön bösartig von dir. Auch wenn sie ein Greenhorn ist, kann sie mir nur leidtun. Die junge Frau, steht ... höre bitte genau hin ... STEHT ... jetzt seit heute früh um 7 Uhr, vorne in der Wartezone und du kümmerst dich nicht um sie. Was issen das für ne Sauerei?"

Erschrocken beobachte ich, das ungebührliche Verhalten der Wachtmeisterin. Ich holte gerade tief Luft, um sie in die Schranken zu weisen. Sah hinter meinen schwarzen Brillengläsern, von einem zum anderen. Noch nie in meinem Leben, hatte ich so eine Ungeheuerlichkeit erlebt. Allerdings beobachteten alle hier im Raum anwesenden Kollegen, lachend diese sich abspielende Szene.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Eine Wachtmeisterin, schrie einen Major an und schlug diesen sogar. Das durfte es nicht geben. Egal, was der Vorgesetzte machte, er war immer im Recht und keiner hatte sein Tun in Frage zu stellen. Das hatten wir von klein auf gelernt. Major Sender hatte wohl ein sehr gutes Gespür, für seine Untergebenen. Aus irgendeinem Grund, bekam er mit, wie sehr mich das Verhalten der Wachtmeisterin erschreckte.

"Na, na Ines. Was ist denn in dich gefahren? Hat dich der böse Stier geritten? Sag mal, was soll die Kleene von dir denken?"

Jetzt reichte es ihm allerding, als die Wachtmeisterin immer noch gegen seine Brust trommeln wollte. Plötzlich griff er ihr in die Taille, hob sie einfach ein Stück hoch.

"So, ist es besser, Ines, da wird die Brust gleichmäßig blau."

Plötzlich fing Sören an, schallend zu lachen. "Ach Manne. Rudi lass mich runter. Heute ist wohl nicht mein Tag. Aber eine Schweinerei ist das trotzdem. Die Kleene so lange warten zu lassen. Eine Riesensauerei sogar. An Ihrer Stelle, würde ich mir aber von dir die Füße massieren lassen. Komm las mich runter. Ich hab mich ja schon wieder beruhigt."

"Da bin ich aber froh Ines", lachend setzte sie Sender wieder auf ihre Füße. Dann sah er in meine Richtung. "Guck nicht so Kleene, da musst du dich bei uns dran gewöhnen. Die Wachtmeisterinnen sind hier frech und undiszipliniert. Zum Glück haben wir hier nur eine von der Sorte", lachend schlägt er der Wachtmeisterin auf die Schulter und grinste sie frech an. "Stimmt's Ines. Frech seid ihr und vorlaut. Aber sonst ganz nett."

Die grinste den Major jetzt ebenfalls breit an.

"Das muss ich hier ja auch sein, Rudi. Sonst klappt, in dem Saustall hier ja gar nichts. Wir würden im Chaos versinken, ihr Männer, seid zu nix zu gebrauchen."

Grinsend drehte sie sich herum, winkte kopfschüttelnd ab und ging auf die Tür zu. Dort angekommen, drehte sie sich noch einmal zu mir um.

"Kleene, wenn der dich zu sehr ärgert, kommst du vor zu mir. Ich bringe ihn schon zur Raison. Lass dir ja nicht zu viel gefallen, von der Bande hier. Wir Frauen müssen zusammenhalten, gegen diese Bagage von Männern. Die sind furchtbar arrogant und denken alle, sie sind die Superhelden schlecht hin. Nur weil sie beim SEK sind. Pfff… dabei sind die auch nur aus Fleisch und Blut, genau wie du und ich", laut lachte sie und ging grinsend zur Tür, um den Raum zu verlassen.

Komischerweise lachten die Kollegen, mit ihr zusammen. Ich glaube ihr war überhaupt nicht bewusst, dass sie mir mit diesen Worten, gar keinen Gefallen getan hatte. Jetzt wusste ich gar nicht mehr, was ich von der Sache halten sollte. Ironie oder Flaxereien waren mir unbekannt. Das hatte man uns, auf der Schule nicht beigebracht. Ich war geschockt von Verhalten der Wachtmeisterin, sprach sie ihren Vorgesetzten und mich ohne Rang an. Gerade überlegte ich, ob ich mich dazu äußern sollte oder mich gar, bei meinem Vorgesetzten entschuldigen sollte. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich schüttelte unbewusst meinen Kopf, so fassungslos war ich.

In diesem Moment sprach mich Sender an. "Entschuldige bitte, ich hab dich total vergessen. Wir waren die letzten beiden Tage, bei einem schweren Einsatz und sind nicht zum Schlafen gekommen. Ich war todmüde und wollte mich nur eine Stunde hinlegen, bin tief und fest eingeschlafen. Verzeih einem alten Herrn, der ab heute dein neuer Chef sein wird. Wie ein Lump und unrasiert vor dir steht. Komm erst mal zu mir ins Büro."

 

Wortlos drehte sich Senders um und winkte mir zu ihm zu folgen. Ich lief hinter ihm her, betrat kurz darauf ein kleines Büro. Sender ging als erstes zu einer Kaffeemaschine und goss sich eine große Tasse Kaffee ein. Er drehte sich um und fragte.

"Möchtest du auch einen Kaffee?"

Da ich nicht antwortete, wie denn auch, er hatte mir nicht erlaubt zu sprechen. Außerdem war ich es nicht gewohnt, dass mir ein direkter Vorgesetzter Kaffee anbot. Deshalb nahm er an, dass ich keinen wollte und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Dann bat er mich auch Platz zu nehmen. Das erste Mal bat mich ein unmittelbarer Vorgesetzter, mich zu setzen. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das hatte man uns auf der Schule nicht beigebracht. Also blieb ich lieber stehen.

"Setzte dich, verdammt noch mal. Ich bin viel zu müde, um dich stehen zu sehen", sprach Sender in dem Befehlston, den ich gewohnt war.

So nahm ich erst meine Personalunterlagen, aus meinem Medi-Koffer und reichte sie Major Sender, wortlos. Dann setzte ich mich, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte machen sollen. Er nahm meine Unterlagen wortlos entgegen und warf sie achtlos auf einen Stapel anderer Ordner und trank einen großen Schluck Kaffee. Müde rieb er sich das Gesicht.

"Nun schieß mal los, Kleene. Erzähle mir etwas über dich. Vor allem nehme, verdammt nochmal, diese Brille ab. Wieso trägst du die überhaupt, hier im Raum? Es scheint ja wohl keine Sonne hier? Ich möchte den Leuten mit denen ich rede, in die Augen schauen können. Ein Benehmen habt ihr jungen Volk heutzutage", wütend schüttelte er den Kopf.

Ich zögerte, da ich keine Kontaktlinsen trug. Soweit hatte ich nicht gedacht. In der Schule war es ein ungeschriebenes Gesetzt, dass wir die Brillen zu tragen hatten. Wenn nicht, durfte man den Betreuern nicht in die Augen sehen.

"Wird's nun mal oder brauchst du Hilfe?", donnert Sender los.

Da ich nicht gleich am ersten Tag, mit meinen neuen Vorgesetzen, ein schwerwiegendes Problem bekommen wollte, nahm ich wie befohlen, wenn auch zögerlich die Brille ab. Richtete aber meine Augen, auf die Füße. Hier war alles so anders, als ich es kannte. Nicht einmal bei Oberst Fleischer in der Soko Tiranus, lief es so ab, wie hier. Ich war völlig durch den Wind. In der Schule hatten wir, alles immer wieder durchgesprochen. Aber nichts von dem, was ich dort gelernt hatte, konnte ich hier anwenden. Man befahl mir nicht zu sprechen, verlangte Dinge von mir, die mir stets verboten waren. Ich war das erste Mal, in meinen Leben richtig überfordert und völlig verunsichert. Das brachte meinen Vorgesetzten, Major Sender, zur Weißglut.

"Verdammt nochmal, muss ich dir eigentlich jedes Wort aus der Nase ziehen. Rede endlich mit mir."

Ich richtete meinen Blick auf, sah an Major Sender vorbei. "Sir, ich weiß nicht was ich Ihnen sagen soll, Sir. Alles, was sie wissen müssen, steht in meinen Papieren, Sir", sprach ich leise und richtete meinen Blick, wieder auf den Boden. Dieser kleine Moment des Aufsehens hatte genügte, brachte Senders dazu erschrocken zurückzuzucken. Ich hatten ihn damit völlig aus der Fassung gebracht.

Ich hatte keine Ahnung, wieso alle anderen unsere Augen, als so abschreckend empfanden. Für uns waren sie wunderschön. Fast jeder von uns besaß andere Augen. So schimmerten Rafiks Augen in einem Silbrigen-Blau-Schwarzen-Ton. Tejas und Sinas, sind dagegen Silbrig-Grün. Raikos Augen hatten die Farbe von einem mit Silber überzogenen Regenbogens, sie enthielten alle Farbnuancen. Rashidas und meine Augen waren dagegen von Silbrig-Rot-Orange Farbe, wie das Rot der aufgehenden Sonne im Frühjahr. Die Augen von Cankat hatten dagegen, von einem Silbrig-Gelben-Ton, wie der Mond. Andi und Jaans dagegen, waren Silbrig-Türkis, wie das in den Mondschein getauchte Meer. Ich konnte mich an ihnen nicht satt sehen. Ich fand die Augen der Betreuer immer noch schön, weil sie so einem schwarzen Punkt in der Mitte hatten, der mal größer und mal kleiner wurde, je nachdem wie viel Licht vorhanden war und weil sie mit weiß umrandet waren. Aber unsere Augen, fand ich nicht abstoßend oder gar erschreckend. Sie waren halt nur ganz anders als die, der anderen Menschen. Jedoch immer, wenn wir ausversehen jemanden ohne unsere Brillen oder Kontaktlinsen ansahen, erschraken sich die Leute fast zu Tode. Ich fand dies immer eigenartig. In der Zeit als mir diese Gedanken durch den Kopf schossen, fing sich Sender wieder.

"Was ist mit deinen Augen passiert. Wieso sind die so komisch?", fragend sah er mich an.

Ich konnte nicht antworten, da er es mir nicht erlaubt hatte, also schwieg ich wieder. Was mir die nächste Rüge einbrachte.

"Verdammt nochmal, rede endlich mit mir. Wenn du hier arbeiten willst", brüllte er mich an.

Erschrocken sprang ich auf und stand stramm vor seinen Schreibtisch. Ich nahm die Hände hinter den Rücken, wie wir es gelernt hatten und spannte die Muskulatur an. Darauf gefasst Schläge abzubekommen. Es kamen aber keine, nur brachte mein Verhalten mir den nächsten Anpfiff ein.

"Sprich mit mir verdammischt nochmal." Sender war kurz davor völlig die Beherrschung zu verlieren.

"Sir, sie hatten mir nicht erlaubt zu sprechen. Sir", erklärte ich leise und wartete auf eine Strafe, weil ich es mir gewagt hatte, meinen Vorgesetzten zu kritisieren. Es kam aber keine Schläge.

Sender sah mich ernst an. "Hör mal zu Kleene. Ich habe nicht die Lust und auch nicht die Nerven dazu, dir nach jeder Frage erst die Erlaubnis zu geben, etwas zu sagen. Wenn dich hier jemand etwas fragt, dann hast du sofort zu antworten. Egal ob der im Rang über oder unter dir ist. So, wie du das willst, ist doch gar keine vernünftige Unterhaltung möglich. Hast du das jetzt verstanden?"

"Sir, jawohl, Sir"

Ernst musterte er mich nochmals. "Also mein Fräulein, nun mal raus mit der Sprache, was soll ich hier mit dir machen und was ist mit deinen Augen."

"Sir ich weiß nicht, was sie von mir wissen wollen, alles was sie wissen müssen, steht in meiner Akte, Sir. Wir sind in allem ausgebildet, was ihre Männer auch können, Sir. Es gibt einiges, da sind wir Ihren Männer überlegen und weiter ausgebildet, Sir. Wegen meiner Augen, die sind halt wie sie sind, Sir. Entschuldigen Sie, ich hätte die Kontaktlinsen rein machen sollen, es war mein Fehler, Sir. Aber in der Schule, sollten wir nicht den ganzen Tag die Kontaktlinsen tragen, weil diese nicht gut für die Augen ist, Sir. Deshalb sagte man uns, sollen wir lieber die Brillen aufsetzen, da man unsere Augen immer als abstoßende empfunden hat, Sir. Ich weiß nicht, warum sie so sind, das sind sie schon lange ich denken kann. Sir."

Ich stand immer noch vor seinem Schreibtisch und hielt beharrlich die Hände auf den Rücken.

"Setz dich hin. Du bringst mich langsam zur Weißglut. Es wird doch möglich sein, von dir zu erfahren, wie du heißt, wie alt du bist, wer deine Eltern sind, ob du Geschwister hast, Freunde? In welcher Schule warst du, welche Abschlüsse hast du und und und…", genervt holte er tief Luft. Er stand auf und holte sich den nächsten Kaffee.

"Möchtest du etwas trinken?" Wollte er jetzt von mir wissen. Als er sich wieder setzte, nahm er sich nun doch meine Akte vor.

"Sir, nein, Sir."

Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Auf alles hatte man uns vorbereitet, aber nicht auf so ein Gespräch.

"Sir, darf ich offen sprechen? Sir", erbat ich mir vorsichtig die Sprecherlaubnis. Ich handelte mir genug Rügen ein, für meinen ersten Tag in der neuen Dienststelle. Sender nickte ungeduldig.

"Sir, ich bin Leutnant Kahlyn, ausgebildete Polizistin für den Einsatz in Krisengebieten, im In- wie auch Ausland, Sir. Ich habe in vielen Dingen Abschlüsse, die können sie alle in meiner Akte einsehen, Sir. Ich habe alle mit Ausgezeichnet bestanden, Sir. Ich habe mein Abitur mit 1,0 und 839 Punkten gemacht, habe mein Offizierspatent mit "ausgezeichnet" bestanden, Sir. Bei meiner Approbation in Allgemein Medizin, Chirurgie und militärisch-medizinischen Ausbildung habe ich die "summa cum laude" erhalten, was der Note 1,1, entspricht, Sir." Ich schluckte trocken. "Sir, ich weiß nicht was Eltern sind und Geschwister. Ich habe so etwas nicht, Sir. Meine Freunde sind wie ich, heute den ersten Tag bei ihren neuen Einheiten. Ich denke, denen wird es nicht besser gehen wie mir, Sir. Ich weiß, wenn ich ehrlich bin nicht, was Sie von mir wollen. Sir", erklärte ich ihm leise.

Ich setzte mich wieder. Es war eh egal, was ich machte. Alles war einfach falsch, dachte ich bei mir. Gleich würde er Oberstleutnant Mayer anrufen und sich über mein ungebührliches Verhalten beschweren. Ich verstand die Welt nicht mehr, alles war aus dem Gleichgewicht. Nichts war mehr so wie es sein sollte. Mir war schlecht, mein Herz schlug bis in den Kopf und alles in mir zitterte. Dieses gemeingefährliche Schwappelmonster, machte sich wieder in meinen Magen breit. Es schwappte gefährlich, immer hin und her, mir war richtiggehend schlecht. Wenn ich noch einen Moment stehen geblieben wäre, hätte es mir die Beine weg gezogen. Ein Gefühl, wie ein heißer Sandsturm, machte sich in meinem ganzen Körper breit. So etwas hatte ich noch nie gefühlt. Ich vermisste meine Freunde, fühlte mich einsam und allein, wie noch nie in meinem ganzen Leben. Sender merkte wohl, dass er zu hart zu mir gewesen war. Je länger ich sprach, umso leiser wurde ich. Einfach weil ich unsicher war, was ich sagen sollte. Man befahl uns in der Schule ausdrücklich, nichts aber rein gar nichts, über die Schule zu erzählen. Wenn die Frage auf Details kam, sollten wir immer sagen.

"Alles was sie wissen müssen, steht in meiner Akte."

Aber ich sollte meinen Vorgesetzten gehorchen, auch das hatten wir in der Schule gelernt. Ich war verwirrt und mein Kopf brannte, wie Feuer. Es war kein Gedanke mehr dort, wo er sein sollte. Alles war durcheinander. Mir war schlecht vor Hunger und ich hatte fürchterlichen Durst.

Sender stand auf und kam um seinen Schreibtisch herum. Wieder tat er etwas, mit was ich nicht rechnen konnte. Er hockte sich vor mich hin und hob meinen Kopf an, indem er unter mein Kinn griff und mich dazu zwang ihn anzusehen. Denn immer noch schaute ich auf meine Füße. Diesmal jedoch, wich er nicht vor meinen Augen zurück, sondern sah mir ins Gesicht.

"Kleene, sag mir mal, wie alt du bist?"

"Sir, ungefähr 16 Jahre, Sir."

Er sah mir lange in die Augen und lächelt. "Wie ungefähr? Sag mal, um Himmels Willen, wann und wo hast du das alles gelernt. Die Leute die da draußen sind, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt und keiner hat so viele Ausbildungen abgeschlossen, wie du", plötzlich unterbrach er sich, als ob ihn eine Idee gekommen wäre. "Entschuldige mich kurz, ich muss mal kurz telefonieren. Bleib einfach sitzen", sprach er lächelnd zu mir.

Senders stand auf und griff zum Telefon, wählte eine Nummer.

"Genosse Oberst, Major Sender am Apparat von der SEK 61. Entschuldigung, dass ich sie jetzt noch einmal störe. Aber ich habe hier in der Wache ein echtes Problem. Ich bekam heute eine sechzehnjährige für mein SEK zugeteilt. Das kann doch nur ein Irrtum sein? Sie ist doch viel zu jung für uns, wie soll ich sie einsetzen?"

Lange sprach der Oberst am anderen Ende der Leitung, nach einer reichlichen viertel Stunde, sagte Sender dann.

"Jawohl Genosse Oberst, ich werde das bedenken. Es ist ihr Befehl. Sie wissen aber, dass ich nur unter Protest gehorche. Unsere Einsätze, sind viel zu gefährlich für die Kleene."

Man sah ihm an, dass er mit einem sehr mulmigen Gefühl den Hörer auflegt. Senders stand einen Moment lang kopfschüttelnd da, daran merkte man, dass er die Welt nicht mehr verstand. Denn dies konnte man seinem Gesicht und seiner Haltung ablesen. Tief Luft holend wandte er sich wieder mir zu.

"Wie du gerade gehört hast, habe ich den Befehl bekommen, dich wie die anderen zu behandeln. Das werde ich auch ab sofort tun. Trotzdem finde ich, bist du viel zu jung. Du bist doch noch fast ein Kind. Noch dazu ein Mädchen. Ich habe keine Ahnung, wie ich dich einsetzen soll. Aber, das wird sich finden, mit der Zeit. Glaubst du, dass du dieser Arbeit gewachsen bist?"

Wieder hockte er sich zu mir, um in meine Augen zu sehen. Eine ungeheurere Wut stieg in mir empor. Was bildete sich dieser Major eigentlich ein. Natürlich war ich dem gewachsen. Um Sender nicht anzuschreien, sprach ich ganz leise, in einem eisigen Ton zu Ihm. So wie ich es immer mit dem Oberstleutnant gemacht hatte, wenn ich sehr wütend war.

"Sir, ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, Sir. Alles, was ich kann, lernte ich auf unserer Schule, Sir. Auch die medizinische Ausbildung bekamen wir dort, Sir. Ich war in der Schule über fünfzehn Jahre der Teamleiter und der Leitende Sanitätsoffizier, Sir. Bei uns wurden keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gemacht, Sir. Bei den Einsätzen, die wir bis jetzt gemacht haben, Sir. In Kambodscha, Kuba, Vietnam, Polen und wo wir sonst noch überall waren, Sir, hat keiner zu uns gesagt, dass wir zu jung seien oder etwas nicht konnten, Sir. Wir sind seit dreizehn Jahren im ständigen Kampfeinsatz, Sir. Wir bekamen unsere Befehle und gehorchten, Sir, so wie man uns das beigebracht hat, Sir. Keiner von meinen Leuten ist dort gefallen, wenn ich das verhindern konnte, Sir, alle kamen, wenn irgend möglich, aus dem Kampf wieder nach Hause, Sir. Warum das bei uns anders ist, Sir, kann ich Ihnen nicht sagen, Sir, schauen sie doch einfach in meine Unterlagen, Sir, da steht alles drinnen, Sir. Alles, was Sie wissen müssen, Sir, hat man uns gesagt auf der Schule, Sir, hat man für sie extra aufgeschrieben, Sir. Was sie nicht wissen müssen und sie nichts angeht, steht nicht in der Akte, Sir. Dies werden sie auch nicht von mir erfahren, SIR."

Ich glaube das war der längste Satz, den ich je zu einem unmittelbaren Vorgesetzten sagte, in meinem ganzen Leben. Das waren wahrscheinlich die richtigen Worte gewesen. Sender lächelte mich auf einmal an.

"Na siehst, so schwer war das doch nicht. Ich weiß nicht, was sie in dieser Schule mit euch gemacht haben. Aber eins merke dir bitte. Sonst kommen wir beiden nicht gut miteinander aus. Antworte stets, wenn du gefragt wirst. Ohne, dass dich jemand dazu auffordern muss. Weißt du es wird, so denke ich, hier am Anfang sehr schwer für dich werden. Da wir wahrscheinlich, einen ganz anderen Umgangston  und Umgangsformen haben, als ihr es von eurer Schule gewohnt seid. Aber hast du dich daran gewöhnt, wird es dir gefallen", er wollte gerade aufstehen, hockte sich aber nochmal hin. "Weißt du, dass du wunderschöne Augen hast. Wegen mir musst du diese scheußliche Brille nicht tragen. Ich denke, wenn wir das den Anderen erklären, dass du andere Augen hast als wir, wird es die auch nicht stören. Wäre das etwas, was dir gefallen würde?"

Ich schaute ihn an. Der Mann der mich gerade angeschrien und zur Schnecke gemacht hatte, sprach auf einmal in einen ganz anderen Ton mit mir. Seine Stimme klang, ich wusste nicht wie ich es nennen sollte, eher so, wie die von Doko Jacob. Halt ganz anders. So wie bei der Wachtmeisterin, die ihn vor einer guten Stunde, zur Schnecke gemacht hatte.

"Sir, ich…" fing ich vorsichtig an.

"Was ist, spuck es ruhig aus, was du auf dem Herzen hast", er nickte mir aufmunternd zu.

"Sir, ich muss die Kontaktlinsen oder die Brille tragen, Sir, das Licht tut meinen Augen weh, Sir. Wenn ich zu lange ohne den Schutz bin, Sir, entzünden sich meine Augen ganz schlimm und ich kann erblinden, Sir. Nur, wenn es vollkommen dunkel ist, brauche ich diesen Schutz nicht, Sir."

Verwundert sah er mir wieder in die Augen und er sah jetzt auch die Tränen die sich darin sammelten.

"Wieso tut das Licht deinen Augen weh, Kahlyn?"

"Sir, ich weiß nicht, Sir, das ist schon immer so, Sir. Aber ich habe festgestellt, Sir, dass ich noch Dinge sehen kann, Sir, wenn andere schon Scheinwerfer und Ferngläser brauchen, Sir. Meine Augen sind viel empfindlicher als die von Euch, Sir, warum das so ist weiß ich nicht mehr, Sir."

Sender erhob sich, streichelte mir über den Kopf, erschrocken zuckte ich zusammen, dies heiß nie etwas Gutes.

"Ich tu dir nichts, Kahlyn. Du musst nicht zusammenzucken, wenn ich dir über den Kopf streichle. Komm einfach mal mit. Ich stelle dich deinen Kollegen vor und setze, wenn du dich wohler fühlst, deine Brille auf."

Er zog mich aus dem Stuhl hoch und schob mich aus seinem Büro. Ich setzte erleichtert die Brille wieder auf, meine Augen tränten und mein Kopf schmerzt von dem hellen Licht der Lampe. Meine Augen brannten wie Feuer. Abwechselnd wurde mir heiß und kalt. So schlecht ging es mir schon lange nicht mehr. Tausend Fragen schossen mir durch den Kopf, auf die ich keine Antwort wusste. Tief in mir rief ich nach meiner Rashida, aber es war da nichts als Leere und unendliche Einsamkeit. Kaum waren wir im Bereitschaftsraum angekommen, pfiff Sender einmal kräftig durch die Finger. Es war ein unvorstellbarer Lärm hier. Jeder sprach mit jedem und alle saßen bunt durcheinander. Als der Pfiff ertönte, wurde es schlagartig ruhig. Sender hatte die volle Aufmerksamkeit seines Teams.

"So Leute", fing er mit einem belustigten Unterton an, ich glaube er ahnte, was gleich geschehen würde. "Das hier ist Eure neue Kollegin Leutnant Kahlyn. Der Ersatz, den wir für Charly bekommen haben. Ich weiß, sie ist noch sehr jung. Aber, wenn sie das ist, was ich von Ihr denke, wird sie uns noch das eine oder andere Mal überraschen."

Es wurde wieder sehr laut in dem Raum. Alle sprachen durcheinander. Ich verstand einige der Satzfetzen wie.

"Was sollen wir mit dem Baby?"

"Die ist doch noch nicht mal trocken hinter den Ohren." oder

"Spielen wir jetzt Kindergarten" oder

"Jetzt verstehe ich die Welt nicht mehr."

Es war also Ablehnung auf der ganzen Linie. Wie ich es bereits bei Sender, vielen anderen SEK-Teams erlebt hatte. Ein Gedanke schoss mir durch den Kopf, der mich nicht mehr los ließ. Lag es wieder mal nur an mir? Ob die anderen auch solche Probleme hatten, wie ich? War es wieder einmal nur meine geringe Größe, weshalb ich mehr Ablehnung zu spüren bekam, als die Anderen meines alten Teams? Die waren alle um die zwei Meter groß und wirkten dadurch schon um vieles erwachsener und kompakter.

Sender ließ seine Kollegen erst einmal gewähren. Ließ sie den Dampf ablassen, wie er mir später erklärte. Er griff erst ein, als ein großer stämmig wirkender Mann, auf mich zutrat und mich anfassen wollte.

"John, das würde ich mir an deiner Stelle, zweimal überlegen. Auch wenn du größer bist als sie, unterschätze die Kleene nicht. Die ist besser ausgebildet, als ihr alle zusammen."

Jetzt verstummten die Anderen auch und beobachteten mich und Senders aufs Genaueste. Lachend drehte der Major sich zu mir um und bekam ein spitzbübisches Lächeln. Genau das gleiche Lächeln bekam der Oberst immer, wenn er mich auf seine neuen Ansetzte.

"Kahlyn, sag mal, könntest du dem kleinen John nicht mal zeigen, was du kannst?"

Senders grinste mich breit an und nickte mir aufmunternd zu.

"Sir, das kann ich gerne machen, Sir", ging ich auf dessen Vorschlag ein.

Das war endlich einmal etwas, auf dass man uns in der Schule vorbereitet hatte. Ich schaute ihn lange an, Sender meinte lächelnd.

"Du wirst doch nicht etwas Angst haben, vor unserem kleinen John?"

Na ja kleiner John, war schon etwas untertrieben. Dieser John war bestimmt hundertfünfundneunzig Zentimeter groß und wog bestimmt um die hundertzehn Kilo, reine Muskelmasse. Dagegen war ich wie immer eine kleine Zwecke, mit meinen gerademal hundertsechsundsechzig Zentimetern und knappen achtzig Kilo. Ein Zwerg gegen einen Riesen. Das war schon ein gewaltiger Unterschied: in der Größe, wie auch im Gewicht. Was Sender allerdings nicht ahnen und wissen konnte war, dass ich schon immer die Kleinste in der Schule war. Die anderen Schüler, waren alle mindestens von Johns Statur. Auch die Mädels waren alle über hundertachtundneunzig Zentimeter groß und um die hundertzehn Kilo, manche sogar noch um einiges schwer. Ich war es also gewohnt, gegen viel größere Gegner anzutreten. Ich schaute also erst den kleinen John an und dann fragend zu Sender. Dieser nickte mir zu, als er merkte, dass ich mir nicht traute, etwas zu sagen.

"Sir, was halten sie davon, wenn ich dem kleinen John, so haben sie ihn doch genannt, seine Pistole abnehme, Sir?"

Sender fing schallend an zu lachen. Der Rest der Truppe stimmte ein. Konnten sie sich doch alle nicht vorstellen, wie ich kleines Mädchen, das so jung aussah, gegen einen gut ausgebildeten SEK-Mann ankommen wollte. Sender sprach immer noch lachend.

"Na dann, zeig uns mal etwas von deinem Können." Ich knöpfte meine Uniformjacke auf, nahm die Brille ab. Ich zog aus meiner Hosentasche ein Band, welches ich über meine Augen legte. Die Brille, wäre bei dem Kampf nur störend und ging wie meistens, nur entzwei. Einige der in meiner Nähe stehenden, traten erschrocken einen Schritt zurück. Darunter auch der kleine John. Sender der nicht an meine Augen gedacht hatte, sagte nur kurz.

"Aber Leute, ihr werdet euch doch nicht, von andersartigen Augen abschrecken lassen oder ... und ... ein paar ... Muskeln?"

Ich war gerade dabei mein Uniformhemd auszuziehen und stand nur in einem Ärmelloses T-Shirt und der Hose da. Ich glaube, keiner hatte in mir ein Muskelpaket gesehen. Sondern sie sahen eher, einen kleinen dicklichen wirkenden Teenager. Ich sah fragend zu Sender, dieser nickte mir aufmunternd zu. 

"Sir, geben sie das Zeichen des Beginns, Sir?"

Der lachte wieder laut und von ganzem Herzen. Er stellte erschrocken fest, wie er mir nach dem Kampf gestand, dass er sich in mir geirrt hatte, als er sah wie muskulös ich war. Er hatte mich unterschätzt, etwas, dass man in unserem Job, niemals tun sollte.

"Na dann zeigt mal, wer von Euch beiden der bessere Nahkämpfer ist. Kahlyn, ach einen Tipp gebe ich dir noch. John ist unser Champion. Der beste Nahkämpfer unserer Teams, außerdem ist er unser Trainer."

John nutzte den kleinen Augenblick, in dem er dachte, dass ich durch die Augenbinde nichts sehe und durch Senders Hinweise unaufmerksam war und verlagerte sein Gewicht vom rechten auf den linken Fuß, um einen Schritt nach rechts zu setzen. In dem Moment zog ich ihm, da er unmittelbar vor mir stand, das linke Bein, mit einem derben und nicht ganz schmerzfreien Fußfeger weg. Brachte ihn auf diese Weise aus dem Gleichgewicht und mit einem schnell nachgezogenen, Ippon-seoi-nage, einem Schulterwurf zu Fall. Noch im Fallen, zog ich John die Waffe aus dem Halfter. Indem ich die Sicherung löste und diese herauszog. In dem Moment, als er den Boden berührte und durch den unerwarteten Aufprall nach Luft japste, schob ich ihm die Waffe, in den sich öffneten Mund. Das Ganze dauert keine zehn Sekunden. Der Champion und Trainer der Truppe, lag auf der Matte und schluckte seine eigene Pistole. Er hatte zwei Fehler gemacht, die man niemals tun sollte. Er zeigte deutlich an, was er vorhatte und vor allem aber, unterschätzte er seinen Gegner. Einen Fehler, den wir mit ein oder zwei Jahren machten. Uns allerdings ganz schnell abgewöhnt hatten. Sie brachten uns, nicht nur wüste Beschimpfungen ein, sondern auch sehr viel Schmerzen. Die Lehrer gingen nie zärtlich mit uns um. Ich glaube es dauerte nochmal zehn oder fünfzehn Sekunden, ehe die anderen begriffen, dass der Kampf schon vorbei war und ihr kleiner John wie gedeppert am Boden lag. Dann kam von irgendjemand ein erschrockenes.

"Autsch."

Wieder war es totenstill im Raum. Plötzlich sagte Sender ganz vorsichtig zu mir.

"Kahlyn, auch wenn du ihn besiegt hast, musst du ihn doch nicht gleich erschießen."

Mit einem Male löste sich die Spannung auf und alle im Raum fingen an zu lachen. Ich schaute innerlich erschrocken auf Sender. Ich war der Annahmen, dass sie über mich lachten. Aber alle lachten und schüttelten den Kopf. Weil niemand damit gerechnet hatte, dass ich gegen ihren John auch nur den Hauch einer kleinen Chance hatte. So zog ich den Lauf aus Johns Mund und hielt ihm meine Hand hin, um ihm beim Aufstehen behilflich zu sein. Ich griff nach meiner Brille und zog das Band von den Augen. Richtete mein Blick auf Senders Füße und hoffte so, auf die Erlaubnis zu sprechen zu dürfen.

Sender nickte.

"Sir, um John zu erschießen, hätte wenigstens eine Kugel im Lauf sein müssen, Sir, und vor allem wäre es zweckmäßig, Sir, die Waffe erst einmal zu entsichern, Sir."

Nach einen kleinen inneren Kampf, ob ich den letzten Satz noch sagen sollte, setzte ich noch ganz leise dazu.

"Sir, Außerdem würde ich mit so einer ungepflegten Waffe nicht schießen, Sir. Da müsste ich Angst haben, Sir, dass ich bei jedem Schuss eine Ladehemmung hätte, Sir."

Ich schaute John an, schlug ihm vor. "Sir, wenn sie wollen, kann ich die Waffe, für sie gern reinigen und neu justieren, Sir." 

Fragend blickte ich in Sender Richtung, dieser nickte mir lächelnd zu. "Sir, darf ich mir aus Ihrem Büro mein Pflegeset holen gehen, Sir?"

Der Major nickte verdutzt.

Ich steckte die Waffen hinten in meinen Hosenbund, um die Hände frei zu haben. Erschrocken sahen die anderen mir nach, als sie die Narben auf meinen Armen sehen und im Nacken sahen, die ihnen bis jetzt noch gar nicht aufgefallen waren. Allerdings bekam ich das nicht mehr mit, da ich bereits loslief, um den Waffen-Pflegekoffer aus meinem Rucksack zu holen. Als ich wieder im Bereitschaftsraum ankam, ging ich zu dem großen Tisch und legte die Unterlage aus dem Pflegekoffer darauf und zog die Waffe aus meinem Hosenbund. Vorsichtig nahm ich die Pistole auseinander. Da ich mich mit diesem Waffentyp, nicht sonderlich gut auskannte. Ich nahm meine Bürste, reinigte mit dem Waffen Öl den Lauf, innen wie außen. Danach entferne ich das Öl mit einem Lappen und reinigte die anderen Teile, wie den Verrieglungsblock, Schließfederführung etc. Danach fettete, ich alle Teile ein und entfernte das überschüssige Schmiermittel. Als ich damit fertig war, baute ich die Waffe wieder zusammen. Ich justierte sie wieder neu und sicherte sie. Nach nur zehn Minute war sie sauber und neu eingestellt. Damit war das erste Eis, bei meinen neuen Kollegen gebrochen. Auch John nickte anerkennend. Ganz leise sagte er zu mir

"Ich glaube, ich muss zu dir in die Lehre gehen. Bei mir dauert das viel länger. Die sieht ja wieder aus wie neu", grinsend drehte er die Waffe in seinen Händen und betrachtete sie von allen Seiten. Schließlich drehte er sich zu den anderen um.

"Was guckt ihr so, bei euch dauert das auch viel länger. Außerdem brauche ich meine Pistole eh nicht. Ich habe andere, vor allem effektivere Waffen."

Lachend sah er auf seine Hände. Daraufhin fingen alle an zu lachen. Ich wusste jetzt gar nicht mehr, was los war. Sender bemerkte sehr wohl, dass ich wieder einmal überfordert war, mit dem was hier vor sich ging. Er befreite mich, aus meiner misslichen Lage, mit der Bitte ihm zu folgen.

"Kahlyn, wir müssen noch einiges besprechen und ihr macht nicht wieder so einen Lärm. Da bekomme ich selbst in meinem Büro noch Kopfschmerzen. Was soll die Kleene von euch denken? Ach nein Kahlyn", änderte er nochmals seine Meinung. Ihm fiel in dem Moment ein, dass er mich noch ausrüsten musste. "Du gehst vorher erst mit John, nach unten in die Kleiderkammer und lässt dich komplett einkleiden. John die komplette Ausrüstung, mit allem drum und dran. Tony soll mich anrufen, die Scheine reiche ich ihm dann nach", lächelnd sah mich der Major an. "Ich glaube, mit dir haben wir doch nicht so einen schlechten Fang gemacht. Wenn ihr damit fertig seid, räumst du deinen Spind gleich ein und kommst im Anschluss wieder in mein Büro. Wir müssen noch einiges besprechen Kahlyn. John, sie bekommt den Spind von Charly. Der braucht ihn ja leider nicht mehr."

Kam noch eine Anweisung. In einen Ton, der mir wieder neu und ungewohnt in den Ohren klang. Schnell drehte sich Sender um und wollte in seinem Büro verschwinden. Er merkte wohl den Blick von John, deshalb drehte er sich an der Tür nochmals um.

"Ach John", meint er mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck, den ich noch nicht kannte. "Lass dich nicht wieder legen."

Foppte er John noch mal. John sah Sender böse hinterher. Dann sah er mich mit einem Blick an, der mich erschauern ließ.

"Na ich hoffe, du kannst Charly ersetzen, der war nämlich ein guter Mann."

An Sender gewandt. "Na so schnell erwischt sie mich nicht wieder, auf den falschen Bein."

Dann schlug er mir lachend auf die Schulter. Ich ließ es geschehen, ich wollte ihn nicht nochmal verärgern. Ich wusste mittlerweile, dass viele Kollegen enorme Probleme damit bekamen, dass wir schneller reagieren konnten, als sie. Nicht nur einmal hatten wir deshalb böses Blut bekommen. Ich hatte keine Ahnung, ob ich hätte etwas sagen sollen. Das war keine Frage gewesen, selbst wenn. Was hätte ich darauf antworten sollen? Alles, was ich hätte sagen können, wäre unpassend gewesen. Außerdem wagte ich mir nicht, ohne Erlaubnis etwas zu sagen.

Auch wenn John, mir wahrscheinlich gleichgestellt schien. Ich hatte keine Ahnung, was er für einen Dienstrang besaß. Alle hatten zwar ihre Overalls an, doch durch die Wärme, zogen sie die Oberteile aus und ließen sie einfach hinten herunter baumeln oder habe sie zusammengerollt, um die Taille gebunden, so wie John. Dadurch konnte man die Schulterstücke nicht sehen. So liefen alle nur in Unterhemden herum. Nur dann, wenn jemand nach vorn in die Wachstube ging, zog er das Overall-Oberteil an und schloss den Reißverschluss des Overalls. Trotz der netten Art, die John hatte und die ihn mir sofort symphytisch machte, konnte ich mit ihm nicht auf die Weise kommunizieren, wie ich es mit meinen Kameraden, stets getan hatte. Wieder fühlte ich eine heiße Welle, durch meinen Körper toben und mir wurde abwechselnd kalt und heiß. Das Schwabbelmonster begann wieder, in meinen leeren Magen zu rebellieren und mir war furchtbar schlecht. So lief ich John hinterher. In der Nähe der Duschräume blieb einfach ich stehen. John drehte sich um zu mir.

"Was ist los?", ernst sah er mich an. "Geht es dir nicht gut, du siehst so blass aus?"

Ich konnte nur nicken. Der Brechreiz wurde immer stärker. Keine Ahnung, was mit mir los war. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Viel schlimmere Situationen, meisterte ich schon. Aber hier war alles verkehrt. Mein Kopf brummte wie ein Bienenschwarm. Ich fühlte mich irgendwie krank. Hoffentlich wurde ich das jetzt nicht auch noch, das würde mir gerade noch fehlen. Der einzige Arzt den ich je vertraut hatte, war Doko Jacob. Alle anderen Ärzte, experimentierten nur mit uns herum. John der nicht wusste, was er machen sollte, sah mich durchdringend an.

"Suchst du die Toiletten? Da musst du noch ein Stück mitkommen. Die sind gleich da vorn."

Wieder nickte ich nur. Ich kämpfte immer noch, gegen den immer stärker werdenden Brechreiz. Wir liefen um eine Ecke, da zeigte John auf eine Tür.

"Dort", wies John mir den Weg.

Ich ging hinein. Kaum, dass ich den Deckel hoch gemacht hatte, erbrach ich Wasser, Galle und Blut. Dies war kein gutes Zeichen. Ich musste unbedingt, etwas zu mir nehmen. Sonst würde ich wirklich noch krank werden. Zum Glück beruhigte sich mein Magen langsam. Seit Chile war es schlimm bei mir geworden. Seit damals machte mir der Hunger, viel schneller zu schaffen, als sonst. Vor allem reagierte mein Körper, stets mit hohen Fieber auf den Nahrungsmangel. Mühsam versuchte ich mich zu beruhigen. Langsam, tief ein und ausatmend, ging ich ans Waschbecken. Legte meine Brille auf die Ablage und wusch mir das Gesicht und die Hände. Als ich in den Spiegel sah, erschrak ich vor mir selber. Tiefe Augenringe hatte ich unter den Augen und diese waren dick geschwollen. Ich sah erbärmlich aus, sehr blass und fiebrig. Verdammt noch mal Kahlyn, dachte ich bei mir, reiße dich ja zusammen. Du warst noch nie krank, wieso wirst du das gerade jetzt. Meine sonst goldbraune Hautfarbe, hatte mehr die Farbe eines hellen Graubrauns. Ich sah so aus, wie ich mich fühlte, einfach schrecklich. Tief atmete ich ein und aus und rieb mir mein Gesicht, damit ich wieder etwas Farbe bekam. Langsam ging es mir wieder etwas besser. Nochmals hielt ich die Hand unter den Wasserhahn und trank mich satt. Wenigstens hatte ich jetzt keinen Durst mehr. Schnell setzte ich die Brille wieder auf. Dadurch sah man die dunklen Augenringe nicht so. Holte noch einmal tief Luft und verließ die Toilette. John musterte mich genau.

"Na, geht es wieder besser?", erkundigte er sich bei mir.

"Sir, entschuldigen sie die Unannehmlichkeiten, Sir. Es geht mir wieder gut, Sir."

John schüttelte den Kopf. "Sag mal Kahlyn, kannst du diesen dämliche, Sir-Quatsch, nicht lassen? Ich spreche dich doch auch nicht mit Mam an. Sag einfach John zu mir. Das machen alle hier. Rangabzeichen, bedeuten nicht viel, wenn man sich bei jedem Einsatz, den Arsch decken muss. Oder wie siehst du das?"

Wieder stand ich da und das Monster in meinem Magen fing wieder an zu toben.

"Sir. Ich werde es versuchen, Sir."

John schüttelte wieder den Kopf. Ging aber weiter in Richtung Asservatenkammer, um in die dahinter befindliche Kleider- und Waffenkammer zu gelangen.

Hier wurden wir bereits erwartet. Tony wurde von Major Sender schon über unser Kommen informiert. Lachend sah uns, der etwa achtunddreißigjährige blonde und sehr schlanke Kollege an. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wandte sich an John

"Sag mal John, du konntest wohl nicht die Finger von der Kleenen lassen. Oder warum hat das so lange gedauert. Rudi hat mich schon vor zehn Minuten, über Euer Kommen informiert. Er war ganz verwundert, warum ihr noch nicht da wart. Oder hatte die Kleene dich wieder flach gelegt."

John gab seinen Kollegen, einen wohl etwas zu derben Klaps auf die Schulter, so dass dieser hopsend nach hinten sprang. Da erst sah ich, dass etwas mit seinem rechten Bein nicht stimmen konnte. Er hatte sein gesamtes Gewicht auf dem linken Bein.

"Sag mal, du musst mich doch nicht gleich umschmeißen, Depp, du großer. Nicht ganz so kräftig schlagen, wenn ich bitten darf. Einen Krüppel wie mich, schlägt man doch nicht", dabei lachte er schallend.

John dagegen war über seinen eigenen, viel zu heftigen Schlag erschrocken. "Tut mir leid Tony, ich hab wohl wieder einmal, meine Kräfte unterschätzt. Du weißt doch, dass ich keine Krüppel schlage", erklärte John mit zutiefst betrübter Mine, konnte sich aber ein Lachen nicht verkneifen.

"Na gut, weil du es bist. Ich verzeihe dir das eben noch mal. Dafür musst du mir dann, wenn wir mit der Kleinen hier fertig sind, ein bissel zur Hand gehen. Ich muss oben eine wenig umräumen, du weißt ja, ich und mein Bein, wir mögen beide keine Leitern."

John grinste übers ganze Gesicht. "Geht klar Tony, das ist ja das Mindeste, was ich für dich tun kann", wieder holte er zu einem freundschaftlichen Klaps aus.

Diesmal sprang dieser Tony gleich zurück und John klatschte daneben. Die beiden schienen dieses Spiel öfter zu machen. Nach dem ich mich erst einmal erschrocken hatte, bekam ich schnell mit, dass die beiden hier Freunde waren und miteinander Spaß hatten.

"Pech gehabt. Dieses Mal haste mich nicht erwischt."

Lachend kam dieser Tony auf mich zu und wollte mich um die Schultern fassen. An solche Gesten, war ich nicht gewöhnt. Also drehte ich mich weg. Verdutzt sah mich Tony an und zuckte mit den Schultern.

"Na, dann komm mal mit. Mal sehen, ob ich etwas Passendes für dich zum Anziehen finde. Das wird wohl schwer werden. Aber, wer sucht der findet immer."

Tony hatte wirklich viel Geduld. Die längste Zeit dauerte es, die richtige Kleidung für mich zu finden. Wie meistens, waren die Sachen zu lang oder zu eng. Das war schon immer mein Problem, weil ich einfach zu breit war, für meine Größe. Fast eine Stunde probierte ich Overalls, Uniformjacken, Blousons, Schuhe, Stiefeln, Galauniform an, bis alles passte. Dann bekam ich Hemden, Sweetshirts, T-Shirts, Trainingsanzüge, Unterwäsche, Armbinden, ballistische Schutzausrüstung, Schirmmütze, Cappy, Schlagschutzschild, Arm-, Knie- und Kopfschutz und die dazugehörigen Dienstgradabzeichen, etc. Dann ging es weiter in die Waffenkammer, dort bekam ich meine üblichen Waffen zugeordnet. Pistole und Scharfschützengewehr, lehnte ich dankend ab. Da war ich zu sehr an meine Waffen gewöhnt. Etwas irritiert sahen mich Tony und John an. Fragend schaute ich die Beiden an, die merkten, dass ich etwas sagen wollte.

"Was ist Kahlyn?", erkundigte sich John bei mir.

"Sir, wir bekommen in den nächsten Stunden unsere eigenen Waffen per Kurier, Sir. Mit denen wir schon seit Jahren eingeschossen sind, Sir. Sie sind auf unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse zugeschnitten, Sir. Allerdings, durfte wir nicht mit diesen Waffen hierher reisen, Sir, da wir mit zivilen Fahrzeugen hergebracht wurden, Sir", erklärte ich den beiden, warum ich die Waffen nicht brauchte.

Da mir Tony, unbedingt seine Waffen aushändigen wollte. Jetzt nickt er sofort verstehend. Zusätzlich bekam ich, da ich eine spezielle Nahkampfausbildung hatte, eine auf meine Ausbildung zugeschnittene Nahkampfausrüstung. Diese musste Tony allerdings erst bestellen. Da er nichts außer den Tonfas, das sind asiatische Kampfstöcke, auf Lager hatte. Zwei Sai, das sind gabelähnlichen Waffe, ein Dreizack, deren mittlere Zinken drei Mal so lang waren, wie die beiden äußeren. Einen Nunchaku, diese Waffe war nur sehr schwer zu beherrschen. Zwei Schlagstücke wurden mit einer Kette verbunden. Wir hatten sie immer die Kampfwürste genannt. Weil sie aussahen wie die Würste, welche die Betreuer manchmal aßen. Dann noch ein Satz Shuriken, das waren verschiedene Wurfsterne und Wurfmesser, die ebenfalls aus dem asiatischen Raum kamen. Die für einen geübten Werfer, zu einer tödlichen und präzisen Waffe und am Körper versteckt getragen wurden. Sie hatten uns in ausweglosen Situationen, nicht nur einmal das Leben gerettet. Weiterhin bekam ich Taschenlampen, Kompass, Spaten usw. John musste mit anfassen, um all die Sachen, nach oben zu meinem Spind und Waffenschrank zu bringen. Es war einfach zu viel Ausrüstung, da ich ja nur wenig Ausrüstung aus der Schule mitnehmen durfte. Oben angekommen, verstaute ich alle Sachen in meinen Spind und in meinen Waffenschrank. John ging nochmals zu Tony hinunter, um ihm etwas zur Hand zu gehen. Ich ging nach vorn, um meine Uniformjacke und das Hemd zu holen. Ein langer schmaler Koffer, ein etwas kleinerer Koffer und zwei lange schmale Etuis, alle mit Zahlenschlössern versehen, lagen auf dem Stuhl. Auf dem auch meine Jacke hing.

Erleichtert atmete ich auf. Bis jetzt hatte ich mich völlig unvollständig gefühlt, da ich nur ganz selten ohne meine Ausrüstung unterwegs war. Mein Herz machte einen Purzelbaum. Meine Waffen waren angekommen und somit hatte sich meine größte Angst nicht bestätigt, dass Mayer sich dieser bemächtigen würde. Ich war richtig froh darüber.

Ich ging zu meinem Waffenputzset, holte es und packte meine Waffen aus. Die Männer des SEKs kamen näher, ums sich meine Waffen anzusehen. Interessierten sie sich sehr dafür, welche Waffen ich da geliefert bekommen hatte. Erstaunen lag auf ihren Gesichtern, als sie meine zwei Pistolen Makarow PMM und mein M21 Scharfschützengewehr sahen. Waffen von denen jeder träumte. Diese Waffen hatten uns so manchen neidischen Blick eingebracht. Schossen die anderen Kollegen meistens, mit den Standartpistolen der Polizei, vom Typ TT33 und dem Scharfschützengewehr von Dragunow. Beides waren gute Waffen, allerdings lagen mir beide nicht, da sie einfach zu schwer waren. Aber man konnte ja nur das nutzen, was einem zur Verfügung stand. Ich war jedenfalls froh, wieder meine gewohnten Waffen zu haben. Ich reinige meine Waffen und legte sie zurück in die Koffer, verschloss diese wieder. Freudig wandte ich mich jetzt den beiden schmalen Etuis zu. Freudig deshalb, weil ich froh war, dass ich damals vor dem Einsatz in Chile, darauf bestanden hatte unsere Schwerter nicht mitzunehmen. Sonst hätten wir diese nicht mehr in unserem Besitz. Dieser Verlust hätte uns sehr geschmerzt, denn sehr schöne Erinnerungen hingen an diesen Waffen.

Damals in Chile, waren all unsere Waffen beschlagnahmt wurden und wir bekamen sie nie wieder. Ich öffnete lächelnd die beiden schmalen Etuis, in denen meine beiden Taiji Schwerter lagen. Die wir in China, von einem Mönch, als Dank für dessen Rettung bekommen hatte. Auch diese nahm ich heraus und ölte sie vorsichtig ein. Als einer der Männer nach einem der Schwerter greifen wollte, schüttelte ich nur leicht den Kopf. Er zog die Hand sofort zurück. Ich legte die Schwerter als ich fertig war mit deren Reinigung, zurück in die Etuis und verschloss auch diese wieder. Dann nahm ich alle Kisten, aber auch meine Sachen und das Pflegeset, ging nach hinten zu meinen Spinden. Stellte die Waffen ordnungsgemäß und auch das Pflegesetz an den gewohnten Platz. Aber auch die getragene, aber noch saubere Kleidung verstaute ich in den Schränken und verschloss sie sorgfältig. Danach zog ich, wie alle anderen einen Overall an. Kaum eine halbe Stunde später, hatte ich alle meine Sachen im Spind oder Waffenschrank verstaut. Ordentlich war alles eingeräumt, ich fühlte mich wieder etwas besser. Das erste Mal heute, das ich wusste, was ich zu tun hatte. Sofort machte ich mich auf den Weg, zu Senders Büro. Es dauerte ganz schön lange, mit der Einkleidung, aber dies war völlig normal. Die Uhr im Gang vor Senders Büro, zeigte bereits 19:12Uhr an.

Vor Senders Tür angekommen, klopfte ich an und trat nach Aufforderung ein. Sender war erstaunt darüber, dass ich schon mit allem fertig war. Er hatte noch gar nicht mit mir gerechnet. Trotzdem wollte er alles überprüfen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass ich ordentlich gearbeitet hatte. Zusammen gingen wir zu meinem Spind und Waffenschrank. Er inspizierte alles. Sender konnte es nicht fassen, dass ich all die Sachen, so ordentlich, in so kurzer Zeit einräumen konnte. Wieder verstand ich die Welt nicht, das war überhaupt nicht schwer. Wir waren es gewohnt in kurzer Zeit unser Schränke zu bauen. In der Schule war es oft der Fall gewesen, wenn die Betreuer uns nicht für irgendein Vergehen bestrafen konnten, dass sie nur so aus Langerweile, die Spinde einfach umkippten. Wir mussten dann immer, innerhalb zehn Minuten, alles wieder an Ort und Stelle haben. Wir hatten also sehr viel Übung darin.

Wieder im Büro angekommen, forderte mich Sender auf Platz zu nehmen. Wir sprachen über viele Dinge, die in meiner Akte standen. Sender hatte die Zeit genutzt, um in Ruhe meine Akte durch zu schauen. Auch wenn er noch nicht alles gelesen hatte. Er nahm sich die Zeit, mir vieles zu erklären. Erzählte mir auch etwas über den Umgang mit meinen Kollegen, was für mich wichtig war, um nicht ständig anzuecken.

"Kahlyn, sag mal ich habe in deinen Akten keinerlei Hinweise gefunden, wie du mit Nachname heißt. Ist Kahlyn dein Vorname oder dein Nachname."

Ich konnte ihm diese Frage nicht beantworten. Wusste beim besten Willen nicht, was er von mir wollte. "Sir, ich weiß nicht, Sir? Früher war ich immer 98, Sir, aber seit sechs Jahren, bin ich offiziell Leutnant Kahlyn, Sir."

Verwundert schüttelte er den Kopf. "Ist ja auch egal, ich schreibe es als Nachname ein und einen Vornamen bekommst du, wenn wir wissen, wer du bist. Geht das klar?"

Ich nickte, aber wundern tat ich mich heute nicht mehr. Den ganzen Tag wurde ich schon mit Dingen konfrontiert, die mir unlogisch, unverständlich waren. Ich hoffte nur, dass ich mit der Zeit alles verstehen würde. Nach einem langen Gespräch, über dieses und jenes meinte er auf einmal

"So, jetzt ist es gleich 20 Uhr und wir haben doch noch einen ruhigen Tag gehabt. Der durch dich, mit etwas Abwechslung gewürzt wurde. Ich hoffe, Fran hat was Vernünftiges zum Beißen auf den Tisch gezaubert, sonst ist es ein verlorener Tag."

Sender erhob sich und bat mich mitzukommen. Gemeinsam wir gingen nach vorn in den Bereitschaftsraum. Für meine Nase roch es hier drinnen eigenartig. Er schob mich zu einem langen Tisch, an dem sich alle versammelt hatten und dann zu einem leeren Platz

"Setzt dich hierher, das war immer Charlys Platz, es war immer ein Lücke da, die sollst du jetzt ausfüllen."

Es wurden Schüsseln herum gereicht, jeder nahm sich etwas daraus, gelbe Bälle, flache Scheiben landeten auf den Tellern, bunte kleine Kugeln und Vierecke. Ich hatte so etwas noch nie gesehen und noch nie gegessen. Als die Reihe an mich kam, gab ich die Schüssel unbenutzt weiter. Man hatte uns in der Schule immer wieder darauf hingewiesen, dass wir die Nahrungsmittel in der Dienststelle unter keinen Umständen essen sollten. Da wir darauf allergisch reagieren würden. Wir sollten unsere Nahrung weiter essen, wie in der Schule. Allerdings sah ich nirgends etwas, was ich kannte. Langsam aber sicher, hatte auch ich unerträglichen Hunger. Wir hatten vor fast sieben Tagen, die letzte Mahlzeit bekommen und das, war nicht gerade viel gewesen. Es waren nur fünfzig Gramm. Vor allem, war es ein schwerer Einsatz. Das ständige Erbrechen, seit heute Nacht, machte es noch schlimmer. Aber ich hatte Angst diese Sachen zu essen. Weil uns unser Doko Jacob erklärte hatte, das wir dies nicht vertragen würden. Meine neuen Kollegen schauten mich entgeistert an. Immer wieder sagten sie zu mir, ich sollte mir auch etwas nehmen und essen. Allerdings wusste ich nicht was? Sender stand auf und kam zu mir.

"Warum isst du nichts Kleene?"

"Sir, ich weiß nicht was, Sir. Das, was sie zu essen haben, darf ich nicht essen, Sir. Darauf reagiere ich allergisch, Sir. Wir bekamen in der Schule immer Spezialnahrung, Sir."

"Verdammt noch mal, ich werde gleich in der Schule anrufen. Ich muss gleich mal nachfragen, wieso die uns, für dich nichts geschickt haben. Ich organisiere dir etwas, keine Bange."

Diesmal jedoch ergriff ich gleich das Wort. "Sir, bitte nicht, Sir. Die werden schon etwas schicken, Sir. Bitte Sir, rufen sie nicht in der Schule an, Sir, die vergessen uns doch nicht, Sir."

Wenn er in der Schule anrief, dann würde eine Lawine ins Rollen kommen. Das musste ich unbedingt verhindern.

"Keine Angst, Kahlyn", richtet Sender das Wort an mich. "Ich regele das schon", erklärte er in einem Ton, der keinen Wiederspruch zu ließ.

Ich ahnte Schlimmes. Aber, was sollte ich machen. Sender war jetzt mein Vorgesetzter und er hatte das Kommando. Aber er kannte den Oberstleutnant nicht. Sender hatte überhaupt keine Ahnung, in was für ein Wespennest er da hinein stach. Ich war es aber gewohnt, Vorgesetzten zu gehorchen. Deshalb widersprach ich nicht weiter. Ich hatte mich schon weit genug, nach vorne getraut.

Auf der anderen Seite ahnte ich auch, dass das eine der letzen Strafen des Oberstleutnants war. Dass Mayer mit Absicht dafür gesorgt hatte, dass wir heute nichts zu essen bekamen. Wir waren nicht im Einsatz. Von daher war Essen für uns nicht zwingend notwendig. Ein bisschen Hunger brachte uns nicht um, waren immer seine Worte. Im Gegenteil, es machte uns gehorsamer. Es war also wieder mal einer der Tage, an denen wir hungrig ins Bett gehen mussten. Schlimm war nur, dass wir dazu auch noch alleine waren und uns nicht gegenseitig trösten und vom Hunger ablenken konnten. Es würde hart werden. Ob er uns in zwei oder drei Tagen etwas zu essen schicken würde, war fraglich. Ich wusste es nicht. Mir taten nur meine Freunde leid. Denn auch die hatten bestimmt keine Nahrung bekommen. Wir würden ja sehen, wann wir etwas bekamen.

 

Sender verließ den Tisch und ging sofort in sein Büro. Irgendwie tat mir der Major leid. Senders hatte sich so auf das Essen gefreut. Nun musste er wegen mir telefonieren, anstatt essen zu können. Nach einer knappen halben Stunde, die anderen waren schon fast fertig mit dem Essen, kam er wütend und böse blickend, aus seinem Büro. Ich stand sofort auf, um mich bei ihm für die Unannehmlichkeiten, die er wegen mir hatte, zu entschuldigen.

"Sir, es tut mir leid, ich wollte nicht das si….", versuchte ich mich zu entschuldigen, kam aber nicht sehr weit.

Sender zischte mich an. "Setze dich hin, bevor ich gleich ganz aus der Haut fahre und jemand meine Wut abbekommt, der absolut nichts dafür kann."

John zog mich runter auf meinen Stuhl. Ich verstand gar nichts mehr. Es war doch richtig, wenn ich seine Wut abbekommen würde. Schließlich hatte ich ihn durch meine Anwesenheit, sein Essen versaut.

John jedoch flüsterte mir zu. "Oh je, wenn Rudi so sauer ist, dann halte die Klappe und sage lieber gar nichts. Der ist wohl gerade wieder einmal, mit einem seiner Chefs aneinander geraden."

Sender setzte sich und stocherte lustlos in seinem Essen herum. Schließlich schob er es von sich weg. Franko, verantwortlich für das Wohlergehen der Truppe, weil er der beste Koch war und leidenschaftlich gern kochte, sah seinen Chef missmutig an. Franko wurde von allen hier nur Fran genannt, keiner wusste mehr warum, aber es hatte sich so eingebürgert. Im Einsatz war er der Fahrer der Truppe. Vorsichtig auf einen Anpfiff vorbereitet, er kannte seinen Chef jetzt schon so viele Jahre, erkundigte er sich bei Sender.

"Stimmt etwas nicht?"

Böse Blicke schmetterte Sender in Frans Richtung und knurrte vor sich hin. "Ich esse später! Stelle es warm", kam seine brummige Antwort.

Kaum zehn Minuten später, erschien ein Wachtmeister aus der Wachstube. "Rudi, dein Typ wird dringend am Telefon verlangt. Irgendeine komische Kadettenschule. Da ist ein mehr als nur unfreundlicher und unhöflicher Oberstleutnant Mayer am Apparat und brüllt wie ein Berserker."

Sender sprang auf und rannte wutentbrannt nach hinten in sein Büro. Die anderen machten Scherze, wie.

"Schaut mal, wie schnell Rudi rennen kann."

Oder

"Wenn der Liebste ruft, dann rennt unser Rudi."

Mir dagegen rutschte das Herz, in die Hose. Ich wusste, jetzt würde es richtigen Stress geben. Wenn Mayer schon am Telefon brüllte, war er bestimmt schon wieder besoffen. Eigentlich war der Oberleutnant immer darauf bedacht, Fremden gegenüber, als der nette Offizier dazustehen. Nur sehr selten, zeigte er bereits beim ersten Gespräch, sein wahres Gesicht. Außerdem hatte mir Oberstleutnant Mayer, bereits oft genug damit gedroht, was passieren würde, wenn ich Ärger machte. Ich musste wohl ziemlich blass im Gesicht geworden sein, denn John, der zwar mit den anderen über die Späße gelacht hatte, beugte sich plötzlich zu mir herüber.

"Kahlyn, was ist los? Ist dir wieder schlecht?"

Ich schüttelte schweigend den Kopf. Wusste einfach nicht, wie ich Sender jetzt noch daran hintern konnte, Mayer völlig gegen sich aufzubringen. Ich musste es also nehmen wie es kam. Innerlich machte ich mich auf das Schlimmste gefasst. Vor allem musste ich die Leute hier vor den Launen des Oberstleutnants schützen. Ich hatte Angst, um meine neuen Kollegen in der Wachstube und hier im Raum, die überhaupt nicht wussten, was auf sie zukam.

 

Kaum, dass Sender im Büro angekommen war, riss er sofort den Hörer von der Gabel.

"Büro SEK- Dienststelle 61, Major Sender am Apparat. Entschuldigen sie, dass sie warten mussten, ich war gerade nicht im Büro. Was kann ich für sie tun?", sprach er so freundlich, es ging.

Sein Gegenüber jedoch, brüllte sofort los, ohne sich vorzustellen oder erst einmal zu sagen, weshalb er anrief. "Wie können sie es wagen Major, mich über den Polizeirat Runge darüber in Kenntnis zu setzen, wir hätten sie nicht informiert, dass Leutnant Kahlyn eine spezielle Nahrung benötigt? Wie können sie es wagen Major, sich über mich und meine Schule zu beschweren. Vor allem, dieses absolute Frechheit, uns bei ihren Vorgesetzten, als unfähige Ausbilder hinzustellen?"

Sender holte tief Luft und versuchte nett und freundlich zu bleiben. Obwohl er selber wütend war und diesen ihn völlig unbekannten Offizier, am liebsten einmal richtig die Meinung gesagt hätte.

"Brüllen sie mich gefälligst nicht an, Genosse Mayer. Dazu haben sie kein Recht", versuchte Sender es immer noch in einen freundlichen Ton.

Oberstleutnant Mayer, der von seinen Untergebenen stets hundertprozentigen Gehorsam und vor allem eine korrekte Ansprache mit seinen Dienstrang erwartete, sprang nun völlig aus der Bahn.

"Was wagen sie sich, sie kleiner Furzt, von einem Major? Haben sie noch nie etwas von Rangordnungen gehört? Wissen sie nicht, wie man mit ranghöheren Offizieren zu sprechen hat. Sie Wicht, sie verkakter Furz…"

Beschimpfte Oberstleutnant Mayer, den im Rang unter ihm stehenden Major. Jetzt war ein Punkt erreicht, wo Sender ebenfalls in die Luft ging. Der sich solche Behandlungen und vor allem Beleidigungen, nie gefallen ließ. Sender war es schon immer egal, welchen Rang jemand innen hatte. Oft stieß der Major, wegen seiner direkten Art mit seinen Vorgesetzten zusammen. In so einer erniedrigenden Art, hatte aber noch nie jemand zu ihm gesprochen. Jetzt fing auch der Major an, in den Hörer zu brüllen. Obwohl noch drei Zimmer, zwischen dem Büro und dem Bereitschaftsraum lagen, konnte man dort fast jedes Wort verstehen.

"Sie wagen hier von Rangordnung zu sprechen…  Was ich soll sie Sir nennen… Ich wäre unfähig…. Jetzt halten sie die Klappe und hören mir zu…"

So hatte noch keiner im SEK 61, den eigentlich immer ruhigen und stets korrekten Senders brüllen hören.

"Sie und ihre Leute sind Barbaren. Kinder hungern zu lassen…. Sie können nicht verstehen…. Was das dürfen sie… Ich kommen ihnen gleich durchs Telefon… Sie sind ein Leuteschinder… Sie gehören eingesperrt…. Diese armen Kinder…. Wer hat sie nur, auf die Menschheit losgelassen…"

Mit jedem Wort, das ich hörte wurde mir schlechter. Das Schwappelmonster in meinem Magen, fing wieder an zu arbeiten. Ich zog unbewusst die Füße auf den Stuhl und umklammerte meine Beine mit den Armen. So wie ich es schon seit vielen Jahren machte, wenn mir Himmel Angst und Bange wurde und das wurde es mir gerade. Außerdem begann ich damit hin und her zu schaukeln. Ich musste den verdammten Druck loszuwerden, der sich langsam in mir aufbaute. Mir wurde bewusst, dass es nicht lange dauern würde, bis der Oberstleutnant hier erschien. So etwas ließ er sich ohne Bestrafung nicht gefallen. Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf. Was sollte ich jetzt nur machen? Wie konnte ich Sender und meine neuen Kameraden, vor dem Oberstleutnant beschützen? Ich hatte genau vor, dies zu tun. Langsam, da ich eine Aufgabe vor mir sah, mit der ich klar kam, beruhigte sich das Monster in meinem Magen. Ja, dachte ich mir, ich würde sie alle beschützen und wenn es das Letzte war, was ich in meiner neuen Einheit tun würde. Ich würde die Leute hier genauso beschützen, wie ich es bei meinen Kameraden bis jetzt getan hatte. Ich war jetzt ein Teil von ihnen, dieser Widerling konnte mit mir machen, was er wollte. Ich war daran gewohnt. Aber hier würde er niemanden etwas antun, das würde ich nicht zulassen. Major Sender wusste ja gar nicht, auf was er sich da einließ. Ich musste meine Kollegen vor diesem Monster beschützen, egal wie. Das war der einzige Gedanke, der mir noch durch den Kopf ging. Dieser Gedanke verdrängte alle anderen Sorgen die ich im Moment hatte. Ich würde ihn provozieren, damit er seine ganze Wut auf mich konzentrierte, ging es mir durch den Kopf.

John sah mich fragend an. Ich musste wohl schneeweiß im Gesicht geworden sein. Auch hatte er mitbekommen, dass ich am ganzen Körper angefangen hatte zu zittern. John sah verwundert, mein hin und her schaukeln. Allerdings ich brauchte diese Bewegung, um mit meinen Emotionen klar zu kommen und um mir Luft zu machen. Ich musste Energie abbauen, sonst käme es hier zu einer Katastrophe. Ein Gedanke ließ mich nicht mehr los, nahm ganz von mir Besitz und half mir mich langsam zu beruhige. So hörte ich auf zu schaukeln. Der Oberstleutnant, würde hier niemanden etwas tun. Das würde ich nicht zu lassen. Die Leute hier, durfte er einfach verletzen, ging es mir immer wieder durch den Kopf. John wollte mich beruhigen. Er wollte meine Schultern umfassen und mich an sich ziehen, in seine Arme. Allerdings drehte ich mich weg.

Erschrocken sah er zu mir. "Was ist denn los Kahlyn? Ist dir wieder schlecht? Du bist schneeweiß im Gesicht. Mäuschen, was ist denn los?"

Ich schüttelte den Kopf und legte ihn auf meine Knie. Hoffte im Stillen nur, dass ich wirklich verhindern konnte, dass Mayer die anderen Kollegen wegen mir bestraft. Mir war ganz elend zu Mute. Warum nur hörte Sender nur nicht auf zu brüllen? Er machte alles nur noch schlimmer. Unterdessen, ging das Gebrüll in Senders Büro weiter. Sender wurde immer lauter und lauter.

"Was seid ihr nur für Menschen… Habt ihr kein Gewissen… Was? Ich bin ein Versager... Was habt ihr mit diesen Kindern, noch alles gemacht…. Ihr seid Verbrecher…"

Wieder war eine Weile Ruhe. Es schien so, dass Sender nicht zu Wort kam.

"Nein…", brüllte Sender auf einmal. "… sie halten jetzt ihren Mund… Ruhe… Morgen früh um 6 Uhr ist das Pulver hier…. Wenn nicht, rücke ich mit meinem Kommando an und räume eure Schule auf… Habe ich mich jetzt deutlich genug für sie ausgedrückt… Das möchte ich auch hoffen… Jetzt ist es 20 Uhr 30. Welche Zeit brauchen Sie, um etwas Essbares für die Kleene hierher zu schicken? … In acht Stunden? … Das geht nicht schneller? Sie haben genau acht Stunden. Ist dann nichts Essbares, für die Kleene hier… Rücke ich mit meinen Leuten an. Ach und noch etwas. Sorgen sie dafür, dass die anderen Kinder auch etwas zu essen bekommen… Glauben sie mir eins, Genosse Mayer, ich werde mich morgen um 10 Uhr, bei allen anderen acht Dienststellen informieren, ob sie für ihre Leute etwas zu essen bekommen haben… Nein sie brauchen mit mir nicht mehr diskutieren. Das war mein letztes Wort."

Knallrot und mit riesigen Augen, schmiss Sender das Telefon auf die Gabel. So etwas hatte er noch nie erlebt. Immer wieder einmal kam es vor, dass Sender mit einigen seiner Vorgesetzten an einander geriet. Zum einem wegen eines Befehles, den er so nicht durchführen konnte oder wollte. Zum anderen wegen der Art der Menschenführung, die einige seiner, im Rang höher stehenden, Kollegen an den Tag legten. Aber so etwas, war ihm in seiner ganzen Laufbahn bei der Polizei, noch nie untergekommen. Noch völlig außer sich vor Wut, kam Sender aus dem Büro gestürmt und an den Tisch. Seine Haare waren zerzaust, die Augen riesig groß und seine Halsschlagadern pulsierten noch immer.

Ich verstand nur zu gut, was mit ihm los war. Oft genug war ich in der gleichen Situation gewesen wie er eben. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte ihn beruhigend in den Arm genommen. Ich wusste nur zu gut wie er sich im Moment fühlte. Bestimmt genauso wie ich mich nach jeder Auseinandersetzung mit Mayer gefühlt hatte.

Die Kollegen des Senders Teams, sahen ihren Chef an, wie einen Fremden. So hatten sie ihn noch nie erlebt. So böse und wütend, hatte er noch nie ausgesehen. Viele Probleme sind hier im Team schon bewältigt wurden und nicht nur einmal geriet Sender mit seinen Chefs, wegen ihnen aneinander. Aber so ein Gebrüll, gab es noch nie. Selbst dann nicht, wenn sie mal richtig Bockmist gemacht hatten. Vor allem, war ihr Major noch nie so ausgeflippt.

Sender setzte sich mühsam atmend an den Tisch, raufte sich wieder und wieder die Haare. Mühsam versuchte er sich zu beruhigen. Keiner im Raum sprach ein Wort. Es traute sich keiner der Männer wirklich Luft zu holen. Denn diese knisterte vor Spannung. Nur ein falsches oder unbedachtes Wort und ihr Chef würde komplett ausflippen. Sie wussten, dass dies nicht böse gemeint war, aber er musste irgendwie erst wieder Luft bekommen. Langsam normalisierte sich seine Atmung und das ständige Haare raufen hörte auf. Entschuldigend schaute er seine Untergebenen an.

"Ich fasse es nicht Leute! Ihr glaubt nicht, was für ein arrogantes Arschloch, ich gerade am Apparat hatte. So etwas habt ihr noch nicht erlebt", wieder raufte Sender sich die Haare. Scheinbar kam schon wieder die ganze kalte Wut, in ihm hoch.

"Sag mal Kahlyn, ist der immer so drauf?"

In mir rebellierte alles, was soll ich darauf sagen. Ich konnte doch nicht meinen langjährigen Vorgesetzten, hier schlecht machen. Ich schwieg deshalb lieber.

Sender sah mich sehr lange an. "Du magst dazu nichts sagen? Das glaube ich dir gerne. Das musst du auch nicht, ich denke der ist immer so gut gelaunt."

An die anderen gewandt, versuchte sich Senders zu erklären. "Stellt euch mal vor, die haben uns wirklich nichts zu essen geschickt. Meinte dieser Typ rotzfrech zu mir, das wäre nicht so schlimm. Das ist zwar nicht schön, dass die Kleene ein paar Tage nichts zu essen hat, wäre aber wirklicher kein Grund, so einen Aufstand zu machen. Es sind doch nur ein paar Tage. Die wäre fett genug um nicht gleich zu verhungern."

Franko meinte es gut und brachte Sender einen neuen Teller mit Essen. Der jedoch, immer noch mühsam seine Wut bekämpfend, schrie ihn nur an.

"Verschwinde mit dem Zeug", im gleichen Moment tat es ihm schon leid, dass er so unbeherrscht gewesen war. "Sorry Fran, aber mir ist echt der Appetit gerade vergangen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was dieser Arsch mir grad am Telefon, alles gesagt hat. Fran, wenn du hast, bringe mir lieber noch einen Kaffee", bat Sender den Koch. Jetzt schon etwas ruhiger, vor allem freundlicher.

"Ob das Mal gut ist Cheffe?", versuchte Fran zu scherzen.

Dies hätte er lieber nicht machen sollen. Erkannter Fran an den finsteren Blick mit dem ihn Senders ansah. Der Major war absolut nicht zum Scherzen aufgelegt. Deshalb fügte er lächelnd hinzu. "Für dich doch immer Cheffe. Das weißt du doch. Willst du nicht doch ein Schnitzel? Die sind heute besonders lecker."

"Nein Fran, lass mal gut sein. Mir ist echt der Appetit vergangen", erklärte er Fran gequält lächelnd. Dann wandte er sich wieder an alle anderen. "Stellt euch mal vor, sagt dieser Oberstleutnant Mayer doch am Telefon zu mir ‚die Kleene braucht nichts zu essen, es reicht wenn die in drei Tagen etwas bekommt. Bis dahin wird sie schon ihre Nahrung haben. Die hätten erst vor sechs Tagen etwas Nahrung bekommen. Sie hatte heute keinen Einsatz. Die wird nur unnötig fett‘. Ich frage ihn entsetzt, wie vor sechs Tagen? Wie meinen sie das? Bekommen die Kinder bei Euch nur etwas zu essen, wenn sie Einsatz hatten? ‚Nein‘, meinte dieser arrogante Schnösel dann ‚das nicht. Aber, wenn die einmal ein paar Tage nichts zu essen bekommen, sind sie braver und gehorsamer‘. Ich glaubte echt, ich höre nicht richtig. Kahlyn sag mal stimmt das?"

Alle Blicke ruhten auf mir. Ich wusste nicht so richtig, was ich dazu sagen sollte. Lügen würde ich nicht, dies hatte ich noch nie getan. Aber ich würde auch meine ehemaligen Vorgesetzten nicht anschwärzen. Denn nicht alle waren schlecht. Nur kamen sie alle gegen Mayer nicht an.

"Sir, es gibt Dinge über die ich nicht sprechen darf, Sir. Dies hat man uns verboten. Diese Frage ist eine, auf die ich nicht antworten darf, Sir."

Versuchte ich diese Frage nicht direkt zu beantworten. Sender kam um den Tisch herum und nahm, wie im Büro mein Gesicht in seine Hand und nahm mir sogar meine Brille ab, um in meine Augen sehen zu können. Er erschrak, als er meine Augen sah, die Ringe darunter waren mittlerweilen schon blauschwarz geworden.

"Was ist los mit dir Kahlyn? Schau mich an! Sag mir die Wahrheit und das ist ein Befehl. Ich weiß, dass du dazu erzogen wurdest, Befehle genau zu befolgen. Geht es dir nicht gut? Was ist an der Tatsache, das ihr mit Essensentzug bestraft wurde."

Ich antwortete nicht, Oberstleutnant Mayer, hatte uns den Befehl gegeben zu schweigen, wenn das Gespräch, auf dieses Thema kommen sollte. Er war im Rang höher als Major Sender, damit war klar, auf wen ich hören musste. Ich schaute ihn also an und schwieg. Sender wurde wieder richtig wütend.

"Kahlyn, warum redest du nicht mit mir? Hatten wir vorhin im Büro nicht klar gestellt, dass ich auf jede meiner Fragen eine Antwort möchte. Ohne dass ich dich jedes Mal, zum Sprechen auffordern muss."

Ich schluckte. "Sir, Oberstleutnant Mayer ist der Ranghöhere Offizier, Sir, und wenn ich zwei Befehle bekommen, Sir, die widersprüchlicher Natur sind, Sir, muss ich mich nach dem Befehl richten, Sir, der vom Ranghöheren Offizier kommt, Sir. Geben sie mir da Recht, Sir?", umging ich die Frage, nach meinem Gesundheitszustand.

Zu meinem Erstaunen nickte Sender bestätigend.

"Sir, Oberstleutnant Mayer befahl uns, und das nicht nur einmal, Sir, über interne Schulangelegenheiten zu schweigen, Sir, und ich bin nicht bereit gegen diesen Befehl zu verstoßen, Sir. Es sei denn ich bekomme einen Befehl, Sir, von einem Offizier, Sir, der höher gestellt ist als Oberstleutnant Mayer, Sir. Es tut mir leid Sir, ich würde ihnen gern antworten, Sir, aber ich darf es nicht, Sir."

Jetzt würde er mich gleich zur Schnecke machen. Oft genug hatte ich das in der Schule erlebt. Allerdings kam es wieder anders.

Sender sah mich nur traurig an. "Kahlyn, du musst noch verdammt viel lernen. Vor allem musst du lernen umzudenken. Nicht jeder Befehl den man bekommt, ist richtig und erst Recht sind nicht alle Befehle die von oben kommen richtig. Ab und zu, kommt einfach mal ein Tag, an dem man seinem Herzen folgen muss und seinem Verstand vertrauen muss. Weil die Befehle, die man bekommt, einen sonst in das Unglück stürzen würden. Aber dazu bist du zu jung und zu unerfahren. Aber keine Angst, das lernst du noch."

Er wollte gerade gehen, als er spürte, dass ich mühsam versuchte, meine Wut herunter zu schlucken.

"Was ist Kahlyn, willst du mir etwas sagen?", fragte er mich verwundert.

"Sir, das mache ich lieber nicht, Sir", rutsche es mir heraus. Erschrocken schaute ich meinen Vorgesetzten an und begann nervös mit meinen Fingern zu spielen.

Sender musterte mich verwirrt. "Warum willst du mir das lieber nicht sagen? Bei mir Kahlyn, sagt jeder, was er denkt. Das ist wichtig, um Vertrauen aufzubauen. Du hast selber heute Nachmittag mitbekommen, wie selbst Wachtmeisterin Sören mich zur Schnecke gemacht hat. Das ist auch gut so. Sie war nämlich im Recht. Also lass hören, was du mir sagen willst."

Verwundert war es jetzt an mir, Sender zu mustern. Er gab Sören Recht? Ich verstand die Welt nicht mehr. Nie wäre das bei uns in der Schule möglich gewesen. Wieder aktivierte sich das Monster in meinem Magen. Ich konnte einem Vorgesetzten doch keinen Vortrag über Befehlsstrukturen halten. Auf der anderen Seite, hatte mich Sender gerade dazu aufgefordert zu sprechen. Ich befolgte also nur seine Anordnung. Wenn ich dies auch sehr ungern tat, vor allem mit einem sehr unguten Gefühl.

Sehr leise, da ich eine unsagbare Wut in mir hatte, erklärte ich Sender in einem ruhigen Ton, was er wissen wollte. Diesen hatte ich mir auf der Schule angewöhnt, wenn der Oberstleutnant mich wieder einmal provozieren wollte. Ich stand auf und stellte mich wie gewohnt neben den Stuhl. Die Hände auf den Rücken, die Beine leicht gespreizt, für einen sicheren Stand und sah an Sender vorbei. Spannte gleichzeitig alle meine Muskeln an, um mich zu schützen.

"Sir, es gibt Momente im Leben eines Soldaten oder Polizisten, in dem man sich über Befehle hinwegsetzen muss. Das weiß ich, nach den vielen Einsätzen, die ich hinter mir habe, auch. Ich habe dies nicht nur einmal getan. Man hat mich deshalb oft genug bestraft. Das sind allerdings Befehle, welche die gesamte Gruppe gefährden oder zum Tod von unschuldigen Zivilisten führen würden. Diesen Befehlen widerspreche ich auch, egal wie hoch die Strafe dafür ist. Es kommt immer darauf an, was das für Befehle sind. Der Befehl über schulinterne Angelegenheiten nicht zu sprechen, birgt kaum eine Gefahr und ruiniert niemandes Gesundheit. Deshalb kann ich es mir leisten, die Befehlsfolge einzuhalten. Wenn sie denken dass ich dies nicht weiß, dann müssen sie noch viel über mich lernen. Wir haben viele Kämpfe nur dadurch gewonnen, weil wir uns nicht an die gegebenen Befehle hielten und eigene Initiative ergriffen. Nur deshalb, konnten wir überleben. Von der oberen Befehlsstruktur, ist es nicht immer möglich, die gesamte Situation im Vornherein, korrekt zu planen. Deshalb ist es wichtig als Befehlsempfänger, in bestimmter Situation eigenständige, der Situation entsprechende Entscheidungen zu fällen. Nur dadurch kann man gewährleisten, dass die Mission erfolgreich ausgeht, der Verlust an Menschen und Material, so gering wie möglich bleibt. Nur ein eigenständig denkender Soldat, ist ein guter Soldat. Ein Soldat der nur streng nach Befehlen handelt, ist dem Tode geweiht. Wir haben das sehr früh lernen müssen, viele von uns haben es mit ihrem Leben bezahlt. Glauben sie mir, dass wir diese Lektion in unserer Ausbildung, nicht nur schnell gelernt haben, sondern auch sehr teuer bezahlt haben. Es waren unsere Freunde die gestorben sind, SIR", das letzte Sir betonte ich mit Nachdruck. Ich versuchte ruhig zu Atmen. Allerdings fiel mir das, mit jedem Wort schwerer. "Sir, aber wenn es sie beruhigt, wir sind es gewohnt einmal ein paar Tage ohne Nahrung auszukommen, Sir. Das ist an der Front und im Kampf nicht nur einmal passiert, Sir. Es war nicht immer möglich, Sir, im Kampf zu kochen, Sir. Das wissen sie doch bestimmt auch, Sir, von ihren Einsätzen, Sir. Keine Angst ich verhungere nicht gleich, Sir."

Ich schaute ihm offen ins Gesicht, damit er meine Augen sehen konnte. In dem während meines bisherigen Aufenthaltes, stets sehr lauten Aufenthaltsraum, war es totenstill. Die Kollegen die um den Tisch herum saßen, starrten mich alle entsetzt an. Fragen standen in ihren Gesichtern geschrieben. Was erzählte das junge Mädchen da? Diese Dinge konnte sie überhaupt nicht wissen? Wieso sprach sie vom Tod? Ging es den meisten von ihnen durch den Kopf. Das blanke Entsetzen, stand in ihren und auch in Sender Augen. Jetzt war ich ganz bestimmt, zu weit gegangen. Sender kam, die wenigen Schritte auf mich zu und zog mich in seine Arme. Ich wurde ganz steif, so etwas hatte noch nie jemand mit mir gemacht. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

"Kleene ich glaube, ich habe dich schon wieder unterschätzt. Ich akzeptiere deine Begründung zu schweigen und ziehe den Hut vor dir. Ich weiß, dass dich das, was du eben gesagt hast, sehr viel Mut gekostet hat. Wenn ich nicht wüsste, dass du diese Frage auch nicht beantworten darfst. Würde ich dich jetzt fragen, was die mit euch, da in Gottes Namen gemacht haben? Keine Angst, ich werde dich nicht fragen. Aber merke dir eins, Kahlyn. Wenn ich dich in den Arm nehme, will ich dir nichts Böses. Tu mir bitte einen Gefallen und nehme dir wenigstens irgendwas zu trinken. Wasser werdet ihr Kinder doch wohl vertragen. Dann kommst du hinter in mein Büro. Ich muss mit dir den Dienstplan durch gehen, für die nächsten Wochen."

Senders drehte sich um, griff sich seine Kaffeetasse und wollte nach hinten in sein Büro gehen. Überlegte es sich noch einmal anders und drehte sich zu einen seiner Kollegen um.

"Wolle, sei so gut und gebe mir, in Gottes Namen, eine Zigarette. Guck nicht so, verdammt nochmal. Ich weiß selber, dass ich aufhören wollte. Aber ich brauche etwas, um meine Nerven zu beruhigen."

Der Kollege, den er mit Wolle angesprochen hat, griff in seine Brusttasche und zog eine Schachtel F6 heraus. Schmiss sie Sender im hohen Bogen zu. Der fing die Schachtel geschickt auf.

"Danke Wolle."

Der Major nahm sich eine Zigarette heraus und zündete sie mit dem in der Schachtel steckenden Feuerzeug an. Bevor er sie Wolle zurück schmeißen konnte, winkte Wolle ab und meinte.

"Behalte sie für den Fall, dass dieser Typ noch mal anruft. Aber danach ist Schluss, mit der Raucherei."

"Danke Wolle, du rettest mir gerade das Leben."

An seiner Zigarette ziehend drehte sich Sender um und ging jetzt zielstrebig in sein Büro. Dabei inhalierte er tief den Rauch der Zigarette. Verwundert sah ich ihm nach.

Alles was ich heute erlebt hatte, brachte mein gesamtes Weltbild ins Wanken. Langsam wusste ich nicht mehr, was ich denken und fühlen sollte. Schon lange war mir nicht mehr klar, was richtig oder falsch war. Was war hier nur los? Wollte man mich testen? Wieso, wurde nur auf einmal, alles so kompliziert? Dieses verflixte Schwappelmonster, in meinem Magen, machte sich wieder bemerkbar. Heiß und kalt lief es mir über die Haut. Mir war ganz schwindlig. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf jeden Moment platzen würde. Alle starrten mich an. Ich fühlte mich völlig unwohl. Nicht nur, weil ich von allen angestarrt wurde, sondern auch, weil der Brechreiz immer stärker wurde. Nur mühsam konnte ich ihn noch unterdrücken. Dankend nahm ich die Tasse Wasser, die mir Fran reichte und wollte Sender in sein Büro folgen. Allerdings ging ich erst einmal am Büro vorbei. Suchte heute zum wiederholten Male, die Toilette, auf um mich zu übergeben. Es war mir einfach alles zu viel.

Ich rutschte an der Kachelwand hinunter und blieb einen Augenblick sitzen. Eng umschlang ich meine Knie und blieb so ganze fünf Minuten sitzen, schwer atmend und am ganzen Körper zitternd. Mühsam kämpfte ich gegen den Schwindel und nun auch noch gegen das immer höher steigende Fieber an. Welches sich in meinem Körper langsam ausbreitete. Ich musste unbedingt etwas gegen das Fieber unternehmen. Wenn ich jetzt auch noch hohes Fieber bekam, war alles zu spät. Ging es mir durch den Kopf. Langsam erhob ich mich und ging zum Waschbecken, um mich zu waschen. Ließ das kalte Wasser lange über die Handgelenke und Unterarme laufen. Langsam wurde es mir etwas besser. Dann machte ich mich auf den Weg in Senders Büro. Im Stillen hoffte ich, nicht noch mehr Stoff zum Nachdenken zu bekommen. Mein Kopf tat schon jetzt höllisch weh. Nur von den Dingen die ich heute erlebt hatte. Am Büro angekommen klopfte ich an. Sender winkte mich sofort herein. Wieder kam alles anders, als ich es erwartet hatte.

"Kahlyn, komm rein und setze dich. Du siehst nicht gut aus, Mädel. Geht es dir nicht gut?"

Tief holte ich Luft um nicht zu zeigen wie verwundert ich war und normal sprechen zu können. Seit wann, interessierte sich einer meiner unmittelbaren Vorgesetzten, ob es mir gut ging. Dies hatte ich zwar ab und zu einmal in Einsätzen erlebt, aber dies waren immer nur kurze Zeiten. Dieser Major würde aber für immer mein Vorgesetzter bleiben, so wie es bis jetzt der Oberstleutnant war. Der hatte sich um meine Gesundheit nie gekümmert. Meine Verwirrung wurde immer größer.

"Sir, es geht mir gut, Sir".

Log ich ihn offen an. Ich würde ihm nicht sagen, dass es mir nicht gut ging. Dann würde er es, gegen mich nutzen können.

Sender betrachtete mich kopfschüttelnd. "Kahlyn, du musst hier noch vieles lernen. Vor allem Vertrauen zu deinen Vorgesetzen."

Wieder betrachtete er mich eine Weile. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich jetzt mit ihm reden würde. Als ich nicht die Anstalten machte, auch nur einen Ton zu sagen, stand er auf und kam um den Schreibtisch herum. Setzte sich auf die Kante des Tisches und sah mich von oben herab an.

"Glaube mir eins Kahlyn, es tut mir in der Seele weh, dass du dies hier alles durchmachen musstest. Ich hoffe du kannst mir das verzeihen. Ich habe dir heute, das Leben mehr, als nur schwer gemacht. Vielleicht hätte ich mir wirklich deine Akte, als erstes durchlesen sollen. Dann hätte ich dir heute wahrscheinlich viel Stress ersparen können. Aber weißt du, Kleene, ich mache mir immer gern selbst ein Bild von meinen neuen Leuten. Der erste Eindruck, wenn ein neuer Kollege vor mir sitzt, ist Gold wert. Das, was ich in diesen Moment von dem Kollegen sehe, sagt mir mehr über einen Menschen aus, als eine Stück Papier. Bevor ich diese sogenannten Kaderakten lese, habe ich dann schon eine eigene Meinung über diesen Menschen. Diese Akten Kahlyn, so meine Erfahrung, sind nicht viel wert. Papier ist verdammt geduldig und kann vor allem nicht widersprechen“, Sender rieb sich müde das Gesicht und sah mich einen Moment lang an. „Vor allem meine Kleene, wenn sie wie deine Akte nur negativ ausgerichtet sind. Meistens ist der Hauptgrund einer solchen negativen Akte, die Disharmonie zwischen zwei Menschen. Oftmals spielen Antipathien und persönlich Bosheit, gegen den betroffenen Kollegen, eine größere Rolle, als die eigentlichen Disziplinverstöße. Die negativen Beurteilungen durch Vorgesetzte, sind oft durch persönliche Missgunst oder Neid beeinflusst und führen dadurch zu einer solchen Beurteilung. Ich frage mich die gesamte Zeit, wieso dieser Mayer, bei dir ständig von Disziplinverstößen und Respektlosigkeit spricht. Das, was ich heute von dir gesehen habe, spricht eine völlig andere Sprache. Es zeigt mir, dass bei dir der Fall völlig anders liegt. Deine Akte ist auf der einen Seite voll von Auszeichnung, für hervorragende Dienste für unseren Staat. Auf der anderen Seite, stehen darin so viele negative Eintragungen, die dem widersprechen. Vor allem, sind alle diese, von einem gewissen Oberstleutnant Mayer und Fiedler. Ich konnte dich dadurch, am Anfang überhaupt nicht einschätzen. Weil deine Akte völlig verwirrend ist", Sender musterte mich wieder abwartend. "Das Verhalten welches du heute im Laufe des Tages gezeigt hast, deine Reaktionen hier, sagen etwas völlig anderes aus. Du hast so viel Achtung und Respekt vor einem Vorgesetzten gezeigt, wie ich es noch nie erlebt habe. Deshalb kann und will ich den Aufzeichnungen in dieser Akte, einfach keinen Glauben schenken. Erst recht nicht, nach dem Telefonat mit diesen Oberstleutnant Mayer, der ist kein Mensch, son..."

"Sir…", wollte ich ihm ins Wort fallen. Instinktiv nahm ich meinen ehemaligen Vorgesetzten in Schutz.

Sender schüttelte bekümmert den Kopf. "Du musst ihn nicht verteidigen, Kahlyn. Er hat mir heute am Telefon sein wahres Gesicht gezeigt. Ich mag solche Menschen nicht. Auch der Aufbau der Akte, bestätigt meine Meinung, über eure Schule. Ich verstehe diese Kollegen nicht. Bereits im ersten Semester auf der Polizeischule, lernt man, das wichtige Informationen, ganz oben auf eine Akte zu heften sind. Dies sagt einen auch die menschliche Logik. Erst in den letzten drei Seiten deiner Akte, fand ich das hier. Schau bitte selbst mal", völlig zerknirscht hielt mir Senders drei Seiten vor die Nase und wedelte damit herum. Da ich nicht genau wusste, ob ich die Seiten wirklich lesen durfte, schaute ich wie gewohnt zu meinen Füßen. "Kahlyn, es ist eine Auflistung von Sachen, die man euch nicht fragen darf und eine Auflistung über wichtige Verhaltensnormen an deiner Schule. Leider meine Kleene, habe ich das eben erst entdeckt."

Er rutschte von der Kante seines Schreibtisches und ging vor meinem Stuhl in die Hocke. Wieder nahm er mir meine Brille ab und sah mir in die Augen. Intensiv musterte er mich von Kopf bis Fuß. Allerdings sagte er diesmal kein Wort, sondern sah mich nur lange mit einem eigenartigen Blick an, den ich so nur vom Doko kannte.

"Sir, ich denke es war gut so, Sir, wie wir es gemacht haben, Sir. So erlerne ich am schnellsten, Sir, was sie von mir erwarten und sie lernen mich besser kennen, Sir. Ich werde mich bemühen, Sir, ihnen keinen Kummer mehr zu machen, Sir. Leider muss ich ihnen sagen, Sir, dass ich vieles von dem, was sie von mir verlangen, nicht verstehe Sir. Es ist mir völlig fremd und völlig unverständlich, Sir. Bitte verzeihen sie mir, Sir, wenn ich nicht alles sofort richtig mache, Sir. Ich werde mich aber bemühen, Sir, es schnellst möglich zu lernen, Sir."

Sender klopfte mir auf die Schulter. "Ist schon gut Kleene. Wir werden das schon schaffen. Bis jetzt, hat sich noch jeder in mein Team eingelebt. Auch wenn es am Anfang, für alle oft nicht leicht war. Frage ruhig die anderen. ich glaube, jeder kann darüber ein Lied singen. Aber mal etwas anders. Dir geht es doch nicht gut. Du siehst aus, als wenn du krank wärst. Was ist los, mit dir?", wieder musterte der Major mich genau.

Jetzt konnte ich die Frage nicht länger ignorieren, so gerne ich es tun wollte. "Sir, es ist nichts weiter, Sir", spiele ich das Ganze deshalb herunter. Obwohl ich genau wusste, dass es nicht so war. "Sir, es war heute einfach alles zu viel, Sir. Es ist so viel geschehen, Sir. Ich vermisse meine Freunde, Sir. Alles was ich heute gemacht habe, Sir, war falsch, Sir. Mit tut einfach nur der Kopf weh, Sir und ich bin todmüde, Sir. Wir sind gestern Nach kurz vor Mitternacht, Sir, erst von einem fünftägigen sehr schweren Einsatz zurück gekommen, Sir. Ich konnte nur im Flieger und in dem Taxi ein wenig schlafen, Sir. Aber, das ist kein Ersatz für richtigen Schlaf, Sir. Verzeihen sie mir bitte, Sir."

Versuchte ich mein Aussehen, was nichts mit dem fehlenden Schlaf zu tun hatte, herunterzuspielen. Ich wusste nicht genau, wo der Hauptgrund dafür lag. Ich vermutete allerdings, dass es drei Gründe dafür gab. Erstens, die fehlende Verbindung zu meinen Freunden war. Zweitens, der mir seit Chile, schwer zu schaffen machende Hunger und drittens, der gesamte Stress heute. Mit ein wenig Schlaf und morgen vielleicht etwas Nahrung, bekam ich das alles schnell in den Griff. Wieder schaute ich zu meinen Füßen.

Langsam drückte Sender mein Kinn nach oben. "Ich kann mir zwar nicht vorstellen, was du heute durchgemacht hast. Aber ich kann mir vorstellen, dass du heute durch die Hölle gegangen bist. Nach dem, was ich auf diesen letzten drei Seiten gelesen habe. Es tut mir leid, glaube es mir. Sag mal Kahlyn, wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen. Damit meine ich in einem Bett und in ausreichender Länge. So wie ich von Oberstleutnant Mayer erfuhr, seid ihr heute Nacht erst von einem Einsatz wieder gekommen. Hattet zum vorhergehenden Einsatz auch nur wenige Stunden, Pause. Wie du gerade sagtest dauerte der fünf Tage. Wann also hast du das letzte Mal, in einem richtig Lange geschlafen? Oder darfst du darüber, auch wieder nicht sprechen?"

Ich nickte. Aber ich sprach trotzdem mit dem Major. Da eh alles falsch war, was ich heute tat, konnte ich auch reden. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich richtig oder falsch verhielt und wollte nur etwas schlafen und zur Ruhe kommen, um mich zu erholen.

"Sir, wenn sie die Frage anders formulieren, könnte ich darauf antworten, Sir."

Sender lächelte und hat verstanden, was ich meinte. "Dann sag mir bitte Kahlyn, möchtest du gern schlafen gehen."

"Ja Sir, das würde ich gern, Sir."

Der Major stand auf und wollte nach meinem Medi-Koffer greifen. Als er sah, dass ich meinen Kopf schüttelte, ließ er es lieber bleiben. Der Medi-Koffer, durfte nur von einem benutzt werden, das war ein ungeschriebenes Blatt bei uns in der Schule gewesen. Nur selten gingen unsere Kameraden an die Koffer der anderen. Wenn sie es taten, dann gab es einen wichtigen Grund. Ansonsten durfte nur der Besitzer und Dika den Koffer öffnen und tragen. Oder die Wachleute die sie an die Gangway stellten. Deshalb griff ich jetzt nach dem Medi-Koffer und Sender nahm meinen Rucksack. Gemeinsam verließen wir das Büro und wir gingen zwei Zimmer weiter nach hinten. Was ich da sah konnte ich kaum fassen. Es war wie bei meinem Oberst, in der Soko Tiranus. Ein Zimmer voller weicher Betten. Immer zwei übereinander und zehn Betten auf jeder Seite.

"Kleene, auf der rechten Seite, kannst du dir ein Bett aussuchen. Die sind von der Schicht, die zurzeit frei haben. Auf der anderen Seite sind nur noch die hinten an der Wand frei. Allerdings hast du da, auch die freie Auswahl. Dann schlaf mal schön. Ach und wenn du duschen willst, dann musst du mit den Jungs zusammen duschen. Wir haben nur eine Toilette und eine Dusche. Also schlaf gut."

 

 

 

Grüßend lächelte mir Sender zu und ließ mich alleine. Erleichtert atmete ich auf. Endlich hatte ich Zeit, etwas herunter zu fahren und das Erlebte zu verarbeiten. Als ich endlich alleine in dem Raum war, schaltete ich das Licht aus und sah ich mich erst einmal um. Von dem hinteren Bett, auf der rechten Seite, konnte man den Raum am besten einsehen. Also ging ich zu dem hinteren Bettgestell und schob es ein Stück gegen das daneben stehende Bettgestell. Ein wenig von der Wand weg. So, das zwischen der Wand und dem Bett eine Lücke von etwa vierzig Zentimetern entstand. Anschließend, zog ich die Decke auf den Boden. Ich öffnete meinen Medi-Koffer und entnahm ihm drei Kapseln Tscenns, das waren diese kleinen weißen Pillen die zur Notversorgung dienen, die ich bereits während der Taxifahrt genommen hatte. Diese ließ ich auf der Zunge zergehen. Langsam ging es mir wieder etwas besser. Dann holte ich mir das Thermometer heraus. Eigentlich bräuchte ich das nicht, aber ich wollte Gewissheit. Dass meine Temperatur wirklich so hoch war, wie ich es mir einbildete. Nach drei Minuten wurde mir bestätig, was ich eigentlich schon wusste. Ich hatte verdammt hohes Fieber. Das Thermometer zeigte 58.4 °C an. Mir wurde dadurch bewusst, dass es kein Wunder war, dass es mir so hundsmiserabel ging. Bis 46°C machte uns Fieber nicht viel aus, es war unangenehm, mehr nicht. Wenn es auf die über 48°C stieg, dann wurde es kritisch, wir mussten es dann ständig kontrollieren und das beeinträchtigte auf gewisse Weise unsere Arbeitsfähigkeit. Lebensgefährlich allerdings wurde es erst, wenn weit über 55°C stieg. Dann fiel es uns wirklich schwer, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren und wir mussten etwas dagegen unternehmen. Obwohl so pauschal konnte man das bei uns gar nicht sagen, weil dies bei jeden von uns etwas anders war. Wir starben erst, wenn es weit über 58°C stieg. Ich hielt etwas höher Temperatur aus, als meine Kameraden. Da ich viel öfter, gegen dieses Fieber zu kämpfen hatte. Jedes Mal, wenn ich zu einem Sondereinsatz beim Oberst war, bekam ich sehr hohes Fieber. Dann war es auch immer um die 57 bis 59°C. Deshalb vermutete ich ja, dass es mit der fehlenden Verbindung zusammenhing. Trotzdem musste ich dieses Fieber unbedingt in den Griff bekommen. So konnte ich auf Dauer nicht arbeiten.

Doko Jacob hatte uns vor vier Jahren einmal erklärt, dass man uns genetisch widerstandsfähiger gemacht hatte. Als er zu einer Tagung in Berlin war, wurde unsere Dika Anna krank. Ich ignorierte am Anfang ihr Fieber. Da es nur 41,4 °C war, was bei uns eine völlig normale Körpertemperatur war. Die lag bei uns um die 42 °C. Als unsere Dika allerdings immer apathischer wurde, ließ ich den Doko anrufen. Zum Glück noch rechtzeitig. Danach nahmen wir die normale menschliche Physiologie durch, damit uns solche Fehler, nicht noch einmal unterliefen.

Eine Frage blieb trotzdem, war es wirklich nur die fehlende Verbindung. Fieber hatte ich beim Oberst auch immer, aber dabei ging es mir nicht so beschissen. Es konnte also nicht nur dran liegen. Ich überlegte hin und her, ob ich die letzten Tage, ungekochtes Wasser getrunken hatte. Da ich aber keinen Durchfall hatte, konnte es sich nicht um eine Typhuserkrankung handeln. Langsam kam mir die Vermutung, dass dieses Fieber und auch das Erbrechen, durch die nervliche Überbelastung hervorgerufen wurden. Es war also eine Art Nervenfieber, wir wie es damals nach der Sache in Rumänien gehabt hatten. Ich machte mir ernsthafte Sorgen, um meine Freunde. Nicht alle, waren gut in der medizinischen Ausbildung gewesen. Bei Problemen kamen sie immer alle zu mir und vertrauten sich stets mir an. Ich hoffte sehr, dass Rashida, Sina, Andi und Rafik die ja sowieso schon tüchtig angeschlagen waren, diesen Tag einigermaßen überstanden hatten.

Kurzentschlossen holte ich mir den Koffer mit den Ampullen heraus und zog K11, ein Mittel gegen Fieber, auf eine Spritze, injizierte mir eine doppelte Dosis. Einmalig konnte man das machen. Ich musste das alles in den Griff bekommen. Bevor ich richtig krank wurde, ging es mir durch den Kopf.

Dann räumte ich alles in den Koffer und den Abfallbehälter. Stellte den Koffer an die Wand. Erschrocken kam mir die Frage in den Kopf, dass ich nicht wusste, wie und vor allem, wo ich meinen Koffer jetzt auffüllen lassen konnte. Flüchtig kam mir der Gedanke, darüber mit Major Sender zu sprechen. Allerdings schob ich ihn erst einmal beiseite. Das würde ich in ein paar Tagen klären. Erst einmal musste ich hier Fuß fassen. Die Decke legte ich so, dass sie den Koffer bedeckte. Das auf dem Bett liegende Kissen nahm ich mir hinter den Kopf. Aus einem zweiten Bett nahm ich mir noch eine Decke und legte mir diese in den Rücken. Ich zog den Overall aus, legte ihn ordentlich zusammen und dann auf das Bett. Schloss meine Augen und versuchte gleichmäßig zu atmen.

Durch das Verrücken des Bettes lag ich so, dass ein Teil des Bettes mich verdeckte, ich jedoch immer die Möglichkeit hatte, schnell aufzustehen, um mich im Notfall verteidigen zu können. Ich fühlte mich hier einfach nicht sicher. Mir fehlten meine Kameraden so sehr. Aber ich musste mich daran gewöhnen, alleine zu schlafen. Es kam mir zwar sehr komisch vor, hier mit einer Gefahr rechnen zu müssen, aber ich war allein und vor allem war ich todmüde. Außerdem war Vorsicht immer gut, es hatte noch nie jemanden geschadet, wenn man vorsichtig war. Im Gegenteil, ich hatte durch meine Vorsicht, schon viel Schaden verhindert. Hier würde niemand auf mich aufpassen, keiner würde mich bei Gefahr wecken. Etwas, was man sich über Jahre antrainiert hatte, legte man nicht so schnell ab. Es war sehr ruhig hier in dem Raum, kein Lärm drang von vorn nach hier hinten. Komisch, bei dem Lärm den die Jungs heute schon den ganzen Tag gemacht hatten, müsste man eigentlich etwas hören.

Hatte Sender vielleicht die anderen gebeten, sich ruhiger zu verhalten, damit ich schlafen konnte. Oder war der Raum so schallisoliert, dass man nichts hörte? Ich nahm meine Brille ab und legte sie auf das Bett. Interessiert sah ich mich noch einmal in dem Raum um. An der Seite über der Tür hing eine Uhr. Die Zeiger bestätigten meine innere Uhr und sagten mir, dass es 6 Minuten nach 22 Uhr war, also eine Zeit in der wir gewohnheitsgemäß schlafen gingen, wenn wir nicht gerade im Einsatz waren.

Jetzt musste ich grinsen, wann waren wir in den letzten Jahren einmal nicht im Einsatz. Ich glaube, das letzte Mal, dass wir gewohnheitsgemäß um 22 Uhr schlafen gingen, war vor zwei Jahren, als wir aus Chile zurück kamen und krank waren, da lebten wie lange Zeit, bei Oberst Fleischer in der Soko Tiranus und davor? Ich grübelte eine ganze Weile und ließ meinen Gedanken freien Lauf. Ich glaube davor, da waren wir nicht einmal ein Jahr alt. Aber, das war schon so lange her, daran konnte ich mich nicht mehr genau erinnern. An die Soko schon, das war ein traurige aber auch eine schöne Zeit. Ja, damals gingen wir immer punkt 22 Uhr schlafen. Seit dem wir zurück waren aus der Soko, ich überlegte gerade, hatten wir da überhaupt einmal in einem Bett geschlafen? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern. Müde rieb ich mir das Gesicht und ermahnte mich selber, dass ich schlafen sollte. Aber es war nicht so einfach für mich abzuschalten, das konnte ich noch nie.

In Gedanken ging ich letzten vierundzwanzig Stunden noch einmal durch. Es war viel passiert, an diesem einen Tag. Wir hatten unseren letzten gemeinsamen Kampf 17 Uhr 43 beendet, mit einem wenn auch knappen Sieg gegen fast zweihundertfünfzig Widerstandskämpfer, die eine Verwaltungsreform erreichen wollten, für eine eigene Woiwodschaft kämpften. Ich konnte die Leute ja verstehen, aber Waffengewalt war nie der richtige Weg. Mir kam der Gedanke, dass sie erreichen würden, was sie wollten. Nur um welchen Preis? Durch diesen sinnlosen Kampf, waren hundertneununddreißig der Kämpfer tot. War es das wirklich wert? Sie hatten hart gekämpft, wir mussten zum äußersten Mittel greifen. Wie lange wohl, würde ich wieder diese vielen toten Gesichter sehen?

Rashida, sagte immer zu mir, ich sollte es nicht so persönlich nehmen. Was sie mir nicht erklären konnte, war das wie. Wie konnte ich das nicht persönlich nehmen, sie waren durch meine Hand gestorben. Es waren Menschen, so viele hatte ich in meinen Leben sterben sehen. Nicht nur meine Freunde in der Schule, sondern auch viele mir fremde Menschen. Jedes Mal, wenn einer von meiner Freunde starb, gingen wir zu unserem Baum setzten uns hin, erzählten uns alle ihre Taten. Erinnerten uns an ihr ganzes Leben. Jetzt waren hundertneununddreißig Kämpfer von der Widerstandsgruppe gestorben, das waren hundertneununddreißig ganze Leben. Sie würden lange trauern müssen, um damit klar zu kommen. Kampf lohnte sich nie, um etwas zu erzwingen zu wollen, niemals lohnte er sich. Das war meine ehrliche Meinung. Ich schweifte mit meine Gedanken ab.

Du musst schlafen sagte ich mir immer wieder, du musst unbedingt schlafen. Es ging schon auf 23 Uhr zu. Mach die Augen zu Täubchen und schlafe endlich, würde meine Rashida jetzt sagen. Aber die konnte das auch immer. Ich konnte das nur, wenn ich mich hundertprozentig beschützt fühlte, in der Schule oder beim Zehnminutenschlaf, wenn die anderen wachten. Beim normalen schlafen, hatte ich das nie gelernt, die Augen zu zumachen und sofort zu schlafen.

Ich versuchte gleichmäßig zu atmen. Ein-aus-ein-aus, konzentrierte mich auf die Atmung. Rums, ein greller Lichtstrahl, stach in meine Augen. Reflexartig öffnete ich meine Augen, schreckte aus dem Schlaf, lautes Geschwatzte, kam von der Tür.

"Tzzscht, ihr weckt doch die Kleene auf", kam es von draußen.

"Oh", ertönte eine leise Antwort.

Sofort war Ruhe, das Licht ging wieder aus. Ich lehnte mich wieder zurück und versuchte wieder in meine Atemrhythmus zukommen. Ich schaute nach vorn auf die Uhr, es war 1 Uhr 43. Lange hatte ich nicht geschlafen. Mein Kopf fühlte sich an, also wollte er gleich zerspringen. Täubchen schlafe jetzt, würde Rashida sagen. Ich atmete mich in meinen Rhythmus. Rums, ein greller Lichtstrahl, aus drei Betten, kamen gleich drei Rufe.

"Ruhe"

"Licht aus"

"Schlaft".

Wieder war ich wach und schaute ich nach der Uhr, jetzt war es 2 Uhr 9. Tief holte ich Luft, wieder versuchte ich einzuschlafen. Wie es wohl Rafik, Rashida, Sina und Andi ging? Wieder fing ich an zu grübeln. Ich versuchte eine Stellung zu finden, in der ich mich entspannen konnte. Aber ich fand keine Ruhe. Ich machte mir Sorgen, um meine Freunde, um alle, aber besonders um die Vier, die schwerverletzt waren. Wenn mich dieser ganze Tag schon so mitgenommen hatte, wie würde es dann wohl den Vieren gehen, die noch angeschlagener waren als ich. Ob sie eine gute Dienststelle erwischt hatten? Rashida sagte gestern.

"Schlimmer als hier, kann es da auch nicht werden."

Ich fand es schlimmer. Nicht alles, was auf der Schule war, ging es mir durch den Kopf, war schön. Aber wir wussten immer, was wir tun sollten. Hier wusste ich gar nichts mehr. Verdammt du musst schlafen, ging es mir immer wieder durch den schmerzenden Kopf. Konzentriere dich auf deine Atmung, Täubchen, machte ich in Gedanken die Worte von Rashida nach, es half ein wenig, gegen diese verdammte Einsamkeit. Mir fehlten die Stimmen der Freunde, mir fehlte deren Atemrhythmus. Wieder sah ich auf die Uhr, sechsmal war ich nun schon wach geworden, es hatte keinen Zweck mehr. Ich konnte nicht mehr schlafen, es war jetzt 2 Uhr 57.

Vorsichtig tastete ich nach meiner Brille und setzte sie auf. Leise stand ich auf und ging aus dem Schlafsaal. Beim Hinausgehen, betrachtete ich meine Kollegen, die tief und fest schliefen. Es schien sie gar nicht zu stören, dass ich den Raum verließ, bei uns wären alle sofort munter geworden. Ich ging erst auf die Toilette, wusch mir das Gesicht. Hilfe, ich sah wirklich schlimm aus. Dunkle tief schwarze Augenringe, lagen unter rotumrandete Augen. Ich hatte immer noch Fieber, das merkte ich sofort. Lange ließ ich das kalte Wasser über die Arme und Handgelenke laufen, das tat gut. Dann ging ich an Sender Büro vorbei, es war dunkel, wo Sender wohl sein mochte? Ging es mir sofort durch den Kopf. Ich hatte ihn gar nicht gesehen, im Schlafsaal. Bestimmt hatte er ein eigenes Zimmer. Im Bereitschaftsraum, sah ich mich um. Alles war dunkel die Fenster waren weit offen, eine angenehme Luft drang in den Raum. Ich atmete tief ein und aus. Langsam ging ich zum Fenster, schaute hinaus. Auf der gegenüberliegenden Seite war der Kiosk, die Straße die gestern früh so dicht befahren war, lag jetzt menschenleer da, der Kiosk war mit lauter Brettern verschlossen.

Ich schaute mich um, nach einer Ecke, in der ich mich beschützt und bequem hinsetzen konnte. Hinter dem Sofa an der rechten Seite, war eine große Lücke, in der nur eine Lampe stand. Ich schob sie ein Stück näher an das Sofa, dann setzte ich mich in diese Ecke. Von da aus konnte ich den ganzen Raum überblicken. Gedankenverloren, starte ich aus dem gegenüberliegenden Fenster.

Wieder kamen mir Erinnerungen hoch, von gestern. Ich stand an dem Taxi und schaute über die Schulter. Alle blickten sie mich an. Mein Herz verkrampfte sich. Ich fühlte mich so alleine. Noch nie in unserem Leben, waren wir so weit und so endgültig voneinander getrennt. Stets konnten wir uns noch hören, uns gegenseitig Mut machen. Was sollte jetzt aus uns werden? Mir fehlten die Stimmen der anderen, vor allem die von Rashida, die mich immer beruhigen und zum Schlafen bringen konnte.

Täubchen hörte ich sie wieder in meinen Erinnerungen sagen, mach die Augen zu und schlafe. Ich legte meine Brille auf den Ständer der Lampe und schaute noch einmal auf die Uhr, die über der Tür zum Flur hing. Es war 3 Uhr 39, ich hatte noch zweieinhalb Stunden, bis ich aufstehen musste. Du musst versuchen Ruhe zu finden, ermahnte ich mich wieder.

Abermals versuchte ich mich, auf meine Atmung zu konzentrieren. Endlich, die Ruhe des Raumes, ein Gefühl der Geborgenheit, welches ich bis gestern nicht gekannt hatte, brachte mir dem langersehnten und vor allem erholsamen Schlaf. Ich tauchte ab in einen Schlaf, den ich nur schlafen konnte, wenn ich mich beschützt fühlte. Irgendetwas war hier, dass mir diese Ruhe gab, ich hätte nicht erklären können was. Aber es war so. 

Ich saß zusammengekauert und hatte meine Knie umschlungen, in der äußersten Ecke des Raumes. Nur bekleidet in einer Turnhose und einem T-Shirt, halb verdeckt von dem Sofa und schlief tief und fest. Ohne zu träumen und ohne auf meinen Umgebung zu achten, etwas dass mir nie passierte, wenn ich irgendwo fremd und unbeschützt war.

 

Rudi Sender, dem Teamleiter und neuem Chef Kahlyns erging es nicht viel besser. Er hatte sich am heutigen Tag, viel zu sehr aufgeregt und konnte ebenfalls nicht herunter fahren. Senders war ein Mensch dem Recht und Gerechtigkeit sehr am Herzen lag. Er konnte mit dem, was er heute erleben musste, einfach nicht umgehen. Senders war ein sehr Emotionsgeladener Mensch. Er selber hatte schon einiges erlebt in seinem Leben und war aus der Überzeugung heraus Polizist geworden, dass er dadurch, die Welt etwas besser machen konnte. Das Telefonat mit Mayer, der vorangegangen Streit mit seinem besten Freund dem Polizeirat Runge, steckten ihm tief in den Knochen. Schlimmer noch als der vorangegangene schlimme Einsatz, der letzten Woche.

In diesem Zustand, brauchte er sich nicht hinlegen, er hätte sowieso nicht schlafen können. Eine ganze Weile schwatzte er noch mit seinen Kollegen und man flachste wie immer etwas herum. Aber es kam heute irgendwie und trotzdem verständlicher Weise, keine richtige Stimmung auf. Selbst die Witzbolde in der Truppe, waren heute eigenartig still. Immer wieder, kam das Thema auf Kahlyn und ihre lange Rede. Keiner von den Männern konnte sie richtig nachvollziehen. Im Gegensatz zu sonst, zog sich Sender sehr zeitig in sein Büro zurück. Er brauchte einfach etwas Ruhe, um nachzudenken.

Heute, hatte sich Sender, seit langem wieder einmal, mit seinem alten Freund Johannes Runge richtig böse in die Wolle bekommen. Weil dieser verbohrte Bürokrat, wie er ihn gern nannte, ihn einfach nicht begreifen wollte. Er liebte Runge wie einen Bruder, aber so manche Tage fiel es dem Major schwer, den Gedankenabläufen des Polizeirates zu folgen. Polizeirat Runge und Rudi Senders kannten sich schon seit Ewigkeiten. Hatten auf der gleichen Wache, bei der Polizei als Anwärter angefangen und waren viele Jahre zusammen auf Streife gelaufen. Beide stellten gleichzeitig den Antrag bei zuständigen SEK, mit der Bitte um Ausbildung und Aufnahme in das Kommando. Damals passierte etwas ganz seltenes, zwei Polizeibeamte aus einer Wache, bekamen gleichzeitig die Möglichkeit an einem SEK-Aufnahmeverfahren teilzunehmen und beide schafften die Prüfung oder besser gesagt den Aufnahmetest. Fast sieben Jahre dienten sie danach, hier in diesem Kommando, bis zu jenem verhängnisvollen Tag, an dem Johannes so schwer verletzt wurde. Nach seiner Genesung, wurde Johannes Runge in die Verwaltung versetzt und war dort jahrelang bei der Dienstaufsicht erst hauptamtlich und zum Schluss nur noch ehrenamtlich tätig. Runge machte steile Kariere, nach seinem schweren Unfall. Da er das Herz auf dem rechten Fleck trug und genügend Diplomatie besaß, um seine Ideen durchzusetzen. Es geschah etwas, dass Runge selber nie für möglich gehalten hatte. Man übergab ihm das Amt des Polizeirat von Thüringen. Eigentlich müsste Sender seinen Freund Runge ja Siezen, doch nach so vielen Jahren in einer Einheit und so vielen gemeinsamen Kämpfen, ließ man das "Du" nicht mehr. Solange sie alleine waren, bleiben sie immer, beim du. Sie hatten sich allerdings darauf geeinigt, die Umgangsformen zu beachten und sobald Untergebene oder Fremde dabei waren, diese den Vorschriften entsprechend anzuwenden. Es gab aber oft Situationen, indem, mit den temperamentvollen Sender die Pferde durchgingen. Da rutschte Sender heute noch, das "Du" heraus. Runge nahm das seinem alten Kameraden nie übel. Obwohl der Polizeirat fast acht Jahre älter war als Sender, waren sie doch immer noch eng befreundet. Keine Zwistigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten, kein Streit unter Kollegen, hatte das je ändern können. Schon einige Male, seit dem Runge Polizeirat war, bekamen sie sich böse in die Wolle. All das brachte sie nie auseinander, sondern festigte ihre Freundschaft noch mehr. Immer wieder fanden sie Wege sich auszusprechen und sich wieder zu vertragen. Meistens war Sender derjenige, der alle Anstandsregeln vergaß und anfing zu brüllen. Er war halt sehr temperamentvoll. So wie heute, hatten sie sich allerdings lange nicht mehr angebrüllt, dies musste er unbedingt bereinigen. Sender hatte seinen Freund Runge, wieder einmal auf eine sehr harte Geduldsprobe gestellt. Er war sehr direkt und verletzend zu ihm gewesen. Der Teamleiter des SEK 61 sah durch die Scheibe seines Büros und blickte auf die Uhr. Es war erst kurz nach 22 Uhr, da konnte er Runge, ohne schlechtes Gewissen, noch anrufen. Sender atmete tief durch und stand auf, durchquerte den Bereitschaftsraum und ging zielstrebig nach vorn in die Wachstube, um sich bei seinem Freund zu entschuldigen und wieder klare Fronten zu schaffen. So etwas ließ ihm einfach keine Ruhe.

"Guten Abend", begrüßte er seine Wachtmeister. "Oliver, sag mal brauchst du dein Büro heute Nacht", erkundigte er sich breit grinsend, bei seinem Schichtleiter der Nachtschicht.

"Nee, warum Rudi?"

Oberwachtmeister Jäger der Schichtleiter der Wachstube, grinste Sender lausbübisch an, wie immer waren da nicht dienstliche Hintergedanken, die ihm durch den Kopf schossen. Er war für seine spitzen Bemerkungen bekannt. Deshalb ging Sender gleich auf Olivers Anspielung ein. Grinste diesen breit an.

"Olli, du weißt doch wie das ist. Ich will meine Hausfreundin anrufen. Das kann ich doch nicht von meinem Büro aus machen", alberte er mit Oliver herum. Dann wurde er allerdings ernst. "Nee, nee keine Angst. Ich hab ein etwas längeres Gespräch mit dem Polizeirat, das auch etwas lauter werden könnte. Du kennst mich doch und weißt selber, wie das ist. Hinten bei uns, hört man im Schlafsaal, schon die normalen Gespräche mit. So wie ich mich heute schon mal mit Jo angebrüllt habe, kann es sein, dass es wieder etwas lauter wird. Was ich allerdings nicht hoffe"

Oliver, der das verstehen konnte, nickte. "Geh nur rein, meinen Schreibkram kann ich auch hier draußen erledigen."

"Danke Oliver, du hast etwas bei mir gut. Es ist verdammt wichtig. Du weißt sonst würde ich dich nicht drum bitten. Könntet ihr mir vielleicht eine Kanne Kaffee hinterbringen? Das wär total lieb. Ich bin todmüde."

Oliver nickte nochmals und verschwand nach hinten in die Küche, um Kaffee zu holen. Sender bedankte sich, bei den beiden Wachtmeistern der Nachtschicht und lief weiter hinter, in Olivers Büro. Er setzte sich bequem in dessen Sessel und griff entschlossen zum Telefon. Kaum, dass er die Nummer gewählt hatte, sprach eine Frauenstimme, am anderen Ende der Leitung.

"Hier bei Runge", erleichtert atmete Sender auf.

"Viola, entschuldige, dass ich so spät noch anrufe. Aber bei mir war heute die Hölle los. Sag mal, ist Jo noch auf oder schläft er schon?"

Rudi konnte sich zwar nicht vorstellen, dass Jo schon schlief. Wenn, sie sich so richtig in der Wolle gehabt hatten, konnte keiner von ihnen beiden schlafen. Aber Jo wurde ja auch nicht jünger. In dem Moment klopfte es. Oliver kam mit einer Tasse und einer großen Kanne Kaffee, in sein Büro, stellte alles vor Sender hin.

"Milch hab ich schon drinnen, Rudi. Wenn er alle ist sag Bescheid, dann kochen wir neuen", informierte er Senders, leise flüsternd, um nicht zu stören.

"Danke", murmelte Sender kurz angebunden, lächelte aber Oliver dankbar zu. Sofort griff er nach der Kanne und goss sich seine Tasse voll. Der heiße starke Kaffee belebte seine müden Sinne, wieder etwas.

Da antwortete Viola schon am anderen Ende der Leitung. "Was denkst du Rudi? Glaubst du wirklich, dass er schläft?"

Er konnte sich die steile Falte, zwischen den Augenbrauen von Viola bildlich vorstellen. Auch konnte er sich schon gut ausmalen, mit was für einer Saulaune Jo heute nach Hause gekommen war.

"Na, ja", druckste er erst einmal ein wenig herum, um seine Verlegenheit zu überspielen. "Ich glaube nicht, dass er schläft. Nicht nach dem Krach den wir beide heute hatten. Hast du eine Ahnung, ob er überhaupt noch mit mir reden will? Ich würde mich gern bei ihm entschuldigen. Aber es war heute einfach nicht mein Tag."

Wieder sah der Major Violas Gesicht vor seinem inneren Auge, vor allem ihr schelmisches Lächeln, welches sie fast immer um ihre Augen hatte. Sie kannte ihre beiden Männer nur zu gut.

"Ja klar Rudi, hole ich dir deinen Jo. Geb ihm bitte zwei Minuten, er sieht gerade nach dem Kleinen. Ich bekomme Tim wieder einmal nicht dazu, zu schlafen", hörte er sie sagen.

"Danke", antwortet Sender gedankenverloren.

Ach, wie lange er Viola kannte. Bevor sie sich für Johannes entschieden hatte, war er immer drauf und dran, sie zu fragen, ob sie beiden es versuchen wollten. Leider hatte er nie den Mut dazu gefunden. Als dann sein Freund, um Violas Hand anhielt, wünschte er beiden alles Glück auf Erden. Nie hatte er je eine andere Frau so wie Viola geliebt. Egal, was sein Freund auch versucht hatte, er hatte Rudi nie an eine andere Frau verkuppeln können. Tja so gehörte er halt, mit zur Familie. Wo die Runges waren, so hieß es auf der Dienststelle, war Sender auch nicht weit. Das hatte der Freundschaft nie geschadet. Sogar, als die Runges ihr Eigenheim bauten, wurde Sender mit einbezogen, man baute so, dass er eine Einliegerwohnung beziehen konnte. Die eigentlich später einmal für Runges Kinder, als Jugendzimmer gedacht war. Da Sender allerdings immer noch dort wohnte, hatte man einfach das Haus aufgestockt, als die Kinder größer wurden.

Runges tiefer Bass riss Sender aus seinen Gedankengängen. "Wenn du mich wieder nur anbrüllen willst Rudi, dann lege gleich auf. Für heute hast du mich genug angeschrien", auch, wenn die Worte ernst gemeint waren, so waren sie nicht böse gemeint.

"Nein, Jo ich rufe nur an, weil ich mich bei dir entschuldigen muss. Ich glaube du warst heute mein Sandsack, an dem ich mich austoben konnte. Es tut mir wirklich leid. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was heute bei mir los war."

Runge lachte schallend. "Na, in Ordnung. Sandsack ist gut, so kam ich mir heute auch ungefähr vor. Was war denn überhaupt los? So habe ich dich ja seit Jahren nicht mehr erlebt. Nicht mal auf der Polizeischule bist du so ausgerastet. Dort warst du noch eine richtige Temperamentsschleuder."

Jetzt musste sogar Sender lachen. Ihm fielen sofort einige Sachen von der Polizeischule ein. Bei denen er auch ganz schön an die Decke gegangen war. Aber Runge hat Recht, so wie heute war er noch nie ausgerastet.

"Na, ich schlage dir vor, du nimmst dir ein Glas Wein und setzt dich erst mal bequem hin. Das ist nicht in fünf Minuten erzählt."

Dumpf hörte er Runge sagen, dieser hielt die Hand auf die Sprechmuschel. "Veilchen, bist du so lieb und gibst deinen armen geplagten Gatten ein Gläschen Wein? Damit ich Seelsorger für unser viertes Kind spielen kann?"

"Kommt sofort. Soll ich dir auch für Rudi eins mitbringen? Das kannst du dann für ihn mittrinken", ging Viola auf den Scherz ihres Mannes ein.

Runge begann schallend an zu lachen, es hörte sich an, wie ein Gewitter grollen. "Hast du das gehört Rudi? Veilchen will mich besoffen machen, damit ich dich besser ertragen kann", wieder kam das tiefe dunkle, an ein Gewitter in der Ferne erinnerte Lachen, Runges. "Na nun erzähl mal Rudi. Was war heute bei dir los? Dass du so ausgeflippt bist. Das kenne ich doch von dir gar nicht mehr."

Ganz von vorn, begann Rudi ihm zu erzählen, wie und was sich auf der Dienststelle alles zu getragen hatte. Runge, der ein sehr guter Zuhörer war, ließ seinen Freund erst einmal erzählen. Obwohl das eine oder andere Mal ein

"Das ist jetzt nicht dein Ernst?" oder

"Das gibt es doch nicht." herausrutscht.

Nachdem Rudi seinen Freund alles erzählt hat, herrschte eine Weile Ruhe. Gerade als Sender nachfragen wollte, was Jo von der ganzen Sache hielt, fing dieser an zu sprechen.

"Rudi, jetzt verstehe ich, warum du so ausgerastet bist. Wenn mir das, ein fremder Kollege, von einer anderen Dienststelle erzählt hätte, würde ich sagen, er soll die Märchen, wo anders erzählen. Aber ich kenne dich jetzt so viele Jahre, dass ich weiß, dass jedes einzelne deiner Worte wahr ist. Ich kann es nicht fassen. Rudi, wir müssen unbedingt heraus bekommen, was die Kleene weiß."

Jo nahm einen großen Schluck Wein und zündete sich eine Zigarette an. Sender der seinen Freund gut kannte, ließ ihn diese Gedankenpause, bevor er sprach.

"Jo ich glaube nicht, dass die Kleene darüber sprechen wird. Kahlyn ist viel zu sehr in die Befehlsstruktur integriert, als dass sie einem ehemaligen Vorgesetzter, in Schwierigkeiten bringen würde. Ich nehme auch stark an, dass diese Kinder, in einer ganz anderen Welt aufgewachsen sind, als deine. Das, was ich heute bei ihr erlebt habe, war nicht normal. Linientreue ist ja was Gutes, aber, wenn dich ein sechszehnjähriges Kind belehrt, wie du die Befehlsstruktur zu befolgen hast, dann wird dir ganz anders. Hört dir mal an, was das Mädel heute erklärt hat. Wenn es nicht so verdammt traurig wäre, Jo, könnte man vielleicht darüber lachen. Wie du weißt, ist die Kleine sechzehn Jahre alt, so alt wie deine Jenny."

Sender räusperte sich und versuchte die Stimme seiner so jungen und neuen Kollegin nachzumachen. Was ihm fast perfekt gelang. Gab wortwörtlich das wieder, was Kahlyn ihm erklärt hatte. So schnell würde er deren Worte, nicht vergessen.

"Sir, es gibt Momente im Leben eines Soldaten oder Polizisten, in dem man sich über Befehle hinwegsetzen muss. Das weiß ich, nach den vielen Einsätzen, die ich hinter mir habe, auch. Ich habe das nicht nur einmal getan. Man hat mich deshalb oft genug bestraft. Das sind allerdings Befehle, welche die gesamte Gruppe gefährden oder zum Tod von unschuldigen Zivilisten führen würden. Diesen Befehlen widerspreche ich auch, egal wie hoch die Strafe dafür ist. Es kommt immer darauf an, was das für Befehle sind. Der Befehl über schulinterne Angelegenheiten nicht zu sprechen, birgt kaum eine Gefahr und ruiniert niemandes Gesundheit. Deshalb kann ich es mir leisten, die Befehlsfolge einzuhalten. Wenn sie denken dass ich das nicht weiß, dann müssen sie noch viel über mich lernen. Wir haben viele Kämpfe nur dadurch gewonnen, weil wir uns nicht an die gegebenen Befehle hielten und eigene Initiative ergriffen. Nur deshalb, konnten wir überleben. Von der oberen Befehlsstruktur, ist es nicht immer möglich, die gesamte Situation im Vornherein, korrekt zu planen. Deshalb ist es wichtig als Befehlsempfänger, in bestimmter Situation eigenständige, der Situation entsprechende Entscheidungen zu fällen. Nur dadurch kann man gewährleisten, dass die Mission erfolgreich ausgeht, der Verlust an Menschen und Material, so gering wie möglich bleibt. Nur ein eigenständig denkender Soldat, ist ein guter Soldat. Ein Soldat der nur streng nach Befehlen handelt, ist dem Tode geweiht. Wir haben das sehr früh lernen müssen, viele von uns haben es mit ihrem Leben bezahlt. Glauben sie mir, dass wir diese Lektion in unserer Ausbildung, nicht nur schnell gelernt haben, sondern auch sehr teuer bezahlt haben. Es waren unsere Freunde die gestorben sind, SIR."

Runge war schockiert. "Das hat sie dir nicht gesagt, Rudi das nicht."

"Doch, das ist einer, von den wenigen langen Sätzen, die sie von sich gegeben hat. Der einzige Jo, in dem ich nicht nach jedem Satzzeichen, das Wort Sir gehört habe. Ich habe keine Ahnung, was die mit diesen Kindern gemacht haben. Aber irgendetwas, stimmt da nicht. Du musst mal ihre Arme sehen, die sind total vernarbt und erst ihre Augen. Das habe ich ganz vergessen dir zu erzählen. Die Sören aus der Wachstube, brachte Kahlyn hinter zu mir. Ich hatte sie total vergessen. Es war schon kurz nach 16 Uhr und die Kleene hat neun Stunden, ohne zu murren oder sich bemerkbar zu machen, in der Wartezone an ein und demselben Fleck gestanden. Ja sag nichts, ich hatte sie wirklich vergessen. Also kam mein kleiner Wachtmeisterteufel, du kennst sie, dass ist die mit den roten Haaren, natürlich wutentbrannt mit ihr nach hinten und machte mich erst mal zur Schnecke. Du kennst Ines ja. Ich scherze natürlich rum, wie ich es immer mit ihr mache. Sah natürlich sofort, dass die Neue einen Sonnenbrille auf hat."

"Oh je", kam es aus dem Hörer.

"Genau, du kennst meine Abneigung, gegen diese Sonnenbrillentypen. Ich bat sie also in mein Büro und mache sie erst mal fertig, wegen der Brille. Zögerlich nahm sie die dann ab und statt mir in die Augen zu sehen, guckte sie ständig auf ihre Füße."

Runge konnte sich vorstellen, wie das seinen Freund aufgeregt hatte. Da der immer zu jeden den Blickkontakt suchte.

"Dieses Mädel regte mich auf und brachte mich langsam zur Weißglut. Ich war hundemüde Jo, wir waren über drei Tage im Einsatz, dann die Besprechung noch, ich hatte kaum drei Stunden geschlafen. Dann stand da, so eine kleine Rotzgöre mit Sonnenbrille und antwortet mir nicht. Du kannst dir vorstellen, wie weit oben ich da schon war? Weil ich dachte, sie wollte mich provozieren. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie nicht reden darf, ohne dazu aufgefordert zu werden. Jedenfalls brüllte ich sie an und habe sie runtergeputzt. Da schaute sie einen kleinen Moment nach oben und ich erschrak mich fast zu Tode. Jo, ich wäre vor Schreck fast von Stuhl gefallen. Die Kleine hat keine richtigen Augen, ich weiß nicht, was das ist, was sie da hat, aber es sind keine Augen, wie du oder ich sie haben. Silbern rot oder orange Bälle, ohne Pupille. Auch gibt es in Kahlyns Augen keine weiße Stelle. Du weißt mich schreckt nicht gleich etwas. Aber mir wäre vor Schreck, fast das Herz stehen geblieben. Mir lief es eiskalt über den Rücken, das kannst du mir glauben. Später, habe ich ihr dann richtig in die Augen sehen können. Sie sind wunderschön. Aber jeder der sie das erste Mal sieht, wird sich wohl genau wie ich erschrecken. Wie kann man Kindern, nur so etwas antun? Vor allem entschuldigt sie sich noch dafür", Sender schwieg, er merkte, dass er sich schon wieder in Rage redete.

"Beruhige dich Rudi, ich kann mir vorstellen wie es dir ging. Mir fällt jetzt auch wieder ein, woher ich den Namen Mayer kenne. Das ist das Dalinow-Projekt. Ein Projekt, was schon seit über zwanzig Jahren läuft. Keiner weiß darüber etwas genaues, keiner will damit etwas zu tun haben. Es ist seit mehr als siebzehn Jahren verschrien, als menschenunwürdig. Da man es aber angefangen hatte, wurde es bis zum bitteren Abschluss gebracht. Was hätten sie auch machen sollen, die Kinder waren nun mal da. Das war vor drei Jahren, eine der ersten schweren Entscheidungen, die ich als Polizeirat fällen musste. Ich musste damals im Innenministerium, mit darüber abstimmen, ob das Projekt abgebrochen oder bis zur Vollendung des sechzehnten Ausbildungsjahres der Kinder durchgezogen wird. Es war damals schon eine beschlossene Sache, diese Kinder vorzeitig, also mit sechzehn Jahren in den aktiven Polizeidienst aufzunehmen. Du musst dir mal vorstellen, die sind, seit ihrem dritten Lebensjahr, fast ständig in Kampfeinsätzen und sind sehr kampferfahren. Uns machte damals, ein Dr. Jacob sehr deutlich klar, dass der Abbruch der Ausbildung für die Kinder schädlich wäre, alle steckten noch in wichtigen Fortbildungen, die kurz vor dem Abschluss standen. Würde man das Projekt jetzt abbrechen, würde man den Kindern, die kleine Chance nehmen, die sie überhaupt hatten, um in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Er hatte eines der Kinder mit, es war ein Junge von dreizehn Jahren, der war fast zwei Meter groß und bestimmt hundert Kilo schwer. Im ersten Moment, war ich genau so erschrocken wie du. Dieser Dr. Jacob bat ihn, seine Brille abzunehmen. Später unterhielt ich mich mit dem Buben. Er hieß glaube ich Raino oder Saiko und ich bat ihn ob ich seine Augen noch einmal sehen dürfte. Er setzte ohne zu murren die Brille ab. Er hatte einfach wunderschöne Augen. Ich weiß gar nicht, wie ich sie beschreiben soll, wie ein in Silber gegossener Regenbogen vielleicht. Einfach faszinierend. Nach der Unterhaltung mit dem Jungen, die im übrigens sehr interessant und lehrreich war, habe ich für die Weiterführung des Projektes gestimmt. Was, wie ich jetzt erkenne, wohl ein Fehler war. Tja, so ist nun mal das Leben, wenn man nicht alle Informationen bekommt, kann man nicht richtig abstimmen", müde sagte er dann zu Sender. "Weißt du was Rudi, wir versuchen noch etwas zu schlafen, es ist jetzt schon 4 Uhr 30 durch. Wir müssen heute beide zeitig raus."

Erschrocken sah Sender auf die Uhr in der Wachstube. "Geht klar Jo, wir telefonieren noch mal die Tage. Schlaf gut, ich werde mich auch noch eine Stunde hinlegen. Eigentlich, wollte ich mich bei dir ja nur entschuldigen."

Wieder einmal lachte Runge auf. "Ist angenommen, also ab in die Koje mit dir. Bis die Tage."

"Ja du auch und grüße mir das Veilchen."

Endlich legte Sender auf. Erleichtert darüber, dass der Freund ihm wie so oft verziehen hatte. Müde streckte er sich und verließ Olivers Büro. Bewaffnet, mit einer leeren Kanne und einer schmutzigen Tasse.

"Danke Oliver, ich bin dann hinten, um vielleicht doch noch ein wenig zu schlafen. Wenn was ist, wecke mich bitte."

"Mach ich Rudi. War ja ein langes Gespräch, alles wieder klar mit dir und Runge", fragte er grinsend.

Sender lächelte. "Klar doch Oliver. Du weißt doch, der Polizeirat kann mir nicht wirklich böse sein. Ach, wenn irgendjemand etwas für einen Leutnant Kahlyn abgeben will, dann nehme das bitte an und sag es auch den anderen Schichten. Bringe es einfach nach hinten in den Bereitschaftsraum. Guten Nacht ihr zwei und ruhigen Dienst noch."

Zügig machte er sich auf den Weg in den Schlafsaal, um nach Kahlyn zu sehen und sich dann auch noch ein wenig hinzulegen. Dort angekommen, ging er im Dunkeln in die Ecke, in der es sich Kahlyn bequem gemacht hatte, doch die Ecke war leer. Nein dachte er bei sich, nicht noch mehr Ärger, das verkrafte ich heute nicht mehr.

Leise vor sich hin fluchend verließ er den Schlafsaal und ging in die Dusche, Toilette, selbst in seinem Büro sah er nach, ob er seine junge Untergebene irgendwo finden konnte. Nirgends war sie zu sehen. Wieder ging er in die Wachstube.

"Oliver, hat eine junge Frau, in der Zeit in der ich telefoniert habe, die Wache verlassen?"

Oliver schüttelte den Kopf. "Du weißt doch, dass man die Wache nur verlassen kann, wenn ich die Tür öffne, Rudi. Es ist seit um 20 Uhr, keiner mehr aus der Wache gegangen. Außer Wolle, der hat sich eine Schachtel Zigaretten geholt."  

"Danke Oliver. Verdammt noch mal, wo steckt die Kleene nur. Ich mach mal das Licht hinten an. Vielleicht sitzt sie in einer Ecke, wo ich sie nicht gleich sehe."

Eilig und beunruhigt ging er zurück in den Bereitschaftsraum, betätigt auch auf die Gefahr hin, das Mädchen zu wecken, den Schalter für die Deckenbeleuchtung. Suchend blickte er sich um. Da entdeckte er sie, in der Ecke halb sitzend und halb liegend. Nur begleitet mit einer Turnhose, einen T-Shirt. Zusammengesunken und zusammengerollt, wie ein ängstliches Tier, aber tief und fest schlafend. Erleichter, dass er sie gefunden hatte, ließ er sie dort, wo sie lag. Er wollte das Mädchen nicht unnötig wecken. Vorsichtig nahm er eine Decke vom Sofa, deckte sein neues Teammitglied zu, streichelte ihr vorsichtig über den Kopf.

"Na, dann schlaf mal schön, Kahlyn. Der Schlaf hat dich ja nun doch noch gefunden."

Nochmals kehrte der Major in die Wachstube zurück. "Ich hab sie gefunden Oliver. Sie ist im Bereitschaftsraum eingeschlafen. Achtet mal mit darauf, dass man sie nicht weckt. Also bis dann."

Aufatmend drehte er sich um und ging in sein Büro, legte sich auf seine Couch. Ins Bett brauchte er nicht mehr, es war eh nur noch reichlich eine halbe Stunden, bis er aufstehen musste. Wieder einmal eine Nacht, in der er kaum geschlafen hatte. Na ja, dann halt heute Abend. Da gehe ich mal zeitig schlafen, nahm er sich vor. Nach der Decke greifend und sie über sich ziehend, drehte er sich auf die Seite und schlief sofort ein.

 

Trotzdem ich hier völlig fremd war, schlief ich so fest, dass ich nichts von dem mitbekam, was um mich herum geschah. Lag es an der Tatsache, dass ich schon seit neun Tagen, nur maximal zwei Stunden am Stück geschlafen hatte. Oder lag es daran, dass ich mich so krank fühlte. Es konnte auch an der ganze Aufregung, der letzten Tage liegen oder daran, dass ich meine Freunde nicht fühlte. Oder lag es daran, dass ich das Gefühl hatte, mir konnte hier nichts passieren. Ich wusste es nicht.

Jedenfalls schlief ich tief und traumlos und vor allem erholsam, wie lange nicht mehr. Ich lag noch in meiner Ecke, als meine neuen Kollegen am Morgen, gegen 5 Uhr 30 den Raum betraten. Keiner nahm Rücksicht. Da ich so verdeckt lag, dass man mich nur sehen konnte, wenn man in die Fernsehecke ging und mich direkt suchen würde. Es wurde geschwatzt und gelacht. Man trieb Franko an, doch endlich Kaffee zu kochen. Gemeinsam deckten die Männer den Tisch. Es war früh um 6 Uhr, als es allmählich immer lauter wurde. Die Frühschicht hatte Brötchen mitgebracht. Die Nachtschicht, die Bereitschaft und die Frühschicht, versammelten sich im Bereitschaftsraum, zum allmorgendlichen Frühstück. Der halben Stunde am Tag, in der man Zeit für einander hatte und alle wichtigen Dinge besprach.

Langsam kam ich zu mir, wusste im ersten Moment gar nicht, was los war. Es war so laut, das kannte ich nicht. Instinktiv, griff ich nach meinen Waffen und merkte, dass ich vollkommen unbewaffnet hier lag. Es irritierte mich noch mehr. Ich hatte immer Waffen bei mir. Außer, wenn ich nicht zu Hause war. Wieso, waren die anderen nicht da? Wo waren meine Freunde? Panik kam in mir hoch. Vorsichtig hob ich den Kopf, um die Umgebung zu sondieren. Mit dem Heben des Kopfes und dem öffnen meiner Augen, kam das Licht und die damit verbunden Schmerzen in den Augen. Plötzlich kamen auch die Erinnerungen an den gestrigen Tag zurück. Ich tastete nach meiner Brille, mit geschlossenen Augen. Das Licht schmerzte unerträglich und es stach wie mit Nadeln darin. Ich fand sie in der hintersten Ecke. Sie war von dem Sockel der Lampe gefallen. Sofort setzte ich sie auf. So war es besser, ich konnte wieder etwas erkennen. Der Raum war nicht mehr, in grelle weiße Sonnen getaucht. Es war mir unangenehm, dass mich meine Kollegen hier so sahen. Vor allem aber, dass ich nicht wach geworden war, begriff ich nicht. So etwas war mir noch nie, in einer fremden Umgebung, geschehen. Ich kontrollierte meinen Körper, das Fieber war etwas gesunken, auch die Übelkeit war fast weg. Es ging mir wesentlich besser, als in der Nacht. Der Schlaf hatte es also fast wieder gerichtet. Ich streckte mich erst einmal und stand dann auf. Legte die Decke zusammen, die auf dem Boden lag. Sofort ging ich in Richtung Spinde und dann weiter in den Duschraum. Schnell zog ich mich aus und stellte mich unter die Dusche. Ich hatte Glück und war ganz alleine in der Dusche. So konnte ich richtig heiß duschen und vor allem lange. Keiner kam und trieb mich zur Eile an. Ich genoss es, das heiße Wasser auf meiner Haut zu spüren. Meine Muskeln, die immer noch weh tat, von den letzten Tagen, entspannten sich langsam. Auch meine Kopfschmerzen, ließen etwas nach. Ich machte noch eine zweite Dusche an, bei der ich nur das kalte Wasser aufdrehte. So wechselte ich zwischen der heißen und der kalten Dusche hin und her. Es war eine Wohltat. Nach zwanzig Minuten, stellte ich die beiden Duschen ab und trocknete mich ab. Ging nackt, wie ich war zu meinem Spind. Das Badehandtuch, über die Schultern geworfen, dort zog ich mich so an, wie ich es bei meinen Kollegen gesehen hatte. Nur, dass ich statt einem Unterhemd, ein ärmelloses T-Shirt anzog. Etwas, dass mir Tony zugestanden hatte, als er meinen Rücken sah. Er hatte mir aber versprochen, mit niemand darüber zu sprechen. Die Kollegen würden es noch zeitig genug sehen. Ich hatte keine Probleme damit, nur sah es halt nicht sehr schön aus. Sah meine Narben jemand, brach eine stundenlange Diskussion aus und das wollte ich vermeiden. Dann ging ich weiter nach vorn, in den Bereitschaftsraum, gleich auf den Platz neben John.

"Guten Morgen Kahlyn", kam es von allen Seiten. Ich nickte, weil ich keine Ahnung hatte, was ich dazu sagen sollte. So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt, nicht einmal Dika und Doko. John beugte sich zu mir herüber. Er spürte wohl meine Unsicherheit, flüsterte mir deshalb zu.

"Sag einfach guten Morgen allerseits."

Ich brachte wie mir vorgeschlagen hatte, mühsam einen kleinen Gruß hervor. "Sir, Guten Morgen, Sir."

Sender sah lächelnd zu mir, wie auch alle anderen. Alle aßen, erzählten, es wurde gelacht und gescherzt. Franko stand auf und brachte mir einen Becher mit Wasser.

"Entschuldige Kahlyn, aber außer dem, was auf dem Tisch ist, habe ich nichts für dich. Kannst du davon, etwas essen oder möchtest du einen Kaffee."

Verwundert schaute ich mit schief gehaltenem Kopf, diesen Franko an. Er erinnerte mich irgendwie an Walter aus der Soko. "Sir, ein Kaffee wäre schön, Sir", antwortete ich leise und verunsichert.

Ein Strahlen leuchtete in Frankos Augen auf. Endlich konnte er diesem Mädchen auch etwas anbieten, was er hatte. Er nahm seine Becher Wasser, schüttete sie aus und stellte ihn weg. Aus einer großen Thermoskanne, schüttete er heißen Kaffee in eine neue Tasse. Sich nochmals an das junge Mädchen wendend.

"Kahlyn, Zucker oder Milch oder beides in deinen Kaffee?"

Ich schüttelte irritiert den Kopf, das hatte mich noch keiner gefragt. "Sir, nein nichts, nur Kaffee, Sir", gab ich verlegen zur Antwort.

Daraufhin, stellte er mir den Becher mit Kaffee vor die Nase. "Lass ihn dir schmecken. Ich hoffe er ist stark genug", breit grinsend, setzte er sich auf seinen Platz.

"Sir, Danke, Sir."

Vorsichtig nahm ich den Becher und trank einen Schluck. Der Kaffee schmeckte einfach wunderbar. So guten Kaffee, hatte ich noch nie getrunken. In kleinen Schlucken, trank ich die Tasse leer. Dabei beobachtete ich, meine neuen Kollegen, aus den Augenwinkeln. Die waren mit dem Schmieren von Brötchen, dem Kauen so beschäftigt, dass sie alles um sich herum vergaßen. Kaum hatte ich meine Tasse leer, sprang Franko auf und füllte sie neu.

"Sir, danke schön, Sir", sagte ich verwundert.

Mir ging es auf einmal richtig gut. Meine Kopfschmerzen waren so gut wie weg, mein Magen hörte auf zu knurren, er hatte etwas Warmes bekommen. Auf einmal sprach mich einer von der Frühschicht an, die anderen hatten ihm wohl erzählt, dass ich auf dem Boden geschlafen hatte.

"Sag mal Kleines, der Fußboden im Schlafsaal, war dir wohl nicht hart genug oder warum hast du hier vorn geschlafen?", fragt er mich grinsend.

Ich wollte wie gewohnt aufstehen, um zu antworten, aber John hielt mich zurück. "Du musst nicht aufstehen, jedenfalls nicht bei uns", erklärte er mir flüsternd.

"Nein Sir, ich konnte nur nicht schlafen, Sir. Deshalb bin ich hier vor gegangen, Sir. Ich hatte Angst die anderen beim Schlafen zu stören, Sir. Dann hat mich der Schlaf wohl doch eingeholt Sir", lächelnd sah mich der mir gegenübersitzende Kollege an.

"Na, ist ja kein Wunder, dass du nicht schlafen konntest, hat dir doch keiner ein Schlaflied vorgesungen", spielte er damit auf mein junges Aussehen an.

Er fand das wohl lustig. Er fing an schallend zu lachen. John allerdings griff blitzschnell über den Tisch und gab dem Kollegen einen Klaps auf den Hinterkopf. Da dieser damit wohl absolut nicht gerechnet hatte, knallte er mit dem Gesicht auf den Tisch.

"Autsch", kam erschrocken von ihm, aber er lachte weiter und drohte John mit der Faust.

"Lass das mal lieber, die Kleine steht unter meinen persönlichen Schutz Felix. Legst du dich mit ihr an, legst du dich mit mir an und das bekommt dir beim Training nicht, das weißt du."

Dabei lachte John über das ganze Gesicht. Auch Felix, fing wieder an schallend zu lachen, dabei rieb er sich die Stirn. Ich hatte bis zu dem heutigen Tag, noch niemand so lachen gesehen. Sah abwechselnd von John, zu diesen Felix und wieder zurück. John hatte Felix geschlagen, trotzdem schien der ihm nicht böse zu sein. Trotzdem lachte er, gemeinsam mit John. Ich verstand das nicht. Sender merkte schnell, dass ich nicht wusste, was das bedeuten sollte.

"Kahlyn, nicht jedes Wort, was hier gesprochen wird, darfst du ernst nehmen. Auch nicht jede kleine Kampelei, ist ernst gemeint. Die Jungs hier, sind einfach nicht ausgelastet. Aber ich denke, in spätestens einer Stunde werden die Kollegen, alle etwas ruhiger. So viel Schlaf schadet denen nur. Du gewöhnst dich da schon dran. Schnell merkst du, ob sie es ernst meinen oder Spaß machen."

Dabei sah er John breit grinsend an. "Ich denke wir müssen aufrüsten und in Richtung Kahlyns Schule aufbrechen, um unserer Kleenen, etwas zu beißen zu organisieren. Was denkt ihr Jungs?"

Alle nickten.

Felix und die Frühschicht, sahen etwas verwundert aus. Alle starrten mich an. Mir war das total unangenehm, so viel Aufmerksamkeit, war ich einfach nicht gewohnt und mochte das gar nicht.

"Aber bevor wir zur Schlacht aufbrechen, möchte ich meinen Morgenspaziergang machen. Ich gebe dem Oberstleutnant noch eine Stunde. John, du klärst mal die Frühschicht auf. Die sterben sonst an Neugier", lächelnd sah er, erst die Kollegen von der Frühschicht an, dann blickt Sender in meine Richtung. "Würdest du mich begleiten, Kahlyn?", fragend blickte er mich an.

"Sir, Jawohl, Sir", gab ich unsicher zur Antwort, weil ich nicht wusste, was er von mir wollte und sprang sofort auf.

"Na, dann komm. Schnappen wir eine Runde Luft. Wenn dieser Oberstleutnant anruft, ihr wisst ja, wo ihr mich findet. Ihr holt mich einfach."

Sender ging um den Tisch herum, griff nach meiner Schulter und zog mich mit sich fort. Wir verließen den Bereitschaftsraum und ebenfalls die Wache. Wir überquerten gerade die Straße, da rief der Besitzer des Kiosks schon.

"Das übliche Rudi?"

Sender nickte lächelnd. "Klar doch Otto. Ich nehme heute noch zusätzlich einen Becher Kaffee und zwar schwarz wie unsere Seelen, für meine kleine Freundin hier. Die hat bestimmt Durst."

Der Mann am Kiosk, war ein glatzköpfiger, schlaksiger Mann Ende der Fünfzig. Er hatte wunderschöne grüne Augen, das fiel mir sofort auf. Sein Gesicht war geprägt von einem eigenartigen Ausdruck, es lächelt immer zu. Am Kiosk angekommen, reichte er Rudi eine Zeitung, einen Becher mit weißen Kaffee, eine Schachtel Zigaretten und den Becher Kaffee für mich.

"Danke Otto, setze es auf die Rechnung. Gibt's sonst was Neues, was ich wissen müsste?", ebenfalls lächelnd, nahm Sender alles entgegen und gab mir den Becher mit Kaffee.

"Nee Rudi. Heute Nacht war alles ruhig. Die Sterne sind noch am Himmel, die Sonne ist wieder aufgegangen. Die Banken, die ich gestern Nacht überfallen hatte, hat ihren Verlust noch nicht gemerkt. Also alles, in bester Ordnung."

Erschrocken sah ich zu Sender. Einen Banküberfall hatte dieser Mann gemacht. Aber Sender schüttelte ganz wenig den Kopf.

"Otto, wie die merken wohl immer noch nicht, dass du ihnen gestern wieder etwas reingelegt hast, damit sie mir heute etwas auszahlen können. Du kleiner Ganove. Aber lass mal diese Art von Späßen, versteht meine kleine Freundin noch nicht. Sie ist noch neu hier in der Gegend und noch nicht völlig von mir versaut."

Otto fing an schallend zu lachen, es klang wie das Meckern, einer Ziege. Ich verstand gar nichts mehr, wie so oft in den letzten Stunden.

"Na dann pass gut auf dich auf Kleines. Mit Rudi ist nicht immer gut Kirschen essen, er wird manchmal zum tobenden Stier."

Jetzt war es Sender der schallend lacht. "Ja klar, hetze die Kleene nur auf. Komm Kahlyn, bevor Otto dich noch ganz durcheinander bringt. Gehen wir lieber in den Park. Bis morgen früh Otto und lass mir ja die Banken in Ruhe."

Der Major nahm mich an der Schulter und schob mich einfach am Kiosk vorbei, zu einer Treppe.

"Tja Kahlyn, an solche Sachen, musst du dich hier gewöhnen. Das sind alles nur Albernheiten, die wir gerne mal machen. Wie ich sehe, kennst du das alles gar nicht. Aber das lernst du schon noch. Schau mal, wir gehen jetzt zu meinem Lieblingsplatz. Immer, wenn das Wetter einigermaßen ist und es meine Zeit zulässt, gehe ich dort hin. Ganz in der Frühe und genieße die Ruhe. Hier ist es einfach schön."

Er lief weiter den Weg entlang und stieg einfach über ein Blumenbeet. Sender hatte Recht, es war wunderschön hier. Der Park war nicht sehr groß, vielleicht zweihundertzwanzig Meter lang und hundertfünfzig Meter breit. Er lag am Ufer eines Flusses und war an drei Seiten umgeben, von vielen hohen Häusern. Ähnlich dem Haus, indem sich unsere Wache befand.

Der Park war wunderschön und hier war alles, was man sich an Natur wünschen konnte. Eingesäumt war der Park, von uralten Bäumen, Kastanien, Erlen, einige Buchen und viele Birken. Dazwischen waren Holunderbüsche gepflanzt, so dass man die Straße, die sich gleich daneben befand, nicht mehr sehen konnte und der Lärm der Autos geschluckt wurde. Im Inneren des Parks, gab es einen Rundweg in deren Mitte eine grüne Insel lag. Die Wiese war, mit einer vielleicht zwanzig Zentimeter hohen Umgrenzung, einer Art Zaun, vom Weg abgetrennt. Darin waren lauter kleine Felder mit Blumen und in der Mitte, befand sich eine große Rasenfläche, auf die Sender jetzt zusteuerte.

"Trete mir ja nicht auf das Beet, dann erschlägt uns Josef", rief er mir zu und setzte sich mitten auf die Wiese. Dann legte er sich auf den Rücken und starrte hoch in den Himmel.

"Setzt dich Kleene und genieße die Ruhe für ein paar Minuten. Wenn wir wieder rein gehen, ist es den ganzen Tag laut", er nahm eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie sich an und atmete den Rauch tief ein.

Langsam setzte ich mich neben ihn und sah mich um. Was ich hier sah gefiel mir. Es erinnerte mich an die Schule. Hier standen wie bei uns, lauter uralte Kastanien und Buchen. Unterhalb des Kiosks, waren ein kleiner Parcours und ein Kasten mit Sand und rund herum standen lauter Bänke. Sender musste mich wohl von der Seite beobachtet haben, plötzlich fragte er.

"Was ist los Kahlyn, warum siehst du so nachdenklich aus? Was verstehst du nicht?"

Ich überlegte, wie ich meine Frage formulieren sollte, deshalb schwieg ich eine Weile. Sender ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um ihn antworten zu können. Ich glaube er sah den Kampf, den ich mit mir kämpfte.

"Sir, warum ist der Parcours so klein, Sir. Zu was ist der Kasten mit dem Sand und die Bänke da, Sir?", stellte ich die Frage und hoffte sehr, dass ich nicht zu neugierig war.

Sender lachte. "Parcours, wo ist hier denn so etwas?"

Verwirrt blickte er zu mir hoch und stützte sich dabei mit seinen Ellenbogen hoch, damit er besser sehen konnte. Ich zeigte in die Richtung, in der, der Parcours stand.

"Das ist ein Spielplatz Kahlyn. Da spielen kleine Kinder. Klettern auf dem Gerüst herum und toben eine wenig oder spielen in dem Sandkasten. Sie backen Kuchen oder bauen Burgen aus Sand. Die Mütter oder Väter sitzen auf den Bänken und schauen den Kindern dabei zu, lesen oder stricken. Wieso soll das ein Parcours sein?"

Ich betrachtete mir das Gebilde näher an und erkannte meinen Fehler. "Sir, entschuldigen sie bitte, Sir, ich hab mich wohl geirrt, Sir."

Lächelnd betrachtete er mich, von der Seite. "Was habt ihr als Kinder gemacht, Kahlyn?" Der Major merkte sofort, dass er zu weit gegangen war.

Mein Körper versteifte sich, ohne dass ich das wollte.

"Du musst nichts sagen, ich weiß, dass du darüber, nicht sprechen darfst. Doch irgendetwas, hat dich an dein altes Zuhause erinnert. Das sah ich in deinem Gesicht."

Schweigend schaute ich auf die Bäume. Ganz schwer wurde es mir ums Herz und ich schluckte bitter. Die Sehnsucht nach meinen Freunden wurde wieder so stark wie gestern. Mit der Sehnsucht, kamen schlagartig diese unendliche Einsamkeit in mir hoch und die Traurigkeit. Vor allem aber, kam das Schwappelmonster in meinem Bauch wieder. Deshalb scheuchte ich diese Gedanken weit von mir, denn sie taten mir nicht gut. Konzentrierte mich nur auf die Dinge die ich erklären musste.

"Ja Sir, in der Schule gab es einen Platz, Sir. Der dem sehr ähnlich war. Sir. Wenn wir mal eine Stunde Zeit hatten, Sir, sind wir immer zu unserem Baum gegangen, Sir. Auch wenn einer von uns gestorben war, Sir", mit dem Finger verwies ich Senders Blick, in die Richtung einer uralten Kastanie. "Sir. Wir haben unseren Baum geliebt, Sir. Oft saßen wir auf dessen alten Ästen und träumten unseren Traum, Sir. Ich…"

In diesen Moment kam aus der Richtung der Wache, ein lauter Pfiff. Rudi sah wütend in die Richtung, jetzt würde er wieder nichts von der Kleinen erfahren. Wenn das keinen wichtigen Grund hatte, bekamen die einen Anpfiff. Schade, gerade wollte sie sich ein wenig öffnen. Morgen werde ich sie wieder mit hierher nehmen, dachte der Major bei sich. Sofort sprang er auf und befahl mir ihm zu folgen.

"Komm, wir müssen zurück. Die Zeit der Ruhe ist vorbei."

Ich sprang ebenfalls auf und folgte den hastigen Schritten Senders, hatte ihn an der Treppe des Kiosk eingeholt.

"Otto", rief Sender, als wir am Kiosk vorbeihasteten, warf ihm die Schachtel mit den Zigaretten zu. Schon waren wir über die Straße und in der Wachstube. Im Bereitschaftsraum angekommen, gab er mir das Zeichen hier zu bleiben und ich setzte mich auf den Platz der mir zugewiesen war. Sender wollte gerade in seinem Büro verschwinden, als die Tür zum Bereitschaftsraum erneut aufgestoßen wurde und die Tür mit einen Krachen gegen die Wand flog, das mir leider nur zu bekannt vorkam. Ich wandte mich etwas in diese Richtung und drehte mein Gesicht zu dem Eintreten hin. Ich hatte mich nicht getäuscht.

Oberstleutnant Mayer betrat, gefolgt von einem wütend dreinblickenden Wachtmeister, den Raum. Mittelgroß, breitschultrig und einschüchternd, stand Mayer im Türrahmen und blickte sich suchend um. Ein Mann von ca. hundertfünfundsiebzig Zentimeter Größe und ca. hundert Kilo Lebendgewicht. Ein Bulle mit mehr Muskeln als Fett. Weißblonde Haarborsten auf dem Kopf, wasserblaue eisig wirkende Augen, fanden Platz in dem wettergebräunten Gesicht. Die Mundwinkel waren verpissen nach unten gezogen und verliehen ihm ein grimmige Aussehen. Tiefe Falten auf der Stirn und den Wangen, ließen ihn um Jahre älter wirken, als er wirklich war und verliehen ihm zusätzlich ein noch mürrischeres Aussehen. Mit seinen dreiundfünfzig Jahren, war er zwar nicht mehr der Jüngste, aber bei weitem noch kein alter Mann. Er strotze vor Gesundheit und vergangener Fitness. Seine helle glockenklare Stimme, hatten wir immer gehasst.

Kapitel 3

Mayer bekam durch das knallen der Tür, sofort die Aufmerksamkeit aller im Raum befindlichen Kollegen. Genau das was er brauchte, um sich zu profilieren. Einen kurzen Moment schloss ich die Augen und holte tief Luft. Es war wie immer. Dem Oberstleutnant sah man genau an, als er den Raum betrat, was in seinem Kopf vor sich ging. Ihm stand der blanke Hass ins Gesicht geschrieben, als er im Türrahmen stand und sich umsah. Seine eiskalten Augen ließen einen, wenn man diesen Blick nicht gewohnt war, erschaudern. Mayer musterte jeden im Raum befindlichen Menschen und sortierte sie in drei verschiedene Kategorien, so wie er es seit fünfzehn Jahren ständig machte. Ich war der Meinung, dass dieser Mann schon gar nicht mehr anders konnte.

Die Erste waren Vorgesetzte. Diese behandelte er mit Hochachtung, Respekt und entsprechender Vorsicht. Die Zweite waren ihm im Rang gleichgestellte Personen und Zivilisten. Je nach dem, wie sein persönlicher oder dienstlicher Bezug zu ihnen war, behandelte er diese Gruppe Menschen mit Respekt oder trat sie mit den Füßen. Bei der dritten Kategorie handelte es sich um im Rang unter ihn stehende oder ihm unterstellte Personen. Da spielten Ränge keine Rolle. Von dieser Gruppe Menschen verlangte Mayer stets hundert prozentigen Respekt und absoluten Gehorsam. Mayer ließ sich einige Sekunden Zeit, für diesen ersten Überblick, den er sich verschaffen musste. Danach erst konnte er handeln. Das hatte er uns einmal sturzbetrunken erklärt. Wir allerdings, würden in keine dieser drei Kategorien passen, wir wären nichts anderes, als Missgeburten, Abschaum und verdienten nur den Tod. Das war vor ungefähr vierzehn Jahren und schon damals begriff ich diesen Menschen nicht.

Es dauerte ungefähr fünfzehn Sekunden, bis mich Mayer entdeckt hatte. Sofort stand ich auf, ging einige Schritte auf ihn zu und salutierte. Ich sah in seinem Gesicht, die blanke Wut. Sofort wusste ich, dass die nächsten Minuten, für mich alles andere als angenehm wurden. Zum Glück konnte ich schon seit Jahren jede noch so kleine Stimmungsschwankung, von seinem Gesicht ablesen. Der Oberstleutnant verlangte immer von uns, dass wir keinerlei Gefühlsregungen zeigen sollten. In seinem Gesicht jedoch, konnten wir lesen, wie in einem offenen Buch. Das war für uns stets von großem Vorteil, so wussten wir, was auf uns zu kam. Dadurch konnten wir uns besser, auf die Bestrafungen einstellen, die wir zu erwarten hatten.

Diesmal würde es richtig heftig werden. Mayer hatte schon lange nicht mehr so zornig ausgesehen. Da hatte mir der Major ja eine schöne Suppe eingebrockt. Ich spannte vorsichtshalber alle meine Muskeln an, um mich zu schützen und stellte mich ordentlich hin. Das würde zwar nicht viel nutzen, allerdings wollte ich ihn nicht noch zorniger machen, als er so schon war. Kaum, dass Oberstleutnant Mayer mich erblickt hatte, kam er auf mich zu gestürmt. Ohne Gruß oder auch nur einen Ton zu sagen. Wutentbrannt baute er sich vor mir auf. Im gewohnten Umgangston brüllte er mich an.

"Was fällt dir Rotzgöre eigentlich ein, dass du, dein Schule und mich, bei deinen neuen Vorgesetzten auf diese unerhörte Art und Weise in Misskredit bringst, du Stück Scheiße?", erklang seine schrille hohe Stimme, im Raum.

Im gleichen Atemzug, schlug er mir zielgenau in den Magen. Genau auf die Stelle, von der er wusste, dass ich dort eine Verletzung hatte. Er merkte sich solche Stellen immer ganz genau. Ihm war bewusst, dass er uns damit wesentlich härter bestrafen konnte. Die Schmerzen waren dadurch einfach größer, wenn die Wunden wieder aufrissen.

Da ich diese Art, seine Ausbrüche kannte, war ich darauf vorbereitet. In der Schule bekamen wir oft, diese Art von Ermahnung ab. Durch das Anspannen der gesamten Muskulatur, vor allem der Bauchmuskeln, fing ich den größten Teil des heftigen Schlages ab. Ich wankte nicht eine bisschen. Das trieb Mayer stets noch mehr in die Rage. Mir blieb allerdings keine andere Wahl. Ich musste versuchen, seine ganze Wut auf mich zu ziehen. Ich konnte doch nicht zulassen, dass meine neuen Kollegen bestraft wurden.

Dass Mayer so wütend war, hing mit dem Anruf von gestern Abend zusammen. Wie ich gestern ja schon vermutet hatte, würde sich Mayer solch eine Behandlung, durch den weit unter ihm stehenden Major Sender, nicht gefallen lassen. Er würde seine Wut nicht nur an dem Major auslassen, sondern an dem ganzen Team. Ich hatte einfach Angst, dass er alle auspeitschen würde. Das hatten sich die Männer hier nicht verdient. Schließlich hatte Major Sender mir ja nur Essen besorgen wollen. Ich musste das Team beschützen, koste es was es wolle.

Mayer hatte mir mit dem Schlag nicht wirklich weh getan, allerdings hatte der Oberstleutnant eins erreicht, dass meine gestern erst genähte Wunde, wieder aufgerissen war. Die Wunde fing von neuen an stark zu bluten.

John der schräg hinter mir, noch auf seinen Stuhl saß, wollte mich aufspringen, um mich zu beschützen. Ich drückte ihn, nach hinten fassend, zurück auf seinen Stuhl. Schüttelte unmerklich den Kopf. Er würde die Bestrafung für mich, nur verschlimmern und würde selber bestraft werden. Ich gab ihn zu verstehen, "Nicht John, bitte", dachte ich in alter Gewohnheit. Vergaß dabei völlig, dass er mich nicht hören konnte. Das wurde mir plötzlich bewusst.

"John bitte nicht", flüsterte ich so leise es ging.

Oberstleutnant Mayer bekam trotzdem mit, dass ich John zurückhalten wollte. Durch die Bewegung oder dadurch, dass ich leise gesprochen hatten.

"Was sprichst du Mistvieh, eigentlich ohne Erlaubnis? Bist du noch ganz bei Sinnen? Habe ich dir erlaubt zu reden? Sprich."

"Sir, nein, Sir. Das haben sie nicht, Sir. Entschuldigen sie bitte mein unmögliches Verhalten, Sir", gab ich in einem leisen ruhigen Ton zur Antwort.

Einen Ton, der den Oberstleutnant immer mehr in Rage brachte. Das reichte, damit Mayer seine Strafe ganz auf mich konzentrierte. Dadurch ließ er die anderen außen vor.

"Was heißt hier, nein, Sir? Sprich du kleines Biest", seine hellblauen Augen, musterten mich eiskalt.

"Sir, sie hatten mir nicht erlaubt zu sprechen, Sir. Verzeihen sie mir bitte, Sir. Ich war ungehörig, Sir. Es wird nicht wieder vorkommen, Sir. Verzeihen sie mir bitte, Sir."

Breit grinsend und siegessicher, stand Mayer vor mir und holte zu einem zweiten Schlag aus. Plötzlich überstürzten sich die Ereignisse hier im Raum. Ich verstand absolut nicht, was hier vor sich ging. Das ungläubige Gesicht des Oberstleutnants bestätigte mir, dass es ihm genauso ging. Weder Mayer noch ich, konnten die Handlungsweise der im Raum anwesenden Männer, nachvollziehen und verstehen. Verwirrt sahen wir uns beide einen Moment lang in die Augen. Dies alles dauerte nur wenige Bruchteile einer Sekunde, bis wir die Wirklichkeit realisiert hatten.

Wie aus dem Nichts heraus, stand Sender direkt vor mir und bekam die volle Wucht, des Schlages ab. Der Major ging in die Knie. Im gleichen Moment, kam ein zweiter Schlag von Oberstleutnant Mayer. Der mich zwar nicht ganz unerwartet traf, den ich aber nicht abfedern konnte. Ich hatte durch das plötzliche Auftauchen und das Zusammenbrechen Senders, meine Muskulatur etwas gelockert. Außerdem verdeckte mir Sender einen kleinen Moment, die Sicht auf den Oberstleutnant. Dadurch konnte ich nicht genau sehen, was dieser als nächstes tun würde. Ich reagierte mehr instinktiv. Wusste dadurch nicht genau, galt der nächste Schlag mir oder dem Major. Deshalb blockte ich den Schlag ab und lenkte ihn direkt auf mich. Einen zweiten Schlag, hätte Sender nicht schadlos verkraftet. Wenn der Major ihn überhaupt überlebt hätte. Leider war die Zeit zu knapp, um alle Muskeln anzuspannen. Der Schlag traf mich mit voller Wucht und nahm mir für einige Sekunde die Luft. Ich wankte ein wenig und es knackste mehrmals in meinen Rippen. Eine unglaubliche Schmerzwelle trieb es durch meinen Körper. Aber ich blieb stehen und schaute Mayer weiterhin in die Augen. Nur das war es, was wirklich zählte.

Dem Oberstleutnant im stillen Widerstand zu leisten. Egal wie hart er zu schlug. Ich war der festen Überzeugung, dass Mayer seinen ganzen Ärger in diesen letzten Schlag hineingelegt hatte. Solch einen Schlag, hatte ich lange nicht mehr abbekommen. Diese ganze Szene dauert keine fünf Sekunde. Danach überstürzten sich die Ereignisse, in einer Art und Weise, die mir mehr zu schaffen machte, als der Schlag des Oberstleutnants selber.

In dem Moment, in dem Sender zu Boden ging und der Oberstleutnant mich das zweite Mal schlug, sprang John von seinem Stuhl auf. Der Stuhl flog im hohen Bogen, zur Seite. John war zwanzig Zentimeter größer als der Oberstleutnant und genauso durchtrainiert. Allerdings war John wesentlich besser proportioniert. So schnell, wie man es dem großen und etwas schwerfällig wirkenden Kämpfer, nicht zugetraut hätte, stand John vor seinem Major. Er schlug Oberstleutnant Mayer, der mit keinerlei Gegenwehr rechnete und seine Decken wie stets, vollkommen offen hatte, mit einen linken Haken, einem Uppercut, genau auf die Zwölf. Mayer ging sofort zu Boden und blieb liegen.

Ich versuchte noch John davon abzuhalten, weil ich davor Angst hatte, dass der Oberstleutnant, John danach bestrafen würde. Allerdings reagierte ich einfach viel zu spät. Ich bekam durch den Schlag kaum noch Luft und musste erst einmal die Schmerzen in den Griff bekommen. Mindestens eine meiner Rippen war gebrochen, durch den sehr heftigen Schlag. Das verhinderte für einige Momente das Atmen. Ich kämpfte dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Durch Johns mutiges Auftreten und Eingreifen motiviert, sprangen die anderen einfach über den Tisch.

John, Sender und ich wurden auf einmal, durch eine Gruppe von Leuten beschützt, die vor uns eine Mauer bildeten. Zwei weitere SEK-Leute, kümmerten sich um Sender und mich und zogen uns einfach ein Stück von der Mauer weg. Durch die Mauer allerdings, wurde mir die Sicht völlig verdeckt. Ich wollte durch die Mauer brechen, jedoch zogen mich die Leute einfach zurück. Ich sah nicht, was da vor sich ging. Das machte mich verrückt. Wie verdammt nochmal, sollte ich meine Leute hier beschützen? Wenn ich gar nicht wusste, was dort vorn los war. John wollte mich auf einen Stuhl drücken. Aber ich wollte nach vorn, vor die Mauer. John hielt mich fest und redete beruhigend auf mich ein.

"Bleib hier Kahlyn. Die Jungs machen das schon", wie in der Trance, vernahm ich Johns Worte.

Sie kamen von ganz weit entfernt zu mir. Irritiert blieb ich stehen, wo ich stand. Weigerte mich allerdings, mich zu setzten. Ich war es gewohnt, so behandelt zu werden. Außerdem war es besser zu stehen, nach solchen Schlägen. Man bekam viel besser Luft. Es machte mir normalerweise, nicht sehr viel aus. Solche Schläge waren wir gewohnt. Sender dagegen, machte der Schlag richtig zu schaffen. Der Major hatte richtige Atemprobleme. Er japste immer noch krampfhaft nach Luft und war schneeweiß im Gesicht.

"Sir, bitte kümmern sie sich … um ihren Major … Mir geht es gut, Sir", bat ich ihn schwer atmend.

John musterte mich aufmerksam. Ich nickte in Senders Richtung. Beugte mich etwas nach vorn und stützte die Hände auf die Oberschenkel, um erst einmal besser atmen zu können. Langsam ging es wieder und ich bekam wieder richtig Luft. Vorsichtig jede schnell Bewegung vermeidend, richtete ich mich wieder auf.

"Sir, ich bin an sowas gewohnt… Der Major nicht, Sir", brachte ich mühsam hervor.

John drehte sich um und hockte sich zu seinem Major. "Rudi, ist dir was passiert?", hörte ich ihn fragen.

Sender jedoch konnte ihm nicht antworten. Er kämpfte immer noch gegen die Atemnot und die Schmerzwellen in seinem Körper. Ich konnte es ihm gut nachfühlen. Wusste ich doch nur zu gut, welche Schmerzen das waren. Mir tat der Major leid. Hatte ich mir nicht gestern Abend vorgenommen, alle zu beschützen. Sah etwa so, mein Schutz aus. Ich machte mir große Vorwürfe. Aber ich konnte doch nicht ahnen, dass Sender sich zwischen mich, den Oberstleutnant stellen würde. Das hatte noch nie jemand getan, in meinem ganzen Leben nicht. Wie hätte ich das vorher sehen können? Endlich bekam ich wieder richtig Luft und kämpfte nur noch gegen die Schmerzwellen an. Ich schob John zur Seite und trat an Major Sender heran.

"Sir, sie müssen aufstehen … dann vergeht der Schmerz schneller … John, würden sie dem Major bitte hoch helfen, Sir", forderte ich meinen Kollegen, gegen die Schmerzwellen ankämpfend auf.

John nahm mit einem zweiten Kollegen, Sender an den Achsen und zog ihn auf die Beine.

"Sir, darf ich mal das bitte mal ansehen, Sir", wandte ich mich an Sender.

Vorsichtig öffnete ich den Overall und streifte ihn von den Armen. Zog Sender auch mit Johns Hilfe, das Unterhemd über den Kopf. Kurz untersuchte ich den Major, indem ich seine Rippen abtastete und die Brille hochschob, um mir seinen Körper genau anzusehen. Aber er hatte wahnsinniges Glück gehabt, es war nichts gebrochen.

"Sir, … es wird wohl tüchtig blau werden … ist aber nur eine starke Prellung … wenn Sie wollen, gebe ich ihnen etwas gegen die Schmerzen … und etwas damit sie besser atmen können Sir", erklärte ich Sender, ohne das übliche Sir, ich konnte immer noch nicht richtig sprechen. "Sir, Ich gehe schnell in den Schlafsaal, da steht mein Koffer, Sir."

Durch das Stehen, bekam Sender endlich wieder Luft. Verneinend schüttelte er den Kopf. "Du … bleibst … hier … Das … ist … ein … Befehl", befahl er gegen seine Atemnot ankämpfend.

"Sir, jawohl, Sir", kam meine sofortige Antwort. "Sir, es tut mir leid … ich hätte das … verhindern müssen, Sir", setze ich noch mühsam nach.

In der Zeit, die Sender und ich benötigten, um wieder normal Luft zu bekommen, wurde vor der Mauer des SEK-Teams, Oberstleutnant Mayer in Handschellen gelegt und auf den Bauch gedreht. Kaum dass der Oberstleutnant festgesetzt war, lockerte sich auch schon die Mauer vor uns ein wenig. So dass ich sehen konnte, was da vorn geschehen war. Erschrocken stellte ich fest, dass der Oberstleutnant mit dem Gesicht nach unten und gefesselt auf den Boden lag. Vor allem, dass Mayer langsam zu sich kam. Der Oberstleutnant begann sich zu regen, fast zeitgleich mit Sender Befehl, dass ich bleiben soll, wo ich bin.

Als Mayer feststellen musste, dass er mit Handschellen um seine Handgelenke und mit blutendem Gesicht, auf den Boden lag, wurde er unglaublich wütend. So etwas war ihm noch nie untergekommen. Um seinem Ärger Luft zu machen, begann er gewohnheitsgemäß zu brüllen, wie ein Berserker. Seine herrische schrille Stimme, war bestimmt im gesamten Gebäude zu hören. Auf diese Weise ruhig gestellt zu werden, das war ihm noch nie unter gekommen. Oberstleutnant Mayer, verstand die Welt nicht mehr, genau wie ich. Denn Sender ging, nach dem er wieder einigermaßen atmen konnte, nicht etwas auf mich los. Sondern er sah mich erschrocken an.

"Alles… in Ordnung… mit dir Kahlyn? ... Hat er dich… verletzt? ... Wie kannst du … nach so einem … Schlag … noch stehen?", japste Sender, immer noch nach Atem ringend.

Die Fragen musste er wohl unbedingt los werden. Was sollte ich darauf sagen? Natürlich hatte er mich verletzt. So einen Schlag hielt man nicht schadlos aus, wenn man ihn nicht abgefedert bekam. Allerdings lag dort vorn mein langjähriger Vorgesetzter. Ich hatte gelernt, dass ich alles, was er tat, als richtig einzustufen hatte. Nie hatte jemand etwas gegen Mayer unternommen. Er durfte ungestraft mit uns machen, was er wollte.

Wie also sollte ich dieses Verhalten hier in diesem SEK einordnen? Außerdem wagte ich mir nicht, ohne Aufforderung zu sprechen. Denn der Oberstleutnant war wieder bei Bewusstsein. Es ging auch nicht, um eine medizinische Untersuchung. Der einzigen Ausnahme, bei der wir unaufgefordert sprechen durften. Also nahm ich mühsam die Hände auf den Rücken und schwieg. Im selben Moment brüllte Mayer, vor der Menschenmauer los.

"Machen sie mir die Handschellen ab! Sooofooort!" 

Sender und seine Männer, ignorierten Mayers Willen komplett. Ich verstand gar nichts mehr. Das Schwabbelmonster von gestern, machte sich wieder bemerkbar. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Es ging mir schon schlecht genug. Mühsam kämpfte ich nun, gegen den Schmerz und den Brechreiz an. Durch die Schmerzen überlagerte, verlor sich der Brechreiz fast sofort. Aber ich konnte mich kaum noch, aufrecht halten. Sender sah mich prüfend an.

"Kahlyn, ich habe dich etwas gefragt, antworte mir bitte", bat mich Sender, immer noch mühsam nach Luft ringend.

Ich war innerlich hin und her gerissen. Aus falscher Loyalität, sagte ich dann zu Sender. "Nein Sir, das hat er nicht, Sir."

Meine Worte waren eine blanke Lüge. In ein paar Minuten, würden sowieso alle sehen, was wirklich mit mir los war. Ich blutete wie ein Schwein und konnte die Blutung nicht kontrollieren, da es eine der großen Arterien erwischt hatte. Das Blut lief mir schon am Bein hinunter. In kürzester Zeit, würde sich zu meinen Füßen, eine große Pfütze mit Blut bilden.

Was sollte ich anderes sagen? Oberstleutnant Mayer, war sechzehn Jahre meines Lebens, der Mann gewesen, dem ich bedingungslos gehorchen musste. Also log ich. Auch, weil ich Angst vor den noch schlimmeren Strafen hatte. Ein weiterer Schlag, würde mich umbringen, das wusste ich genau. Ihn allerdings dort unten auf dem Boden liegen zu sehen, mit dem Gesicht nach unten, mit Handschellen um den Gelenken und einem blutendem Gesicht, das war zu gegebener Maßen trotzallem eine Genugtuung für mich.

"Dann ist es gut, Kahlyn, das beruhigt mich", brachte Sender leise und schwer atmend, zwischen den Zähnen hervor. Dann ging er auf die Menschenmauer zu, die sich auf seinen Befehl hin, sofort teilte.

"Lasst mich durch und holt mir von vorn, jemanden für eine Anzeige, sofort", sprach er leise und schwer atmend, zu seinen Männern.

Fast zeitgleich, riss er Mayer mit der Hilfe zweier seiner Kollegen auf die Beine. Die wohl ahnten, was Sender vorhatte. Leise, aber mit einem gefährlichen Unterton, immer von Pausen unterbrochen in dem er nach Luft rang, sprach der Leiter des SEK 61, zu Mayer.

"Was fällt ihnen eigentlich ein? Sind sie des Wahnsinns? Wie können sie es wagen, einen meiner Untergebenen, tätlich anzugreifen und mich zu schlagen? Das können sie auf ihrer Schule machen. Aber hier bei uns, werden keine Untergebenen geschlagen. Das zum Ersten, zum Zweiten, was ist mit dieser Spezialnahrung die Leutnant Kahlyn zu sich nehmen muss?" 

Oberstleutnant Mayer starrte Sender an. Mayer war es nicht gewohnt, das im Rang unter ihm stehende Offiziere, auf dieses Art und Weise mit ihm sprachen.

"Was fällt ihnen ein sie Würstc…", brüllte Mayer los.

Weiter kam Mayer nicht. In diesem Moment trat Sender, dessen Halsschlagadern verdächtig dick wurden und der einen fleckigen roten Nacken bekam, mit so einen bösen Funkeln in seinen Augen, auf Mayer zu, dass es Mayer die Sprache verschlug und er wirklich ruhig wurde.

"Halten sie die Klappe. Seien sie ruhig. Was mir einfällt? …", sprach Sender auf einmal noch leiser, noch ruhiger. "Sie, wagen sich, mich zu fragen, was mir einfällt? … Sie kommen hier rein, in meine Wache, wie ein von der Leine gelassenere Stier … haben es nicht mal nötig, sich vorzustellen … und schlagen einen meiner Untergebenen. Siiiie, fragen miiiiich, was miiiir einfällt? Sie, werden gleich erleben, was mir einfällt."

Die Wut die Sender hatte, ließ ihn für einige Momente seine Schmerzen vollständig vergessen. In selben Augenblick, kamen zwei Wachtmeister, aus der Wachstube, zusammen mit dem Kollegen der sie holen sollte. Sender wandte sich sofort den Beiden zu

"Nehmen sie dieses Subjekt hier fest und stecken sie Ihn erst einmal in eine Zelle. Die Handschellen bleiben dran. Dieser Mann ist aufs äußerste gefährlich. Dann rufen sie die Dienstaufsicht an und informieren diese, dass ich gegen dieses Subjekt, zwei Anzeigen aufgeben möchte und das, bitte im Eilzugtempo."

Sender drehte sich wieder zu Oberstleutnant Mayer um und fuhr in seinem gefährlich leisen Ton fort.

"Ich hoffe sehr für sie Mayer, dass sie etwas zu Essen für Leutnant Kahlyn in ihrem Wagen haben. Sonst erfolgt noch eine dritte Anzeige, das verspreche ich ihnen."

Nochmals drehte sich um und wandte sich an die Wachmeister. "Bringen sie dieses Untier weg, bevor ich mich ganz vergesse."

Der Major schenkte dem Gezeter, des von den Wachtmeistern abgeführten Oberstleutnants, keine Beachtung mehr. Drehte sich stattdessen schwer atmend und gefährlich schwankend, zu mir um.

 

Ich stand immer noch auf der gleichen Stelle, die Hände auf den Rücken. Da ich genau wusste, was jetzt mit mir geschehen würde. Ahnte, dass ich jetzt auch gleich, einen Anschiss bekommen würde. Allerdings kam wieder alles ganz anders, als erwartet.

Im gleichen Augenblick, als er mich von Kopf bis Fuß musterte und zu meinen Füßen sah, brüllte der Major auch schon los. Ich verstand, die Welt nicht mehr. Noch nie hatte sich jemand aufgeregt, wenn wir bluteten. Das war halt so, wir bekamen das schon in den Griff, wenn wir Zeit dazu hatten. Wenn nicht, wir waren verzichtbar, dann starben wir halt. Viele von uns waren gestorben, weil wir erst zum Rapport mussten, bevor wir uns verbinden durften. Ich wäre also nicht die erste.

"Seid ihr alle blind, verdammt noch mal. Langsam reicht es."

Erschrocken, schauten ihn seine Kollegen an.

"Holt jemand von euch, vielleicht mal einen Arzt oder seid ihr alle blind. Seht ihr nicht, dass die Kleene hier bald verblutet."

Auf einmal sahen mich alle an und entdecken jetzt erst, die immer größer werdende Blutlache zu meinen Füßen. Entsetzen stand auf ihren Gesichtern. Keiner von ihnen begriff, dass ich noch auf meinen eigenen Füßen stand. John kam auf mich zu, wollte mich zu einem Stuhl führen. Aber ich wich ihm aus, er griff neben meinen Arm und hatte Mühe sich abzufangen, um nicht zu stürzen. Durch die schnelle reflexartige Bewegung, schossen weitere Schmerzwellen, durch meinen Körper. Ich rang nach Luft. Hoffte inständig, dass es mir keiner anmerken würde. Erstaunt sah mich John an.

"Mädel, du verblutest. Lass mich das mal ansehen. Keine Angst ich bin hier der Sanitäter", sprach John, beruhigend auf mich ein.

Sender, kam nun auf mich zu. "Wieso sagst du uns nicht, dass du verletzt bist, Kleene?"

Ich schaute ihn an, traute mir wieder nicht etwas zu sagen. Irgendwie, stand ich total neben mir. Was ich gerade erlebt hatte, war mir völlig fremd und brachte mich völlig durcheinander. Wieso brüllte Sender seine Leute an, damit sie sich um mich kümmern. Das begriff ich nicht. Bis zum heutigen Tag, hatte es nie eine Rolle gespielt, ob ich blutete oder nicht. Da war doch nichts dabei.

"Rede mit mir Kahlyn bitte, lasse dich doch nicht, von so einem Menschen einschüchtern."

Ich schluckte bitter. Nicht Oberstleutnant Mayer hatte mich eingeschüchtert. An diese Art von Behandlung, war ich gewöhnt. Das Verhalten von Major Sender und der Anderen, brachte mich völlig aus dem Konzept. Leise, kaum hörbar, sagte ich deshalb.

"Sir, ich blute etwas, Sir. Aber es ich nicht schlimm, Sir. Mit drei oder vier Stichen, ist das wieder in Ordnung, Sir. Wenn sie gestatten, Sir, würde ich mich gern verbinden, Sir. Sie wissen, ich bin ausgebildet darin, Sir. Ich brauche keinen Arzt, Sir", zwang ich mich fließend und ruhig zu sprechen.

Ich hoffte dadurch, mich zurückziehen zu können, um meine Wunde behandeln zu dürfen. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Hier war wahrscheinlich keiner, der mir zur Hand gehen konnte. Lange konnte ich mich nicht mehr, auf den Beinen halten. Da ich die Blutung nicht kontrollieren konnte. Es hatte wohl eine Hauptschlagader erwischt, diese konnte ich nicht kontrolliert bluten lassen. Also musste ich zusehen, dass ich schnellst möglich die Arterie verschloss. Allerdings wollten Sender und John, davon nichts hören. Beide starrten, auf die immer größer werdende Blutlache zu meinen Füßen. Nochmals sagte Sender zu John, er sollte einen Arzt holen, der drehte sich um und lief im schnellen Tempo zur Tür.

"Komm Kleene, wir gehen rüber in die Sanistube. Dort kannst du dich hinlegen, bis der Arzt kommt."

"Sir bitte, keinen Arzt, Sir, helfen sie mir einfach, Sir. Ich kann das alleine in Ordnung bringen. Sir. Wir sind solche Verletzungen gewohnt. Sir", unnütz verstrich durch diese Debatte, wertvolle Zeit.

Aber es war sinnlos. Sender begriff es einfach nicht. Mir lief langsam, die Zeit davon. Irgendwie hatte ich etwas Falsches gesagt. Meine Worte, brachten Sender noch mehr in Rage. Ich wusste einfach nicht mehr, was ich tun sollte. Ein fremder Arzt, würde nur Probleme mit mir bekommen, weil er meine Krankengeschichte nicht kannte. Um Sender, nicht noch mehr aufzuregen, das tat ihm gar nicht gut, denn er japste krampfhaft nach Luft, folgte ich ihm in die Sanistube. Dabei zog ich eine dicke Blutspur hinter mir her. Erschöpft, vom Blutverlust geschwächt, lehnte ich mich an die Liege. Das Atmen fiel mir immer schwerer, der Blutverlust wurde langsam kritisch. Mein Körper hatte sich immer noch nicht, von den gestrigen Strapazen erholt. Keine Minuten saß ich in der Sanistube, da kam auch schon der Arzt. Ein netter junger Mann, der freundlich lächelte.

"Na, was habt ihr hier für ein Problem? Seid ihr im Training, wieder mal zu hart miteinander umgegangen?"

Erkundigte er sich lachend. Ich ignorierte ihn vollkommen und schaute verzweifelt zu Sender.

"Sir, bitte … ich brauche … meinen Medi-Koffer … aus dem Schlafsaal … Sir bitte … helfen sie mir … Der Arzt … kann mir helfen … aber ich muss … Blutung … … zum … … … Stillstand … … … … bringen, … … … … … bitte … … … … Sir."

Die Pausen, zwischen den Satzteilen, wurden immer länger. Die letzten Worte, mussten wohl sehr verzweifelt geklungen haben. Sender nickte mir auf einmal zu und ging eilig hinaus. Der fremde Arzt stellte sich mir erst einmal vor. Immer noch nicht, hatte er den Ernst, der Lage erfasst.

"Na sie brauchen nicht gleich zu verzweifeln, junge Frau. Das wird ihnen hier noch öfters passieren. Diese Kerle hauen sich doch ständig eins auf die Nase und ich muss sie wieder zusammenflicken. Im Übrigen bin ich hier der zuständige Truppenarzt, Jens Karpo."

Mir wurde ganz heiß und wieder kalt. Ich musste endlich meinen Koffer haben, wieder reagierte ich nicht auf die Worte des Arztes. Mir war egal wie er heißt, ich wollte nur eins, die Blutung zum Stillstand bringen. Das konnte ich aber nur machen, wenn ich meinen Koffer hatte. Aber mittlerweilen, war mein Zustand schon so kritisch, dass ich es ohne fremde Hilfe nicht mehr schaffen würde. Deshalb wandte ich mich hilfesuchend, an den jungen Arzt. Mühsam und langsam sprechend, brachte ich noch die folgenden Sätze heraus. Alle Anstandsregeln vergessend.

"Doc... helfen… bitte… bluten… zum… Stillstand… bringen…", krampfhaft rang ich nach Luft. Das Sprechen fiel mir immer schwerer. "Gestern… viel… Blut… verloren… bitte… Sir…", wieder versuchte ich mich zu beruhigen, um den Arzt klar zu machen, dass ich wusste, was ich tat. "Bin… leitender… Sanitäts… Offizier… alleine… schaffe… ich… es… nicht… mehr… bitte… Sir."

Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, Ich atmete schwer und stoßweiße und versuchte die aufkommende Panik, in mir zu unterdrücken. Allerdings wusste ich, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde. Mir vor allem nicht mehr lange selber helfen konnte. Erschrocken, sah mich Dr. Karpo an

"Ich rufe gleich den Krankenwagen, wir fahren dich in die Klinik. Dort kann ich dir besser helfen."

Ich hatte mich wieder etwas beruhigt. Warum begriff dieser Arzt nur nicht, dass dazu keine Zeit mehr blieb? Verdammt noch mal, wieso kapierte er das nicht?

"Sir… bitte… habe… noch… sechs… sieben… Minuten… bitte… Sir."

Meine Stimme wurde immer leiser. Verzweifelt versuchte ich, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Meine Beine gaben einfach nach. Erst in diesem Moment, sah Dr. Karpo die große Blutlache. Er fing mich in dem Augenblick auf, in dem John den Raum betrat. John nahm mich aus den Armen von Karpo und hob mich hoch, legte mich auf den Untersuchungstisch. Mit Hilfe von Dr. Karpo, zog er mir meinen Overall aus und zerschnitt das T-Shirt.

Erschrocken sahen sie die Narben, auf meinem Rücken. Das war im Moment allerdings uninteressant, es gab Wichtigeres. Ich konnte ihnen jetzt, sowieso keine Fragen beantworten. Nachdem sie mich wieder, auf die Liege zurück gelegt hatten, erschraken die beiden. Was sie da sahen, ließ sie stöhnend ausatmen. In dem Moment, kam ich wieder zu mir. Ich hatte es noch einmal geschafft, an die Bewusstseinsoberfläche zu kommen. Aus meiner linken Seite, guckten drei Rippen heraus. Das Blut lief ohne Unterbrechung, aus den Wunden. Dr. Karpo, wie auch John erkannten, dass ich recht habe, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb. Daraufhin gab Karpo, seine Einwilligung.

"Keine Angst, ich helfe dir."

Endlich hatte er begriffen, dass ich es sehr ernst meinte. In selben Moment kam Sender, schwer atmend mit meinem Medi-Koffer in den Raum und stellt ihn neben mich.

"Danke", hauchte ich leise, langsam konnte ich nicht mehr sprechen.

Dr. Karpo wechselte mit Sender und John einen Blick. "Soll ich sie nicht doch, ins Krankenhaus bringen?"

"Jens, vertraue der Kleenen. Ich denke sie weiß, was sie macht. Sie ist Ärztin, habe ich in ihren Unterlagen gesehen. Helfe ihr, so gut du kannst. Mach einfach, was sie sagt. Bitte", gab ihm Sender, mühsam nach Atem ringend, zur Antwort. Senders verließ er den Raum. "John, komm", brachte er noch mühsam hervor.

Karpo half mir mich aufzusetzen, aus eigener Kraft, hätte ich das nicht mehr geschafft. Mühsam versuchte ich, einen speziellen Spiegel, an die Untersuchungslampe zu klemmen, auch das übernahm der Doktor. Half mir meinen Medi-Koffer, auf den Beistelltisch zu stellen. Besorgt sah er mich an.

"Licht… aus."

Verwundert ging Karpo zum Lichtschalter, machte die Untersuchungsleuchte aus. Jetzt brannte nur noch, die sehr dunkle Notbeleuchtung, über der Tür. Die brauchten wir aber. Karpo konnte nicht wie meine Kameraden und ich, im Dunklen sehen. Die schmerzte allerdings nicht so, in meinen Augen. Dadurch konnte Karpo aber etwas sehen. Ich nahm meine Brille ab, ließ sie einfach fallen. Sehr leise, sprach ich zu ihm.

"Nur…zur… Hand… gehen", mehr konnte ich nicht mehr sagen.

Ich griff nach dem Skalpell, fing an meine Wunden zu behandeln. Dr. Karpo ging mir gut zur Hand und half so gut es ging. So hatten wir vor allem die Blutungen, schnell unter Kontrolle. Im Anschluss, konnten wir uns der Rippenkorrektur, der Zwerchfellverletzung widmen. Zum Glück waren die Rippen, nicht in die Lunge eingetreten, sondern hatten sich nur den Weg, nach außen gesucht. Es war eine zwar sehr schmerzhafte, aber keine wirklich schwere Verletzungen. Das größte Problem, war der große Blutverlust. Ich hatte gestern schon eine Menge Blut verloren. Aber in ein paar Stunden, würde ich wieder auf den Beinen sein. Ich brauchte nur etwas Ruhe und Schlaf.

Dr. Karpo übernahm, als er merkte, dass ich nicht mehr konnte, das Vernähen der Wunden. Ich zeigte ihm, den Umgang mit dem Brenner und dem Kleber. Ohne Worte verstand er, was ich von ihm erwartete. Wortlos, wenn auch immer blasser werdend, führte er alles so durch, wie ich es wollte. Er war eine große Hilfe.

Dankbar sah ich ihn an. Ich war so froh, dass es hier einen Arzt gab, dem ich vertrauen konnte. Der nicht lange fragte, sondern einfach akzeptierte, das wir anders waren. Das war meine größte Angst, als ich hierher fuhr. Ich mochte Ärzte nicht sonderlich leiden. Dem einzigen Arzt, den ich bis jetzt vertraut hatte, war unser Schularzt, Doktor Jacob gewesen. Diesem Arzt hier würde ich ebenfalls vertrauen können, das hatte er mir gerade bewiesen.

Nach einer reichlichen Stunde, durch den Schlag des Oberstleutnants, war mehr kaputt gegangen, als ich erst gedacht hatte, war ich fast wieder wie neu. Karpo half mir mich zu verbinden. Vorsichtig, setzte ich mich mit Karpos Hilfe auf und gab mir vier Injektionen in die Halsschlagader. F28, der Heiler wie wir ihn nannten, J12, welches die Blutregeneration beschleunigte, A97, das trug zur Erhöhung des Sauerstoff im Blut bei, B32, ein starkes Schmerzmittel. Ich konnte kaum noch atmen. Mein gesamter Brustkorb war blutunterlaufen und das Zwerchfell verletzt. Jeder Atemzug, war die Hölle. Jede Bewegung, brachte eine neue Welle des Schmerzes mit sich. Dr. Karpo half mir, mich wieder hinzulegen. Ich musste das tun, mir wurde schwarz vor Augen. Beinah wäre ich von der Liege gestürzt. Ich brauchte einfach etwas Ruhe. Der hohe Blutverlust, machte mir schwerer zu schaffen, als die Verletzungen. Nach einigen Minuten, begannen die Medikamente zu wirken. Langsam konnte ich auch wieder etwas sprechen. Obwohl es mir noch sehr schwer fiel. Langsam Wort für Wort erkämpfend, flüsterte ich.

"Ich werde wohl noch einige Tage Probleme, beim Atmen haben, Sir", wandte ich mich an Dr. Karpo, damit ich mich bemerkbar machen konnte.

Dieser saß etwas blass um die Nase, auf einen der Stühle und war völlig fertig mit den Nerven. Wahrscheinlich hatte ich ihn etwas erschreckt. Ich versuchte, in einen gleichmäßigen Atemrhythmus zu kommen. Nur dadurch konnte man die Schmerzwellen besser ertragen. Dr. Karpo musterte mich von seinem Stuhl aus, müde und erschöpft und rieb er sich das Gesicht.

"Sag mal Kleines, wie kannst du dir selber so etwas antun?", wollte er von mir wissen.

Sprach er zwischen einigen tiefen Atemzügen, die ihn wohl beruhigen sollten. Ich setzte mich vorsichtig etwas auf, damit ich ihn besser sehen konnte. Musste ich mich gleich wieder hinlegen, da eine neue Schmerzwelle durch meinen Körper raste. Karpo bemerkte das sofort. Deshalb stand er auf und zog den Stuhl neben die Pritsche, auf der ich lag. Jetzt konnte ich ihn, durch leichtes drehen des Kopfes sehen. Hätte ich mich nicht wieder hingelegt, wäre ich wahrscheinlich von der schmalen Pritsche gefallen. Mir war immer noch schwindlig. Auch hob er meine Brille auf, die unter der Pritsche lag und gab sie mir.

"Sir, wie meinen sie das Sir?", presste ich mühsam atmend hervor und legte die Brille, einfach in den Medi-Koffer.

Ich verstand einfach nicht, was er meinte. Bei uns wurden alle OPs, auf diese Weise durchgeführt. Es war nicht anders möglich. Narkotika halfen bei uns nicht. Ich konnte mich ja nicht schlafen selber legen, dann auch noch schlafend operieren. Wie sollte das denn bitte gehen?

"Du kannst dich doch nicht selber operieren und noch dazu ohne Betäubung."

Keine Ahnung, von was er da sprach? Keiner von uns, war je mit einer Betäubung operiert wurden, dazu war nie die Zeit. Nur die Anderen, wie wir die normalen Menschen nannten, legten wir schlafen. Weil diese mit Schmerzen nicht umgehen konnten. Jedenfalls nicht so wie wir. Gegen die Schmerzwellen, die meinen Körper durch tobten, ankämpfend. Flüsterte ich.

"Sir. Wie meinen sie das, Sir?"

Ich zeigte, da ich nicht mehr sprechen konnte, auf den Ampullenkoffer. Dr. Karpo reichte ihn mir sofort. Ich zog nochmals eine Injektion B32 auf und gab sie mir. Ich hatte mir im Laufe der Jahre angewöhnt, nie zu viel zu spritzen. Lieber spritzte ich etwa nach. Während den Einsätzen, spritzten wir uns, viel zu oft so hochdosiert, um die Schmerzen einigermaßen ausschalten zu können. Das musste nicht sein, wenn man nicht kämpfte. Ein paar Minuten nach der zweiten Injektion, wurden die Schmerzen erträglicher. Ich hatte jetzt die richtige Dosierung erwischt. Langsam konnte ich wieder einigermaßen atmen, vor allem besser sprechen. Dr. Karpo schüttelte verwundert den Kopf. Da er begriff, dass ich wirklich nicht wusste, wovon er sprach.

"Ist es bei Euch nicht üblich, einen Patienten in den Schlaf zu legen oder wenigstens ein starkes Betäubungsmittel zu spritzen, wenn ihr operiert?"

Erschöpft schüttelte ich den Kopf. Oft ging es um Sekunden, da blieb einfach keine Zeit, irgendetwas zur Beruhigung zu spritzen.

"Nein Sir, … es ist doch so … wenn man an der Front ist … hat man kaum Zeit für eine Operation ... Außerdem sind die Schmerzen … im Augenblick der Verletzung … so stark, dass man alles andere … nicht mehr mitbekommt … Man will einfach, dass es aufhört ... Es wäre Unsinn, etwas vor der Operation … zu spritzen … danach hilft es viel besser … da die Ursache des Schmerzes … weg ist, Sir", erklärte ich immer wieder Pause machend, um atmen zu können. Ließ alle Höflichkeiten beiseite. Ich schaute ihm gerade in die Augen, erst jetzt sah er meine Augen. Wie so viele vor ihm, erschrak er.

"Was… Was ist mit deinen Augen?"

Wie oft, würde ich wohl diese Frage noch hören? Dachte ich, bei mir.

"Nichts, Sir … Die sind schon immer so, Sir … Darf ich jetzt wieder, zu meiner Truppe gehen, Sir? ... Ich würde gern etwas trinken Sir", geistesabwesend, tief in Gedanken versunken, nickte Karpo.

Vorsichtig setzte ich mich hin. Nachdem ich einige Minuten gesessen hatte, stand ich auf und räumte meinen Medi-Koffer auf und reinigten den Raum, so gut es halt ging. Karpo saß da, sah mir kopfschüttelnd zu und konnte gar nichts sagen oder tun, so fertig war er. Ich glaube er registrierte gar nicht, dass ich den Raum sauber gemacht hatte. Fertig mit Aufräumen, griff ich nach meiner Brille und setzte sie auf. Nochmals sah ich mich in den Raum um, ging, nach dem ich mich überzeugt hatte, dass alles sauber war, nach draußen in den Bereitschaftsraum. Fast zwei Stunden waren vergangen, seit dem Sender und John die Sanistube verlassen hatte. Die Uhr an der Tür zum Flur, zeigte jetzt 9 Uhr 56. Mein Blick ging durch den Raum. Ich suchte nach Major Sender. Der stand mit dem Rest der Truppe, mitten im Raum. Sah mich verwundert an, als ich mit dem Koffer in der Hand, aus der Tür kam. Sein Gesicht sah komisch aus, tiefe Falten waren darin, seine Augen hatten tiefe Ringe. Ich lief direkt auf ihn zu, so wie ich es gewohnt war. Schon bei den ersten Schritten merkte ich, dass es mir nicht so gut ging wie ich erst dachte. Aber da musste ich jetzt durch. Ich würde meinem Vorgesetzten nicht zeigen wie es mir wirklich ging.

"Sir, es ist alles wieder in Ordnung. Sir. Ich würde mich nur gern etwas ausruhen, wenn es geht, Sir", meldete ich mich zurück.

So, wie ich es jahrelang gewohnt war. Versuchte fließend zu sprechen. Ich machte mich darauf gefasst, einen erneuten Anpfiff zu bekommen, weil es so lange gedauert hatte. Wieder kam es anders als gewohnt. Sender, blickte mich ernst an.

"Natürlich, leg dich sofort hin, Fran kann dir zwar nichts zu essen bringen, aber etwas zu trinken. Wo möchtest du dich hinlegen Kahlyn?"

Wieder verstand ich die Welt nicht. So etwas wurde mir noch nie von einem Vorgesetzten gesagt. Aber ich wollte einfach nur etwas Ruhe. Es war mir alles viel zu, im Augenblick. Egal, was danach kam.

"Sir, ich würde nur gern etwas trinken, Sir. Ich lege mich hinten in den Schlafsaal, wenn ich darf, Sir. Wenn etwas ist, wecken sie mich bitte, Sir."

Ich drehte mich gewohnt zackig um und ging einfach nach hinten, in Richtung Schlafsaal. Ich merkte, dass meine Knie kurz vor dem Nachgeben waren. Dass ich noch etwas trinken wollte, hatte ich längst vergessen. Der einzige Wunsch, den ich wirklich noch verspürte, war der Wunsch nach Ruhe und Schlaf. Endlich liegen zu können. Viele besorgte Blicke folgten mir. Allerdings nahm ich davon nichts mehr wahr. Ich wusste, wo ich hin wollte. Meine Umgebung jedoch, verschwamm vor meinen Augen. Von weiten nahm ich mich selber war, als wenn ich eine andere Person beobachtete. Ein typisches Zeichen, dass ich viel zu viel Blut verloren hatte. Auf einmal hatte ich Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Krampfhaft versuchte ich Luft zu bekommen. Ich trat ins Leere, der Boden unter meinen Füßen gab einfach nach. Ich hatte mich überschätzt. Etwas, dass mir nur selten passierte. Mir wurde urplötzlich klar, ich schaffte es nicht mehr bis ins Bett. Dann es wurde auf einmal dunkel um mich herum. Mein Körper, hatte sich sein Recht auf Ruhe, viel zu zeitig eingefordert. Ich konnte nichts mehr dagegen machen.

 

Sender und John sahen Kahlyn fallen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihnen niemand zutrauen würde, liefen er und John auf das Mädchen zu. John jedoch, nicht wie Sender angeschlagen und dadurch wesentlich schneller, war als Erster da. Er fing Kahlyn auf bevor sie am Boden lag. Das zweite Mal, am heutigen Tag hob er das sonderbare Mädchen hoch und trug sie zu einem, der im Gemeinschaftsraum stehenden Sofas. Dort legte er sie hin, vorsichtig als wäre sie aus Glas. In diesen Moment, kam Dr. Karpo aus der Sanistube. Sah was passiert war, eilte auf uns zu. Vorsichtig untersuchte er die Wunden. Erleichtert stellte er fest, dass nichts aufgegangen war. Er horchte Kahlyn ab, maß Blutdruck und fühlte den Puls.  

"Rudi, lass sie einfach hier liegen und schlafen. Ich würde ihr gern einen Tropf geben, aber ich weiß nicht, ob das ratsam ist. Bei der OP habe ich mitbekommen, dass einiges bei ihr anders ist, als bei unseren Körpern. Deshalb hatte sie sich wohl auch geweigert, in ein Krankenhaus zu gehen. Man müsste mit jemand reden, der die Physiologie der Kleinen besser kennt. Ich traue mich da nicht so richtig ran."

Rudi scheuchte alle, die um das Sofa standen weg. Im Bereitschaftsraum war eine ungewohnte Stille.

"Warte mal Jens", Sender rieb sich verzweifelt das Genick. "Dieser Mayer müsste einiges wissen. Obwohl ich ihm absolut nicht traue", müde sah er sich um und wandte sich an einen seiner Männer. "Sep sei so lieb, bringe Jens mal runter zu diesem wild gewordenen Stier. Vielleicht kann er der Kleenen helfen. Du bleibst aber bei Jens. Lasse diesen Kerl ja nicht aus den Augen, der ist unberechenbar."

Sep nickte wortlos und winkte Dr. Karpo zu, bat den Arzt ihm zu folgen. Sender setzte sich auf einen Stuhl, den er sich vor das Sofa geschoben hatte. Lange sah er schweigend, auf diese junge Frau, die erst den zweiten Tag unter seiner Obhut Dienst tat und nun schwer verletzt hier auf dem Sofa lag. Noch nie war ihn so etwas, in seiner langen Dienstzeit untergekommen. Völlig fertig, rieb sich Sender das Gesicht. Mühsam stand er auf, denn jeder Atemzug tat ihm weh und drehte sich zu seiner Truppe um.

"Leute, wenn diesem jungen Mädchen hier noch einmal etwas passiert, das verzeihe ich mir nicht. Das, was ich die letzten beiden Tage von ihr erfahren und gelesen habe, ist einfach unglaublich. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Mann ins Gefängnis kommt und wenn es das letzte ist, was ich tue. Ich hoffe, dass ihr mich dabei unterstützt."

Er musste einfach etwas Druck abbauen. Alle nickten ihm zu. Obwohl keiner so richtig verstand, was hier im Moment eigentlich los war. Was war mit dem jungen Mädchen los? Weshalb wurde sie von Oberstleutnant Mayer, derart brutal angegriffen? Wie kann man solche Schläge aushalten und so viel Blut verlieren, ohne sofort umzufallen? Die hartgesottenen Männer des SEK 61, verstanden die Welt nicht mehr. In ihrem Kämpfen, hatten sie schon viel erlebt. Viele von ihnen wurden bei Kämpfen verletzt. Aber das, gestand sich jeder von ihnen ein, hätte keiner so überstanden, wie das Mädchen. Sender und John hatten ihnen erzählt, dass drei der Rippen durch den Schlag gebrochen, nach außen getreten waren. Jeder von ihnen, hatte schon mal einen Rippenbruch erlebt und wusste daher, was die Verletzung an Schmerzen mit sich brachte. So etwas konnte sie nicht begreifen. Was war dieser Mayer für ein Mensch? Wie konnte man mit Untergebenen, so umspringen? Sie verstanden die Welt nicht mehr. Klar, war ab und an der Ton in der Ausbildung, mal etwas härter gewesen. Aber so etwas, hatte keiner der Männer, je erlebt. Obwohl die Ausbildung, für das Sondereinsatzkommando, eine der härtesten Ausbildungen überhaupt war. Sie verstanden die Wut von Sender nur zu gut. In ihnen kochte es genauso so, wie in ihrem Major.

"So Leute, wir machen das wie folgt. Wir teilen zwei Stundenschichten ein und jeder wacht über diese Zeit bei ihr. Bei der kleinsten Veränderung, ist Dr. Karpo sofort zu informieren und ich ebenfalls. Wir lassen sie erst einmal hier. Ich bin mir unter den gegebenen Umständen nicht sicher, dass sie im Krankenhaus besser aufgehoben wäre. Keiner wirklich keiner, den ihr nicht persönlich kennt, kommt in ihre Nähe. Habt ihr das verstanden."

Alle nickten.

An Fran gewandt. "Hast du nun etwas zu essen bekommen, was du der Kleenen machen könntest. Ich bekomme den Gedanken nicht los, dass man sie mit Essenentzug bestraft will."

Fran schüttelte ganz vorsichtig den Kopf, weil er ahnte, dass sein Cheffe gleich aus dem Anzug hopst, so aufgebracht wie er war. "Nein Rudi, leider nicht, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf."

Wütend sah Sender seinen Koch an.

"Cheffe, ich kann doch nichts dafür", meinte Fran darauf hin erschrocken.

"Sorry Fran, klar kannst du nichts dazu. Mir geht’s nur grad nicht so gut. Sei deinem Cheffe nicht böse."

Fran lächelte Sender zu. "Geht schon klar Cheffe."

Dr. Karpo und Sep, kamen in dem Moment wieder zurück.

"Ihr seid ja schon zurück, habt ihr etwas herausbekommen?", war Senders sofortige Frage, kaum dass die beiden den Raum betreten haben.

"Viel leider nicht. Allerdings hat er uns eine Telefonnummer gegeben. Nach dem Sep ihn gesagt hat, was er alles mit ihm macht, wenn die Kleine stirbt. Er war nicht mehr der große Held. Ich rufe da gleich mal an, kann ich dein Telefon benutzen Rudi? Da muss ich nicht erst hoch zu mir gehen."

Sender nickte, war froh, wenn seine Kollegin schnelle Hilfe bekam. Denn er machte sich richtige Sorgen, um die Kleene, wie er seine neue Kollegin für sich getauft hatte. Während Dr. Karpo im Büro des Teamchefs verschwand, ging Sender zurück zum Sofa und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Schwer atmend, rieb er sich seine Rippen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als wenn er flüssiges Feuer einatmete. Er verstand einfach nicht, wie dieses Mädchen, solche Schläge einfach so wegstecken konnte. Der erste Schlag, schien ihr gar nichts ausgemacht zu haben. Er dagegen dachte, er macht den letzten seiner Atemzüge. Wieder sah er, das blasse, in tiefer Bewusstlosigkeit liegende Mädchen, an. Leise, ganz leise sprach er zu ihr.

"Kahlyn, wenn du das hier überstehst, müssen wir unbedingt reden. Diesmal wird aber mein Freund Jo dabei sein. Er wird dich von allen Befehlen, des Sprechverbots erlösen. Ich muss wissen, was dort, auf dieser Schule gelaufen ist. Es tut mir so leid, dass ich dich nicht beschützen konnte. Aber noch einmal, wird dich keiner, auf diese Art bestrafen. Das lasse ich nicht zu. Ich sorge dafür, dass alle die euch so behandelt haben, für ihre Verbrechen bestraft werden", müde rieb er sich das Gesicht und lehnte sich leise stöhnend zurück. "Ich habe dich so oft, seit dem du hier bist unterschätzt. Das passiert mir nicht noch mal. Ich glaube, du bist eine Bereicherung, für unsere Gruppe", vorsichtig beugte er sich wieder nach vorne und streichelte er über Kahlyns Wange.

John der das Zwiegespräch seines Vorgesetzten mitbekommen hatte, hockte sich neben den Stuhl seines Majors. "Rudi, keiner auch nicht du, hätte mit so etwas rechnen können. Der einzige Mensch, der das, was geschehen ist, hätte verhindern können, wäre Kahlyn selber…"

Sofort explodierte Sender, dessen Nerven blank lagen. "Wie kannst…"

Weiter kam Sender nicht, da er von einer neuen Schmerzwelle erfasst wurde. Der Major war, wie von einer Tarantel gestochen, aufgesprungen. John kippte nach hinten um. Völlig überrascht von der Reaktion seines Vorgesetzten. Sender dagegen, wurde von der neuen Schmerzwelle, die durch heftige Bewegungen entstand war, in die Knie gezwungen und begann erneut krampfhaft nach Luft zu ringen.

"Was ist los?", wollte der verdutz drein schauende John wissen.

Mühsam nach Atem ringend, war Sender zu keinem Wort in der Lage. John stand auf und zog gemeinsam mit Fran der in der Nähe stand, Sender wieder auf die Beine. Kopfschüttelnd stand John vor Rudi und verstand die Welt nicht mehr. Langsam kam Sender, wieder zu Atem. Mühsam presste er, zwischen den vor Schmerz zusammen gebissenen Zähnen hervor.

"Wie… kannst… du… der… Kleenen… die… Schuld… geben?"

Erschrocken sah John, Sender an. "Rudi, ich gebe doch Kahlyn nicht die Schuld. Ich wollte doch etwas ganz anders sagen. Kahlyn hätte es nur verhindern können, in dem sie uns alles erzählt hätte. Ich wollte dir nur sagen. Dass egal, was du getan hättest, du Kahlyn nicht vor dieser Bestrafung hättest bewahren können. Rudi beruhige dich wieder. Ich glaube du solltest dich eine Weile hinlegen. Wann hast du das letzte Mal richtig geschlafen? So auf Brass kenne ich dich überhaupt nicht. Bitte Rudi, beruhige dich", besorgt sah er seinen Chef an.

Dieser winkte ab, setzte sich ein Stöhnen unterdrückend, wieder auf den Stuhl. "Tut mir leid, John. Ich glaube, bei mir liegen die Nerven blank. Du hast Recht, ich sollte mich etwas hinlegen. Aber ich will erst wissen, was Jens erreicht hat. Vorher finde ich sowieso keine Ruhe", zögernd, griff er nach Johns Hand und drückte diese freundschaftlich.

"Ist schon gut Rudi. Ich ahne, wie du dich fühlst. Nur glaube mir, es hilft der Kleinen nicht, wenn du dir die Schuld gibst. Keiner von uns hätte etwas machen können. Ich habe es ja versucht. Kahlyn gab mir zu verstehen, ich soll mich nicht einmischen. Ich denke sie hatte Angst, dass mich dieser Mayer dann bestraft. Das wurde mir aber viel zu spät klar. Beruhige dich jetzt, bitte Rudi."

Rudi nickte, immer noch schwer atmend. Traurig sah er auf seine neue Kollegin. Egal was John auch sagt, er hätte sie beschützen müssen. Mühsam stützte er seine Ellenbogen auf seine Knie und legte seinen Kopf auf die Hände. Grübelnd saß er vor dem Sofa auf dem Kahlyn saß, war völlig am Boden zerstört. Suchte für sich selber Möglichkeiten, wie er seine kleine Kollegin in Zukunft besser beschützen konnte.

 

Karpo lief nach hinten in das Büro von Sender. Dort angekommen, griff er sofort nach dem Hören und wählte die Nummer, die er unten in der Zelle von diesem Mayer erhalten hatte.

Nur Seps konsequenten Durchgreifens war es zu verdanken, dass dieser Unmensch ihnen die Nummer vom Schularzt gegeben hatte. Dieses Scheusal wollte erst gar nicht kooperieren. Auf den Weg in den Zellentrakt hatte der Truppenarzt seinem Kollegen erzählt, wie schwer Kahlyn, durch diesen Unmenschen, verletzt wurde. Er musste einfach mit jemanden reden. Immer noch war er völlig durch den Wind und dermaßen wütend, dass er am liebsten irgendetwas zerschlagen hätte. Wie konnte man einem kleinen Mädchen, so etwas antun? Das sagte der Arzt auch ziemlich deutlich, zu Mayer. Mayer fing an schallend zu lachen. Das wäre kein kleines Mädchen, sondern ein Monster, ein Stück Scheiße, ein Tier, eine Missgeburt und eine Mörderin. Er könne sich den Namen aussuchen der ihm am besten gefallen würde, für diesen Bastard. Sie hätte sich nicht einmal die Bezeichnung Mensch verdient. Diese Kreaturen hätte man gleich in den Inkubatoren töten sollen und sie hätten gar nicht das Licht dieser Welt erblicken dürfen. Es wäre der größte Abschaum, welches diese Welt je hervor gebracht hätte. Das wäre kein kleines Mädchen, sondern eine Massenmörderin von der allerschlimmsten Art. Diese Dienststelle wüsste überhaupt nicht, was für ein Monster jetzt unter ihnen leben würde. Sie hätten doch alle gar keine Ahnung, von was sie sprachen. Vor allem, auf was sie sich mit dieser Kreatur einlassen würden. Sie hätten gar keine blassen Schimmer, wer diese Kreatur wäre und zu was sie fähig sei. Nur er wüsste es. Denn er lebte siebzehn Jahre mit diesen Biestern und einem Dach. Diese Kreaturen hätten seine Tochter getötet und ihn nicht nur einmal fast umgebracht. Nichts als Menschenverachtung, kam über die Lippen des Mannes. Es war grauenvoll, unwillkürlich schüttelte sich Karpo, so widerlich war das Verhalten Mayers.

Der sonst immer ruhige und ausgeglichene Sep ging nicht nur an die Decke, sondern zum Schluss auch hart gegen Mayer vor und erklärte ihm, in einem sehr leisen, aber sehr durchdringenden Ton, was er mit Mayer anstellen würde, wenn dieses Mädchen dort oben starb. Er versprach Mayer, dass er ihn dann bis ans Ende der Welt jagen würde. Egal wo auch immer sich Mayer verstecken würde, er würde ihn überall finden und hinter Gitter bringen. Er, Sep, sorge dann persönlich dafür, dass der feine Oberstleutnant Mayer, nie wieder frische Luft atmen könnte und dass dieser den Rest seines Lebens hinter Gitter verbrachte. Zum Schluss gab dieses Großmaul, klein bei und gab ihnen, ohne lange Diskussion, die Telefonnummer die er eben gewählt hatte. Das alles ging Karpo noch einmal durch den Kopf, während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Hörer abgenommen wurde. Auf einmal erklang eine weibliche Stimme.

"Sekretariat Oberstabsarzt Jacob, Schwester Anna am Apparat, was kann ich für sie tun?", erklang eine derbe und etwas unfreundlich klingende Stimme, aus dem Hörer.

"Schwester Anna, hier ist der Truppenarzt der Dienststelle 61, Dr. Karpo. Ich habe diese Nummer von Oberstleutnant Mayer, na ja, nach lange und überzeugenden Bitten bekommen. Verbinden sie mich schnellstmöglich mit Dr. Jacob, ich brauche dringend seine Hilfe. Es geht um Leu...", freundlich und korrekt, sprach er in die Muschel und wurde einfach unterbrochen.

"Dr. Jacob, ist nicht zu sprechen. Er ist unterwegs. Wenn sie übermorgen wieder anrufen, müsste er wieder hier sein", kam eine unfreundliche und kaltherzige Antwort. Dann hörte er ein leises Stöhnen.

"Gibt es keine Möglichkeit, ihn über Funk zu erreichen? Es ist sehr wichtig", erkundigte sich Karpo, immer noch um Freundlichkeit bemüht.  

Genervt antwortet Schwester Anna. "Tut mir leid, er ist nur in absoluten Notfällen zu erreichen."

Langsam verlor Karpo die Beherrschung. Was war das nur für eine Schule? Was waren das für Menschen dort? Für seine Verhältnisse sehr laut und unfreundlich, wandte er sich nochmals an Schwester Anna

"Wenn Leutnant Kahlyn, im Sterben liegt, ist das für Sie, Schwester Anna, Notfall genug? Also setzen sie sich mit ihm in Verbindung. Wie auch immer. Teilen sie ihm mit, dass ich seinen Rückruf, in den nächsten zehn Minuten hier im Revier erwarte! Die Nummer steht in Leutnant Kahlyns Akte. Danke, nun machen sie hin, das ist ein Befehl."

Verwundert vernahm Karpo ein erschrockenes Aufatmen, am anderen Ende der Leitung war. Das registrierte der Arzt erst in dem Moment, als er schon wütend den Hörer auf die Gabel geschmissen hatte. Mühsam versuchte er sich wieder zu beruhigen. Eine Welle von unsagbarer Wut, stieg ihn ihm auf. So wollte er auf keinen Fall an seine Patientin herantreten. Er gab sich einen großen Teil der Schuld, dass es dem jungen Mädchen, jetzt so schlecht ging. Er hätte viel eher begreifen müssen, dass hier Gefahr in Verzug war. Nur, wer rechnete mit so etwas?

Warum nur, hatte er sie so lange zugequasselt? Sie wäre jetzt stabiler, hätte er eher gehandelt. Innerlich ärgerte er sich über sich selber. Wie konnte er nur übersehen, dass diese Kahlyn so blutete? Klar die dunkelblauen Overalls der SEK-Truppe, machten es schwer Blutflecken zu erkennen. Aber das Blut war überall, wie konnte er das übersehen. Im Bereitschaftsraum, in der Sanistube überall war Blut. Er überschüttete sich mit Selbstvorwürfen. Immer noch war ihm unklar, wie diese junge Frau sich selber operieren konnte. Vor allem, ließen ihn die Augen der Kleinen, nicht zur Ruhe kommen. Langsam beruhigte sich Karpo. Gerade als er das Büro von Sender verlassen wollte, klingelte hinter ihm das Telefon. Er nahm sofort das Gespräch an, in der Hoffnung, dass es Dr. Jacob war.

"Dr. Karpo, im Büro von Major Sender, Dienstelle 61, Gera", meldete er sich.

"Hier Dr. Jacob, Schwester Anna informierte mich gerade, dass sie einen sehr unfreundlichen Anruf, von Ihnen bekommen habe. Es ginge um einen Notfall, mit Leutnant Kahlyn." Meldete sich eine ältere Stimme.

"Na also, es geht ja doch", konnte sich Karpo nicht verkneifen laut zu sagen. Holte kurz Luft und fuhr um einiges freundlicher fort. "Guten Tag, Doktor Jacob. Also unfreundlich, bin ich erst zum Schluss geworden, weil sie mir nicht helfen wollte, Herr Kollege. Ich brauche dringend Informationen, über den Verträglichkeits- und Unverträglichkeitsfaktor des Leutnants. Die Physiologie der Patientin, unterscheidet sich sehr von denen meiner anderen Patienten. Ich kann ihr nicht helfen, wenn ich keine genaueren Unterlagen und Informationen bekomme. Jedenfalls nicht ohne sie in Gefahr zu bringen. Wir finden keine diesbezüglichen Unterlagen, in ihren Akten. Oberstleutnant Mayer ist so nett gewesen, brach Leutnant Kahlyn einige Rippen, die nach außen getreten waren. So dass diese einen kritischen Blutverlust erlitten hat. Ich muss etwas tun, um sie zu stabilisieren. Da sie bewusstlos ist, kann sie mir keine Fragen beantworten. Wagen sie sich ja nicht, mich jetzt abzuwimmeln. Wenn ich ehrlich sein soll, bin ich am Ende meiner Geduld."

Karpo sprach freundlich, aber sehr bestimmt. Man hört seiner Stimmer an, dass er alles ertragen konnte, nur keine Ausflüchte oder Vertröstungen, vor allem dass er in großer Sorge um seine Patientin war.

"Dr. Karpo, Leutnant Kahlyn ist doch, wenn ich richtig informiert bin in Gera? Oder sind sie im Einsatz"

"Ja, Gera", kam die sehr knappe Antwort von Karpo.

"Das ist gut. Ich bin auf dem Weg dahin. Ich bringe die Spezialnahrung zu den Kindern. Kahlyn ist die Letzte, die ich noch ausliefern muss. Da ich ja keine Patienten mehr habe, habe ich diesen Bodendienst übernommen. Kann so nach meinen ehemaligen Schützlingen sehen. Wären sie so lieb und würden mir an die Abfahrt der Autobahn, einen Streifenwagen schicken. Da ich überhaupt nicht weiß, wo ich hin muss und ich mich in Gera auch gar nicht auskenne. So spare ich mir viel Zeit, da ich dann nicht erst suchen muss."

Etwas freundlicher und vor allem unendlich erleichtert, atmete Karpo auf. "Dr. Jacob, ich werden sofort eine Streife zur Autobahnausfahrt in Gera schicken. Wann sind sie ungefähr da? Oder wo sind sie gerade? Dann wissen wir, wie lange sie noch zu uns brauchen."

Eine Weile schwieg Dr. Jacob, da er erst einmal sehen musste, wo er im Moment war, deshalb dauerte es, bis er genaue Angaben machen konnte.

"Die Ausfahrt von Ronneburg, habe ich gerade passiert. Ich fahre einen dunkelblauen Wolga, mit folgenden Kennzeichen...", gab Jacob an und Karpo notierte sich das Kennzeichen.

"Danke Herr Kollege, ich schicke den Streifenwagen gleich los. Warten sie einfach an der Abfahrt in Gera, sie werde dort abgeholt. Bis gleich."

Karpo legte den Hörer auf und lief im Laufschritt aus dem Büro. Denn Jacob braucht höchstens noch zehn Minuten bis zur verabredeten Stelle. Karpo musste sich also sputen. Deshalb ließ er auch alle Zurufe an sich abprallen und eilte schnell nach vorn in die Wachstube. Entgegen seiner sonstigen Art, machte er sich sofort bemerkbar. Obwohl, Bürger am Tresen standen, rief er der diensthabenden Wachtmeisterin zu.

"Ines, ich brauche sofort eine Streife. Die müssen sofort einen Arzt von der Abfahrt A4 in Leumnitz abholen. Einen Dr. Jacob. Der Arzt fährt einen blauen Wagen, vom Typ GAZ 22 Wolga, mit Notrufaufsatz. Ihr erkennt ihn also schon von weiten am Lautsprecher und den Rundumleuchten. Hier hast du das Kennzeichen", er reichte ihr den Zettel. "Bitte, fahrt sofort los, er ist schon vor einigen Minuten an der Abfahrt Ronneburg vorbei gefahren und er wartet an der Abfahrt auf Abholung."

Im Hintergrund, hatte Wachtmeister Schuster schon über Funk, einen in der Nähe befindlichen Streifenwagen informiert und war gerade dabei, das Kennzeichen, das ihm Ines gerade reichte durch zu gegeben.

"Geht klar Doktor, der Wagen ist schon unterwegs", rief Schuster, vom Funk zu ihm vor.

"Danke Bernd, danke Ines. Wenn er da ist, bringe ihn sofort hinter in den Bereitschaftsraum, Leutnant Kahlyn geht es gar nicht gut."

"Geht klar mache ich sofort. Es sah doch erst gar nicht so schlimm aus. Wird sie durch kommen, Jens?", besorgt sah Ines den Truppenarzt an, der nickte ihr dankend zu.

"Es ist schlimmer als wir erst dachten. Aber ich denke mit der Hilfe dieses Arztes, werden wir es schon schaffen", erklärte er im hinausgehen.

Karpo kehrte sofort in den Bereitschaftsraum zurück, um auch den anderen Bescheid zu geben, dass Hilfe unterwegs war. Dort erwartete ihn schon Major Sender und sah Karpo fragend an.

"Was hast du erreicht Jens? Bekommen wir Hilfe. Ich mache mir echt langsam Sorgen, um die Kleene", erklärte der Major mit verzweifelter Stimme.

"Rudi, zwei gute Nachrichten. Der Doktor ist unterwegs und er bringt diese Spezialnahrung mit. Ich denke, er wird spätestens in fünfundzwanzig Minuten hier sein. Er war sowieso, auf den Weg hierher. Ich habe ihm, einfach über deinen Kopf hinweg, eine Streife entgegen geschickt. Ich hoffe du bist nicht sauer. Aber so muss er nicht erst suchen und ist schneller hier", mit besorgtem Blick sah er in Kahlyns Richtung. "Wie geht es ihr? Ist sie schon zu sich gekommen?"

Sender schüttelte den Kopf. "Nein leider nicht. Kahlyns Atem geht ruhig und gleichmäßig, aber sie ist sehr blass. Vor allem ist sie glühend heiß."

Karpo ging auf das Sofa zu, vorsichtig prüfte er den Verband, Puls und Blutdruck. Besorgt schüttelte er den Kopf. "Eigentlich, müsste sie wieder zu sich kommen, ich verstehe das nicht. Der Blutdruck ist normal, der Puls auch. Nur die Körpertemperatur fühlt sich nicht normal an. Hoffentlich kommt dieser Doktor Jacob bald", leise zog er sich einen Stuhl an das Sofa und setzte sich ebenfalls, zu seiner Patientin. Sender sah hilflos zu seiner Untergebenen. Hoffnungsvoll sagte er.

"Leute, nun macht nicht alle so ein Trauergesicht, Hilfe ist in Aussicht und es wird schon alles gut gehen. Sie ist noch jung, sie schafft das schon", setzte er nach.

Wohl mehr, um sich selber zu beruhigen. Die Männer hatten das Gefühl, dass das die längsten zwanzig Minuten in ihren Leben waren. Die Zeit tropfte nur so dahin. Es dauerte eine Ewigkeit, bis Ines endlich, mit einem korpulenten älteren weißhaarigen Herrn, in den Bereitschaftsraum erschien.

"Jens, Dr. Jacob ist da und ich brauche ein paar von deinen Jungs Rudi, um diese Nahrung auszuladen."

Sender wollte gerade etwas sagen, als auch schon drei seiner Leute aufstanden und in Ines Richtung liefen. Bereit ihr beim Transport der Nahrung, für die neue Kollegin behilflich zu sein. Das war halt sein Team. Rudi sah lächelnd und dankbar seinen Kollegen hinter. Sie verstanden ihn auch ohne große Worte. Sender stand mühsam auf und lief leicht schwankend auf den Arzt zu.

"Guten Tag Herr Doktor. Schön, dass sie so schnell kommen konnten. Bitte helfen sie Kahlyn. Ihr geht es wirklich nicht gut. Ich mache mir große Sorgen", sprach er mühsam atmend, zu Dr. Jacob.

Da mit der Bewegung Schmerzsalven durch seinen Körper schossen, die er mühsam unter Kontrolle zu bringen versuchte. Der Arzt sah den ihm, schwankend entgegen kommendem, Sender irritiert an.

"Entschuldigen sie Dr. Jacob", krampfhaft, versuchte Rudi besser Luft zu bekommen und hielt sich einen Moment an der Stuhllehne fest. Durch das schnelle Aufstehen, konnte er kaum noch atmen. "Ich bin Major Sender, der neue Vorgesetzte von Leutnant Kahlyn."

Karpo der bemerkte, dass Sender nur mit Anstrengung sprechen konnte, stand ebenfalls auf und rückt den Stuhl beiseite. Er übernahm das erklären des Sachverhaltes, um Sender das Sprechen zu ersparen.

"Oberstleutnant Mayer, war so nett unserem Major, schlimme Prellungen zu zufügen, als dieser Leutnant Kahlyn zu Hilfe eilte. Deshalb fällt ihm, das Atmen und das Sprechen schwer. Dr. Jacob, ich bin übrigens der unfreundliche Kollege. Wie mich ihre nicht gerade freundliche Schwester Anna beschrieben hat", lächelnd reichte er Jacob begrüßend die Hand. "Bitte Herr Kollege, kümmern sie sich um Kahlyn, ihr geht es wirklich nicht gut. Ich kann nichts für sie tun, ohne sie in Gefahr zu bringen."

"Ach je, sie haben also Bekanntschaft mit Mayer gemacht", entfleuchte es Jacob, ohne das er das beabsichtigt hatte. Jacob konnte sich vorstellen, was hier losgewesen sein musste. Mayer hinterließ seit Monaten überall wo er erschien eine Spur des Schreckens und des Grauens. Schon beim Reinkommen in den Raum, sah er die entsetzten und völlig aufgelösten Gesichter des Teams. Deshalb ergriff er ohne zu zögern, die dargebotene Hand und nickte.

"Das mache ich gerne. Ich werde mich erst einmal um meine gute Kahlyn kümmern. Dann schaue ich mir euren Major an", erklärte er mit einer warmen Stimme, die ihn nach den vorangegangen unfreundlichen Gespräch, keiner zugetraut hatte.

Jacob beugte er sich zu Kahlyn hinunter. Liebevoll streichelte er Kahlyn über deren Wange, dadurch drehte diese ihm den Kopf zu.

"Nikyta, mako lina? Sere. Sumdrei sickda, dy."

Ganz leise, für die anderen kaum hörbar, antwortete Kahlyn. "Neko ser Mayer levedo sitdu sumrei."

Sender verstand kein Wort und Dr. Karpo ging es ebenso.

"Was ist das für eine Sprache und was sagt sie da?"

Jacob drehte sich verwundert um. Sah er zu den beiden Männern. Noch nie hatte sich jemand dafür interessiert, was er mit seinen Patienten besprach.

"Ich hab sie gefragt, was passiert ist und was ihr fehlt. Sie sagte mir, dass sie angegriffen und bestraft wurde, von Mayer. Dass sie viel zu viel Blut verloren hat. Sie hat großen Hunger. Ich hab sie aufgefordert, mit mir zu sprechen. Wir klären das gleich alles. Ich will mich erst um Kahlyn kümmern. Einverstanden?"

Beide nickten, sie waren froh, dass ihnen endlich jemand half. Dr. Jacob untersuchte Kahlyn von Kopf bis Fuß, maß Blutdruck, Puls, untersuchte die Augen.

"Mako sliu. Ondor Nikyta, dy! - Was hast du, für Spritzen gesetzt? Hast du Schmerzen, mein Kind? Sprich mit mir", übersetzte Jacob gleich, für die anderen, die ja die Schulsprache nicht verstanden. Mühsam antwortete Kahlyn.

"Indor… Sadfim …Junufu… Intös… jin in we… ai un ieb… we bi re we… Söndoko”, kam die kaum hörbare Antwort.

"Ich habe kaum Schmerzen. Hatte wieder hohes Fieber. Kann schlecht atmen. Folgende Injektionen habe ich mir gegeben. J12, A97, und 2 vom B32. Danke Doktor, dass sie gekommen sind", übersetzte Jacob automatisch, für die Umstehenden, das Gesagte.

"Drön, lödein, krös, kandulu, Nikyta", als er die fragenden Blicke sah, übersetzte er das Gesprochene. "Ich muss ans Auto, etwas holen. Keine Angst, ich bin gleich wieder da, mein Kind."

Jacob stand auf und bat Karpo und Sender durch eine Bewegung mit der Hand, mitzukommen. Als sie außerhalb der Hörweite waren, erklärte sich dem Arzt.

"Kahlyn, hat es richtig erwischt. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Normalerweise stellen die Schläge der Lehrer, nicht solche verheerenden Schäden an. Das Zwerchfell ist gerissen, das hat sie aber schon gerichtet. Das ist der Grund, weshalb sie keine Luft bekommt. Das gibt sich in ein oder zwei Tagen. Drei Rippen sind gebrochen, drei weiter angebrochen. Auch das wurde schon gerichtet. Zum anderen hat sie eine starke Prellung, der gesamte Oberkörper ist blutunterlaufen. Sie muss wohl von dem Schlag des Oberleutnants überrascht wurden sein. Normalerweise, federn die Kinder die Schläge mit der Muskulatur ab. Ich verstehe nur nicht, dass sie so viel Blut verloren hat, konnte sie sich nicht gleich versorgen? Normalerweise lassen diese Kinder nicht zu, dass sie so geschwächt werden, durch den Blutverlust. Sie sind an so etwas gewöhnt. Leider. Was mir wirklich Sorgen macht, ist der viel zu hohe Puls, der viel zu hohe Blutdruck, das ist kein Zeichen dafür, dass sie viel zu viel Blut verloren hat. Auch scheint es keine Entzündung zu geben. Die Temperatur die ich gerade gemessen habe, liegt bei 41,7°C also kein Zeichen, von beginnendem Fieber. Ich gehe mal an mein Auto und hole ein paar Medikamente die ich nicht in meiner Tasche habe und einige Tropfflaschen. Doktor, die lasse ich ihnen da", ohne eine Antwort abzuwarten ging er Richtung Tür und ließ die Beiden einfach stehen.

"Ich verstehe gar nichts mehr, kein Fieber bei 41,7°C, das ist hochgradiges Fieber. Zu hoher Puls und zu hoher Blutdruck, bei mir war vorhin alles normal, deshalb habe ich mir ja solche Sorgen gemacht, weil sie noch nicht wieder zu Bewusstsein gekommen ist. Wieso hat sie sofort, auf diesen Dr. Jacob reagiert? Als wir sie angesprochen haben, reagierte sie gar nicht. Ich verstehe gar nichts mehr. Ich muss mich dringend in Ruhe mit diesem Jacob unterhalten. Rudi, darf ich dann dein Büro dazu nutzen?"

Sender nickte, wieder wanderte sein besorgter Blick Richtung Kahlyn.

"Ich hoffe sie kommt durch. Ich würde mir nie verzeihen, wenn der Kleenen, durch mein Eingreifen stirbt", nachdenklich starrte er auf seine Hände. "Jens, du kennst mich schon eine ganze Weile. Du weißt, dass ich kein gewalttätiger Mann bin. Aber am liebsten, würde ich nach unten in die Zelle gehen und diesen Mayer nach Strich und Faden verprügeln."

In diesen Moment fiel Karpo ein, dass man ihm vorhin erzählt hatte, dass auch Sender einen Schlag von dem Oberstleutnant abbekam. "Sag mal Rudi, wie geht es dir eigentlich. Die Jungs sagten mir, dass du auch einen Schlag abbekommen hast."

"Ach, das ist nichts weiter, Kahlyn hat mich schon untersucht, das wird wohl etwas blau werden. Ich war auf den Schlag gefasst und hatte die Muskeln angespannt. Ich bin ja bewusst dazwischen gegangen. Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass dieser Mayer, mit so einer Wucht, bei einem sechszehnjährigen Mädchen, einschlägt. Man, wir sind durchtrainiert und auf sowas vorbereitet. Kahlyn, hat der Schlag nicht aus den Schuhen gerissen, beide Male nicht. Ich dagegen dachte, es ist aus und vorbei. Mit solch einer ungeheuren Wucht hat der Arsch zugeschlagen. Wie kann das Mädchen so einen Schlag, der ihr sechs Rippen bricht, abfangen? Das hätte keiner von uns ausgehalten, ohne in die Knie zu gehen", nachdenklich schüttelte er den Kopf. "Weißt du Jens, ich werde mir nie verzeihen, dass ich Kahlyn durch mein Eingreifen die Sicht genommen habe. Dadurch, konnte sie den zweiten Schlag, nicht kommen sehen. Das arme Kind hat diesen Schlag ungeschützt, aushalten müssen. Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt", mit jeden Wort wurde Senders wütender und auf einmal schlug er mit der Faust auf den Tisch, so dass alle Tassen die darauf standen, in die Höhe sprangen.

"´tschuldigung, aber ich habe so eine Wut im Bauch."

Karpo sah seinen Freund und Vorgesetzten betroffen an. So etwas hatte er bei Sender noch nicht erlebt. Noch nie, hatte sich der Major vor seiner Truppe so gehen lassen und seine Wut so offen gezeigt.

"Rudi, du kommst jetzt erst mal mit in die Sanistube und kein Widerwort. Ich will dich gründlich untersuchen, auch, wenn das Kahlyn schon gemacht hat und es Dr. Jacob dann auch tun will. Aber mich stört, dass du so schlecht Luft bekommst. Nicht, dass du doch innere Verletzungen davon getragen hast. Jungs, ihr geht diesem Dr. Jacob zur Hand. John, schau ihm genau auf die Finger. Ich traue niemand mehr, aus dieser Schule. Nicht nach dem, was hier vorgefallen ist", gab er genaue Anweisungen an die Kollegen die sich im Bereitschaftsraum, aufhielten.

Ohne sich auf eine weitere Diskusionen von seinem Vorgesetzten einzulassen, zog er Sender am Arm in Richtung Sanistube. Dort angekommen, untersuchte er Sender gründlich, konnte aber außer schweren Prellungen nichts feststellen.

"Ist gut Rudi, die Diagnose von Kahlyn ist richtig. Du hast wirklich nur ein paar schlimme Prellungen, abbekommen. Trotzdem würde ich dich gern röntgen, um sicher zu gehen, dass du keinen inneren Verletzungen hast."

Verneinend schüttelte Sender den Kopf. "Nein, ich hab nichts. Du kennst mich doch, wenn ich wirklich etwas hätte, würd ich dir das schon sagen."

"Na gut, ist in Ordnung. Aber ein paar Tage kürzer treten, versprochen."

Sender stimmte dem zu. Der Major merkte selber, dass gar nichts mehr ging. Er konnte sich nur noch mit Mühe bewegen und nur unter starken Schmerzen atmen.

"Rudi, ich mache dir etwas Hepatromp auf den Bluterguss und bandagiere deine Rippen, richtig fest. Das lindert etwas den Schmerz. Die Jungs, sollen den Verband dreimal täglich wechseln. Versprochen? Oder muss ich selber jeden Tag herkommen?", grinsend sah Karpo Sender an.

"Nein, keine Angst. John macht das schon."

Nachdem Sender von Karpo verbunden wurde, ging es ihm deutlich besser. Der Stützverband den Karpo um die Rippen machte, ermöglichte Sender eine bessere Atmung, vor allem ohne große Schmerzen. Außerdem kühlte die Hepatromp Salbe die lädierten Rippen. Sender und Karpo gingen nach dem Verbinden, wieder in den Bereitschaftsraum, um nach Kahlyn zu sehen.

Dr. Jacob stand über sein Mädchen gebeugt, verabreichte ihr gerade einen Tropf, neben ihm lagen einige leere Spritzen, die er ihr wohl schon verabreicht hatte. Als er bemerkte, dass Dr. Karpo und Sender wieder im Raum waren, erhob er sich mühsam von den Knien und trat auf die beiden zu.

"Kahlyn, sollte irgendwohin, wo es nicht so laut und vor allem nicht so hell ist. Dort könnte sie in Ruhe etwas schlafen. Sie kann sich auf diese Weise viel schneller erholen. Auch wäre es von Vorteil, wenn es eine harte Unterlage gäbe. Die Kinder sind es nicht gewohnt, in weichen Betten zu schlafen. Gucken sie mich nicht so böse an. Es war bestimmt nicht meine Idee."

Rudi war bei den letzten Worten des Arztes, richtig böse geworden und wollte gerade das Wort ergreifen, aber Karpo hielt ihn zurück.

"Dr. Jacob, was verstehen sie, unter einer harten Unterlage?", erkundigte er sich, stattdessen bei dem Arzt.

"In der Schule schlafen die Kinder auf Stahlpritschen, die eine Decke haben. Man war immer der Meinung, die Kinder sollten nicht verweichlicht werden."

Rudi schüttelte den Kopf. Jetzt verstand er, warum Kahlyn gestern auf den Boden lag. Sie war es nicht gewohnt, in einem weichen Bett zu schlafen. Diese armen Kinder, schoss es ihm durch den Kopf. Karpo sah sich um, ging auf eine der Türen zu.

"Ginge eine Tür und eine Zudecke, als Unterlag für das Bett?"

Jacob nickte.

"Rudi, wie sieht es mit der Abstellkammer aus? Die ist doch dunkel, außer den Putzschränken, ist dort nichts drinnen. Wenn wir da, aus dem Schlafsaal, ein Bettgestell reinstellen? Eine Tür drauflegen, eine Zudecke als Matratze drauflegen, hätte die Kleine ein Bett, was sie gewohnt ist. Wenigstens das, könnten wir doch für sie tun, Rudi oder?", schlug er diplomatisch vor und sah er den Freund an. In der Hoffnung, dass Sender nicht gleich lospolterte. Karpo sah genau, dass Sender innerlich kochte.  

"Vielleicht hast du Recht, Jens. Auf diese Weise, fühlt sie sich ein kleinen wenig wie zu Hause. Es muss ihr nach allem, was sie hier erlebt hat, vorkommen wie in einem Horrorfilm", meinte Sender jedoch, leise und ruhig.

Jacob musste grinsen. Stimmte allerdings dem Vorschlag zu. "Es wäre eine gute Idee. Sie muss zur Ruhe kommen, von den Anderen, sind auch schon fünf erkrankt. Ich habe keine Ahnung, was da im Moment passiert? Ich wäre schon gestern Abend hier gewesen, aber ich musste mich erst einmal, um die Fünf kümmern die erkrankt sind, deshalb war ich so spät da. Es hat sich halt alles gezogen, dadurch", entschuldigte sich Jacob gleich, für sein spätes Kommen. Sorgenvoll sah Jacob seinen Kollegen Karpo und Sender an. "Glauben Sie mir, ich würde nie zulassen, dass den Kindern etwas passiert und schon gar nicht, dass meine Kinder hungern müssen. Ich versuche sie seit siebzehn Jahren zu beschützen und auch wenn sie sich das nicht vorstellen können, das war nicht gerade einfach."

Sorgenfalten, standen in Jacobs zerfurchtem Gesicht. Sender raffte sich auf, es nutzte niemanden etwas wütend zu sein. Das brachte keinen vorwärts, deshalb übernahm er jetzt das Kommando.

"Jens du gehst mit dem Doktor in mein Büro. Lasse dir so viele Infos geben wie möglich. Du bist ab sofort, für die Gesundheit der Kleenen verantwortlich. Ich will, dass du auf jede Eventualität, vorbreitet bist. Ich kümmere mich um das Bett, lasse sie hinterbringen."

Die Aufgabe ins Auge fassend, drehte Sender sich um, ließ die beiden Ärzte einfach stehen und ging auf sein Team zu. Die beiden gingen daraufhin sofort in das Büro des Teamleiters. Rudi dagegen gab an seine Leute klare Anweisungen.

"John, geh mal runter zu Tony. Frage ihn, ob er so etwas wie eine Tür oder ein großes Brett hat. Dann brauche ich zwei Mann, die im Schlafsaal ein Bett abbauen und in die Abstellkammer bringen. Ich würde es ja selber machen. Aber ich glaube, das schaffe ich heute nicht mehr. Weitere zwei Leute, räumen den Abstellraum auf, machen so Platz für das Bett. Los ein bissel dalli, jetzt aber."

 Lächelnd sah Sender zu, wie sechs seiner Leute verschwanden. Nicht einmal zwanzig Minuten später, kamen alle zurück in den Bereitschaftsraum, meldeten dass sie fertig waren.

"Danke Jungs, so nun bringen wir die Kleene hinter. Einer nimmt sich einen Stuhl und schiebt Wache. Ich will, dass ihr uns bei jeder kleinen Veränderung holt."

John ging zu dem Sofa und hob Kahlyn vorsichtig hoch, um sie in das andere Zimmer zu tragen. Es kam keinerlei Reaktion von ihrer Seite. Ein zweiter nahm den Tropf vom Ständer und den Ständer in die andere Hand. Gemeinsam gingen sie so vorsichtig es halt möglich war, um jede Erschütterung zu vermeiden, mit der scheinbar wieder bewusstlosen Kahlyn, in die Abstellkammer. Die jetzt Kahlyns Krankenzimmer werden sollte. Dort angekommen, legten sie Kahlyn vorsichtig in das Bett und hängten den Tropf wieder auf. Liebevoll wurde sie zugedeckt von ihren Kollegen, die traurig auf das so junge Mädchen herab sahen. John ließ es sich nicht nehmen und übernahm gleich die erste Wache. Leise flüsterte er Rudi zu.

"Rudi, ich glaube das Fieber ist noch weiter gestiegen, die Kleine glüht ja richtig. Vielleicht sollten, dass die Ärzte wissen."

"Ich sage den Beiden, Bescheid. So nun raus hier, lassen wir die Kleene schlafen. Die hatte heute genug Unruhe."

Vorsichtig schob er die anderen aus dem Zimmer. John blieb mit Kahlyn alleine, in den fast dunklen Raum zurück.

 

Betrübt setzte sich John zu seiner kleinen Kollegin, der heute so viel Unrecht wiederfahren war. Eine unsagbare Wut war in seinem Bauch. Er selber hatte eine Tochter von elf Jahren, wenn er sich vorstellte, dass jemand sein Kind so behandeln würde. Er würde zum Mörder werden. Ganz vorsichtig, nahm John Kahlyn die Brille ab und sah sich die Kleine, dass erste Mal, seit dem sie hier war genau an.

Sie war so ein hübsches Mädchen, mit viel Mühe würde er sie auf zwölf oder dreizehn schätzen. Sie sah nicht mal aus wie sechszehn Jahre. Sie wirkte so weich und irgendwie auch zerbrechlich. Wenn sie auch irgendwie, einen etwas zu dick geratener Teenager ähnelte. Aber wenn man genauer hinsah, erkannte man, dass da kein Gramm Fett an ihr war. Im Gegenteil, er würde sie eher als sehr dünn bezeichnen. Die Schlüsselbeine traten sehr stark hervor, so, wie man das nur bei Menschen sah, die viel zu dünn waren. Ansonsten, war die Kleine eine geballte Ladung Muskulatur. Er hatte bis heute noch nicht gewusst, dass man überhaupt so viele Muskeln aufbauen konnte. Am ganzen Körper, sah man ausgeprägte Muskelstränge, wie man es eigentlich nur von Bodybuildern her kannte. Selbst jetzt beim Schlafen traten die Muskeln deutlich hervor, obwohl sie diese bestimmt nicht angespannt hatte. Alleine ihre Nackenmuskulatur, war extremer ausgeprägt, stärker als die eines Gewichthebers oder Kraftsportlers. Das schwarze Haar, das extrem kurz geschoren auf ihrem Kopf spross und höchstens drei oder vier Millimeter lang war, würde, wenn es um einiges länger wäre, ein richtiges Mädchen aus ihr machen. Sie hatte ein so hübsches und ebenmäßiges Gesicht, mit einer Stupsnase, die sich frech in die Höhe reckte. Die etwas breiteren Wangenknochen und das schmale Kinn, stellten einen eigenartigen Kontrast, zu ihrem fast als rundlich zu bezeichnenden, ebenmäßigem Gesicht dar. Ihrer Augen standen etwas weit auseinander, was allerdings ihrer Schönheit keinen Abbruch tat. Auch, wenn sie ihre Augen zurzeit geschlossen hielt, sah man, dass sie mandelförmig waren. Dadurch konnte man meinen, dass sie asiatischen Vorfahren hätte. John konnte sich gut vorstellen, dass sie aus Kasachstan oder China oder der Mongolei stammte. In diesen Ländern, waren diese Gesichtszüge sehr verbreitet. Bestimmt, war Kahlyn normalerweise dunkelhäutig und nicht so blass oder eher grau, wie man sie jetzt bezeichnen würde. Das Mädchen, sah richtig krank aus, mit ihren dunklen, fast schwarzen Augenringen, um die wunderschönen geformten Augen. Lustig wirkten die beiden Grübchen, die sie auf ihren Wangen hatte. Einem Lächeln, würden sich bestimmt, sehr hübsch in ihrem Gesicht machen.

John wurde bewusst, was er hier tat, schüttelte über sich selber den Kopf. Schnell erhob er sich und holte sich aus dem Reinigungsmittelschrank, eine Schüssel und ein Tuch. Am Waschbecken ließ er das Wasser eine Weile laufen, damit das Wasser richtig kalt wurde. Nahm sich seinen Stuhl, stellte ihn mit der Schüssel neben das Bett, setzte sich zu Kahlyn aufs Bett. Vorsichtig machte er das Tuch nass, wrang es auch, legte es auf die glühende Stirn des jungen Mädchens. Auch über die Augen, die rot und entzündet aussahen.

John hatte Kahlyn, obwohl sie ihn so schnell besiegt hatte, sofort in sein Herz geschlossen. Er konnte nicht einmal genau begründen, warum. Es war einfach etwas an dieser jungen Frau, dass im Nu sein Herz erobert hatte. Nicht Liebe zu einer Frau, sondern Freundschaft, das Gefühl sie beschützen zu müssen, wie zu einer kleinen Schwester. Alles, was er bis jetzt bei ihr erlebt hatte, war eine Offenherzigkeit, die er so, noch nie in seinem Leben erlebte. So wie es nur, unschuldige Kinder zeigen konnten. Es dauerte gar nicht lange, da war das Tuch wieder kochend heiß, also tauchte er es wieder in das kalte Wasser, legte das Tuch erneut auf die heiße Stirn.

"Weißt du Kahlyn, das kannst du nicht machen. Ich kenne dich doch noch gar nicht richtig. Da kannst du mir doch jetzt nicht so krank werden. Ich dachte, du wolltest mir lernen, wie ich meine Pistole richtig pflegen muss. Wie soll ich das, ohne dich lernen?"

John wusste selber, dass er Blödsinn redet. Aber er wollte unbedingt, dass Kahlyn seine Stimme hörte. Er erinnerte sich noch gut an seine Kindheit. Als er krank und fiebrig im Bett gelegen hatte. Es half ihm immer sehr, wenn er die Stimme einer vertrauten Person hören konnte.

"Weißt du Mäuschen, dass ich dich bewundere. Wie du so pflichtgenau deine Vorgesetzten grüßt. Vor allem wie akkurat du in allem gewesen bist, was du hier getan hast. Dagegen, müssen wir dir doch, wie ein großer Sauhaufen vorkommen. Aber weißt du, auch wenn wir nicht einen so akkurat Umgangston haben wie du ihn von deiner Schule gewohnt bist, sind wir doch aber trotz allem eine gute Truppe."

Wieder wechselte John den Umschlag. Vorsichtig streichelte er das Gesicht Kahlyns, es kam ihn so vor, als wenn es noch heißer geworden wäre.

"Ich weiß ja nicht, ob du mich hörst Mäuschen, aber glaube mir, bei uns bist du in guten Händen. Vielleicht können wir dir deine Freunde nicht ersetzten, die jetzt auf anderen Dienststellen sind. Aber ich verspreche dir eins, wenn du wieder gesund bist, wirst du mit uns viel Spaß haben. Ich glaube, bei uns wirst du schnell das Lachen lernen. Denk ja nicht, dass ich nicht gesehen habe, dass du noch nicht einmal gelacht hast. Ich verspreche dir, in einem Jahr kannst du gar nicht mehr auf hören, zu lachen. Ich bringe dir auch, alle meine Kniffe bei und alle Tricks. Die verrate ich nämlich, nicht jedem."

Besorgt sah er in das graublasse Gesicht des Mädchens. Wieder und immer wieder wechselte er den Umschlag, in der Hoffnung, dass es das Fieber etwas senken würde. Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter diese Umschläge, auch an den Hand- und Fußgelenken gemacht hatte. Er nahm Kahlyn die Decke weg und legte diese übers Fußende des Bettes. Nochmals stand John auf und holte noch mehr Tücher aus dem Schrank und wickelte so die kalten nassen Umschläge, um die Hand- und Fußgelenke. Dabei sprach er leise zu Kahlyn. John redete über alles, was ihm gerade so einfiel. Nur, damit Kahlyn seine Stimme hören konnte.

Zwei Stunden später, als Max ihn ablösen kam, hatte er das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Seinem Gefühl nach, war das Fieber noch mehr gestiegen. Er beschloss deshalb, es selber noch einmal den Ärzten zu sagen.

"Max, bitte mache, die Umschläge weiter. Ich habe zwar keine Ahnung, ob das etwas bringt. Aber, wir müssen doch wenigstens versuchen, ihr etwas Linderung zu verschaffen. Vielleicht, wenn es dir nichts ausmacht, rede ein wenig mit ihr. Vielleicht hilft es ihr ja, auch wenn ich nicht weiß, ob sie uns überhaupt noch hört."

Max nickte traurig. Gleichzeitig begann er, wie zuvor sein Kollege, die Umschläge zu erneuern. John verließ leise den Raum, um gleich zu Senders Büro zu gehen. Dort angekommen klopfte er an und trat einfach ein. Die beiden Ärzte schauten verwundert auf.

"Was ist los John?", erkundigte Karpo sich sofort.

"Gibt es Schwierigkeiten bei meiner Kleinen?", fragte ihn Jacob.

John zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht Jens, ich glaube das Fieber steigt immer mehr. Ich habe kalte Umschläge gemacht, um das Fieber zu senken. Aber es hilft scheinbar überhaupt nicht", sichtbar erschrocken, sprang Jacob auf und stürmte sofort aus dem Raum.

"Hab ich das falsch gemacht Jens?" John war verwirrt, er hatte es doch nur gut gemeint.

"John, das kann ich dir nicht sagen. Komm, wir gehen ihm, hinter her."

Beide liefen dem Schularzt hinterher und waren erstaunt, dass dieser nicht bei Kahlyn war.

Karpo fragte Johns Kollegen. "Max, wo ist der Doktor hin?"

Bevor dieser antworten konnte, betrat ein schwer atmender Dr. Jacob das Büro.

"Entschuldigt, mir ist da gerade etwas eingefallen", er nahm eine Schachtel mit lauter fertigen Spritzen, aus seiner Jackentasche, spritzte den Inhalt in den Tropf. "Ich hoffe sehr, dass es ihr hilft. Das ist ein Mittel, was ich den Kindern schon einmal gespritzt habe, als alle an einem unerklärlichen Fieber erkrankt waren. Damals hatte es gut geholfen. Mit den Umschlägen, könnt ihr nichts falsch machen. Aber ich verstehe einfach nicht, wo das auf einmal herkommt. Wieso hat sie so hohes Fieber? Sie hatte schon viel schlimmere Verletzungen überstanden, ohne dass sie Fieber bekommen hat. Ich kann nirgends eine Entzündung sehen. Das muss irgendwelche andere Ursachen haben."

Nachdenklich untersuchte Jacob noch einmal das Mädchen, aber er fand keine Ursache.

"John, sind sie so nett und holen mir bitte, aus meiner Tasche eine Binde."

John lief sofort nach drüben ins Büro und holte eine Binde aus der Tasche von Dr. Jacob. "Bitte hier, zu was brauchen sie die, Herr Doktor?"

Dr. Jacob ging an das Kopfende des Bettes. "Kann bitte mal jemand Kahlyns Kopf hochhalten. Ich muss ihre Augen verbinden. Sie sind schon ganz entzündet. Sehen sie, die roten Ränder, um die Augenlieder. Das ist nicht gut, das heißt zusätzliche Schmerzen, für die Kleine. Ich glaube, zurzeit hat sie genug Schmerzen. Es ist zwar dunkel hier im Raum, aber sobald die Tür aufgeht, fällt das helle Licht in den Raum. Das ist nicht gut für ihre Augen. Außerdem, könnt ihr doch nicht die ganze Zeit, im Dunkeln sitzen", als er die verwirrten Blicke der Anwesenden sah, fügte er noch hinzu. "Keine Angst, die Kinder sind das von klein an gewohnt. Wenn sie krank waren, wurden ihnen, auf der Krankenstation immer die Augen verbunden. Wir können im Dunkeln, nicht sehe wie die Kinder. Kahlyn ist dadurch nicht blind. Sie sieht zwar etwas schlechter, aber sie kann auch durch die Binden, etwas wahrnehmen. Auch wenn es nur unscharfe Bilder sind."

John ging an das Kopfende, um auf Anweisung vorsichtig den Kopf, der Kleinen zu heben. Dr. Jacob aber, beugte sich erst einmal über Kahlyn "Nikyta, krös. Slensa, Andus. Pionda, dy kon. - Mein Kind, keine Angst. Ich verbinde dir, deine Augen. Damit dich das Licht nicht mehr blendet. Sprich mit mir, wenn du mich hörst", da keine Antwort von ihr kam, meinte Jacob traurig. "John, heben sie ihren Kopf ein wenig, damit ich die Augen verbinden kann. Sie hört uns wohl nicht."

Vorsichtig verband der alte Arzt, in einer eigenartigen Wickeltechnik, die Augen des jungen Mädchens. Als sie fertig waren, legte John, den Kopf wieder vorsichtig zurück.

"Hoffen wir, dass es hilft. Kommt, lassen wir sie in Ruhe schlafen."

Max blieb als einziger bei ihr zurück, auch er erzählte mit ihr und versuchte das Fieber, mit den Umschlägen weiter zu senken. Es war bereits Mittag vorbei, aber es war noch keine Besserung eingetreten.

Als 14 Uhr 20 der Alarm losging, die Männer des SEKs zu einen Einsatz gerufen wurden. John hatte in einer weisen Voraussicht, schon für diesen Notfall alles in die Wege geleitet. Bei einem Einsatzbefehl hatte man keine Zeit, noch solche Dinge zu organisieren. So kam sofort, Ines aus der Wachstube und übernahm die Pflege, des kranken Mädchen. Als sie das Zimmer betrat erschrak sie sich. Das konnte unmöglich das Mädchen sein, welches sie gestern früh in Empfang genommen hat. Eingefallen sah das Gesicht aus, vor allem schneeweiß. Sie setzte sich zu der Kleinen ans Bett und begann, wie alle anderen zuvor, mit ihr zu reden. Dabei wechselte sie ständig die Wickel, die kochend heiß waren.

 

Dr. Jacob betrat zusammen mit Karpo, das Büro von Sender. "Nehmen Sie Platz Herr Kollege", zeigte auf den Stuhl, vor Sender Schreibtisch. Entschlossen ging der Truppenarzt auf Senders Kaffeemaschine zu, die nur selten leer war, goss sich und dem Kollegen, erst einmal einen Kaffee ein.

"Nehmen sie." Karpo hielt Jacob, den Becher mit Kaffe hin. "Möchten sie Zucker oder Sahne?"

Jacob schüttelte den Kopf. "Danke, ich trinke ihn immer schwarz."

Karpo setzte sich auf Sender Platz und holte sich Papier und Stift, aus einer der Schubladen. "Dann schießen sie mal los", lächelnd sah er Jacob an. "Ich glaube, wir haben viel zu besprechen. Bitte, wenn sie die Kinder angeblich so lieben, wie sie sagen. Dürfen sie mir nichts verschweigen. Ich kann nicht davon ausgehen, sie jedes Mal zu erwischen, wenn ich nicht weiter weiß. So abweisend, wie diese Schwester Anna am Telefon war, habe ich kein großes Bedürfnis dort noch einmal anzurufen. Verstehen sie das bitte."

Jacob trank einen großen Schluck, musterte seinen jungen Kollegen lange und ausgiebig. "Dr. Karpo …"

Der Truppenarzt unterbrach seinen Kollegen. "Nennen sie mich einfach Jens. Das bringt eine größere Vertrauensbasis", offen sah er den müde wirkenden älteren Herren an.

"In Ordnung. Jens wissen sie, meine Anna ist ein gutes Mädchen. Aber, sie hat es im Moment sehr schwer. Sie hat vorgestern, ihre letzten neun Babys verloren. Sie müssen wissen, für Anna und mich, war das nur ganz am Anfang, ein Job. Schon im ersten Jahr unseres Aufenthaltes in der Schule, wurde mehr daraus. Damit sie das richtig verstehen könnten, müsste ich ihnen alles erzählen. Das darf ich leider nicht und das würde viel zu lange dauern. Glauben sie mir bitte eins. Anna und ich, haben nicht nur einmal mit dem Gedanken gespielt, alles hinzuschmeißen und aufzuhören mit unserer Arbeit. Wir haben unsere Arbeit nicht nur einmal gehasst wie die Pest. Am liebsten hätten wir dieses menschenunwürdige Projekt abgebrochen. Aber immer wieder, haben wir uns dann gesagt, wer beschützt unsere Kinder dann. Wenn ich unsere Kinder sage, Jens. Dann meine ich auch unsere Kinder. Es sind Annas und meine Kinder, so, als wenn es unser eigen Fleisch und Blut wären. Als wenn wir sie geboren hätten, was wir ja eigentlich auch haben. Also sind wir im Projekt geblieben, auch wenn wir aus dem Herz geblutet haben. Nach und nach, lernten wir uns lieben und schließlich heirateten wir auch. Wir haben uns immer eigenen Kinder gewünscht. Dies, hätte eine Trennung von unseren Kindern bedeutet, das aber wollten wir nicht. Meine Frau und ich lieben diese eigenartigen Kinder, als wenn es unsere eigenen wären. Mit jedem Kind was getötet wurde, stab ein Teil unserer Seele. Weil wir uns für deren Tod verantwortlich gefühlt haben. Wir konnten sie leider, nicht vor allen beschützen. Die Kinder lieben uns glaube ich auch, auf ihre eigene Weise. Auch wenn man ihnen nachsagt, dass sie überhaupt nicht zu solch einem Gefühl fähig sind. Wissen sie Jens, dass ich diese Kinder nur ganz wenige Male, laut weinen oder herzhaft lachen gesehen habe. In all den vielen Jahren", wieder trank Jacob einen Schluck Kaffee.

Karpo konnte sich dem Gefühl nicht verschließen, dass dieser Arzt, gegen seine Gefühle ankämpfte. Die Pause war viel zu lang. Es klopfte an der Bürotür, Sender trat ein.

"Kann ich kurz stören", erkundigte sich Sender die beiden Ärzte.

Die Ärzte nickten.

"Was ist Rudi?", fragte Karpo besorgt.

"Wir haben die Kleene hinter gelegt, in die Abstellkammer. Das ist der nächste Raum, wenn ihr rechts aus dem Büro geht. John meinte, die Kleene hätte Fieber. Aber er kümmert sich, ums sie. Ich hab ihn angewiesen, sofort zu Euch zu kommen, wenn sich ihr Zustand verschlechtert."

Karpo und auch Jacob nickten dankbar.

"Ich lege mich hinten etwas hin, ich brauche dringend eine Mütze voll Schlaf. Weckt ihr mich, wenn etwas ist, bitte."

Jacob stand sofort auf. "Major Sender, ich wollte sie doch noch untersuchen."

Der schüttelte den Kopf. "Das brauchen sie nicht, Herr Doktor, Kahlyn und Jens haben die gleiche Diagnose gestellt. Ich denke sie würden mir auch nichts anderes sagen. Wenn nur diese Schmerzen, beim Atmen nicht wären."

Jacob bat Sender darum Platz zu nehmen. "Setzen sie sich einen Moment. Ich gebe ihnen etwas, das wird ihnen die Schmerzen lindern."

Jacob wandte sich an Dr. Karpo. "Jens, sie spritzen ihn dieses Mittel, bitte zweimal am Tag. Aber nur maximal fünf Tage. So wie ich es ihnen das jetzt zeige. Wenn Kahlyn wieder fit ist, kann die das auch machen. Dann hat der Major keine Atemprobleme mehr."

Karpo blickte Jacob verwundert an. "Was ist das für ein Mittel?", konnte er sich nicht verkneifen zu fragen.

"Kahlyn, hat diese Medikamente zusammen mit mir und meiner Frau entwickelt. Meine Frau ist ausgebildete Apothekerin, müssen sie wissen und Kahlyn hat sämtliche diesbezügliche Prüfungen mit sehr guten Noten bestanden. Vertrauen sie meinem kleinen Mädchen einfach. Ich habe es auch von den Kindern bekommen, denn ich hatte ebenfalls einige sehr böse Zusammenstöße mit Mayer gehabt. Weil ich seine Anordnungen nicht so durchgeführt hatte, wie er es wollte. Es hat mir immer gut geholfen. Wenn Kahlyn ihnen in medizinischen Dingen etwas sagt, vertrauen sie ihr. Sie ist eine gute Ärztin", erklärte er Karpo.

Jacob stellte seine Arzttasche auf den Schreibtisch und holte einen Ampullenkoffer hervor, wie ihn Karpo schon von Kahlyn her kannte. Konzentriert suchte er die Schablone, mit der Aufschrift A13 raus. Erklärte seinem Kollegen genau, die Beschriftung. Langsam, immer auf die Schablone zeigend, zog er die Spritze auf. Das gleiche macht er auch beim B32, um die Schmerzen die der Major hatte etwas zu lindern.

"Schauen sie bitte einmal nach rechts", bat er Sender.

Vorsichtig drückend, suchte er die Halsschlagader von Sender, spritzte die beiden Mittel genau dort hinein, als Sender ausatmete.

"Es wird gleich helfen. Ich hab mal versucht, mir das Mittel im Arm zu spritzen. Im Gegensatz zu den Kindern, kann ich mich nicht selber, in die Halsschlagader spritzen. Da wirkt es nicht so gut."

Langsam räumte er die gebrauchten Sachen, in einen kleinen Abfallbehälter. "Ich lasse ihnen diesen Ampullenkoffer da. Ach Jens, bitte erinnern sie mich daran, dass wir das mit dem Koffer noch klären müssen. Nicht das ich das später noch vergesse. Es ist für Kahlyn sehr wichtig zu wissen, wo sie ihre Koffer auffüllen lassen kann." Jacob hatte die Zeit gut genutzt, um sich wieder zu beruhigen.

"Danke Herr Doktor", sagte Sender.

"Bis später dann. Ich bin im Schlafsaal, wenn ihr mich braucht."

Mühsam erhob er sich und stellte mit einem verwunderten Blick fest, dass er sich wieder richtig bewegen konnte.

"Danke Doktor, das hilft aber wirklich schnell."

Erleichtert nickend verließ Sender das Büro.

"Die Kinder", griff Jacob das Thema wieder auf, "sind immer zu uns gekommen, wenn sie ein Problem hatten. Verstehen sie. Ich bin mit diesen Kindern verbunden. Seit siebzehn langen Jahren kümmern wir uns, um deren Wohlergehen. Wir waren schon vor der Geburt der Kinder, für deren Gesundheit verantwortlich."

Jacob sah seinen jungen Kollegen direkt in die Augen, bis jetzt hatte er immer nur auf seine Tasse geschaut. Traurig lächelnd sah Jakob auf seinen Kollegen. Auf einmal blitzte etwas in Jacobs Augen auf, verwundert sah das der Truppenarzt. Ein Strahlen lag in Jacobs Augen.

"Kahlyn, liegt uns von allen wohl am meisten am Herzen. Das war auch der Grund, warum ich als letztes zu Kahlyn gefahren bin, mit der Nahrung. Ich wollte noch ein bisschen mehr Zeit, mit ihr verbringen. Auf diese Weise hatte ich dann keinen Zeitdruck mehr. Meine Frau und ich sind ab nächsten Monat im Ruhestand", wieder nahm er einen großen Schluck Kaffee, dann musterte er über den Tassenrand seinen jungen Kollegen.

"Es tut mir leid Dr. Jacob, das wusste ich nicht."

Müde rieb Jacob sich über die Augen. "Woher sollten sie das auch wissen. Meine Frau hat es bestimmt nicht böse gemeint. Sie wollte gern mitfahren, nur war leider kein Platz im Auto. Sie war etwas sauer auf mich. Im Übrigen heiße ich Fritz, so können sie mich ruhig nennen. Aber, um auf die Kinder zurück zukommen, speziell auf Kahlyn. Jens, sie müssen wissen, dass ich nicht auf alles, was ich dort in der Schule für die Kinder tun musste, stolz sein kann. Vieles ist mir aus den Rudern gelaufen, aber ich hatte nicht die Befehlsgewalt, um es zu verhindern. Ich bin oft mit meinen Vorgesetzen aneinander geraten. Habe, weil ich vielen Befehlen nicht gefolgt bin, nicht nur einmal Dresche bezogen. Bis zu dem Tag, an dem mir Kahlyn verboten hat, etwas gegen die Befehle zu unternehmen, weil sie in ständiger Angst um uns lebte", wieder machte Jacob eine kleine Pause, in der er gegen seine Gefühle ankämpfen musste. Es war das erste Mal, dass er mit jemand über diese Thema sprach.

"Jens, schon bei der Geburt von Kahlyn, verstieß ich gegen einen solchen Befehl. Kahlyn war das Kind mit der Nr. 98. Was ja nicht schlimm war, aber sie lag nicht in der Norm. Eine durch skrupellose Wissenschaftler festgelegte Norm, die nichts mit diesen menschenverachtenden Experiment zu tun hatte. Wir hatten die strikte Anweisung bekommen, alle Kinder die nicht der Norm entsprachen, sofort zu töten."

Jacob sah um Jahre gealtert aus, als er darüber sprach. Man sah ihm an wie schwer es ihm fiel, ehrlich über dieses Thema zu sprechen. Müde rieb er sich die Augen. So, als wenn er ein grausames Bild weg wischen wollte. Leise sprach er weiter.

"Eigentlich darf ich über diese ganze Sache nicht sprechen und ich erzähle ihnen das auch nur im Vertrauen und binde sie an ihre Schweigepflicht, damit sie merken, dass mir wirklich viel an den Kindern liegt. Jeder der zehn Ärzte hatte die Verantwortung für zehn Kinder und sollte ihnen auf die Welt zu helfen. Wissen sie, wie sehr wir gehofft haben, dass alle hundert Kinder in der Norm lagen. Leider waren achtzehn Kinder dabei, die eben nicht in die Norm passten. Kahlyn war eins davon. Es war das Drittletzte, der von mir betreuten Kinder. Ich hatte die Serie 10. Das klingt grausam, aber ich kann es ja nicht anders nennen. Alle anderen waren in der Norm, ich hoffte so sehr, dass auch dieses Kind einigermaßen in der Norm liegen würde. Aber es war nicht so. Von den sechstausend Gramm und achtundfünfzig Zentimetern, war sie Meilen entfernt und selbst mit ein wenig Schummelei, hätte ich sie nicht durch bekommen. Also suchte ich mit Hilfe des leitenden Wissenschaftlers, Doktor Zolger, wie ein Verrückter nach besonderen Merkmalen. Irgendetwas, was die anderen Kinder nicht hatten. Nur um zu beweisen, dass sie etwas Besonderes war. Ich fand etwas, sie hatte mehr Muskelmasse als die andern, bessere Reflexe, einen besseren Geruchssinn, auch ihre Ohren und ihre Augen waren noch empfindlicher, als die der anderen. Dadurch konnte ich ihr Leben retten. Ich weiß nicht ob Kahlyn sich je darüber gefreut hatte. Nicht nur einmal, kam mir der Gedanke, es wäre besser für sie gewesen, sie damals gehen zu lassen. Aber wie hätte ich das machen sollen?", offen schaute er Karpo an und fuhr fort mit seiner grausigen Wahrheit. "Jens, ich hätte es nicht über das Herz gebracht, einem gesunden Neugeborenen das Leben zu nehmen. Ich bürgte mit meinem Leben dafür, dass sie den Anforderungen gewachsen wäre. Manchmal denke ich, dass es falsch war. Mit ihren dreitausendneunhundert Gramm und siebenundvierzig Zentimetern, lag sie so weit unter der Norm, dass sie eigentlich keine Chance hatte, die Anforderungen zu erfüllen."

Karpo unterbrach seinen Kollegen, an der Stelle, mit einer wahnsinnigen Wut im Bauch, doch wollte er es genau wissen. "Was wurde aus den Müttern?"

Jacob schüttelte den Kopf. "Es gab keine Mütter. Diese Kinder wurden alle aus der Retorte geboren. Sie lernten nie die Wärme, eines Mutterleibes kennen. Es sind künstliche und genveränderte, von skrupellosen Armee Wissenschaftlern, gezüchtete Wesen. Mit einem enorm hohen IQ. Kahlyn hat einen IQ von 280, die anderen liegen im Bereich von 160 bis 210. Der normale IQ eines durchschnittlichen Menschens liegt, wie sie wissen bei 100. Sie sehen Jens, unsere Kahlyn ist etwas ganz Besonderes. Diese Kinder wurden gezüchtet, um Supersoldaten zu werden. Schneller, stärker, klüger und härter im Nehmen, als alle anderen Menschen auf der Welt."

Jacob beobachtete die Reaktion auf das Gesagte, bei seinem Gegenüber genau. Er war auch nicht, über dessen Reaktion überrascht. Karpo war aufgesprungen, lief wie von einer Tarantel gestochen, in Senders Büro hin und her.

"Sprechen sie ruhig aus, was sie denken, Jens. Ich denke genauso, über mich. Wie konnte ich mich nur auf so etwas einlassen?"

Karpo versuchte sich zu beruhigen. Er bekam einfach kein Wort heraus. Sein gesamtes Inneres zog sich zusammen und die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. Sein Atem ging stoßweise und er musste sich zusammenreißen, um seinem Gegenüber, den Hass den er fühlte nicht ins Gesicht zu spucken. Wäre da nicht ein kleines unschuldiges Mädchen, das seine Hilfe brauchte, würde er auf der Stelle den Raum verlassen.

"Jens, ich weiß, dass es nicht richtig war. Aber hätte ich es nicht gemacht, dann wäre es ein anderer gewesen. Außerdem wissen sie doch nur zu gut, was wir als Ärzte beim Militär für eine Freiheit haben. Hätte ich mich nicht freiwillig entschlossen beim "Projekt Dalinow" zu arbeiten, hätte man mich per Befehl verpflichtet. Ich wäre ob ich wollte oder nicht, so oder so dort gelandet. Das erfuhr ich aber erst späte ", ernst sah Jacob Karbo an. "Glauben sie mir Jens, ich habe diese Entscheidung, mehr als nur einmal bitter bezahlen müssen. Schon im ersten Jahr, bezahlte ich diese Entscheidung, mit dem Tod von achtzehn Kindern. Glauben sie nicht, dass das Strafe genug ist. All diese Kinder sterben zu sehen. Mittlerweile habe ich den Tod, von einundneunzig Kindern auf meinem Gewissen. Einundneunzig Kinder die ich nicht retten konnte. Die zum Teil, auf die grausamste Weise starben, die sich ein Mensch überhaupt vorstellen kann. Auf eine Weise, Jens, die aus einem verbotenen Horrorfilm stammen könnte. Ich kann keine Nacht schlafen, ohne an diese Kinder zu denken. Wissen sie wie alt ich bin, Jens? Viele schätzen mich auf fünfundsechzig Jahre, manche sogar noch älter. Ich bin vorige Woche gerade siebenundvierzig Jahre alt geworden. Fühlen tue ich mich wie hundertsechzig Jahre, mit der Last meines Gewissens, auf den Schultern. Auch, wenn es falsch war diesem Projekt beizutreten. Habe ich so wenigstens versucht den Kindern zu helfen. Ich habe dafür viel Schmerzen und Leid ertragen müssen, und meine Gesundheit fast vollkommen eingebüßt. Dass ich heute noch hier vor ihnen sitze, habe ich nur Kahlyn zu verdanken. Die hat mir nicht nur einmal das Leben gerettet, als mich Mayer fast totgeschlagen hatte. Vieles, was man mit den Kindern vorhatte, habe ich verhindern können und so manches Leid von ihnen fern gehalten. Wenn auch leider nicht alles", traurig sah Jacob auf seine zitternden Hände und sprach leise weiter. "Kahlyn, ist etwas ganz besonderes. Sie war in allem immer die Beste, sie lief schneller, sie sprang höher und sie hatte die besten Noten in jedem Fach. Obwohl sie mit Abstand die Kleinste und Leichteste war, hatte sie jeden aus der Schule besiegt. Worauf ich besonders stolz bin, ist die Tatsache, dass sie die einzige der gesamten Schüler war, die es je gewagt hat sich gegen ihre Lehrer aufzulehnen. Sie war immer diejenige, die für andere gekämpft hatte. Diejenige, die auch die meisten Bestrafungen bekam.

Mayer hat sie immer, das kleine Biest genannt, weil sie mit Abstand die Kleinste war. Er hat es gehasst, wenn sie ihn im Nahkampf innerhalb von Sekunden auf der Matte hatte. Sie hat sich ihm immer wiedersetzt. Schauen sie sich ihren Rücken an, dann wissen sie, was dieser Mayer mit ihr gemacht hat. Ich war derjenige, der sie dann immer wieder zusammen geflickt hat. Sie stand immer da, schaute mich mit ihren wunderschönen orangenen Augen an und sagte mit eine warmen Stimme und einen Ton den ich sonst nie von ihr hörte. ‚Nisön, asödoah, woen. - Das heißt, 'Guter Doktor, Retter in der Not, verlasse uns bitte nie.' Sie hat sich nie unterkriegen lassen. Verstehen sie Jens, warum ich nicht gehen konnte? Diese Kinder reagieren noch auf mich, wenn keiner mehr an sie heran kommt. Sie wissen, dass ich sie aus ganzem Herzen liebe."

Gegen das aufkommende Gefühl ankämpfend, gleich ganz laut schreien zu müssen, zwang sich Jacob einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse zu trinken. Damit konnte er sich etwas beruhigen, er gab den jungen Kollegen so die Gelegenheit, das Gesagte zu verdauen. Wenn das überhaupt möglich war. Er konnte sich die Wut, in seinem Kollegen vorstellen, denn es war die gleiche Wut, die er auf sich selber hatte.

"Warum? Wer kommt auf solche wahnwitzigen Ideen?"

Jacob sah seinen jungen Kollegen, in die Augen. "Ich bestimmt nicht, Jens. Das sind diese kranken Militärs, solche Männer, wie Oberstleutnant Mayer, der diese Kinder als Eigentum des Staates bezeichnet. Sie als Tiere, Kreaturen, Abschaum und Mörder bezeichnet. Und das, obwohl er Kahlyn am Anfang geliebt hat, wie seine eigenen Tochter. Nur konnte er nicht begreifen, was aus den Kindern geworden ist, dank Kahlyn.

Denn ohne Kahlyn, das wurde mir mit jedem Tag klarer, wären es höchstwahrscheinlich, gedankenlose Monster geworden, die ohne nachzudenken, jeden töten würden, ohne mit der Wimper zu zucken. Solche Militärs wie Mayer, nehmen sich das Recht heraus, sie auch noch wie Dreck zu behandeln. Ich bin nicht nur einmal, mit Mayer und Konsorten zusammengeraten. Als ich ihn einmal sagte, dass dies ja auch Menschen wären, sagte er zu mir, Jacob Menschen werden von Müttern geboren. Das hier sind nicht mal Tiere, denn selbst die haben Mütter. Ich kam an den Tag nach Hause und war kaum noch ansprechbar. Anna sagte irgendein falsches Wort zu mir. Danach nahm ich damals unsere ganze Wohnung auseinander. Als ich damit fertig war, hob ich die Hand, gegen meine geliebte Frau. Ich hätte sie fast geschlagen."

Jacob fing still an zu weinen, er bekam diese Bilder einfach nicht mehr aus dem Kopf und brauchte einige Minuten um sich wieder zu beruhigen und die Wut in sich herunter zu schlucken, die bei diesen Worten ihn ihm hoch kamen. Karpo dagegen, wusste nicht, was er tun sollte. Der Arzt ließ Jacob einfach gewähren. Trösten konnte und wollte er diesen Mann nicht, der in seinen Augen nichts anderes war, als ein Mörder und Verbrecher. Wie hätte er jemanden trösten können, der sich so vieler Verbrechen schuldig gemacht hatte. Nur eins wollte er, darum hörte er sich das alles an. Er wollte wissen, was mit diesem kleinen Mädchen, da hinten, los war. Langsam dämmerte es in ihm. Nach einer ganzen Weile, beruhigte sich Jacob wieder. Er holte schwer und Pfeiffend Luft. Noch einmal stand er auf und ging zu seinen Arztkoffer und holte eine kleine Flasche mit einer Pipette hervor. Gab sich drei Tropfen auf die Zunge.

"Entschuldigen sie bitte Jens, mein Herz. Ich darf mich nicht so aufregen. Das verkrafte meine alte Pumpe leider nicht mehr", nochmals holte Jacob tief Luft und fuhr fort. "Wissen sie Jens, im Großen und Ganzen sind die Kinder zu behandeln, wie ihre anderen Patienten auch. Nur, dass diese nicht krank in dem Sinne werden. Das Einzige, was diese Kinder je hatten, war ein unbekanntes Fieber. Das, was ich vorhin erwähnt habe. Ich habe bis heute noch nicht heraus gefunden, warum sie das Fieber bekamen. Einzig und allein Verletzungen chirurgischer Art mus … ste ich bei … den …Ki … be ..."

Jacob sprach auf einmal nicht weiter. Karpo sah seinen Kollegen verwundert an. Der hatte mitten im Wort und im Satz aufhörte zu sprechen. Irgendetwas beschäftigte diesen eigenartigen Mann. Nahm seine Gedanken völlig gefangen, so dass er seine Umwelt gar nicht mehr wahrnahm und auch nicht mehr auf Reize von außen reagierte. Über fünfzehn Minuten brütete Jacob, vor sich hinstarrend über den Gedanken, der ihn gerade gekommen war und völlig in Beschlag nahm. Als der Truppenarzt etwas sagen wollte, brachte ihn Jacob mit einer Handbewegung zum Schweigen. Ständig rieb sich Jacob das Genick und fuhr sich durch sein volles weißes Haar. Irritiert und völlig fassungslos blickte Jens zu dem ihm fremden Arzt. Fand dessen Verhalten unmöglich und wollte sich eine Erklärung einfordern. Als sich plötzlich der Schularzt vor die Stirn schlug und Karpo mit leuchtenden Augen ansah.

"Jens, ich bin manchmal sowas von kurzsichtig. Bitte darf ich ihr Telefon einmal kurz benutzen, es ist sehr wichtig. Mir fällt gerade etwas wie Schuppen von den Augen. Es kann allerdings sein, dass ich mich irre. Bitte, Jens."  

Karpo nickte, denn er verstand durch das gesamte Verhalten von Jacob nicht mehr, was er von seinem Kollegen halten sollte. Der Truppenarzt wusste nicht, was los ist.

Jacob griff nach dem Apparat, wählte aus dem Kopf eine Nummer.

"Bei…"

Jacob unterbrach seine Frau sofort. "Anna, mein Engelchen, ich bin es. Ja, keine Angst, mir geht es gut. Nein Kahlyn geht es nicht gut, deshalb rufe ich ja an. Bitte tust du mir einen Gefallen… Danke… Hast du einen Stift, dann schreibe mit. Geh mal die Unterlagen, von Krein, Duira, Riona, Feanu, Kami, Dea, Pius, Melih, Rashida, Sina, Rafi, Jaan, Ezzo, Kahlyn, Fath, Ona, Emy und Sneimy durch. Schau dort bitte mal nach, im Oktober oder September 1962, war das. Ob die alle damals dabei waren, bei den Tests. Weißt du noch, wo die Kinder das hohe Fieber bekamen … Ja, ich warte."

Jacob klemmte sich das Telefon zwischen Ohr und Schulter, um sofort zu hören, falls Anna sich melden würde und wandte sich wieder Karpo zu. Erklärt sich seinem Kollegen endlich etwas genauer.

"Jens, entschuldigen sie mein Verhalten bitte. Es ist manchmal schlimm mit mir. Mir kommen plötzlich Ideen und wenn ich sie nicht zu Ende denke, sind sie wieder weg. Die Sache war gerade zu wichtig, als dass ich sie wieder vergessen durfte. Mir fiel gerade etwas ein. Im Jahr 1962 irgendwann im Herbst, waren die Kinder schon mal getrennt, für einige Wochen. Sie wurden von Ärzten in verschiedenen militärischen Instituten des Warschauer Vertrages untersucht. Man wollte von verschiedenen Seiten, Meinungen und Prognosen, von unabhängigen Ärzten bekommen, ob dieses Experiment vertretbar war. Die Kinder die ich gerade meiner Frau genannt habe, sind einige der Kinder, die damals an dem Fieber erkrankt waren. Ich muss da etwas überprüfen."

Karpo sah den Doktor erstaunt an. "Sie wissen noch, wer im Jahr 1962 krank war?", zweifelnd schüttelte er den Kopf.

"Ich kann ihn fast jede Krankenakte, der Kinder seit 1959 aufsagen. Ich habe diese Akten bestimmt schon tausende Male studieren müssen. Glauben sie mir, ich stand nicht nur einmal davor zu verzweifeln. Weil die Kinder Verletzungen hatten, die nicht heilen wollten oder Durchfall für den es keinen Grund gab. Alles, was die Kinder betraf, war Forschungsarbeit. Vieles, stimmt zwar mit der Humanmedizinischen Ausbildung überein, das ja. Auf der anderen Seite half vieles einfach nicht oder die Kinder sind darauf allergisch. Bei Wundbrandt, halfen keine Antibiotika, bei den Kindern. Jens im Gegenteil, dagegen sind die Kinder hochgradig allergisch. Es hilft nur ein Mittel, welches die Aktivität der weißen Blutkörperchen erhöht, ein Mittel, was sie und mich umbringen würde."

Verwundert sah Karpo zu Jacob.

Der lächelte verlegen. "Jens, das war der Grund, weshalb ich mich für dieses Projekt beworben habe. Ich wollte forschen und heilen. Ich wollte Neuland betreten und trotzdem helfen. Wenn ich geahnt hätte, dass diese Sache, solche unmenschliche Ausmaße annimmt, glauben sie mir, ich hätte mich nie dazu hingegeben. Ich war gerade fertig mit meiner Approbation, hatte gerade mein Studium beendet und wollte etwas Besonderes machen. Ich war dreißig Jahre, am Beginn meiner Laufbahn als Arzt. Man hatte uns mit ganz anderen Unterlagen, zu diesen Projekt geworben. Das darin stand, dass wir Soldaten zu höheren Leistungen verhelfen sollten. Nichts reinweg gar nichts, stand darin, dass es sich um Versuche mit ungeborenen Leben und Genmanipulationen handelt. Hätte ich das gewusst, Jens, niemals hätte ich mich darauf eingelassen. Als wir dann unterschrieben hatten, war kein Ausstieg mehr möglich. Anna sagt immer, dann hätten die Kinder keine Chance gehabt. Aber ich weiß, dass es nicht richtig war. Zum Schluss bin ich wirklich nur, den Kindern zu liebe geblieben und weil Kahlyn mich darum gebeten hat. Sie hasst Ärzte, weil sie oft wie Versuchskaninchen, getestet wurden. Zu mir sagt sie immer, außer dir lieber Doko, mag ich die Weißkittel nicht. Doko heißt Doktor in der Sprach der Kinder." In diesem Moment meldete sich Anna.

"Ja Schatz, ich bin noch dran. Moment…. Jens könnten sie mir einen Zettel und einen Stift geben. Danke… So mein Engelchen, jetzt."

Still schrieb er sich einige Daten auf. Immer wieder schüttelte Jacob den Kopf. Durch das gerade Gehörte, änderte Karpo seine Meinung. Über diesen eigenartigen, doch wie es schien, sehr engagierten Mann. Konnte es vielleicht sein, dass er nur Gutes für die Kinder wollte? Erstaunt blickte er auf, als der Kollege einen Freudenschrei ausstieß.

"Ich wusste es. Ich wusste es. Anna, sei so lieb und informiere die anderen Dienststellen. Die sollen dafür sorgen, dass die Kinder das Gefühl bekommen, dass sie zur Truppe gehören. Es handelt sich um eine Art Nervenfieber, hervorgerufen durch die Trennung, Anna. Weißt du noch, dass wir einmal mit Kahlyn darüber gesprochen haben, dass sie mehr reden muss. Sie sagte uns damals, ich rede doch immer. Wir verstanden sie nicht, ich glaube die Kinder haben nicht nur eine andere Sprache entwickelt, sondern sie sprechen sie auch in den Gedanken. Ich bin so blöd Anna. Jetzt verstehe ich auch endlich, was die Kinder und Kahlyn immer damit meinten, sie wären mit ihren Freunden verbunden."

Eine Weile sagte er nichts und schien seiner Frau zu zuhören. Er hatte Karpo scheinbar total vergessen.

"Ja Anna, genauso meine ich das. Kümmerst du dich bitte darum. Engelchen, du kannst das besser erklären, wie ich. Wenn du die Möglichkeit bekommst, spreche mit den Kindern und erkläre ihnen das auch. Dann können sie sich darauf einstellen. Du weißt, wenn die Kleinen wissen, warum etwas ist wie es ist, können sie dagegen ankämpfen. Ich kann mir vorstellen, die wissen gar nicht, was mit ihnen los ist. Sie wissen nur, dass es ihnen furchtbar schlecht geht. Erinnerungen, an damals haben sie nicht mehr. Das ist zu lange her, das haben sie wie so viele Dinge in ihrem Leben verdrängt. Außerdem sind viel zu viele schreckliche Dinge passiert, seit damals. Ja mache das bitte gleich. Rashida, Sina, Jaan, Rafik und Andi geht es gar nicht gut. Bei Rashida, rufst du bitte zuerst an. Ach und sie sollen sich alle fünf Tage lang, früh und abends, N91 Spritzen, je nach Höhe des Fiebers, eins bis drei Einheiten. Danke Schatz, ich komme in zwei Tagen nach Hause. Ich fahre die Kinder noch einmal ab und spreche mit ihnen", erleichtert hatte Jacob aufgelegt. Er war gerade im Begriff auf zu stehen, als John an die Tür klopfte. Die beiden Ärzte drehten sich zu John um.

"Was ist los John?", erkundigte sich Karpo sofort.

"Gibt es Schwierigkeiten bei meiner Kleinen?", fragt ihn Jacob. John zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß nicht Jens, ich glaube das Fieber, steigt immer mehr. Ich habe kalte Umschläge gemacht, um das Fieber zu senken, aber es hilft scheinbar überhaupt nicht."

Ohne zu zögern war sprang Jacob auf und verließ den Raum, ohne ein Wort zu sagen, um an sein Auto zu gehen. Holte das besagte Medikament. Dieses N91, war ein Mittel, welches er nicht so mischen konnte, nur die Kinder waren dazu in der Lage. Dazu, muss man das Mittel auf eine Bestimmte Temperatur erhitzen. Die Kinder konnten das sehen, er nicht, er erzeugte es immer im Laboratorium. Es wurde bei nervlicher Überbelastung, zur Beruhigung eingesetzt. Er hatte sich schon zu Hause, vorsichtshalber einige Spritzen vorbereitet, da er sich darüber Sorgen gemacht, wie die Kinder diese Trennung verkraften würden. Zurück in der Wache, lief er zu Kahlyn und gab ihr zwei Einheiten in den Tropf. Erschrocken sah er, bei der darauffolgenden Untersuchung wie entzündet Kahlyns Augen waren und griff zu dem Trick mit der Augenbinde. Das hatte immer gut geholfen. Nach dem Kahlyn versorgt war, gingen Karpo und Jacob zurück ins Büro. Es war kurz vor 14 Uhr 20.

 

Karpo goss sich und Jacob noch einen Kaffee ein und kochte gleich einen neuen. Als plötzlich der Alarm los ging. Draußen auf den Gang war die Hölle los. Sender kam ins Büro gestürzt und holte sich seine Unterlagen.

"Rudi, hatte ich dir nicht gesagt, ein paar Tage ruhiger treten. Verdammt noch mal, ich schreibe dich gleich Dienstuntauglich", pulverte der Truppenarzt Sender an.

"Geht schon in Ordnung, Jens. Mir geht es wieder gut, der Schlaf und die Spritze haben geholfen."

Jacob sah Sender besorgt an. "Major, sie haben keine Schmerzen mehr, weil das Mittel wirkt. In zwei maximal drei Stunden, je nachdem wie sehr sie sich schonen, kommen die Schmerzen, genauso wie die Atemprobleme wieder. Unterschätzen sie das nicht."

Sender guckte besorgt, dann winkte er ab. "Ist gut. Ich werde mich schonen, bleibe im Hintergrund und lasse die Gesunden arbeiten versprochen", zufrieden nickten die beiden Ärzte.

"Passt auf Euch auf. Wer ist jetzt bei Kahlyn?", fiel es Karpo noch in der letzten Sekunde ein.

"Ines ist bei ihr, John hatte das organisiert. Du weißt ja Jens, der hat ein Gespür für Alarm. John baut immer vor."

Dankbar nickte Karpo Sender zu. "Dann bis später und schone dich", waren die letzten Worte, die er Sender hinterher rufen konnte. Schon lief Sender, mit den anderen im Laufschritt, in Richtung Hof. "Soweit zum schonen", grinst Karpo Jacob an.

Der lachte in einem angenehmen Bass. Es klang als ob man eine Blechtafel zum Schwingen brachte.

Grinsend sprach Jacob zu Karpo. "Na irgendwie kommt mir das bekannt vor, bei den Kindern redete ich auch immer von Schonung und was war? Kaum standen sie wieder auf den eigenen Beinen, ging es in den neuen Kampf. Zum Haare raufen, sind diese Leute."

Aber man sah ihm an, dass er nicht wirklich böse war. Sein zerfurchtes Gesicht, zeigte um die Augen, das erste Mal Lachfalten.

Karpo machte wieder ein ernstes Gesicht. "Fritz…", fragt er den Kollegen. "… kannst du mir erklären, was mit den Augen der Kleine los ist. Als ich sie das erste Mal gesehen habe, war ich zu Tode erschrocken."

Traurig nickte Jacob. "Das ist etwas, was ich nicht verhindern konnte. Die Kinder kamen mit diesen Augen auf die Welt. Es ist eine Art Facettenauge, ähnlich denen von Insekten. Allerdings funktioniert es, ähnlich wie das menschliche Auge, nur das es viel empfindlicher ist. Ich habe keine Ahnung, wie sie das erreicht haben. Ich habe die Augen von den toten Kindern obduziert. Schau nicht so Jens, ich musste das machen, damit ich im Falle einer Verletzung den Kindern helfen konnte. Sie unterscheiden sich total von den unseren. Sie sind überhaupt nicht lichtgeschützt, die Kinder leiden Schmerzen, bis hin zur Ohnmacht. Wenn man sie ohne Brille, dem Licht aussetzt. Kahlyn, mit der ich am engsten verbunden bin, sagte mir stets. Sie habe das Gefühl, als wenn man ihr die Augen, ganz langsam ausbrennen würde."

Immer wieder sah Jacob zu seinem jüngeren Kollegen. Der allerdings hört genau zu, ganz ohne die Wut von vorhin.

"Weißt du was Jens, ich schicke dir Abschriften von all meinen Unterlagen. Jens, du musst wissen, diese Kinder können auch, wenn es stockdunkel ist, noch alles sehen. Einer der Dinge, die ich leider nicht verhindern konnte, war das wegnehmen der Schutzmembran die sie über den Augen hatten", verzweifelt sah Jacob zu Karpo, der genau wie dieser sichtbar böse aussah. "Dies wurde im ersten Lebensjahr gemacht. Seit dieser Zeit müssen die Kinder ständig Brillen tragen. Ich habe am Anfang oft darüber nachgedacht, ob man diese Operation nicht vielleicht umkehren könnte. Leider ist dieser Eingriff, irreparabel", wieder holte er tief Luft. "Aber ich denke, dass die Kinder das nicht als schlimme Einschränkung empfinden. Nur als nervig. Weil sie sich, deshalb ständig rechtfertigen müssen. Vor einigen Jahren, habe ich endlich Durchsetzen können, dass die Kinder Kontaktlinsen bekamen. Leider können sie diese nur wenige Stunden tragen, da die Augen sehr empfindlich darauf reagieren und sich fast sofort entzünden. Die Kontaktlinsen sind aber nötig, da sie in bestimmten Situationen, ohne die Brillen erscheinen müssen."

Beide Ärzte diskutieren noch über viele Details und Unterschiede, in der Physiologie der Kinder zu normalen Menschen, vergaßen darüber Raum und Zeit. Als sie kurz nach 19 Uhr, von einem lauten Schrei, aus ihren Debatten gerissen wurden.

Jacob nichts Gutes ahnend, er kannte seine Kinder halt sehr gut, sprang auf und lief so schnell er konnte aus dem Büro und hinüber in das Krankenzimmer von Kahlyn. Jacob ahnte, was dort gerade passiert war. Nicht nur einmal hatte er solche Situationen auf seiner Krankenstation erlebt.

 

Ines tat diese junge Frau leid. Sie sprach viel mit Kahlyn, seit dem sie die Kleine hier pflegte. Nur leider kam keine Reaktion, von deren Seite. Still, wie tot lag sie dort, auf dieser harten Pritsche.

"Sag mal, wie alt bist du eigentlich?", fragt sie zum wiederholten Male die junge Frau, obwohl diese ihr gar nicht antworten konnte. Weil sie nicht mehr wusste, was sie noch erzählen sollte. Seit fünf Stunden saß sie nun hier und kühlte die heiße Stirn der Kranken. "Älter als zwanzig Jahre, kannst du doch auf keinen Fall sein. Mädel. Wie kann man nur in dem Alter schon Leutnant sein. Schau, ich bin jetzt schon neunundzwanzig", erklärte sie dem blassen, kranken und noch so jungen Mädchen. "Ich bin aber immer noch Wachtmeister. Aber ich mache mir da nichts daraus. Ich bin das gerne. Ich liebe meine Arbeit. Vorne an dem Tresen zu stehen, den Publikumsverkehr, ja auch den Stress, du hast es ja selber gesehen. Es ist nicht immer einfach, aber macht ungeheuren Spaß", warum war sie nur gestern, so unfreundlich zu ihr gewesen? Fragte sich Ines immer wieder. "Du, es tut mir leid, dass ich dich gestern so angemotzt habe. Aber ich wusste ja nicht, dass du Probleme mit deinen Augen hast. Es tut mir wirklich leid. Echt mal."

Sie schien wirklich ernsthafte Probleme mit ihren Augen zu haben. Da der Doktor jetzt sogar eine Binde über ihre Augen gebunden hatte. Wieder und wieder hatte sie die Umschläge gewechselt.

"Aber vielleicht können wir, wenn du wieder gesund bist, nochmal von vorn anfangen", abermals legte sie einen kalten Umschlag, auf die Stirn und wechselte auch sie die Wickel, an den Fuß- und Handgelenken. Sie bekam das Gefühl nicht los, dass die Umschläge, sich nicht mehr so heiß anfühlten. Vorsichtig fühlte sie mit dem Puls, die Stirn der jungen Frau. Es fühlte sich kühler an. Ganz leise stand sie auf und ging zu dem Waschbecken, um dort noch einmal neues Wasser zu holen. Als sich hinter Ines etwas bewegte, drehte sich um und glaubte nicht, was sie da sah. Kahlyn saß aufrecht, wenn auch schwer atmend im Bett. Vor Schreck ließ Sören die Schüssel fallen. Es gab ein klirrendes Geräusch auf den Fußboden. Kahlyn sah sofort zu ihr.

"Entschuldige, ich war erschrocken", erklärte Ines schnell. "Du kennst mich. Ich bin Wachtmeister Sören. Aber du kannst mich auch Ines nenne. Ich weiß nicht, ob du mich sehen kannst."

Ines hoffte, dass Kahlyn ihr antwortete. Aber die Kleine sagte nichts, atmete nur heftig. Jedoch verfolgte sie all Bewegungen von Sören.

"Ich tu dir nichts, Kahlyn. Ich habe dir nur kalte Umschläge gemacht. Weil du hohes Fieber hattest", erklärte sie dem Mädchen.

Die neue Kolleging schien sichtbar verwirrt zu sein. Deshalb wollte ihr Ines zeigen, dass sie ihr nichts Böses wollte. Schnell hob sie die Schüssel auf und stellte sie in das Waschbecken.

"Lege dich lieber wieder hin. Du bist richtig krank."

Langsam, um die Kranke nicht zu erschrecken, ging sie um das Bett herum. Vorsichtig wollte sie Kahlyn, an den Schultern, wieder auf ihr Lager drücken. Die jedoch, drehte Ines mit einem derben Ruck, die Hand auf den Rücken. Ines schrie vor Schmerzen auf, ein stechender Schmerz ging durch ihren Arm. So eine Kraft, hatte sie der jungen, kranken Frau, nicht zugetraut.

"Lass mich los", bat sie das Mädchen. "Du tust mir weh, bitte lasse los."

Ines versuchte sich zu befreien. Je mehr sie sich wehrte, ums so schlimmer wurden die Schmerzen. Plötzlich und völlig unerwartet, stand der nette korpulente Arzt im Zimmer. Mit einem strengen, befehlenden Ton, schimpfte er mit dem Mädchen, in einer Sprache die keine verstand.

"Nikyta, granima! Keladi, sori! Kah lyn? Granima nikyta! - Mein Kind, lass los! Keiner tut dir etwas. Du verletzt Unschuldige. Beschützt du nicht die anderen? Lass los, mein Kind", übersetzte der Arzt das Gesagte gleich, für die Anderen.

Kahlyn drehte ihren Kopf, der Stimme zu. Schwer atmend, sah sie noch ganz verwirrt, zu dem Arzt. Wieder schimpfte er mit einer keinen Wiederspruch zulassende Stimme. Da Ines wimmernd in die Knie ging, hob Jacob seine Stimme und wurde noch lauter.

"Nikyta, granima! Keladi, sori! Kah lyn? Granima nikyta! - Mein Kind, lass los! Keiner tut dir etwas, du verletzt Unschuldige. Beschützt du nicht die anderen? Lass los, mein Kind", wiederholte er alles nochmal.

Jetzt erst schien das Gesagte bei Kahlyn angekommen zu sein, denn sie ließ sofort los. Jacob fing die nach unten stürzende Wachtmeisterin auf. Ganz leise kam von der Kranken.

"Doko?"

Auf Deutsch sprach Jacob weiter. "Ja, ich bin es. Lege dich wieder hin. Du hast Wachtmeister Sören verletzt, so etwas darf nicht passieren. Schäm dich."

Kaum hörbar, antwortete Kahlyn. Die noch völlig desorientiert war. "Tut… leid… wollte… nicht", kam die kurzatmige Antwort.

"Leg dich hin."

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Helfen… ganz", noch immer, war sie nicht ganz da.

"Ich helfe Sören, du legst dich hin. Komme zu dir, meine Kleine. Es ist alles gut."

An die Wachtmeisterin gewandt. "Zeigen sie mir ihren Arm", forderte er bestimmt.

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Helfen… bitte… Doko."

"Doko heißt Doktor", übersetzte Jacob.

Jacob nickte, kannte er doch seine Kahlyn nur zu gut. Der Kleinen tat es leid, dass sie jemanden verletzt hatte, das würde sie nicht schlafen lassen. Sie fand erst Ruhe, wenn sie den Schaden wieder in Ordnung gebracht hatte. Dabei spielte es keine Rolle, wie schlecht es ihr ging. Er machte einige Schritte auf Kahlyn zu und half ihr beim Aufsetzen.

Karpo traute seinen Augen nicht. "Warum lassen sie das zu, Fritz?", wandte er sich wütend, an seinen Kollegen. "Die Kleine kann doch niemanden behandeln. Sie ist doch kaum in der Lage zu sprechen", setzte er wütend nach.

Jacob lächelte verständnisvoll seinen Kollegen an. "Jens, sie müssen noch sehr viel, über diese Kinder lernen. Das Wohl anderer, steht immer über dem eigenen. Kahlyn würde keine Ruhe finden, weil sie Sören verletzt hat. Das tat sie nicht mit Absicht. Es tut ihr leid. Sie muss um Ruhe zu finden, den Schaden reparieren, egal wie schlecht es ihr geht", erklärte er dem verwunderten, auch ein wenig irritierten dreinschauenden Karpo.

Schwankend saß Kahlyn auf dem Bett. "Komm… bitte… nicht… verletzen", bat Kahlyn leise und langsam sprechend, an Sören gewandt.

Ines sah von Jacob zu Karpo. Jacob nickte der Wachtmeisterin zu. Jacob ging zu der Wachtmeisterin und flüsterte ihr leise ins Ohr.

"Es ist wichtig, dass sie ihr Vertrauen. Kahlyn kann das viel besser als ich."

Unsicher ging Sören, vorsichtig ihren Arm stützend, auf Kahlyn zu. Kahlyn half Ines vorsichtig dabei die Jacke auszuziehen. Auch half sie ihr, aus dem Hemd. Flüsternd wandte Jacob sich an Karpo

"Sehen sie wie vorsichtig sie mit ihr umgeht. Versuchen sie einmal, wenn es ihnen so schlecht geht, so vorsichtig zu sein." Er sah den Kollegen von der Seite an. "Ich habe es mal versucht, es geht nicht, jedenfalls nicht bei mir. Kahlyn dagegen, stellt das eigene Befinden, immer an letzte Stelle. Ich verspreche ihnen eins, dass keiner ihrer Kollegen mehr sterben wird, bei einem Einsatz. Solange es Kahlyn, auf irgendeine Weise verhindern kann."

Karpo hörte dem Kollegen zu, dabei beobachtete er, jeder der Bewegungen von Kahlyn genau. Besser würde er es auch nicht machen können, musste er ehrlich zugeben. Wahrscheinlich, würde Ines bei ihm, wesentlich mehr Schmerzen leiden. Bewundernd, sah er zu diesem eigenartigen Mädchen. Er gab seinem Kollegen recht. Obwohl es Kahlyn sichtbar schlecht ging, achtete sie genau darauf, der Patientin in keiner Weise noch mehr Schmerzen zu zufügen. Vorsichtig tastete sie den Arm von Sören ab. Auf einmal schwankte Kahlyn beträchtlich, sie wollte aufstehen. Setzte sich aber schnell wieder, da sie merkte, dass das nicht ging. Mit schwacher leiser Stimme, Dr. Jacob anschauend, flüsterte sie mehr, als dass sie sprach.

"Doko… Medo"

"Doktor, der Medi-Koffer", übersetzte Jacob, drehte sich zu Karpo um. "Jens, wissen sie, wo der Koffer der Kleine ist?", wollte er von Karpo wissen.

"Ich hole ihn", gab Karpo zur Antwort

Jacob vermutete, dass Kahlyn das mit Absicht gemacht hatte. Sie wollte Karpo aus dem Raum haben. Normalerweise, ließen diese Kinder, niemanden an ihre Koffer heran. Der Koffer waren ihr Heiligtum und war für sie oft lebensrettend. Es konnte also nur Absicht sein, dass sie den, ihr völlig fremden Arzt, nach dem Koffer schickte oder es ging ihr noch schlechter als er vermutete. Ganz leise, stoßweiße atmend flüsterte sie, jetzt eine Anweisung, die er sofort verstand.

"Doko… drö… lözi - Doktor, helfe, ausgekugelt."

Jacob übersetzte es für Sören. Alleine, würde sie den Arm nicht einrenken können, dazu fehlte ihr einfach die Kraft. Gleichzeitig griff er von hinten, sehr kräftig an den Arm der Wachtmeisterin. Als diese vor Schreck ausatmet, drehte Kahlyn den Arm, mit einem kräftigen Dreher, wieder in das Gelenk. Ines schrie ein zweites Mal kurz auf. Aber, das war wohl mehr der Schreck, als wirklicher Schmerz.

Kahlyn hatte ihm schon oft Knochen eingerenkt. Wenn man wie er eng mit Mayer zusammen arbeitete, kam das schon schnell mal vor. Geschrien, hatte er meistens mehr aus Schreck, weil es richtig knackte, wen das Gelenkt zurück sprang. Erschrocken kam Karpo wieder ins Zimmer gerannt, in der Hand den Koffer von Kahlyn. Diese zeigte stoßweiße atmend, erst auf den Koffer, dann auf das Bett. Durch die schnelle heftige Bewegung, kam eine neue Schmerzwelle über sie. Verwirrt stellte Karpo den Koffer hin. Kahlyn öffnete ihn sofort und holte den kleineren, mit den Ampullen heraus, stellte ihn auf den Deckel. Ohne Schablone zog zwei verschiedene Spritzen auf, F28, den Heiler und B12 ein leichtes Schmerzmittel. Karpo sah verwundert, auf Jacob. Leise wandte er sich an diesen.

"Sie zieht die Medikamente ohne Schablonen auf. Weiß sie denn, was sie tut?"

Jacob lächelte. "Natürlich. Sie brauchen keine Angst haben, um ihren Wachtmeister. Egal, welches Medikament. Kahlyn, kann alle Medikamente im Schlaf aufziehen. Sie war es, die dieses System entwickelt hat. Sie hat das schon tausende Mal gemacht. Selbst ich, kann das ohne Schablone. Die habe ich nur genommen, um ihnen zu erklären, wie sie die Spritze aufziehen müssen, falls Kahlyn das einmal nicht mehr alleine kann", verständnisvoll lächelte er Karpo zu. Dann sah Kahlyn, Jacob fragend an.

"Doko… nikyta… bi re we? - Darf ich mir geben, B32, Doktor?"

Übersetzt Jacob gleich, für die Anderen und nickte Kahlyn aufmunternd zu. Jacob ahnte, was sie für Schmerzen hatte.

"Ich habe dir kein Schmerzmittel gespritzt. Gebe dir ruhig fünf Einheiten, damit du zur Ruhe kommst", antwortete er ihr.

Deshalb zog sie noch eine dritte Spritze auf, injizierte sich dies sofort, auf ihre gewohnte Weise, in die Halsschlagader. Ines die nun auf dem Stuhl vor ihr saß, sah ängstlich auf die Spritzen, sie hasste Spritzen wie die Pest.

"Bitte nicht", bat sie ängstlich.

Kahlyn sah sie an, mühsam atmend. "Komm… Schnell."

Sören schüttelte den Kopf.

Jacob lächelt breit, er kannte die Angst mancher Patienten vor Spritzen. "Haben sie sich nicht so. Wenn Kahlyn das macht, geht das schnell und tut nicht weh. Schauen sie einfach zu mir."

Damit schob Jacob, die auf den Stuhl sitzende Ines, einfach vor Kahlyn und drehte ihren Kopf zu seinem Bauch. Bevor die Wachtmeisterin sich richtig besinnen konnte, hatte sie schon die erste Spritze bekommen. Die Kanüle steckte noch in der Ader und genauso schnell bekam sie die zweite Spritze.

"Fertig… schlimm?"

Kahlyn sah zu Sören, mit leicht schräg gestelltem Kopf an. Wenn sie nicht so ein unbewegtes Gesicht gehabt hätte, könnte man denken sie würde grinsen.

Sören war so verdutzt, dass sie gar nicht antworten konnte.

"Tut… leid", erklärte Kahlyn noch und blickte Sören durch ihre Binde an.

Dr. Jacob dagegen, ging vor Sören in die Hocke. "Darf ich?", erkundigte er sich. Vorsichtig bewegte er den Arm der Wachtmeisterin. "Na, der ist doch wieder wie neu. Versuchen sie es selber."

Sören bewegte ihren Arm. Staunend bemerkte sie, dass dieser gar nicht mehr weh tat. Lächelnd sah sie zu der jungen Frau, die sie so erschreckt hatte.

"Danke. Du hast mich ganz schön erschreckt", erklärte sie an Kahlyn gewandt.

"Tut….mir leid… wollte… ich nicht."

"Schon gut, vergessen wir´s."

Langsam rutschte Kahlyn, wieder ganz auf das Bett.

"Willst du noch schlafen, Kahlyn?", fragt Jacob, seinen ehemaligen Schützling.

Kahlyn nickte wortlos.

"Das ist vernünftig. Komm ich helfe dir beim Hinlegen."

Kahlyn hatte sich schon hingelegt. Dann sah sie die Spritzen, wollte sich wieder aufsetzen.

"Lass, bleibe liegen, ich räume ihn auf und fülle ihn dir gleich nochmal", erklärte ihr Jacob.

"Mön… Doko", flüstert sie leise.

Automatisch übersetzte Jacob. "Danke… Doktor."

Kurz darauf, wurde ihr Atem gleichmäßiger und tiefer. Zusammengerollt lag Kahlyn auf dem Bett. Jacob musterte sein kleines Mädchen, genau wie Karpo und Sören. Dann ging er langsam auf das Bett zu und streichelte über Kahlyns Wange. Kahlyn reagierte nicht mehr auf Berührungen. Sie war schon wieder vollkommen weggetreten. Das Einrenken des Armes, das Spritzen hatte sie viel zu viel Kraft gekostet, geschwächt wie sie war. Dr. Jacob fühlte die Stirn, den Puls, maß den Blutdruck und vorsichtig auch die Temperatur. Ständig sprach er leise mit dem Mädchen.

"Das gefällt mir doch, Kleines 41,5 °C, 75/45 Blutdruck und Puls. So ist es brav mein Kind, nun schlaf noch ein wenig, dann bist du morgen wieder fit", erklärte er ihr als er fertig war, laut. Zufrieden räumte Jacob den Medi-Koffer auf und drehte sich zu Karpo und Sören um.

"Lassen wir sie schlafen. Schlaf, ist bei diesen Kindern, immer noch die beste Medizin", lächelnd verließ er den Raum.

Karpo folgte ihm, Sören jedoch blieb im Zimmer.

"Junge Frau, sie brauchen nicht mehr bei Kahlyn zu bleiben, sie ist über den Berg. Kommen sie ruhig mit."

Sören sah auf Karpo, sie hatte ja einen eindeutigen Befehl, von ihren Vorgesetzen bekommen. Bei Kahlyn zu bleiben, bis sie abgelöst würde. Karpo zuckte mit den Schultern.

"Ines, wenn Dr. Jacob das sagt, wird das schon stimmen. Ich denke, du kannst ruhig vorgehen in die Wachstube oder Feierabend machen."

Sören schüttelte den Kopf. "Rudi befahl mir, bei Kahlyn zu bleiben, bis ich abgelöst werde, Jens."

Jacob sah breit grinsend, zu der jungen Frau.

"Da ich vom Rang her über ihnen stehe, meine liebe Wachtmeisterin. Ich bin Oberst, hebe ich diesen Befehl hiermit auf und löse sie hiermit ab, Wachtmeisterin Sören", meinte er spitzbübisch lächelnd.

Diese überlegte einen Moment. Dann nickte sie kurz. "In Ordnung", erleichtert ging sie mit, in Richtung Bereitschaftsraum.

"Doktor Jacob, darf ich sie etwas fragen?"

"Ja", antwortete Jacob, lächelnd zu der Wachtmeisterin blickend.

"Warum hat mich Kahlyn angegriffen? Ich hab ihr doch nichts Böses gewollt", traurig sah Ines den Arzt an.

Jacob zuckte mit den Schultern. "Das können sie Kahlyn, nur selber fragen. Es gibt Reaktionen dieser Kinder, die selbst ich nicht erklären kann. Fragen sie mein Mädchen einfach bei Gelegenheit, warum sie es getan hat? Ich vermute, dass sie einen Alptraum hatte und gar nicht wusste, wo sie sich befand."

Sören nickte. "Den Eindruck hatte ich auch, dass sie noch gar nicht richtig da war und sie nicht wusste, was sie da tat. Sie war, glaube ich, noch gar nicht richtig bei Bewusstsein. Wissen sie mir tut das Mädchen leid. Dieser Mayer ist ein elendes Schwein. Entschuldigung, wenn ich das so sage, normalerweise spreche ich nicht so, von Vorgesetzten. Aber, wie der in die Wache kam, ich dachte der ist aus einer Irrenanstalt ausgebrochen. Echt mal Herr Doktor, der hat sie nicht mehr alle. Der gehört in eine Zwangsjacke." bei der Erinnerung an Mayer schüttelte Ines wütend den Kopf. "Na ja egal, ich hoffe den inständig, dass ich ihn nie wiedersehe. Wenn der mich nochmal so behandelt, kann ich für nichts garantieren", tief holte Ines Luft, um sich zu beruhigen. "Jens, wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, würde ich gern Feierabend machen. Ich bin schon seit heute früh um 5 Uhr da und muss morgen wieder zum Frühdienst. Wenn Kahlyn munter wird, sagen sie ihr bitte, einen lieben Gruß und Danke von mir."

Jacob nickte der Wachtmeisterin lächelnd zu. "Das mache ich, allerdings werden sie das höchstwahrscheinlich selber machen müssen. Ich glaube nicht, dass mein Mädchen munter wird, solange ich noch da bin. Ich muss dann wieder los und nochmal meine anderen Kinder abfahren", lächelnd sah Jacob Ines an.

Sein Gesicht wurde mit einem Male sehr ernst und er sah jetzt auch Karpo an.

"Einen dringenden Ratschlag möchte ich ihnen noch geben, bitte legen sie sich nicht mit Mayer an. Das was sie hier auf der Wache erlebt haben, ist nicht sein ganzes Repertoire, der hat noch viel schlimmer Sachen drauf. Bitte Wachtmeister Sören und auch du Jens, sagt das allen hier auf der Wache, sie sollen sich von Mayer fernhalten und ihm zu Diensten sein. Ihr müsst diesen Menschen nicht lange aushalten. Schluckt eure Wut einfach herunter. Weder Kahlyn, noch ich möchten, dass sie nähere Bekanntschaft mit Mayer machen und ernsthaft verletzt", ernst sah er die beiden an, die seine Worte überhaupt nicht verstehen konnten und die ihn jetzt entsetzt anstarrten."Glauben sie mir einfach. Sie haben keine Ahnung, was dieser Mensch ihnen alles antun kann. Kahlyn, die Kinder, alle Mitarbeiter im Projekt und ich, wissen das sehr wohl, zu was Mayer fähig ist. Versprechen sie mir einfach, sich nicht einzumischen. Vor allem deshalb, weil Kahlyn diejenige sein wird, die es zum Schluss wieder ausbaden muss, bitte. Sie haben gesehen, was Mayer mit ihren Major gemacht hat. Lassen sie es nicht hier in der Wache zu einer Tragödie kommen. An der sich Kahlyn im Endeffekt, dann nur die Schuld geben würde. Das hat sich mein Mädchen nämlich nicht verdient. Sie sucht nie die Schuld bei Mayer, sondern denkt dann, sie hätte euch nicht gut genug beschützt", das Gesicht des Arztes sprach Bände.

Als Karpo und Ines etwas sagen wollten, schüttelte Jacob nur traurig den Kopf und die beiden hielten lieber ihren Mund. Erleichtert darüber jetzt nicht noch eine ellenlange Diskussion über Mayer führen zu müssen, atmete der Arzt auf. Jacob schloss die Augen und stützte sich einem Moment lang mit den Händen an die Wand, um sich beruhigen zu können. Sören wie auch Karpo sahen fassungslos zu dem Arzt, der sichtbar Mühe hatte sich zu beruhigen. Man sah die Halsschlagader bei Jacob pulsieren und die Hände des Arztes zitterten noch, obwohl er sich mit ihnen an der Wand abstützte. Karpo sah dass Jacob kaum atmen konnte und wollte ihm Hilfe anbieten, das unterband Jacob mit einer kurzen Ansage.

"Gebt mir einen Moment mich zu beruhigen", bat der Arzt leise, dessen Nerven flatterten.

Jacob wurde sich in diesem Moment bewusst, dass er und die Mitarbeiter im Projekt, die Festnahme und das in eine Zelle stecken von Mayer ausbaden durften. Das war es, was den Arzt gerade aus der Bahn geworfen hatte. So schlimm es war, die Realität war die, das keine Kinder mehr da, an dem sich der Projektleiter abreagieren konnte. Schlimm dass ihm dieser Gedanke kam, aber es war so. Der Chefarzt und die verbliebenen Mitarbeiter mussten noch bis Mitte Oktober im "Projekt Dalinow" ausharren und es war keine Kahlyn mehr da, die bleibende Schäden reparieren und sie wieder gesund machen konnte. Allen war schon seit der Verabschiedungsfeier schlecht vor Angst und bemühten sich Mayer alles recht zu machen. Vor allem aber, seine ungeheure Aggressivität nicht unnötig anzuheizen. Es waren noch sechs verdammt lange Wochen, in denen sie Mayer schutzlos ausgeliefert waren.

Selbst seine Frau Anna hatte gestern schon wieder Prügel bezogen, nur weil Sender, sich über einen Polizeirat Runge, über die fehlende Nahrung beschwert hatte. Als ob Anna da etwas dagegen hätte machen können. Das war der eigentliche Grund, warum die sonst immer freundliche Anna, Karpo am Telefon so angemotzt hatte. Die schlechte Stimmung seiner Frau, hatte nichts mit dem Anruf des Truppenarztes zu tun, sondern damit, dass Anna sich kaum bewegen und kaum atmen konnte.

Martin hatte sie kurz zuvor erst medizinisch notversorgt. Seine Frau stand noch völlig unter Schock, als sie den Anruf aus Gera bekam. Mayer ließ seine Frau fast immer in Ruhe, da er schon einige Male sehr böse Ärger mit ihm und Kahlyn deshalb bekommen hatte, weil er sich an Anna vergriffen hatte. Gestern so kam es Jacob vor, war seine Frau zum falschen Zeitpunkt Mayer in die Arme gelaufen und hatte sich dadurch drei gebrochenen Rippen und vier angebrochene Rippen eingefangen. Martin hatte sie gerade verbunden, als der Anruf eintraf.

Mühsam nur drückte der Arzt seine Wut nach unten und vor allem versuchte er die Angst um seine Frau zu verdrängen. Über diese Dinge konnte er hier nicht sprechen. Er wusste nicht ob er es schaffen würde, vor Mayer wieder im "Projekt Dalinow" zu sein. Würde er hier über diese Dinge reden, wären die Mitarbeiter im Projekt völlig schutzlos und alleine, den Machenschaften Mayers ausgesetzt. Es war niemand da, der sie zusammenflicken konnte, denn er war für die verbliebenen hundertzehn Mitarbeiter, der einzige Arzt. Auch wenn es einige Sanitäter gab, die medizinisch auf einem sehr hohen Niveau ausgebildet war, dafür hatte Kahlyn gesorgt, konnten sie ohne seine Hilfe nicht alles richten. Vor allem konnte niemand die schwerwiegenden Verletzungen, die Schäden auf Kahlyns Art beseitigen. Das wurde am Tag der Abschiedsfeier allen erst richtig klar.

Bevor das Team 98 zum letzten Einsatz nach Chelm flog, hatte Kahlyn deshalb ihre Freunde im Projekt, zu einer kleinen Besprechung in den Raum der Kinder gerufen und darum gebeten, dass sich wirklich alle zurückhalten und Mayer nicht in Rage brachten. Kahlyn machte allen bewusst, dass sie nicht mehr da war und niemand mehr helfen konnte. Die Narben des Auspeitschens, oder Entstellungen im Gesicht könnte, dann niemand mehr beseitigen. Alle versprachen seinem Mädchen in die Hand, dass sie brav sein würden. Gebrochenen Rippen würden wieder heilen und die sah man nicht, der Rest aber würde bleiben, machte sie ihnen immer wieder klar. Jacob verstand die Sorgen seines kleinen Mädchens nur zu gut. Denn niemand im Projekt wäre heute mehr ohne Narben am Körper, hätten sie Kahlyn nicht gehabt. Er selber wäre schon seit Jahren tot oder aber zu mindestens von Hals an querschnittsgelähmt. Das allerdings konnte er den Kollegen in der Geraer Wache nicht erzählen.

Nach fünf langen Minuten, in denen Ines und Jens immer wieder verständnislose Blicke tauschten, stieß sich Jacob endlich von der Wand ab und wandte sich nochmals an die beiden neuen Kollegen von Kahlyn. Tief durchatmend bat er um Verständnis.

"Entschuldigen sie, ich musste mich erst einmal beruhigen. Mayer ist für mich ungefähr das Gleiche wie für einen Stier das rote Tuch. Es hat sich einfach zu viel angestaut. Sören ich wünsche ihnen einen schönen Feierabend und passen sie gut auf sich auf", verabschiedete er Sören und wandte sich an Karpo. "Jens, ich gehe noch mal schnell ans Auto, den Koffer von meinem Mädchen auffüllen. Ach da fällt mir ein, wie machen wir das mit den Koffern? Die müssen nach jedem Einsatz aufgefüllt werden, könnten sie das übernehmen? Haben sie da Möglichkeiten dazu?"

Karpo nickte, in der Wachstube angekommen, meldete er sich ab. "Klar, das mach ich, Fritz. Kannst du mir zum Auffüllen der Koffer Material dalassen oder muss ich das bestellen?"

"Das musst du dir bestellen, so viel Material habe ich nicht mit. Ich füll Kahlyns Koffer aus meinem Koffer auf. Einige Sachen muss ich dir sowieso zuschicken. ´tschuldigung, soweit habe ich gestern früh nicht gedacht, als ich losgefahren bin."

Während des Gespräches durchquerten die Drei den Bereitschaftsraum und die Flure der Wache 61 und betraten die Wachstube.

Karpo meldete sich und Jacob ab und bat um Hilfe für Kahlyn. "Ich gehe mit Dr. Jacob, hoch in meine Praxis. Jungs, tut mir einen Gefallen, schaut ab und an mal nach Kahlyn. Fasst sie aber nicht an. Holt mich und Doktor Jacob, wenn sie unruhig werden sollte. Warum ihr sie nicht anfassen sollt, erklärt euch Ines bestimmt gern. Bis später."

Karpo schob er Jacob in Richtung des Ausgangs. Beide Ärzte verschwanden für eine Weile aus der Wache und gingen nach oben in Karpos Praxis. Ines dagegen blieb noch auf einen Kaffee und erzählte ihren Kollegen, was vorhin passiert war. Aber sie sagt den Beiden auch, dass Kahlyn wohl noch halb bewusstlos gewesen war, scheinbar instinktiv gehandelt hatte. Vielleicht, so schilderte sie ihren Gedankengang. Dachte sie, ich wäre dieser Mayer, wollte sich nur wehren. Es war jetzt fast 21 Uhr.

Müde streckte sich Ines. "Jung, ich gehe mal schlafen. Ich leg mich hinten in eines der Betten. Nach Hause zu fahren lohnt sich für mich nicht mehr. Sagt ihr bitte der Nachtschicht Bescheid, sie sollen mich unbedingt um 4 Uhr 30 wecken? Ich muss vor Dienstbeginn noch Brötchen holen."

Die beiden Kollegen nickten und machen einen Vermerk im Schichtbuch. Damit die Nachtschicht es nachlesen konnte. Ines verschwand Richtung Schlafsaal, sah aber erst noch einmal bei Kahlyn rein. Das Mädchen schlief fest und auch die Atmung war anders als vorhin, viel gleichmäßiger und tiefer, hörte sie sich jetzt an. Zufrieden lief Ines weiter und legte sich in eines der freien Betten. So wie sie war, viel zu fertig von der heutigen Schickt. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Aufregend war dieser Tag gewesen, ging ihr es nur noch durch den Kopf. Im gleichen Augenblick forderte ihr Körper das, was er brauchte, nämlich Schlaf.

Kurz nach 22 Uhr kamen Karpo und Jacob zurück. Jacob sah noch einmal nach Kahlyn und war zufrieden, als er sah, dass sie tief und fest schlief. Zurück aus dem Krankenzimmer, wandte er sich noch einmal an seinen Kollegen.

"So Jens, du weißt jetzt fast alles, was ich weiß. Ich hoffe ich habe an alles wichtige gedacht. Die Unterlagen, werde ich dir wie versprochen zuschicken. Ich funke Anna gleich an, dass sie Kopien von meinen Unterlagen anfertigt. Meine Nummer hast du, rufe an, wann immer du Hilfe brauchst, egal um welche Uhrzeit. Ich bin es seit siebzehn Jahren gewohnt vierundzwanzig Stunden am Tag zur Verfügung zu stehen. Ich fahre jetzt los, ich muss noch fast zwei Stunden fahren. Also, alles Gute und grüße mir die Kleine von mir. Schade, dass ich sie nicht mehr wach gesehen habe. Ich hatte mich so auf mein kleines Mädchen gefreut. Aber der Schlaf ist viel wichtiger für Kahlyn", freundschaftlich klopfte er Jens auf die Schulter.

Karpo hielt seinem Kollegen die Hand hin. "Wenn du mal in Gera bist, dann kommst du aber vorbei", bat er seinen Kollegen.

"Klar, aber nur, wenn ich meine Anna mitbringen darf", dabei grinste er breit. Jacob drehte er sich um, sagte schon im losgehen. " Mach’s gut Jens."

"Mach’s gut, Fritz", gab Karpo zur Antwort.

 

Vor zehn Stunden hätte Karpo sich nicht träumen lassen, dass er sich von dem Arzt, in dieser freundschaftlichen Art verabschieden würde. Viele Dinge hatte ihn dieser ungewöhnliche Mann erzählte. Nicht alles hatte Karpo gefallen und über viele Dinge musste er erst einmal in Ruhe nachdenken, weil er der Denkweise Jacobs zum Teil gar nicht folgen konnte. Aber immer, merkte Jens sofort, dass er nur das Beste für seine Kinder wollte. Er hatte begriffen, dass Jacob nicht gegen das "Projekt Dalinow" und die Machenschaften der Leitung ankam. Es lag nicht an dem Willen des Chefarztes und er hatte keinerlei Macht die Unmenschlichkeit Mayers zu verhindern, denn er war entmündigt, genau wie seine Kinder.

Karpo lief noch einmal in Kahlyns Krankenzimmer und setzte sich auf den Stuhl, vor dem Bett. Aufmerksam beobachtete er seine Patientin. Gleichmäßig atmend, schlief sie einen tiefen Schlaf und erholte sich von ihren Verletzungen. Karpo war froh, dass das Mädchen sich jetzt erholte und alles noch einmal so gut ausgegangen war. Der Truppenarzt beschloss in Senders Büro zu gehen, um regelmäßig nach Kahlyn sehen zu können.

Jacob hatte ihn gebeten, bis zum Morgen stündlich nach Kahlyn zu sehen. Die Kinder neigten nach schweren Verletzungen und vor allem hohen Blutverlust, manchmal zur Desorientierung, wie eben bei Sören. Oft wussten sie in solchen Momenten nicht mehr wo sie waren. Kahlyn kannte sich hier in der Wache noch gar nicht aus und das war nicht gut, falls sie orientierungslos herumlief. Jacob hatte Karpo einige Verhaltensrichtlinien gegeben, falls das geschehen sollte, damit nicht noch jemand durch Kahlyn verletzt wurde.

Karpo sprach Kahlyn an. "Ich fühle nur deine Stirn, Kleines, krös, Nikyta", setzte er hinzu, was keine Angst mein Kind hieß. Diese zwei Worte hatte ihm Jacob, vorhin extra aufgeschrieben. Damit er, wenn Kahlyn nicht bei Bewusstsein war, diese beruhigen konnte. Die Stirn Kahlyn fühlte sich kühl an, auch der Puls ging normal. Zufrieden zog er sich zurück und ließ seine Patientin in Ruhe schlafen.

In Senders Büro angekommen, nahm er einen Zettel und schrieb in großen fetten Lettern darauf NICHT STÖREN, darunter Bin in Senders Büro, wenn etwas sein sollte. Den Zettel machte er mit Klebestreifen, an Kahlyns Tür fest. Dann legte er sich auf die Couch von Sender, nickte sofort ein.

Kurz vor 2 Uhr in der Früh kam, dass gesamte Team zurück. Alle waren fertig und gingen nur schnell unter die Dusche, um dann in die Betten zu fallen. Sender, der sich vor Müdigkeit, kaum noch auf den Beinen halten konnte, fiel nach dem Duschen, nur noch ins Bett. Er konnte vor Müdigkeit kaum noch denken und vor Schmerzen kaum noch atmen. Mit John hatte er schon im Einsatzwagen besprochen, dass sein bester Sanitäter nach Kahlyn sah, ihm vertraute er seine Kollegin gern an. Der Major wusste genau, dass John ihn oder Karpo holen würde, wenn es Kahlyn nicht gut gehen würde. Rudi musste unbedingt ein paar Stunden schlafen, denn in seinem jetzigen Zustand, nutzte er niemanden.

John, ging nach dem Duschen, sofort ins Krankenzimmer. Erstaunt las er den Zettel an der Tür. Leise öffnete er die Tür uns sah Kahlyn ruhig und fest schlafen. Daraufhin schloss er genauso leise die Tür wieder und ging in Senders Büro, in dem er Karpo schlafend vorfand. Vorsichtig weckte er den Arzt.

"Jens, soll ich bei der Kleinen Wache halten? Wieso ist Ines nicht mehr bei ihr?"

In einem verschlafenen Ton, sich kurzfassend erklärte Karpo, John alles.

John nickte zufrieden. "In Ordnung Jens, dann lege ich mich auch etwas hin. Ich bin total fertig. Bis dann also. Ach Kahlyn schläft, ich war gerade nach ihr sehen. Schlafe auch noch etwas."

Von einer großen Last befreit, verließ John Karpo und Senders Büro, ging in den Schlafsaal. Verwundert sah er, dass Ines komplett angezogen im Bett und die Decke neben dem Bett lag. John deckte seine Kollegin zu und legte sich auch hin. Beruhigt, dass es Kahlyn wieder besser ging, fiel nun auch John in einen tiefen Schlaf.

Kurz nach 5 Uhr 30 kam der Nachtdienst, weckte das Team auf. Ines war schon vor eine Stunde aufgestanden und unterwegs, um für alle Brötchen zu holen. Nach und nach standen alle auf, mehr oder weniger ausgeschlafen.

Einen Höllenkrach, machte die noch halbverschlafene Truppe und es nutzte auch nichts, dass sie zur Ruhe ermahnt wurden. Dazu waren die meisten Kollegen einfach zu müde. Gewohnheitsgemäß, liefen sie alle durcheinander und ein reges Treiben herrschte auf dem Gang vor Senders Büro. Ein Teil ging duschen, ein Teil war schon fertig. Eins hatten sie alle gemeinsam, sie sahen ziemlich fertig und unausgeschlafen aus, als sie am Frühstücktisch ankamen. Der Schlaf war nicht lang genug gewesen und hatte nicht die Erholung gebracht, die sich alle wünschten. Dort angekommen, trauten die Kollegen ihren Augen nicht. Kahlyn saß auf ihrem gewohnten Platz und trank Kaffee. Mit allem hatten die Männer gerechnet, nur nicht damit, das Mädchen an diesem Morgen hier zu erblicken. Erstaunt und froh, waren alle darüber.

"Guten Morgen, Kahlyn" begrüßten alle, ihre neue Kollegin.

Dies grüßte zurück. "Sir, guten Morgen, Sir."

Sender der als letztes und noch völlig verschlafen am Tisch erschien und zu seinem Platz gehen wollte, blieb vor Überraschung, erst einmal die Worte im Munde stecken. Einen Augenblick später hatte er sich gefangen und gab seinem Erstaunen Ausdruck.

"Kahlyn, ich glaube es nicht, du hier. Guten Morgen, Kleene. Wie geht es dir?"

Sofort wollte Kahlyn aufspringen, wurde von John daran gehindert, der so etwas schon geahnt hatte. Er hielt sie auf den Stuhl fest und beugte sich zu ihr rüber.

"Bleib sitzen Mäuschen. Bei uns steht keiner auf, wenn er das nicht unbedingt muss", flüstert er Kahlyn zu.

"Sir, guten Morgen, Sir", antwortete sie deshalb im Sitzen. Etwas das ganz ungewohntes für sie war. Sie fühlte sich dabei gar nicht wohl. "Sir, mir geht es wieder gut und Ihnen, Sir? Haben sie noch Schmerzen oder Probleme beim Atmen, Sir? Ich kann ihnen gleich, noch etwas spritzen, Sir", bat sie dem Major Hilfe an.

Sender konnte nicht glauben, was er da sah und hörte. Diese Kleine, überraschte ihn schon wieder. Eigentlich, so schoss es ihm durch den Kopf, müsste sie ihm Bett liegen und krank sein, nach allem, was gestern geschehen war.

"Kahlyn, es geht schon. Wenn du willst und es dich beruhigt, kannst du mich dann nochmal untersuchen. Jetzt aber, wird erst einmal gefrühstückt. Dann holen wir, egal was passiert, unseren Spaziergang von gestern nach. Versprochen?"

Sender sah grienend, über den ganzen Tisch zu Kahlyn. Die wusste gar nicht, was sie antworten sollte, deshalb schwieg sie lieber.

"Kahlyn, kommst du dann mit, rüber in den Park? Antworte mir doch", bat Sender, der wieder einmal aus dem Verhalten, seiner jungen Kollegin nicht schlau wurde, hungrig griff er nach einem Brötchen.

"Sir, ja Sir, ich begleite sie gern, Sir", kam die etwas verspätete Antwort.

In diesem Moment kam Fran mit einem Teller, der gefüllt war mit einem grauen unappetitlichen Brei und reichte ihn Kahlyn.

"Hier Kleines, lass es dir schmecken. Ich weiß ja nicht, wie dir das schmeckt, aber ich finde es schmeckt furchtbar."

Kahlyn sah Fran schockiert an. "Sir, haben sie etwa, etwas gegessen davon, Sir?", erkundigte sie erschrocken, auch weil sie ohne Erlaubnis gesprochen hatte.

Fran blickte seine neue Kollegin offen an. "Äh, nein nicht wirklich, ich habe mir nur den Finger abgeleckt. Aber das hat mir schon gereicht, das Zeug ist einfach widerlich."

Erleichtert atmete Kahlyn auf. "Sir, darf ich offen sprechen, Sir", bat sie Fran.

Der nickte, seit gestern wunderte sich niemand mehr, dass Kahlyn nie ohne Erlaubnis sprach.

"Sir, Sie dürfen meinen Brei nicht essen, Sir. Er enthält Inhaltsstoffe, hat mir Doko Jacob einmal erklärt, die sie krank machen würden, Sir. Es ist ein Nahrungsmittel, das man nur für unseren hohen Kalorien- und Mineralstoffverbrauch entwickelt und abgestimmt hat, für sie ist meine Nahrung hochgiftig, Sir."

Als sie die fragenden Blicke der anderen sah, schaute sie fragend zu Sender. Dieser sah seine Kollegin verständnisvoll an und gab ihr durch Nicken die Erlaubnis zu sprechen. Verstand er jetzt, wie alle anderen besser, warum sie sich immer erst eine Erlaubnis zum Sprechen holte.

"Sir, ein gesunder Mann, mit ihrer Statur und ihrer Tätigkeit, benötigt am Tag zwischen drei bis dreieinhalb tausend Kalorien, Sir. Wir, benötigen am Tag, bei voller Belastung, zwischen einhundertneunzig bis fünfhundertfünfzigtausend Kalorien, Sir. Wenn wir Ruhe haben fünfundvierzig bis fünfzigtausend, so viel könnten wir gar nicht essen, um diesen Kalorienverbrauch zu kompensieren, Sir. Das ist die Menge die man mit ca. fünfzig ml Wasser zubereitet, Sir. Auf dem Teller sind jetzt, wenn sie meiner Bitte entsprochen haben, ca. dreihundertfünfzigtausend Kalorien, Sir. Ich brauche diese hohe Menge, um den Blutverlust von gestern und den Nahrungsmangel auszugleichen, Sir. Da wir auf ihre Nahrungsmittel allergisch reagieren und wegen des hohen Kalorienverbrauches, wurde in der Schule, diese Nahrung entwickelt, Sir. Die auch viel höhere Anteile an Vitaminen, Spurenelementen und Mineralien enthält, Sir. Zusätzlich enthält diese Nahrung, noch einige andere Stoffe, die für sie hoch giftig und völlig unverträglich sind. Unter anderem, eine Arsenverbindungen, die wir zur Reproduktion unseres Blutes benötigen und Chloracetophenon, einen Stoff, den sie vielleicht aus ihrer Ausbildung kennen, Sir. Er wird zur Herstellung von Tränengas benötigt, Sir. Wir benötigen diesen Stoff, um das Austrocknen unsere sehr empfindlichen Augen zu verhindern, Sir. Für uns sind die Bestandteile völlig unschädlich, weil unser Körper die abbauen kann. Für sie sind diese Bestandteile allerding schon in wesentlich geringeren Mengen sehr schädlich und zum Teil tödlich, Sir. Also bitte Finger weg von dem Pulver und von meinem Brei, Sir", beendete Kahlyn ihren sehr langen Vortrag und begann ihren Brei zu genießen. Einige am Tisch schüttelten sich.

"Wie kann man sowas esse, das sieht aus…" begann Thomas, der von alle Tom genannt wurde und einer der Scharfschützen der Truppe war.

Kahlyn zuckte mit den Schultern. Was sollte sie dazu sagen? Sie kannte nichts anderes, als diesen Brei, schoss es ihr durch den Kopf. Sie dagegen könnte das, was hier auf den Tisch stand nicht essen. Es roch komisch und sah komisch aus. Sender, der wie auch John vermutete, was Kahlyn gerade durch den Kopf ging, meinte lachend.

"Na ja Tom, das gleiche denkt Kahlyn, wahrscheinlich auch gerade. Sei froh bei dreihundertfünfzigtausend Kalorien, hättest du heute keine noch so kleine Chance, auch nur ein einziges Brötchen abzubekommen", lachend sah er Kahlyn an. "Stimmt’s Kleene?"

Kahlyn zuckte erst mit den Schultern und nickte dann. Antwortet, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie viele Kalorien ein Brötchen hatte. "Sir, sie haben recht, Sir."

Im Anschluss widmete sie sich wieder ihrem Essen, was sie sichtbar genoss. Am liebsten würde sie fünf Teller davon verdrücken, nur wusste sie, dass sie das nicht durfte. Also genoss sie jeden einzelnen Löffel Brei. Langsam machte sich ein gutes Gefühl in ihren Bauch breit. Wie schön es war, endlich wieder einmal etwas zum Essen zu bekommen. Wie oft würde sie wohl noch hungern müssen, ging es ihr im gleichen Augenblick durch den Kopf.

"Na, dann lass dir das mal schmecken. Vielleicht lernst du ja im Laufe der Zeit, das eine oder andere von uns zu essen. Auf alles wirst du doch nicht allergisch sein oder?", wandte sich Fran, der sich gerade gesetzt hatte, an Kahlyn.

"Sir, Ich kann ja mal einiges probieren, aber nicht heute. Sir."

"Das ist die richtige Einstellung. Dann lasst es Euch schmecken", sagte er an alle gewandt, nahm sich nun endlich auch ein Brötchen, das er dick mit Käse belegte und herzhaft hineinbiss. Immer noch, hatte er diesen furchtbaren Geschmack im Mund. ‚Ich werde schon etwas finden, was dir schmeckt mein Täubchen,‘ sagte er sich selber. ‚Irgendetwas, was dein Lieblingsgericht wird, werde ich finden‘. Bis jetzt hatte er das, bei allen heraus gefunden. Er ließ es sich schmecken, freute sich darüber, wie genüsslich Kahlyn ihren Brei löffelte und war froh darüber, dass sie endlich etwas zu essen hatte. Nebenher, beobachtete er alle anderen, sobald jemand seine Tasse leer getrunken hatte, stand er auf und goss nach. Er war eigentlich ständig in Bewegung, kein Wunder also, dass er trotz der Kocherei nicht dicker wurde. Nachdem das Frühstück kurz vor 7 Uhr beendet war, stand Sender auf. Er überzeugte sich das Kahlyn aufgegessen hatte.

"Komm Kahlyn, lass uns gehen", forderte er seine junge Kollegin auf.

Kahlyn stand sofort auf. Allerdings war das wohl etwas zu schnell, sie schwankte und hielt sich reflexartig am Tisch fest und musste sich sofort wieder setzten. So gut wie es den Anschein hatte und alle dachten, ging es ihr wohl doch noch nicht.

"Was ist Kahlyn?", erkundigte sich John erschrocken und hielt sie an den Schultern fest, da sie bedenklich ins Schwanken geriet.

"Sir, nichts, Sir. Ich bin nur zu schnell aufgestanden, tut mir leid, Sir", entschuldigte sie sich sofort und schüttelte den Kopf, wie ein Hund der sich trocken schütteln wollte.

Ein zweites Mal, nun allerdings etwas langsamer, stand sie auf und wollte Sender folgen. Der war sich jetzt gar nicht mehr so sicher, dass er mit seiner Kollegin einen Spaziergang machen wollte. Kahlyn war schneeweiß im Gesicht und stand immer noch etwas unsicher auf ihren Beinen.

"Kahlyn, du musst nicht mitkommen, wenn es nicht geht. Lege dich lieber noch mal hin. Oder willst du mit?", fragte er sie.

Kahlyn schüttelte den Kopf, langsam kehrte das Blut wieder zurück, sie bekam wieder eine normale Farbe.

"Sir, es ist nichts, ich war einfach nur zu schnell, Sir. Das schafft mein Kreislauf noch nicht, Sir. Ich würde gern mit gehen, wenn ich darf, Sir."

"Na dann komm. Aber langsam, wenn ich bitte darf", lächelnd sah Sender sie an, 'Unverbesserlich die Kleine', schoss es ihn durch den Kopf.

"Ihr wisst, wo ich bin, wenn etwas ist. Ihr bereitet euch zwischenzeitlich, auf das Training vor. Punkt 8 Uhr laufen wir, in Richtung Halle", ordnete Rudi an, obwohl ihm beim Gedanken ans Laufen, schon ganz bange wurde.

 

Mit diesen Worten ging der Major Richtung Tür. Ich folgte ihm auf den Fersen. Am Kiosk angekommen, erhielten wir ohne Bestellung zwei Becher Kaffee, einer schwarz und einer weiß, eine Schachtel Zigaretten und eine Zeitung. Dann ging es zu Senders Lieblingsplatz auf der Wiese. Gemeinsam ließen wir uns nieder.

"Sag mal Kahlyn, da wir jetzt unter uns sind. Wie geht es dir wirklich? Ehrlich und wahrheitsgetreu. Bitte, erzähle mir nicht, dass es dir gut geht. Das sah jetzt gerade nicht so aus", der Major sah mich ernst an.

"Sir, mir geht es gut, ich bin einfach zu schnell aufgestanden, wirklich, Sir", antworte ich sofort.

"Kahlyn, du kannst mir doch nicht erzählen, dass du dich in nicht mal ganz vierundzwanzig Stunden, komplett von deinen Verletzungen erholt hast. So schwer wie die waren, kann ich mir das ehrlich gesagt, nicht vorstellen. Mir tut immer noch alles weh, selbst das Atmen fällt mir schwer. Kleines, es nutzt mir nichts, wenn du hier die Starke mimst und bei der kleinsten Belastung aus den Latschen kippst."

Wieder einmal verstand ich überhaupt nicht, was Sender von mir wollte. Aber ich nahm mir fest vor, ihn dann sofort nochmal einmal genau zu untersuchen. Noch nie, hatte sich einer meiner Vorgesetzten, um mich Sorgen gemacht. Na gut, mein Oberst schon, aber der ist nicht mein Vorgesetzter, jedenfalls nicht mein direkter. Schoss es mir durch den Kopf. In der Soko war sowieso immer alles anders, an der konnte ich mich nicht orientieren. Schweigend sah ich Sender an. Auch wusste ich nicht, ob ich antworten sollte, es war ja keine Frage, deshalb schwieg ich. Sender musste wohl ahnen, was in mir vorging, deshalb schob er das Thema erst einmal bei Seite.

"Kahlyn, pass mal auf, ich versuche dir jetzt einmal etwas zu erklären", ernst und etwas bange sah er mich an. "Ich kann mir, nach dem, was wir gestern mit dem Mayer erlebt haben, einigermaßen vorstellen, wie es in deiner Schule abgelaufen ist. Aber Kleene, du bist nicht mehr in der Schule. Hier bei uns, darfst du reden, wenn du willst. Darfst Fragen stellen, wann immer du das für richtig hältst. Du darfst mich anschreien und einen blöden Hund nennen, wenn ich einen Fehler mache. Vor allem immer reden, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Tu es einfach."

Verwirrt sah ich ihn an, diesmal nahm er mir nicht die Brille ab, wofür ich ihm dankbar war. Meine Augen taten immer noch weh und ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen. Es tat gut, die Brille aufbehalten zu dürfen.

"Kahlyn, hast du das verstanden. Rede doch mit mir, Mädel."

Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte. "Sir, alles ist hier anders, als in der Schule, Sir. Ich weiß nicht mehr, was richtig und was falsch ist, Sir", erklärte ich mit einem, mir ungewohnten Zittern in der Stimme.

Folgte einfach meinem Gefühl. Wieder erwarte ich, eine ganz andere Reaktion. Allerdings sagte Sender gar nichts, sondern zündete sich eine Zigarette an. Das irritierte mich noch mehr. Ich beschloss also zu erklären, was ich meine.

"Sir, sie können das nicht verstehen, Sir. Ich bin aufgewachsen in dieser Schule und solange ich denken kann, mussten wir den Befehl abwarten, dass wir sprechen durften, Sir. Genauso, durften wir nie sitzen, wenn ein Vorgesetzter im Raum oder auch nur in der Nähe war, auch durften wir nie die Brillen absetzen, wenn diese da waren, Sir. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mich richtig und wie ich mich falsch verhalte, Sir. Gestern war mir ständig schlecht, weil ich alles falsch gemacht habe, Sir. Jedes Mal, wenn sie mich rügten, erwartete ich eine Strafe, aber sie kam nicht, Sir. Alles ist so verkehrt jetzt. Wirklich alles, Sir."

Ich machte eine kleine Pause oder besser gesagt ich musste sie machen. Denn in meinem Inneren, begann dieses verfluchte Schwappelmonster wieder zu kämpfen. Mir war schlecht. Verlegen starrte ich auf den Kaffee, in meinen jetzt zitternden Händen und setzte dann noch nach ganz leise nach.

"Sir, um auf ihre Frage zurück zu kommen. Wie es mir geht? Die kann ich ihnen genau beantworten, Sir. Mir geht es noch nicht richtig gut, aber es ist nicht schlimm, Sir. Mein Kreislauf braucht noch zwölf bis fünfzehn Stunden, ehe er wieder richtig stabil ist, Sir. Ich hab gestern eine Menge Blut verloren und das muss mein Körper erst einmal wieder ersetzen, Sir. Dann bin ich wieder voll einsatzfähig, Sir. Aber auch, wenn jetzt, ein Alarm kommen würde, könnten sie mich ohne Bedenken mitnehmen, es geht mir wirklich gut, Sir. Das einzige Problem, was ich im Moment habe, ist, dass ich nicht weiß, wie ich mich Verhalten soll, Sir. So ein Gespräch wie jetzt, habe ich noch nie geführt, Sir. Mir ist schlecht, Sir. Darf i..."

Gab ich Sender sehr offen Auskunft. Musste allerdings mitten im Satz aufhören zu sprechen, weil die Gewalt des in meinem Magen umgehenden Monsters, mit jedem Wort stärker wurde und ich den Brechreiz nicht mehr unterdrücken konnte. Ich sprang auf, lief ohne Erlaubnis, einfach zu dem nächsten Busch, um mich zu übergeben. Es dauerte eine ganze Weile, ehe ich alles, aus meinem Magen herausgebrochen hatte. Jetzt würde ich wieder hungern müssen, in der Schule bekamen wir, wenn überhaupt, nur zwei Mal am Tag, etwas zu Essen. Einmal in der Früh und einmal spät in der Nacht. Nachdem ich wieder normal denken konnte, wollte ich mir mit einem Blatt den Mund abwischen. Sender war mir nachgelaufen und hielt mir sein Taschentuch hin. Wieder passiert etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Sender drehte mich zu sich um und hob mein Kinn hoch, so dass ich ihn in die Augen sehen musste, auch, wenn er meine Augen, durch die Brille nicht sehen konnte.

"Kleene ist es wirklich so schlimm?", fragte er mich erschrocken und sah er mich musternd an.

"Sir, nein, eigentlich nicht, Sir. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, so etwas ist mir noch nie passiert, Sir."

"Komm." Sender schob mich wieder, in Richtung Wiese. "Setzt dich", gab er mir Anweisung. "Ich möchte dir so gern helfen, Kahlyn. Aber ich weiß nicht wie. Am liebsten, würde ich der Saubande da drinnen befehlen. So zu agieren, wie du es gewohnt bist", jetzt lachte Rudi schallend auf. "Aber", erklärte er mir, immer noch gegen das Lachen ankämpfend. "Das wäre wohl ein Versuch, der von vornherein, zum Scheitern verurteilt wäre. Die Bande, ist es nicht gewohnt, so zu handeln wie du. Also müssen wir eine andere Lösung finden."

Wieder sah er mich mit einem Blick an, den ich nur von Schwester Anna und Dr. Jacob kannte. Sie haben mir mal erklärt, dass man so guckt, wenn man traurig war. Aber warum war er traurig? Ich verstand es nicht. Dann huschte ein Lächeln, über sein Gesicht.

"Sag mal, was hast du vorgestern Nachmittag gedacht, als Ines mich so angeschrien hat? Kannst du mir das vielleicht erklären?"

Verwundert dachte ich, warum wollte er das wissen? "Sir, ich konnte nicht begreifen, was diese Frau sich erlaubte, Sir. Sie ist Wachtmeister, duzt sie einfach, schlägt sie sogar und schreit sie an, Sir. Das ist ungeheuerlich, Sir. Dafür wären wir für Wochen, in die Lichtbox gekommen, Sir. Niemals hätte ich mir so etwas gewagt, Sir. Na ja fast nie, nur wenn es um wichtige Dinge ging, Sir. Aber doch nicht wegen des bisschen Wartens, Sir."

Sender nickte. "Siehst du genau das ist der Unterschied", versuchte er mir zu erklären. "In eurer Schule, wurde nur mit der Angst vor Bestrafung gearbeitet. Keiner von euch, durfte je seine Meinung sagen. Bei uns, darf jeder seine Meinung sagen. Ja, ich gebe dir in einer Sache Recht. Ines ist schon so manches Mal, sehr extrem. Aber sie ist eine ganz liebe und hilfsbereite Kollegin, die immer da ist, wenn man sie braucht. Ich achte ihre Meinung, auch wenn sie öfter einmal, ein bisschen über die Stränge schlägt. Aber vorgestern hatte sie ja Recht. Ich hatte Besuche und hab ihn einfach vergessen. So etwas darf nicht passieren. Deshalb hat sie mir das, auch sehr deutlich gesagt." Sender sah mich an, als ob er wissen wollte, ob ich ihn wirklich verstand. Da ich nichts sagte fuhr er fort. "Weißt du, wenn ihr in der Schule, diesen Mayer und den anderen Lehrern mal gesagt hättet, Leute so geht das nicht, vielleicht wäre das Leben, viel angenehmer für euch geworden."

Ich schüttelte unbewusst den Kopf. Etwas, was mir in der Schule, viele Bestrafungen eingebracht hatte.

"Du bist nicht meiner Meinung Kahlyn?"

Erschrocken atmete ich aus. "Nein Sir. Ich…" stammelte ich.

"Sag mir bitte, was du gerade gedacht hast. Es ist wichtig Kleene. Du wirst bei mir nicht bestraft."

Versicherte mir Sender, nach der Aufforderung zu sprechen. Ich holte tief Luft und wusste nicht, wie ich mich erklären sollte, deshalb entschloss ich mich einfach zu sagen, was mir in den Kopf kam. Es war eh egal, was ich auch machte, es war sowieso alles verkehrt.

"Sir, es ist nicht so, dass wir nicht widersprochen hätten, Sir, nur die Strafen dafür waren oft sehr schmerzhaft, manchmal sogar tödlich, Sir. Sie haben doch keine Ahnung, Sir. Ich bin zwar immer die Kleinste gewesen, aber auch immer diejenige, die etwas gesagt hat oder die sich vor einen Schwächeren gestellt hat, Sir. Ich heiße nicht für um sonst Kahlyn, Sir. Kahlyn heißt in unserer Sprache, Beschützer der Anderen oder beschütz die Anderen, man kann das verschieden übersetzten, Sir. Der Sinn bleibt aber immer der Gleiche, Sir. Aber glauben sie mir eins, Sir. Wenn sie ein paar von den Strafen bekommen würden, dann würden sie auch zehnmal überlegen, ob sie murren, Sir. Wenn wegen ihres Murrens, ihre Leute gequält oder sogar getötet werden, unterlassen sie das ganz schnell, Sir. Dann schlucken sie lieber alle Wut herunter, nur um ihre Kameraden zu schützen, Sir. Das was sie mit Oberstleutnant Mayer gestern erlebt haben, war harmlos, das war nur eine Streicheleinheit von ihm, Sir. Glauben sie mir, wir sind schlimmeres gewöhnt, Sir."

Wieder kämpfte ich schwer atmend, gegen das Monster, in meinen Magen an. Diesmal jedoch konnte ich es besiegen, die Panik war diesmal nicht so heftig. Außerdem war da nichts mehr, was ich hätte ausbrechen können. Sender sah mich an. Das pure Entsetzen, stand auf seinem Gesicht. Sender stöhnte verhalten.

"Das soll harmlos gewesen sein? Wie in Gottes Namen, sehen dann die richtigen Bestrafungen von Mayer aus?", presste er zwischen den Zähnen hervor. "Kahlyn, das was gestern in der Wache gelaufen ist, reicht um Mayer ins Gefängnis zu bringen. Man nennt das Misshandlung von Schutzbefohlenen und Untergebenen. Das ist strafbar, Kind", wütend schüttelte der Major den Kopf. "Was haben die noch alles in der Schule mit euch gemacht, dass ihr so etwas als harmlos einstuft. Ich verstehe die Welt nicht mehr, Kahlyn. Ich verstehe sie einfach nicht mehr. Zu was bin ich Polizist, wenn ich so etwas nicht verhindern kann?"

Kurz entschlossen stand er auf. Ihm war der Tag versaut. Irgendetwas musste Sender tun, um seiner neuen Kollegin, das Leben zu erleichtern.

"Komm, wir gehen zurück."

Ich erhob mich und lief neben Sender her, in Richtung Kiosk.

"Sag mal Kahlyn, kannst du mit zum Training kommen oder möchtest du dich lieber noch einmal hinlegen?", erkundigte Sender zusammenhangslos.

"Natürlich Sir, wenn ich etwas aufpasse, kann ich alles mitmachen, Sir."

Sender nickte geistesabwesend. Als wir am Kiosk vorbei kamen schmiss er Otto die Zigaretten zu. "Bis Morgen Otto."

Wir liefen über die Straße und in die Wache hinein.

"Morgen", rief Sender, als wir an der Anmeldung vorbeiliefen, Schnurstracks gingen wir hinter in den Bereitschaftsraum. Dort saßen alle schon in Trainingssachen und warteten auf uns, es war schon 8 Uhr 15. Sender und ich, wurden mit einigen dummen Sprüchen empfangen, die er gar nicht beachtete. Zielstrebig ging er auf Fran zu.

"Bitte Fran, mache Kahlyn noch einmal etwas zu essen, wie viel kläre bitte mit ihr ab. Sie hat alles ausgebrochen."

Ich verstand die Welt nicht mehr. Wieso bekam ich noch einmal etwas zu essen?

Fran nahm mich zur Seite. "Wie viel soll ich dir machen?", wollte er von mir wissen.

Ich sagte ihm, wie viel Wasser er nehmen sollte, er schob mich Richtung Tisch. Ich jedoch ging an dem Tisch vorbei, um mir ebenfalls Trainingssachen anzuziehen. An den Tisch zurückgekehrt, stand mein Essen dort schon bereit. Ich beeilte mich, um fertig zu werden. Es war nur eine kleine Menge. Ich hatte Angst, dass ich wieder alles ausbrechen würde. Nach Beendigung der Mahlzeit, stand ich auf und ging zu den anderen, die schon abmarschbereit auf mich warteten. Sender der sich auch umgezogen hatte, wollte den Befehl des Aufbruchs geben.

Diesmal schüttelte ich verneinend den Kopf. "Sir", sprach ich Sender einfach an, da es sich um medizinische Probleme handelte, durfte ich das. Der sah mich verwundert an, weil ich ihn ansprach. "Sir, ich muss sie noch untersuchen, bitte Sir."

Sender schüttelte verneinend den Kopf.

"Sir, ich bestehe darauf, Sir. In diesem Zustand können sie nicht trainieren machen, sie halten das Training gar nicht durch, Sir. Das schaffe ich, aber sie tut mir leid, Sir. Schaffen halten in ihren jetzigen Zustand keine zehn Minuten durch, Sir", wies ich darauf hin, dass ich ihm nur helfen wollte und sprach mit dem Major in einem, keinen Widerspruch zulassenden Ton. "Sir, bitte kommen sie kurz mit, Sir. Es dauert nur wenige Minuten, Sir. Dafür sind sie dann fit, Sir."

Sender verdrehte die Augen, aber er folgte mir. Ich ging in das Zimmer, in dem ich heute Nacht geschlafen hatte. Dort stand noch mein Koffer.

"Sir, ziehen sie bitte ihr Oberteil noch einmal aus, bitte Sir."

Sender gehorchte.

Ich hörte ihn ab und tastete die Prellungen ab. Zog zwei Injektionen mit A13 auf, die ich einmal ihm spritze und einmal mir verabreichte und die gleiche Menge B32. So dass wir, einigermaßen beschwerdefrei durch das Training kamen.

"Sir, so ist es für uns beide besser beim Training, Sir."

Jetzt grinste Sender, übers ganze Gesicht. "Na, du bist mir ja eine", sprach er lachend.

Wohl wissend, dass ich ahnte, dass ihm ganz mulmig beim Gedanken, an das Training wurde. Fitness jedoch, war jedoch wichtig in unseren Job. Trainingspausen waren einfach nicht gut.

"Na dann komm, lassen wir die anderen nicht länger warten."

Im Bereitschaftsraum angekommen, gab er nun wirklich den Befehl für den Aufbruch. Allerdings war Sender froh, dass er nachgegeben hatte. Schon nach den ersten Metern, merkte er, wie schwer ihm das Atmen fiel, wie wäre das erst ohne die Injektion geworden.

Wir liefen an einem Fluss entlang, nach ungefähr fünfunddreißig Minuten kamen schließlich an eine großartige Trainingsanlage. Mehrere große Sporthallen standen auf einem riesigen Gelände, was bestimmt mehrere tausend Hektar umfasste. Wir liefen an allen vorbei und kamen schließlich zu einem Stadion, in das wir hineinliefen. Dort ging es erst einmal auf die Laufbahn. Dreißig Runden mit Sprinten, Springen, Reaktionstest absolvierten wir, sprangen über eine Sandgrube, auch nahmen wir die Hürden die dort aufgebaut waren. Es tat mir gut etwas zu tun, was ich kannte und worin ich ganz gut war. Meine Verletzungen, machten mir keine Probleme. Im Gegenteil durch das Training, wurde mein Kreislauf angetrieben und mir ging es nach einigen Minuten richtig gut. Sender dagegen, schien tüchtige Probleme, beim Atmen zu haben. Mehrmals wollte ich schon auf ihn zu gehen. Der Major schüttelte verneinend den Kopf. Die anderen japsten und schwitzten, ich allerdings lief mich erst langsam warm. Dreißig Runden, waren ein Klacks für mich, wir laufen oft hundert und so manches Mal noch mehr Runden, immer mit zwanzig Kilo Gewichten an Armen und Beinen. Vor allem in einem viel schnelleren Tempo.

Wenn die Lehrer schlechte Laune hatten, dann mussten wir oft aus Strafe laufen, bis wir nicht mehr konnten und das in voller Montur zusätzlich, zu den Gewichten bepackt mit der ganzen Ausrüstung, die fast alleine schon achtzig Kilo wog. Dreißig Runden waren Erholung für mich, halfen mir meinen Kreislauf in Schwung zu bringen.

Im Anschluss an das Laufen, gingen wir auf die Wiese. Liegestützen, Kniebeugen, Wechsel- und Fallübungen. Dann kamen einige Nahkampfübungen. Abwehr und Angriff wechseln sich ab, John fragte mich ob wir zusammen trainieren könnten. Ich glaube, ihn ärgerte es immer noch, dass ich ihn so schnell gelegt hatte. Deshalb willigte ich gern ein. Allerdings bemerkte ich schnell, dass er mich schonte, aus Angst mich zu treffen. In einer kleine Pause. Sah ich ihn lange an, bis er merkte, dass ich ihm etwas sagen wollte.

"Was ist Kahlyn?", erkundige sich John bei mir.

"Sir, sie müssen sich nicht zurückhalten, wie wollen sie richtig trainieren, wenn sie Angst haben mich zu treffen, Sir. Ich passe schon auf, dass dies nicht passiert, Sir."

John sah mich ernst an. "Kahlyn, deine Rippen sind gebrochen, ein Schlag von mir und sie sind wieder kaputt. Verstehst du?"

Ich nickte und lachte ihn auf meine Weise an. "Aber Sir, sie müssen mich erst mal treffen, Sir."

Erklärte ich ihm ernst. John sah mich verdutzt an. Danach machte das Training mehr Spaß. Mein Kollege war richtig gut. Einigen seiner Schläge konnte ich kaum ausweichen, aber erwischen tat er mich nie. Dann ging es wieder zurück, entlang des Flusses zur Wache und endlich, in die Duschen. Das war das erste Mal, dass ich nicht alleine in der Dusche war. Sender kam auf mich zu, als ich zu meinen Spind ging.

"Kahlyn, wenn du alleine duschen willst, ist das für uns in Ordnung, wir beeilen uns."

Wieder einmal überraschte er mich. "Sir, Warum soll ich alleine Duschen, Sir? In der Schule haben wir auch immer alle zusammen geduscht. Was ist da dabei, Sir? Oder stört es sie, dass ich ein Mädchen bin?", neckte ich ihn unbewusst ein wenig.

Da lachte er. "Oh nein, Kahlyn. Ich dachte dich stört, dass du das einzige Mädchen bist. Das ist die richtige Einstellung. Ich hatte schon Angst, du wärst eine Zicke."

"Sir, eine Zicke, Sir?"

Rutschte mir die Frage raus, weil ich diesen Begriff mit einer Ziege verband. Ich hatte doch keine vier Beine und Fell. Ich verstand nicht, wie er das meinte. Erschrocken hielt ich inne. Jetzt fing Sender schallend an zu lachen und klopfte mir auf die Schultern.

"Ist schon gut Kleene, lass uns duschen gehen. Das begreifst du noch irgendwann."

Meinte er immer wieder ins Lachen ausbrechend und wischte sich Tränen aus dem Gesicht, die ihn aus den Augen liefen und hielt sich dabei die Rippen. Ich verstand gar nichts mehr. Dachte so bei mir, manchmal war Sender komisch.

Also ging ich zu meinem Spind und zog mich aus. Lief weiter und kam als letzte in die Dusche. Dort sah man die Hand vor Augen nicht, so viel Dampf war in dem Raum. John winkte mir zu, ich sollte zu ihm kommen. Er war gerade fertig, also lief ich zu seiner Dusche und stellte mich darunter. Drehte das heiße Wasser ganz auf und das kalte Wasser zu. Mir tat es immer gut, das heiße Wasser auf der Haut zu spüren. Durch die letzten Tage, die Verletzungen war meine Muskulatur total verspannt. Das heiße Wasser löste diese Verkrampfungen immer am besten. Ich stellte mich mit den Händen an die Wand gestützt unter die Dusche, ließ das heiße Wasser auf meinen Rücken laufen. Es war eine alte Gewohnheit die ich hatte.

Mit keiner Silbe, dachte ich mehr an meinen Rücken. Trotz des Dunstes, sahen die neben mir Stehenden die Narben auf meinem Körper und machten Sender darauf aufmerksam. Es war mir peinlich. Nicht weil ich nackt war, sondern weil ich wusste, dass mein Körper nicht schön aussah. Aber nun war es egal. Sender allerdings war es nicht egal. Er kam auf mich zu.

"Kahlyn, was in Gottes Namen ist mit deinen Rücken geschehen?"

Zögernd sah ich ihn an, antwortete ausweichend. "Sir, bitte, Sir. Ich darf, darauf nicht antworten, Sir", wollte ich mich, aus der Affäre ziehen.

Aber Sender, ließ sich nicht so schnell abwimmeln. "Wir reden dann. Dusch du erst einmal in Ruhe. Du hast es dir, mehr als verdient. Du hast verdammt gut mit gehalten, trotz deiner Verletzungen."

Dankbar sah ich ihn an. Hier war es gar nicht so schlecht, schoss es mir durch den Kopf. Rashida hatte wieder einmal Recht. Auf einmal wurde mir ganz schwer ums Herz. Krampfhaft versuchte ich die Gedanken an meine Freunde, wieder aus meinem Kopf zu verdrängen. Es gelang mir nicht. Ob es ihnen gut ging? Fragte ich mich immer wieder. Ob ich Major Sender fragen konnte, ob er wusste, wie es ihnen ging? Auf einmal war das Duschen nicht mehr wichtig. Meine Freunde, an die ich fast einen Tag nicht mehr gedacht hatte, gewannen die Oberhand. Ich wusch mich und trocknete mich ab. Lief dann nach vorn zu meinem Spind. Dort zog ich mich an, wechselte die Verbände und lief auf meinen zugewiesenen Platz, im Bereitschaftsraum.

Fran brachte das Essen auf den Tisch. Aber ich wollte nichts. Ich war noch satt vom Frühstück. Außerdem machte sich das Monster wieder breit. Also verzichte ich lieber auf eine Mahlzeit. Grübelnd stütze ich meinen Kopf auf die Hände und starrte aus dem weit geöffneten Fenster. Wieder einmal begann mein Kopf zu schmerzen, auch bekam ich schon wieder Fieber. Wieso nur hatte ich das Monster geweckt? Zum Glück, war es diesmal nicht so schlimm, wie die letzten beiden Tage. Die anderen aßen und ich starrte Gedanken verloren aus dem Fenster. Lange saß ich so da, auch noch als bereits der Tisch abgeräumt war und die anderen sich ihren Beschäftigungen widmeten. Noch während ich mit mir kämpfte, ob ich Sender fragen soll oder nicht, kam John auf mich zu.

"Kann ich mit dir reden?", fragte er mich vorsichtig.

Ich nickte ohne etwas zu sagen.

John drehte einen Stuhl so, dass er verkehrt herum darauf saß. Etwas, was total lustig aussah. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Es sah aus, als ob er auf einem Pferd reiten wollte. John legte die Arme auf die Rückenlehne des Stuhles und sah mich ernst an.

"Sag mal Kahlyn", fragte er mich. "Wo hast du so kämpfen gelernt? Weißt du, dass du richtig gut bist", anerkennend sah er mich an. "Ich habe noch nie, jemanden so schnell reagieren sehen wie dich. Kannst du mir ein paar deiner Tricks zeigen? Woher weißt du im vornherein, was ich vorhabe? Ich bekam bei dem Kampf mit, dass du schon ausgewichen bist, bevor ich den Schlag richtig ausgeführt habe. Ich verstehe das nicht."

"Sir, darf ich offen reden, Sir?"

John verdrehte die Augen. "Kahlyn, bitte in Gottes Namen, lassen diesen sinnlosen und verdammt albernen Sir weg. Ich bin doch nicht der Mayer. Oder hast du deine Freunde in der Schule auch mit Sir angesprochen."

Ich schüttelte traurig den Kopf. Das hatte ich natürlich nicht. Irgendetwas machte es mir unmöglich zu antworten. Ein Brennen machte sich in meiner Brust breit und das Atmen fiel mir schwer. John sah mich entsetzt an. Er merkte, dass irgendetwas, mit mir nicht stimmte.

 

"Komm mal mit, Kahlyn", forderte John auf einmal, von mir. Er zog mich an dem Oberarm vom Stuhl hoch, weil ich nicht gleich reagierte. Er ging mich führend zu Senders Büro. Der Major saß am Schreibtisch und war lesend in Unterlagen vertieft.

"Rudi, ´tschuldigung das ich dich kurz störe. Aber ich glaube das Mäuschen hier, macht sich ernsthaft Sorgen. Ich weiß sie wird nichts sagen und nichts von ihren Gefühlen preisgeben. Aber ich denke, sie macht sich Sorgen, um ihre Freunde. Rufst du mal bei den anderen Dienststellen durch und sorgst dafür, dass sie mit den anderen sprechen kann? Ich glaube, es würde ihr helfen. Du weißt, ich kenne mich da ein wenig aus. Bitte Rudi."

Ich glaube, ich hatte John wirklich unterschätzt. Der Kollege hatte wohl ein sehr gutes Gespür, für Gefühle anderer. Er hatte genau erkannt, was seine Worte in mir ausgelöst hatten.

"Stimmt das Kleene, machst du dir Sorgen, um deine Freunde."

Ich konnte ihm nicht antworten. Selbst wenn ich gewusst hätte, was ich hätte sagen sollen. Ich nickte nur ganz kurz. Irgendetwas war in meinem Hals und machte es mir unmöglich zu sprechen. Sender zog mein Akte hervor, blätterte sie durch. Da er keine Notizen, über die anderen Dienststellen fand, - er hatte Mayer gegenüber nur geblufft - griff er zum Telefon, um wieder einmal seinen Freund Jo, um Hilfe zu bitten.

"Einen Moment das haben wir gleich."

Als sich Runge meldet, bat er den Polizeirat um Hilfe.

"Jo hier ist Rudi. Ich habe eine große Bitte an dich, kannst du unserer Kahlyn mal helfen. Sie macht sich Sorgen, um ihre Kameraden. Nach dem, was gestern hier geschehen ist, verstehe ich das sehr gut. Könntest du mir die Dienststellen mal geben, in denen sie untergekommen sind. Ach und noch etwas. Jo, was wird mit Kahlyn, wenn sie frei hat? Das fiel mir heute, beim Training ein."

Eine Weile war Ruhe. Sender notierte sich allerlei Nummern. Immer wieder nickte er und schrieb einen Namen dahinter. Als er fertig war, lächelte er vor sich hin, meinte dann zu seinem Freund. "Geht klar, Jo. Macht das mal. Wir reden heute Abend, bis später."

Lächelnd sah er John und mich an. "So ihr zwei. Da sind die Telefonnummern und die Namen. John, du gehst hinter ins Besprechungszimmer, da ist ja auch ein Anschluss und ihr seid ungestört. Helfe bitte Kahlyn, das sie mit allen sprechen kann", wandte sich jetzt mir zu. "Das ist das Mindeste, was wir für dich tun können, Kleene. Wann immer du mit deinen Freunden sprechen willst und Zeit ist, sag Bescheid. Viel Spaß ihr zwei", sofort beugte sich der Major über seine Unterlagen und vertiefte sich wieder darin.

"Komm", meinte John zu mir und ging mit mir Richtung Schlafsaal.

Dahinter war noch eine Tür, die ich bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. Wie konnte mir das passieren, normalerweise nahm ich meine Umwelt immer vollständig war. Mir ging es wohl doch nicht so gut wie ich dachte. Automatisch rieb ich mir das Genick, einen Bewegung die ich immer dann machte, wenn ich am Grübeln war. Ich folgte John nach ganz hinten im Gang und betrat einen großen Raum, in dem ungefähr dreißig Stühle standen.

"Das ist unser Besprechungsraum. Hier werden Schulungen durchgeführt oder größere Einsätze besprochen. Setzt dich hierher."

John zeigte auf einen Stuhl der hinter einem großen Tisch stand.

Ich setzte mich, mit einem bangen Gefühl hin.

"Sag mir, wen möchtest du als erstes anrufen? Oder schreib einfach die Reihenfolge hinter die Namen. Da muss ich dich nicht immer fragen."

Er legte mir den Zettel hin und gab mir einen Stift, den er aus seiner Overalltasche zog. Ich gab ihm die Reihenfolge bekannt, in der ich telefonieren wollte. Als erstes riefen wir meine Rashida an, um die machte ich mir die meisten Sorgen. John wählte die Nummer und meldete sich. "Dienststelle 61, Leutnant Peters am Apparat, ist es möglich Leutnant Rashida zu sprechen ... Ja, es ist wichtig. Sonst würde ich doch nicht anrufen, Wachtmeister ... Danke, das ist nett … und ja ich warte", hörte ich ihn mit vielen langen Pausen sprechen, in denen wohl sein Gesprächspartner sprach. John lächelte mir aufmunternd zu und hielt die Hand über die Muschel.

"Sie müssen sie erst holen. Es dauert einen Moment. Sie muss in einem anderen Gebäude sein. Also habe eine wenig Geduld."

Ich nickte, glücklich. John hatte keine Ahnung, wie geduldig ich sein konnte. Ich würde gleich, mit meiner Rashida sprechen können. Mein Herz schlug vor Freude lauter wilde Purzelbäume. Nach einer langen Weile, sprach jemand im Hörer. John lächelte und nickte.

"Leutnant Rashida, am Apparat, wie kann ich helfen", hörte John auf einmal, eine dunkle, doch angenehme weibliche Stimme.

"Leutnant Rashida, Leutnant Peters am Apparat, hier möchte sich jemand vergewissern, ob es ihnen auch gut geht. Ich reiche Sie mal weiter", schon drückte er mir den Hörer in die Hand.

So wie ich den Hörer ans Ohr hielt, war komischer Weise die Verbindung wieder da. Ich schrie förmlich nach meiner Rashida und ich fing zu weinen an.

"Beruhig dich doch mein Täubchen. Ich bin doch da. Höre auf zu weinen. Bitte beruhige dich."

Mühsam versuchte ich mein inneres Gleichgewicht wieder zu finden, mein Atem ging stoßweiße. John sah mich ganz ängstlich an. Ich konnte mich einfach nicht beruhigen. Meine Rashida, ich konnte sie endlich wieder hören.

"Alles in Ordnung mit dir, Kahlyn?", fragte er mich verwirrt, da ich kein Wort sprach und völlig verkrampft atmete.

Ich kämpfte so schlimm gegen meine Emotionen. Diese waren mit voller Gewalt in mir hochschossen. Konnte dadurch gar nicht mehr klar denken. Rashida versuchte mich zu beruhigen. Allerdings brauchte sie eine ganze Weile, ehe ich auf sie hörte. John dagegen konnte ja nicht ahnen, dass wir keine Stimme zum Reden brauchten, dass wir uns auch so hörten. Er wusste nichts davon, dass wir auch lachen und weinen konnten. Denn nur ganz selten konnten wir das nach außen zeigen. Langsam bekam ich mich wieder ein. Rashida gelange es wie immer, mich zu beruhigen. Sie sprach mir Mut zu und ihre Worte erreichten, was sie erreichen sollten. Das war schon immer so. Endlich konnte ich meine Fragen los werden.

"Wie geht es dir? Was macht die Verletzung? Jacob, erzählte dem Doko hier, du wärst krank, bitte sag mir die Wahrheit?"

Rashida, wie immer ruhig, gelassen und über allen Dingen stehend, "Beruhig dich Täubchen, mir geht es gut. Doko, hat mir Medizin gegeben, es geht mir wieder gut."

Als ich ihr widersprechen wollte. "Rashi…"

Unterbrach sie mich einfach. "Wirklich Täubchen. Es geht mir gut. Konnte er auch mit dir sprechen?"

Ich verneinte es. Mir ging es schon zu schlecht, als er hier ankam. Nur ganz wenig, bekam ich von ihm mit. "Nein, Rashida, mir ging es nicht so gut, als er hier war. Doko Karpo, hat mir gesagt, dass fünf von uns krank sind. Heute früh als ich aufgewacht bin. Deshalb, konnte der Doko nicht eher kommen."

Rashida lächelte mich an. "Ja ich weiß, uns ging es allen schlecht. Es ist ein Nervenfieber. Das durch die Unterbrechung unserer Verbindung ausgelöst wurde. Aber er gab uns allen N91, das hilft gut. Also, wenn dein Fieber wiederkommt oder in deinem Magen Monster toben, spritze es dir. Es hilft wirklich sehr gut."

Also hatte ich nicht alleine, mit den Monstern zu kämpfen. Das beruhigt mich sehr. Ich hörte zwar, was sie mir sagte, aber ich war viel zu aufgeregt, um es wirklich zu registrieren. Etwas, dass mir nur ganz selten passierte. 

"Danke Rashida, das mache ich, wenn es noch schlimmer wird. Im Moment geht es", antwortete ich ihr.

Rashida wurde ernst, in ihrer warmen Stimme, hörte ich eine unsagbare Wut. "Sag mal Täubchen, wie geht es dir? Doko sagte mir, dass du schwer verletzt, wenn auch stabil bist. Er meinte Mayer wäre bei dir gewesen und hätte dich behandelt. Stimmt das? Kann der dich nicht mal jetzt in Ruhe lassen?"

So hatte ich meine Rashida noch nie erlebt. "Es geht schon wieder", erklärte ich ihr und ließ zu, dass sie in mich eindrang, um abzuchecken, wie es mir wirklich ging. "Aber es war schon heftig. Vor allem, weil hier keiner begreifen wollte, dass ich mir selber helfen kann. Erst als ich kurz vor dem Verbluten war, begriffen die, was ich wollte. Aber dann waren sie sehr fürsorglich. Ich habe so etwas noch nie erlebt."

Aufgeregt erzählte ich ihr alles, was ich erlebt hatte. Vom eingreifen Johns hin bis zu dem Abführen Mayers. Sagte ihr auch, dass mir dies die Seele gestreichelt hätte, ihn in Handschellen zu sehen. Aber auch von Doko Karpo, wie gut er zu mir war und wie sehr er mir geholfen hatte und dass ich vieles von dem, was hier vor sich ging, gar nicht verstand. Rashida gestand mir, dass es ihr ähnlich ging, wie mir. Sie gab mir noch einige Hinweise und Tipps, dann meinte sie,

"Täubchen, wir sollten Schluss machen, die werden sich schon wundern, wie wir uns so lange anschweigen können."

Ein von Herzen kommendes Lachen, erklang in meinem Kopf. Ich stimmte in das Lachen ein. Ich sah in Johns Gesicht, der einfach nicht wusste, was er von der ganzen Sache halten sollte. Er hatte sich doch stark für mich gemacht, damit ich meine Freunde anrufen konnte und nun schwieg ich den Hörer an. Gleich würde ich ihm alles erklären.

"Täubchen, sei brav, ja und wage dich nicht zu weit vor. Denke daran, es kann dir da keiner helfen, du bist auf dich selber angewiesen."

Hörte ich letzte ermahnende Worte meiner besten Freundin. "Ich freue mich, dass es dir gut geht. Dann geht es mir auch gut, Rashida. Bleib schön gesund, vielleicht hören wir uns ja mal wieder."

Rashida lachte. "Ich habe dir doch gesagt, wir hören uns bald wieder. Ich vergesse dich nie Täubchen. Du bist immer in meinen Herzen, dass weißt du doch. Bitte schlafe ordentlich, versprich mir das."

"Ja." Antworte ich. "Das mache ich. Bis bald."

Ich legte den Hörer auf und blickte zu John, der mich die ganze Zeit verwirrt gemustert hat.

"Was ist los, ich dachte du wolltest mit Rashida telefonieren?", erkundigte er sich verwundert. "Stattdessen, schweigst du das Telefon an."

Ich wollte einfach ohne zu überlegen antworten. Ich weiß nicht, zu John hatte ich irgendwie, das gleiche Gefühl wie zu meinen Freunden in der Schule.

"Sir…" fing ich an und John unterbrach mich sofort.

"Verdammt noch mal, ich will dieses, Sir von dir nicht mehr hören. Wir sind doch Kollegen, die einander vertrauen müssen. Im Ernstfall deckst du meine Arsch und ich den deinen. Also lasse diesen Gott verdammten Sir Quatsch. Das regt mich langsam auf."

Erschrocken trat ich einen Schritt zurück. Was hatte ich nun schon wieder falsch gemacht? Ging es mir durch den Kopf.

"Entschuldigung Kahlyn, tut mir leid. Aber ich bin es nicht gewohnt, mit Sir angequatscht zu werden. Bitte, sag das nicht mehr zu mir. Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin völlig übermüdet und da bin ich halt schnell oben auf."

Er hatte ja irgendwie recht, meine Freunde in der Schule sprach ich ja auch nicht mit Sir an. "Ist in Ordnung ich werde mir Mühe geben, es nicht mehr zu tun, Si… aber es ist halt schwer. Ich musste das immer machen, John", gab ich mir Mühe, nicht mehr Sir zu sagen. Erfreut über den ersten John, was bewusst über meine Lippen kam, lächelte er mich zufrieden an.

"So ist das besser, das tut meinen Nerven gut."

Erleichtert holte er zu einem freundschaftlichen Schlag aus und wollte mir auf die Schulter hauen. Ich war allerdings noch in Gedanken bei Rashida. Instinktiv wich ich aus und er landet wieder auf den Boden.

Lachend rappelte er sich auf. "Oh manne, hast du Reflexe, da muss ich wohl noch viel lernen. Ist nichts passiert, keine Angst alles in Ordnung. Also, warum schweigst du dich jetzt mit deiner Freundin an", kam er auf das alte Thema zurück. Klopfte sich dabei die Knie sauber. Da er auf den Knien gelandet war.

"Si…"

John verdrehte die Augen, aber weil ich es selber gemerkt hatte, fing er an zu lachen. "Na, wenigstens merkst du's noch", grinste er mich breit an.

Ich wusste jetzt gar nicht mehr, wie ich anfangen sollte. Jeden laut ausgesprochenen Satz in meinem Leben hatte ich immer mit Sir oder Mam angefangen. John, der wohl gemerkt hatte, dass ich nicht wusste, wie ich beginnen sollte, meinte breit grinsend.

"Sag doch, wenn es dich glücklich macht, den Sir einfach ganz leise für dich selber. Alle anderen Worte sagst du laut. Ist das nicht eine brillante Idee von mir?", lachend sah er mich an.

Ja das war sie. In Gedanken sagte ich "Sir" und laut dann "Ich habe mich nicht mit Rashida angeschwiegen. Wir reden nur anders miteinander. Ich weiß nicht wie ich dir das erklären soll. Es ist eine Verbindung zwischen uns. Wir brauchen nicht zu reden, um uns zu hören. Nur, als wir wegfuhren, wurden die Stimmen immer leise und auf einmal waren sie ganz weg. Es war so schlimm, dass kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe diese Stimmen, mein ganzes Leben gehört, auf einmal war es um mich herum ganz leise. Ganz still ist es jetzt ständig in meinem Kopf. So still, dass es richtig weh tut. Dann kam das Monster in meinem Bauch, schwabbelte hin und her, bis ich brechen musste. Ich kann das nicht steuern und auch nicht erklären. Als ich vorhin den Hörer genommen habe, war die Verbindung wieder da, ich hörte meine Rashida wieder. Verstehen Sie?" ganz leise setzte ich das "Sir" dazu.

John sah mich an, als wenn ich ihm ein Märchen erzählt hätte. "Ihr könnt Gedanken lesen."

Ich zuckte mit den Schultern, ohne es zu merken sagte ich. "Ja kann schon sein. Ich weiß nicht wie ich es nennen sollte, aber das kommt den schon ziemlich nahe. Es war schon immer so. Es hat die Lehrer immer aufgeregt, weil wir nie gesprochen haben und trotzdem untereinander immer wussten, wo jeder war oder gewarnt wurden, wenn einer von uns bestraft werden sollte."

John nickte, konnte er sich doch denken, was die Lehrer dabei dachten. "Das kann ich mir vorstellen. Schade, dass wir nicht so miteinander reden können. Dann wäre es im Bereitschafstraum nicht immer so laut", setzte er hinterher. "Na komm, rufen wir die anderen auch noch an", John wählte die nächste Nummer.

Sina ging es auch gut, sie hatte noch schlimme Schmerzen mit ihrer Schulter. Ich gab ihr noch ein paar Tipps, was sie machen konnte. Nach und nach riefen wir alle an. Nach über einer Stunde hatten wir alle angerufen, mir ging es richtig gut. Endlich wusste ich, dass es allen gut ging. Ich hätte einen Salto machen können.

"Danke John", sage ich leise.

Zufrieden mit sich und der Welt, ging er auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter "Na, geht es dir, wieder besser?"

Ich nickte.

John streichelte mir lieb über das Gesicht. "Na dann komm, gehen wir nach vorn."

Ich stand auf und lief Richtung Tür. Er folgte mir. Als wir an Senders Büro vorbei kamen, saß der Major immer noch grübelnd über die Unterlagen gebeugt. Wir gingen weiter in den Bereitschaftsraum.

"Sag mal Kahlyn, hast du Lust ein wenig zu trainieren. Das rum sitzen hier ist langweilig. Wir können hinter in den Kraftraum gehen und ein paar Handeln schwingen. Besser als Fernzusehen oder Karten zu spielen."

Klar hatte ich Lust, das war etwas, dass mir Spaß macht und dass ich konnte. Vor allem, wo ich wusste, was ich machen musste.

"Ach deine Rippen …", fiel John ein.

 "Denen tut das nichts, die sind fest bandagiert, da passiert nichts. Ich bin vorsichtig. Ich kommen gern mit", gab ich offen zur Antwort. Es fiel mir auf einmal ganz leicht, den Sir bei John weg zu lassen. Eine ungewohnte Vertrautheit war zwischen mir und John entstanden. Etwas, dass ich bis jetzt außer mit meinen Freunden in der Schule und Conny, noch nie gekannt hatte. Gemeinsam gingen wir den Flur entlang weiter nach vorn und bogen dann ab, um in die Kraft- und Trainingsräume zu gelangen.

Dort wurden wir von den anderen Kollegen freudig begrüßt. Schon kurze Zeit später war ein richtiger Wettkampf, zwischen John, Wolle, Ali, den anderen und mir entstanden, wir konnten uns richtig auspowern.

Obwohl ich durch meine Verletzung noch nicht ganz fit war, hielt ich locker mit John und den anderen, die sich hier aufhielten, mit. Die staunten nicht schlecht, niemals hätten sie mir das zugetraut, dass ich solche Gewichte stemmen konnte und das noch mit der Verletzung. Nach einer reichlichen Stunde, lief den meisten, der Schweiß aus allen Poren. Ich lief gerade erst richtig warm. Schade, dass ich nicht ganz auf den Posten war, sonst hätte ich ihnen einmal richtig zeigen können, was ich konnte. Aber auch so hatte es richtig Spaß gemacht. Ich glaube mir gefiel es hier doch, die Jungs waren richtig nett. Kurz nach halb 5 Uhr gingen wir alle duschen, wir konnten einfach nicht mehr.

Wir liefen vor in die Dusche und stellten uns fast zwanzig Minuten unter das heiße Wasser. Es war fantastisch, wie konnten unter der Dusche stehen, ohne, dass uns jemand aus der Dusche scheuchte und hetzte. Ein ungewohntes Gefühl war das für mich. Fertig mit Duschen bandagierte ich mich neu und zog mich wieder an.

Gemeinsam gingen wir zurück in den Bereitschaftsraum, um den Abendbrottisch zu decken. Es machte richtig Spaß, es wurde viel gelacht und rumgealbert. Es war fast wie bei meinen Kameraden zu Hause. Wir wollten uns gerade setzen, als ein schriller Ton erklang, der meine Trommelfelle fast zum Platzen brachte.

Kapitel 4

Der schrille Ton der Sirene erklang kurz vor 17 Uhr und ich hielt mir stöhnend die Ohren zu. In der Wache ging ein wildes Durcheinander los, es herrschte das reinste Chaos.

So hatte es jedenfalls den Anschein für mich. Ich war es gewohnt, dass wir alles auf Zuruf machten. Bei uns gab es eine vorgeschrieben Ordnung, wie bei allem, was unser Leben betraf. Wir stellten uns bei Alarm in Reih und Glied auf, bekamen dann unsere Befehle, dazu gehörten Informationen über Ausrüstung, den Zeitpunkt des Einsatzbeginnes und das Dossier. Bei uns schimpfte keiner, weil es kein Essen gab und erst recht rannte niemand, wild durch die Gegend. Hier auf der Wache, brach eine regelrechte Hektik aus. Verwundert sah ich mich um. Fluchend und auf die ganze Welt schimpfend, weil es wieder einmal kein Abendessen gab, liefen meine Kollegen zu ihren Schränken, um sich anzukleiden. Hektisch und sich zum Teil gegenseitig behindernd. Auch ich lief zu meinem Spind und Waffenschrank, kleidete mich an und rüstete mich aus.

Zu meinem Erstaunen, gab es erst einen kleinen Kampf, zwischen John und Sender. Etwas das ich gar nicht einordnen konnte. Wieso fragte ich mich, wollte mich Major Sender nicht mit zum Einsatz nehmen. Ich war vollständig einsatzfähig, wegen dieses geringfügigen Verletzung, würden wir nicht einmal einen Eintrag in das Protokoll vornehmen. Dass ich abgeklappt war, hatte nur etwas mit dem hohen Blutverlust zu tun, nicht aber mit der Verletzung. Sender flippte allerdings fast aus, als er sah, dass ich mich einkleidete und ausrüstete. Er wollte mich wegen dieser schweren Verletzung nicht zum bevorstehenden Einsatz mitnehmen. Schwere Verletzung, innerlich musste ich lachen und schüttelte unbewusst den Kopf. Als ich mitten beim Anziehen war, kam Sender auf mich zu. Befahl mir mit einer keinen Widerspruch zulassenden Stimme.

"Kahlyn du bleibst hier! Du bist schwer verletzt und krank."  

Ich war enttäuscht, verwundert und auch ein wenig durcheinander. Allerdings akzeptierte ich die Entscheidung des Majors, was blieb mir anders übrig. Auch ich hätte in einem ähnlich gelagerten Fall, die gleiche Entscheidung getroffen, wenn es zum Beispiel um ein Mitglied der Soko Tiranus gegangen wäre. Sender kannte mich überhaupt nicht und konnte von daher meine Arbeitsfähigkeit nicht einschätzen. Nur war mir völlig unbegreiflich, wieso mich der Major, als schwerverletzt und krank bezeichnete. Beides war ich nicht. Klar wäre ich gern bei dem Einsatz dabei gewesen. Vor allem, damit ich meine neue Einheit, einmal im Einsatz erleben konnte, um mir endlich ein genaueres Bild, über die Kollegen hier zu machen. Erst dann konnte ich ihre Fähigkeiten einigermaßen einschätzen.

Das Wort von Sender, war für mich bindend. Niemals hätte ich mich gewagt, ihn zu wiedersprechen. John allerdings war anderer Auffassung als sein Major. Der Sanitäter konnte, da er mit mir heute den ganzen Tag trainiert hatte, meine Einsatzfähigkeit besser einschätzen, als der Teamleiter und wiedersprach Sender deshalb vehement.

"Rudi, die Kleine hat heute alles mitgemacht, was wir auch gemacht haben. Sogar im Kraftraum, hielt sie trotz ihrer Verletzung mit. Wenn sie nicht Einsatztauglich ist, dann bist du es auch nicht. Also, denke ich, du kannst es verantworten sie mitzunehmen. Sie kann sich ja etwas im Hintergrund halten. Aber ich denke es ist wichtig für sie, dass sie mitkommt und uns im Einsatz erlebt. Wie soll sie sich sonst, in die Truppe integrieren?"

Sender wiedersprach aufs heftigste. "John, ein Schlag gegen ihre Rippen und sie kann tot sein."

John legte die Hand auf Senders Schulter und sah ihn ernst an.

"Rudi, ich verspreche dir, das lasse ich nicht zu, ich passe ganz besonders auf sie auf. Versprochen", ernst sah er seinen Vorgesetzten an.

"Okay, aber wenn ihr was passiert, zerpflücke ich dich in der Luft", der Major wandte sich an mich. "Denkst du, dass du den Einsatz schaffst, Kahlyn. Letztendlich liegt die Entscheidung bei dir. Tut mir leid Kleene, ich kann dich noch nicht einschätzen", ernst sah Sender mich an.

"Sir, ja ich schaffe dass, Sir", erklärte ich ihm, mit gewohnter fester und keinen Zweifel zulassenden Stimme. Die wir uns in der Schule über Jahre antrainiert hatten. Aber ich meinte es auch so. Mir ging es wieder gut und vielleicht konnte ich den Jungs ja etwas helfen. Ich war schon mit viel schlimmeren Verletzungen, in den Kampf gegangen und da hatte mich keiner gefragt, ob ich wollte oder nicht. Ich musste immer mit. Schließlich war ich der Teamleiter. Ohne mich rückte die Truppe nicht aus. Wenn ich gesagt hätte es ginge nicht, hätten wir alle eine harte Strafe bekommen. Von daher gab es selten ein "es geht nicht mehr". Das konnte ich meinen Freunden gar nicht antun. Ich freute mich sehr, dass ich nun auch mit zum Einsatz konnte und sah dankbar zu John. Nur durch ihn, war es beschlossene Sache, dass ich zu meinem ersten Einsatz mit dem SEK 61 durfte.

"Dann beeile dich", gab mir Senders den Befehl.

Schneller als die Anderen war ich fertig und stand, mit der geforderten Ausrüstung vor meinem Spind. Zusätzlich zu der Sturmmaske, hatte ich auch meine Spezialbrille mitgenommen, eine Art Schwimmerbrille, nur mit ganz dunkelnden Gläsern.

 

Wir fuhren fast eine Stunde über die Autobahn. Schließlich kamen wir an einem Gebäude an und stiegen alle aus. Das Gebäude war, wie mir John später erklärte, eine Schule und wurde unser Einsatzzentrum, für diesen Einsatz. Allerdings lief hier alles ganz anders ab, als ich es von unseren Schuleinsätzen gewohnt war. Wir kamen in ein Zimmer, in denen schon einige Polizisten auf den vielen Stühlen saßen. Die Senders Truppe schien die Kollegen zu kennen, denn sie gingen aufeinander zu und begrüßten sich herzlich. Meine Aufmerksamkeit wurde allerdings von anderen Dingen auf sich gezogen.

Wie immer hatte ich mich auf der Fahrt hierher, schon psychisch auf den Einsatz eingestellt und all meine Gedanken waren auf Alarm. Ich nahm bewusst und unbewusst alle Informationen auf die ich bekommen konnte und die irgendwie auch nur entfernt, mit dem Einsatz etwas zu tun haben könnten.

Vorn an der Tafel hing eine Karte, die mich magisch anzog. Da wir uns frei bewegen konnten, schaute ich mir die Karte genauer an. Der Kartenausschnitt kam mir bekannt vor. Wir waren vor vielen Jahren, hier schon einmal zu einem Einsatz. Die Karte hatte ich schon einmal gesehen. Ein mit einem roten Kreis eingegrenztes Gebiet, von etwa fünfzig Kilometern im Durchmesser, steckte das Fahndungsgebiet ab. Viele kleine verschiedenfarbige Fähnchen steckten darauf, welche die Täterbewegungen der letzten Tage festhielten. Auf den Fähnchen standen Namen und Zahlen von Uhrzeiten. Auf einer weiteren Tafel hingen viele verschiedene Fotos von Gebäuden und einzelnen Menschen. An der Wand daneben befand sich eine Skizze, von einem großen Werksgelände oder einem großen und mit vielen Hallen vollgestellten Privatgelände. Genau sah ich mir diese Karte an und musste Grinsen. Hier fehlte etwas, in der Skizze, immer noch nicht, hatte man diesen Grundriss den wirklichen Gegebenheiten angepasst. Ich schüttelte leicht den Kopf und rieb mir den Nacken. Nochmal betrachtete ich die hier ausgehangen Informationen, die für jedermann ersichtlich waren und ging die mir nun bekannten Fakten durch.

Mit leicht schief gehaltenem Kopf, betrachtete ich mir nochmals diese Karten genau und kramte in meinen Erinnerungen. Ich kannte dieses Gelände, nur zu gut. Ich war schon einmal hier gewesen, vor sehr langer Zeit. Mir fiel im Moment nicht mehr das genaue Datum ein. Aber eins wusste ich noch genau, es war einer der ersten Übungseinsätze, mit einer Spezialeinheit des Grenzschutzes. Also war das mindestens zehn oder vielleicht schon elf Jahre her.

Damals ging es in dieser Halle, über eine Woche lang, ganz schön zur Sache. Die Mitglieder dieser Spezialeinheit waren bald verrückt geworden mit uns. Egal wie sie es anstellten, wir gingen immer als Sieger hervor. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Dieser Übungseinsatz war schuld daran, dass ich lernte mich in die Verbrecher hineinzudenken. Wir mussten damals die Geiselnehmer spielen und wir schafften es immer wieder, dem anderen Team zu entwischen. Die Kollegen dieser Einheit sind regelrecht ausgeflippt vor Wut, weil wir Rotznasen sie immer entwischt waren. Damals waren wir grade einmal fünfeinhalb Jahre alt, also waren es elf Jahre, fiel mir gerade ein. Nach vier Tagen wechselten wir die Seiten. Die Anderen, waren jetzt die Geiselnehmer und wir, sollten sie gefangen nehmen. Ach hatten die Kollegen geflucht, weil wir sie wirklich jedes Mal bekamen. Sie konnten uns einfach nicht entwischen. Nach einer Woche gaben die Spezialeinheit auf und meinten, wir wären einfach zu gut.  

Ich zwang meine Gedanken zurück in die Gegenwart und betrachtete die Informationen, die ich hier zu sehen bekam und studierte sie genau. Ordnete sie in die richtige Reihenfolge. Langsam wurde mir klar, dass wir hier auf einen Einsatz waren, in dem es um Schmuggel oder sogar Menschenhandel ginge oder ein großer Rauschgiftring. Ich hatte solche Einsätze schon viel zu oft erlebt. Diese Einsätze waren nicht ganz ungefährlich. Ich schaute mich neugierig um, es waren noch mehr Menschen in den Raum hereingekommen. Darunter ein verweint wirkendes Ehepaar. Damit hatte sich der Kreis geschlossen. Also ginge es, um eine Entführung mit Erpressung, schloss ich meine Überlegungen ab.

Ich drehte mich um, da ich mich beobachtet fühlte und sah in die Augen des Majors. Sender stand unmittelbar hinter mir und hatte mich wohl schon eine ganze Weile betrachtet.

"Was hältst du von der ganzen Sache, Kahlyn? Du scheinst dir schon deine Gedanken dazu gemacht zu haben. Um was, würdest du sagen, geht es hier?"

Ich wunderte mich, über Sender Frage, da er ja der Teamleiter war und damit auch zur Einsatzleitung gehörte. "Sir, ich denke es geht hier, um eine Entführung mit Erpressung, Sir. In einer der Gebäude vermutet die Einsatzleitung, den Entführten oder dessen Leiche. Auf alle Fälle halten sich in dieser Halle noch die Entführer auf, Sir. Eine Geldübergabe hat schon stattgefunden, Sir. Diese ist aber aus einen mir nicht verständlichen Grund schief gegangen, Sir. Deshalb greift man jetzt zu den härteren Mitteln, nämlich uns, Sir. Wir sollen wieder einmal das richten, was die anderen versaut haben. Sir", erklärte ich dem Major, ohne um den heißen Brei herumzureden, wie es Dika immer nannte. Direkt auf den Feind und mitten ins Herz, sagte ich immer dazu.

Sender stand da und schüttelte den Kopf. "Woher weißt du das alles Kahlyn? Diese Informationen sind doch hier gar nicht ausgehangen."

Ich zuckte erst leicht mit den Schultern. Dann allerdings weil ich sah, dass es Sender wirklich interessierte, erklärte ich mich. Blickte mich um und zeigte nur mit meiner Blickrichtung an, was ich meinte, ohne auf das Ehepaar zu zeigen. Sender folgte meinem Blick und nahm das Ehepaar wahr. Dann blickte ich auf einen zerrissen und völlig kaputten Koffer. Dann wandte ich meinen Blick auf die Lagerhallen, an denen mehrere Kreuze eingezeichnet waren.

"Sir, wenn sie meine Meinung wissen wollen, Sir. Die Erpresser werden nicht mehr in der Lagerhalle sein, wenn ein Zugriff erfolgt ist, Sir. Sondern werden durch die Kanalisation fliehen, zu einem Fluchtwagen und sind dann über alle Berge, ehe des Einsatzkommando, das überhaupt verhindern kann, Sir. Dann erwartet uns eine sehr langwierige Suchaktion, von der niemand garantieren kann, dass wir noch fündig werden. Die Geisel ist dann aber tot", wieder schaute ich mir die Landkarte an und zeigte Sender mit dem Finger, was ich meinte. "Sir, wenn ich an der Stelle der Geiselnehmer wäre, Sir. Würde ich die B86 meiden und lieber auf der Landstraßen L1215 in Richtung Süden fahren, Sir. Dort im Wald das Fahrzeug stehen lassen und eines der vielen in diesem Waldgebiet, stehenden Waldhäusern nutzen, um ein paar Tage Gras über die Sache wachsen zu lassen, Sir. Danach würde ich drei oder vier Tagen lang durch den Wald gehen, immer in Richtung Süden. Über Bachra, dort würde ich in aller Seelenruhe, in einen Bus einsteigen und weg wäre ich, auf Nimmerwiedersehen, Sir", erklärte ich dem Major die Fluchtroute, die ich planen würde.

"Wie sollen die Geiselnehmer über die Kanalisation fliehen? Wie kommst du auf diese wahnwitzige Idee der Flucht?", Sender sah mich an, wie einen Außerirdischen.

"Sir, unter dieser Lagerhalle, gibt es einen Zugang in die Kanalisation, Sir. Außerdem ist es eine Tatsache, dass in dem Waldstücken von Bachra viele kleine Holzhäuschen stehen, Sir. Diese werden von Jägern und ihren Gästen oft genutzt, Sir. Hier jagen sehr oft Regierungsbeamte, Sir. Dort in diesen Häusern, würde mich nie jemand vermuten. In den Hallen dort drüben", ich machte eine Kopfbewegung in die Richtung der Fotos. "Sitze ich in einer lausigen Falle, Sir. Allerdings habe ich immer genügend Zeit, um durch die weitläufige Kanalisation abzuhauen, Sir."

"Du bist gut, Kahlyn, du bist wirklich verdammt gut. Zu dieser Erkenntnis bin ich nach intensivem Studium der Unterlagen auch gekommen. Dazu habe ich ganze vier Stunden gebraucht."

Sender machte mich ganz verlegen. "Sir, ich habe seit dreizehn Jahren mit solchen Dingen zu tun, Sir. In vielen Gebieten kenne ich mich ziemlich gut aus. Teils durch Trainingseinsätze, teils durch Einsätze die wir leisten mussten, Sir. Ich habe eins gelernt in den vielen Einsätzen, mich in den Täter hineinzuversetzen, Sir. Das hilft einen unwahrscheinlich, wenn man Entscheidungen treffen muss, Sir. Zum Glück, lag ich sehr oft richtig, mit meinen Vermutungen, Sir. Das hat mir sogar ab und an ein Lob von Oberstleutnant Mayer eingebracht, Sir. Das gab es nicht oft, glauben sie mir, Sir."

Sender nickte mir anerkennend zu. "Komm setzten wir uns", sagte er zu mir, als jemand den Raum betrat. Ich wollte gerade salutieren, als ich erkannte dass es sogar ein Polizeirat war. Sender hinderte mich daran. Verwundert schaute ich ihn ins Gesicht.

"Das brauchst du nicht, Kleene. Ach und wenn dich jemand auffordert die Brille abzusetzen, die lässt du auf. Das ist ein Befehl. Ich kümmere mich darum, alles klar, Kahlyn?", erkundigte er sich bei mir, weil ich verwirrt dreinschaute.

Ich nicke. "Sir, jawohl, Sir."

Daraufhin setzten wir uns zu den anderen. John hatte uns zwei Plätze freigehalten.

"Na, alles klar?", flüsterte er mir zu.

 

Ich beobachte die Leute, die im Raum standen. Am meisten interessierte mich der Polizeirat. Ich kannte ihn irgendwo her. Aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wo ich ihn schon einmal gesehen hatte. Das war ungewöhnlich, da ich eigentlich ein sehr gutes Personengedächtnis hatte. Selten vergaß ich ein Gesicht, dass ich schon einmal gesehen hatte. Als der Polizeirat anfing zu sprechen, wurde mir bewusst, weshalb ich ihn nicht zuordnen konnte. Ich kannte ihn nicht persönlich. Nicht ich hatte ihn gesehen, sondern nur Raiko. Er war dem Polizeirat vor reichlichen zwei Jahren begegnet. Damals, als es darum ging, dass unser Projekt eingestellt und unsere Schule geschlossen werden sollte. Deshalb war mir nicht bewusst, woher ich ihn kannte. Die Stimme allerdings erkannte ich sofort. Ich fand sie damals schon sehr angenehm. Wir saßen an jenem Tag alle hinter der Bühne, weil geplant war, einen Showkampf durchzuführen. Der dann doch nicht stattfand, da Raiko überzeugend genug gewesen war. Raiko konnte gut präsentieren, er hatte ein selbstsicheres Auftreten und war einfach, durch und durch Gentleman. Er wusste immer, was er wann zu sagen oder zu tun hatte. Na ja, er wusste auch sehr genau, wie er wirkte. Dadurch war Raiko sehr oft arrogant und herrschsüchtig. Durch diese seine abstoßende Art, war Raiko auch derjenige, der von uns allen am wenigsten gemocht wurde. Nicht nur, weil er sich beim Oberstleutnant immer lieb Kind gemacht hatte. Sondern auch, weil er immer den Weg des geringsten Widerstandes ging. Er hatte uns dadurch auch einige Male böse verraten. Trotzdem hatte er auch seine guten Seiten. Es wurde allerdings oft mühsam, ihn daran zu erinnern. Dadurch gab es nicht viel, was ich wirklich an ihm mochte. Eins musste man ihm lassen, er besaß wunderschöne Augen und eine noch schönere Stimme, schweiften meine Gedanken ab.

Die Stimme des Poleizerates holte mich zurück in die Wirklichkeit. "Guten Abend, meine Herren. Ich hoffe, dass wir mit ihrer Hilfe, diese Angelegenheit zu einem schnellen und vor allem guten Abschluss bringen können. Ich möchte ihnen die Familie Tengler vorstellen, es geht um deren Tochter. Weshalb wir …"

Ich hörte ihm zu. Er erklärte uns mit vielen Worten, wie es üblich war bei solch einen Einsatz, das Täter- und Opferprofil. Alles in allem, das, was ich schon geahnt hatte. Fast alles bestätigte meinen Gedankengang. Ich sah zu Sender hinüber, der nickte mir zu. Allerdings war die Einsatzleitung der Meinung, dass die Täter beim Zugriff noch in den Hallen wären. Ein Fehlurteil, das immer wieder von den leitenden Ebenen gemacht wurde. Sie dachten einfach zu geradlinig. Ja klar, das Gelände wurde bewacht. Deshalb konnte keiner unbemerkt, rein oder raus. Ohne, dass die Aufklärungstruppe das bemerken würde. Nur hatten die doch keine Röntgenaugen. Aufmerksam hörte ich, diesem Runge zu. Eine unsagbare Wut stieg in mir auf. Weil es immer das gleiche war. Die spannen sich etwas zusammen, weil sie im Rang höher als wir standen und dachten sie wären Gott. Wir waren dann diejenigen, die den Mist, den die planten, wieder ausbaden mussten. Ich schüttelte unbewusst den Kopf. Plötzlich geschah etwas, was mir noch nicht passiert war.

"Sie sind anderer Meinung Leutnant?"

Erschrocken hielt ich die Luft an. Ich würde es wohl nie lernen. Was sollte ich jetzt machen? Ich schaute zu Sender, der nickte mir aufmunternd zu.

"Sir, ja, Sir. Ich sehe es anders, Sir", erwiderte ich mit einer trockenen Stimme.

"Hätten sie die Liebenswürdigkeit, hier vor zu kommen und uns zu erklären, was sie anders sehen. Vor allem würde ich es begrüßen, wenn sie die Sonnenbrille absetzen, Leutnant, hier scheint keine Sonne. Oder?"

Das hast du nun davon, dachte ich bei mir. Selber schuld, weshalb hast du nur immer noch keine Selbstkontrolle. Warum zeigst du immer noch, was du denkst? Noch bevor ich antworten konnte, stand Sender auf und ging zu dem Polizeirat und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Blieb gleich vorn beim Polizeirat stehen.

"Ist in Ordnung Major Sender. Die Brille können sie auflassen, Leutnant Kahlyn. Schön sie gleich bei einem so schwierigen Einsatz kennen zu lernen. Kommen sie vor und erklären sie mir bitte einmal ihre Ansicht, von dem Fall. Die würde mich brennend interessieren", sprach er mit einem gewissen spöttischen Ton, in der Stimme.

Mir blieb also nichts anders übrig, als aufzustehen und nach vorn zugehen. "Sir, ihre Überlegungen stimmen mit meinen Überlegungen überein, Sir. Bis auf die Tatsache, dass wir die Täter, sobald wir das Gelände betreten, nicht mehr dort finden werden, wo wir sie jetzt noch antreffen würden, Sir. Ich bin der Meinung….", wieder erklärte ich, was ich vorhin schon Sender erklärt hatte, diesmal laut und für alle gut hörbar.

Runge hörte aufmerksam zu und fand zu meinem Erstaunen, die von mir gezogenen Schlussfolgerungen logisch. Im Gegensatz zu Oberstleutnant Mayer, war er nicht so in seine eigenen Ideen verliebt, dass er neben sich, keine andere Meinung gelten ließ. Nachdem ich meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen erklärt hatte, wollte ich mich wieder hinsetzen. Runge hielt mich am Arm zurück.

"Leutnant Kahlyn, wie würden sie vorgehen, wenn sie diesen Einsatz leiten müssten?", forderte mich der Polizeirat mit einem Lächeln auf, mich zu erklären. Es war ein Lächeln, das ich nicht einordnen konnte.

Hilfesuchend sah ich zu Sender der nickte mir aufmunternd zu.

"Sir, ich würde das Pferd von hinten aufzäumen, Sir."

Verständnislos schauten mich Runge, wie auch Sender und der Rest der Mannschaft an. Ich ging zu der Tafel mit der Landkarte, um zeigen zu können, was ich meinte.

"Sir, die Täter vermuten, dass wir von außen das Gelände und das Gebäude stürmen, Sir. Wenn ich mich recht erinnere, dann gab es nur drei Kanalisationsausgänge, Sir. Einer im Norden, einer im Westen und einer im Süden, Sir. Der südliche Ausgang der Kanalisation mündet unweit der L1215. Deshalb denke ich, haben wir dort die größte Chance, in der Kanalisation auf die Täter zu treffen, Sir. Wenn wir es allerdings geschickt anstellen, könnten wir es schaffen, unbeobachtet durch die Kanalisation in das Gebäude zu kommen, Sir. So könnten wir, es schaffen die Geisel, falls sie noch lebt, zu befreien und die Täter ohne großen Kampf festzunehmen, Sir."

Sender nickte und Runge strich sich durch seine dichten weißen Haare. Eine Weile herrschte unruhiges Gemurmel. Satzfetzen drangen nicht nur an meine, sondern auch an die Ohren von Runge, Sender und der Familie Tengler.

"Der wird doch nicht auf dieses Küken hören..." oder

"Spielen wir jetzt Verstecke…" oder

"Planen jetzt die Neuen die Einsätze…"

Wie gewohnt, bekam ich Ablehnung in ganzer Linie. Wir hatten das so oft erlebt, wenn wir mit anderen, zusammen arbeiten mussten. Mein Problem war halt, dass ich so klein war. Die anderen aus meinem Team, wirken älter, durch ihre Masse und vor allem ihrer Größe. Mich nahm nie jemand für voll, es war oft zum Heulen. Sender wollte gerade etwas sagen, da räusperte sich Runge. Schaute mir, der ihm völlig unbekannten und noch so jungen Kollegin, die hier eine gute Idee eingebracht hatte, aufmunternd ins Gesicht.

"Es könnte an ihren logischen Gedankengang etwas dran sein. Wie hoch denken sie, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie unbemerkt in das Gebäude kommen, Leutnant Kahlyn."

Ich holte tief Luft und sagte einen Satz, der mir im gleichen Augenblick leid tat. Der leider aber den Tatsache entsprach. "Sir, das kann ich ihnen nicht sagen, Sir. Mit meiner Truppe hätte ich gesagt, hundert Prozent, Sir. Aber das ist mein erster Einsatz mit dem SEK 61, Sir. Dadurch kenne ich meine Kollegen noch nicht und weiß nicht, wie ich ihr Können einschätzen soll, Sir. Es tut mir leid, Sir", mein Blick wanderte zu John und den anderen. Hoffte, dass ich sie mir nicht zum Feind gemacht hatte. Zu meinem Erstaunen, nickten sie und das machte mir Mut. "Sir, aber ich denke wir haben gute Chancen, Sir. Wenn mir Major Sender erlaubt, an erster Stelle zu gehen und die Aufklärung zu übernehmen, Sir. Ich kann mich ohne Licht in der Kanalisation bewegen, Sir. Etwas, das in diesem Fall, von großem Vorteil wäre, Sir", beende ich meine Ausführungen.

Runge sah mich nochmal genau an. "Leutnant Kahlyn, wie viele Einsätze haben sie in der Art schon geleitet, mit ihrer alten Truppe?"

"Sir, wie meinen sie das, Sir", antwortete ich instinktiv mit einer Gegenfrage, weil ich nicht wusste, auf was er mit seiner Fragen hinzielte.

"Es ist doch nicht ihr erster Einsatz, dieser Art. Wie viele Einsätze leiteten sie im letzten Jahr und wie viele davon hatten Erfolg."

Ach das wollte er wissen, verlegen sah ich zu meinen Fingern. "Sir, in meinem letzten Kommando, leitete ich inoffiziell jeden Einsatz, seit dreizehn Jahren, Sir. Offiziell bin ich seit fünf Jahren Teamleiter gewesen, Sir, wenn ich mich recht entsinne, waren es in den letzten fünf Jahren, weit über sechshundert Einsätze, Sir. Verzeihen sie bitte, Sir, ich habe sie nie gezählt, Sir. Alle waren erfolgreich, Sir, wir haben alle Täter gefasst, Sir. Ich weiß allerdings genau, Sir, dass es siebenundneunzig Geiselnahmen waren, Sir. In denen wir neunzig Geiseln erfolgreich befreit haben, Sir. Leider haben wir fünfzehn Geiseln nicht lebend befreien können, Sir. Diese waren, wie wir im Nachhinein feststellten mussten, schon Tage tot, bis auf eine Ausnahme, Sir", gab ich wahrheitsgetreu Auskunft. "Sir, darf ich vielleicht noch einen Vorschlag machen, Sir?"

Als dieser nickte, fuhr ich fort.

"Sir. Wenn sie auf Nummer sicher gehen wollen, Sir, schicken sie zwei kleinere Einheiten durch die anderen beiden Kanalisationen, Sir, die können dann verhindern, dass einzelne Geiselnehmer ausbrechen, Sir."

Runge schüttelte fassungslos den Kopf und sah mich eigenartig an. Raufte sich immer wieder die Haare und wandte sich schließlich Major Sender zu. Kurz besprachen sich beide miteinander.

"Sie können sich setzen Leutnant. Danke für ihre Ausführungen."

Erleichtert setzte ich mich hin, froh der ganzen Aufmerksamkeit entronnen zu sein. John klopfte mir auf die Schulter, flüsterte mir zu. ,

"Gut gemacht Kahlyn."

Runge diskutierte noch einmal kurz mit Sender, darauf hin meinte der Polizeirat. "In Ordnung Leute, ihr esst erst einmal was. Es ist jetzt genau 19 Uhr 3, punkt 20 Uhr möchte ich euch alle wieder hier sehen. In der Zwischenzeit, beratschlage ich mit dem Planungsteam, unsere weitere Vorgehensweise und die nötige Gruppenaufteilung. Das war es erst einmal, also bis in einer knappen Stunde", nickte allen Anwesenden zu und verschwand mit Sender und der Familie Tengler, aus dem Raum.

 

Das was in dem Moment geschah, als die Vier den Raum verlassen hatten, war für mich total verblüffend. Ich war darauf vorbereitet, dass man mich zu Schnecke machen würde, weil ich mich durch eine unbedachte Reaktion, in den Vordergrund geschoben hatte. Aber alle aus dem Team, waren meiner Meinung und froh darüber, dass ich diesen Vorschlag gemacht hatte. Da dieser Einwand, den ich vorgebracht hatte, den Einsatz sehr verkürzen und uns im Endeffekt viel Zeit und langwierige Suchaktionen ersparen würde. Nur einige Kollegen, aus der anderen Gruppe, waren scheinbar nicht dieser Meinung. Ein sehr schlanker etwa hundertachtundneunzig Zentimeter großer Kollege, aus dem mir fremden SEK-Team, baute sich vor mir auf und musste mich unbedingt anmachen.

"Sag mal, weshalb bekommst du hier eigentlich, eine Extrawurst?", provozierte er mich bissig.

Vor allem in einem sehr ungezogen und barschen Ton. John wollte mich beschützen. Ich schob ihn einfach hinter mich. Ich musste das allein regeln, sonst würde ich nie Ruhe bekommen. Diese Probleme bekam ich jedes Mal, wenn wir auf fremde Teams stießen. Außerdem waren wir auf solche Dinge geschult und wussten, wie wir uns zu verhalten hatten, damit es nicht zu Eskalation kam.

"Sir, wie meinen sie das, Sir?", wandte ich mich direkt an den Kollegen.

An John bat ich in einem leisen freundlichen Ton. "Lass ihn doch fragen. Ich werde schon fertig mit ihm, John."

Diese Situation, hatte ich so oft mit meinen Freunden erlebt. So fiel es mir gar nicht schwer, normal mit John zu sprechen. John wollte davon nichts hören, er kannte seinen Kollegen zu gut. Der so mancher Truppe, schon das Leben schwer gemacht hatte. "Kahlyn, du bist verletzt, lass dich nicht mit Raphael ein."

Knapp und in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, antwortete ich John. "Danke John, für die Information. Jetzt weiß ich woran ich bin, das schaffe ich aber alleine", drehte mich zu meinen neuen Kollegen um und bat sie. "Ich würde euch aber bitten, ein Stück zurück zu gehen. Damit ich nicht ausversehen jemanden von Euch verletze."

John musste, ob er wollte oder nicht anfangen zu grinsen. Obwohl ihm nicht wohl war bei dem Gedanken. Auf meine Anweisung reagierend, ging er einen Schritt zurück und machte den andern ein Zeichen, ihm zu folgen. Irgendwie wusste er bei mir nie so richtig, woran er war. Zu oft hatte ich ihn, in den letzten zwei Tagen überrascht. Zu oft hatte mich John unterschätzt. Er behielt Raphael allerding im Auge, um mir im Notfall zu Hilfe zu eilen. Das würde er nicht brauchen. Nach wenigen Sekunden bemerkte John, dass ich alles im Griff hatte und entspannte sich Zusehens. Zugegebener maßen, genoss er und die Kollegen vom Senders Team, das Schauspiel das ich mit Raphael abzog, ohne ihm zu nahe zu treten oder unhöflich zu werden. Er gönnte Raphael diese kleine Lektion, wie er mir hinterher gestand. John merkte schnell, wie auch die anderen vom Sender-Team, dass ich nicht das erste Mal dieses Problem mit jemand aus einem anderen SEK-Team hatte. Man merkte es daran, wie ich mit meinem Brillen-Probleme umging.

Einige Kollegen dieser Teams dachten, sie sind etwas Besseres, um das zu unterstreichen, trugen sie gern Sonnenbrillen und gaben sich gern überheblich. Wenn man näher hinschaute, überspielten sie damit oft nur die eigenen Unfähigkeit oder Unsicherheit. Das brachte den Sonnenbrillenträgern schnell einen schlechten Ruf ein. Viele Teams, wie auch dieses, das sich hier im Raum aufhielt, reagierten aus diesem Grund oft ungehalten auf unser Aussehen.

Brillen, das wusste ich schon sehr lange, waren in dieser Art nur uns gestattet, weil wir sie, wegen unseren Augen, wirklich brauchten. Kein anderer durfte im Dienst eine Sonnenbrille tragen, das gab oft Anlass zu Streit. Ich konnte mit solchen Leuten gut umgehen, wir waren auf solche Situationen, jahrelang geschult wurden und hatten leider mehr als genug Erfahrungen darin. Als der Kollege nicht antworten wollte, wiederhole ich meine Frage nochmals.

"Sir, wie meinen sie das, Sir? Was meinen sie mit Extrawurst, Sir?"

Er konnte nun nicht mehr zurück, hatte er sich ein wenig zu weit vorgewagt. "Setzt die verdammte Sonnenbrille ab. Keiner von uns, darf im Dienst eine Sonnenbrille tragen. Warum also Du?"

Jetzt spulte ich das Programm ab, das man uns in der Schule beigebracht hatte. "Genosse Unterleutnant, was erlauben sie sich eigentlich…", sagte ich mit sehr leisen und bestimmenden Stimme. "…mich zu duzen. Wer hat ihnen das gestattet? Genosse Unterleutnant?", wies ich den mir unbekannten Kollegen in ruhigen, aber bestimmten Ton, vor seiner gesamten Mannschaft zu Recht.

Ich hatte schon, als er auf mich zu gekommen war, gesehen dass er im Rang unter mir stand. Das war ein guter Aufhänger, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken und so einer tätlichen Auseinandersetzung, entgegen zu wirken.

"Das zum Ersten, zum Zweiten", in einem noch leiseren, sanfteren Ton, so, als wenn man einem ungezogenen Kind etwas erklären würde, begann ich ihn über die Rangordnung zu erklären.

Dabei beobachtete ich, jede seiner Bewegungen genau. Oft kam es trotzdem, zu tätlichen Auseinandersetzungen, dass man allerdings eher als eine Art Kräftemessen und Abchecken der Fähigkeiten des anderen Teams nennen konnte. Die oft nicht ernst gemeint waren und niemanden zum Schaden gereichten. Solchen Konfrontationen, waren eigentlich ein pure Spielereien, der Teams untereinander.

Den Jungs vom Team Senders, fiel regelrecht das Lachen aus dem Gesicht. Etwas, dass mir gar nicht gefiel, aber darauf hatte ich jetzt keinen Einfluss. Ich wolle nur einen Kampf vermeiden, auch wenn er nur eine Art Spiel war. Denn schon einige Male, waren uns fremde Kollegen, in den letzten beiden Jahren, bei solchen kleinen Machtkämpfen, durch meine Leute oder mich verletzt wurden. Das musste nun wirklich nicht sein und deshalb wollte ich das unbedingt verhindern. Schließlich waren das hier unsere Kollegen und keine Feinde. Deshalb erklärte ich ihm die Rangfolge, leise und freundlich.

"Genosse Unterleutnant, ich glaube sie stehen in der Dienstrangfolge, weit unter dem Rang eines Majors oder Polizeirates. Oder irre ich mich da, Genosse Unterleutnant? Sprechen sie", dieser war so geschockt von meinem ruhigen Auftreten, dass er rumstottert.

"Wa … Was hat das mit deiner Brille zu tun? Na ... natürlich, bin ich unter dem Rang eines Majors oder Polizeirates."

Der Unterleutnant sah mich verwirrt und völlig desorientiert an. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem, meinem Auftreten.

Ich schaute ihn gerade ins Gesicht. "Das heißt, jawohl, Genossin Leutnant", wies ich ihn nochmals zurecht, in einen leisen jedoch keinen Widerspruch zulassenden Ton.

Ganz brav kam von seiner Seite. "Jawohl, Genossin Leutnant."

Ich nickte wohl wollend. Ignorierte einfach seine Frage komplett.

"Genauso ist es Genosse Unterleutnant. Der Polizeirat, sowie mein Vorgesetzter, Major Sender, haben mir beide befohlen, die Brille aufzulassen. Denken sie nicht, dass die beide höherrangigen Offiziere über wesentlich mehr Informationen verfügen, als sie, Genosse Unterleutnant? Vor allem, dass sie auf dieser Grundlage, mir mit Recht das Tragens einer Sonnenbrille während des Dienstes gestatten können, als sie Genosse Unterleutnant? Oder wissen sie über diese Dinge mehr als der Genosse Polizeirat und Major Sender? Sprechen sie Genosse Unterleutnant?" Diesmal baute ich mich provozierend, vor ihm auf.

"Nein das weiß ich nicht, Genossin Leutnant."

Ich hatte es geschafft ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, wie es unser Doko immer so schön nannte. "Ihnen ist also bewusst, Genosse Unterleutnant, dass sie mich mit der Aufforderung die Brille abzusetzen, offen dazu auffordert haben, gegen einen direkten Befehl, zweier meiner Vorgesetzen zu verstoßen. Sprechen sie Genosse Unterleutnant", befahl ich ihm leise.

Der Unterleutnant starrte mich fassungslos an, der sich dieser Tatsache scheinbar gar nicht bewusst war. Er war dermaßen sprachlos, dass er im Moment gar nicht mehr wusste, was er darauf sagen sollte. Deshalb kam nur ein ganz braver Satz von ihm.

"Jawohl, Genossin Leutnant."

"Haben wir damit ihr großes Problem gelöst, Genosse Unterleutnant? Oder haben sie an meiner Brille immer noch etwas auszusetzen?"

Ganz brav kam von dessen Seite die Antwort. "Nein, Genossin Leutnant."

"Dann können Sie wegtreten, Genosse Unterleutnant. Ich hoffe, wir können nachher trotzdem noch gut zusammenarbeiten. Ansonsten müsste ich ihrem Vorgesetzten von ihren Disziplinverstoß informieren und darüber, dass sie an diesen Einsatz nicht teilnehmen können. Wegtreten, Genosse Unterleutnant", gab ich ihm den Befehl, dass er verschwinden konnte. Innerlich schmiss ich mich immer weg vor Lachen, weil es jedes Mal das Gleiche war, mit diesen Großmäulern.

Raphael nickte und ging völlig durcheinander zu seiner Truppe. Noch nie hatte ihn jemand auf diese Weise herunter geputzt oder behandelt. Schon gar nicht so ein naseweiser Frischling, wie ich es in seinen Augen bestimmt war. Raphael fiel einfach, keine bessere Bezeichnung für die neue Kollegin ein. Kopfschüttelnd stellte er sich zu seinem Team.

Die beiden Teams standen sich jetzt gegenseitig belauernd gegenüber, so dass die Luft richtig knisterte vor Spannung. Ich wusste es war noch nicht vorbei. Sein Team ließ sich das nicht gefallen. Das kannte ich schon, zur Genüge. Es war nicht das erste Mal, dass die Teams sich gegenseitig hochschaukelten. Es gab in Raphaels Team einen Kollegen, der im Rang über mir stand. Es dauerte keine fünfzehn Sekunden, da kam dessen Reaktion. Ein Oberleutnant holte für alle sichtbar tief Luft und schmiss seinem Unterleutnant einen wütenden Blick zu, der mehr sagte, als seine Worte. Dann kam er wütend auf mich zu.

"Was fällt ihnen eigentlich ein Leutnant. Einen meiner Männer, ohne Grund, zur Schnecke zu machen", griff er mich jetzt mit Worten an.

Ich stellte mich in Habachtstellung hin und sagte gar nichts. Denn er hatte mir das Sprechen nicht erlaubt. Die Hände auf den Rücken, den Blick gesenkt, stand ich vor dem Oberleutnant, hatte meine gesamte Muskulatur angespannt und schwieg.

"Ich hab sie etwas gefragt. Leutnant", fuhr er mich jetzt an. "Würden sie mir mal antworten? Gerade hatten sie doch auch die große Klappe. Reden sie gefälligst mit mir, wenn ich mit ihnen spreche", pulverte er mich wütend an, weil ich schwieg.

Ich hob etwas den Kopf und sah an ihn vorbei, antwortete im ruhigen und freundlichen Ton.

"Sir, natürlich rede ich mit ihnen, Sir. Wenn sie mir das Sprechen erlauben, Sir", wieder senkte ich den Blick, ohne auf dessen Frage einzugehen.

Langsam wurde er richtig wütend. "Dann erklären sie mir, warum sie meine Leute ohne Grund runterputzen. Sprechen sie Leutnant."

Es war schon immer eigenartig, wie schnell die Offiziere begriffen, dass ich ohne Sprecherlaubnis nicht antworten würde. Ich hob also den Blick, sah so wie ich es immer machte, an dem Oberleutnant vorbei.

"Sir, ich habe ihre Leute nicht heruntergeputzt, Sir. So etwas würde ich nie machen und diese Frechheit würde ich mir niemals herausnehmen, Sir. Ich habe ihren Kollegen nur darauf hingewiesen, Sir. Dass er mich nicht zu duzen hat, Sir. Weder habe ich mit ihm gekämpft, noch habe ich mit ihm getrunken, Sir. Das mache ich auch nicht, Sir. Der andere Punkt den ich ihm erklären musste, war folgender, Sir. Dass es nämlich eine bestehende und für alle Einheiten geltende Befehlsfolge gibt, die eingehalten werden muss, damit kein Chaos ausbricht und diese besagt, Sir, wie sie wissen, Sir: Dass man bei unklaren Befehlen, dem Befehl des Ranghöheren in der Befehlslinie, Folge zu leisten hat, Sir. Geben sie mir da Recht, Sir?"

Offen schaute ich dem Ranghöheren ins Gesicht. Der konnte, egal wie es ihn ihm kochte, nichts dagegen sagen. Deshalb nickte er. Trotzdem versuchte er, für sein Team zu retten, was noch zu retten war. In dem er mir jetzt befahl die Brille abzusetzen.

"In Ordnung, dann befehle ich es ihnen jetzt. Leutnant, setzten sie endlich diese verdammte Brille ab. In unseren Teams ist es niemanden gestattet, eine Sonnenbrille zu tragen. Runter mit dem Teil und das ein bissel Dalli. Ich befehle es ihnen", gab er mir den Befehl, in einem herrischen, genervten Ton, der mich sehr an den des Oberstleutnant Mayer erinnerte.

Langsam brachte mich die ganze Sachlage in Rage. Etwas, dass mir immer wieder passierte, bei diesen Kräftemessen passierte. Ich holte tief Luft, um mich zu beruhigen. Dem Oberleutnant gab, dieses Atemschöpfen, das Oberwasser, weil er dachte, dass er mich verunsichert hätte. Ich erklärte ihm, jetzt noch einmal das Gleiche, was ich seinem Kollegen schon erklärt hatte.

"Sir, darf ich offen sprechen, Sir?", bat ich ihn um die Erlaubnis, meine Meinung sagen zu dürfen.

Als der Oberleutnant nickte, deshalb fuhr ich fort:

"Sir, ich möchte ja nicht unverschämt sein, Sir. Verzeihen sie mir bitte, Sir, wenn ich auch sie darauf aufmerksam machen muss, dass ein Major und auch ein Polizeirat im Rang über ihnen stehen, Sir. Verzeihen sie mir bitte, diese Unverschämtheit, Sir. Mein Major, sowie der den Einsatz leitende und anwesende Polizeirat, gaben mir beide einen sehr eindeutigen Befehl, Sir. Dieser Befehl besagte, die Brille aufgesetzt zu lassen, Sir. Wenn ich ihren Befehl jetzt nachkomme, Sir, auch wenn sie im Rang über mir stehen, Sir, da werden sie mir doch Recht geben, Sir. Verstoße ich eindeutig, gegen die Befehle zweier ranghöheren Offiziere, Sir. So leid mir das tut und so gern ich ihrem Befehl nachkommen würde, Sir. Ich werde es nicht machen, weil ich es nicht darf und auch nicht kann, Sir. Ich habe noch nie in meinem Leben, gegen einen eindeutigen Befehl verstoßen, Sir, und ich werde wegen ihnen, damit nicht anfangen, SIR", betont sprach ich das letzte Sir sehr bewusst aus, um ihn klar zu machen, dass er mich langsam aber sicher nervte. Bei dieser Zurechtweisung, um etwas anderes handelte es sich dabei nicht, sprach ich mit einer sehr leisen, aber festen Stimme und schaute ihm wieder fest ins Gesicht.

Hinter mir, fing das gesamte Team von Major Sender an, schallend zu lachen. Sie amüsierten sich köstlich, über das, was ich hier mit dem Kollegen abzog. Ich fand daran gar nichts, worüber man lachen konnte. Es war eine Art Gefecht mit Worten und der mit den besseren Nerven gewann. Etwas, mit dem wir in der Schule, immer wieder zu tun bekamen. Weil wir so jung, vor allem so anders waren, als die anderen SEK-Teams. Erst nach dem Kampf, zollten die meisten Teams uns Respekt, weil sie dann wussten, dass wir gut waren. Außerdem provozierte dieses Lachen genau das, was ich zu verhindern versuchte. Nämlich eine tätliche Auseinandersetzung. Ich drehte mich also zu John um, schüttelte leicht den Kopf. Meine Leute verstummten, auf Johns leisen Befehl hin, ruhig zu sein.

In dem Moment als ich mich zurückdrehte, sah ich nur noch im Augenwinkel, wie der Oberleutnant nach meiner Brille greifen wollte, um sie mir diese vom Gesicht zu ziehen. So etwas Hinterhältiges, hasste ich wie die Pest. Er wollte unbedingt als Sieger hervorgehen und nutzte den kurzen Moment, in dem ich weg sah, um mich anzugreifen. Das Wegnehmen der Brille wertete ich als Angriff, auf meine persönlichen Rechte, darauf reagierte ich stets sehr heftig. Mit Worten konnte er mich nicht mehr schlagen, da ich im Recht war. Also versuchte er einfach, das, was er erreichen wollte, in Tat um zu setzen. Ein Fehler den er, nur wenige Sekunden später bereuen würde.

Es ging alles so schnell, das der Oberleutnant gar nicht wusste, wie er eigentlich auf den Boden kam. Mit meinen, in sechszehn Jahren antrainierten schnellen Reflexen, griff ich mit meiner linken Hand nach seiner Rechten, der Hand die meine Brille greifen wollte. Mit der rechten Hand fasste ich ihn durch den Schritt, um den rechten Oberschenkel und hob den gut zwanzig Zentimeter größeren Oberleutnant auf meine Schulter, warf ihn einem sehr heftig ausgeführten Schulterrad auf den Boden. Es gab einen mächtigen Knall, als der Oberleutnant auf dem Boden aufschlug. Denn ich hatte meine ganze Wut in den Wurf gelegt, den Schwung ausnutzend und die Sekunden, die er nach dem Aufschlagen brauchte, um wieder Luft zu bekommen, drehte ich den Oberleutnant weiter auf den Bauch. Dort fixierte ich ihn und drehte ihm sehr schmerzhaft die Arme auf den Rücken. Leicht, aber bestimmt, stemmte ich ihm mein Knie ins Kreuz, so dass er keinerlei Möglichkeit mehr hatte, sich aus meinem Griff zu lösen. Griff ihn von hinten in die Augenhöhlen und zog sein Genick bis kurz vor dem Bruch zurück. Der durch meine Aktion völlig überraschte Oberleutnant, lag still und ohne sich zu wehren auf dem Boden und japste schwer nach Luft, denn dieser Griff tat höllisch weh. Hinter mir ging ein schallendes Gelächter los, zu meiner Überraschung auch auf der Seite des Teams des Oberleutnants.

John kam lachend auf mich zu. "Ist schon gut Kahlyn. Ich glaube er hat es begriffen. Lass ihn los bitte. Wir brauchen Detlef noch."

Ich schaute John an, der nickte mir lächelnd zu. Ich löste also meinen Griff, aus seinen Augenhöhlen und ließ seinen Arm los. Der Oberleutnant drehte sich kopfschüttelnd auf den Rücken. Ich hielt ihm die Hand hin, um ihn aufzuhelfen. Darauf gefasst, dass er sich an mir rächt. Aber nichts dergleichen geschah. Er ergriff meine Hand und ließ sich von mir wieder auf die Füße helfen. Auf den Beinen stehend, rieb er sich erst das schmerzende Handgelenk und dann, das Gesicht. Brauchte erst einmal einige Sekunden, eher er wieder reden konnte. Wieder schüttelte er fassungslos den Kopf, dann sah er mich einen Moment schweigend an.

"Eins zu null für dich. Du bist gut Kleine, das hätte ich dir jetzt nicht zugetraut. Ich dachte echt, du klopfst, nur große Sprüche, aber du hast echt was darauf. So hat mich lange keiner mehr gelegt, mein lieber Scholli", sprach er, nun auch in das Lachen seiner Leute einstimmend.

"Los Leute, gehen wir schnell noch was essen. Weiß der Teufel, wie lange der Einsatz noch geht", gab er einen Befehl an sein Team und ging in Richtung Tür.

Ich verstand gar nichts mehr. Verwirrt drehte ich mich zu John um, der sah mich lachend an.

"Schon gut, Kahlyn. Detlef ist ein ganz Lieber, der wollte nur den Ruf seinen Teams retten. Du wirst dich mit ihm gut verstehen. Kannst du mir einen Gefallen tun und zeigst Detlef deine Augen, dann hast du nie wieder Probleme, wegen deiner Brille."

Ich nickte, warum nicht. Wenn es dadurch weniger Spannungen gab und der Zusammenarbeit der Teams zugutekam.

"Detlef, komm bitte noch mal her", rief John dem Kollegen hinterher.

Der drehte sich noch einmal um, kam wieder auf uns zu und sah uns fragend an.

"Damit wir das hier ein für alle Male klären. Kahlyn muss die Brille tragen. Sie hat andere Augen als wir. Deshalb muss sie diese schützen, das Licht tut ihren Augen weh. Darum darf sie nicht nur, sondern MUSS sogar die Brille tragen. Kahlyn, bitte setze mal kurz die Brille ab."

Es geschah das, was immer passierte, wenn wir unsere Brillen abnahmen, der Oberleutnant ging automatisch einen Schritt zurück.

"Tut mir leid Kleines, das wusste ich nicht. Aus meinem Team ärgert dich keiner mehr, versprochen."

Der Oberleutnant wollte mir auf die Schulter klopfen, doch ich reagierte, wie immer instinktiv und fast gleichzeitig mit John. Der sah, was Detlef vorhatte und kannte ja nun meine Reflexe. So wie ich mich wegdrehte, fing er Detlef auf, der aus dem Gleichgewicht geriet.

"Nicht so stürmisch Detlef, du musst nicht gleich, vor Kahlyn auf die Knie fallen", neckte er, den verdutzt dreinschauenden Detlef. "Tja Detlef, bei Kahlyn musst du dich an solche Reflexe gewöhnen. Auch ich lag ihr schon zweimal zu Füßen. Guck nicht so, die ist gut, glaube mir. Ach, und was du vielleicht noch wissen solltest. Dem Mäuschen wurden gestern drei Rippen gebrochen und drei sind angebrochen. Sei froh, dass sie nicht gesund ist. Wir kennen sie auch noch nicht richtig, denn sie gehört erst seit drei Tagen zu unserem Team. Aber glaube mir, wir haben Respekt vor ihr. Das solltet ihr auch haben. Legt ihr euch mit ihr an, dann legt ihr euch mit mir an", breit grinste er Detlef an.

"Ist schon gut John, keiner legt sich freiwillig mit dir an. Ich glaube fast, du hast Konkurrenz bekommen."

John lachte schallend. "Das glaube ich auch. Aber das ist nicht schlimm, dann werde ich noch besser."

Mit dieser Feststellung von John, war die Sache vom Tisch. Lachend gingen wir alle nach draußen, wo alle etwas zu essen bekamen. Alle außer mir. Fran hatte nicht dran gedacht, meine Spezialnahrung einzustecken. Er entschuldigte sich bestimmt hundertmal bei mir. Versprach, dass so etwas nie wieder passieren würde. Ich glaubte ihm, am liebsten wäre er zurück gefahren, um meine Nahrung zu holen. Meine Beteuerung, dass ich nichts zu essen bräuchte, half einfach nicht. Er war tot unglücklich, weil er dachte, dass ich jetzt hungern musste. Ich setzte mich neben ihn und John, sah ihnen beim essen zu und trank dankbar die Tasse Kaffee.

"Sir, wissen sie", fing ich ganz vorsichtig von alleine an zu sprechen, bereit sofort still zu sein, wenn mich jemand darauf hinweisen würden. Aber alle kauten seelenruhig weiter, also sprach ich einfach weiter. "Sir, ich habe heute früh etwas gegessen. In der Schule bekamen wir manchmal zehn Tage, manchmal sogar noch länger nichts, wenn wir im Einsatz waren, Sir. Es ist, wie sie wissen nicht immer möglich etwas zu kochen und unsere Nahrung muss aufgekocht werden, anders ist sie nicht genießbar, Sir. Also machen sie sich nicht verrückt, weil ich jetzt mal nichts habe, ich verhungere ihnen nicht, Sir. Ich verspreche ihnen, wenn wir zurück sind, esse ich noch etwas, Sir."

Ich wollte Fran eigentlich beruhigen. Meine Worte waren wohl falsch gewählt. Jetzt sprang John aus dem Anzug.

"Was?", schrie er so laut, dass alle sich nach uns umdreht. "Sag mir das, das nicht wahr ist, Kahlyn bitte."

Was sollte ich sagen, ich hätte lügen müssen, wenn ich etwas anderes sagen würde. "John, beruhige dich bitte, setze dich wieder", versuchte ich den aufgebrachten neuen Freund zu beruhigen. "John, du bist doch auch nicht erst seit gestern dabei. Gab es nicht auch mal Situationen, in denen du keine warme Mahlzeit bekommen konntest?"

"Ja, klar, dann hatten wir aber Notrationen, Kahlyn."

Ich stimmte ihm zu. "Siehst du, genau das ist der Punkt. Ihr hattet Notrationen. Doko Jacob, also unser Schularzt, hat Jahre versucht, für uns Notrationen zu entwickeln und glaube mir der hat wirklich etwas auf den Kasten. Aber nichts von dem, was er entwickelt hat, haben wir je vertragen. Dieser Brei den wir essen, der wird, wenn er kalt ist wie Zement, damit kannst du jemanden erschlagen. Man kann ihn dann zermahlen und das Pulver wieder aufkochen, dann kann man ihn zur Not wieder essen. Aber man muss ihn aufkochen. Es geht einfach nicht, egal, was der Doko versucht hat, wenn er weichmachende Stoffe dazu gab, dann vertrugen wir es nicht mehr. Schwester Anna hatte sogar versucht so etwas wie Kekse zu backen, das gleiche. Was hätten sie also machen können. Wir bekamen meistens vor den Einsätzen reichlich zu essen. Wenn eine Möglichkeit da war, etwas zu kochen, dann bekamen wir auch etwas, nur leider ging das nicht immer. Es ist halt so. Aber unsere Körper sind sehr wiederstandfähig, es dauert achtzig Tage bis wir ernsthaft wegen Nahrungsmangel erkranken. Bei euch, sind das glaube ich nur einundzwanzig Tage. Also ich komme nicht um, wenn ich jetzt mal nicht esse", vorsichtig legte ich meine Hand auf seine Schulter, um ihn zu beruhigen.

"Trotzdem ist es unmenschlich."

Ich nickte. "Ich weiß. Uns zu erschaffen war unmenschlich, der Rest entwickelt sich aus dieser Tatsache."

John schnaufte wütend. "Wie kannst du nur so ruhig darüber sprechen, Kahlyn?"

Ich sah ihn offen ins Gesicht. "Was soll ich machen, ich bin seit sechzehn Jahren auf dieser Welt. Ich habe mehr Glück gehabt als viele der Anderen aus meinem Team. Ich lebe noch John. Ist es nicht das, was zählt?"

John konnte und wollte sich nicht beruhigen. Egal, was ich sagte. Deshalb änderte ich jetzt meinen Ton. Es war nicht gut, wenn er so aufgebracht in einen Kampf zog. In einem etwas lauteren, freundlichen, aber bestimmten Ton sagte ich jetzt zu ihm.

"John, wenn du dich jetzt nicht gleich beruhigst, werde ich Major Sender bitten, dich aus dem Team zu nehmen. In diesem aufgebrachten Zustand, bist du für dich und das gesamte Team eine Gefahr. Also fahre wieder runter und beruhige dich. Wir klären das, wenn wir wieder zu Hause sind. Hast du das jetzt verstanden John."

John sah mich ganz entsetzt an. Er begriff aber, dass ich Recht hatte. Vor allem, dass ich das, was ich ihm sagte auch ernst meinte.

"Du hast Recht Kahlyn, entschuldige, aber es ist trotz allem eine Schweinerei."

"Dann ist es gut, beruhige dich. Ich lasse euch jetzt lieber alleine, bevor ich noch mehr falsche Dinge sage. Bis gleich."

Ich stand auf, entfernte mich etwas von der Truppe. Ich wusste nicht, was ich falsch gemacht hatte. Aber ich begriff sehr wohl, dass ich für Johns Wut verantwortlich war. Das durfte nicht sein. Langsam ging ich auf den Eingang zu, um erst in das Gebäude, dann weiter in den Raum zu gehen, in dem die Einsatzbesprechung stattfinden sollte. Auf einmal kamen mir Sender und Runge entgegen.

 

"So alleine Kahlyn?" Sender musterte Kahlyn aufmerksam. "Warum bist du nicht bei den anderen?", setzte er eine zweite Frage nach.

Da sie nicht schon wieder etwas Falsches sagen wollte, erklärte sie kurz entschlossen. "Sir, ich suche eine Toilette, Sir."

Runge drehte sich um, zeigte hinter sich, auf eine Tür. Damit war sie aus dem Schneider.

"Sir, Danke Sir."

Runge sah das junge Mädchen grübelnd an. Kahlyn blieb stehen, wo sie war. Auch weil sie nicht wusste, wie sie sich verhalten sollte. Er hatte ihr nicht erlaubt zu gehen. Auf einmal lächelte er sie an.

"Kahlyn, ich hab dich schon mal gesehen, kann das sein?"

Irritiert schaute sie ihn an. Er hatte ihr nicht erlaubt zu antworten. Hilfesuchend blickte sie zu Sender, der nickte seiner Kollegin aufmunternd zu.

"Sir, ich glaube nicht, dass wir uns kennen, Sir. Sie kennen nur Raiko, eine Kollegen meines alten Teams, Sir."

Runge musterte das junge Mädchen wieder. Ungläubig sah er sie an. "Sag mal Kahlyn, würdest du für mich die Brille einmal kurz absetzen?"

Kahlyn nahm ohne zu zögern die Brille ab. Erstaunlicherweise zuckte er nicht zurück. Der Polizeirat hatte also wirklich schon einmal jemanden von den "Hundert" gesehen.

"Nein, du bist wirklich jemand anders. Denjenigen, den ich gesehen habe, hatte ganz andere Augen. Aber du siehst ihm unwahrscheinlich ähnlich. Kann es sein, dass du wesentlich kleiner bist als er?"

Wieder schaute die junge Frau erst zu Sender. Sie war sich unsicher, wann sie und mit wem sie sprechen durfte und wann nicht. Sender verdrehte die Augen.

"Kahlyn, für den Polizeirat, gilt das gleiche wie für mich. Du kannst immer und zu jeder Zeit sagen, was du denkst. Er wird dich, genau wie ich, nicht dazu auffordern zusprechen. Also rede nur Kleene."

Entschlossen setzte sie Brille wieder auf und schaute zu Runge, dieser nickte zustimmend. "Sir, es stimmt nicht ganz, er sieht anders aus als ich, Sir. Aber Schwester Anna und auch Dr. Jacob haben immer gesagt, wir sehen alle aus wie Zwillinge, Sir. Erst, wenn wir alle nebeneinander stehen, dann sieht man die kleinen und feinen Unterschiede, Sir. Raiko zum Beispiel hat braune Haar, ich dagegen Schwarze, Sir. Rashida hat rote Haare. Ganz gleich sind wir also nicht. Wir sehen uns allerdings sehr ähnlich, Sir. Außerdem bin ich circa dreißig Zentimeter kleiner als die anderen, Sir. Mich erkennt man immer, Sir", erklärte Kahlyn ihm verlegen.

Runge nickte und wandte sich einem wichtigeren Thema zu. "Dein Vortrag vorhin, hat mir sehr gut gefallen. Du hast Recht mit dem, was du sagtest. Mein Freund Rudi, ist zu den gleichen Erkenntnissen gekommen", auf einmal bildete sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen und er drehte sich in Richtung Sender. "Sag mal Rudi, du willst doch auch die Fähigkeiten, deines neuen Leutnants kennen lernen?"

Der Major stimmte Runge zu.

"Was hältst du von der Idee Rudi, ihr die Leitung des Einsatzes zu übertragen. Ich weiß aus ihren internen Unterlagen, dass Kahlyn eine hundertprozentige Erfolgsquote, vorzuweisen hat. Die könnten wir hier gut gebrauche, da ich verdammte Bauschmerzen, wegen der kleinen Tengler habe. Ich hab Angst, dass ihr bei dem Zugriff etwas zustößt."

Sender raufte sich verzweifelt die Haare, er war hin und her gerissen, zwischen Neugier und dem Bedürfnis, die junge Kollegin erst einmal besser kennen zu lernen. Vieles war ihm an ihr unklar. Ständig bekam er durch diese junge Frau Stoff zum Grübeln. Eins hatte er begriffen, sie war stark und sie war gut. Das hatte er heute beim Training gesehen. Sie lief trotz ihrer Verletzung, immer an der Spitze und machte das Nahkampftraining mit, als wenn nichts gewesen wäre. Trotzdem ging es ihr noch lange nicht gut. Das sah er gerade, an ihren Augen. Immer noch hatte sie tiefe dunkle Augenringe und gesund sah ihre Hautfarbe auch nicht gerade aus. Na gut, er wusste nicht wie sie wirklich aussah, aber Sender konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen graublassen Teint hatte. Eine gesunde Hautfarbe wirkte auf alle Fälle anders. Beim Laufen heute, war sie allerdings kein bisschen erschöpft. Selbst nach den fünf Stunden Training, wirkte sie noch völlig locker. Obwohl es ihr gestern total schlecht ging und er dachte, sie überlebt die Nacht nicht. Er holte tief Luft. Seit gestern wurde ihm stündlich klarer, dass er bei dieser jungen Frau komplett umdenken musste, sonst würde er mit ihr nicht zurechtkommen. Ständig überraschte sie ihn, mit irgendwelchen Reaktionen, die er so nicht erwartet hätte. Es würde schwer werden, in ihr einen ganz normalen Mitarbeiter zu sehen. Er musste bei ihr komplett andere Maßstäbe ansetzen.

Runge sah seinen Freund irritiert an, da dieser so lange schwieg, vor allem weil er so nachdenklich aussah. Senders beschloss sie zu fragen, schlussendlich musste sie selber entscheiden, ob sie sich das zu traute, denn er kannte sie viel zu wenig, um für sie Entscheidungen von solchen Ausmaß zu treffen. Sie war spitze, das hatte er heute beim Training wieder gesehen und sie war loyal, was wollte er mehr. Lange musterte er seine so junge Kollegin, atmete er kurz entschlossen und tief durch.

"Kahlyn, traust du dir zu, den Einsatz zu leiten? Denke bitte daran, du bist verletzt."

Erschrocken sah Runge Sender an. "Verletzt, wieso das denn?"

"Jo, das erkläre ich dir alles, wenn wir mal Zeit haben. Wichtig ist nur, ob Kahlyn sich zutraut den Einsatz zu leiten, dann will ich ihr Vertrauen. Also Kahlyn, was sagst du zu dem Vorschlag vom Polizeirat?"

"Sir, wenn sie möchten, werde ich den Einsatz, gern leiden, Sir. Keine Angst ich bin wieder fit, es geht mir gut, Sir."

Obwohl er sich vorgenommen hatte, bei ihr andere Maßstäbe anzusetzen, sah er sie doch zweifelnd an.

"Sir, fragen sie John. Sie selber haben gesehen, dass ich das Training locker geschafft habe, Sir. Sie sind genauso angeschlagen, wie ich, Sir."

Sender machte immer noch ein zweifelndes Gesicht. "Kahlyn, ein falscher Schlag und deine Rippen sind wieder durch, ob das dann noch mal gut ausgeht, ist die zweite Frage."

Sie nickte zustimmend. "Sir, das stimmt, aber es gibt da ein paar Tricks, wie ich in solchen Fällen, meine Rippen schütze kann, Sir. Das ist nicht das erste Mal, dass ich mit kaputten Rippen arbeiten muss, Sir. Ich zeige es ihnen, wenn sie möchten gleich, Sir. Außerdem werde ich ihnen auch noch eine Injektion geben, damit ihre Atembeschwerden weggehen, Sir."

Runge sah erschrocken auf seinen Freund. "Wieso hast du Atembeschwerden?"

"Nicht jetzt", wies Sender seinen Freund zurück, dabei sah er seine Kollegin irritiert an. Er hatte sich so angestrengt, dass keiner merkt, dass er wieder Probleme, beim Atmen hatte.

"Dir entgeht wohl nichts Kahlyn?", erkundigte er sich lächelnd, bei ihr.

"Sir, nein, Sir. Ich bin darauf trainiert, auf alles zu achten, Sir. Über fünfzehn Jahre bin ich jetzt für mein Team verantwortlich gewesen und für die Gesundheit meiner Freunde, da lernt man auf solche Kleinigkeiten zu achten, Sir. Ich sehe an der Bewegung ihres Brustkorbes, wie mühsam sie atmen, Sir. Vor allem, dass es ihnen Schmerzen bereitet und es ihnen dadurch nicht sehr gut geht, Sir. Wie sie wissen, bin ich ausgebildete Ärztin, wenn ich solche wichtigen Beschwerden nicht sehen würde, wäre ich eine schlechte Ärztin, Sir", erklärte sie völlig offen.

Erfreut stellte der Major fest, dass seine Kleene viel offener sprach als sonst. Darauf nickte Sender. Kahlyn drehte sich zackig um und ging in den Besprechungsraum. Der gleich links neben der Dreiergruppe lag, dort stand ihr Medi-Koffer. Lächelnd stellte Sender fest, dass dieses junge Mädchen, einfach, wie selbstverständlich, das Zepter in die Hand nahm und den Männern klare Anweisungen gab. Er bemerkte dadurch, dass sie viele Erfahrungen in der Teamführung hatte. Mit einer starken aber sanften Hand, schien sie ihr Team geführt zu haben. Eine Fähigkeit, die er nur ganz selten bei Teamleitern beobachtet hatte, die ihm aber sehr gut gefiel. Senders nahm sich vor, dieser jungen Frau alle Möglichkeiten einzuräumen, diese ihre Fähigkeiten entfalten zu können. Ihm wurde bewusst, dass er noch einiges an Überraschungen mit ihr erleben würde. Bestimmt, ging es ihm durch den Kopf, während er ihr folgte, würde er sie noch einige Male tüchtig unterschätzen. Es würde eine Weile dauern, bis er sie richtig kennen lernen konnte. Irgendwie, war ihm aber auch klar, dass sie sein Herz im Sturm erobert hatte. Er in ihr mehr sah, als nur eine Kollegin und Kampfgefährtin.

 

Schnurstracks ging ich auf den Besprechungsraum zu, betrat diesen. Ich lief auf meinen Platz und holte meinen Medi-Koffer, öffnete denselben und sah meinen Major bittend an.

"Sir, darf ich sie nochmals kurz untersuchen, Sir? Es ist wichtig, damit ich die richtige Dosierung wählen kann, Sir."

Der Major nickte und zog ohne zu diskutieren seine ballistische Schutzweste, das Overalloberteil, sowie das Unterhemd aus. Zügig wickelte ich ihm den Verband ab. Runge stöhnte erschrocken auf, als er den jetzt fast vollständig dunkelblau verfärbten Oberkörper, seines Freundes sah.

"Um Himmels Willen, wo bist du denn dagegen gerannt. Hast du einen Lkw geknutscht?"

Sender lachte unterdrückt. Man sah ihm genau an, dass er beim Lachen höllische Schmerzen hatte.

"Nee Jo, das habe ich nicht. Aber ich habe eine nette Streicheleinheit, dieses überaus freundlichen, netten, höfflichen und äußerst zärtlichen Oberstleutnant Mayers abbekommen. Ich erzähle dir das zu Hause einmal in Ruhe, das dauert jetzt zu lange."

Entsetzen stand auf dem Gesicht des Polizeirates. "Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?"

Sender sah seinen Freund an und winkte ab. In der Zwischenzeit untersuchte ich ihn gründlich und stellte fest, dass soweit alles in Ordnung war.

"Sir, ich trage ihnen jetzt eine Salbe auf, die gegen den Bluterguss ist, Sir. Dann ist das in zwei bis drei Tagen weg. Dazu muss ich ihnen aber wieder einen Verband anlegen, Sir. Sonst wirkt die Salbe nicht richtig, Sir. Wenn sie duschen waren, erinnern sie mich dran, dass ich sie ihnen nochmals auftrage, Sir. Dann wird ihre Atmung bald besser, Sir."

"Ja mach nur, Kahlyn."

Ich griff nach der Dose und trug die Hämlo-Salbe großzügig auf, das würde dem Major bald Linderung bringen. Im Anschluss, verband ich meinen Vorgesetzen und stützte so die Rippen ab. Zog drei Kolben mit B32 und eine doppelte Menge A13 auf und spritzte dem Major, auf die bei uns übliche Art in die Halsschlagader.

"Sir, das müsste ihnen für die nächsten vierundzwanzig Stunden etwas Linderung verschaffen, Sir."

"Danke", kam von Seiten Senders, sofort kleidete er sich wieder an.

Ich sah ihn eindringlich an. "Sir bitte, wenn es wieder schlimmer wird mit den Beschwerden, sagen sie es mir doch einfach, Sir. Dann spritze ich sie nach, sie müssen sich nicht quälen, das ist doch Quatsch, Sir. Sie sehen wie schnell ich ihnen Linderung verschaffen kann, Sir. Sie müssen auch keine Bedenken haben, Sir. Unsere Medikamente haben kaum Nebenwirkung, sie sind mit diesen Medikamenten vollkommen diensttauglich, Sir", ernst sah ich Sender an, bis dieser zustimmend nickte.

"Ist in Ordnung, das nächstemal sage ich eher Bescheid."

Zufrieden drehte ich mich zu meinem Koffer um und begann mich auszuziehen. Mir entging nicht, das Entsetzen vom Polizeirat. Dabei sah er nicht nur meinen vernarbten Oberkörper, der ebenfalls dunkelblau unterlaufen und stark bandgiert war, sondern als ich mich umdrehe, auch meinen Rücken. Ich wickelte den Verband ab, was mir ein weiteres Stöhnen von Seiten des Polizeirates einbrachte. Der fassungslos auf die große Operationsnarbe und meinen fast schwarzen Bauch sah. Abwechselnd blickte er auf mich und Rudi.

"Kahlyn, was…"

"Sir, bitte nicht jetzt, Sir", unterbrach ich ihn einfach.

Ich muss zügig und hintereinander arbeiten. Was ich vorhatte, musste ohne Verzögerung geschehen. Ich nahm eine der Tyronplatte, das ist eine Art Kunststoff, aus dem Koffer. Diese Platten konnte man zuschneiden, daher passten sie sich gut den Körperformen an. Wenn man sie mit einer Natriumchloridlösung bestrich, wurde sie innerhalb von nur zehn Sekunden hart. Aber behindert trotzallem die Bewegung nicht. Ich schnitt mir eine Platte so zurecht, dass sie die lädierten Rippen abgedeckt wurden und nahm mir die Flasche mit Natriumchloridlösung. Schnell wurde die Platte eingeweicht und als sie anfing warm zu werden, drückte ich sie auf die verletzte Stelle. Nach dem sie ausgehärtet war, fixierte ich sie mit Klebestreifen gegen Verrutschen. Nahm mir eine hautfarbene Binde aus dem Koffer und verband mich. Anschließend gab mir eine vierfache Dosis A13 und zog mich wieder an. Ich räumte meinen Koffer soweit auf, dass ich Sender und Runge, das Prinzip der Platte erklären konnte.

"Sir, wenn sie wollen erkläre ich ihnen, was es mit dieser Platte auf sich hat, Sir", sprach ich beide an, dies waren medizinische Fragen, da durfte ich ohne Erlaubnis reden.

"Gern", bestätigten mir Runge und Sender, gleichzeitig ihr Interesse, die neugierig die Platten betrachteten.

"Sir, das hier ist Tyron, eine Art Kunststoff, welches durch die Verbindung mit Natriumchlorid zu einer festen harte Masse wird, ähnlich wie Gips, aber es flexibler. Doko Jacob hat das entwickelt. Schauen sie selber."

Ich hielt beiden ein kleines Stück hin, damit sie es in die Hand nehmen und begutachten konnten. Beide untersuchten es sehr genau, dann gab ich etwas Lösung darauf, innerhalb von zehn Sekunden, wurde es hart wie Stahl. Trotzdem fühlte es sich von einer Seite weich an.

"Super, das ist ja ganz leicht", bemerkte Runge.

"Sir ja, da haben sie recht, Sir. Vor allem schauen sie. Es ist sehr dünn, Sir. Ich habe in meinem Koffer genug Material, um zehn Leute komplett einzugipsen, Sir. Dazu brauche ich nur etwas Natriumchlorid, was ich auch immer reichlich dabei habe, Sir. So kann ich bei einem Kampf, jemanden das Bein richten und einschienen. So dass der Verletzte laufen und vor allem weiterkämpfen kann, als wäre nichts geschehen, Sir. Das dauert, wie sie gesehen haben nur wenige Sekunden, Sir. Die Schmerzen können wir immer wegspritzen, Sir."

"Interessant, ich muss mich mit diesem Dr. Jacob unbedingt mal unterhalten."

Ich nickte, auch weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte. Schnell räumte ich den Rest weg und zog mich fertig an. Wartete auf weitere Anweisungen.

"Also in Ordnung Kahlyn, du übernimmst die Einsatzleitung. Aber mache dich darauf gefasst, dass das andere Team damit nicht einverstanden sein wird. Da wirst du wohl erst einmal, gegen etwas Widerstand kämpfen müssen. Die kennen dich ja nicht."

Ich ahnte schon, was das wieder für ein harter Kampf werden würde. Diesmal sprach ich ohne Abzuwarten. Ich hatte langsam die Nase voll, von den ständigen Ermahnungen meines Majors.

"Sir, das bekomme ich schon hin, Sir. Ich bin diesen Machtkampf gewohnt, Sir. Wissen sie, man nimmt mich meistens erst nach dem Kampf ernst, Sir. Aber ich denke, dass wird diesmal nicht ganz so schlimm werden, wie sie denken, Sir. Wir haben vorhin schon einiges geklärt, Sir."

Sender fing schallend an zu lachen, er konnte sich vorstellen, was das andere Team versucht hatte. "Wie ist es ausgegangen, Kahlyn?", erkundigte er sich, immer noch lachend.

"Sir, wie meinen sie das, Sir?", hinterfragte ich neugierig, weil ich wieder einmal nicht begreife, was er von mir wollte.

"Wer lag auf den Boden, du oder Raphael?"

Jetzt lachte auch noch der Polizeirat, der sich wohl vorstellte, wie ich auf dem Boden lag.

Irritiert schüttelte ich den Kopf. "Sir, weder Raphael, noch ich lagen auf dem Boden, nur ein gewisser Detlef, Sir. Er hat den Fehler gemacht und wollte mir meine Brille abnehmen, Sir. Aber es ist ihm nichts passiert, Sir", setzte ich nach.

Jetzt lachten beide noch mehr. Ich wurde immer unsicherer, weil ich nicht verstand, was dies zu bedeuten hatte.

"Kahlyn, das haste gut gemacht", schnaufte Sender sich die Rippen haltend, die ihm beim Lachen weh taten.

"Na dann habt ihr ja die Fronten geklärt", brachte zu meiner Überraschung, Runge mühsam nach Luft japsend hervor, weil er nicht mit Lachen aufhören konnte.

Ich schaute abwechselnd von Runge zu Sender, begriff gar nichts mehr. Wieso die Fronten geklärt, ging es mir durch den Kopf.

"Ach Kahlyn, das verstehst du schon irgendwann. Ist schon in Ordnung. Die Jungs müssen mir das dann, genau erzählen."

"Mir auch", erklärte Runge, immer noch lachend.

Zielstrebig drehten sich die beiden Offiziere um und gingen nach draußen. Ich setzte mich hin und grübelte, was das alles bedeuten sollte. Weil ich zu keinen, mir akzeptablen Ergebnis kam, nahm ich mir vor John nach dem Einsatz zu fragen.

Da ich die Einsatzleitung übernehmen sollte, ging ich noch einmal zu den Karten und studierte die Lage genau. Zusammen mit den Informationen, die uns Runge bei der Einsatzbesprechung vorhin gab, machte ich mir einen Einsatzplan zurecht. Dann zeichnete ich Skizzen von den Kanälen, die würde ich dann brauchen.

 

Es war jetzt 19 Uhr 56, nach und nach kamen alle Kollegen wieder herein, setzten sich auf ihren Platz. John knuffte mich am Arm, als ich mich neben ihn setzte.

"Alles klar Kahlyn", wollte er wissen.

Ich nickte verwundert und sah ich ihn verwirrt an.

In seinen Augen war ein eigenartiges Glitzern, das ich noch nie gesehen hatte. Genau musterte ich meinen neuen Freund und Kollegen, der sich, so schien es jedenfalls, wieder beruhigt zu hatte. Seine Atmung ging wieder normal und nicht so verkrampft wie vorhin. Auch sah er wieder viel entspannter aus, hatte sogar Lachfältchen um die Augen. So wie Doko und die Dika sie hatten, wenn herzhaft lachten.

"John, bei dir auch alles klar? Hast du dich wieder beruhigt?", fragte ich ihn leise.

John nickte.

Das war gut, auf John wollte ich nicht gern verzichten. Kurz darauf, traten Runge und Sender den Raum. Die Familie Tengler, kam zum Glück nicht herein. Wahrscheinlich hatte man sie nach Hause gebracht oder ließ sie in einem anderen Raum warten, damit sie nicht den ganzen Trubel mitbekamen. Erleichtert atmete ich auf. Es war nicht gut, wenn Angehörige bei solchen Unternehmungen, vor Ort waren.

Runge ergriff das Wort. "So Leute, jetzt mal zu dem Einsatz. Nach dem, was Leutnant Kahlyn vorhin gesagt hat, haben wir uns noch mal eingehende besprochen. Ich denke ihre Schlussfolgerungen sind richtig. Major Sender, kam nach gründlichem Studium der Unterlagen, auch zu dieser Schlussfolgerung. Deshalb bin ich der Meinung, sollte sie auch den Einsatz leiten."

Ein Murren ging durch die Reihen. Das Team von Detlef, lehnte sich wieder gegen mich auf. Das störte mich nicht sonderlich. Ich war es gewohnt, am Anfang so empfangen zu werden. Das war mir bei jedem Einsatz, den ich leiten musste, so ergangen. Es war nicht einfach, für altgediente SEK-Leute, einen Jungspund wie mich zu akzeptieren. Dazu war der Job viel zu gefährlich. Bei mir war das noch schwieriger. Ich sah nicht einmal aus, wie fünfundzwanzig Jahre. Sondern halt nur mit viel Mühe, wie ein sechzehnjähriges etwas korpulentes, nicht sehr großes Mädchen, der niemand etwas zutraute. Wenn ich ehrlich zu mir selber war und unserer Dika Glauben schenkte, sah ich vielleicht aus wie dreizehn oder vierzehn aus. Meine Freunde hatten es da immer leichter gehabt, durch ihre Größe und ihr Gewicht, wirkten sie einfach älter. Man nahm sie deshalb ernster, zollte ihnen von Anfang an mehr Respekt, als mir. Oft passierte es, dass die Leute erstaunt waren, wenn sie von den anderen erfuhren, dass ich der Teamleiter war. Man stellte nicht nur einmal die Frage, "Wieso ist bei euch die Kleinste Teamleiter?" Meine Freunde sagten dann immer. "Weil sie die Beste ist." Das war mir immer peinlich. Meine Freunde sahen das allerdings so. Ich riss mich aus meinen Gedanken. Schließlich musste ich mich auf den Einsatz konzentrieren. Es tat mir überhaupt nicht gut, an meine Freunde zu denken. Runge der damit gerechnet hatte, dass es Schwierigkeiten geben würde, sorgte für Ruhe.

"Leute, jetzt ist es aber gut. Ruhe", polterte sein tiefer Bass durch den Raum.

Schlagartig wurde es ruhig im Raum.

"Leutnant Kahlyn, kommen sie bitte vor."

Ich stand auf, ging zu Sender und Runge und stellte mich ordentlich hin, bereit Befehle anzuhören.

"So, jetzt mal für euch alle, zum langsamen mitschreiben und zum nachrechnen. Vor allem, für alle die, die hier rummotzen. Diese junge Frau hat und das habe ich gerade noch mal in ihre Unterlagen nachsehen lassen, tausendneunhundertsechsundachtzig Einsätze in den letzten elf Jahren hinter sich gebracht. Die sie auch offiziell geleitet hat. Laut ihren Unterlagen, hat sie davon zwölf Einsätze nicht erfolgreich zum Abschluss gebracht. Das heißt bei nur ein Einsatz pro Jahr ging daneben. Bei durchschnittlich hundertachtzig Einsätzen im Jahr. Wenn man das mal auf die ganzen elf Jahre hoch rechnen würde. Allerdings sieht es in der Realität etwas anders aus. Von diesen zwölf misslungen Einsätzen, waren neun in den ersten drei Jahren geschehen. Also rechnen wir mal weiter, das heißt in den darauf folgenden acht Jahren hat sie noch drei Einsätze nicht erfolgreich beenden können. In den letzten fünf Jahren, hatte sie tausendvierhunderteinunddreißig Einsätze, mit einer Erfolgsquote von hundert Prozent, abgeschlossen. Vor allem, bei jährlich zweihundertsechsundachtzig Einsätzen. Raphael, du schreist doch immer am Lautesten, wenn es darum geht, jemanden abzulehnen. Wie viele Einsätze hast du geleitet, wie viel Jahre bist du dabei und wie viele waren davon erfolgreich?", provozierend sah der Polizeirat Raphael jetzt an. Er kannte die Antwort, denn Runge kannte jeden seiner Männer.

"Keinen, Genosse Polizeirat."

"Ach so, dann formuliere ich für dich lieber Raphael die Frage einmal etwas um, wie viele Einsätze hast du bis jetzt gehabt?"

Irritiert sah Raphael den Polizeirat an. "Keine Ahnung, ich führe doch darüber kein Buch. Ich bin seit vier Jahren beim SEK", antwortete er genervt.

Das war das zweite Mal, dass er heute zur Schnecke gemacht wurde, langsam reichte es ihm. Dass er durch sein provokantes Verhalten diese Situation selbst hervorgerufen hatte, schien ihm absolut nicht klar zu sein. Vor allem verstand er nicht, wieso ihn der Polizeirat, vor diesem kleinen Mädchen und seinen Kollegen bloßstellte. Wütend sah er deshalb zu mir herüber und gab mir die Schuld an dieser für ihn unangenehmen Situation.

"Dann werde ich dir das mal sagen. Ich ahnte, dass du wieder am lautesten maulen wirst. Deshalb habe ich nachsehen lassen von Inge, meiner Sekretärin. Raphael, merke dir die Zahlen, es sind gerade einmal dreihundertsiebenundachtzig Einsätze, die du bis jetzt gemacht hast. Das sind nur siebenundneunzig Einsätze pro Jahr. Jetzt die Frage an dich, wer ist erfahrener im Kampf, du oder Leutnant Kahlyn?"

Raphael schwieg und sah wütend zu mir herüber, als ob ich da etwas dafür könnte.

Dem Polizeirat war das Verhalten des Kollegen, Antwort genug. "Hat noch jemand Probleme, mit unserer jungen Kollegin?", er sah allen Kollegen offen ins Gesicht. "In Ordnung, dann fange mal an, Kahlyn", wandte er sich an mich.

 

Mir war nicht wohl bei der ganzen Sache. Ich war es gewohnt, mich selber durchzusetzen und brauchte dazu nicht die Hilfe meiner Vorgesetzten. Seit Jahren musste ich mir meinen Respekt, vor fremden Teams alleine verschaffen. Ahnte, dass durch die Runges Worte, der Widerstand Detlefs Team gegen mich, nur noch stärker geworden war. Vor allem die Antipathie die Raphael gegen mich hegte, wurde dadurch noch mehr verstärkt. Runge hatte Öl aufs Feuer gegossen, das erst nur niedrig züngelte und jetzt lichterloh brannte: Das war nicht gut, absolut nicht gut. Aber es half nichts. Da musste ich jetzt durch und musste wieder einmal die Suppe, die mir andere eingebrockt hatten, alleine auslöffeln. Tief holte ich Luft, um mich zu beruhigen und freundlich sprechen zu können. Innerlich allerdings kochte ich fast über. Statt den Einsatzleitern freie Hand zu lassen, mussten sich die Herren Offiziere aus den oberen Schichten einmischen, zerstörten dadurch das bisschen Vertrauen und Respekt, dass wir uns schon erkämpft hatten. Es war immer das Gleiche, egal wo wir hinkamen.

"Kann sich noch jeder an die Details von vorhin erinnern oder soll ich alles noch einmal erklären?", versuchte ich einen Anfang zu finden, um in die Einsatzbesprechung einzusteigen.

Ich musste die Stimmung der Leute etwas heben und vor allem erst einmal einschätzen, denn ich kannte die Kollegen ja überhaupt nicht. Von Seiten des anderen Teams, nur herum gemotze. Ich ließ sie gewähren, sie brauchten das, um den Frust los zu werden. Runge wollte sofort wieder eingreifen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und bat ganz leise.

"Genosse Polizeirat, bitte lassen sie mich gewähren, Sir. Ich bin es gewohnt, dass man mich am Anfang ablehnt, Sir. Das war bei jedem Einsatz so, bitte lassen sie mir freie Hand, Sir. Ich habe in solchen Dingen Erfahrung, Sir", zwang ich ihn mehr oder weniger mir das Zepter in die Hand zu geben und zum ruhig sein.

Runge nickte grinsend und schielte zum Major, der mir zunickte.

Also drehte ich mich wieder zu den Kollegen herum, holte tief Luft und sah böse in den Raum. "Kollegen, sind sie jetzt fertig damit, mir zu erklären, was ich nicht kann?", fragte ich laut, aber freundlich, in den Raum.

Irritiert schauten mich alle an.

"Wenn sie nämlich damit fertig sind, könnte ich ihnen vielleicht erklären, was ich kann", ich sah direkt in den Raum, ohne jemanden konkretes anzusehen.

Auf einmal wurde es ruhig, ich hatte einen ersten kleinen Sieg errungen.

"Danke, dass ich jetzt ihre ungeteilte Aufmerksamkeit habe. Kommen wir also zu den Details. Wie ich bereits in der Vorbesprechung erwähnt habe, kenne ich das Gelände, aus einem Übungseinsatz von vor circa zehn Jahren. Wir haben diese Übung eine Wochen lang, täglich fünfmal gemacht: Vor allem, in allen möglichen und unmöglichen Varianten durchgespielt. Daher kenne ich mich da unten, ziemlich gut aus."

Wieder ging das Gemurmel im Raum los. Sie rechneten zurück, kamen alle eindeutig auf die Zahl von höchstens fünfzehn, die ich damals gewesen sein konnte. Sie gingen davon aus, dass man erst mit fünfundzwanzig Jahren im SEK aufgenommen wurde. Nur gut, dass hier niemand, außer Runge und Sender wusste, wie alt ich wirklich war, dann wären sie wahrscheinlich alle vom Stuhl gefallen. Lachend kam mir das in den Sinn.

"Sie glauben, sie haben nicht richtig gehört. Doch meine Herren sie haben es richtig verstanden. Diese Übung war vor ungefähr zehn Jahren, das genaue Datum kann ich ihnen nicht mehr sagen. Aber das spielt auch keine Rolle mehr. Da ich jetzt ungefähr sechzehn Jahre alt bin…", schockierte ich sie, mit einer noch erschreckenderen Zahl. "... war ich damals erst sechs Jahre alt. Sie müssen über mich allerdings eins wissen, wir sind auf einer militärischen Schule erzogen wurden. Wir kämpften unsere ersten Einsätzen, da waren wir gerade drei Jahre alt. Machen sie nie den Fehler, mich mit einem normalen Kind zu vergleichen, denn dann erleben sie eine böse Überraschung. Dieser Übungseinsatz, bei dem die Kollegen des Grenzschutzes, jeden Abend wie Tod in ihre Betten fielen, waren für uns ein Urlaub und unsere erste Kampfpause, nach drei Jahren Dauereinsatz. Wir nannten diese Einsätze, die wir zwischen durch einmal hatten, immer Spielzeit und Erholung. Das meine Herren, ist aber nicht das, was hier zählt. Sondern es ist die Tatsache, dass ich das Gelände besser kenne, als irgendjemand von Ihnen."

Wieder wurde es unakzeptable laut, jetzt war es an der Zeit durchzugreifen.

"Jetzt reicht es mir aber", rief ich in einem kalten und für die Kollegen scheinbar befremdlichen Befehlston in den Raum, den mir niemand zugetraut hätte. "Sind wir hier in ihrer Stammkneipe, meine Herren oder bei einer Besprechung, in der es um die Rettung einer Geisel geht, die gerade einmal fünfzehn Jahre alt ist, die durch die Hölle geht und vor Angst wahrscheinlich gerade umkommt. Oder in diesem Moment, in dem sie mich hier anmotzen, gerade stirbt", setzte ich in einem etwas leiseren, aber bestimmten Ton nach.

Sender und Runge, sahen sich mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck an. Schlagartig wurde es etwas ruhiger im Raum, das Gemurmel und Gezeter ging allerdings weiter. Ich hatte im Moment keine Zeit, mir über die beiden Offiziere Gedanken zu machen, mir lief Dank Runges Einmischung, das Ganze aus dem Ruder.

Ich musste mir dringend Respekt und Gehör verschaffen. Deshalb konzentrierte mich voll, auf die Aufgabe die vor mir lag. Ich musste die Teams dazu bringen, zu hundert Prozent hinter mir zu stehen und das war keine leichte Aufgabe.

"Wir haben verdammt nochmal keine Zeit, um irgendwelche Machtspiele zu spielen. Dort draußen in der Halle, befindet sich ein Menschenleben in höchster Gefahr. Sie vergeuden hier wertvolle Zeit. Reißen sie sich zusammen, meine Herren. Wir werden hier und jetzt die Fronten ein für allemal klären und eine klare Linie in diesen Einsatz bringen", sprach ich in einen ernsten, ruhigen, jedoch sehr strengen Ton. "Jeder der ein Problem damit hat, an diesen von mir geleiteten Einsatz teilzunehmen, darf jetzt aufstehen und den Raum verlassen. Zur Not hole ich die Geisel auch ohne ihre Hilfe dort raus. Ich habe mit Verlaub, die Schnauze voll von ihren Benehmen", böse sah ich die Männer an und zeigte zur Tür. Als sich keiner der Kollegen erhob, fuhr ich im gleichen eisigen und lauten Ton fort. "Bleiben sie auf ihren Stühlen sitzen, möchte ich, dass sie mir aufs Genauste zuhören und mir in diesem Einsatz folgen. Haben sie das jetzt verstanden?", da ich keine Reaktion bekam, ich glaube die Kollegen waren sprachlos, fuhr ich fort. "Es geht bei diesem Einsatz nämlich nicht um meine Person und darum, dass ich ihnen zeige, was ich kann und was nicht, sondern um das Leben einer Geisel. Nicht nur das Leben der Geisel ist in Gefahr, sondern auch das Leben ihrer Teamkollegen, hängt von ihrer Mitarbeit ab. Fehler, das wissen sie alle, meine Herren, sind in unserem Beruf tödlich, verdammt nochmal", langsam aber sicher kroch eine unsagbare Wut in mir hoch, weil die Kollegen sich so gar nicht auf mich einließen.

Wenn wir im Schulteam unterwegs gewesen waren, hatten wir meist schon von vorherein Respekt, dafür sorgte alleine das Verhalten Oberstleutnant Mayers oder der Betreuer, die uns regelmäßig vor den anderen Teams herunterputzten. Hier stand ich aber alleine, musste mir selber, den nötigen Respekt verschaffen. Ich war so wütend, dass ich am liebsten einen kleinen Kampf gemacht hätte. Mir fiel jedoch etwas anders ein, weil ich mich gerade an das Gesicht vom Polizeirat erinnerte, welches er vorhin hatte.

"Verdammt nochmal, was seid ihr eigentlich für ein Team?", tief atmete ich durch, ich wurde dadurch wieder etwas ruhiger und konnte meine Stimme wieder zügeln, denn ich war sehr laut geworden. "Zählt bei Euch nur derjenige etwas, der weiße Haare und einen dicken Bauch hat, raucht und säuft?", ich sah die beiden Teams an, die schon wieder anfingen zu motzen. "Jetzt reicht es mir endgültig. Ruhe! Verdammt nochmal!"

Ich zog meine Weste aus, öffnete meinen Overalloberteil und zog mir dieses von den Schultern, zog mein T-Shirt über den Kopf. Stand jetzt nur noch mit meinen Sport-BH, vor den ganzen Männern.

"Glauben sie allen Ernstes, meine Herren, ich habe diese Narben auf meinem Körper, vom Studieren irgendwelcher Theorien? Oder, kann sich der eine oder andere vorstellen, dass ich die mir im Kampf zugezogen haben", ich sprach laut und deutlich, meinen Rücken und meine Arme zeigend. Wo man trotz des Verbandes die vielen Narben auf meinem Körper sah. Sprachlos sahen mich alle an. Ich zog mich wieder an, versuchte die Zeit zu nutzen, um meine Wut in den Griff zu bekommen.

"Wenn sie also der Meinung sind, dass ich mit meinen sechzehn Jahren und wie sagte der Genosse Polizeirat vorhin, tausendneunhundertsechsundachtzig Einsätzen ein unerfahrenes Küken bin", ich machte eine Pause. "DANN RAUS MIT IHNEN UND DAS EIN WENIG DALLI", sagte ich sehr laut und bestimmt und zeigte nochmals auf die Tür. "Aber wenn sie jetzt sitzen bleiben, signalisieren sie mir, dass sie mir etwas vertrauen. Vor allem aber, sie mir etwas Erfahrung zugestehen und gewillt sind mir in diesem Einsatz zu folgen. Dann halten sie gefälligst ihre Klappe und hören mir jetzt zu", wieder machte ich eine Pause, um tief durchzuatmen und mich zu beruhigen. Etwas leiser fuhr ich fort. "Ich bin nämlich am Ende meiner Geduld. So eine undisziplinierte Truppe, wie sie, habe ich in all den Jahren noch nicht erlebt und es sind jetzt über dreizehn Jahre, in denen ich Einsätze leite und mit vielen unbekannten Teams zusammenarbeiten musste", sprach es und wartete darauf, dass jemand den Raum verließ.  

Ich glaube ich hatte die Männer gerade derart schockiert, dass sie gar nicht reagieren konnten. Das Entsetzen auf ihren Gesichtern, sprach Bände. Aber das war mir egal. Wichtig war nur, es blieben alle sitzen und es wurde schlagartig ruhig im Raum.

"Sie wollen also alle, an diesem Einsatz, unter meiner Leitung teilnehmen?", fragend sah ich in die Runde.

Keiner sagte mehr etwas, einige nickten und andere reagierten überhaupt nicht. Nochmals blickte ich nacheinander alle direkt an und bekam so von allen ein Nicken.

"Darf ich jetzt weiter machen? … Danke", ich nickte kurz zu den Kollegen und fuhr in einem leisen, alle Aufmerksamkeit an mich bindenden Ton fort. "Wie ich bereits vorhin erwähnte…", erklärte ich den gesamten Sachverhalt noch einmal. "Gibt es dazu noch Fragen, oder Details die sie nicht verstanden haben? Dann wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt, diese Fragen zu stellen", erkundigte ich mich bei allen anderen.

"So, dann zur Einteilung der Gruppen im Einsatz, das Team von Major Sender, hat den schwierigsten und längsten Zugang. Sie werden den südlichen Kanal betreten, sich leise und ungesehen zu dieser Lagerhalle vorarbeiten. Ich werde diese Gruppe persönlich führen, da ich mich ohne jegliches Licht in der Kanalisation bewegen kann. Das zweite Team, wer ist der Leiter des Teams?"

Detlef stand auf. "Oberleutnant Serow", stellte er sich nun offiziell vor.

"Oberleutnant Serow, ihr Team werden wir teilen. Welchen Mitglied ihres Teams könnte sie die Führung der zweiten Gruppe anvertrauen, Sir? Tut mir leid, dass ich sie das fragen muss, Sir, aber ich kenne ihr Team nicht, Sir."

Serow sah auf einen dunkelhaarigen untersetzen Leutnant. "Leutnant Zimmermann wird das zweite Team anführen", bestimmte Serow.

"In Ordnung. Danke Genosse Serow. Leutnant Zimmermann sie übernehmen das Team Nord. Sie gehen mit fünf Kollegen, bitte suchen sie sich die kleinsten und schlankesten Kämpfer aus Leutnant, in den nördlichen Kanal. Sie Oberleutnant Serow übernehmen das Team West und gehen mit den verbleibenden fünf Kollegen, in den westlichen Kanal."

Wieder wurde es unruhig im Raum.

"Ruhe! Ich erkläre sofort das Warum und das Weshalb. Kollegen es wäre nett, wenn sie mich erst einmal ausreden lassen würden, dann bräuchten sie nicht herumzumotzen. Hören sie gefälligst zu! Für das Team Nord: Im nördlichen Kanal sind einige sehr enge Durchlässe, die man gut passieren kann und die sehr gut einzusehen sind. In diesem Kanalabschnitt gibt es so gut wie keine Möglichkeiten, einen Hinterhalt aufzubauen und meiner Erfahrung nach, wird er durch die Geiselnehmer vernachlässigt. Die Erfahrung habe ich jedenfalls für zehn Jahren, immer wieder gemacht. Weil er eben sehr eng ist und größere Personen Probleme haben, die dortigen Engstellen zu passieren. Die einzige Möglichkeit, die es für einen Hinterhalt gibt, habe ich ihnen, Genosse Zimmermann, eingezeichnet. In der Kartenskizzen sind die Möglichkeiten von mir hervorgehoben wurden und leicht zu erkennen, wo sie auf Probleme stoßen könnten. Für das Team West: Beim westlichen Kanal verhält es sich genau anders herum. Dieser Teil der Kanalisation ist großzügig gebaut und sehr übersichtlich. Dort kann man am Anfang sogar mit einen kleinen Laster hineinfahren, dort gibt es überhaupt keine Möglichkeiten Hinterhalte aufzubauen. In diesen beiden Kanälen, also Nord und West, besteht die größte Gefahr darin, dass die Gruppe der Geiselnehmer, Sprengfallen aufgebaut haben. Wo das sein könnte, habe ich ihnen diese Stellen, in den Skizzen markiert. Trotzdem achten sie die ganze Zeit, unbedingt auf Drahtfallen oder optische Zünder. Man sollte immer damit rechnen, auch wenn die Wahrscheinlichkeit gegen Null tendiert. Für das Team Süd: Das Sender Team hat den längsten Zugangsweg und den schwersten. Dieser Teil des Kanalsystems ist schwer zugängig. Die Kanäle dort sind verwinkelt und unübersichtlich. Deshalb brauche ich in diesem Teil der Kanalisation, auch wesentlich mehr Kollegen, als im Norden und Westen. Es gibt in diesem Teil der Kanalisation viele Möglichkeiten einen Hinterhalt zu legen. Deshalb werde ich die Gruppe Sender anführen und den Weg für dieses Team freimachen. Ich habe für jede der drei Gruppe, eine Skizze vom jeweiligen Kanalabschnitt gezeichnet, mit allen Möglichkeiten für Hinterhalte und möglichen Sprengfallen. Schauen sie sich die Skizzen in Ruhe an und wenn sie dazu Fragen haben, dann ist jetzt dazu die beste Möglichkeit, diese zu stellen", ich reichte Sender, Serow und Zimmermann die entsprechende Skizze, von ihrem Kanalabschnitt.

Als Runge etwas fragen wollte, schüttelte ich den Kopf.

"Sir, Fragen klären wir dann, merken sie sich ihre Frage bitte, Sir", bat ich ihn ernst.

Der Polizeirat nickte verwirrt, blieb aber ruhig.

"An Bewaffnung und das wird jetzt für sie ungewohnt sein, nehmen wir nur Nahkampfwaffen mit. Bitte warten sie die Erklärung ab, bevor sie wieder protestieren. Stellen sie die Teams zusammen."

Ich schaute in die Gruppen, in die Bewegung kam. "Verzeihen sie mir die Frage, aber ich kenne sie nicht und kenne daher die Stärken und Schwächen ihrer Teammitglieder nicht. Wer vom Team Nord, Team West und vom Team Süd ist gut im Nahkampf?", erkundigte ich mich weiter.

Diesmal traten, ohne zu murren, mehre Kollegen aus der Gruppe heraus. Ich hatte es also geschafft, die Kollegen vertrauten mir, soweit das in dieser Situation möglich ist.

"Diese Nahkämpfer werden die jeweiligen Spitzen der Gruppen, gemeinsam mit den jeweiligen Teamleiter bilden, die schlechteren Kämpfer bilden die Rückendeckung", gab ich konkrete Anweisung.

Raphael maulte wie schon wieder herum. Langsam aber sicher ging mir der Kollege richtig auf die Nerven. Der Mann fiel mir etwas zu oft negativ auf. Ich würde ihn bei diesem Einsatz genau im Auge behalten müssen. Am liebsten würde ich ihn ganz aus dem Einsatz herausnehmen. Solche Kämpfer konnte ich nicht gebrauchen. Sie wollten Helden sein, traten immer nur hervor, um ja aufzufallen und im Rampenlicht zu stehen. Leider wurden Helden in Kampf schneller getötet, als mir lieb war und rissen vor allem ihre Kollegen mit ins Unglück. Diese Art von Kämpfern brachte meist nichts Vernünftiges zustande und war nur mit der Schnauze groß. Ich hasste solche Typen wie die Pest, weil sie den ganzen Einsatzplan gefährdeten und zum Einsturz brachten.

"Haben sie ein Problem mit meinen Anweisungen, Genosse Unterleutnant?", stellte ich die Frage direkt an ihn.

"Ja, das habe ich. Wieso keine Waffen? Das ist Wahnsinn, unbewaffnet in ein solches Gelände zu gehen", wollte er sich schon wieder wichtigmachen, obwohl er von diesen Dingen nichts verstand.

Serow, stieß den Unterleutnant an und wies ihn an den Mund zu halten. Zu oft war er heute aufgefallen. Wie es schien reichte es auch dem Teamleiter langsam. Also war ich nicht die Einzige die von Raphael genervt war. Deshalb erklärte ich es ihm noch einmal.

"Genosse Unterleutnant, waren sie gerade nicht anwesend oder was haben sie an meinen Worten nicht verstanden? Wer hat irgendetwas davon gesagt, dass sie unbewaffnet in die Kanalisation hinein gehen sollen, Genosse Unterleutnant. Es wäre nett, wenn sie während einer Einsatzbesprechung zuhören würden. Unbewaffnet in die Tunnel zu gehen, wäre natürlich Wahnsinn. Aber sie gehen NICHT UNBEWAFFNET in die Kanalisation, sondern TRAGEN ihre NAHKAMPFWAFFEN bei sich. Vor allem ist es ein noch größerer Wahnsinn, in einem Kanal zu schießen. Die Möglichkeit, dass eine der Kugeln an den Kanalwänden abprallt und dadurch ein Querschläger einen ihrer Kameraden verletzt oder gar tötet, ist viel zu hoch. Leider können wir nicht verhindern, dass die Gegenseite schießt, deshalb tragen sie ja ihr SCHUTZSCHILD bei sich. Selber zu schießen wäre, ein unnötiges Risiko. Deshalb werden wir gezielt, nur auf Nahkampf gehen."

"Die Gefahr, dass wir beschossen werden…"

Genervt unterbrach ich ihn, da er mir scheinbar nicht zugehört hatte. Diskussionen wie diese brachten nichts. "Was Genosse Unterleutnant, haben sie an meinen Worten NICHT UNBEWAFFNET!!! TRAGEN von NAHKAMPFWAFFEN!!! und  SCHUTZSCHILD!!! nicht verstanden? Könnten sie mir den Gefallen tun und mir bei meinen Erklärungen zuhören, Genosse Unterleutnant. Ich bin ein sehr geduldiger Mensch, aber sie reizen meine Geduld bis zum letzten Quäntchen aus. Glauben sie mir eins, keiner reizt mich ungestraft, bis zur Explosion. Ich habe es ihnen gerade ausführlich erklärt und ich bin nicht gewillt, das noch ein drittes Mal zu tun, GENOSSE UNTERLEUTNAT!!! Verdammt nochmal, ich nehme sie gleich aus dem Einsatz heraus, Kollegen wie sie kann ich bei solch einem kniffligen Einsatz wie diesen, nicht gebrauchen. Sie bringen nicht nur sich, sondern auch ihre Teamkollegen in Gefahr. Entweder sie konzentrieren sich jetzt endlich auf den Einsatz und hören mir aufmerksam zu oder sie sind raus aus dem Einsatz. Haben wir uns jetzt verstanden, Genosse Unterleutnant, mir reicht es nämlich langsam mit ihnen", abwartend sah ich ihn an und holte genervt Luft.

Ich war am Ende mit meiner Geduld. Raphael begriff glaube ich in diesem Moment, dass er dabei war, den Bogen gewaltig zu überspannen. Er bemerkte das an meiner gesamten Körperhaltung und daran, dass seine eigenen Kollegen ihn zur Räson brachten und Sender, sowie der Polizeirat ihn böse ansahen.

"Genossin Leutnant, ich möchte mich entschuldigen. Sie haben Recht mit ihrer Zurechtweisung. Es tut mir leid", entschuldigte er sich bei mir.

"Danke, setzen sie sich wieder. Darf ich jetzt weiter machen", nach dem alle genickt haben, fuhr ich fort. "Also noch einmal zurück zu der Stelle an der wir unterbrochen wurden. KEINER führt bei diesem Einsatz eine Schusswaffe mit sich, haben das alle verstanden? Die Schusswaffen bleiben alle in den Waffenkisten", aufmerksam schaute ich in die Runde und holte mir von allen, die Bestätigung.

Nochmals wandte ich mich dem Kollegen Raphael zu. Um einiges freundlicher als vorhin erklärte ich ihm, da ich merkte, dass es ihm wirklich leid tat, warum ich so böse geworden bin.

"Genosse Unterleutnant, warten sie das nächste Mal erst einmal alle Informationen ab, bevor sie voreilige Schlüsse ziehen. Sie können doch erst eine Situation bewerten, wenn sie alle Informationen haben. Diese Informationen haben sie noch gar nicht alle bekommen. Da ich ihnen, die für sie interessanten Informationen erst in einigen Minuten geben werde. Wenn sie mich nicht ständig unterbrechen würden, hätten sie diese schon", offen sah ich ihn an.

Raphael zog ein Gesicht, als wenn er gerade in eine Zitrone gebissen hätte, so bezeichnete das unsere Dika immer. Er sah total zerknirscht aus. Endlich hatte er seinen Fehler begriffen, darüber war ich froh. Vielleicht war es doch kein so schlechter Kerl. Ich nickte ihm aufmunternd zu. Erklärte jetzt einige wichtige Details, die die Kollegen gar nicht wissen konnten, in dem ich mich wieder an beide Teams wandte.

"Außerdem, wird das Nord und West Team, höchstens auf einzelne Posten treffen. Die den Einstieg in die Halle sichern sollen, da von dieser Seite ein Angriff von uns nicht erwartet wird. Zum Anderen, rechne ich nicht damit, dass die beiden Teams in große Kämpfe verwickelt werden, bevor es zum Zugriff kommt. Warum auch, die Entführer werden nicht damit rechnen, dass der Hauptangriff von Seiten der Kanalisation kommt …" Jetzt bekam ich ein zustimmendes Nicken, von vielen aus den Teams. Auf einmal wurde allen, das Gesamtbild des Einsatzes war. Nämlich der Überraschungsangriff von hinten. "… deshalb wird es nur nach dem Zugriff einen kurzen Kampf geben. Der sich aber zum größten Teil, im südlichen Kanal abspielen wird. Also noch einmal, für die Schwerhörigen unter EUCH. Es wird nur Nahkampfausrüstung, Schilde und Nachtsichtgeräte mitgenommen. Weiterhin werden wir Rauchbomben mitnehmen. Die ermöglichen uns Deckung, sobald das Signal des Zugriffes erfolgte und behindern die Sicht der Geiselnehmer. Alles klar? Das Süd Team von Major Sender erhält von mir, ihren Instruktionen gesondert. Das ist es von meiner Seite. Jeder begibt sich sofort, nach der Teameinweisung, zu dem Kanalausgang und wartet dort auf den Einsatzbefehl."

An Runge gewandt. "Genosse Polizeirat, bitte sorgen sie dafür, dass die Beobachtungsposten und Einsatzkräfte oberhalb, auf ihren Plätzen bleiben, Sir. Ich brauche sie zum Schluss, Sir. Außerdem ist so gewährleistet, dass von den Entführern keiner bemerkt, dass etwas im Busch ist, Sir. Auch führen sie bitte die Verhandlungen mit den Entführern weiter, Sir. Danke, Sir."

Runge lächelte mich eigenartig an. Ich ignorierte das erst einmal. Darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Nachdem ich die Probleme mit den beiden SEK Teams nun endlich bereinigt hatte, konnte ich mich voll und ganz auf den Einsatz konzentrieren. Die allgemeine Einsatzeinweisung war vorbei und nun kam die Teameinweisung, die für jedes Team etwas anders aussah. Ich war jetzt schon mitten im Einsatz und hochkonzentriert, um ja auf jedes Detail zu achten.

"Mit dem Team Zimmermann, welches den weitesten Weg hat, möchte ich als erstes sprechen. Danach mit dem Team Serow, zum Schluss mit dem Team Sender. Alles klar? Wegtreten! Bitte wartet vor der Tür bis ihr hereingerufen werdet", sagte ich laut zu den Kollegen.

Ohne zu murren und neue Diskussionen verließen die Männer den Raum. Zurückblieben nur Runge, Sender und das Team Zimmermann. An Hand der Skizze vom Team Nord, erklärte ich Zimmermann, wie er seine Gruppe führen sollte. Welche Schwierigkeiten zu erwarten waren, wo sie auf den Zugriffsbefehl warten sollten. Vor allem, wo ich an Stelle der Entführer Sprengfallen installiert hätte, um Zimmermann auf eventuelle Gefahrenquellen hinzuweisen. Bat ihn aber trotzdem, überall in den Tunneln, auf diese Fallen zu achten, weil man ja nicht wusste, wie die Entführer vorgehen würden.

Verwundert sah er mich an. "Leutnant, das heißt ja, dass wir gar nicht in die Halle hinein gehen müssen. Jetzt wird mir klar, warum sie auf Nahkampfdistanz gehen. Eine gute Idee, damit reduzieren wir die Gefahr, auf ein Minimum", er nickte mir anerkennend zu.

"Wie lange brauchen sie bis zu dem Nordeingang?", wollte ich von ihm wissen, da ich ja keine Ahnung hatte wie lange normale Menschen für die Stecke brauchten. Erklärte ihm auch warum. "Genosse Zimmermann, ich kann leider nicht einschätzen, wie schnell sie zum Zielpunkt kommen, da meine ehemaligen Kollegen und ich, ganz andere Möglichkeiten haben. Deshalb muss ich das fragen, weil ich Distanzen zwischen zwei Punkten, ganz anders einschätze, als sie."

Etwas verwirrt schauten mich das Team, Runge und Sender an, aber das konnten wir später klären. Wir einigten uns darauf, dass Punkt Null Uhr, der Einsatz beginnen sollte. Die Uhr über der Tür zeigte mir, dass es 21 Uhr 45 war. Wir hatten also genug Zeit, um alles in Ruhe vorzubereiten. Nach dem Nord Team bat ich das West Team unter der Leitung von Serow, zur Teambesprechung, auch ihnen erklärte ich alle Details, aufs Genauste. Diesmal, unterbrach mich Raphael nicht ein einziges Mal. Nach dem ich erklärte hatte, wie die Truppe vorzugehen hatte, bekam ich auch von Detlef Serow, ein Lob für die gute Planung. Im Anschluss kam John mit unserem Team. Noch einmal erklärte ich, Zug um Zug, unsere Vorgehensweiße. Teilte im Anschluss, alle Mitglieder des Teams ein. Als wir fertig waren, bat ich John, Sep, Andi und Sender zu bleiben. Die anderen schickte ich schon zum Einsatzfahrzeug.

Nach dem wir allein waren, zeigte ich den vier besten Nahkämpfern aus unserem Team noch, was wir unter schlafen legen verstanden. Damit in einer Situation, mit mehreren Posten alle wussten, was sie zu tun hatten.

Als Letztes erklärte ich dem Polizeirat, die Vorgehensweise der Gruppe von der Bereitschaftspolizei, welche die Halle stürmen musste, um uns die Geiselnehmer in unsere Arme zu treiben. Runge schüttelte fassungslos den Kopf, meinte nur kurz.

"Du denkst wirklich an alles Kahlyn. Aber was ist mit der Geisel?"

"Genosse Polizeirat, die ist mein Problem, das entscheide ich spontan. Ich verspreche ihnen, sollte die Geisel noch leben, wird ihr nichts geschehen. Dafür verbürge ich mich. Ich lasse nie zu, dass die Geiseln in Gefahr geraten."

Als Runge eine Diskussion mit mir anfangen wollte unterband ich die kurzerhand. "Kah...", begann Runge

"Genosse Runge, vertrauen sie mir einfach. Wenn ich ihnen jetzt erkläre, was ich vorhabe, verstehen sie das sowieso nicht. Es kostet mich nur unnötige Zeit, die der Geisel vielleicht fehlen. Ende der Diskussion."

Runge sah mich fassungslos an, weil er nicht glauben konnte, wie ich ihn abfertige. Aber das musste ich, denn weder Runge noch Senders waren in der Lage sich vorzustellen, wie ich in punkto Geisel vorgehen würde. Sie kannten meine Arbeitsweise nicht und vor allem nicht meine Möglichkeiten. Außerdem fehlten mir noch einige wichtige Informationen, die ich mir erst vor Ort holen konnte. Viele Situationen bei einem Einsatz, musste man einfach aus dem Bauch heraus entscheiden, sie waren vorher nicht planbar. Genau dieser Punkt, hatte mein altes Team und mich, zu eine unberechenbaren Größe für unsere Gegner gemacht. Man konnte uns nicht planen. Wir entschieden viele Dinge spontan, wobei das Leben der Anderen immer an erster Stelle stand.

Zum meinem Glück segnete Runge meinen Plan ab und entließ uns in den Einsatz, nach dem er uns und der Geisel Glück gewünscht hatte. Ohne zu Zögern machten wir uns auch auf den Weg, zu unseren Einsatzfahrzeug, welches uns zum Südlichen Kanal fuhr, da die Strecke für die Kollegen von Senders Team, viel zu weit war. Wieder einmal wurde mir bewusst, dass wir ganz andere Möglichkeiten hatten, als normale Menschen. Wir wären die Strecke von zweiundzwanzig Kilometern zu Fuß gelaufen und hätten nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich würde mir in solchen Dingen bei der Einsatzplanung, ein Umdenken angewöhnen müssen. Da ich eine ganz andere Vorgehensweise in diesen Bereichen hatte.

 

Im Fahrzeug setzte ich mich ans Fenster und schloss einen Moment die Augen. Ich war völlig fertig. Solche Einsatzbesprechungen waren für mich super anstrengend. Ich fand sie schlimmer, als die Einsätze selber. Mein Problem bestand darin, dass ich immer erst den Kampf der Kämpfe führen musste. Ständig musste ich mir den Respekt der Kollegen erst verdienen. Traf ich eine zweites Mal auf das gleiche Team, das war schon öfter passiert, hatte ich nie wieder mit solchen schwerwiegenden Problemen zu kämpfen. Nach dem ersten Einsatz, hatten wir uns immer den Respekt, der anderen Kollegen erworben. Wir redeten nicht, wir handelten. Wir übernahmen immer die gefährlichsten Parts, waren den anderen Teams zahlenmäßig fast immer unterlegen und trotzdem kamen wir immer an, wo wir ankommen sollten. Egal was passierte, wir hatten immer Erfolg. Auch, wenn wir unseren Einsatz oft mit Verletzungen, ab und zu, auch mit dem Tod eines unserer Teammitglieder bezahlen mussten. Nach dem Einsatz, sah keiner in uns mehr die Kinder, sondern nur noch gute Kämpfer.

Mühsam fuhr ich runter, innerlich hielt ich mit Rashida Zwiesprache und hörte ihre Stimme. "Atme dich in den Schlaf, komm ich helfe dir." Ich musste einfach ein paar Minuten schlafen. Wir konnten schon immer, in Stresssituationen zehn Minuten schlafen, als wenn wir sieben oder acht Stunden schlafen würden. Wir nannten es immer den schnellen Schlaf. Da ich wusste, dass John auf mich aufpasst, das hatte er mir mehr als nur einmal bewiesen, ließ ich mich kurz fallen. Was ich nicht bedachte konnte, war die Tatsache, dass mein neues Team keine Ahnung von dieser Fähigkeit hatte. Was für uns völlig normal war, brachte das ganze Team in Aufregung und an den Rand eines Nervenzusammenbruches.

Ich wurde munter, weil man mir rechts und links, eine ins Gesicht schlug, dass es nur so krachte. Benommen vom Schlaf reagierte ich instinktiv und griff nach der Hand, die mich schlug. Ein furchtbarer Schrei brachte mich dazu, ganz munter zu werden. Ich hielt Johns Hand in einem sehr schmerzhaften Griff und dieser brüllte wie am Spieß. Da ich meinen Daumennagel, sehr tief und schmerzhaft, in sein Handgelenk bohrte. Erschrocken ließ ich ihn los.

"Warum schlägst du mich?", fragte ich noch vollkommen verschlafen. Man hörte meiner Stimme an, dass ich geschlafen hatte.

"Ich dachte du bist ohnmächtig. Wir haben uns Sorgen gemacht. Du bist in den Bus rein, hast dich hin gesetzt und nicht mehr reagiert. Seit fast zehn Minuten versuche ich dich, wieder in die Realität zurück zu holen. Wir wollten gerade einen Arzt holen", der Schreck stand noch in Johns Gesicht.

"Hilfe, John, ich hab geschlafen. Nur ein paar Minuten. Ich mache das immer so. Keine Angst, wenn ich sterbe, sage ich dir vorher Bescheid. Ich dachte, ich kann das machen, weil du ja auf mich aufpasst. Diese Einsatzbesprechungen sind immer anstrengend und ich muss doch dann fit sein. Entschuldige. Zeig mal deine Hand", bat ich im beruhigenden Ton.

"Na du hast ja einen festen Schlaf", bemerkte Sender ernst.

"Sir, ja wenn ich mich behütet fühle, dann kann ich das auch, Sir", ich griff nach dem Medi-Koffer, holte den Kleber und den Brenner. John machte ein Gesicht, als ob ich ihn umbringen wollte. "John, vertraue mir einfach. Wir müssen die Wunde verschließen. In dem Kanal ist es dreckig. Du bekommst sonst den Brand rein. Es tut etwas weh, aber nur einen kleinen Moment. Ich helfe dir dabei."

Ich gab den Kleber auf die Wunde, dann sah ich John an. "Konzentriere dich jetzt auf deine Atmung, tief ein und langsam aus atmen. Ein. Aus. Ja, so ist es gut, mach weiter."

In dem Moment in dem John langsam ausatmet, ging ich mit dem Brenner über die Wunde, versiegelte sie so. John war erstaunt darüber, dass es nicht schmerzvoller war. Nach dem ich alles verklebt und versiegelt hatte, machte ich noch eine Binde darum.

"So fertig. Hast du noch Schmerzen?", erkundigte ich mich bei meinem neuen Freund, den ich verletzt hatte.

John bewegte das Handgelenk. "Es geht. Ist zum Aushalten."

Ich zog also eine Spritze mit B08 auf, einem örtlichen Betäubungsmittel, dessen Wirkung etwa vierundzwanzig Stunden anhält.

"Geb deine Hand noch mal her", verlangte ich von John.

Wickelte die Binde noch einmal ab und trug das B08, auf die versiegelte Wunde. Johns Hand verfärbte sich, dort wo ich das B08 aufgetragen hatte, auf einmal dunkelblau und die Versieglung bildete kleine Bläschen. Ich warte ab, bis diese sich zurückbildeten, dann verband ich das Gelenk aufs Neue.

"So probiere jetzt mal."

John bewegte die Hand, machte dabei ein erstauntes Gesicht. "Ist wie neu. Tut nicht gar nicht mehr weh."

"Das ist gut. Beim Kampf stört es, wenn etwas schmerzt. Wenn es schlimmer wird, sage mir einfach Bescheid. Du siehst es dauert nicht lange. Aber eigentlich müsste die Wirkung vierundzwanzig Stunden anhalten."

In gleichen Moment fuhren wir vor den Eingang des Südlichen Kanals an. Wir stiegen aus, machten uns für den Abmarsch bereit. Es war jetzt 23 Uhr 42. Wir hatten also noch achtzehn Minuten bis zum Aufbruch. Wie mit den anderen beiden Teams abgesprochen, nahmen wir nur Nahkampfwaffen mit. Inständig hoffend, dass die alle Teams, von Runge, sich an die Abmachung halten würden. Leider wäre es nicht das erste Mal, dass man meiner Bitte nur Nahkampfwaffen mitzunehmen, nicht entsprach. Vorsichtshalber kontrollierte ich mein Team auf Schusswaffen. Allerdings hatte keiner eine Waffe dabei. Ich war verdammt froh, ihnen Vertrauen schenken zu können. Wir zogen unsere Schutzkleidung an und setzten die Helme auf. Die anderen nahmen ihre Nachtsichtgeräte und setzten sie auf, um sie dann nach unten ziehen zu können. Dann schauten sie alle entsetzt zu mir. Aber auch daran war ich gewöhnt. Ich zog meine Stiefeln aus und stellte sie in das Fahrzeug. Sender sah mich an, wie jemand der seinen Verstand verloren hatte.

"Kahlyn, ziehe sofort die Schuhe an", gab er mir den Befehl, den ich gekonnt ignorierte. Kurz versuchte ich ihm zu erklären, dass dies nicht nötig sei. "Sir, bitte wir haben keine Zeit für solche Diskusionen. Ich gehe immer barfuß, vertrauen sie mir einfach. Ich kann mit Schuhen nicht kämpfen, Sir. Ich bin es gewohnt ohne Schuhe zu laufen. Das hier ist mein erstes Paar Stiefel, Sir, die bekamen wir zur Uniform am 31. August gestellt. Ich laufe und kämpfe seit meiner Geburt barfuß. Nur der Ordnung halber, trage ich außerhalb und in ihrer Dienststelle Schuhe, Sir."

Sender argumentierte und wurde richtig böse. "Kahlyn, da drinnen sind Ratten, Scherben und was weiß der Teufel sonst noch alles."

Ich sah Sender an. "Sir, ich weiß das. Ich kenne diese Kanäle. Vertrauen sie mir einfach. Wir müssen los. Ende der Diskussion, Sir", brach ich diese sinnlose Diskussion ab.

Da ich die Leitung des Einsatzes koordinieren muss, ließ ich mir über Max, unseren Funker, eine Verbindung zu den anderen Teams herstellen. Als Sender noch etwas zu meinen Schuhen sagen wollte, schnitt ich ihm einfach das Wort ab. Etwas, dass wir im Einsatz, auch zu höher gestellten Offizieren machen durften, denn da zählten keine Ränge, sondern nur der Erfolg.

"Sir, Schluss jetzt, Sir", befahl ich kurz und in einem sehr energischen Ton, der keinen Widerspruch zuließ.

Über Funk gab ich den Startbefehl. Es war eine dunkle wolkenverhangene Nacht, das Team setzte die Brillen auf und ich die meine ab. Die meisten hatten mich noch nicht ohne Brille gesehen. In der Nacht sahen unsere Augen furchterregend aus, wie die eines wilden Tieres. Einige zuckten zurück und es wurde unruhig.

"Ruhe jetzt", gebot ich ihnen und gab auch für unsere Gruppe das Startsignal für den Aufbruch. "Gehen wir los. Bitte bleibt drei Meter hinter mir, achtet auf meine Handzeichen und verhaltet euch leise. Bitte, achtet wenn ihr eure Lampen benutzt darauf, dass niemand mir damit direkt ins Gesicht leuchtet. Tut ihr das, bin ich minutenlang völlig blind und kann danach für stunden kaum etwas sehen.", erklärte ich ihnen noch einmal und gab somit meine letzte Anweisung.

Ich schnallte mir den Medi-Koffer auf den Rücken und lief los in Richtung des Kanals.

 

Ich erkannte den Kanal sofort wieder. Obwohl es schon so viele Jahre her war, hatte sich verändert nichts. Hier waren immer noch der gleiche Gestank und der gleiche Müll. Diesen Geruch hatten wir wochenlang nicht aus unserer Nase bekommen. Ich schob die Gedanken beiseite, weil er mir nicht gut tat und konzentrierte mich wieder auf den Einsatz.

Langsam lief ich, mir jeden Schritt genau überlegend in Richtung Abbiegung C17, ging mit der Gruppe in den nächsten Kanal. Hier bestand noch keine Gefahr entdeckt zu werden. Die Gefahr, dass Wachen bis in diesen Streckenabschnitt kamen, war minimal. Er war einfach zu weit von der Halle entfernt. Selten nur machten sich Geiselnehmer die Mühe, in solch großen Gruppen zu agieren, damit sie selbst den südlichen Kanal vollkommen überwachen konnten. Bei militärischen Gruppen oder bei politischen Geiselnahmen war das üblich, nicht aber bei Gruppen von Privatpersonen, wie es bei diesem Einsatz der Fall war. Deshalb würden sie nur den hinteren Teil des Kanalnetzes bewachen. Ich konnte also hier mein Team testen.

An der Abbiegung C17 angekommen, gab ich das Zeichen für Stopp, eine geballte Faust. Bat durch weitere Zeichen, in dem ich auf John, Sep, Rudi und Andi zeigte und das die Vier aufschließen sollten. Durch ein weiteres Zeichen machte ich den anderen verständlich, hier zu warten, bis wir zurückkamen.

Die Zeichen nutzte ich deshalb schon, weil ich wissen wollte, ob Senders Team, den gleichen Zeichensatz nutzte wie wir. Natürlich hätte ich hier noch flüstern können, aber so hatte ich auch dieses Problem abgeklärt. Sonst hätte ich mir ihre Zeichensprache erst zeigen lassen müssen. Soweit hatte ich vorhin nicht gedacht. Mit meinen Kameraden in der Schule brauchte ich keine Zeichensprache, wir hatten andere Möglichkeiten. Desweiter zeigte ich an, absolute Ruhe. Die Kollegen verstanden auch dieses Zeichen.

Wie ich erfreut feststellte, stand die Gruppe nach wenigen Sekunden still und leise im Schatten. Einen weiteren Test, musste ich mit meiner Gruppe machen, um später keine Probleme zu bekommen. Andere uns fremde Teams, hatten in solchen Momenten laut aufgeschrien. Ich ging in die Wand, wie wir das in der Schule, nannten.

Das Wandlaufen war eine, seit unserer frühsten Kindheit antrainierte Fähigkeit, die wir uns selbst beigebracht hatten. Sie ermöglichte uns in Essen und schmalen Gängen oder in Ecken zu laufen. Halt überall dort, wo wir beiderseits Halt fanden. Wir konnten dadurch bis fast an die Decke laufen oder stundenlang dort auszuharren. Ähnlich wie es Geckos machen. Ich brauchte das hier noch nicht, aber ich wollte, dass die Gruppe meine Fähigkeit schon einmal sah, damit ich während des Einsatzes, keinen plötzlichen Aufschrei von ihnen bekam. Den konnten wir uns, in bestimmten Situationen nicht leisten. Ein Schrei könnte uns bösen Ärger und viele Verletzte einbringen. Ich freute mich sehr darüber, dass alle ruhig blieben. Das war ein Zeichen dafür, dass ich es hier mir richtigen Profis zu tun hatte. Wie es schien, hatte ich eine wirklich gute Einheit erwischt. Ich war sehr stolz auf die Kollegen.

Der Kanal war höchstens anderthalb Meter breit. Also war es kein Problem in der Grätsche, beide Füße und Hände gegen die Wände zu drücken, um dann nach oben an die Decke zu laufen. Oder mit dem Kopf nach unten, einfach zu warten. Ich sprang also hoch und lief ca. drei Meter, dann begab ich mich mit einem Salto wieder auf die Füße.

Holte mit einem Wink die Gruppe heran und gab ihnen das Zeichen hinter mir zu bleiben. Andi holte auf mein Bitten hin, den Rest der Gruppe und folgte uns leise. Langsam und vorsichtig ging ich vorwärts, auf jedes Geräusch achtend. Die Gruppe blieb wie abgemacht, circa fünf Meter hinter mir, so dass ich den Gang vor uns ausspionieren konnte. So liefen wir die nächsten drei Kilometer, ohne dass wir jemand begegneten. Bis zum Eingang der Halle, hatten wir noch gute vier Kilometer vor uns. Ich wusste oder besser gesagt ahnte, dass wir bald auf erste Wachen stoßen würden.

Wir waren bereits im Kanal A29, überall sah ich Kippen, die höchstens zehn oder zwanzig Minuten in dem Kanal lagen. Ich machte John und Sender, die hinter mir liefen, darauf aufmerksam. Sender zeigte mir mit einem Daumen nach oben an, dass er meine Warnung verstanden hatte. Sofort bemerkte ich, dass sich die Gruppe noch leiser vorwärtsbewegte, was mit Stiefeln gar nicht so einfach war.

Die Wachen patrollierten also aller zehn Minuten diese Gänge. Wir mussten vorsichtig sein, um ihnen nicht über den Weg zu laufen. Wir gelangten an eine langgezogene Kurve, die man nicht einsehen konnte. Ich musste mich dahinter erst einmal in Ruhe umsehen. Deshalb gab ich der Gruppe hinter mir, ein Zeichen stehen zu bleiben und zu warten.

Ich lauschte und ging noch etwa fünf Meter nach vorn, so dass ich vor der Biegung war und ging an die Decke. Dort blieb ich kleben, wie wir das nannten und wartete auf die Wache. Da ich das schmatzende Geräusch hörte, dass ihre Stiefeln machten, wenn man sie aus dem Schlamm der Kanalisation zog. Es dauerte nicht einmal eine Minuten, bis der erste Posten unter mir erschien. Jetzt hieß es schnell und vor allem leise zu handeln. Der Posten ging ahnungslos rauchend, unter mir vorbei und leuchtet nur den Boden ab, konnte mich so an der Decke klebend gar nicht sehen. Er fühlte sich vollkommen sicher und ich stieß auf keinerlei Gegenwehr. Blitzschnell griff ich von oben in seine Schulter und gleichzeitig mit der anderen Hand um seinen Mund. In dem ich in seinen Nacken faste und eine kleine Drehung, im Bereich der Nackenmuskulatur vornahm, wurde ein sehr starker Schmerzimpuls an das Gehirn gesendet. Durch diesen Schmerzimpuls, kam es zu einer sofortigen Ohnmacht der betreffenden Person, der sich kein normaler Mensch entziehen konnte. Mit dem Auflegen der Hand auf den Mund, verhinderte ich, dass der Posten eventuell einen Ruf oder gar einen Schrei von sich gab. Wie immer in solchen Fällen, ich machte das ja nicht das erste Mal, leistete der Posten keinerlei Wiederstand. Langsam ließ ich ihn nach unten, ins Wasser gleiten. Kaum dass der Posten lag, sprang ich auf die Füße. Entschlossen packte ich den Posten unter den Achseln und zog ihn hinter die Biegung, wo die Gruppe auf mich wartete.

Sep und Andi, klebten ihm den Mund zu, so dass er nicht schreien konnte und zogen ihn zu der hinteren Gruppe. Die Beiden letzten nahmen ihn und brachten ihn nach draußen, zum Einsatzfahrzeug, damit er außerhalb der Gefahrzone war.

Nachdem ich den Posten abgeliefert hatte, kehrte ich an die gleiche Position zurück und klebte mich wieder unter die Decke. Es dauerte noch fast fünf Minuten bis der nächste Posten, sich suchend nach seinen Kameraden umsah. Als er unter mir war, legte ich ihn nach dem gleichen Muster schlafen. Erneut sprang erneut auf die Füße und zog ihn hinter die Biegung. Sep und Andi waren zurück, holten nun den zweiten Posten ab.

Ich gab der Gruppe zu verstehen, dass wir ein Stück weiter nach vorn gehen mussten. Es gab ungefähr zweihundert Meter von hier, eine Nische, in der die gesamte Gruppe Platz hatte. Vorsichtig ging ich weiter, um die Gruppe dort in Sicherheit zu bringen. Wir hatten jetzt noch ungefähr zwanzig Minuten, bis wir auf die nächste Streife stoßen würden. Erfreut stellte ich bei der Untersuchung der Posten und des Lagers fest, dass die Geiselnehmer ohne Funkgeräte gearbeitet hatten. Etwas ungewöhnliches, aber gut für uns. Somit mussten wir nicht damit rechnen, dass das Fehlen der Posten vorzeitig entdeckt wurde.

Ich behielt Recht mit meiner Vermutung, in der Nische hatten sich die Posten ihre Basis aufgebaut. Also würde auch meine Annahme stimmen, dass an der Biegung A15, ungefähr einen Kilometer von hier, in der nächsten Nische, ebenfalls ein Basislager befand. Sep und Andi schlossen mit dem Rest der Gruppe auf. Ich wies sie an, einen Abstand von mindestens drei Meter zu mir zu halten und dicht an der Wand zu bleiben. Alle folgten mir leise. Zügig, aber wachsam, gingen wir den nächsten Kilometer. Wir mussten über ein kleines Wehr, durch einen mit lauter spitzen Steinen blockierten Wall. Nach fast neunzehn Minuten, erreichten wir den nächsten Posten.

Kurz vor der Nische gab ich den Befehl Stopp. Alle blieben dicht an die Wand gepresst stehen. Ich ging in die Wand, arbeitete mich Meter für Meter in Richtung Nische vor. Dort saßen beide Posten, fest schlafend an der Wand gelehnt. Langsam ging ich zurück. Ich informierte Rudi, John, Sep und Andi mit Handzeichen über die Lage, fragend sah ich Rudi an und zeigte auf John, der in dem Team als bester Nahkämpfer galt. Rudi nickte zustimmend, dass er einverstanden war. Ich gab John ohne Worte, das Zeichen mir zu folgen. Zu sprechen wäre zu gefährlich, da man nie wusste, wie fest die Wachen schliefen. Leise jedes Geräusch vermeidend, ging ich wieder in die Wand, John folgte mir dicht an die rechten Wand gepresst. An der Nische angekommen, sah ich nach, ob die Wachen noch schliefen. Es hatte sich nicht geändert.

Ich bat John, um seine Hände, leise ging ich über seine Hände, aus der Wand. Machte ihm mit Zeichen klar, dass ich den hinteren Posten nehmen würde und er sich um den vorderen kümmern sollte. Huschte durch den Eingang, an der ersten schlafenden Wache vorbei und kniete mich neben die zweite. Durch ein Nicken, gab ich John zu verstehen, dass er beginnen konnte. Ein Griff in die Muskultur eine kurzer Dreher, meine Wache schlief. John jedoch hatte Mühe, die Wache wehrte sich nach Leibeskräften. Ich lief zu ihm hin, um ihn zu helfen. Griff, der sich immer heftiger wehrenden Wache, in die Nackenmuskulatur, ein kurzer Dreh, schon schlief auch sie. John zuckte entschuldigend mit den Schultern, er verstand nicht was er falsch gemacht hatte und warum es bei ihm nicht funktioniert hatte. Ich nahm kurz seine Hand und drückte einmal schwach und einmal stark zu, da begriff er, dass er mehr Kraft verwenden musste. Wir klebten den Posten den Mund zu, fesselten sie und zogen beide aus der Nische. Reichten sie anschließend an die Kollegen weiter.

Wir hatten nun schon vier Posten ausgeschaltet. Runge meinte, es wären ungefähr zehn bis zwölf Leute hier. Ich war der festen Meinung, dass es wesentlich mehr Geiselnehmer wären. Das bestätigte sich jetzt schon, da ich davon ausging, dass mindestens noch sechs Leute in der Halle sein würden, bei der Geisel. Ich war der festen Überzeugung, dass im Nord- und Westkanal wenigstens weitere zwei Posten anzutreffen waren. Rein rechnerisch wären das schon dann schon vierzehn. Als Rudi, Andi und Sep zu uns aufgeschlossen hatten, machten wir uns wieder auf den Weg. Circa tausendzweihundert Meter von hier, gab es eine weitere Nische, die letzte vor dem Einstieg in die Halle. Dort vermutete ich, eine weitere Basis, in der sich die Patrouillen, die die Kanäle sichern sollten, ein Lager eingerichtet konnten.

Es war jetzt kurz vor ein Uhr. Ich gab Sep ein Zeichen, er sollte den Funker fragen, wie weit die andern Teams vorgedrungen waren. Dieser verstand nicht gleich, was ich von ihm wollte. Deshalb ging ich zu ihm und gab ihn leise den Befehl nachzufragen.

"Sep, frag Max bitte, wie weit die anderen Teams sind. Er soll mir Bescheid geben, wenn sie auf ihrer Position angekommen sind. Aber vorsichtig und leise bitte."

Sep lief zur hinteren Gruppe, kam mit der Information zurück, dass die vier draußen in Handschellen lagen, zwei unserer Leute zusätzlich draußen zur Bewachung geblieben sind, der Rest war wieder zurück. Leise erklärte er mir

"Die Gruppe Zimmermann, ist ohne auf jemand zu treffen auf Position, im Kanal vor dem Eingang stehen zwei Wachen. Die Gruppe Serow, ist nur noch fünfhundert Meter von ihrer Position entfernt, hat bis jetzt niemanden gesehen."

"In Ordnung, weiter wie besprochen", flüstere ich den Männern zu.

Wieder gingen wir zügig, so gut es ging an die Wänden gedrückt weiter, zum Kanal A02, der letzten Abbiegung vor dem Einstieg in die Halle. Wir bogen in den Kanal A02 ein, liefen dann noch etwa neunzig Meter, als ich Geräusche hörte. Ich gab das Zeichen zurück. Sofort zogen die Männer hinter die nächste Biegung zurück und ich ging in die Wand. Ich hörte Stimmen, aber es war zu spät noch jemanden zu holen. Also blieb ich erst einmal, wo ich war. Hoffte sehr, dass meine Kollegen richtig reagieren würden. Ließ ohne mich zu erkennen zu geben, die beiden Wachen unter mir hindurch laufen. Vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, ging ich hinter den beiden aus der Wand. Ich landete leise im Wasser, in dem ich einen Handstand machte und langsam die Füße geräuschlos ins Wasser setzte. Hier war wieder einmal von Vorteil, dass ich immer barfuß lief. Dadurch konnte man sich völlig vollkommen lautlos bewegen: Mit Schuhen oder gar Stiefeln, war das einfach nicht möglich.

Langsam huschte ich hinter den Wachen her, jeden Schatten ausnutzend, die Beiden bewegten sich ahnungslos auf die Abzweigung zu. Im Stillen hoffte ich, dass die vorderen Gruppenmitglieder des Sender Teams mitdachten. Wie oft habe ich im letzten Jahr schon gedacht, wie gut es wäre mit fremden Teams auch die Verbindung zu haben, wie mit meinem Team. Es wäre so einfacher die anderen zu warnen. So war dies immer eine sehr unsichere Sache. Man wusste einfach nicht, wie die fremden Kollegen reagieren würden. Ich hatte sie zwar auf diesen Fall vorbereitet, aber Theorie und Praxis, wichen immer von einander ab. In dem Moment, als die Wachen, die Leute vom SEK sahen, griff John den Posten an, der ihm am nächsten stand. Ich nahm die zweite Wache. Ein Griff in die Schulter, eine Drehung, schon lag der Posten schlafend am Boden. Diesmal klappte es auch bei John. Zufrieden nickte ich John zu. Das waren also Nummer fünf und sechs. Vorsichtig ging ich zurück in den Kanal und lauschte, nichts war zu hören.

Ich winkte den Jungs zu mitzukommen, machte das Zeichen für weiter wie gewohnt. In dem ich mit der Hand von hinten nach vorn zeigte. Lautlos ging es weiter. Nach etwa hundert Metern, kam ein weiterer Stopp. Ich ging in die Wand, inspizierte von der Decke aus, die Nische.

Dort saß ein einzelner Mann mit dem Rücken zu mir und starrte in ein Feuer. Langsam ging ich aus der Wand und schlich mich von hinten an. Die Wache wusste bestimmt im Nachhinein nicht, was ihr geschehen war. Sie schlief sofort. Vorsichtig jedes Geräusch vermeidend, nahm ich mir den Posten auf die Schulter und trug sie auf diese Weise zur Gruppe. Sep und Andi waren noch nicht zurück, also nahm sich Rudi der Wache an, John blieb in meiner Nähe.

Eins wunderte mich sehr und machte mich nervös, bis zu diesem Augenblick waren die Posten waren immer zu zweit gewesen, die letzte Wache war komischerweise alleine. Das irritierte mich völlig und machte mir schlimmes Bauchweh. Normalerweise war es so, dass solche Truppen nach einem bestimmten Schema agierten, das sie konsequent durchzogen.

Wo war also dessen Partner, der zweite Mann? Fragte ich mich immer wieder. Lief er hier noch irgendwo herum? Hatten wir ihn vielleicht übersehen? Das konnte fatale Folgen, für uns und vor allem für die Geisel haben. Nervös horchte ich in die Gänge, als die anderen sich bewegten, gab ich ziemlich genervt das Zeichen für Ruhe. Solche Sachen machten mich immer sehr nervös. Schon einige Male, waren wir durch solche scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten, in schlimme Kämpfe hineingeraten. Lange lauschte ich, aber es blieb alles ruhig. Das konnte viele Gründe haben, die nichts mit dem Einsatz hier zu tun hatten. Aber ich war vorsichtig geworden, bei solchen Zwischenfällen.

Es nutzte nichts hier ewig zu warten, auch wenn mich diese Tatsache völlig verunsicherte. Langsam wurde die Zeit knapp, wir mussten unbedingt weiter, um die Zugriffsposition zu erreichen. Zwischen 2 und 4 Uhr, war immer die beste Zeit, um einen Zugriff durchzuführen. Da die Aufmerksamkeit der Entführer, in dieser Zeit fast gegen Null sank. Also beschloss ich weiter zu laufen. Die anderen kamen zurück und schlossen auf. Kaum hatte die Gruppe uns erreicht, kam Max auf mich zu, um mir zu berichten.

"Kahlyn, das Team von Serow ist auf Position, auch am Westausgang sind zwei Wachen."

Ich nickte, gab meinem Team das Zeichen, für den Aufbruch. Trotzdem informierte ich die hintere Gruppe, von der Tatsache, dass einer der Posten fehlte. Gab ihnen die Anweisungen, die Augen offen zu halten. Falls der fehlende Posten, noch auftauchen sollte.

"Sichert die Gruppe, nach hinten ab."

Vorsichtig inspiziere ich den Eingang zum Kanal A01, horchte auf alle Geräusche. Da war nichts zu hören. Es waren noch ungefähr siebenhundert Meter, bis auch wir unsere Position erreicht hatten. Aufmerksam, aber trotzdem zügig, ging ich weiter. Jetzt noch mehr als zuvor, auf jedes Geräusch achtend. Vor allem jedes Geräusch vermeidend. Aber, es war kein weiter Posten zu sehen oder zu hören. Nach neun Minuten, hatten auch wir endlich unsere Position erreicht.

 

Erleichtert atmete ich auf. Alles war noch so, wie ich es in Erinnerung gehabt hatte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Jetzt wusste ich, dass die Geisel, sollte sie noch leben, eine reelle Chance hatte. Vielleicht bekam ich sogar die Möglichkeit, dass ich sie vor dem Zugriff in Sicherheit bringen konnte. Genau sah ich mir den Gang an und stellte erleichtert fest, dass mich meine Erinnerungen nicht im Stich gelassen hatten. Oberhalb des Ausgangs, gab es immer noch diese kleine Luke, die wie schon damals, unbewacht war. Durch diese Luke, sind wir damals unseren Übungsgegnern immer entwischt. Der Luke hatte nie jemand Bedeutung zugemessen, da es aus der Halle heraus gute zwanzig Meter in die Tiefe ging. Hier konnte man normalerweise nur abseilen und das würden die am Ausgang stehenden Posten, sofort mitbekommen. Ich wies die Gruppe an, stehen zu bleiben und zu warten, bis ich zurück war.

Langsam, jedes Geräusch vermeidend, nahm ich den Medi-Koffer ab und übergab ihn John, der mich verwundert ansah. Als dieser etwas sagen wollte, legte ich den Finger auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Zeigte nach vorn, zu den nicht weit entfernt stehenden Wachen, die am Eingang zur Halle und mit den Rücken zu uns standen. Die Kollegen standen, genau wie ich, in den Schatten des Tunnels. Ich zog mir, mich an die Wand drückend, die ballistische Schutzkleidung aus. Etwas, dass Sender und den anderen gar nicht gefiel. Jetzt wollte sich auch der Major noch einmischen und etwas sagen. Ich gebot ihn Ruhe. Zeigte ziemlich genervt, auf die Wache und schüttelte verneinend den Kopf. Zeigte dann auf das Handgelenk, um ihm klar zu machen, dass uns die Zeit weg lief. Wir keine Zeit für Diskussionen hatten. Wie oft hatte ich solche Situationen, schon mit meinem Oberst in der Soko durch. Jedes Mal, wirklich bei jedem Einsatz mit ihm, war es das Gleiche. Jeden Schritt eines Einsatzes, sollte ich immer im Vornherein offen legen und begründen. So konnte man doch nicht arbeiten. Viele Dinge bei solchen Einsätzen, konnte und musste man aus der Situation heraus entscheiden. Ich zog also auch meinen Overall aus, ich glaube die Männer verstanden gar nichts mehr. Zum Glück verhielten sie sich weiter ruhig. Ich gab ihnen das Zeichen hier im Schatten zu verweilen, bis ich zurück kam.

Diesen Teil des Planes, hatte ich mit Absicht vor ihnen verschwiegen. Weil mir klar war, dass ich dafür, bei diesem ersten Einsatz, nie die Erlaubnis bekommen hätte. Dazu gehörte einfach, ein wenig Vertrauen. Vor allem kannte Sender und das Team ja meine Möglichkeiten nicht. Vertrauen konnte Sender noch nicht haben, er kannte mich ja kaum. Vor allem hatten wir noch nie zusammen gekämpft.

Ich drückte Rudi meine Sachen einfach in die Hand und nahm mir einige Einweghandfesseln mit, die ich schnell noch aus meinem Gürtel zog. Davon hatte ich bei solchen Einsätzen immer reichlich in meiner Gürteltasche. Kurz überlegte ich und nahm John den Medi-Koffer noch mal ab. Öffnete ihn völlig lautlos und zog mir zehn Einheiten K99, ein Mittel gegen hohes Fieber und 5 Einheiten A13 auf, damit ich besser Luft bekam und mein Fieber einigermaßen in den Griff bekam. So konnte ich nicht arbeiten. Spritzte mir alles und schloss den Koffer, gab ihn John zurück. Der sah mich erschrocken an. Ich drückte seine Hand und nickte kurz, damit er wusste, dass alles in Ordnung war. Erklären konnte ich jetzt sowieso nichts. Das alles hatte keine Minute gedauert, war aber eine Maßnahme die sein musste, um den Erfolg des Einsatzes zu gewährleisten.

Aus einem Seitenfach meines Rucksacks holte ich meine Handschuhe und zog diese Über. Diese Handschuhe hatten an den Handballen, stählerne Krallen, die mir mehr halt in der Wand geben sollten. Die Finger jedoch waren freiliegend, so dass ich jede noch so kleine Unebenheit, zum Festhalten nutzen konnte.

Wieder legte ich die Finger auf die Lippen und zeigte dann nach oben. Ich war jetzt nur noch mit Bustier, Turnhose begleitet. Genau diese Aktion war der Grund, weshalb ich vorhin eine hautfarbene Binde gewählt hatte, denn eine weiße Binde hätte bis sonst wohin leuchten.

An den Waden und den Unterarmen trug ich meine Halfter, mit Messern darin, um die Taille mein Fangseil, meine einzigen Waffen, außer meinen Mejo, die ich von der Schule mitbekommen hatte, da wir die Waffen selbst hergestellt hatten, konnte uns Mayer die Waffen nicht verweigern. Das Mejo war eine Art Jo-Jo, welches mit rasierklingenscharfen Messern, bestückt war. Durch einen geschickten Wurf, circa fünf Meter weit flog. Durch den Druck auf eine spezielle Taste, konnte ich fünf rasiermesserscharfe Klingen ausfahren. Das Mejo, konnte man mit und ohne Messer werfen, es war eine nicht zu unterschätzende Waffe. Es hatte den Vorteil, dass es wie ein Bumerang, zum Werfer zurück kam.

Zum Entsetzen meiner Kollegen ging ich in die Wand, die vier Männer, die an der Spitze des Teams standen, hielten den Atem an. Zu meinem Glück blieben sie auf ihren Posten. Langsam lief ich immer höher in der Wand. Es war hier eine Art Kamin, der fast zwanzig Meter in die Höhe reichte. Bald war ich zehn Meter über den vier Kollegen, die mit mir die Spitze unseres Teams bildeten. Langsam und völlig lautlos ging ich auf die Luke zu. Erreichte sie über den Köpfen der Wache und von diesen völlig unbemerkt. Ich drehte mich vor der Luke um, so dass ich erst einmal vorsichtig hindurch spähen konnte, um zu sehen, ob dort da ein Posten stand. Da niemand zu sehen war, glitt ich leise durch die Luke und landete lautlos auf der anderen Seite. Hinter der Luke befand sich eine Balustrade, die ungefähr vierzig Zentimeter breit war und fast um die gesamte Halle lief.

Ich sondiere, erst einmal die Lage. Erleichtert atmete ich auf. Hier befand sich auch der vermisste Posten. Er saß schlafend auf einer Kiste, ungefähr sechs Schritte von mir entfernt, auf der linken Seite der Luke und sollte diese bestimmt im Auge behalten. Behutsam jedes Geräusch vermeidend, lief ich auf ihn zu. Immer nahe der Wand, da die Bretter der Balustrade in der Mitte knarrten. Legte ihm eine Hand auf den Mund und griff gleichzeitig ins seinen Nacken, schon schlief er noch tiefer. Ich schulterte mir die Wache und lief zehn Meter weiter, dort gab es einen Gang, der in einen der Lagerräume führte. In diesem Raum legte ich den Posten ab und band ihm mit Handschellen, die Hände auf den Rücken zusammen. Schnitt ein Stück seines Hemds ab und fertige daraus einen Knebel. Leise hob ich ihn hoch und trug ihn, durch einige andere Kammern. Die letzte der Kammern, war damals mit Gitterboxen bestückt.

Selbst diese waren noch da, wie ich erfreut feststellte. Ich legte ihn dort hinein, band ihn mit einem Seil, was herum lag, an den oberen Gitterstäben fest. So dass er mit seinem gesamten Gewicht, an seinen Armen hing. Das hatte mehrere Vorteile, für mich. Er würde etwas leiden und konnte auf diese Weise keinen Krach machen, da er sich selber wahnsinnige Schmerzen zufügte, wenn er sich bewegte. Vorsichtshalber legte ich ihn noch einmal schlafen, so hatten ich noch gute fünfzehn Minuten Zeit, um die Geisel zu finden. Fertig mit ihm, ging ich zurück, auf die Balustrade.

Fast sofort sah ich die kleine Tengler. Ein junges Mädchen von etwa fünfzehn Jahren. Die Kleine sah verweint aus, aber saß fest schlafend, nur etwas zehn Meter unterhalb der Balustrade. Sie befand sich alleine in einer Ecke, die völlig unbewacht war. Vorn am Tor, etwas dreißig Meter von mir entfernt, standen zwei weitere Wachen, zwei schliefen mit dem Kopf auf dem Tisch, zwei standen am Ende der Halle, etwa fünfzig Meter von mir entfernt, hinter einem kleinen Transporter. Diese beiden unterhielten sich lautstark, ich hatte das Gefühl sie sich sehr heftig stritten. Weiter konnte ich niemand erkennen.

Ich zog meine Spezialbrille über die Augen, da ich jetzt ins Licht musste. Vorsichtig schlich ich weiter über die Balustrade, immer fest an die Wand gedrückt, bis zu der nach unten führenden Treppe. Entschied mich dann aber um und ließ diese ebenfalls links liegen und ging lieber noch ein kleines Stück weiter. Die Treppe war gefährlich, da auch sie sehr stark knarrte. Ein falscher Schritt und ich würde mich verraten und dadurch die Geisel in Gefahr bringen. Es gab eine weiter Möglichkeit für mich, nach unten zu gelangen und diese war wesentlich sicherer. Also schlich ich noch ein kleines Stück weiter. Nur vier Meter musste ich gehen musste, um an eine der Säule zu gelangen, die nach unten führte. An der konnte ich ohne Schwierigkeiten und völlig geräuschlos nach unten klettern. Unten angekommen, huschte ich auf das Mädchen zu. Es schlief tief und fest.

Deshalb drehte ich mich noch einmal um und verschwand kurz in der anderen Richtung. Ich musste unsere Flucht vorbereiten. Ließ das Mädchen erst einmal dort sitzen, wo sie saß. Verschwand in der Dunkelheit und schob die Brille nach oben auf die Stirn.

Von hier aus gab es einen weiteren Ausgang, der in die Kanalisation führte. Der aber in keiner der mir bekannten Karten, eingezeichnet war. Ich hatte ihn vor zehn Jahren, durch Zufall entdeckt. Hoffte nur, dass auch dieser Teil der Halle sich nicht verändert hatte. Vor allem, dass die Tür nicht knarren würde. Vorsichtshalber, holte ich aus meinem Unterarmhalfter eine kleine Ampulle mit Öl. Es war ein Graphity-Öl, welches uns schon oft geholfen hatte, um quietschende Angeln von Türen zu beruhigen. Ich hoffte sehr, dass das auch dieses Mal helfen würde. Das Öl verteilte ich an dem oberen und unteren Scharnier. Normalerweise, nutzten wir es nur zum Einölen unserer Messer. Um Rostbildung zu verhindern, wenn wir wussten, dass wir lange ins Wasser mussten. In solchen Fällen, wie diesen, setzten wir es auch einmal zweckentfremdet ein. Ich zog die Brille wieder über meine Augen und machte mich auf den Rückweg zur Geisel. Es war immer schlimm mit diesem auf und ab der Brille. Nur war ich hier alleine, ich konnte es mir nicht leisten, minutenlang nichts zu sehen.

Ich schlich jeden Schatten nutzend, zurück zu der Geisel und beobachtete sie eine Weile. Sie schlief zu fest, um sie schnell zu wecken. Deshalb näherte ich mich sehr vorsichtig dem Mädchen. Was ich jetzt tat, würde ihr zwar ein paar Tage schlimmes Kopfweh einbringen, dafür war sie aber in Sicherheit. Durch eine unbedachte Bewegung, einen leisen Schrei oder einem Geräusch, wie das Knarren des Stuhles, könnte sie uns verraten. Dadurch würde sie sich selber in Gefahr bringen. Deshalb legte sie kurzerhand mit einem Griff in den Nackenmuskeln, ebenfalls schlafen. Dann schnitt ich das Mädchen los und nahm sie auf die Schulter. Lief mit ihr zurück in den Schutz der Dunkelheit. An der Tür zur Kammer, zog ich mir die Brille von den Augen und ließ sie am Hals, wie eine Kette baumeln.

So leise wie möglich, öffnete ich die Tür soweit, dass ich mit dem Mädchen auf der Schulter hindurch passte. Das Öl hatte wieder Wunder bewirkt und kein noch so kleines Geräusch, drang an mein Ohr. Kaum hindurch geschlüpft, zog ich sie hinter uns, genauso leise wieder zu. Einen Moment blieb ich stehen und lauschte nach draußen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, der Streich war mir gelungen. Die Geiselnehmer hatten von der ganzen Sache nichts bemerkt. Wieder einmal hatte es geklappt. So viel Jahre war es her, die Kollegen vom Grenzschutz, hatten wir genau auf diese Weise, jedes Mal ausgetrickst. Erleichtert atmete ich auf. Jetzt konnten wir den Zugriff, ohne Gefahr für die Geisel, unternehmen.

Erfreut kletterte ich mit der Geisel auf der Schulter, durch die ganz hinten im Raum befindliche Luke. Lief so schnell es ging durch den Gang, zurück zu meinen Kollegen. Die bestimmt langsam unruhig wurden. Keine Minute später, kam ich mit der Kleinen auf der Schulter, im Kanal A02 heraus und eilte die achthundert Meter zurück zu meinem Team.

Übergab das noch ohnmächtige Mädchen, einen Kollegen, die sie bewachen sollten. Informierte die hinteren Mitglieder des Teams darüber, dass ich fehlenden Posten gefunden hatte. Wies an, dass sich Wolle mit der Geisel ein wenig zurückzuziehen und in der Nische, am Feuer zu warten sollte, bis man ihn und die Geisel abholen würde. Er solle sie mit seinem Leben beschützen.

Endlich konnte ich nach vorn zur ersten Gruppe gehen. Rudi und seine Männer guckten zwar etwas deppert aus der Wäsche, weil ich aus der verkehrten Richtung kam. Aber es war egal, die Geisel lebte, nur das war wichtig und zählte. Schnell zog ich meinen Overall, die Schutzkleidung wieder an. Nahm meinen Medi-Koffer wieder auf den Rücken. Von Max ließ ich, an die anderen drei Teams, das Signal für den Zugriff geben. Die Nord und West Teams würden dafür Sorge tragen, dass keiner in diesen Richtungen entkam. Das Team von der Bereitschaftspolizei, würde uns die Geiselnehmer in die Arme treiben.

Von außen stürmte eine Gruppe der Bereitschaftspolizei das Gebäude. Die Entführer ihrer Geisel beraubt, waren so perplex, dass sie völlig irrational handelten. Sie stürmten in alle Gänge der Kanäle, um zu entkommen. Dort gab es nur einen sehr kurzen Kampf. Im Norden fünf Polizisten gegen zwei der Geiselnehmer. Im Westen Fünf gegen drei und im Süden sieben gegen sieben. Zwei Kämpfer, des Senders Teams, waren draußen und einer bewachte die Geisel in sicherer Entfernung des Kampfes. Nach nicht ganz fünf Minuten, waren der Kampf und damit auch der Einsatz, ohne Verluste zu Ende. Ich schickte Max zurück, um Wolle und die Geisel zu holen und beauftragte ihn, unseren Mannschaftsbus vor die Halle zu befehlen.

Die Entführer, wurden der Bereitschaftspolizei übergeben. Insgesamt war es ein guter Fang. Zwanzig Kriminelle weniger und die Geisel war am Leben. Ich freute mich für deren Eltern und für das Mädchen. Als die Bereitschaftspolizei schon abziehen wollte, fiel mir der Gefangene in der Gitterbox ein. Ich rief dem Einsatzleiter der Bereitschaftspolizei zu, dass oben in einen der Räume noch einer hängen würde.

Der Kollege sah mich etwas verwirrt an. "Wie da hängt noch einer?"

"Sir, entschuldigen sie, ich hab den total vergessen, Sir. Der hängt dort schon über eine dreiviertel Stunde, Sir. Holt den lieber mal runter, dem tun bestimmt schon die Arme tüchtig weh, Sir", erklärte ich dem Leiter der Bereitschaftspolizei, der mich kopfschüttelnd ansah. "Ich hab es ihm etwas unbequem gemacht, Sir. Tut mir leid, Sir, ich kann da nicht so aus meiner Haut, Sir."

Der schickte sofort einen Kollegen los, der kurz darauf mit einem ziemlich, geschafft aussehenden Geiselnehmer zurück kam, der sich ständig die Arme rieb. Die Kollegen von der Soko Tengler und der Bereitschaftspolizei, sahen mich lachend an. Verlegen zuckte ich mit den Schultern, damit musste man bei mir immer rechnen. Ich machte es solchen Gangstern immer etwas ungemütlich. Das hatte mir auch der Oberst in all den Jahren, nicht austreiben können. Ein bisschen Strafe musste sein, vielleicht half das ja, dass sie nicht rückfällig wurden.

"Sir, ich habe es ihm etwas unbequem gemacht, Sir. Strafe muss sein, Sir", waren Worte, die ich immer zu Gosch sagte und der fand die Antwort immer zum Lachen.

Warum habe ich nie wirklich verstanden. Aber ich fand es gut, wenn man nach so einem Einsatz etwas lachen konnte. Dass förderte immer die Entspannung der Kollegen etwas und erleichterte so, das herunterfahren aus dem Einsatzstress.

Max kam mit Wolle und der völlig verwirrten und am ganzen Körper zitternden Geisel zurück. Ich untersuchte das Mädchen, versorgte die Schnittwunden an den Handgelenken, so wie einige Blessuren im Gesicht, den Armen und den Beinen. Nach dem ich Salben und Verbände angelegt hatte, spritzte ich zitternden Mädchen N12, ein leichtes Beruhigungsmittel, das auch ein leichtes Schmerzmittel enthielt. Nach wenigen Minuten, ging es ihr wieder etwas besser. Kontrollierte allerdings auch beide Teams auf Verletzungen, das mache ich immer. Zum Glück war niemand verletzt, das war gut und genau das, was ich mir immer wünschte. Ich nickte erleichtert und war völlig zufrieden.

Wir wurden nicht mehr gebraucht, so gingen wir, gemeinsam mit der Geisel zu unserem Einsatzfahrzeug. Das Serow Team wurde mit dem Bus der Bereitschaftspolizei, zu ihrem Bus am Westausgang des Kanals gefahren. Fran war mit seinem Kollegen und den Straftätern, in der Zwischenzeit vor der Lagerhalle angekommen und übergab die restlichen Gefangenen ebenfalls. Es war jetzt 2 Uhr 53, als der Einsatz für uns endgültig beendet war und wir zurück fuhren.

Die Geisel würde erst in der Einsatzzentrale, durch Polizeirat Runge an ihre Eltern übergeben. Der ebenfalls dort auf uns wartete. Wir stiegen wieder in das Fahrzeug und ließen uns auf die Sitze fallen. Sender kümmerte sich mit Max und Wolle zusammen, ganz liebevoll um die Geisel, wie ich beobachten konnte. Sie sprachen beruhigend auf das Mädchen ein. Also brauchte ich mich nicht um die Geisel kümmern und hatte eine kleine Pause. Vorsichtig drehte ich mich zu John um, der eine Reihe hinter mir saß.

"John, bitte lasse mich zehn Minuten schlafen und schlage mich nicht wieder."

John fing schallend an zu lachen und ich machte die Augen zu. Ich war fix und fertig, meine Rippen schmerzten und jeder Atemzug tat mir weh. Meine Füße brannten wie Feuer. Ich war wohl noch nicht so fit, wie ich dachte. Auch machte mir dieses verdammte Fieber, schon wieder zu schaffen. Ich musste einfach etwas zur Ruhe kommen. Das spielte aber im Moment keine große Rolle für mich. Ich war einfach glücklich und zufrieden. Die Geisel lebte, etwas Schöneres gab es nicht für mich. Tief atmete ich ein und aus. Sofort war ich abgetaucht, wie wir das Abspannen immer nannten. Knapp zwölf Minuten später machte ich die Augen wieder auf. John hatte sich neben mich gesetzt und sah mich lange an.

"Weißt du Mäuschen, dass du dir eine Tracht Prügel verdient hast?"

Erschrocken sah ich ihn an, weil ich mir keiner Schuld bewusst war, etwas falsch gemacht zu haben. Ich überlegte, ob ich ihn wieder geschlagen hatte. Aber ich war mir sicher, niemanden berührt zu haben im Schlaf.

"Warum?"

 Ich schloss kurz die Augen und schob meine Brille hoch, um mir mein müdes Gesicht zu reiben. Ich war platt wie eine Flunder. Meine Konzentration war einfach verbraucht. Ich konnte nicht mehr richtig denken.  

"Warum, fragst du? Du gehst mal eben, ohne Weste und Schutzkleidung, einfach so, mitten in ein Lager von sieben bewaffneten Entführern und holst die Geisel dort raus. Vor allem ohne, dass die das merken und fragst mich noch warum?"

Ich begriff immer noch nicht, was er von mir wollte. Das sah mir John glaube ich an.

"Verdammt nochmal Mäuschen, die hätten dich erschießen können. Dich und die Geisel", John war richtig wütend geworden.

"Haben sie doch aber nicht", gab ich ihm trocken zur Antwort.

Müde rollte ich mich in meinem Sitz zusammen, um noch etwas zu schlafen.

In den Moment sah John meine Füße, die arg ramponiert waren. "Um Himmels Willen, deine Füße Mäuschen, die müssen wir verbinden."

Ich schüttelte müde den Kopf. "Nein John, lass sie bluten. Das Blut reinigt die Wunden und wäscht den Dreck heraus. Die muss ich dann erst einmal richtig auswaschen. Wenn wir auf der Wache sind. Das ist nicht schlimm. Vorher kann ich da gar nichts machen. Sonst bekomme ich dort den Brand rein. Ich mach das dann gleich, wenn wir zu Hause sind oder in dieser, wie hast du es genannt? Na da, wo wir vorhin waren. Da wird es doch sicher ein Waschbecken geben. Es ist nicht schlimm und tut nicht einmal weh. Beruhig dich wieder."

John allerdings, wollte sich nicht beruhigen. Er stand auf und ging zum Fahrer. "Fran, sag mal, wie lange brauchen wir noch bis zur Einsatzzentrale?"

Fran sah verwundert zu John hoch. "Warum John, vielleicht fünf oder zehn Minuten. Je nachdem, wie ich durch kommen. Wieso?"

Das war John viel zu lange. "Dann gebe mal etwas Gas. Kahlyns Füße, bluten wie verrückt. Sie hat gestern schon so viel Blut verloren."

Fran nickte und schaltete das Blaulicht ein um schneller vorwärts zu kommen. Vor allem gab er richtig Gas. Keine vier Minuten später, kamen wir in der Einsatzzentrale an. Dort scheuchte mich John, ohne Widerworte zu zulassen, in die nächste Toilette. Ich war völlig verwirrt. Das war doch nicht Schlimmes. Das waren kleine Kratzer. Deshalb musste man wirklich nicht so einen Aufstand machen. John dagegen tat so, als wenn ich kurz vor dem Verbluten stände. Ich musste John unbedingt einiges über mich erzählen, um ihn in Zukunft solchen Stress zu ersparen. Damit er nicht jedes Mal gleich in Panik geriet, wenn ich etwas blute. Aber das hatte noch etwas Zeit, heute war ich viel zu kaputt und müde dazu. Deshalb folgte ich John artig, um einer unnötigen Diskussion aus dem Weg zu gehen. Seine Fürsorge tat mir irgendwie gut. Wir gingen also ohne Zwischenstopp, an Runge vorbei. Bei dem ich eigentlich Meldung machen müsste und der mich sofort sprechen wollte. Aber von John mit den Worten, abserviert wurde, "Sofort, Genosse Polizeirat, erst einmal muss ich das Mäuschen hier verbinden."

Was mich verwunderte, denn Runge ließ sich auf diese Weise einfach ruhigstellen. Wir gingen auf dem kürzesten Weg, auf die nächste Toilette und an das nächste Waschbecken. Dort half mir John nach meinen Anweisungen, meine Füße zu versorgen. Er war ein richtig guter Sanitäter, genauso gut wie meine Kameraden. Auch wenn er vieles, was ich von ihm verlangte, erst einmal hinterfragte. Trotzdem stellte er meine Anordnungen nicht einmal in Frage. Es war ein richtig schönes Arbeiten mit ihm. Ich war total froh, solch einen neuen Freund zu haben. Denn ich wusste er würde mir in jeder anderen ähnlichen Situation, genauso treu zur Seite stehen und helfen. Das tat gut zu wissen und beruhigte meine größten Ängste. Mit der Wundversorgung fertig, zog ich die Stiefeln wieder an. John schüttelte den Kopf.

"Du bist unmöglich Kahlyn. Hat dir das schon mal jemand gesagt."

Erstaunt sah ich zu ihm auf, er war gut anderthalb Meter größer als ich. Da ich auf dem Boden saß, er jedoch stand.

"Ja, Oberstleutnant Mayer, sagte das ständig zu mir."

Wieder schüttelte er den Kopf. "Ach Manne, du verstehst wirklich nicht, was ich meine", auf einmal ging er in die Hocke, so wie es Sender schon einige Mal gemacht hatte, um mit mir auf Augenhöhe zu kommen. "Du bist richtig gut, Mäuschen. Aber ich hatte eine Heidenangst um dich. Mache, dass nie wieder, sage wenigstens Bescheid, was du vor hast. Ich glaube, das waren die längsten dreißig Minuten in meinem Leben. Verspreche mir das. Bitte, Kahlyn."

Ich nickte, was hätte ich dazu auch sagen sollen. Ich würde nie jedem alles sagen können, das ging gar nicht. Viele Entscheidungen, musste man einfach spontan treffen. Man konnte in manchen Situationen einfach nichts erklären. Ein Flüstern hätte uns verraten. Aber, wenn es ihn beruhigt, konnte ich ja nicken. John schien sich damit zufrieden zu geben. Ich räumte meinen Koffer zusammen und stand vorsichtig auf. Die Verbände saßen gut, nichts drückte oder tat weh.

"Na nun komm, bringen wir es hinter uns", forderte ich John auf.

Mit einem bangen Gefühl, was jetzt gleich kommen würde, ging ich los zum Rapport. Vor allem, weil ich mich vorher versorgt hatte. John, der immer noch vor mir hockte, stand jetzt ebenfalls auf und ging zur Tür, um sie mir aufzuhalten. Wir liefen nach vorn in das Zimmer, in dem wir den Einsatz geplant hatten. John machte die Tür auf und als ich den Raum betrat, klatschten alle in die Hände. Ich wusste gar nicht, was das zu bedeuten hatte. Ging deshalb, wie ich das immer machte, auf den Einsatzleiter zu und salutierte. Machte ordentlich Meldung, unabhängig von dem Lärm den die Männer machen.

"Sir, Einsatz um 2 Uhr 53 erfolgreich beendet, Sir. Die Geiselnehmer wurden ordnungsgemäß den zuständigen Behörden übergeben, Sir. Keine Verletzten und die Geisel habe ich Major Senders übergeben, wo sie sich jetzt aufhält, weiß ich nicht, Sir."

Runge schüttelte den Kopf, dann wollte er mir auf die Schulter klopfen, allerdings wich ich reflexartig aus. Reflexe die wir seid klein auf trainiert hatten, legte man nicht so schnell ab. John der ahnte, was passieren würde, fing den völlig verdutzt dreinschauenden Polizeirat auf, bevor dieser zu Boden ging. Runge fing schallend an zu lachen und alle anderen stimmten ein. Die Einzige die nicht wusste, was los war, war wieder einmal ich. Als sich alle beruhigt hatten, kamen die Geisel und ihre Eltern in den Raum. Melanie, wie sich mir das Mädchen unter Tränen vorstellte, fiel mir weinend um den Hals. Auch ihre Eltern kamen zu mir und bedanken sich für den glücklichen Ausgang, dieses Dramas. Es wurde gelacht und erzählt. Ich zog mich jedoch in eine Ecke zurück und setzte mich auf eine Fensterbank, um etwas Ruhe zu bekommen. Das war mir hier alles zu viel und vor allem zu laut. John merkte sehr schnell, dass ich mich zurückzog und kam auf mich zu.

"Was ist los, Mäuschen?", wollte er von mir wissen.

Ich dachte so bei mir, wieso nennt er mich eigentlich immer Mäuschen? Ich bin doch keine Maus, habe keinen Schwanz und keine Schnurhaare und piepsen, tue ich auch nicht. Manchmal waren die hier, einfach nur komisch. Aber ich war einfach zu müde, um zu fragen. Ich sah zu ihm hoch.

"John bitte, ich will nur schlafen. Kann ich bis wir fahren, nicht im Bus warten? Mir ist das hier einfach alles zu viel."

John nickte. Ich glaube, er verstand mich gut. Suchend drehte er sich nach Sender um.

"Rudi, kommst du mal zu uns, bitte", rief er laut.

Sender entschuldigte sich kurz bei den Tenglers und kam sofort zu uns. "Was ist los, John?", erkundigte der Major sich bei John.

"Rudi, Kahlyn ist fix und alle. Ich bringe sie in den Bus und bleibe bei ihr. Geht das klar?"

Sender nickte verständnisvoll. "Geht klar, ihr zwei. Du hast eine gute Arbeit, dort draußen geleistet. Alle Achtung, du bist noch besser, als ich dachte. Leg dich ruhig hin. Ich kann mir vorstellen, wie kaputt du bist. Ich bin schon fix und foxi und habe nichts weiter gemacht. Also verschwindet ihr zwei. Wir reden morgen. Kleene, versuch etwas zu schlafen."

Damit waren wir entlassen. Erleichtert aus diesem Raum heraus zu kommen atmete ich auf. Hastig, als wenn ich fliehen wollte, verließen wir den Raum und zogen uns in unseren Bus zurück. Dort angekommen, ließ ich mich in den Sitz fallen, atmete tief durch. So etwas, waren wir nicht gewohnt.

Meist lief es bei uns so ab. Wir beendeten die Einsätze, dann mussten wir zum Rapport, bekamen unseren Anpfiff. Fielen meist so dreckig wie wir waren, auf unsere Pritschen oder die Plätze im Transporter. Viel zu müde, um noch zu duschen oder zu reden. Kaum, dass der Letzte vom Rapport kam, schliefen wir wie Toten, bis wir landeten oder wieder geweckt wurden. Dann ging es, wenn wir viel Glück hatten, unter die Duschen und sofort weiter zum nächsten Einsatz. Aber so einen Trubel wie heute, hatten wir noch nie erlebt. John setzte sich neben mich. Ich glaube er ahnte, dass ich mich in seiner Gegenwart sichere fühlte. Er legte den Arm um meine Schulter, seine Körperwärme und vor allem seine Ruhe tat mir gut.

"Schlaf Mäuschen, ich passe auf dich auf", sprach er.

Das waren genau die Worte, die ich brauche, um abzutauchen und in Seelenruhe schlafen zu können. Ich rollte mich auf meinen Sitz zusammen und keine drei Atemzüge später, schlief ich tief und fest. So fest, wie ich eigentlich nur bei meiner Rashida schlafen konnte. Ich glaube in John hatte ich jemanden gefunden, dem ich tausendprozentig vertrauen konnte. Das zeigte auch mein Schlaf, denn ich bekam nicht einmal mit, dass die anderen in den Bus kamen, so beschützt fühlte ich mich. Was allerdings noch erstaunlicher war, dass ich nicht merkte, dass John mich schlafend, aus dem Bus ins Bett trug. So fertig war ich und so geborgen fühlte ich mich in Johns Nähe.

Erst am nächsten Morgen kurz vor 9 Uhr, wurde ich wach. Lag dreckig und stinkend in meinem Bett. Verwundert sah ich mich um, wusste im ersten Moment gar nicht, wo ich war. Stellte dann fest, dass ich in meinem Bett im Schlafsaal der Wache lag und wunderte mich, wie ich hierher gekommen war. Das war mir lange nicht passiert, aber es war ein gutes Zeichen. Ich hatte jemanden gefunden, dem ich vertrauen konnte. Das tat mir verdammt gut.

Kapitel 5

Erschrocken, sah ich auf die Uhr, die über der Tür hing. Warum hatte mich keiner geweckt? Vor allem, wieso bin ich nicht munter geworden? Schnell stand ich auf und zog meine Bettdecke ab. Nahm mein schmutziges Bettzeug, steckte es in die Truhe für Schmutzwäsche. Lief nach draußen, um mich zu duschen und sauber anzuziehen. Lange stand ich unter der Dusche, es tat einfach nur gut.

Gewaschen und abgetrocknet, zog ich saubere Wäsche an und auch einen anderen Overall. Nahm meine schmutzige Wäsche, steckte sie ebenfalls in die Truhe. Aus dem Regal nahm ich neue Bettwäsche, baute mein Bett neu. Ging nach vorn in den Bereitschaftsraum: Dort war niemand.

Erschrocken sah ich mich um. Was war los? Wo waren die anderen alle hin? Weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, lief ich nach vorn in die Wachstube. Am Tresen, stand Wachtmeisterin Sören. Als sie mich sah, kam sie auf mich zu. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff ich schon das Wort.

"Mam, guten Morgen, Mam. Wo sind meine Kollegen alle hin, Mam? Wachtmeister Sören, können sie mir sagen, wo die Anderen sind, Mam? Warum hat mich niemand geweckt, Mam?", erkundigte ich mich, völlig irritiert bei der Kollegin.

"Kahlyn, du sollst, wenn du munter bist hinter ins Besprechungszimmer kommen, lässt dir Rudi ausrichten."

"Mam. Danke, Mam", erwidere ich kurz und verschwand sofort wieder durch die Verbindungstür.

Mit schnellen Schritten, ging ich nach hinten in das Besprechungszimmer und klopfte an. "Herein", erschallte von drinnen die Antwort, auf mein Klopfen. Als ich eintrat und alle auf den Stühlen sitzen sah, fiel mir ein Stein vom Herzen. Keine Ahnung, was ich gedacht hatte, aber ich war erleichtert.

"Na ausgeschlafen?", Sender sah mich schmunzelnd an.

Mir war das total peinlich. Die anderen Kollegen sahen müde aus und ich war ausgeschlafen.

"Sir, entschuldigen sie, Sir. Es tut mir leid, Sir, das ich jetzt erst komme, Sir. Warum hat mich keiner geweckt, Sir?", war meine gestammelte Entschuldigung.

Sender lachte. "Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hatte die Anweisung gegeben, dich schlafen zu lassen. Ich dachte es tut dir mal gut dich richtig auszuschlafen."

Wieder war es an mir mich zu wundern. "Sir, ich wäre trotzdem aufgestanden, Sir."

Der Major nickte mir zu. "Das weiß ich Kahlyn. Aber der Schlaf hat dir gut getan. Du siehst heute viel besser aus."

Ich kapierte gar nichts mehr, noch nie hatte sich ein Vorgesetzter dafür interessiert, wie ich aussehe oder ob ich ausgeschlafen war. Ich schaute mich um, wo noch ein Platz frei war. Wundere mich gerade, dass so viele hier waren. Da entdecke ich den freien Stuhl neben John. Gerade als ich darauf zu gehen wollte, forderte mich Sender auf, zu ihm zu kommen.

"Komm bitte mal her, Kahlyn."

Ich drehte mich wieder um und ging auf Sender zu. Fragte mich, was jetzt kommen würde.

"Kahlyn, jetzt guck nicht gleich, wie ein aufgeschreckter Hase. Keiner tut dir hier etwas", brachte Sender, das was ich dachte, zum Ausdruck. "Kleene wir diskutieren gerade, wie du es fertig gebracht hast, die Geisel dort rauszuholen. Wir kommen einfach nicht dahinter. Erkläre uns einfach mal, wie du das hin bekommen hast. Wir sind jetzt schon auf den Gedanken gekommen, dass du zaubern kannst", erklärte mir Sender lachend.

Jetzt sah ich wahrscheinlich wirklich aus, wie ein erstaunter und aufgeschreckter Hase.

"Was ist Kahlyn, willst du es uns nicht erklären?"

Ich war völlig verwirrt, noch nie hatte es jemanden interessiert, wie wir etwas gemacht hatten. Es war immer nur das Ergebnis wichtig, alles andere war uninteressant.

"Sir, ich erkläre ihnen das gerne, Sir. Nur verstehe ich nicht, dass sie das interessiert, Sir. Bisher, war nur das Ergebnis wichtig. Das wie, hat nie jemanden interessiert, Sir."

Versuchte ich meine Reaktion zu erklären. Ich schaute mich um, sah, dass auch das Team Serow hier im Besprechungsraum war. Sender der wohl ahnte, dass mich das irritiert, erklärte mir.

"Kahlyn, das Team Serow ist das Team, das diese Woche Bereitschaft hat, es gehört zu uns. Sie wurden gestern geholt, weil wir diesen Einsatz, alleine nicht hätten bewältigen können. Keine Angst die Jungs sind prima. Es gibt auch noch ein drittes Team, das hat zurzeit frei."

Am liebsten würde ich sofort weggelaufen. Hatte ich mich doch noch nicht einmal, an die neuen Kollegen gewöhnt. Bekam schon wieder, neue Leute aufgedrückt. Noch dazu Leute die ich und die mich nicht mochten. Die mir gestern, das Leben verdammt schwer gemacht hatten. Ich konnte das im Moment jedenfalls, nicht so leicht wegstecken. Dazu hatte sich in den letzten drei Tagen, einfach zu viel geändert. Alles war aus dem Gleichgewicht, nichts mehr an seinem richtigen Platz. Gehetzt sah ich zu John, dann zu Sender. Dann gab ich den Drang wegzulaufen einfach nach. Ich wusste nicht, warum ich das tat und hätte es auch nicht erklären können. So etwas hatte ich noch nie gemacht. Aber ich bekam solch eine Panik, wie noch nie in meinem gesamten Leben. Ich fühlte mich wieder alleine gelassen. Das Monster begann sich in mir zu regen und ein starker Brechreiz überkam mich. Gehetzt verließ ich den Raum und lief nach vorn auf die Toilette. Dort erbrach mich immer wieder. Dann ließ ich mich an den Kacheln auf den Boden rutschen und umschlang meine Beine mit den Armen und fing an zu schaukeln. Heftig zitternd, saß ich eine ganze Weile da. Auf einmal hörte ich eine Stimme, die mich rief. Es war John.

"Kahlyn, Mäuschen, bist du hier."

Ich konnte nicht antworten, es ging einfach nicht. Ich hatte so schlimm mit mir selber zu tun, Krämpfe schüttelten mich, die mich immer wieder zum Erbrechen brachten. Auch kämpfte ich schon wieder, gegen das immer höher steigende Fieber. Mir war einfach alles zu viel. Entweder hatte John ein gutes Gespür oder er hörte die würgenden Geräusche, die ich beim Übergeben von mir gab. Obwohl ich mich bemühte leise zu sein. Ich wollte einfach einen Moment alleine sein, um mit mir selber wieder ins reine zu kommen. John kam herein und sah mich auf dem Boden kauern.

"Was ist denn los Mäuschen? Sag mir bitte, was los ist."

Ich konnte nichts sagen. Immer wieder kamen die Krämpfe. Die selbst für meinen Kollegen sichtbar waren. John sagte nichts mehr. Er hatte glaube ich genau verstanden, was mit mir los war. Dass es keine böse Absicht war, dass ich keine Antwort gab. Er setzte sich einfach neben mich auf den Boden. Nach einer Weile, legte er den Arm um meine Schulter und hielt mich einfach fest. Das gab mir ein wenig das Gefühl von Sicherheit und beruhigte mich. Langsam entspannte ich mich etwas. Er zog mich an sich heran und richtig auf seinen Schoss. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter und begann zu weinen. Etwas, dass ich bis jetzt nur bei Rashida gemacht hatte. John streichelte meine Schultern und sprach leise mit mir.

"Kahlyn was ist denn los. Du musst die anderen nicht fürchten. Die Jungs sind alle nett. Glaube mir, du wirst sie alle mögen. Wenn du sie erst ein bisschen besser kennst."

Seine leise, beruhigende Stimme zeigte langsam seine Wirkung. Das Monster verschwand langsam. Die Krämpfe und das Zittern ließ etwas nach. Ich wusste ja selber nicht, was mit mir los war.

"John?", hauchte ich.

"Was ist Kahlyn?"

Ich traute mich nicht zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte.

"Kahlyn, du musst mir sagen, was los ist. Sonst kann ich dir nicht helfen. Du musst keine Angst haben. Bei uns wird wirklich nie jemand bestraft. Jedenfalls nicht auf die Weise, wie du es gewohnt bist. Wenn jemand etwas falsch macht, bekommt er es erklärt. Du kannst mir wirklich vertrauen", hörte ich seine leise beruhigende Stimme.

Seine Stimme macht mir Mut, seine Worte nahm ich gar nicht richtig wahr. Da ich viel zu sehr, gegen das Monster in mir zu kämpfen hatte.

"Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich habe so was noch nie gehabt. Ich kenne so etwas nicht, von mir", erklärte ich im ganz leise. "Alles ist verkehrt, John, einfach alles."

Wieder kamen die Monster. Alles krampfte sich in mir zusammen. John drückte mich ein wenig von sich weg. Sah mir offen ins Gesicht.

"Wieso ist alles verkehrt? Ich verstehe das nicht. Habt ihr nicht auch jeden Einsatz ausgewertet? Um aus eventuellen Fehlern zu lernen?"

Ich schüttelte den Kopf und versuchte mich krampfhaft zu beruhigen. "Nein."

John sah mich abwartend an.

"John, nichts ist mehr so, wie ich es kenne. Ich komme einfach nicht mehr klar. Ich möchte wieder nach Hause. Ich möchte wieder in meine Schule. Da weiß ich, was ich zu tun habe."

Jetzt liefen auch noch Tränen aus meinen Augen. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich war einfach viel zu fertig, um diese zurückhalten zu können. John begriff nicht wieso. Er sagte nichts, sondern sah mich nur weiter fragend an. In der Hoffnung, dass ich es ihm erklären würde.

"John, wir mussten nach jedem Einsatz immer einzeln zum Rapport und wurden meistens von Oberstleutnant Mayer zusammen gestaucht, wenn wir verletzt waren. Je schlimmer wir verletzt waren, umso heftiger wurden wir zu Schnecke gemacht. Wir bekamen nur zu hören. Ihr seid zu allen zu blöde. oder Wie bescheuert seid ihr eigentlich? oder Habt ihr nichts gelernt bei uns? oder Ihr seid zu dumm einen Eimer Wasser auszuschütten, lieber sauft ihr ihn aus", erklärte ich im mit zitternder Stimme.

Mühsam versuchte ich mich zu beruhigen. Zitterte so schlimm am ganzen Körper, dass John begann mich hin und her zu schaukeln, um mich etwas zu beruhigen. Das tat mir richtig gut. Dann brach alles aus mir heraus, wie um den Druck abzubauen. Ich musste einfach mit jemanden reden. Mir fehlten meine Freunde und ich war so verdammt einsam. Sonst konnte ich in solchen Situationen, immer mit ihnen reden. Meistens sprach ich mit meiner Rashida, über Dinge mit denen ich nicht klar kam. Aber das ging jetzt nicht mehr. Das machte mich verrückt. Ich hielt diese Ruhe nicht mehr aus.

"Weißt du John, dabei hätte der Oberstleutnant keine Stunde dort überlebt. Aber, wir konnten machen, was wir wollten, nie bekamen wir mal ein Lob. Erst nach dem Rapport, durften wir unsere Wunden, versorgen und verbinden. Einige von uns sind deshalb sogar gestorben", erklärte ich ihm jetzt, warum für mich alles so anders war. Am ganzen Körper zitternd und mit den Zähnen klappernd, wurde ich immer wieder von Krämpfen unterbrochen. "Sie starben, weil wir sie erst versorgen durften, nachdem wir beim Rapport waren. Wenn noch Zeit war, durften wir sogar duschen und schlafen gehen. Meistens waren wir so müde, dass wir so stinkend und dreckig wie waren, auf unsere Pritschen gefallen sind. Oberstleutnant Mayer sagte deshalb immer zu uns. Dass wir keine Menschen sind, sondern dreckige stinkende Tiere. Das würde man daran sehen, dass wir ungeduscht schliefen. Aber wir konnten einfach nicht mehr", sprudelte einfach alles aus mir raus.

Hätte ich ihm das nicht erzählt, wäre ich glaube ich geplatzt. John sah mich lange an und holte tief Luft. Ich spürte sehr genau, dass er unsagbar wütend war und bereute fast, dass ich ihm dies alles erzählt hatte. Aber es war die Wahrheit und es war wirklich so gewesen, was sollte ich anderes sagen.

"Nach drei oder vier Stunden ging es zum nächsten Einsatz. Aber meistens hatten wir gerade einmal so viel Zeit, dass wir uns noch duschen und neue Sachen anziehen konnten. Nur selten war noch so viel Zeit einen Teller Brei zu essen. Meistens gaben uns der Doko und die Dika heimlich etwas, aber immer klappte das nicht. Außerdem war es für die Beiden nicht ungefährlich. Nicht nur einmal hat der Oberstleutnant unseren lieben Doko fast getötet, deshalb", traurig sah ich John an und begann verlegen mit den Finger zu spielen, weil ich ihm das alles erzählte.

Aber ich musste es tun, ich musste einfach diesen Druck los werden in mir und wusste keinen anderen Weg. Sonst würde ich anfangen zu schreien. Das hätte erst recht niemand gut getan, vor allem aber nicht verstanden. Das Erzählen tat mir irgendwie gut.

"Es hat doch nie jemand interessiert, wie wir etwas gemacht haben. Interessiert hat nur Erfolg oder Misserfolg."

John wurde immer wütender. In ihm kochte es. Er begriff mich nicht. Traurig sah er mich an.

"Mäuschen, dort willst du wieder hin. Warum? Ich verstehe das nicht. Ich wäre an deiner Stelle doch froh, wenn ich dort nie wieder hin müsste. Erkläre mir, warum?"

Zitternd sah ich ihn an und nickte immer wieder. "Ja ich möchte da wieder hin, John. Ich war doch immer dort. Ich bin an sowas gewöhnt. Vor allem, wusste ich wenigstens, was los war. Hier weiß ich gar nichts mehr", wieder kam der ganze Katzenjammer in mir hoch.

Ich fing an zu würgen und erbrach mich wieder, über der Kloschüssel. Als ich mich wieder etwas beruhigt hatte, zog mich John einfach wieder auf seinen Schoss und raufte sich die Haare. Ich glaube, er verstand die Welt nicht mehr. Ich konnte ihn ja verstehen, aber es war wirklich so. Ich wollte wieder in meine Schule, vor allem zurück zu meinen Freunden.

"Kahlyn, du bist nicht mehr auf deiner Schule. Es ist hier nun mal alles anders. Ich kann es doch nicht ändern. Willst du denn weiter wie Dreck behandelte werden. Es ist doch nicht normal, wie man dort auf deiner Schule, mit euch umgegangen ist."

Ich schüttelte, am ganzen Körper zitternd, den Kopf. "Nein John, das will ich nicht. Aber es ist hier alles verkehrt. Ich weiß nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Ich weiß nicht mehr, was auf mich zu kommt. Mir ist einfach alles zu viel."

Ich sah John am ganzen Körper bebend an. Mein Zähneklappern wurde immer lauter. John hielt mich einfach fest. Zu meinem Erstaunen nickte er.

"Das glaube ich dir gerne. Aber ich denke, es ist etwas besser als auf deiner Schule. Bei uns wird niemand zusammen gestaucht, weil er verletzt ist oder gar geschlagen. Aber uns interessiert vor allem eins. Wie wir aus Fehlern lernen können. Damit halt beim nächsten Einsatz, nicht wieder jemand, wegen diesen Fehler verletzt wird. Kannst du das verstehen."

Ich nickte, am ganzen Körper schlotternd und immer wieder gegen das Würgen ankämpfend, versuchte ich zu sprechen.

"Ich weiß nicht ob es besser ist, als auf der Schule. Da wusste ich wenigstens, was auf mich zukommt und da waren meine Freunde. Hier erschreckt mich alles. Nie kommt die Reaktion, die ich erwartet habe. Auf die ich vorbereitet bin. Verstehst du?"

Wieder kam das Monster mit voller Kraft zurück. Krämpfe schüttelten meinen Körper und wieder erbrach mich, so schlimm, dass ich Blut spuckte. Ich kam einfach nicht dagegen an. John saß neben mir, hilflos zum Zuschauen verdammt. Langsam beruhigte sich mein Magen wieder. Ich setzte mich, völlig geschafft wieder neben ihn und zog die Knie an meinen Körper. Legte meinen Kopf darauf und begann zu schaukeln, nur um diesen verdammten Druck loszuwerden. Vorsichtig legte er den Arm um mich. Dadurch bekam ich das Gefühl beschützt zu sein. So wie es Rashida immer tat. Wenn ich verletzt war oder es mir nicht gut ging.  

"Kahlyn, ich weiß, dass es für dich im Moment die Hölle ist. Aber ich kann dir das nicht abnehmen. So gern ich das auch tun würde. Mäuschen, niemand wirklich niemand, wird dich hier bestrafen. Egal was schief läuft, hier wird alles in Ruhe geklärt."

Er sah mir offen ins Gesicht. Ich wusste, dass er mir die Wahrheit sagt. Aber er verstand mich nicht. Die Strafen waren für mich nicht wirklich schlimm.

"John, ich will doch nur nach Hause, zu meinen Freunden", wieder fing ich an zu würgen und erbrach mich. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, brachte ich mühsam hervor. "Ich habe keine Angst vor Bestrafungen, daran bin ich gewöhnt. Aber ich weiß einfach nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Egal was ich mache, ich mache alles falsch."

John schüttelte heftig den Kopf. "Kahlyn, du verhältst dich super und machst alles richtig. Keiner hat sich beschwert, dass du etwas Falsches gemacht hättest. Wenn du das denkst, dann irrst du dich."

Jetzt war es an mir, den Kopf zu schütteln. "Doch John, es ist alles falsch. Alles ... alles ... alles ist falsch. Ich muss sprechen, ohne die Erlaubnis zu bekommen. Untergebene duzen mich. Ich soll Vorgesetzte duzen. Befehlslinien werden nicht mehr eingehalten."

Ich machte eine Pause, weil ich nicht, wusste wie ich mich ausdrücken soll. John ließ mir die Zeit zum nachdenken.

"Nichts, absolut nichts mehr ist so, wie ich es von klein auf gelernt habe."

Jetzt lächelte mir zu John. "Kahlyn, das was du auf dieser Schule gelernt hast, war doch nicht alles falsch. Das hat niemand behauptet. Es ist nur so, dass bei uns einfach der Respekt, auch ohne das Wort Sie da ist. Jeder, aber auch wirklich jeder, muss sich hier sein Respekt verdienen. Egal ob er ein Wachtmeister oder ob er ein Polizeirat ist. Respekt, Mäuschen sollte man nicht bekommen, weil der andere Angst vor einer Strafe hat. Sondern, weil man es sich durch Leistung verdient hat. Ich habe Hochachtung vor dem Major, auch wenn ich ihn duze. Aber es erleichtert uns den Umgang. Eins meine kleine Maus, kann ich dir sagen, dass du dir unseren Respekt schon verdient hast. Erst durch den Mut, mit dem du diesem Oberstleutnant Widerstand geleistet hast. Dann durch deine präzise und absolut einmalige Leistung, bei der Geiselbefreiung. Das war eine brillante Leistung, die selbst ich dir nicht zugetraut habe."

Ich verstand ihn nicht. Was war das schon? Ich hatte viel schwierigere Sachen erfolgreich abgeschlossen. Ich kannte das Terrain. Dadurch konnte ich mich in den Fall hinein denken. Durch eben diese Übungen, konnte ich vorrausahnen, wie die Geiselnehmer vorgehen würden. Das war doch keine Leistung. Macht es wirklich so viel aus, dass ich in einer anderen Welt aufgewachsen war? Unterschieden wir uns wirklich so viel von einander?

"Mäuschen, du verlangst einfach zu viel von dir. Du kannst nicht in drei Tagen das erlernen, was du in sechszehn Jahren versäumt hast. Lass dir Zeit, wir werden dir helfen, so gut wir können. Du musst nur eins machen, Mäuschen, uns ein ganz kleinen wenig vertrauen. Kannst du das versuchen?"

Ich holte tief Luft und sah eine ganze Weile auf meine nervös spielenden Finger. Dann nickte ich. John lächelte mich an.

"Denkst du, wir können es wagen, diesen schrecklichen Ort zu verlassen? Geht es dir wieder etwas besser?"

Ich atmete tief ein und nickte wieder.

"Wollen wir dann gehen? Könntest du vielleicht mit nach hinter kommen und uns erklären, was du gemacht hast? Damit wir aus deinen Erfahrungen lernen können."

Ich schüttelte den Kopf.

"Warum nicht?"

John sah mich verzweifelt an. Er war langsam am Ende mit seinem Latein und wusste nicht mehr, wie er mir noch helfen konnte. Damit ich hier klar kam. Er verstand ja, was in mir vor sich ging. Aber er wusste einfach nicht mehr weiter.

Ich wollte John nicht enttäuschen. Er war mir in den letzten Tagen, so oft zu Hilfe gekommen und nun war es an mir, ihm zu helfen. Ich gab mir einen Ruck. Auch weil ich begriff, dass ich mich total daneben benahm und mich gehen ließ. Leise sagte ich deshalb zu ihm.

"John ich weiß nicht wie. Ich hab so etwas noch nie gemacht."

Jetzt schüttelte John verzweifelt den Kopf. "Mäuschen, du hast bei der Einsatzbesprechung doch auch gesprochen. Das ist doch nichts anderes", verständnislos sah er mich an.

Ich blickte ihn offen an und zuckte mit den Schultern. Nahm meinen Ärmel und wischte mir das Gesicht trocken. Ich hatte mich wieder beruhigt.

"Ich weiß nicht, wie ich da anfangen soll. Es tut mir leid."

John streichelte mir das Gesicht, das tat mir so gut. Am liebsten bräuchte er nie wieder damit aufhören. Dieses Streicheln vertrieb irgendwie das Monster in mir, langsam wurde mir besser.

"Kahlyn, du redest einfach drauf los. Genauso, wie du es bei der Einsatzbesprechung gemacht hast. Ich fand das so stark, wie du dich gegen die Truppe von Serow durchgesetzt hast. Komm versuche es doch einfach mal. Dich beißt da hinten doch niemand. Ich bleibe vorne bei dir, wenn es dir hilft und halte dich im Arm. Keine Angst, ich pass auf dich auf. Ich lasse nicht zu, dass es dir wieder schlecht geht. Vertraust du wenigstens mir?"

Ich wollte meinen neuen Freund und den einzigen Menschen dem ich im Moment etwas vertraute, nicht enttäuschen. Deshalb nickte ich.

"Na, dann komm."

Er stand auf und zog mich auf die Beine.

"Du wirst sehen, es ist nicht schlimm."

Ich wusch mir das Gesicht und ließ einen Moment das kalte Wasser über meinen Puls laufen und trocknete mich ab. Zusammen gingen wir langsam nach hinten ins Besprechungszimmer. John schob mich in das Zimmer hinein. Sender kam auf mich zu und sah erschrocken in mein blasses Gesicht. Leise sagte er zu mir.

"Alles in Ordnung mit dir Kahlyn? Es tut mir leid, ich wollte dich nicht überfordern. Du musst das nicht tun. Wenn du das nicht kannst."

Ich schaute zu John, der nickte mir aufmunternd zu. "Sir, es geht wieder, Sir. Ich werde es versuchen, Sir. Ich habe es John versprochen, Sir."

Dann schaute ich mich um, atmete tief durch und ging auf die Karten von der Kanalisation zu. Ich schaute in die Runde und entdeckte ausgerechnet Raphael, der in der ersten Reihe saß. Das machte mir nicht gerade Mut. Dann schaute ich zu John der vorn an der Tür stehen geblieben war, um in meiner Nähe zu bleiben. Er lächelte mir aufmunternd zu. Etwas unglücklich begann ich mit meiner Erklärung.

"Wie die Gruppe von Major Sender gesehen hat, haben wir gelernt in den Wänden zu laufen. Dazu benötigt man eine gute Hand-Fuß-Koordination und große Körperbeherrschung. Das ist nur in Gängen möglich die eine maximale Breite von ein bis zwei Metern haben. Oder halt in Ecken. Ansonsten benötigt man zu viel Kraft."

Da ich die fragenden und teils verständnislosen Blicke von den anderen sah, setzte ich mich auf den Boden und zog einfach die Schuhe aus. Mir fiel ein, dass die Anderen ja gar nicht wissen konnten, von was ich sprach. Da sie das nie selber gesehen hatten. Ich beschloss also, es ihnen zu hier zu zeigen. Auch, wenn mir diese Vorführung im Moment sehr schwer fiel. Ich ging in der Ecke des Raumes in die Hocke und sprang in die Wand. Auch das Team von Sender, das mich ja schon in der Wand gesehen hatte, atmete fassungslos auf und schaute mich erstaunt an. Ich ging an der Wand nach oben und klebte mich an die Decke. In eine Position, die wir Lauerstellung nannten. Nach ein paar Sekunden, ließ ich meinen Körper nach unten fallen und landete auf den Ballen, in der Hocke.

"Verstehen sie jetzt, wie ich das meine?", fragte ich in die Runde.

Alle nickten und sahen mich eigenartig an.

"Von unserer Übung vor zehn Jahren kannte ich die Kanalisation, wusste jedoch nicht, ob sich im Laufe der Zeit etwas verändert hatte oder ob etwas umgebaut wurde. Deshalb konnte ich nicht so weit, im Voraus planen. Das ging in dem Augenblich einfach nicht. Einiges muss man einfach spontan entscheiden."

Ich wartete die Reaktion der anderen ab und schielte zu John, der mir lächelnd zunickte. Einige nickten, andere schauten einfach nur zu mir. Also fuhr ich fort, mit meinen Erklärungen.

"An der geplanten Position angekommen, sah ich, dass sich nichts verändert hatte. Ich sah die Posten stehen und zog mich aus", entschuldigend sah ich zum Senders Team. "Sir, ich weiß am liebsten hättet ihr mich zurück gehalten, Sir. Man kann nur sehr mühsam in voller Montur und Ausrüstung, in der Wand laufen, Sir. Das geht ein kleines Stück, aber nicht über hunderte von Metern, Sir. Sie müssen wissen, das Wandlaufen ist sehr anstrengend, selbst für uns, Sir. Jedes Gramm, was man mehr mitschleppt, ist ein Gramm zu viel, Sir", erklärte ich Senders und wandte mich wieder an das ganze Team. "Ich hatte eigentlich nur vorgehabt, nachzusehen, wo sich die Geisel aufhält. Ob wir sie vielleicht, vor dem Zugriff herausholen konnten. Da die Wahrscheinlichkeit der Tötung der Geisel, im Moment eines Zugriffs, immer am höchsten ist. Deshalb plante ich mit ein, sie bei einer auch noch so geringen Möglichkeit, gleich mitzunehmen. Genosse Major, uns lief die Zeit weg und vor allem, waren wir viel zu nah an den Posten, wie hätte ich ihnen dort erklären sollen, was ich vor habe, Sir. Vor allem hätten sie es in dem Moment, ja auch nicht verstanden, Sir. Wie hätte ich ihnen das alles, mit wenigen Worten erklären sollen, Sir. Deshalb habe ich vorher nichts gesagt, Sir. Es wird immer wieder Situationen geben, in den ich Dinge tun werde, die ich ihnen vorher nicht erklärt habe, Sir. An alles kann ich auch nicht denken, Sir."

Entschuldigte ich mich bei Sender für mein Verhalten in der Kanalisation, dass ich ihm nicht alles vorher erklärt hatte. Kam aber gleich wieder auf das Thema der Geisel zurück.

"Das Risiko der Entdeckung, bei einem zweiten Versuch, die Geisel zu befreien, war einfach viel zu hoch. Daher wusste ich nicht, ob ich vielleicht auf dem Rückweg, mit der Geisel hätte in der Wand laufen müssen. Deshalb ging ich ohne jegliche Last. Ich hatte über neunhundert Meter in der Wand zu laufen. Musste über fünfzehn Meter an Höhe gewinnen, um an den Posten vorbei, ungesehen durch die Luke oben in der Wand zu kommen. Die der Eingang zur Balustrade war."

Jetzt nickten wieder einige.

"Von unseren Übungen, kannte ich die Halle und wusste von der Balustrade. Bei diesen Übungen, hatten wir eine Tür entdeckt, die ebenfalls in die Kanalisation führte. Allerdings auf den Karten, vom Gelände nirgends eingezeichnet war. Öffnete man die Tür sah es aus, wie eine ganz normale kleine Abstellkammer. Aber in einer Ecke, ganz verborgen, befindet sich ein kleiner Durchstieg in den Kanal, der wohl früher dazu diente, Werkzeuge aus der Kammer heraus zu geben. Dadurch wurde er damals auch, von unseren Lehrern und Übungspartnern ständig übersehen. Ich hoffte sehr, dass die Geisel in der hinteren Ecke sitzen würde. Der einzigen Stelle in der Halle, die vom Tor aus nicht gleich einzusehen war. Aber nahe genug an dem südlichen Kanal lag. Dort hatten wir damals immer die Geiseln hingesetzt, wenn wir die Geiselnehmer spielten", ich sah in den Raum. Alle hörten mir aufmerksam zu. "Ich nahm an, dass auf der Balustrade wenigstens eine Wache sein würde. Die von oben her die Geisel beobachtete. Ich hatte großes Glück, die Wache schlief, genauso wie die beiden Wachen in der Mitte der Halle. Die Zeit zwischen 2 und 4 Uhr, ist immer die Zeit, wo die Aufmerksamkeit sehr nachlässt", entschuldigend sah ich meine Kollegen an. "Deshalb, lege ich gern die Zugriffe in diese Zeit, weil das Reaktionsvermögen dort am niedrigsten ist. Auch wusste ich, dass die Treppe immer geknarrt hatte. Deshalb ging ich nachdem ich die Wache Schlafen gelegt hatte, zu einer der hinteren Säulen, die sehr rau ist. Jedoch völlig im dunklen lag, so eine gute Abstiegsmöglichkeit bot. Unten angekommen, ging ich zur Tür die zum Glück auch noch da war und vor allem nicht verschlossen", wieder sah ich entschuldigend zu den Kollegen, weil ich halt anders war. "Sie müssen wissen, ich kann das sehen. Kann ihnen aber nicht erklären, wie das geht, es ist halt so. Also machte ich etwas Öl auf die Scharniere, damit dies nicht quietscht, wenn ich die Tür dann öffne. Dann erst kehrte ich zur der Geisel zurück. Die Kleine schlief tief und völlig erschöpft. Ich schnitt die Geisel los. Eigentlich hätte ich sie ja wecken wollen. Aber wenn die Geisel eine unbedachte Bewegung gemacht hätte oder geschrien hätte, wäre das nicht gut. Deshalb legte ich sie lieber Schlafen und brachte sie durch die Tür in die Kanalisation. So war sie vor dem Zugriff, in Sicherheit. Den Rest wissen sie ja, das brauche ich ihnen ja nicht mehr zu erklären oder?"

Erleichterte atmete ich aus und hoffte, dass dies genügen würde. Sender allerdings hatte noch eine Frage.

"Kahlyn sag mal, dieses in der Wand laufen, könnten wir das auch lernen?", wandte er sich an mich.

"Sir, ich weiß nicht, Sir. Wir haben das mit knapp zwei Jahren gelernt. Conny und Pille, das sind Kämpfer aus der Soko Tiranus, mit denen ich oft zusammen gearbeitet hatte, haben es gelernt. Aber beiden haben fast drei Jahre dazu gebraucht. Wir können es gern versuchen. Aber, dazu muss man sehr durchtrainiert sein und vor allem eine sehr gute Körperbeherrschung haben, Sir."

Dann meldete sich Raphael. "Mam, darf ich sie was fragen?", erstaunt sah ich ihn an, weil er mich so vorschriftmäßig ansprach. Ich traute dem Kollegen nicht.

"Natürlich dürfen sie das, Genosse Unterleutnant", gestattete ich ihm die Frage.

"Was verstehen sie unter schlafen legen?"

Es freute mich, dass er das gefragt hatte. Die Anderen schienen das auch nicht zu wissen. Allerdings traute sich keiner zu fragen. Sender und ein Teil seiner Leute wussten das, weil ich es ihnen in der Einsatzbesprechung erklärt hatte. Erleichtert, dass er wirklich nur etwas wissen wollte, erklärte ich ihm und seinen Kollegen, um was es sich dabei handelte.

"Danke für die Frage. Entschuldigen sie, dass ich nicht daran gedacht habe, dies zu erläutern. Für uns ist das so selbstverständlich, wie für sie Judo oder das Atmen. So dass wir nicht daran denken, dass wir es normalen Menschen erklären müssen. Sie müssen wissen, dass es im Bereich der Nackenmuskulatur, einen Punkt gibt, in dem alle Nervenenden zusammenlaufen. John, kannst du mir mal helfen, bitte."

John kam die wenigen Schritte heran. Ich bat ihn darum sein Overall-Oberteil und sein Unterhemd auszuziehen. Mit einem Stück Kreide mache ich einen weißen Punkt an der Rücken und der Brustseite, dort, wo man hineingreifen musste.

"Da, wo ich die Kreidepunkte gemacht habe, sind die Stellen in die man greifen muss. Wenn sie an sich selber probieren wollen, können sie die Stelle fühlen. Greifen sie in diese Stelle mit den Fingerspitzen, spüren sie einen Schmerz. Wenn sie jetzt genau an dieser Stelle mit viel Kraft zugreifen und eine ruckartige Drehung machen. Gibt dies einen solchen Schmerzimpuls, der sie sofort in eine tiefe etwa zehn Minuten andauernde Ohnmacht fallen lässt. Das nennen wir Schlafen legen."

Einige probierten die Stelle zu finden. Weil ich sah, dass sie dabei Schwierigkeiten hatten, ging ich hin und zeigte ihnen die Stelle.

"Bitte meine Herren, machen sie das nur im Einsatz bei Menschen, die sie nicht mögen. Es ist nämlich so, dass sie, wenn sie aus dieser Ohnmacht zu sich kommen, einige Tage schlimme Kopfschmerzen haben. Da die Nervenenden, dadurch schlimm gereizt werden. Es ist nicht ratsam, das zu probieren." In dem Moment fiel mir ein, dass ich ja auch gesagt habe, dass ich die Geisel schlafen legte, deshalb erklärte ich ergänzend. "Ich weiß, ich habe die Geisel auch schlafen gelegt. Das ist so eine Sache, die man sich halt gut überlegen muss. Ich überschlage dann immer das Risiko. Wenn man eine schlafende Geisel befreit, ist die Gefahr sehr hoch, dass sie plötzlich erwacht und durch die entstehende Panik, einen Schrei von sich gibt oder eine unbedachte Bewegung macht oder vollkommen auf Gegenwehr schaltet. Deswegen würde sie die Geiselnehmer auf sich aufmerksam machen. Weshalb sie automatisch in die Schusslinie gerät. Deshalb denke ich ist es besser, dass die ein paar Tage schlimmes Kopfweh hat, aber sicher und ohne Risiko befreit wird. Kopfschmerz so habe ich das Gefühl, ist besser als der Tod. Außerdem kann man gegen die Kopfschmerzen, ein Mittel spritzen, so dass es nicht so schlimm wird."

Jetzt lachten einige und nickten mir zustimmend zu. Dankbar schauten sie mich an. Endlich war ich entlassen. Sender ergriff nochmals das Wort.

"Kahlyn, war das nun so schlimm?" Ich schüttelte den Kopf.

"Sir, nein, Sir."

Aber ich war trotzdem froh, dass ich fertig war. Ich setzte mich hin und zog meine Schuhe wieder an. Stand auf und lief zu dem Platz neben John, der sich in der Zwischenzeit auch wieder gesetzt hatte. Rudi beendete mit einigen Informationen, die Auswertung des Einsatzes. Dann waren wir entlassen. Es war jetzt 12 Uhr 30, wir gingen nach vorn in den Bereitschaftsraum. Dort hatte Fran schon das Mittagessen vorbereitet und trug es gerade auf. Die anderen reichten die Schüsseln herum, immer, wenn sie zu mir kam, reichte ich sie unberührt weiter. Das löste Erstaunen bei dem Serow-Team aus. Es kamen solche Bemerkungen wie.

"Du hast wohl keinen Hunger."

"Ist das Essen nicht gut genug."

Auf einmal schlug Sender mit der Faust auf den Tisch. "Detlef, wenn dein Team nicht sofort damit aufhört, Kahlyn ständig zu ärgern, bekommt ihr alle mit mir großen Ärger. Mir hat euer Benehmen gestern schon böse aufgestoßen. Ihr habt der Kleenen das Leben verdamm schwer gemacht. Verdammt nochmal, haben deine Leute immer noch nichts kapiert? Die Kleene, kommt aus einer Schule, in der vieles anders ist, als ihr es kennt. Seid froh, dass ihr niemals dort gewesen seid. Wenn die Zeit kommt, wird sie es uns etwas erzählen. Die Kleene ist erst wenige Tag hier und hat eine Menge durchgemacht seitdem. Lasst sie in Ruhe oder es gibt richtigen Stress mit mir. Ist das jetzt klar."

Schlagartig war Ruhe.

Ich sah zu Sender. "Sir, ist schon gut, Sir. Wenn sie wollen, kann ich dann einiges erzählen, Sir. Ich weiß nicht, was bei uns anders war, aber ich möchte, dass es aufhört, Sir. Es geht mir nicht besonders gut, Sir. Aber ich habe Angst, wieder von Oberstleutnant Mayer, einen der anderen Lehrer oder irgendjemand anderen bestraft zu werden, Sir. Ich will nur, dass es aufhört, Sir."

Ich hatte mich jetzt verdammt weit vor gewagt. Ich hoffte sehr, dass es nicht zu weit. Sender und John, die beiden Menschen, mit denen ich bis jetzt am meistens zu tun gehabt hatte und die mich bis jetzt immer beschützt hatten, antworteten fast zeitgleich.

"Das lasse ich nicht zu", versprach mir John.

"Da müssen sie erst an mir vorbei", kam von Sender.

Ich glaubte ihnen. Von den anderen unseres Teams kommen ähnliche Worte, nur zu gut war ihnen der Auftritt Mayers noch in Erinnerung. Wieder einmal verstand ich nicht, was los war. In dem Moment allerdings kam Fran, er brachte mir einen tiefen Teller mit meiner Nahrung. Raphael, der sich auf mich eingeschossen hatte, schüttelte sich und meinte.

"Das wollen sie doch nicht wirklich essen? Das sieht ekelig aus", angewidert, verzog er sein Gesicht.

"Doch, Genosse Unterleutnant, ich habe nämlich schlimmen Hunger und das, was sie essen vertrage ich nicht."

Mit Heißhunger fing ich an, meinen Brei zu essen. Genoss jeden meiner Löffel, langsam und vorsichtig. Ich hatte seit gestern früh nichts mehr zu mir genommen und musste unbedingt etwas essen. Mir ging es nicht besonders gut.

Raphael schüttelte sich. "Du Arme", er sah mir dabei offen ins Gesicht, dann setzte er nach. "Aber eins muss ich dir mal sagen. Du bist richtig gut. Es tut mir leid, dass ich dich gestern so geärgert habe."

Ich wollte gerade etwas sagen, weil er mich wieder geduzt hatte. Als mich John unterm Tisch an stupste. Ich drehte meinen Kopf zu ihm, er schüttelte ganz leicht den Kopf. Also hielt ich den Mund.

 

Wir waren alle noch beim Essen, da öffnete sich die Tür zum Flur. Polizeirat Runge trat ein. Gewohnheitsgemäß wollte ich mich erheben, um zu salutieren, doch John hielt mich zurück. Leise kaum hörbar, nur für mich bestimmt, flüsterte er:  

"Kahlyn, das brauchst du nicht machen. Jo, ist einer von uns. Er hat bis vor fünf Jahren, selber hier in der Einheit gedient. Bleib ruhig sitzen."

Runge der inzwischen eingetreten war, grüßte in seinem warmen Bass. "Mahlzeit Leute." An Fran gewandt. "Hast du für einen fast verhungerten Polizeirat, noch etwas zu beißen", dabei ließ Runge sein dunkles grollendes Lachen ertönen.

Fran grinste ihn frech an. "Jo, soll ich dir Diät zubereiten oder nimmst du das, was wir alle haben?", sah dabei provozierend auf Runges nicht sehr kleinen Bauch.

Der schüttelte sich und verdrehte die Augen. Fassungslos sah ich Fran an. Ich konnte nicht fassen wie dieser mit dem Polizeirat sprach. Trotzdem schien ihm der Polizeirat das Gesagte nicht übel zu nehmen. 

"Fran, nur keine Diät. Wenn du willst gehe ich vor dir sogar auf die Knie. Fran du bester aller Köche, bitte habe Gnade mit mir, keine Diät. Die bekomme ich schon täglich zu Hause von meiner Viola. Hab Erbarmen mit mir und tue mir das nur nicht an. Wenn du mir Diät vorsetzt, mache ich dich glatt wieder zu einem Unterwachtmeister. Also höre ja auf mich. Ich will etwas zu essen. Und zwar was Richtiges. Was ein Mann verträgt und vor allem, in einer Portion, die einen Mann auch satt macht. Ich will ja wissen, warum mein Bauch so dick ist", gab er lachende zur Antwort.

Die ganze Bande am Tisch lachte und selbst ich musste schmunzeln, als ich das Gesicht des Polizeirates sah. Es sah ganz komisch aus. Fran stand auf und lief in die Küche holte einen Teller und Besteck. Beides stellte er vor Runge, der sich auf einen der freien Stühle gesetzt hatte. Der schaufelte sich sofort einiges auf seinen Teller und futterte los.

"Endlich mal etwas, das wirklich schmeckt. Fran, du bist immer noch der beste Koch aller Einheiten."

Breit grinsend widmeten sich alle wieder ihren Tellern. Vorsichtig schaute ich zu John, der griente breit.

"Kahlyn, ab und an schaut der Polizeirat mal hier vorbei, um sich satt zu essen. Wahrscheinlich bekommt er zu Hause nur Karnickelfutter. Er hat aber auch zugelegt oder macht das die Uniform, Jo?", erklärte er John und sah Runge grinsend an.

Runge drohte ihm mit der Faust. So bekam er mein Unverständnis, gar nicht mit. "John, hörst du wohl damit auf, mich bei der Kleenen so schlecht zu machen. Die glaubt dir das glatt weg. Kahlyn, ich komme ab und an her, um meine alten Jungs einmal wiederzusehen. Ich habe selber über sieben Jahre hier Dienst gemacht. Irgendwie zieht es mich immer wieder hierher", erklärte er mir zwischen zwei Bissen.

Sender sah lachend zu seinem Freund und Vorgesetzen. "Jo, aber das ist nicht der einzige Grund, weshalb du gekommen bist oder?", erkundigte er sich.

"Wirst du mich wohl erst einmal in Ruhe essen lassen, Rudi", wich er einer direkten Antwort aus.

Vertiefte sich sofort wieder in seine Mahlzeit. Nachdem alle satt waren und wir Fran beim Tisch abräumen und Abwaschen geholfen hatten, gab Runge, Rudi mit dem Kopf ein Zeichen ihm ins Büro zu folgen und beide verschwanden. Es wurde Kaffee gereicht, auf einmal kam Raphael auf mich zu.

"Hast du einen Moment Zeit für mich?"

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Auch irritierte es mich immer noch, dass hier alle geduzt wurden. Also stand ich auf und ging einen Schritt auf Raphael zu und nickte nur. Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte, also schwieg ich.

"Ich wollte dir nur nochmal sagen, dass es mir leid tut, dass ich dir gestern so viel Ärger gemacht habe. Können wir nicht noch einmal, von vorn anfangen. Ich habe dich total unterschätzt, echt mal. Du bist wirklich gut und ich denke, ich kann viel von dir lernen. Ich habe einfach ein loses Mundwerk und rede oft schneller, als ich denken kann. Meine es aber, nicht wirklich böse", Raphael sah mich fragend an, weil ich nicht sagte.

Was sollte ich darauf sagen?

Deshalb fuhr er fort und versuchte mir sein Verhalten zu erklären. "Weißt du, du siehst so verdammt jung und unerfahren aus. Mit der Sonnenbrille, wirkst du, wie einer von diesen Angebern, die sich nur interessant machen wollen, aber nichts auf den Kasten haben. Die mag ich nicht besonders. Die bringen sich und andere nur in Schwierigkeiten."

Jetzt verstand ich, was er meinte. Das Gleiche hatte ich gestern von ihm gedacht. Ich entschloss mich deshalb darauf zu reagieren. "Das Gleiche habe ich von ihnen gedacht, Genosse Unterleutnant."

"Können wir nicht dieses doofe gesiezte lassen. Uns einfach wie normale Menschen unterhalten. Ich bin der Raphael, keine Angst ich ärger dich nicht mehr, wegen deiner Brille. Detlef hat mir erklärt, dass du etwas mit den Augen hast und sie tragen musst."

Der Kollege hielt mir die Hand hin. Ich wusste nicht, was die Geste bedeuten soll und was ich machen sollte. Ich kannte solche Gesten nicht. John, der Raphael und mich beobachtet hatte, kam mir wieder einmal zu Hilfe.

"Raphael, ich glaube du überforderst Kahlyn, gerade etwas. Warte bitte mal", er wandte sich an mich.

"Kahlyn, wenn du Raphaels Hand nimmst, sagst du ihm, dass du ihm verzeihst und dass ihr noch Freunde werden könnt. Schlägst du sie aus. Zeigst du ihm damit, dass du ihm richtig böse bist. Ihm nie verzeihen wirst, was er gestern getan hast und ihr bleibt Feinde."

Verwundert sah ich von Raphael zu John und wieder zurück und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ich war erstaunt über diese Erklärung und starrte entsetzte zu Raphael. Er war doch nicht mein Feind. Warum denn auch? Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung, die wie sich jetzt herausstellte auf einem Missverständnis beruhte und etwas eskaliert war. Woran ich zugegebener Maßen auch nicht ganz unschuldig war. Weil ich immer noch zögerte, setzte John nach. Dabei hatte das Zögern nichts mit der Hand zu tun, die ich noch nicht ergriffen hatte, sondern mit meiner Verwirrung.

"Ich denke, er wird es verstehen, wenn du ihm nicht verzeihst. Es war schon ganz schön hart, was er gestern abgezogen hat. So ist Raphi halt mal, aber er ist ein guter Kerl."

Ich schüttelte automatisch den Kopf, ich verstand einfach nicht, was in den Köpfen der Anderen vor sich ging.

"Ich bin ihm doch nicht böse, warum auch. Mir sind Leute die sagen, was sie denke immer lieber. Ich wusste nur nicht, was das bedeutet. So etwas kenne ich nicht", ich hielt jetzt meine Hand hin.

Raphael der seine Hand hatte wieder sinken lassen, bekam ein Lächeln ins Gesicht und ergriff sofort meine Hand. Er war sichtlich froh, dass ich es gemacht hatte und ich auch. Jetzt wusste ich wenigstens, woran ich mit ihm war. John grinste mich an.

"Na siehst du. Ich sagte doch, die Jungs sind nicht schlecht. Geb den Leuten einfach eine Chance, Kahlyn. Weißt du, wir sind vielleicht anders, als die Leute deiner alten Einheit. Aber wir sind trotzdem in Ordnung", dabei sah er mich mit einem eigenartigen Blick an.

Raphael lachte schallend und ich kapierte wieder einmal nicht, was los war. "Wie kann sie dir bei diesem Dackelblick etwas abschlagen", erklärte er John und sah mich dabei an.

Mir fiel darauf nichts anderes ein und sah verständnislos, von John zu Raphael und wieder zurück. "Dackelblick?", hinterfragte ich den Begriff, nicht wissend, was Raphael damit meinte.

John war doch kein Dackel, wie konnte er dann wie einer blicken. Beide fingen noch mehr an zu lachen. Nun wusste ich noch weniger, als zuvor. Ich kam einfach nicht dahinter, was los war. Als John sich einigermaßen beruhigt hatte, wollte er mir erklärten, was damit gemeint war.

"Kahlyn, oh Mäuschen, du kennst das wirklich nicht oder?" Immer noch gegen das Lachen ankämpfend. "Hilfe, wie erkläre ich dir ein Dackelblick. Das ist, wenn einer so doof schaut, wie ich manchmal."

Ich schaute John entsetzt an. "Du schaust doch nicht doof, nur nicht so wie ich das kenne", wollte ich ihn in Schutz nehmen.

John nahm mich lachend in den Arm, versuchte zu sprechen. "Kahlyn irgendwann, begreifst du wie wir das meinen. Ich gebe auf, wirklich ich gebe auf. Sag mal Kleines, lachst du eigentlich nie?", stellte er mir stattdessen eine andere Frage.

Ich wusste drauf keine richtige Antwort. Was hätte ich dazu auch sagen sollen? Deshalb schwieg ich, sah John aber fragend an.

"Lassen wir das, du lernst das schon noch", tief holte er Luft, um wieder ernst zu werden. "Pass mal auf Kahlyn. Damit du nicht wieder erschrickst, wie vorhin. Ich werde dir einmal etwas erklären. Wir sind hier im SEK 61 insgesamt dreißig Kollegen plus die Wachtmeister vorn. Die Kollegen hier auf der Wache, egal ob Wachtmeister oder SEK, sind auf drei Teams zu je zehn Leuten aufgeteilt. Bei uns im SEK gibt es wie vorn in der Wache, drei Schichten, allerdings von unterschiedlicher Dauer."

Interessiert hörte ich zu, da mir diese Informationen, Hinweise zur Funktion meines neuen Teams gaben.

"Die Wachtmeister arbeiten in einem fünf Tage und zehn Stunden Rhythmus, von 6 bis 14 Uhr, von 14 bis 22 Uhr und von 22 bis 6 Uhr. Am Wochenende müssen sie allerdings 12 Stunden arbeiten. Die restliche Zeit haben sie frei. Bei uns hier hinten ist das etwas anders. Wir arbeiten 3 Wochen am Stück", versuchte mir John die Funktionsweise einer Wache zu erklären. "Ein Team hat immer Dienst. So wie wir zurzeit. Ein Team hat Bereitschafft und ist auf Abruf, wird also nur dann geholt, wenn Not am Mann ist oder bestimmte wichtige Trainingseinheiten anstehen. So wie das Team von Serow, das wir ja gestern zu dem Einsatz dazu geholt haben, weil wir nicht genug Leute waren. Das dritte Team hat in der Regel immer frei, wie das vom Schulze. Das wird nur in ganz schlimmen Ausnahmefällen zu Einsätzen dazu geholt. Aber ich wüsste keinen Kollegen, Kahlyn, von dem ich sagen könnte, ich mag ihn nicht. Die Gruppe von Major Sender, nennt sich das Alpha-Team, zu dem du auch gehörst. Oberleutnants Serow Kollegen, gehören zum Delta-Team und Oberleutnants Schulzes Team, die kennst du noch nicht, gehören zum Beta-Team. Die haben wie gesagt, zurzeit Frei. Du wirst dich schon noch, an uns alle gewöhnen", beendete John seinen für mich interessanten Vortrag und fuhr mit einem gewinnenden Lächeln fort. "Ich freue mich jedenfalls, dass du zu uns gehörst. Sag mal, wie war das bei Euch in der Schule eigentlich, mit dem Dienst?", wollte John von mir auf einmal wissend, wohl ahnend, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde.

"Ich verstehe deine Frage nicht, John", antworte ich ihm mit einer Gegenfrage. "Wie meinst du das mit Dienst?"

John verdrehte die Augen. 'Manchmal kapierte die Kleine wirklich nichts', ging es ihm durch den Kopf. "Was habt ihr gemacht, wenn ihr mal frei hattet oder in der Zeit der Bereitschaft?"

Wieder einmal zeigte es sich, dass ich in einer vollkommen anderen Welt groß geworden war. Eine Welt, die mit dieser hier, absolut nichts zu tun hatte. Frei? Bereitschaft? Das hatte ich in Johns Vortrag schon nicht verstanden, kam aber nicht mehr dazu nachzufragen. Ich verstand überhaupt nicht, von was er sprach und kannte die Begriffe nicht. Ich hatte diese Wörter noch nie gehört.

"Ich weiß nicht, was du meinst John, mit Frei und Bereitschaft, wirklich nicht", offen sah ich ihm dabei in die Augen.

John musste wohl gemerkt haben, dass er mich mit seiner einfachen Fragen völlig in die Ecke drückte und dass dadurch das Monster in mir wieder erwacht war. Oder aber, ich hole so tief Luft, dass ich ihn direkt darauf hinweise, dass er mich genau wieder dorthin trieb, mit seinen Fragen, wo ich vorhin schon einmal gewesen war. Wieder einmal, begann alles in mir zu rebellieren. Egal was ich versuchte, ich konnte das Zittern in mir nicht kontrollieren, das von mir Besitz ergriff. Meine Hände zitterten so schlimm, dass ich sie hinter den Rücken nahm, damit es keiner sah. Wieder kämpfte ich gegen das verfluchte Monster in mir, vor allem gegen die in mir aufsteigende Panik an und bekam beides kaum unter Kontrolle. Ich würde so gern wissen, was mit mir los war. Ich verstand nicht, warum mir das im Moment ständig passieren musste. So etwas kannte ich nicht von mir. So etwas war mir in meinem ganze Leben noch nie passiert.

Bis jetzt war es immer so, dass meine Freunde und ich, uns ständig gegenseitig halfen, wenn wir einmal etwas nicht verstanden. Irgendeiner aus unserem Team hatte immer eine Lösung parat und erklärte dem Rest die Situation. Wir standen noch nie vor dem Problem, alleine mit einer uns unverständlichen Situation klar kommen zu müssen. Hier war aber niemand, der wie Rashida zu mir sagt. "Bleib ruhig Täubchen, wir bekommen schon heraus, was die Anderen von uns wollen." Hier war ich vollkommen auf mich selbst gestellt und wie ich zum wiederholten Male feststellt, total überfordert. Ich befand mich auf einmal einer Welt, die ich absolut nicht kannte und verstand.

Der Gedanke an Rashida und meine Freunde, versorgte das Monster in mir, mit noch mehr Nahrung. Ich rang nach Luft und kämpfte gegen das Monster in mir an, aber es gelang mir nicht.

"Kahlyn, beruhige dich doch. Sonst fängst du gleich wieder an zu brechen. Beruhige dich bitte, Mäuschen."

Ich versuchte es ja. John hatte gut reden. Er und seine Kollegen wussten überhaupt nicht, wen sie vor sich hatten und in welcher Gefahr sie sich befanden. Ich konnte über diese Dinge mit ihnen nicht reden, denn dazu wäre viel Vertrauen notwendig und das hatte ich noch gar nicht aufbauen können.

Meine gesamten Körperfunktionen wurden durcheinander gebracht und gehorchten mir in dem Moment nicht mehr. Allerdings brauchte ich diese ständige Kontrolle, um mein Umfeld vor mir zu schützen. Nur mit sehr viel Mühe, konnte ich das Schreien verhindern, dass führte allerdings dazu dass sich meine Muskulatur noch mehr verkrampfte und mich daran hinderte, dass ich atmen konnte. Die Atemnot heizte aber zusätzlich, die Wut in mir hoch, die ich seit Wochen kaum im Zaum halten konnte. Meine inneren Organe spielten total verrückt und mein Körper schüttete ein Enzym aus, das er sonst nur in höchster Gefahr ausschüttete. Ich konnte nicht mehr Atmen und war zu keinem normalen Denkvorgang mehr fähig, vor allem aber, kämpfte ich darum nicht die gesamte Kontrolle zu verlieren. Konzentrierte mich voll und ganz darauf, die Kontrolle zu behalten und das Monster in mir nicht loszulassen. Jedes Mal hatte ich das Gefühl, als wenn ich in einer Falle sitze würde und bekam dadurch noch mehr Wut. Mein gesamter Körper reagierte, mit einer für normale Menschen, nicht vorstellbaren Abwehr. Das Schlimmste waren nicht die Übelkeit oder die Krämpfe, die meinen Körper durchliefen, damit konnte ich leben. Auch nicht die damit verbundenen Schmerzen. Es war die verdammte Angst vor der Reaktion meiner neuen Kollegen, wenn ich es nicht schaffen würde, das Monster in mir zu bändigen: Vor allem aber, wegen der damit verbunden Gefahren. Zu all den, für meine Kollegen äußerlich sichtbaren Beschwerden, die ich nicht beeinflussen konnte, kam hinzu, dass ich noch gegen den Gino in mir kämpfen musste. Um ihn zu unterdrücken und dessen durchbrechen ich krampfhaft zu verhindern versuchte. Ich bemühte mich gleichmäßig zu atmen, schloss sogar die Augen, um mich zu beruhigen und um in eine normale Atmung zu kommen: Doch nichts half. Meine Atmung klang wie das Rasseln von Ketten und mein Gesicht verlor das letzte bisschen Farbe. Ich spürte die panischen Blicke meiner Kollegen, die nicht wussten, was mit mir war und wie sie mir helfen konnten.

Meine Gedanken drehten sich dazu, wie in einem Hamsterrad, ohne dass ich darauf einen Einfluss hatte. Warum so fragte ich mich, verstanden mich niemand und warum verstand ich die neuen Kollegen nicht? Wir sprachen doch ein und dieselbe Sprache, wir müssten uns also verstehen. Warum und wann war alles so kompliziert geworden? Lag es wirklich an mir? War ich zu dumm für diese neue Welt?

Ich ging in die Knie und setzte mich auf meine Ferse, versuchte dieses verfluchte Monster und die Panik, in mir zur Ruhe zu bringen. Es gelang mir nicht, je mehr ich versuchte mich zu beruhigen, je mehr ich dagegen ankämpfte, umso stärker wurde es. Ich durfte aber nicht zulassen, dass es mich kontrollierte. Hier war niemand, der die Anderen beschützen konnte, wenn ich die Kontrolle verlor. Denn dann würde der Gino unkontrolliert ausbrechen, das musste ich unbedingt verhindern. Die Kollegen hier würden in Panik ausbrechen und könnten mit dem Gino gar nicht umgehen, was die ganze Sache noch verschlimmern würde. Dadurch käme es zu einer unvorstellbaren Katastrophe, ich befand mich hier mitten in einer Stadt, die voller Menschen war. Der Gino würde eine Spur des Todes hinterlassen, bis ich wieder in der Lage war, ihn vollständig zu kontrollieren. Bei den Gedanken daran, was geschehen könnte, wurde mir verdammt schlecht und die Panik verstärkte sich noch mehr.

John hockte sich neben mich und legte vorsichtig die Hand, um meine Schultern.

"Kahlyn Mäuschen, beruhig dich doch. Es ist nicht so schlimm, dass du nicht weißt, was ich meine, wirklich nicht."

Auch Raphael ging in die Hocke, um mir gut zuzureden und er sah mir in die Augen. "Kahlyn, bleib mal ganz ruhig. Das bekommen wir alles noch hin", zum Glück unterließ er es, mich zu berühren, da er es sich nicht traute mich anzufassen.

Ganz tief atmete ich ein und aus und ging sogar in die Taiji Atmung. Versuchte krampfhaft, mich wieder in den Griff zu bekommen. Langsam wurde es besser, nur das Zittern blieb. John machte sich wirklich Sorgen um mich.

"Kahlyn, soll ich Jens holen lassen? Das ist doch nicht normal. Mäuschen, du bist wirklich krank."

Ich schüttelte den Kopf. Ich war nicht krank, das wusste ich genau. Aber ich konnte mir nicht erklären, was mit mir los war. Ich kannte so etwas einfach nicht von mir. Klar bekamen wir in der Schule ab und an einmal einen Ginobusanfall, wenn man uns zu sehr bedrängte. Nur waren das Sachen, die wirklich bösartig und gemein waren. Hier hatte mir John nur eine einfache Frage gestellt. Ich hatte also gar keinen Grund in einen Ginobusanfall hineinzurutschen. Es gab keinen Grund und es war nichts Schlimmes geschehen. Wir hatten in der Schule viel schlimmeren Stress und nie, wirklich nie ging es mir so schlecht, wie jetzt. Vor allem verstand ich nicht, wieso das Fieber schon wieder so hoch geschossen war. Das hatte nichts mit dem Ginobusanfall zu tun. Auf einmal reichte es John.

"Raphael, du bleibst bei Kahlyn. Lasst sie in Ruhe. Mäuschen, ich bin gleich wieder da."

Innerlich schrie ich. 'Geh nicht weg, John. Bitte geh nicht weg. Lass mich bitte jetzt nicht allein'. John war mein Rashida Ersatz, er gab mir die nötige Ruhe um aus diesem Anfall herauszukommen. John war allerdings schon aufgesprungen und ich hätte nichts tun können, um zu verhindern, dass er ging.

Das Monster kam mit voller Macht zurück. Wenn ich auch nur versucht hätte den Mund aufzumachen, so hätte ich mich erbrochen, vor allem aber hätte ich sofort angefangen zu schreien. Schreie die die Kollegen hier noch nie gehört hatten und auch nicht verstehen konnten, da sie nicht ahnten, durch welche Hölle ich gerade ging. So ließ ich zu, dass Raphael mich in den Arm nahm und mir mit der Hand beruhigend über den Rücken strich. Die Krämpfe wurden immer schlimmer, dass ich das Würgen nicht mehr unterdrücken konnte. Ich kämpfte gegen den Ginobusanfall und zog mich völlig in mich zurück, da ich ihn kaum noch kontrollieren konnte. Ging tief in die Taijiatmung, um das unkontrollierte Ausbrechen des Ginos zu verhindern. Durch die Taijiatmung konnten wir das mittlerweile ganz gut verhindern. Wir hatten sehr zeitig lernen müssen, mit diesen Anfällen umzugehen. Auch nutzten wir diese Atemtechnik, um Schmerzen während der Anfälle, besser ertragen zu können. Die Taijiatmung half mir ein wenig, in einen normalen Atemrhythmus zu kommen. Langsam bekam ich wieder Luft. Das Monster beruhigte sich etwas und das Zittern ließ etwas nach.

John war endlich wieder da. Ich war so froh, denn ich brauchte seine Ruhe, um ganz zurückzukommen.

Er sprach mich an. "Komm Mäuschen, ich trag dich in die Sanistube."

Ich schüttelte den Kopf und wollte das nicht. "Geht… gleich… wieder", gab ich stoßweiße zur Antwort.

"In Ordnung, geb mir Bescheid, wenn du aufstehen kannst", bat er mich und legte mir seinen Arm um die Schulter.  

Dankbar blinzelte ich kurz zu ihm hoch, auch wenn er es nicht sehen konnte. Ich nickte. Ließ aber die Augen geschlossen, um mich ganz zu beruhigen. Es war zum Glück vorbei. Dieses Mal hatte ich es geschafft, endlich konnte ich wieder richtig atmen und hatte das Monster wieder unter Kontrolle. Erleichtert öffnete ich die Augen. Erschrocken stellte ich fest, dass alle Kollegen um mich herum standen und mich panisch ansahen.

"Du siehst furchtbar aus", meinte Raphael.

Ich stand mühsam auf, mir taten alle Knochen weh und mein Körper fühlte sich an, als wenn mich eine Herde Bisons überrannt hätte.

"Sir, entschuldigen sie bitte, Sir. Es ist schon gut, es ist vorbei, Sir", versuchte ich mit leichter Stimme zu sagen, aber irgendwie glaubte mir keiner.

"Komm", bat mich John und schob mich in Richtung Sanistube.

Neben ihm stand Dr. Karpo. Ich gab nach. Vielleicht hatte John recht und ich war wirklich krank. Normal war der Anfall jedenfalls nicht. Wir gingen alle Drei in die Sanistube.

Dr. Karpo untersuchte mich sehr gründlich und sah verzweifelt aus. "Kahlyn, du hast doch schon wieder Fieber, seit wann hast du das?", fragte er mich und musterte mich sehr intensiv.

"Seit gestern Mittag, aber es geht. Es ist nicht schlimm", antwortete ich ihm ehrlich.

Karpo sah mich böse an. "Kahlyn, du bist doch nicht etwa mit der Temperatur, zum Einsatz gegangen."

Ich antwortete nicht gleich, weil ich wusste, dass ich gleich Stress bekommen würde und den konnte ich gerade nicht gebrauchen. Anlügen wollte ich Doko Karpo aber nicht, denn wie sollte er mich kennenlernen, wenn er die Wahrheit nicht kannte.

John tat es für mich. "Klar, war sie mit beim Einsatz und sie ist richtig gut, Jens. Du kannst dir gar nicht vorstellen wie gut", begann er zu schwärmen. "Wieso hat sie Fieber? Wie hoch ist es denn?", wollte er von Karpo und mir wissen.

Karpo schüttelte den Kopf. "Kahlyn, du musst etwas zur Ruhe kommen. Wenn du so weiter machst, klappst du noch ganz ab. Weißt du noch was dir Dr. Jacob erklärt hat, mit dem Nervenfieber?"

Verwundert sah ich den Doko an. Plötzlich fiel mir ein, dass Rashida am Telefon irgendetwas gesagt hatte. Aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern was das war. Das war ungewöhnlich für mich und einfach unakzeptabel.

"Nein, ich habe doch mit Doko Jacob gar nicht gesprochen. Rashida hat mir irgendetwas gesagt. Aber ich weiß nicht mehr, was sie sagte, es war so viel und ich stand völlig neben mir", antwortete ich entschuldigend.

"Kahlyn", erklärte mir Karpo mit ernstem Ton. "Wie mir Dr. Jacob erklärt hat, habt ihr Kinder untereinander, eine eigene Art zu kommunizieren, stimmt das."

Ich nickte, durch die Worte von Karpos, wurde mir wieder bewusst, wie alleine ich mich fühlte. Das Monster kam schon wieder, wollte sich schon wieder in mir breit machen.

"Kahlyn, höre bitte genau zu. Komm beruhige dich doch meine Kleine. Das es dir so schlecht geht im Moment, hängt damit zusammen, dass diese Verbindung, die ihr seit sechszehn Jahren oder vielleicht schon länger habt, nicht mehr da ist. Auf Grund der Entfernung, könnt ihr die nicht aufrecht erhalten. Ihr seid aber körperlich an diese Verbindung gewöhnt. Jacob hat mir erklärt, dass ihr euch immer untereinander verständigen konntet, ohne Worte. Jetzt ist das nicht mehr möglich. Immer, wenn du jetzt ein Problem hast, reagiert dein Körper mit der Ausschüttung von Cortisol. Das besitzt ein sehr breites Wirkungsspektrum. Dein Köper reagiert darauf extrem, unseren Körpern dagegen würde das nichts ausmachen. Du dagegen reagierst auf die Überdosierung mit Cortisol, mit extrem hohen Fieber, Krampanfällen und Erbrechen, bis hin zu neuralen Ausfällen. Du musst dir unbedingt die nächsten fünf Tage einmal Frühs und einmal abends N91 spritzen. Dieses Mittel, das bei nervlicher Überbelastung zur Beruhigung dient. Bis du dich daran gewöhnt hast, dass die Verbindung nicht mehr besteht."

Erleichtert schaute ich Karpo an. Wie konnte mir das nur entgehen? Wieso bin ich da nicht selber drauf gekommen. Genau deshalb hatten wir ja vor zwei Jahren so eine Angst bekommen, wegen der Trennung. Eigentlich eine Tatsache die ich genau wusste. Ich verstand nur nicht, dass es so schlimm war. Nie war es in der Soko so schlimm und da war ich auch tagelang von meinem Freunden getrennt gewesen. Auch wenn es die Krämpfe erklärte und ein Teil des Fiebers, erklärte es trotzdem nicht alle anderen Symptome, die ich zurzeit hatte. Im Moment konnte ich einfach nicht klar denken. Aber vielleicht konnte das N91 helfen, die Symptome etwas einzudämmen oder wenigstens zu dämpfen. Vielleicht lag es einfach nur daran, dass ich hier nichts verstand und dadurch alles verstärkt wurde. Diese Panik und der Ginobusanfall deshalb ständig ausgelöst wurde. Ich musste einmal in Ruhe darüber nachdenken, dazu war ich jetzt einfach nicht in der Lage.

"Ich geh es holen."

Entschieden wiedersprach mir Karpo. "Ich lasse dich keinen Meter laufen. Bitte John, sei doch so lieb und hole den Koffer, von Kahlyn."

"Geht klar", sofort war John zu Tür hinaus.

"Kahlyn du hast jetzt 59,2°C Fieber, wie hoch war es gestern während des Einsatzes? Bitte sage mir die Wahrheit."

Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht genau Doko, wirklich nicht. Ich hatte keine Zeit darauf zu achten. Es ging bei dem Einsatz um das Leben eines Kindes, Doko. Da achte ich auf solche Nichtigkeiten nicht, Doko."

Er musterte mich intensiv. "Dann schätze es mal", drängte er mich noch einmal.

"Es war über weit über 55°C, aber nicht wesentlich über 59°C, Doko."

Karpo schüttelte den Kopf. "Sag mal Kahlyn, muss ich wirklich, wie es mir Dr. Jacob empfohlen hat, dich vor jedem Einsatz erst auf Diensttauglichkeit untersuchen."

Ich schüttelte wieder den Kopf. "Nein Doko, das müssen sie nicht."

Karpo lächelte mich an. Er wusste, das Doko ein Kosename für Herr Doktor ist und nur dann benutzt wurde, wenn die Kinder Vertrauen aufgebaut hatten.

"In Ordnung, dann lass uns ein Abkommen treffen. Wenn es dir nicht gut geht, möchte ich, dass du mich sofort informierst und nicht erst, wenn du dich wieder vor Schmerzen am Boden krümmst. Genauso, wie du es mit Dr. Jacob gehandelt hast. Versprochen."

"Ja, Doko."

"Na dann sind wir uns einig, Hand drauf."

Ich gab sie ihm. John hatte mir ja vorhin erklärt, dass dieser Händedruck etwas besiegelt. Es war ungewohnt, aber es tat auch gut.

John kam mit meinem Koffer, stellte ihn auf die Behandlungsliege.

"Können wir bitte das Licht ganz ausmachen? Auch das Notlicht. Ich kann das nicht im Hellen machen, Bitte."

Sagte ich meinen ganzen Mut zusammen nehmend. Karpo ging zum Lichtschalter, machte das Licht aus. Ich nahm meine Brille ab. Schlagartig wurde mir bewusst, dass es schlimm für die anderen sein musste, im Dunklen zu stehen. Also beeilte ich mich. Aber diese Injektion musste ich erwärmen, bis sie die Temperatur von 98 °C erreicht hatte. Ich konnte nur im Dunklen die temporalen Farben sehen, wenn Licht an war, ging das nicht. Ich zog also die Injektion in eine Glasspritze und erhitzte sie. Ließ sie im Anschluss abkühlen, bis sie die richtige Temperatur zum Spritzen hatte und injizierte sie langsam in die Halsschlagader. Fast augenblicklich ging es mir wieder besser. Doko hatte also Recht, es war eine Art Nervenfieber, durch die Trennung der Verbindung. Wie konnte ich so etwas Wichtiges vergessen?

"Ihr könnt das Licht wieder anmachen", gab ich den beiden anderen Bescheid und setzte meine Brille wieder auf. John und Karpo staunten, fast augenblicklich wirkte die Spritze. Ich bekam wieder etwas Farbe im Gesicht. Mir ging es sichtbar besser.

"Sag mal Kahlyn, ich hab Dr. Jacob etwas vergessen zu fragen. Ich kann ihn ja anrufen, aber vielleicht kannst du mir das auch selbst erklären. Er meinte, ich kann dir in allem Vertrauen schenken, was medizinische Sachverhalte betrifft. Bei uns ist 38° erhöhte Temperatur, 39° hohes Fieber und wenn es 41° überschreitet wird es lebensgefährlich, wie verhält es sich bei dir mit dem Fieber. Das ist wichtig, weil mich diese hohen Temperaturen bei dir, regelrecht in Panik versetzen."

Ich verstand, was er meinte. Ich hatte fast das Leben von Schwester Anna zu verantworten gehabt. Nur weil ich ihren 41,4 keine Beachtung geschenkt hatte. Verstehend sah ich ihn.

"Doko, möchtest du das allgemein wissen oder speziell, wie es bei mir ist? Weil bei mir ist alles etwas anders, als bei meinen Kameraden", bat ich ihn seine Frage zu konkretisieren.

"Im Moment erst mal nur wie es bei dir ist. Mit deinen Kameraden, das kannst du mir ja später mal in Ruhe erklären, wenn es dir besser geht."

"Also es ist bei mir wie folgt. Bis 49°oder sagen wir 49,5°C macht mir Fieber überhaupt nichts aus. Steigt es aber auf über 55°C, dann wird es schwierig zu arbeiten, kritisch allerdings erst, wenn es weit über 58°C steigt. Aber auch dann können wir noch ohne weiteres arbeiten. Du musst wissen Doko, ich kann das Fieber in mir kontrollieren und nach unterdrücken, wenn es zu hoch wird. Lebensgefahr besteht erst, wenn es über 60°C steigt. Wenn es weit über 58°C sterben die meisten von uns. Bei mir liegt das immer etwas höher, so zwei bis drei Grad. Es kommt aber auch immer darauf an, wie das Allgemeinbefinden von uns ist. Ich habe schon immer, viel öfter mit Fieber zu kämpfen gehabt, als die anderen. Wie gesagt, das ist bei jedem von uns unterschiedlich, bei mir wird es erst gefährlich, wenn es wirklich weit über die 60°C geht. Die normale Temperatur liegt bei 42°C."

John traute seinen Ohren nicht. Dr. Karpo aber nickte und sah mich böse an.

"Dann hattest du also richtig hohes Fieber gehabt, als du gestern gearbeitet hast. Kannst du das eigentlich verantworten", schimpft er mich aus.

"Doko, hohes Fieber fängt an bei 58°C. Ich hatte erhöhte Temperatur oder nenne es von mir aus auch leichtes Fieber, aber es war in einem Bereich, in dem ich es kontrollieren kann. Es wurde erst später höher, bei der Einsatzbesprechung. Ich habe mir, als es zu hoch war, A13 und K99 gespritzt, um es besser kontrollieren zu können. Frag John, wenn du mir nicht glaubst, der hat es gesehen, kurz bevor ich die Geisel rausgeholt habe. Wäre es noch schlimmer gewesen, hätte ich mich krank gemeldet. Weil ich im Fieberkrampf keiner Geisel was nutze und dann den ganzen Einsatz gefährdet hätte. Glauben sie mir."

"Jens, das stimmt was Kahlyn sagt. Sie hat sich gegen Ende des Einsatzes zwei Spritzen gegeben, was es war weiß ich allerdings nicht", bestätigte John meine Aussage.

Karpo sah mich immer noch zweifelnd an. "Dr. Jacob hat mir da aber andere Sachen berichtet. Er gab mir extra den Auftrag, auf deine Temperatur besonders zu achten, weil du oft mit hohen Fieber noch an Einsätzen teilgenommen hast."

Ach der gute Doko, der hatte schon immer keine Ahnung. "Ich hätte diese Einsätze nicht machen wollen. Aber man ließ mir oft keine Wahl. Doko, ich war der Teamleiter, Gruppenführer oder wie ihr das nennt. Wenn ich nicht gegangen wäre, dann hätte die ganze Gruppe eine Strafe bekommen. Ohne Teamleiter, hätte der Einsatz nicht stattgefunden. Was sollte ich denn machen? Doko Jacob wusste immer, dass ich nicht anders handeln konnte. Ab und zu habe ich das schon gesagt, ich kann nicht mehr, damit wir alle mal etwas Schlaf bekamen oder wenn es wirklich gar nicht mehr ging. Aber die Strafen waren immer hart. Deshalb entschied immer das Team, als Ganzes, wann ich mich krank melden sollte. Nicht nur ich, sondern alle meine Kameraden wurden hart bestraft, wenn ein Einsatz ausfiel. Wir machten dann das Jawefan, das ist ein Ritual, ich kann das schlecht erklären, man transferiert oder sagt man verteilt Energie, Schmerzen und Fieber auf andere oder fällt in einen tiefen Schlaf in dem man sich schnell und gut erholt. Wie gesagt, es ist schwer zu erklären. Denen, den es gut geht, geht es dann ein wenig schlechter und denen den es schlecht geht, wieder gut. Doko Jacob, hat immer erst hinterher durch Rashida erfahren, dass ich Fieber hatte. Die hat mich immer verpetzt. Aber ich denke, wenn ich schon hier hohes Fieber habe, muss ich nicht unbedingt mitkommen", fragend sah ich zu John.

"Nein Kahlyn, wenn du hier krank bist, sagst du einfach Bescheid. Keiner hat etwas davon, wenn du krank arbeitest und dadurch verletzt wirst."

"Sehen sie Doko, hier muss ich das nicht tun." Ich hatte wieder etwas gelernt. "Darf ich jetzt wieder gehen, mir geht es gut wirklich. So gut wie seit Tagen nicht mehr, die Spritze wirkt. Ich verspreche mir die Injektionen in Johns Beisein, die nächsten Tage zu geben. Wirklich Doko, ich bin ja froh, dass ich jetzt endlich weiß, was mit mir los ist."

Karpo nickte. "John, sie achten darauf das Kahlyn sich ein wenig schont", er winkte ab. "Ich weiß, das kannst du nicht, aber du kannst es ja wenigstens versuchen", Scherzte er mit mir.

John fing an zu lachen. "Deinen Koffer nehme ich mit hoch und fülle ihn auf. Dann ist er wieder einsatzbereit. Dr. Jacob hat einiges dagelassen und den Rest habe ich mir heute von meiner Sprechstundengehilfen holen lassen. Du musst dir also darum keine Sorgen machen. Ich habe da, was ich brauche, um deinen Koffer immer gleich aufzufüllen. Den gibst du den Jungs in der Wachstube, die bringen ihn zu mir rauf. Das habe ich vorn bereits abgeklärt."

"Danke Doko", sagte ich zu ihm.

Erleichtert stand ich auf, mir ging es gut, das erste Mal seit vier Tagen, wieder einigermaßen gut.

 

Runge und Sender verschwanden im Büro des Teamleiters.

"Na Jo, wo drückt dir der Schuh? Du bist doch nicht extra hierhergekommen, weil du Hunger hast oder?", ahnte der Major, dass Runge mehr zu dem Vorgefallenen in der Wache wissen wollte. Zweifelnd sah Rudi seinen Freund an.

Runge blickte lachend zu Sender. "Dir kann man wirklich nichts vormachen oder?"

"Nööö", kam die kurze trockene Antwort von ihm. Ernster antwortete der Polizeirat seinem Freund und Untergebenen. "Du glaubst doch nicht etwas ich nehme deine und Kahlyns Verletzungen einfach so hin. Recht haste mit deiner Vermutung. Rudi erzähle mir bitte, was hier los war. Gestern hatten wir keine Zeit darüber zu reden. Aber ich muss wissen, was hier gelaufen ist. Ich bekam einen Anruf von ganz oben, mit der Auflage Oberstleutnant Mayer sofort wieder auf freien Fuß zu setzen. Egal, was er getan hat. Wenn ich nicht alle Details weiß, kann ich keine korrekte Entscheidungen treffen. Was ist hier los gewesen?"

Rudi sah seinen Freund und Vorgesetzen ernst an und fiel gerade vom Glauben ab.

"WAS? ... Dieser Mayer soll wieder freigelassen werden? Nach dem, was er hier abgezogen hat, gehört der eingesperrt und zwar für immer. Jo, so etwas habe ich in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht erlebt. Ich glaube mein Schwein pfeift", völlig von der Rolle sah der Dienststellen Leiter den Polizeirat an. "Jo, ich war mit Kahlyn, du weißt ich will meine neuen Leute immer genau kennenlernen, draußen im Park, um mit ihr alleine und in einer lockeren Atmosphäre zu reden. Als mir John durch einen Pfiff signalisierte, ich müsse sofort zurück kommen. Also machte ich mit Kahlyn einen Sprint zurück in die Wache. Ich wollte gerade hinter in mein Büro, weil ich dachte, es wäre Alarm ausgelöst wurden. Als dieser Mayer, wie ein Berserker in den Bereitschaftsraum rein stürmte. Die Tür zum Flur wurde mit einer ungeheuren Wucht aufgerissen und knallte gegen die Wand, dass bei mir im Büro die Scheiben geklirrt haben. Dieser Vollhorni, sorry anders kann ich den Mann nicht bezeichnen, stand in der Tür und musterte unsere Leute. Als er Kahlyn sah, wurde sie ohne Grund anschrie und Mayer schlug sofort und ohne Vorankündigung zu…..", genau berichtete der aufgebrachte Major seinen Freund, was an diesem Tag geschehen war. "Jo, du kannst dir nicht vorstellen, mit welcher Wucht dieser Mann zuschlägt. Du weißt, ich bin nicht zimperlich und gehe nicht gleich in die Knie. Wir beide haben oft genug miteinander trainiert. Aber nach diesem Schlag, habe ich fast zwanzig Minuten gebraucht, um wieder Luft zu bekommen und das obwohl ich auf den Schlag gefasst war. Die Kleene Jo, stand dagegen nach dem ersten Schlag, noch wie eine Eins. Die hat nicht mal mit einer Wimper gezuckt oder etwas gewackelt. Beim zweiten Schlag, den sie nicht hat kommen sehen, weil ich dazwischen gegangen bin, da wankte sie vielleicht zwei oder drei Sekunden, blieb aber trotzdem auf den Beinen. Ich hörte, da ich genau vor ihr kniete, wie ihre Rippen brachen, so heftig war der Schlag. Ich konnte das Geräusch nur nicht gleich zuordnen. Ich begriff erst später, dass dieses Geräusch, von ihren brechenden Rippen kam. Ich werde das nie vergessen, es war grausam. Die muss solche Behandlungen gewohnt sein."

Runge konnte einfach nicht glauben, was sein Freund hier erzählt. "Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?", brachte er mühsam hervor.

"Es geht noch weiter Jo, statt sich um sich selber zu kümmern, untersuchte sie mich und verheimlichte mir sogar, dass Mayer ihr sechs Rippen gebrochen hatte. Davon waren drei aus dem Körper heraus getreten. Kahlyn war praktisch am Verbluten. Ich ließ Mayer festnehmen und gab Anweisungen, die Dienstaufsicht zu holen. Das dauerte fast zehn Minuten, weil ich kaum in der Lage war zu sprechen. Als ich mir die Kleine dann ansah, lief ihr das Blut unten aus dem Stiefel raus. Aber, weil das noch nicht genug war, wollte sie keinen Arzt und wie Jens mir hinter, völlig von der Rolle erzählte. Kahlyn hat sich dann in der Sanistube, noch selber operiert. Jens hat nur Handlanger gespielt. Gerade, dass er die Wunden vernähen durfte. Den Rest hat sie alles noch selber gemacht. Sie sich den Milz- und Riss in der Leber verklebt und die Rippen wieder gerichtet. Sogar das Zwerchfell war bei ihr kaputt und musste von ihr genäht oder geklebt werden. Am nächsten Morgen Jo, stand sie Gewehr bei Fuß am Frühstücktisch und hat mit uns Ausdauertraining gemacht, fünf Stunden Ausdauer und Nahkampftraining. So, als wenn nichts gewesen wäre. Ich konnte das Training kaum bewältigt und bin weniger verletzt als sie, trotzdem sie mir etwas gegen die Atembeschwerden und die Schmerzen gespritzt hatte. Bei mir sind keine Rippen gebrochen oder nach außen getreten und das Zwerchfell ist nicht kaputt. Ich habe nur ein paar Prellungen. Weder du noch ich oder irgendeiner aus der Truppe, hätte das geschafft. Am Nachmittag, hast du sie ja dann kennen gelernt. Das waren keine sechsunddreißig Stunden, nach der netten Behandlung von diesem Mayer. Bitte wir müssen raus bekommen, was dort auf der Schule abgelaufen ist. Ohne dich schaffe ich das nicht."

Runge hatte seinen Freund Rudi, noch nie so außer sich erlebt. Doch gestern Nacht, hatte er die blutunterlaufenen Oberkörper der Beiden gesehen. Er hatte ich gefragt, wie das passieren konnte. Das ließ ihn keine Ruhe und das war der Hauptgrund, weshalb er heute hier erschienen ist.

Er und Rudi, hatten Jahre lang zusammen gekämpft und trainiert und sie waren nie zärtlich miteinander umgegangen. Oft hatten sie sich gegenseitig blaue Flecken zugezogen. Aber so etwas war ihm fremd. Auch hatte er mit einigen im Team, nach der Geiselbefreiung gesprochen, die ihnen begeistert von der Arbeit Kahlyns berichteten. Irgendwie, passte das alles nicht zusammen: Irgendetwas lief hier mächtig gewaltig schief.

'Rudi hatte recht', ging es Runge durch den Kopf, 'er musste unbedingt wissen, was auf dieser Schule los gewesen war.' Das konnte er nur, von der Kleinen selber erfahren. Hier stank es gewaltig nach Dreck und so etwas ließ er auf und in seinen Dienststellen nicht zu. Schon gar nicht konnte er akzeptieren, dass einer seiner Untergebenen einfach geschlagen wurde.

Sender beobachtet seinen Freund Jo. Er konnte sich denken, was ihm durch den Kopf ging, deshalb ließ er Jo die Zeit seine Gedanken zu sortieren.

"Du hast Recht Rudi, wir müssen mit Kahlyn reden, unbedingt", erklärte ihm der Polizeirat plötzlich, mit einem ernsten keinen Widerspruch zulassenden Ton.

"Komm, gehen wir sie holen. Ich glaube es ist besser, wenn du mit dabei bist und wir sie zusammen holen. Vielleicht wäre es gut, John mit dazu zu nehmen. Ich habe den Eindruck, dass sie großes Vertrauen zu ihm hat."

Sender nickte und beide standen auf, um Kahlyn zu holen. Als sie in den Bereitschaftsraum zurück kamen, trafen sie auf ihre Truppe, die total durcheinander war.

"Was ist denn hier schon wieder los?", erkundigt sich Sender, bei dem am nächsten stehenden. Nichts Gutes ahnend, weil er Kahlyn nirgends sah,.

"Kahlyn geht es nicht gut."

Raphael war an Sender heran getreten, berichtete ihm und dem Polizeirat, von dem was gerade passiert war. Sender schüttelte verzweifelt den Kopf. Hörte denn der Stress mit der Kleenen nie auf. So viel Aufregung, hatte er sonst in einem ganzen Jahr nicht, wie in den letzten vier Tagen. Er war am Ende mit seiner Geduld, er musste dafür sorgen, dass hier wieder Ruhe einkehrte. Es war nicht gut für die Teams, wenn sie ständig solchen Aufruhr ausgesetzt wurden. Gerade wollte er Richtung Sanistube gehen, um nach Kahlyn zu sehen, da öffnete sich die Tür. Eine Kahlyn, die er noch nie gesehen hatte, betrat den Bereitschaftsraum. Verwundert sah er Kahlyn an.

"Alles in Ordnung mit dir? Die Jungs sagten mir gerade, dir ginge es nicht gut", stellte er die Frage direkt an Kahlyn.

Bevor das Mädchen antworten konnte, war Karpo schon auf Sender zu gelaufen.

"Rudi kann ich dich kurz sprechen?"

Der Dienststellenleiter nickte, klar er wollte und musste er wissen, was los hier schon wieder los war. Kurz und bündig erklärte Karpo seinem Vorgesetzten, das Kahlyn jetzt das erste Mal seit Tagen, wieder richtig fit sei. Dass das auch so bleiben würde. Man hatte die Ursache der Anfälle beseitig. Die Medikamente hätten, keinen Einfluss auf die Diensttauglichkeit und Kahlyn wäre voll einsatzfähig.

"Aber Rudi, die Kleine braucht dringend etwas Ruhe. Keine Aufregungen mehr. Lasst ihr Zeit sich in Ruhe einzugewöhnen."

Sender war froh, das zu hören und atmete erleichtert auf.

Kahlyn blickte dankbar zu Karpo, der ihr die ganzen Erklärungen abnahm und ging hinüber zu den Anderen. Die Kollegen atmeten erleichtert auf, als sie sahen, dass es ihrer Kleinen, wie sie schon bei ihnen genannt wurde, wieder gut ging.

"In Ordnung", Sender nickte Karpo zu. "Jens sag mal, kann ich es mir leisten mit Kahlyn zu reden, zusammen mit Jo. Oder denkst du wir sollten das noch verschieben."

Karpo zuckte mit den Schultern. "Rudi, das kann ich dir nicht beantworten. Ich weiß bei Kahlyn nicht, wo die Belastungsgrenzen sind. Versuche es einfach. Wenn du merkst, dass es ihr nicht gut geht, dann breche ab. Aber behandele sie um Gottes Willen, nicht wie eine Kranke. Das Mädel ist hart im Nehmen. Nur zurzeit, stürzt ihre gesamte Welt zusammen. Ich denke sie weiß im Moment nicht mehr genau, was sie richtig und was sie falsch macht, deshalb auch das ständige Fieber."

Sender verstand nicht, was Karpo meinte. " Wie, Fieber?", wollte Rudi von Karpo wissen.

"Ja Rudi, was soll ich sagen. Die Kleine hat gestern den Einsatz, aus meiner Sicht, mit sehr hohen Fieber geleitet. Erstaunlich, dass sie das überhaupt geschafft hat. Kein Wunder, dass sie heute zusammengebrochen ist. Meiner Meinung nach, läuft Kahlyn schon weit übern Limit. Wie gesagt, ich kann das noch nicht genau einschätzen. Aber ich sage es dir noch einmal! Achte darauf, dass sie etwas Ruhe findet. Das ist etwas, was sie unbedingt braucht. Obwohl ich mir noch nicht mal sicher bin, ob sie überhaupt weiß, was Ruhe ist. Jedenfalls nicht nachdem, was mir Doktor Jacob vorgestern erzählt hat", Karpo zuckte wieder mit den Schultern und sah Sender mit einem unsicheren Blick an.

"Ich werde sie einfach fragen, wenn sie meint es geht nicht, verschieben wir das Gespräch einfach", entschied Sender und ging auf Kahlyn zu.

 

"Kahlyn, hast du einen Moment Zeit?", wandte er sich direkt an mich. Ich drehte mich sofort herum und lief auf Sender zu.

"Sir, jawohl, Sir", war meine korrekte Antwort.

Am liebsten würde Sender die Augen verdrehen, dieses Sir Gequatsche, ging ihm mächtig auf die Nerven. Nur wollte er die Kleine, nicht noch mehr durcheinander bringen, deshalb überhörte er es einfach.

"John, du bitte auch", damit drehte er sich um und lief in Richtung Büro. Gefolgt von Runge, John und mir. Dort angekommen, bat er alle Platz zu nehmen.

"Kahlyn, ich möchte dich etwas fragen und bitte, Kleene, gebe mir eine ehrliche Antwort. Wie geht es dir, heute wirklich?", ernst sah der Major mich an.

"Sir, mir geht es wieder gut, wirklich Sir", antworte ich sachlich und korrekt.

Sender blickte zu John. "Was ist dein Eindruck John?"

John zuckte mit den Schultern. "Rudi, ich kann es dir nicht genau sagen. Aber ich würde behaupten, es geht ihr gut."

"Dann ist es in Ordnung für dich Kahlyn, dass wir uns etwas unterhalten?"

Ich nickte. "Sir, jawohl, Sir."

"In Ordnung. Will jemand von euch einen Kaffee haben."

Fragt Sender alle Anwesenden, um Zeit zu gewinnen. Er brauchte einfach einen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. Es war eng in dem Büro von Sender geworden. Runge saß auf dem Sofa. Sender hatte seinen Platz hinterm Schreibtisch, ich saß davor und John saß auf der Lehne von meinem Stuhl.

Sender verteilte an alle Kaffee und nahm auch wieder Platz. "Kahlyn, als erstes möchte ich etwas mit dir klären. Kleene, wenn es dir wieder schlechter geht oder dir hier alles zu viel wird, dann sagst du mir sofort Bescheid. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl", gerade und offen blickte er mir in die Augen, auch wenn er diese, durch die Brille nicht sah.

"Sir, jawohl, Sir", kam die sofortige Antwort.

"Kahlyn, darf ich eine Bitte an dich äußern."

Verwundert hörte ich diese Frage. "Sir, jawohl, Sir."

Genervt holte er tief Luft und blickte hilfesuchend Runge zu John an.

John dreht mein Gesicht zu sich herum, weil er wusste, was Rudi so nervte. "Kahlyn, Mäuschen ich habe dir doch heute erklärt, dass wir hier alle ein Team sind. Ich muss dich mal etwas fragen. Dein Team in der Schule, hast du das auch mit Sir oder Mam angesprochen?"

Verwundert schüttelte ich den Kopf. "Nein das habe ich nicht, John."

John holte tief Luft und hoffte sehr, dass er seine kleine Freundin nicht gleich wieder überfordert. "Warum nicht Kahlyn?"

Verwirrt antwortete ich ihm. "John, das waren doch meine Freunde."

"Siehst du. Könntest du dir eventuell vorstellen, dass du hier dieses Team auch mal als deine Freunde ansehen könntest? Weißt du, wir sind es nicht gewohnt mit Sir angesprochen zu werden. Weder Rudi, noch Jo, noch sonst wer hier. Weil wir zusammen kämpfen, genauso wie du mit deinen Freunden in der Schule, verstehst du das. Es nervt einfach. Es bringt eine unnötige Distanz zwischen dich und die Truppe. Das ist nicht gut."

Ich verstand schon, was John meint, deshalb nickte ich. "Es ist nur ungewohnt. Ich kann das nicht so einfach. Außerdem, meine Freunde kenne ich so lange ich denken kann. Euch erst seit vier Tagen. Weißt du wir wurden als kleine Kinder immer bestraft, wenn wir du gesagt haben oder die Anrede nicht korrekt war. Es ist uns einfach in Fleisch und Blut übergegangen oder wie man das sagt", erklärte ich ganz leise.

John nickte. "Das glaube ich dir gerne. Aber es hat doch auch etwas mit Vertrauen zu tun, oder?"

Wieder nickte ich. "Glaubst du wirklich John, dass ich nach vier Tagen, zu dir schon genauso viel Vertrauen habe, wie zu meinen Freunden?", antwortete ich mit einer Gegenfrage.

"Nein natürlich nicht. Aber wie soll sich Vertrauen entwickeln, wenn du ständig einen Mauer aus Sirs um dich herum baust?"

Ich verstand zwar, zuckte aber mit den Schultern, dann nickte ich, nur damit ich meine Ruhe zu hatte. John würde mich nicht verstehen: Noch nicht.

"Siehst du, versuche es einmal. Wenn du es eine Weile gemacht hast, gewöhnst du dich daran. Wenigstens hier in der Truppe."

Ich nickte sage aber nichts, weil ich nicht wusste, wie ich antworten sollte. Es war hier alles so anders, als ich es gewohnt war. Verlegen schaute ich zu meinen Füßen.

"Na, dann fangen wir mal an", bat im sachlichen Ton Sender, seinen Freund und Kollegen Runge, der stand nun auf und ging hinter den Schreibtisch, um sich auf dessen Kante zu setzen.

"So ist es besser, so sehe ich dich, wenigstens", meinte Runge mit einem dunklen Lachen.

Der Polizeirat sah mich offen und freundlich an. Trotzdem wurde mir ganz anders. Ich ahnte nur zu genau, was jetzt kommen würde.

"Kahlyn, ich möchte dich etwas fragen. Kannst du uns, das heißt Rudi, John und mir etwas über das Leben in eurer Schule erzählen."

Ich atmete tief ein, genau davor hatte ich Angst. Wir hatten die Anweisung bekommen, nicht über Schulinterne Angelegenheiten zu sprechen. Egal was passieren würde und das aus gutem Grund.

"Sir, ich darf darüber nicht sprechen, ich habe den Befehl bekommen, darüber zu schweigen, Sir", verfiel ich in die alte Gewohnheit.

Runge lächelte. Er konnte sich denken, dass es mir schwerfallen würde, mich umzustellen. "Kahlyn, wer gab dir den Befehl?"

"Sir, Oberstleutnant Mayer, Oberstleutnant Fiedler und Generalmajor Hunsinger, Sir."

Sender wollte etwas sagen, Rungen schnitt ihm das Wort, mit einer Handbewegung ab.

"Kahlyn, du weißt, was ich für einen Rang habe?" Ernst sah er zu mir.

Ich nickte. "Sir, ja. Sir. Sie sind hier im Einzugsbereich des SEK 61 der oberste Chef, vom Rang sind sie Polizeirat, Sir. Also mein höchster Vorgesetzter hier im Bezirk."

Runge nickte. "Könntest du mir etwas erzählen, wenn ich dir als Polizeirat, den Befehl dazu gebe?"

Ich überlegte einen Moment, zuckte unbewusst mit den Schultern, dann stimmte ich notgedrungen zu. "Sir, was soll ich dazu sagen, Sir. Bei Oberstleutnant Fiedler und Oberstleutnant Mayer ist das keine Frage, sie stehen über den beiden Offizieren in der Befehlshierarchie, Sir. Bei Generalmajor Hunsinger und ihnen, ist das komplizierter: Da sich ihre Ränge nicht miteinander vergleichen lassen, Sir. Sie stehen im Rang eigentlich unter dem Generalmajor, aber in der Befehlsfolge über ihm, Sir. Das sehe an ihren Schulterstücken und den Reversaufschlägen, Sir. Das macht die ganze Befehlsfolge nicht einfacher, sondern wesentlich komplizierter, Sir. Der Begriff Polizeirat, der hier auf der Wache benutzt wird, stimmt für ihre Dienstgrad oder besser gesagt, ihre Amtsbezeichnung nicht, Sir. Richtig heißt ihre Amtsbezeichnung nämlich Präsident der Bundespolizeidirektion Gera, Sir. Der Begriff Polizeirat, hat sich aus früheren Zeiten erhalten und ist völlig inkorrekt, wird allerdings gern benutzt, weil er kürzer und einfacher zu merken ist, Sir. Da sie aber Mitglied, des inneren Zirkels der Ministeriums des Inneren und der Staatssicherheit sind, Sir, und in der Befehlslinie über Generalmajor Hunsinger stehen, müsste ich ihren Befehlen Folge leisten, Sir. Denn der Genosse Hunsinger ist ihnen in der Befehlsfolge unterstellt und muss ihren gegebenen Befehlen gehorchen, Sir. Da sie zurzeit mein unmittelbarer Vorgesetzter sind und Genosse Hunsinger ihnen unterstellt ist, müsste ich ihren Befehlen bedingungslos Folge leisten, Sir. Da die vorgegebene Befehlslinie wichtiger ist, als der Rang eines Offiziers, Sir, habe ich demzufolge keine Wahl, Sir. Auch dann nicht, wenn es mir zugegebenermaßen sehr schwer fallen würde, Sir, und mich diese Tatsache in schwere seelische Konflikte stürzt, Sir. Aber ja, da gebe ich ihnen Recht, Sir, ich müsste ihren Befehl zu hundert Prozent erfüllen, so schwer mir das auch fallen würde, Sir. Sie sollten aber bedenken, Sir, bei dem Geben von Befehlen, dass sie mit diesem Befehl ihre Untergebenen nicht in einen seelischen Konflikt stürzen dürfen, Sir", wies ich Runge darauf hin, dass er mit diesem Befehl gegen geltendes Recht verstoßen würde.

Fassungslos und völlig irritiert, stierten mich alle im Raum befindlichen Männer an. Sie hatten mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass ich ihnen die rechtlichen Grundlangen eines Befehls und die genaue Position Runges, im inneren Befehlskreis unseres Staates erklären und sie auf einen großen Fehler hinweisen würde. Vor allem auf einen wirklich diplomatische Art und Weise, gegen die man nichts sagen konnte.

"Warum das denn? Wieso würde Jo mit seinem Befehl, dich in einen seelischen Konflikt stürzen? Ich verstehe das nicht, Mäuschen", fragte John mich unvermittelt, der sich als Erster aus seiner Schockstarre gelöst hatte, in der Runge und Sender immer noch verharrten. Beiden war scheinbar nicht klar, woher ich solche detaillierte Informationen, über Runge hatte.

Dabei war das ganz einfach zu erklären. Die Stellungen von Rang und Amtsbezeichnungen innerhalb der Polizei und des Militärs einfach nicht miteinander vergleichbar, wir mussten diese Bezeichnungen allerdings alle lernen und hatten geübt, die unterschiedlichen Ränge miteinander zu vergleichen, um herauszufinden, wer uns wann etwas zu sagen hatte. Ich kannte seit Jahren alle Rang- und Amtsbezeichnungen, aus allen Ländern des RGWs, da wir ständig auch im Ausland eingesetzt wurden. Viele Offiziere reagieren sehr ungehalten, wenn man diese Rangordnungen nicht einhielt, deshalb hatten wir das sehr schnell gelernt. Die Details über Runge, sah ich an Hand seiner Reversabzeichen und den verliehenen Orden, die an seiner Uniformjacke steckten. Nicht jeder kannte sich damit aus, aber mir machten solche Beobachtungen immer Spaß.

Meine Beobachtungsgabe in solchen Dingen, haben mir stets geholfen, meinen Gegenüber richtig einschätzen zu können und vor allem schlimme Fehler, in der Umgangsformen zu vermeiden. Solche Fehler wurden bei uns stets schmerzhaft geahndet wurden.

"John, es ist doch so. Oberstleutnant Mayer, Oberstleutnant Fiedler und Generalmajor Hunsinger, waren über sechszehn Jahre mehr oder weniger, meine unmittelbarer Vorgesetzten. Ich musste immer akzeptieren, was sie mir befahlen. Es fällt mir einfach schwer, gegen eine Anordnung die sie mir einmal gegeben haben, zu wider zu handeln. Vor allem ist es nicht meine Art, meine Vorgesetzten, bei wem auch immer anzuschwärzen. Das was war, John, ist vorbei, das kann man nicht mehr ändern."

John nickte, er konnte sich gut vorstellen, in welcher seelischen Zwickmühle ich steckte.

Runge rieb sich das Knie, dann strich er sich durch sein weißes dichtes Haar. "Tja Kahlyn, ich muss dir, ob ich will oder nicht, in allem was du gesagt hast Recht geben. Das ist wirklich ein schwerwiegendes Problem. Sag mir bitte, was soll ich jetzt machen?" Runge sah mich ganz merkwürdig an. Als ich mich erklären wollte, schüttelte er mit dem Kopf. "Kahlyn, ich weiß, was du mir gleich sagen wirst. Du weißt genauso gut wie ich, dass es oft nicht einfach ist, jemand einen Befehl zu erteilen. Du bist länger als ich Teamleiter gewesen, um all diese Probleme zu kennen. Vor allem ist das Befehle geben immer dann besonders schwer, wenn man genau weiß, dass man den Befehlsempfänger, dadurch in eine Situation bringt, die so eigentlich nicht sein darf. Ich versuche dir mal meine jetzige Situation zu erklären, vielleicht verstehst du dann besser, warum ich dir diesen Befehl geben müsste, auch wenn ich es nicht will und wenn es nötig ist, auch geben werde. Mir ist wichtig, dass du begreifst, warum ich das alles wissen will und auch muss", Runge sah mich ernst an und wieder rieb er sich sein Knie. Der Polizeirat schien schlimme Schmerzen zu haben.

"John, sag mal, kannst du mir von draußen einen Stuhl holen. Dann muss ich nicht die ganze Zeit stehen. Du weißt mein Bein ärgert mich, das mag nicht so lange stehen", breit grinste er seinen Untergebenen an.

John stand auf und verließ den Raum.

Runge aber, wandte sich wieder an mich. "Kahlyn, ich habe langsam aber sicher das Gefühl, dass man euch in dieser Schule, nicht wie Menschen behandelt hat. Gibst du mir da Recht?", erwartete er eine ehrliche Antwort von mir.  

Ich begriff nicht wirklich, was er damit bezwecken wollte. "Sir, wir sind keine Menschen, Sir. Das hat man uns immer wieder gesagt, Sir", informierte ich ihn über eine Tatsache, die ihm eigentlich bekannt sein musste.

An dieser Feststellung war nichts zu ändern, denn sie beinhaltete die reine Wahrheit und das seit über sechszehn Jahren. Mittlerweilen glaubten wir auch daran, oft genug hatte man uns das schon gesagt und lange genug eingeprügelt.

Runge reagierte ganz anders, als ich es erwartet hatte. Entsetzt sah er mich an und stöhnte auf. Sender sprang auf, so dass sein Stuhl nach hintern wegkippte. Diesmal war ich es der die beiden Männer anstarrte, als wären sie von einem anderen Stern.

"WIE bitte? WAS hat man euch gesagt? Ihr seid KEINE Menschen? WARUM denn nicht, in Gottes Namen?"

Entsetzen stand auf ihren Gesichtern, etwas was ich nicht begreifen konnte. John der gerade ins Büro kam und gar nicht wusste, was geschehen war, sah entsetzt auf seine beiden Vorgesetzten. Er stellte die Stühle hin und schüttelte den Kopf.

"Was macht ihr denn für Gesichter? Was ist denn hier schon wieder los?", wollte er wissen.

Keiner von Beiden, ging auf seine Frage ein. Runge nahm sich seinen Stuhl und ließ sich darauf fallen und stützte seinen Kopf mit den Händen ab. Sender hob seinen auf und setzte sich kopfschüttelnd hinter seinen Schreibtisch und starrte mich wie ein Alien an. John, der sich auch einen Stuhl mitgebracht hat, nahm ebenfalls Platz und sah abwechselnd Runge, Senders und mich an. Diesmal fasste sich der Polizeirat als erster und bat mich um Aufklärung, auch wenn ihn die Angst vor der Antwort ins Gesicht geschrieben stand.

"Erkläre mir das Kahlyn, bitte und diesmal ohne den Sir, so als wenn du es John erklären würdest."

Ich war völlig durcheinander und konnte ihm nicht folgen. "Was soll ich erklären? Si…"

Runge raufte sich die Haare. "Warum ihr keine Menschen seid, Kahlyn. Hast du nicht auch wie John, Rudi und ich Arme und Beine. Siehst du nicht aus wie wir."

Ich schüttelte den Kopf und nahm die Brille ab. "Ich sehe nicht aus wie sie, Genosse Polizeirat. Wir sind keine Menschen, hat man uns immer wieder erklärt, Sir. Nicht nur der Oberstleutnant Mayer sagte das, sondern alle die uns begegnet sind. Menschen, so hat man uns immer wieder erklärt, werden von Müttern geboren. Was immer das ist, und nicht wie wir von Maschinen. Wir haben anderes Blut, andere Augen, eine ganz andere Physiologie und wir denken anders als sie, Sir."

Ich verstand absolut nicht, warum die anderen sich so aufregten. Wir waren halt keine Menschen, das war halt so und ließ sich nach nicht mehr ändern. Runge beugte sich vor, nahm mein Kinn und drückte es nach oben. Zwang mich so, ihm direkt in die Augen zu sehen. Ich blinzelte, da das Licht meinen Augen weh tat.

"Setze bitte deine Brille wieder auf", er ließ mein Kinn los. "Du bist ein Mensch, wie wir alle. Egal, was man dir auf dieser komischen Schule gesagt hat. Kahlyn, du bist ein Mensch, Schluss aus und basta. Ende der Diskussion. Du funktionierst anders, du siehst etwas anders aus. Na und was ist daran schlimmes. Kind, du bist und bleibst deshalb immer ein Mensch. Du bist so alt, wie meine Tochter Jenny, von den Jahren her. Aber du bist viel älter, als wir alle zusammen. Du kannst nicht lachen, du kennst keinen Spaß und du weißt nicht, was es heißt eine Familie zu haben. All das haben dir und deinen Kameraden, dieser verdammte Oberstleutnant und diese gewissenlosen Wissenschaftler angetan. Deshalb muss ich wissen, was noch alles bei euch, auf dieser komischen Schule los war, um zu verhindern, dass das alles noch einmal geschieht. Das nochmals Kinder, wie du zur Welt kommen, von Maschinen geboren. Die man als Nicht-Menschen bezeichnet. Was seid ihr in allem Herrgotts Namen, wenn ihr keine Menschen seid? Kahlyn, sag mir bitte, was ihr seid?" Runges Stimme klang verzweifelt und er hatte Tränen in den Augen. "Antworte mir bitte. Was seid ihr, wenn ihr keine Menschen seid? Verdammt noch mal", fragte er mit zitternder Stimme und sah mich mit einem Blick an, der mir zeigte, dass er eine Höllenangst vor der Antwort hatte.

Ich senkte den Kopf, weil ich mich schämte, das von mir zu geben, als was uns der Oberleutnant immer bezeichnet hatte.

"Sir, ich glaube das wird ihnen nicht gefallen. Man gab uns viele Namen, keiner davon hat uns wirklich gefallen, aber wir können es nicht ändern. Mayer sagte immer wären Kreaturen, Genschleudern, Bumsklumpen, Kackfressen, Hodengnome, Wichskrüppel, Rammeloschis, Teufelsbrut, Aliens, Dämonen, Biester, Analfratzen, Missgeburten, abartige Bastarde, Monster,  wilde Tiere, ohne Verstand und ohne Gefühle. Ich weiß nicht mehr alles, was sie zu uns gesagt hat. Es waren so viele Bezeichnungen, Sir", zählte ich die geläufigsten Bezeichnungen von uns auf.

John schrie auf, schloss die Augen und nahm die Hände ins Genick, als wenn er schlecht atmen konnte.

"NEIIIN", stöhne Sender auf und schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Frust loszuwerden.

Runge atmete schwer, seine Hände zitterten wie Espenlaub, aber er versuchte ruhig zu bleiben. Trotzdem brauchte einen Moment, um sich wieder gänzlich zu fassen.

Ich verstand nicht, warum sich die Drei derartig darüber aufregten, es waren doch nur Namen und Bezeichnungen, die taten uns nicht wirklich weh. Im Gegensatz zu den anderen Bestrafungen, die wir immer bekamen. Sie waren nicht schön, aber wir hatten zwei Ohren, wie Jaan immer sagte. Diese Namen gingen auf der einen Seite rein und auf der anderen Seite wieder raus. Wir nahmen sie gar nicht mehr wirklich wahr. Auch wenn sie uns nicht unbedingt gefielen und uns ankotzten, sie gehörten halt dazu, wie bei uns das Sir zu jedem Satz gehörte.

"Kahlyn, das ist nicht wahr. Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist..."

Wütend fiel ich dem Polizeirat ins Wort. "Sir, ich lüge nicht, Si...", jetzt wurde ich unterbrochen.

"Das weiß ich doch, meine Kleene, ich habe dir auch keine Lüge unterstellt..." Verwirrt sah ich Runge an.

"... so hatte ich das auch gar nicht gemeint, Kahlyn. Ich will nur nicht glauben, dass es Menschen gibt, die euch Kinder so bezeichnet haben. Das ist einfach unmenschlich. Kahlyn, ich weiß, dass du deine Gefühle nicht zeigen kannst. Weil ihr sie bestimmt niemals zeigen durftet. Aber ich weiß, dass du welche hast. Sonst hättest du gestern nicht unter Lebensgefahr und mit hohen Fieber, eine Geisel herausgeholt, die einige Minuten später, sowieso frei gewesen wäre. Nur um die Gefahr, für die Geisel zu minimieren. Du bist verdammt nochmal genauso ein Mensch wie wir alle. Die einzigen der keinen Funken Mensch in sich haben, sind diese Projektleiter und seine Bediensteten. Bitte erzähle mir alles. Wenn du dich besser dabei fühlst, dann gebe ich dir auch den Befehl. Dieser Mann muss bestraft werden, für alles das, was er euch angetan hat. Bitte Kahlyn, ich brauche Fakten, damit ich ihn festhalten kann. Ohne Informationen von dir, kann ich ihn nicht festhalten und muss ihn wieder in die Freiheit entlassen", forderte Runge von mir und sah mich dann nur noch an.

Der Polizeirat lehnte sich zurück und sagte gar nichts mehr. Als John etwas sagen wollte, schüttelte Runge nur mit dem Kopf, genauso wie der Major. Nun schwieg auch noch John.

Ich hatte so etwas, noch nie erlebt. Man hatte mir die ganzen Jahre eingeredet, kein Mensch zu sein. Auf meine Frage, warum das so war, wurde ich bestraft. Nie hatte es etwas genutzt, dass ich mich dagegen aufgelehnt hatte, zum Schluss habe ich meinem Schicksal ergeben. Was hätte es denn auch genutzt? Irgendwann gab ich einfach auf, um die Anerkennung unserer Rechte zu kämpfen.

Auch, wenn es immer wieder einmal Menschen gab, die mir das Gleiche sagten, wie jetzt der Polizeirat. War dieses Wissen, mittlerweilen so fest in mir verwurzelt, dass ich wirklich glaubte, dass ich kein Mensch war. Wir hatten es schon so oft gehört, dass wir es nicht sind, dass es uns schon lange nicht mehr störte.

Jetzt saß ich hier, mit drei Menschen zusammen, die genau das wissen wollen, was ich mir jahrelang erträumt hatte. Dass ich vor einer unendlich langen Zeit immer zu Rashida und auch zu meinen Freunden gesagt hatte, als sie sich darüber beschwerten, dass ich die alten Karamellen immer wieder aufwärmte, um ja kein noch so geringes Detail zu vergessen. Gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit, für uns? Hatte Doko Jacob, vielleicht doch Recht mit seiner Behauptung, als er mir immer wieder erklärte, dass eines Tages eine Zeit kommen würde, in dem man uns so behandeln würde, wie es sich gehört. Ab diesen Zeitpunkt würden wir keine Schläge mehr bekommen und es gäbe dann keine Bestrafungen mehr für uns. Wir müssten dann nie wieder hungern. Wir würden dann wie richtige Menschen behandelt. War es jetzt wirklich so weit? Ich schluckte schwer an diesem Gedanken und rieb mir immer wieder das Gesicht, das Genick und meine Augen. Fuhr mir ständig durch die kurzgeschorenen Haare. Dann sprang ich auf. Ich musste mich bewegen, diese innere Unruhe macht mich völlig verrückt. Lief wie ein gehetztes Tier durch Senders Büro.

Da war es wieder, dieses Wort Tier. Mayer hatte Recht, dass wir keine Menschen waren. Denn die anderen hatten diese Unruhe nicht und vor allem verwandelten sie sich nicht in Ginos. Meine Gedanken waren alle völlig durcheinander. Ich stellte mich mit den Händen an die Wand gestützt hin und atmete tief durch. Einfach um mich zu beruhigen. Dabei starrte ich die Wand an, als ob diese mir meine Fragen beantworten könnte.

Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Männern Vertrauen zu konnte. Dazu kannte ich sie viel zu wenig. Was, wenn das alles nur ein Trick war? Nur, um herauszubekommen, wie loyal ich der Schule gegenüber war. Was, wenn diese drei Männer von Oberstleutnant Mayer dazu angestiftet wurden? Dass sie mich dazu zu bringen sollten, gegen einen seiner Befehle zu verstoßen. Was würde dann aus meinen Freunden werden? Wenn es wirklich einer der hinterhältigen Test des Oberstleutnant war? Mein Kopf brannte und mein Herz raste. Ich ließ mein Genick knacken, um die Spannung darin loszuwerden. Ich konnte so nicht klar denken.

Wenn das hier alles ein Test war, dann würde ich wieder bestraft werden. Würde sich die Strafe dann nur gegen mich wenden oder auch gegen meine Freunde? Konnte ich dieses hohe Risiko eingehen? Mit der Strafe gegen mich, konnte ich leben. Aber, was würde aus meinen Freunden dann werden? Wer würde sie dann beschützen? Ich drehte meinen Kopf den Männern zu und sah über meine Schulter. Blickte lange zu John und ging alle Erinnerungen der letzten vier Tage noch einmal durch. Ich vertraute ihm ein wenig. Er war immer da, wenn ich nicht weiter wusste und er hatte mir immer geholfen. Brächte er es fertig, mich zu verraten?

Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf. Alles in mir war in Aufruhr. Alles arbeitete auf Hochtouren in mir. Ich drückte mich von der Wand ab und lief zur Tür und dann wieder zurück zu meinem Stuhl. Ein paar Mal machte ich das. Schließlich setzte ich mich. Zog die Füße auf den Stuhl und umschlang diese mit meinen Armen. Ich konnte es nicht verhindern, dass ich anfing zu schaukeln. Legte meinen Kopf auf meine Knie und starrte nach unten auf meine Füße.  

Wie sehr, wünschte ich mich in diesem Moment zu meiner Rashida. Sie wüsste bestimmt einen Rat. Sie stand immer über den Dingen und konnte auch in solchen Situationen noch klar denken. Aber auch sie war jetzt alleine. Wusste sie immer, ob sie das Richtige machte? Wie oft, musste ich ihr Verhaltensnormen erklären, weil sie nicht weiter wusste, da man sie unter Druck setzte. Ging es ihr jetzt auch nicht anders als mir? Wie würde ihr in meiner Situation gehen? Musste sie auf ihrer Wache auch Rede und Antwort stehen? Über all das, was in der Schule gewesen ist?

Ich würde nie wieder mit ihr lachen oder weinen. Mir schossen die Tränen in die Augen und mein Herz krampfte sich zusammen. Man hatte uns einfach getrennt. Niemand hatte uns gefragt, was wir wollten. Ich sollte aber immer glauben, dass man es gut mit uns meinte. Wäre es wirklich so, hätte man da nicht auch uns fragen müssen, was wir wollten? Keinen hat es bis jetzt interessiert, was wir dachten und ich sollte denen vertrauen.

Wieder hob ich den Kopf und sah die drei Männer lange an. Schließlich legte ich meinen Kopf wieder auf meine Knie und fing an zu weinen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich war allein und es würde für immer so bleiben. Ich war auf mich alleine gestellt. Ich musste heute nur für mich alleine, das Richtige tun. Meinen Freunden würde ich im Moment nicht helfen können. Sie waren genauso auf sich gestellt wie ich.

Wieder sah ich zu John hinüber. Was blieb mir also übrig? Ich beschloss John zu vertrauen. Wenn er mich verriet, war sowieso alles verloren und egal. Dann war für mich alles zu spät. Die Strafe, die ich dann bekäme, würde ich sowieso nicht überleben. Oft genug hatte es mir der Oberstleutnant in den letzten Wochen angedroht. Das wäre dann mein letzter Fehler gewesen, hatte er mir bei jedem Schlag den ich abbekam gesagt. Dann würde ich endlich, für immer Frieden haben. Käme für immer zu unserem Baum und konnte für immer in Ruhe schlafen. Mir war es langsam egal, ob ich lebte oder nicht. Ich wollte nur, dass diese ganze Anspannung aufhörte. Ich wollte nur noch meine Ruhe und vor allem meinen Frieden haben. Ich wollte nur, dass das Monster, das schon wieder in mir tobte und dem ganzen Stress, den ich seit einigen Tagen hatte, aufhörte. Ich holte tief Luft, nickte.

"Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll", flüsterte ich kaum hörbar.

"Am Anfang, Kahlyn. Fange da an, wo du denkst. Beim Ersten, an das du dich erinnerst oder von dem, was du erzählt bekommen hast", schlug mir Runge vor.

Wieder rieb ich mir den Nacken und holte so tief ich konnte Luft. Es war egal, vielleicht war es das Beste, einiges zu erzählen. Ein kleines bisschen. Wenn die schon bei solchen Sachen ausrasteten, würde ich nur das weniger Schlimme erzählen. Über die ganz schlimmen Sachen, würde ich einfach schweigen.

 

Ich nahm die Füße auf den Boden und stützte die Ellenbogen darauf, legte meinen Kopf auf die Hände und blieb noch einen Moment so sitzen. Ganz leise, begann ich zu erzählen, in dem ich zu meinen Füßen sprach.

"Doko Jacob hat mir erzählt, dass wir in Geräten gezüchtet wurden. Die man Inkubatoren nennt. Wir wurden aus dem besten Genmaterial zusammengebaut, das es gab. Man veränderte unsere genetischen Bausteine, um uns widerstandsfähiger und besser zu machen. Deshalb ist bei uns vieles anders, als bei Euch. Man machte, dass wir besser hören, besser sehen, besser riechen, schneller laufen, höher springen können. Wir sind belastbarer, erfrieren nicht so schnell, können länger ohne Sauerstoff auskommen, auch Hitze macht uns nicht so viel aus. Wir verhungern nicht so schnell und verdursten erst nach drei bis vier Wochen. Brauchen weniger Schlaf, halten mehr Schmerzen aus, da unsere Schmerzgrenze wesentlich höher liegt. Unsere Reflexe sind viel schneller. Wir sind intelligenter. Hat man uns gesagt", verlegen schielte ich zu den anderen. "Ich weiß nicht ob das stimmt? Aber mit den anderen Sachen, das stimmt schon. Auch sind wir schneller gewachsen als andere Kinder, erklärte mir Doko Jacob einmal. Normal dauert es wohl achtzehn Jahre bis man ausgewachsen ist. Bei uns dauerte das nur sechs Monate", ich überlegte, wie ich weiter berichten sollte. Es war so viel, ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. "Das erste, an was ich mich erinnere, war Kälte. Ich fragte Doko mal, warum das so war? Er meinte, man hatte uns im Winter nackt in den Schnee gelegt und ins Wasser geworfen, da waren wir erst ein paar Tage alt. Mit zwei Monaten kamen wir in die Schule. Ich weiß, dass wir dort streng ran genommen wurde. Damit wir den Lehrplan schafften. Nach sechs Monaten hatte ich meine Schule beendet und fing an mit dem Studium der Militär Strategien, parallel machte ich ein Medizinstudium und gleichzeitig hatten wir Einsätze. Noch nicht so viel wie jetzt, aber es waren schon einige. Wir waren mit unserer groben Ausbildung fertig, da waren wir fünf Jahre alt. Bis Ende vorigen Jahres, bekamen wir allerdings noch Ergänzungskurse und Spezialausbildungen, immer zwischen die Einsätze, wenn wir einmal ein bisschen Luft hatten. Wir bekamen während der ersten drei Jahre, unsere Grundausbildung im Nahkampf, Waffenkunde, Sprengstoffkunde, darauf baute sich alles auf. Es gab kaum einen Tag an denen wir kein Training hatten oder Kampfübungen absolvierten. Schlaf bekamen wir dreimal am Tag, eine Stunde. Waren wir nicht gut in irgendwas, wurde das so lange trainiert, bis wir das alles gleichstark schafften. Uns wurde dann der Schlaf gestrichen, also strengten wir uns an. Wir durften nie miteinander reden. Ich glaube ich war ein reichliche Woche alt, als ich das erste Mal bewusst, die Stimmen der anderen hörte. Nein das stimmt nicht ganz, ich glaube die haben ich schon im Inkubator gehört, aber nicht so bewusst wahrgenommen. Von diesem Tag an halfen wir uns immer gegenseitig, innerhalb der Verbindung, mit Tipps. Wir konnten lachen und weinen, ohne das die Betreuer oder Lehrer, das je mitbekamen. So konnten wir uns auch immer warnen, wenn einer bestraft werden sollte. Es war immer besser, wenn man wusste, was auf einen zu kam. Dann war die Strafe nicht so schlimm, man konnte sich darauf einstellen", ich zuckte mit dem Schultern, weil ich nicht weiter wusste.

Es hatte sich noch nie jemand für uns interessiert. Warum gerade jetzt? Schoss es mir durch den Kopf. Ich wollte nicht über die Bestrafungen reden, deshalb würde ich versuchen dieses Thema zu meiden. Aber mir war auch klar, jetzt wo ich angefangen hatte, würde ich nicht darum herum kommen, auch das zu erzählen. Verlegen spielte ich mit meinen Fingern. Eine Übung die ich manchmal automatisch machte. Sie war gut für die Fingerfertigkeit, die man für das Werfen der Shuriken brauchte, sie hielt die Finger gelenkig. Ich wusste nicht weiter, zog meine Füße auf den Stuhl. Schlang meine Arme um meine Beine und hielt mich so selber fest.

Runge merkte, dass ich nicht weiter wusste. "Kahlyn, wo wurdet ihr eingesetzt und wie lange, wann hattet ihr Frei?"

Die ersten beiden Fragen konnte ich beantworten, aber die dritte, damit wusste ich nichts anzufangen. "Eingesetzt wurden wir immer da, wo wir gebraucht wurden. Dort, wo es gerade richtig schlimm brannte. Viele nannten uns das Todeskommando oder die Todesengel. Weil wir nur Aufträge bekamen, wo von vornherein feststand, dass wir da nicht heil herauskommen würden. Oberstleutnant Mayer kam und warf uns manchmal einen Ordner hin, sagte uns in so und so viel Stunden, würde der Einsatz beginnen. Wir arbeiteten dann gemeinsam, damit es schneller geht, den Ordner durch. Besprachen, wie wir vorgehen würden. Dann wurden wir abgeholt. Es dauerte so lang, wie es dauert. Das war unterschiedlich, mal zwei Stunden, mal zwei Tage mal zwei Wochen mal zwei Monate. Je nachdem, was es war und wie schwierig der Einsatz war. Ich weiß nicht, was sie mit frei meinen Sir. Wo wir eingesetzt wurden, war unterschiedlich. Mal im Inland, mal im Ausland. Wir wussten oft nicht im vorn herein, wo es hin ging, oft haben wir die Ordner erst im Transporter bekommen oder sogar erst vor Ort. Wir hatten stets, die gesamte Ausrüstung dabei. Unsere Antonow war mit allem ausgestattet, was wir eventuell brauchen konnten", wieder schwieg ich.

Entsetzt sah mich Runge an. "Ihr müsst doch mal Urlaub gehabt haben oder Zeit zum ausspannen. Was habt ihr gemacht, wenn ihr mal nicht gekämpft habt?"

Wiederum verstand ich nicht, von was Runge sprach. "Wir haben immer gekämpft, solange ich denken kann. Hatten wir mal keinen Auftrag, haben wir die Zeit genutzt, um zu schlafen oder haben unser Toden beerdigt und betrauert. Oder wir waren zu Lehrgängen wegen unserer Ausbildung oder zu Untersuchungen im Institut. Oft war die Zeit zwischen den Aufträgen, so kurz, dass wir nicht mal dazu Zeit hatten. Also gewöhnten wir uns an, im Transporter sofort zu schlafen. So wie, vor dem Einsatz gestern, als du mich geschlagen hast", ich schaute John an.

Runge sah erschrocken, zu John. "Du hast Kahlyn geschlagen?"

John lachte verlegen. "Ja, das habe ich Jo. Aber nicht so wie du jetzt denkst. Kahlyn stieg in den Bus ein, setzte sich hin und reagierte nicht mehr. Ich dachte sie ist ohnmächtig. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie schläft", entschuldigte er sich verlegen.

"Wir haben gelernt sehr tief zu schlafen. Also sofort in die Tiefschlafphase, ein zu tauchen. Wir hatten nie viel Zeit dazu", erklärte ich den Dreien.

Runge sah mich an. "Wie lief die Einsatzbesprechung bei Euch?"

"So etwas gab es bei uns nie, Sir. Es wurde immer davon ausgegangen, dass wir das schon irgendwie hinbekommen. Wenn nicht, war es nicht weiter tragisch, wir sind verzichtbar. Nur, wenn andere Einheiten mit am Einsatz teilnehmen mussten, weil wir zu wenige waren, dann fand eine Einsatzbesprechung statt. Aber auch erst in den letzten zwei Jahren, davor waren wir genug Leute. Erst nach dem schlimmen Einsatz in Chile, in dem neunzehn von uns umkamen, war es notwendig andere Teams dazu zu nehmen, um die Zahl der Toten geringer zu halten. Geschafft hätten wir die Einsätze auch ohne die Anderen, aber dann nur in dem wir das Gesetz freigegeben hätten. Das bedeutet, dass es dann ein Kampf auf Leben und Tod war. Aber meine Leute sind fast alle nach dem Einsatz gestorben, weil ich sie dann nicht mehr beschützen konnte. Auch, weil sie nicht mehr leben wollten oder zu tote gefoltert wurden", nur mühsam unterdrückte ich meine ansteigende Wut und begann wieder zu schaukeln.

"Seit wann, hast du die Gruppe angeführt. Seit wann, warst du Teamleiter?"

Ich überlegte kurz, war mir da allerding nicht ganz sicher. "Ich weiß nicht mehr genau. Ich glaube schon immer. Der Oberstleutnant hat mich irgendwann dazu bestimmt, ich glaube vor fünf Jahren. Er meinte, dann könnte er mich wenigstens immer dafür bestrafen, wenn etwas schief läuft. Je mehr Verletzte, umso schlimmer die Bestrafung. Sie müssen wissen, ich bin mit Abstand die Kleinste im Team. Die anderen Kämpfer meines Teams, sind alle über hundertfünfundneunzig Zentimeter groß. Er hatte mich immer auf dem Kicker. Egal was ich machte, es war nie gut genug. Ich fiel immer auf, weil ich die Kleinste war. Aber es zwang mich auch dazu, immer besser zu sein, als die anderen. Mit der Weile wurde es so, dass die anderen mich respektierten. Es hatte nichts zu sagen, dass der Oberstleutnant mich zum Teamchef machte. Ich war das schon vorher, weil die Gruppe es so wollte."

Runge sah immer noch fragend zu mir, deshalb setzte ich nach.

"Sir, ich erfasse Gefahrensituationen schnell und kann sehr schnell darauf reagieren, gerade in Krisensituationen, ist das von Vorteil. Die Gruppe hat mir immer vertraut, auch weil ich mich, obwohl ich die Kleinste war, schützend vor die anderen stellte. Ich hielt halt mehr aus, als die anderen und konnte auch, nach Wutausbrüchen des Oberstleutnants, noch aufrecht stehen und kämpfen. Ich hätte ihm nie die Genugtuung gegeben mich zu besiegen, niemals. Was bei meinen anderen Kämpfern nicht immer der Fall war. Auch war ich am Anfang immer die Einzige, die den Oberstleutnant die Stirn bot. Vor allem, wenn es darum ging, das Aufträge nicht ausführbar waren. So war der Verlust, den wir erlitten nicht so hoch. Obwohl trotzdem viele von uns, in aussichtslosen Kämpfen, oder danach starben. Weil wir erst zum Rapport mussten, bevor wir uns versorgen durften", setzte ich traurig nach. "Wir haben zwar eine höhere Schmerzgrenze als ihr, aber wir spüren trotzdem Schmerzen. Ich hab immer versucht, das Verletzungsrisiko der anderen so gering, wie möglich zu halten."

"Wie viele Kinder seid ihr gewesen?", wollte Runge jetzt wissen.

Ich überlegte, versuchte mich dabei zu beruhigen. "Doko Jacob sagte, es gab am Anfang hundert Kinder. Aber ich glaube es waren siebzehn, die gleich nach der Geburt getötet wurden. Weil sie krank, anormal waren oder nicht in dieser komischen Norm lagen. Ich war das achtzehnte Kind, was nicht in der Norm lag. Doko Jacob sagte mir immer, er wollte mich retten. Er wollte nicht zu lassen, dass ich getötet wurde. Manchmal denke ich, er hätte besser daran getan, mich gleich zu töten. Manchmal habe ich dieses Leben so satt."

Ein Stöhnen, ging wie ein Aufschrei, durch den Raum. Erschrocken, sahen mich die drei an.

"Wie kannst du so etwas sagen, Kahlyn. Du bist erst sechszehn Jahre alt, Kind", Runge war entsetzt.

"Es ist aber so. Wissen sie Sir, wie viele Menschen ich schon töten musste? Wie viele Menschen ich schon sterben sah? Ich bin seit dreizehn Jahren im Kampf, das ist eine verdammt lange Zeit. Da kommen einen schon manchmal solche Gedanken, Sir. Aber dann ...", ich sah Runge fest an. "... dann kommt so ein Tag wie gestern, mit der Kleinen. Die ist fast so alt wie ich, als sie mich in den Arm nahm und sich bei mir bedankte. Da dachte ich, gut dass es dich gibt. Bei einem anderen Team, wärst du bestimmt tot gewesen. Aber manche Tag, bin ich einfach nur müde, möchte einfach nur schlafen und nicht mehr aufwachen."

Entsetzen stand in den Gesichtern, dieser harten Männer, da saß ein Kind von sechzehn Jahren und sprach vom Sterben. Als wenn es die normalste Sache war. Das war einfach unbegreiflich.

"Keine Angst Sir, wir tun uns das eigentlich nicht an, das können wir nicht. Nur wenn die Zeit gekommen ist, dann ja. Es gab eine Zeit, da haben wir als Gruppe überlegt, das ist jetzt zwei oder vielleicht drei Jahre her, uns etwas an zu tun. Ich hatte durch Zufall etwas Schlimmes erfahren. Das war die Zeit, als es darum ging, dass unsere Schule geschlossen wird. Aber wir können es nicht. Doko Jacob, mit dem ich über vieles reden konnte, erklärte mir. Dass man irgendetwas, mit unseren Genen gemacht hat. So dass dadurch unser Lebenswille übergroß ist. Dass wir egal, was man mit uns macht, wir immer nach Hause kommen. Wir können uns nicht selber verletzen, das ist unmöglich, wir haben es versucht. Es geht nicht. Erst, wenn alles Blut, aus unseren Körper ist und wir das Bewusstsein verlieren, erst dann können wir sterben. Trotzdem sind viele von uns verblutet, als sie auf den Rapport warteten. Manchmal, habe ich einfach mit der Behandlung eher angefangen, aber dann schlug der Oberstleutnant, extra auf die Wunden und die Freunde starben trotzdem. Ich konnte es nicht verhindern."

John sprang auf und lief auf den wenigen Platz der noch vorhanden war, wie ein eingesperrtes Tier hin und her. "Das ist unglaublich, ich kann das nicht fassen dieses Schwein. Dieses verdammte Schwein."

"Beruhige dich John, sonst gehst du raus bitte", befahl Sender ihm. John setzte sich wieder hin.

"Wie viel seid ihr noch Kahlyn?", fragte mich Runge, mit einem Blick, der Angst vor der Antwort ausdrückte.

"Jetzt sind wir noch 9, mit mir. Beim vorletzten Einsatz starb Rina. Sie stürzte ab, als sie sich über einen Hängebrücke retten wollte. Sie stürzte fünfunddreißig Meter in die Tiefe. Als wir sie fanden, hatte sie zu viel Blut verloren. Ich hab sie ja gleich versorgen wollen, sie wollte es nicht. Nach viel gutem Zureden, konnte ich sie notversorgen. Dann, schützte sie sich nicht, gegen die Bestrafung, die sie beim Rapport bekam. Ich denke sie wusste, dass wenn sie das nicht tat, dann kann ich nichts mehr für sie tun. Sie wollte sterben, es war oft so. Als ich sie dann richtig versorgen konnte, stellte ich fest, dass der Riss in der Lunge wieder aufgerissen war und sie einfach zu viel Blut in die Lunge eingeatmet hatte. Ich versuchte sie zu retten, aber es war zu spät", wieder sah ich zu meinen Händen, ich schämte mich meiner Unfähigkeit, Rina zu retten, kämpfte gegen die Tränen der Wut. "Oberstleutnant Mayer machte mich für ihren Tod verantwortlich, Rina war sein Liebling. Ich hätte sie so gern gerettet, aber es war zu spät."

Ich schluckte, ich mochte Rina, fast genauso sehr wie Rashida. Aber ich hatte die anderen auch alle gemocht.

"Kahlyn, das, was vor drei Tagen hier passiert ist, als dich Oberstleutnant Mayer geschlagen hat. War das eine Ausnahme?"

Ich schaute lange in das Gesicht des Polizeirates. Überlegte hin und her, was ich darauf sagen sollte. Ich ahnte, die nächste Frage, die danach kommen würde, die war, die ich nicht beantworten wollte. Ich musste dann einfach zu viel offenlegen. Doch ich hatte jetzt angefangen, so musste ich jetzt weiter machen, es gab kein Zurück mehr. Runge sah mich ernst an.

"Kahlyn, es ist wichtig, dass ich eine Antwort auf diese Frage bekomme, sehr wichtig."

Ich schluckte bitter. "Was ist, wenn ich darauf nicht antworte, Sir. Bestrafen sie mich dann auch? Denken sie, damit können sie mir Angst machen, Sir. Ich hab keine Angst vor Bestrafungen, Sir."

Runge stöhnte auf. "Kleene, hier wird niemand bestraft. Wenn du nicht darauf antworten willst, dann muss ich das akzeptieren. Nur Kleene überlege dir bitte eins. Wenn der Oberstleutnant wieder auf freien Fuß kommt, dann besteht die Gefahr, dass er hier wieder auftaucht und dich schlägt."

Ich zuckte mit den Schultern. "Das ist mir egal, Sir. Ich kenne seine Wutausbrüche, Sir. Die haben mir noch nie sehr weh getan, Sir. Wenn er mich tötet, ist es auch nicht schlimm, Sir. Ich bin verzichtbar, Sir. Dann habe ich es endlich hinter mir", versuchte ich das Ganze herunter zuspielen.

"Dir machen die Schläge, vielleicht nichts aus. Aber schau, er hat nicht nur dich verletzt, sondern Rudi auch. Außerdem Kleene, bist du nicht verzichtbar. Kein Mensch sollte verzichtbar sein. Schau mich an. Obwohl ich hier keinen Dienst mehr machen kann, werde ich dennoch gebraucht. Wir brauchen dich."

Ich sah den Polizeirat an. Wieso war ich nicht verzichtbar? Wieso brauchten sie mich?

"Ich verstehe sie nicht Sir. Bis jetzt hat mir noch keiner gesagt, dass er mich braucht, Sir. Ich verstehe auch nicht, wieso hier nie jemand bestraft wird, Sir. Wie hält man da Disziplin? Außer dem brauchen sie nicht mich, sondern nur meine Fähigkeiten", antwortete ich mit einer Gegenfrage und provozierte den Polizeirat, um von der eigentlichen Frage abzulenken.

"Kahlyn, du bist eine Bereicherung für das Team. Dass, was mir Rudi vom gestrigen Einsatz erzählt hat, ist einfach spitze. Keiner hätte den Einsatz so souverän führen können. Ob wir die Geisel, lebend dort raus bekommen hätten, kann ich dir auch nicht sagen. Du hast Recht mit deiner Erklärung heute früh. Der Moment des Zugriffs, ist das größte Risiko für die Geiseln. Wir möchten auch, wenn du jung bist, von deinen Erfahrungen lernen. Überleg bitte einmal. Du hast dreizehn Jahre Kampferfahrung. Das hat hier kaum einer. Vielleicht Rudi, nicht mal John, der ist erst seit sieben Jahren dabei. Disziplin meine Kleene, kann man auch mit Vernunft erreichen. Dazu muss man nicht jemanden bestrafen. Klar gibt es manche, die es erst später kapieren. Raphael ist so einer. Der agiert ständig bevor er denkt, deshalb bekommt er so manchen Tadel. Aber geschlagen wird er nicht. Aber kannst du mir nicht trotzdem meine Frage beantworten? Stell dir mal, vor Mayer züchtet wieder Kinder, wie euch. Dann müssen die das Gleiche durch machen wie ihr."

Das wollte ich nicht, niemand sollte wieder so leben. Trotzdem hatte ich an der Antwort, zu schlucken.

"Nein Sir, es war keine Ausnahme. Es war immer so. Aber dass, was er vor drei Tagen gemacht hat, war nicht wirklich schlimm."

Mehr sagte ich nicht. Alle Drei stöhnten auf.

"Nicht schlimm", rief John mit Entsetzen im Gesicht. "Nicht schlimm? Kahlyn, der Mann hat dir sechs Rippen gebrochen, drei ragten davon aus deinem Körper."

Ich schüttelte energisch den Kopf. Denn es stimmt nicht, was John sagte. "Nein John, die Rippen habe ich mir selber gebrochen. Weil ich unaufmerksam war. Ich hatte mich ablenken lassen."

Runge raufte sich die Haar und Sender ebenfalls.

"Kahlyn, der Mann schlägt zu, wie mit einem Vorschlaghammer. Der Schlag, der dich als letztes traf, war mit so viel Wut ausgeführt, dass er ein Loch in die Wand geschlagen hätte", erklärte mir Sender.

Wieder schüttelte ich den Kopf. "Der Schlag war völlig normal. Er hat schlimmere Bestrafungen, glauben sie mir Sir."

Ließ ich eine unvorsichtige Bemerkung fallen. Alles kam in mir hoch. Ich hatte sie alle abbekommen, alle Strafen die sich der Oberstleutnant nur ausdenken konnte. Alle probierte er an mir aus und ich hatte sie überlebt.

"Wie noch schlimmere Bestrafungen?", platzte nun auch Runge die Geduld, der sich bis jetzt zurückgehalten hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es schlimmeres gab.

"Ist doch egal", sagte ich einfach.

"Nein Kahlyn, ist es nicht, verdammt nochmal. Es ist nicht egal", fuhr er mich an.

Ich sprang auf. Die kalte Wut kam in mir hoch. Ich wollte darüber nicht sprechen. Aber ich war selber schuld. Ich hatte selber mit diesem verfluchten Thema angefangen. Ich fuhr mit meinen Händen über den Kopf in den Nacken und behielt die Arme oben. Einfach damit ich besser Luft bekam. Der blanke Hass holte mich ein und eine Mordswut, die sich niemand vorstellen konnte. Die so heftig war, wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. Rashida konnte mich dann immer beruhigen. Jetzt und in diesem Büro, war ich alleine auf mich gestellt. Ich musste mich unbedingt beruhigen. Wenn ich die Wut zuließ, stellte ich eine Gefahr für alle dar. Auch für die Menschen die mich nicht kannten. Ich war hier mitten in einer Stadt. Wenn ich hier einen Gino los ließ und diesen nicht kontrollieren konnte, gäbe es eine Welle der Verwüstung. Dass konnte ich nicht zulassen. Ich musste meine Wut in den Griff bekommen. Wenigstens soweit, dass ich den Gino kontrollieren konnte. Mit meinen Schmerzen konnte ich leben.

Einige Minuten lief ich hin und her. Es gelang mir nur teilweise den Hass zu besiegen. Trotzdem begann ich zu Knurren, das war kein gutes Zeichen. Es dauerte fast zehn Minuten, bis ich die Wut des Gino unter Kontrolle bekam und das Knurren aufhörte. Nur der Hass blieb in mir, den konnte ich nicht mehr besiegen. Diesen verdammten Hass in mir bekam ich nicht mehr in den Griff. Im Gegenteil, mit jedem Schritt, wurde es schlimmer. Der Hass brannte in mir und drohte mich innerlich zu verbrennen. Ich hatte das Verlangen etwas zu zerschlagen oder jemanden zu töten. Ich musste mich unbedingt beruhigen. Sonst würde ich Dinge tun, die ich hinterher bereuen würde.

Diese verdammten Schmerzen brachten mich noch um. Ich ging in die Ecke hinter das Sofa und ließ mich einfach an der Wand herunterrutschen und fing wieder an zu knurren und zu wimmern. Ich konnte nichts dagegen tun. Zuhause in meiner Schule, hätte ich den Hass aus mir herausgebrüllt. Aber hier konnte ich es nicht tun. Keiner würde verstehen, warum ich anfing zu schreien. Ich versuchte es so gut es halt ging zu unterdrücken. Aber ganz gelang es mir diesmal nicht. Ich brauchte ein paar Minuten Zeit, um wieder zu mir zurück finden. John stand auf und wollte zu mir kommen. Bitte nicht flehte ich, lass mich in Ruhe. Zum Glück hielten ihn, Sender und Runge zurück und sagten zeitgleich.

"Hinsetzen, lass sie."

Sie reagierten wahrscheinlich instinktiv und taten genau das Richtige. Aber es war gut, dass sie John zurück gehalten hatten. Hätte er mich berührt, hätte ich ihn wahrscheinlich schwer verletzt oder sogar getötet. Höchstwahrscheinlich wäre es dann zu einer Katastrophe gekommen. Ich konnte mich nicht mehr richtig kontrollieren. Schwer atmend und schweißnass saß ich an der Wand und kämpfte gegen mich selbst und den Gino in mir. Ich musste mich wieder im Griff bekommen. Die beiden Offiziere konnten nicht wissen, was mit mir los war und vor allem nicht, in welcher Gefahr sie in diesem Moment schwebten. Sie ahnten höchstens, dass ich ein bisschen Zeit braucht. Dachten ich brauchte Mut, um über all diese Dinge zu sprechen. Das war aber nicht richtig so. Ich brauchte die Zeit, um die Kontrolle über meinen Gino wieder zu erlangen, damit ich nicht ausversehen jemanden verletzte. Es war gut, dass sie John zurück pfiffen. Denn in diesem Zustand war ich mehr als gefährlich. Dieser verdammte Hass hatte mich schon einmal dazu gebracht, fast zwanzig Menschen zu töten. Ich war heute allein, keiner würde mir helfen die Menschen hier zu retten.

Damals hatten mich die Wachleute aus dem Projekt so in die Ecke getrieben und waren mit Flammenwerfern auf mich los gegangen, dass ich innerhalb von nur wenigen Sekunden, fast getötet hätte. Seit diesem Tag, hatte ich Angst, dass so etwas noch einmal passieren könnte. Allerdings konnte ich es heute wesentlich besser steuern. Trotzdem war ich immer noch nicht in der Lage, auch nach all den Jahren nicht, meine Emotionen zu kontrollieren. Vor allem dann nicht, wenn es um den Hass ging, den ich auf Mayer hatte.

Alles kam mit einem Mal hoch, die ganzen Erinnerungen, der ganze Hass auf den Oberstleutnant. Wie oft hatte ich mir geschworen, das ich ihn töten würden, wenn ich einmal die Gelegenheit dazu bekäme. Wie oft hatte ich es nicht getan, weil ich es nicht konnte. Wie oft im Nahkampftraining, hätte ich es tun können. Die Erinnerungen, die ich sonst immer so gut verdrängen konnte, holten mich mit einem Schlag ein. Ich umschlang meine Knie mit den Armen und fing an zu schaukeln. Einfach um diesen ungeheuren Druck abzubauen. "Täubchen, beruhige dich." Hörte ich in Gedanken meine Rashida sagen. "Du steigerst dich in deinen Hass. Denke an die Schmerzen, die du dann wieder haben wirst." Ich hatte das Gefühl, ihren Arm um meine Schultern zu spüren. Ich wusste nicht mehr, was ich machen soll. Mein Kopf und mein Körper brannten, es tat so höllisch weh. Würde ich mich besser fühlen, wenn ich darüber sprach? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Was würde danach passieren? Ich wusste es nicht. Langsam legte ich meinen Kopf auf die Knie und fing auf meine Art an zu weinen. So wie ich es immer getan hatte, wenn er mich zu hart bestraft hatte oder ich verzweifelt war. Damals, war es nicht so schlimm, Rashida war da und nahm mich in den Arm. Meine Schultern zuckten, auch wenn kein Ton, über meine Lippen kam. Ein guter Beobachter konnte trotzdem sehen, was mit mir los war. John war so ein guter Beobachter.

John stand auf. Als seine Vorgesetzten es ihm verbieten wollten und ihm sagten, dass er sich wieder hinsetzen sollte, winkte er ab. Er kam einfach zu mir und nahm mich in den Arm. Genauso, wie es Rashida immer getan hatte. John zog mich zu sich und hielt mich fest. Es war auf einmal gar nicht so schlimm, dass er mich berührte. John war etwas Besonderes, irgendwie hatte er hier die Stelle von Rashida eingenommen. Seine Ruhe tat mir gut, sie half mir zurückzufinden. Wieder ganz ich selbst zu werden. Das tat so verdammt gut, festgehalten zu werden. Ich war nicht mehr alleine. Jemand gab mir Ruhe und verhinderte so, dass ich ins bodenlose fiel. Leise nur für mich bestimmt, sagte er.

"Wein ruhig Kleines. Tränen sind nichts Schlimmes."

Ich hob den Kopf und sah ihn fest an, auch wenn ich ihn damit verletzte. Ich würde nicht zugeben, dass ich geweint hatte. So groß war mein Vertrauen zu ihm nun doch nicht. Ich gab noch nicht alles von mir preis.

"Ich weine nicht", beteuerte ich leise. Ich wollte einfach nicht, dass er das dachte, auch wenn es stimmt. "Warum soll ich darüber reden? Es wird doch nicht besser davon", sprach ich jetzt.

In einem eisigkalten Ton, den John nicht verstehen konnte. Allerdings konnte ich nicht anders sprechen. Diesen Ton benutzte ich immer, wenn der Oberstleutnant mich etwas fragte. Ich gefühlsmäßig aufgebracht war. Gefühle bei diesem Menschen zu zeigen war tödlich.

John sah mich entgeistert an. Er begriff nicht, was mit mir los war. Hatte er doch gerade gedacht, dass ich seine Hilfe brauchte. Nun tat ich so, als wenn nichts wäre. Wir hatten über die Jahre gelernt, stets unsere Gefühle zu verbergen. Sah es doch einmal so aus, als ob wir welche hätten, dann überspielten wir das meistens. Wir waren sehr gute Schauspieler geworden, dachte ich so bei mir.

"Kahlyn, es soll doch aufhören oder?"

Ich zuckte mit den Schultern, immer noch schaukelnd. "Kann es aufhören?", wollte ich stattdessen wissen.

Mit Eis in der Stimme. John nickte, er hatte mich so kam es mir vor, durchschaut. Lange sah er mich an. ‚Ich glaube du spielst mir etwa vor‘ schoss es ihm durch den Kopf ‚du bist nicht so ruhig, wie du tust.

"Mäuschen, es kann nur aufhören, wenn du es beendest. Erzähle Jo, was er gemacht hat. Dann kommt Mayer dorthin, wo er euch nicht mehr verletzen kann. Verstehst du."

Ich nickte, doch dann schüttelte ich den Kopf. "Mayer könnt ihr nicht besiegen, der kommt mit allem durch, was er macht. Keiner schafft das. Auch ihr nicht. Er hat immer gesagt, dass niemand uns je glauben wird. Er sollte, schon so oft bestraft werden. Doch niemals hatte es einer geschafft. Egal wie viele, er von uns getötet hat. Er bekam nie eine Strafe. Sondern er kam immer wieder zurück. Danach wurde es noch schlimmer und wir litten noch mehr. Er sagte, er wäre nicht zu ersetzen. Auch ihr werdet ihn nicht besiegen. Er hat viel zu starke Freunde. Ihr werdet es auch nicht schaffen, dass ihr gegen ihn ankommt. Zum Schluss wird er euch noch bestrafen, nur weil ich gesprochen habe. Es ist sinnlos wenn ich euch etwas erzähle. Euch würde man genauso wenig glauben, wie Doko Jacob, den Mitarbeitern der "Projektes Dalinow" und uns", sagte ich mit fester Stimme.

"Wir glauben dir Kahlyn. Jeder der diesen Mayer vor drei Tagen erlebt hat, glaubt dir alles, was du über ihn erzählst. Er kann nicht alle täuschen."

Ich starrte auf meine Hände. Wie oft hatten diese Hände schon die Möglichkeit diesen Menschen zu töten und nie haben sie es gemacht. Wir töten niemanden der schwächer ist als wir, sagte ich mir selber. Nur deshalb lebt er heute noch. Meine Hände zitterten genauso wie ich. Mein Kopf fühlte sich an, als wenn er gleich platzen würde. Auf einmal war mir so verdammt kalt.

"Komm steh auf Mäuschen, komm."

John hielt mir die Hand hin. Konnte ich sie ausschlagen? John hatte mir die ganze Zeit geholfen und sich sogar mit Mayer angelegt. Ich ergriff seine Hand. Ich hatte mich wieder etwas beruhigt und wieder unter Kontrolle. John war für mich so etwas wie ein Rettungsanker. Würde ich seine Hand jetzt ausschlagen, würde ich ins Bodenlose fallen. Deshalb nahm ich sie an.

"Komm", bat er mich noch einmal und stand auf.

Ich umklammerte seine Hand und er zog mich auf die Füße. Zusammen gingen wir auf unsere Plätze. John jedoch zog seinen Stuhl an meinen und legte mir den Arm um die Schultern. Das tat so gut. Ich hatte das Gefühl, dass er mich beschützten würde, egal wie tief ich fallen würde. Ich schielte zu ihm hin und er nickte mir zu. Es war egal. Ich würde jetzt alles erzählen. Vielleicht ginge es mir danach besser. Ich wollte nur noch, dass es aufhört. Ich wollte es nur beenden.

"Diese Schläge…", begann ich zögernd. "… bekamen wir mehrmals am Tag ab. Immer, wenn er uns irgendwie, erwischen konnte. Nur, wenn wir im Einsatz waren, blieben sie aus. Es war normal, mal heftig, wie der vor drei Tagen, mal zärtlich. Schlimm war es nur, wenn wir verletzt waren. Er wusste immer genau, wo unsere Verletzungen waren. Er schlug immer genau darauf, so dass sie immer wieder aufplatzen. Er wusste, dass die Schmerzen, dann heftiger waren. Das hat er auch vor drei Tagen gemacht. Ich hatte mir eine tiefe Stichwunde zugezogen, bei einem Kampf gegen Widerstandskämpfer oder Rebellen. Ich weiß nicht wie ich die Leute nennen soll. Es passierte am letzten Tag, unseres Einsatzes in Polen. Wir waren am Ende unserer Kraft, hatten wir die ganzen sechs Tage nicht geschlafen. Hatten weder etwas gegessen, noch getrunken."

Ich zog die Füße auf den Stuhl und legte die Arme um die Knie. Ich konnte mich nicht mehr richtig konzentrieren.

"Davor, waren wir bei einem langen Einsatz und wurden anschließend bestraft, gerade, dass wir uns nach der Bestrafung, duschen und etwas schlafen konnten, schon ging es weiter nach Polen."

Erzählte ich wirr durcheinander. Ich bekam einfach meine Gedanken, nicht mehr sortiert. Mein Kopf schmerzte schlimm, mir war so furchtbar kalt.

"Aber so war es immer. Beim Einsatz davor, war Rina gestorben. Das hatte er uns und vor allem mir übel genommen. Danach musste die ganze Truppe, drei Tage in der Sonne hängen. An einer Mauer im Hof der Schule. Die wird fast den ganzen Tag von der Sonne angestrahlt. Unsere Brillen wurden uns wie immer weggenommen."

Irgendwie bekam ich die Reihenfolge nicht mehr hin, ging es mir durch den Kopf. Knackte ein paarmal mit dem Genick, um mich wieder konzentrieren zu können, aber es half nicht wirklich. Beruhige dich, sagte ich zu mir. Allerdings sprang ich hin und her mit meinen Gedanken und versuchte den roten Faden wieder zu finden. Es gelang mir nicht mehr.

"Dieser Einsatz dauerte fast drei Monate. Wir waren in einer Kubanischen Provinz Granma, das liegt im Südwesten der Republik Kuba, dort gab es Unruhen. Wegen irgendwelchen Streitigkeiten, um Verwaltungsbezirke. Was genau das war, weiß ich nicht mehr, wir sollten dort nur, drei von der Regierungsbehörde Beauftragte befreien, um wieder eine ausgeglichenen Verhandlungsbasis zu schaffen. Damit beide Seiten die gleichen Ausgangspositionen hatten. Die Aufklärung, hatte uns aber falschen Informationen gegeben. Dadurch zog sich das alles in die Länge. Danach starb, wie gesagt Rina. Wir hatten nur einmal, in dem Einsatz, etwas zu essen bekommen und nur Minutenweise geschlafen. Wir waren fertig und brauchten etwas Ruhe. Aber stattdessen, wurden wir wieder bestraft."

Die Wut stieg in mir hoch, mein Atem begann zu rasseln und ich hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Trotzdem war mir extrem kalt. Ich konnte aber nichts dagegen tun.

"Manchmal, wenn er der Meinung war, dass wir etwas falsch gemacht hatten. Wurden wir im Hof vor seinem Bürofenster, an eine Art Gestell gehängt und ausgepeitscht. Im Anschluss nahm er dann immer Salzwasser und goss es über unsere Wunden. Das ging dann über Tage. Immer nahm er uns, aber als erstes die Brillen weg. Aber das war immer noch besser als die Lichtbox."

Egal was ich versuchte, ich bekam einfach den roten Faden nicht mehr zu fassen. Zusammenhangslos, hüpfte ich mal hier und mal dahin. Erzählte das, was mir in diesem Augenblick gerade einfiel, verlor aber unterwegs den Faden und sprang zu einer anderen Erinnerung. Meine Gedanken waren alle durcheinander gerade und mein Körper spielte völlig verrückt. Mir war kalt und heißt gleichzeitig, mir war kotz übel und ich war so unendlich müde. Vor allem brachten mich die Schmerzen fast um den Verstand. Ich erzählte einfach weiter, ohne dass ich wusste was ich tat und von mir gab.

"Wenn dann ein Einsatz kam, mussten wir trotz des offenen Rückens, daran teilnehmen. Manchmal bekamen wir wochenlang nichts zu Essen und zu trinken. Er sagte dann immer, wenn ihr keine Einsätze habt, verdient ihr kein Geld. Dann können wir eure Nahrung nicht kaufen. Oder er sperrte uns in Lichtboxen, das sind anderthalb mal anderthalb mal anderthalb Meter große Boxen. In denen kann man nicht richtig stehen oder liegen. Man kann sich nur zusammengerollt hinlegen. Die sind Lichtüberflutet, es gibt darin nirgends eine Stelle, in der kein Licht ist. Auch da nahm er uns die Brillen weg. Das sind Schmerzen, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Doko Jacob hat mir mal erklärt, dass wir im Stockdunkeln, so gut sehen können, wie ihr wenn es ganz hell ist. Die Brillen die wir tragen… " Schlotternd nahm ich meine Brille ab und kniff die Augen zusammen. Dann reichte sie mit zitternden Händen John. "Setze sie mal auf, John. Durch die hat mir Doko Jacob gesagt, könnt ihr absolut nicht durch sehen. Ich sehe alles dadurch. Aber, wenn ich sie nicht aufhabe, ist es, als wenn man versucht mir mit tausend Nadeln die Augen auszustechen oder jemand versucht mir die Augen auszubrennen. Es sind Schmerzen ohne Ende. Es hilft auch nicht die Augen zu zumachen. Die Schmerzen bleiben immer die Gleichen. Doko Jacob hatte mir erklärt, dass uns mit einem Jahr die Schutzhäute der Augen entfernt wurden. Im Auftrag des Oberstleutnants, damit wir besser sehen können."

Das Sprechen fiel mir immer schwerer. Zusammenhangslos erzählte ich weiter. Auf einmal schossen Schmerz- und Hitzewellen durch meine Körper. Mir wurde schwindlig. Ich nahm die Füße auf den Boden, um Halt zu finden. Die Schmerzen wurden immer schlimmer und unerträglicher. Es sollte aufhören, bitte es sollte nur aufhören. In Gedanken, rief ich nach Rashida. Aber da war niemand da, der mir half.

"Wir wurden unter Wasser gesperrt, bis wir fast erstickt sind. Ich weiß nicht mehr alles und ich will mich auch nicht daran erinnern. Aber egal, was er tat, er bekam uns nicht klein oder auseinander."

Ich fing an mit den Zähnen zu klappern. Ich konnte nichts mehr dagegen tun. Kämpfte gegen den immer stärker werdenden Brechreiz. Vor allem aber, gegen diesen höllischen Schmerz und gegen die Bilder, die in meinem Kopf kamen. Vorsichtig glitt ich vom Stuhl und auf meine Knie. Heraus aus Johns Arm und verlor damit auch noch meinen letzten Rettungsanker.

Ich stürzte ins Bodenlose. Ich versuchte krampfhaft, bei Bewusstsein zu bleiben. Aber die Schmerzwellen, überrannten mich einfach. Ich wollte allein sein. Wollte niemanden sehen und vor allem nicht berührt werden. An diesem Punkt angelangt, war mir alles zu viel. Ich konnte nicht mehr, zog einfach die Knie an den Körper. Es war zu spät, bei mir ging gar nicht mehr. Ich konnte einfach nicht mehr weiter erzählen. Das Monster hatte mich diesmal voll erwischt und ich konnte es nur noch mit meiner ganzen Macht bekämpfen, so wie ich es in der Schule immer tat. Die Krämpfe kamen wieder und mit den Krämpfen, kamen diese schlimmen Bilder. Ich wollte sie nicht sehen. Konnte es nicht endlich aufhören? Dieses eine Mal hatte ich mich viel zu weit herausgewagt und jetzt bekam ich meine Rechnung serviert.

"Beruhig dich Kahlyn. Hier tut dir keiner was. Bitte Mäuschen", versuchte John mich zu beruhigen.

Aber es war zu spät. Ich konnte es nach außen hin nicht mehr steuern. War schon viel zu weit weg, um noch irgendeine Kontrolle zu haben. Ich glitt hinab, ins Nirgendwo. Ich war gefangen, in meinem schlimmsten Alptraum. Als John mich anfassen wollte, schlug ich nach ihm. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Vor allem nicht mehr, was ich tat. Ich war vollkommen in meiner bodenlosen Panik gefangen. Zum Entsetzen von Runge, Sender und John, fing ich plötzlich panisch an zu schreien und erbrach mich. Blut lief aus meinen Augen, den Ohren, meinem Mund und selbst aus dem Poren meiner Haut, lief Blut. Immer wieder erbrach ich in Senders Büro, auf den Boden vor dessen Schreibtisch. Ich konnte es nicht verhindern. Erschrocken sprang Runge auf und lief aus dem Büro, um Jens zu holen.

Karpo, der wie alle anderen, meine entsetzten Schreie, im Bereitschaftsraum hörte. Kam Runge schon entgegen gerannt und in das Büro gestürmt. Der Arzt schüttelte fassungslos den Kopf, als er mich auf den Boden liegen sah.

"Verdammt nochmal, konntet ihr nicht eher aufhören Rudi", schrie er Senders wütend an.

Der saß wie festgewurzelt in seinem Stuhl, geschockt über das, was gerade in seinem Büro geschah. Er hatte schon viel erlebt in seinem Leben, aber so etwas noch nicht. Er stand völlig unter Schock, unfähig sich zu rühren. Runge stand neben dem Major, genauso fassungslos, wie alle anderen. Karpo versuchte mich zu untersuchen. Allerdings war das nicht mehr möglich. Sobald er mich berührte, schlug ich um mich. Meine Schreie wurden noch panischer. Er versuchte trotz allem Fieber, Blutdruck und Puls zu messen. Immer heftiger schlug ich um mich. Wehrte mich nach Leibeskräften und schrie mir meinen ganzen Schmerz von der Seele. Immer wieder, schrie ich die gleichen Sätze.

"Rashida, dy… Granima... Rashida, drö... Pör, kri  - Rashida, spreche mit mir… Lass los... Rashida, helfe mir… Das Monster, ich töte es."

John kniete sich hinter mich. Er tat alles um mich zu bändigen. Aber es gelang John nur mit großer Mühe. Der Sanitäter des Teams hatte Angst mich zu verletzen. Was Dr. Karpo heraus bekam, erschreckte den jungen mit mir unerfahren Arzt. Temperatur 60,2°C, Blutdruck und Puls 255/185. Alles war viel zu hoch. Im Bereich der Lebensgefahr. Das Nervenfieber, hatte mich voll erwischt. Ohne dass ich es gemerkt hatte. Es war plötzlich, ohne Vorankündigung gekommen. Oder ich hatte es einfach nicht bemerkt. Ich schrie in unserer Sprache nach meiner besten Freundin und nach Hilfe.

"Rashida, dy… Granima… Rashida, drö… Pör, kri - Rashida, spreche mit mir… Lass los... Rashida, helfe mir… Das Monster, ich töte es.", bat immer wieder, meine Freundin, um Hilfe. Sie war nicht da, sie konnte mir nicht helfen und die anderen verstanden mich nicht.

 "John, kannst du sie in den Schlafsaal bringen?", bat Karpo, den wesentlich kräftigeren Kollegen.

John nickte. Ohne auf die Schläge, die er abbekam, zu achten, nahm er mich hoch. Ich wandte mich vor Schmerzen in seinen Armen und John hatte Mühe mich nicht fallen zu lassen. Trotzdem trug er mich, obwohl ich immer noch wie am Spieß schrie, in den Schlafsaal. Dort legte er mich auf mein Bett. Ich kroch, kaum dass er mich losließ, in die äußerste Ecke, rollte mich zusammen, schrie immer wieder nach meiner Rashida.

"Rashida, drö. - Rashida, helfe mir."

Mein gesamter Körper krampfte. Karpo sagte etwas zu mir, aber ich verstand ihn nicht mehr. Ich war gefangen in einem Zustand, der zwischen Bewusstlosigkeit und Bewusstsein lag. Im Nirgendwo, wie wir es nannte. In dem Bereich, wo man absolut nichts mehr, selber steuern konnten.

"Ich weiß nicht, was ich machen soll", erklärte Karpo John. "Ich kenne mich einfach zu wenig aus mit ihr. Dr. Jacob hat mir Injektionen für den Notfall da gelassen. Aber Kahlyn hat sich vorhin erst gespritzt, die nächste Spritze, kann sie erst in sechs Stunden bekommen. Ich habe keine Ahnung, was passiert, wenn ich sie eher gebe? Sie reagiert nicht mehr auf mich. Aber sie hat extrem hohes Fieber. Ich muss etwas machen. Sonst stirbt sie. Verdammt nochmal."

Entschlossen nahm er das Etui, mit den Notfallspritzen heraus. Suchte die mit der Beschriftung N91. Das Mittel gegen das Nervenfieber. Außerdem, die mit der Beschriftung K99, gegen hohes Fieber heraus. Da ich mich wie wild gebärde, traute er sich das Spritzen, in die Halsschlagader nicht. John versuchte mich zu fassen. Sobald er mich berührte schlug noch heftiger um mich. Meine Schreie wurden noch panischer.

"Pör… granima… Rashida, drö. - Monster … Lass los … Rashida helfe mir." Ständig wiederholte ich die gleichen Worte. "Pör… granima… Rashida, drö. – Monster … Lass los … Rashida helfe mir."

John legte sich mit seinem ganzen Gewicht, auf meinen sich windenden Körper. So wie ich tobte und um mich schlug konnte mich der Arzt nicht spritzen. Deshalb injizierte Karpo mir beide Spritzen, intravenös. In dem John mühsam meinen Arm fixierte. Er hoffte, dass es trotzdem helfen würde. Er sah mich verzweifelt an. Konnte es kaum ertragen wie ich mich, vor Schmerzen schreiend, auf meinem Lager hin und her wälzte. Irgendwann hörte ich auf nach meiner Rashida zu schreien. Sondern schrie mir nur noch meine Schmerzen von der Seele. Dr. Karpo stand an meinem Bett, er war völlig hilflos. Aber er konnte nichts mehr tun, um mir zu helfen. John setzte sich auf mein Bett und versuchte mich zu beruhigen. In der er versuchte mich in seinen Arme zu ziehen. Nichts half. Sobald er auch nur versuchte mich zu berühren, schrie ich noch mehr und schlug wie wahnsinnig um mich. Fast eine halbe Stunde, brauchten die Medikamente, bis sie wirkten. Langsam wurde ich ruhiger. Ich hörte auf zu schreien. Meine Atmung beruhigte sich etwas. John konnte mich wieder berühren, ohne dass ich nach ihm schlug. Langsam fiel ich in einen beruhigenden und erholsamen Schlaf.

Dr. Karpo hatte es geschafft. Vorsichtig untersuchte er mich und beruhigte sich langsam. Er maß meine Temperatur 55,8 °C, 195/125, den Blutdruck und Puls. Alles war noch viel zu hoch, aber keiner der Werte war mehr in dem lebensgefährlichen Bereich.

"Mehr kann ich nicht für dich tun, Kleines. So gern ich das möchte."

John stand auf und ging in die Abstellkammer. Holte sich eine Schüssel, Tücher und kaltes Wasser. Damit kam er zurück. Setzte sich wortlos zu mir. Vorsichtig legte er die kalten Tücher auf die Stirn und machte Umschläge an den Handgelenken und Fußgelenken. Dann sah er Karpo an. John liefen Tränen übers Gesicht. Er könnte sich ohrfeigen. Der Sanitäter machte sich schwere Vorwürfe. Hatte er Kahlyn nicht versprochen, sie zu beschützen? Er war wütend auf sich und darauf, dass er nicht gemerkt hatte, dass die Kleine sich zurückzog und dass es ihr wieder schlechter ging. Statt sie zu schützen, hatte er sie ermutigt, weiter zumachen. Jetzt ging es ihr wieder schlecht. Das würde er sich nie verzeihen.

 

Karpo verließ den Raum und ging nach vorn in Senders Büro, um Bescheid zu sagen, dass Kahlyn außer Lebensgefahr war. Sender saß immer noch genauso in seinen Stuhl. Er war einfach nicht fähig sich zu bewegen. Er gab sich die Schuld, genau wie es Runge machte, der sich ständig durch seine Haar fuhr. Wie auch John, der jetzt versuchte mit Umschlägen zu helfen und Kahlyn auf diese Weise etwas Linderung zu schaffen. Karpo sah wütend aus und das mit Recht. Hatte er nicht immer wieder darauf hingewiesen, dass Kahlyn Ruhe brauchte. Als der Arzt das Büro betrat, kam Sender ihm zuvor.  

"Du musst nicht mit mir und den anderen meckern Jens. Das machen wir schon selber. Ich für meinen Teil, habe es nicht gemerkt, wirklich nicht. Wir waren alle so schockiert von dem Horror, den Kahlyn erzählt hat. Wir haben gar nicht auf sie geachtet. Ich begreife selber nicht, dass es keiner von uns gemerkt hat. Wir bekamen es erst mit, als es zu spät war."

Jetzt stand Sender auf und lief wütend auf sich, in seinem Büro hin und her. Urplötzlich blieb er stehen.

"Kommt sie durch Jens? Bitte Jens sag mir, dass sie es schafft."

Das Gesicht des Majors sprach Bände, genauso das von Runge und John. Panik stand darin und völlig Verzweiflung. Mit Augen die Angst ausdrückten, schaute Sender auf den Arzt. Karpo sah wie der Teamleiter sich zermarterte, beschloss nicht auch noch in die Kerbe zu hauen.

"Ich weiß es nicht Rudi. Ich hoffe es sehr. John kümmert sich um die Kleine. Lassen wir sie ein wenig zu Ruhe kommen. Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee. In einer halben Stunde, sehe ich noch mal nach ihr. Erst dann, kann ich mit Gewissheit etwas sagen."

Karpo drehte sich um und verließ das Büro. Er musste hier raus. Sonst würde er noch etwas sagen, das er später bereute. Er war wütend auf die Drei. Aber vor allem auf sich. Dass er als Arzt, nicht von vorherein einen Riegel vor dieses Gespräch geschoben hatte. Auch wenn er extra darauf hingewiesen hatte, dass die Kleine Ruhe brauchte. Als Arzt hätte er das besser einschätzen können, als die drei Offiziere. Vor allem nach dem langen Gesprächen, die er mit dem Arzt der Kleinen führte. Karpo hatte grob umrissen von Jacob einiges erfahren. Deshalb machte er sich selbst Vorwürfe, dass er das Gehörte nicht richtig eingeschätzt hatte. Ihm standen nach dem, was er von dem Schularzt erfuhr, die Haare zu Berge. Vor allem konnte er kaum noch schlafen. Das, was Jacob ihm erzählt hatte reichte, um ihm Alpträume zu bescheren. Vor allem ließen ihn diese Fakten nicht zur Ruhe kommen. Da er ständig darüber nachdachte, wie er dem Mädchen in Zukunft am besten helfen könnte. Er hätte sich also an seinen zehn Fingern ausrechnen können, dass dieses Gespräch für Kahlyn in einer Katastrophe endet. Deshalb wäre es seine Pflicht gewesen, Kahlyn davor zu schützen. Aus Jacobs Erzählungen wusste er, das Kahlyn nie gelernt hatte sich selber zu schützen. Ihr ganzes Leben lang achtete sie nur auf andere. Zu sagen hört auf, es geht mir nicht gut oder ich kann nicht mehr, hatte sie nie gelernt. Wie hätte sich Kahlyn, also gegen zwei im Rang über ihr stehenden Offiziere wehren sollen. Das war ihr gar nicht möglich.

Kahlyn so erklärte ihm Jacob immer wieder, befolgte Befehle zu hundert Prozent. Es sei denn, sie würde dadurch andere verletzen. Wenn er also jemanden einen Vorwurf machen wollte, dann nur sich. Er nahm sich vor noch einmal mit Fritz Jacob über das Mädchen zu sprechen. Einfach um die Kleine besser einschätzen zu können. Danach würde er sich die drei Teamleiter zur Brust nehmen und ihnen Hilfestellungen geben, wie sie der Kleinen unnötigen Stress ersparen konnten. Kahlyn brauchte endlich etwas Ruhe. Dieser Beschluss half Karpo sich endlich zu beruhigen. Sich ständig durch die Haare fahrend, lief er weiter nach vorn in den Bereitschaftsraum, um nach den Kollegen zu sehen.

Vorwürfe nützten jetzt gar nichts mehr. Die machten die Drei sich schon selber. Man sah den drei Männern an, wie sie sich selber marterten. Sender verfluchte sich, für seine Unaufmerksamkeit. Der Major konnte es jetzt nicht mehr ändern. So gern Sender das tun würde. Traurig sah er seinen Freund Jo an, dass es ihm genauso ging.

"Kommst du mit vor Jo. Ich muss mich um meine Leute kümmern. Außerdem brauche ich jetzt auch einen Kaffee."

Runge schüttelte den Kopf. Deshalb verließ der Major alleine das Büro. Als Teamleiter musste er nach vorn zu seinen Leuten, um zu erklären, was passiert war. Deshalb folgt er Karpo. Sender konnte sich vorstellen dass seine Männer völlig durch den Wind waren. Diese Schreie Kahlyns klangen ihn immer noch in den Ohren. Sender hasste sich dafür, dass er nicht besser auf die Kleene aufgepasst hatte. Aber seine Sorge galt jetzt erst einmal seinen Männern. Für die Kleene konnte er jetzt nichts tun. Für seine Männer wohl. Deshalb schob er Kahlyn erst einmal nach hinten, obwohl er sich lieber zu ihr ans Bett gesetzt hätte.

Der Polizeirat dagegen saß immer noch völlig zermürbt auf seinen Stuhl und starrte auf seine Füße. Immer wieder kam ihn der Gedanke, dass das Mädchen genauso alt war, wie seine Tochter. Wie konnte man mit solch einen Leben klar kommen. Rung riss sich mühevoll aus seiner Grübelei und stand jetzt ebenfalls auf. Als erstes lief Runge nach hinten in den Schlafsaal, um dort nach dem Rechten zu sehen. Sah John auf Kahlyns Bett sitzen und wie er die Umschläge immer wieder erneuerte. Ständig legte er kühle Umschläge auf ihre heiße Stirn und erneuerte die Wickel.

Runge kam an das Bett, lange sah er auf dieses sonderbare Mädchen herunter. ‚Wie konnte ich nur übersehen, dass es dir nicht gut geht? Überlegte er bei sich immer wieder. War ich so erpicht darauf, diesen Mayer festzunageln? Dass es mir egal war wie es der Kleinen geht?‘ Dieser Gedanke, ging ihm ständig durch den Kopf. ‚Dann war ich nicht besser als dieser Mayer,‘ tadelte er sich. ‚Selbst wenn ich, mit dieser Aussage, den Mayer festnageln könnte, wie sollte dieses junge Mädchen, eine Verhandlung durchstehen?‘ Ein Gedanke nach dem anderen, schoss ihm durch seinen Kopf.

Runge wusste seit langer Zeit, das erste Mal nicht mehr weiter. Dankend klopfte er John auf die Schulter. Dann ging auch er nach vorn, zu den Anderen. Er musste Rudi helfen, seine Teams zu beruhigen. Die ja nicht wussten, was im Büro mit Kahlyn geschehen war.

 

Ich merkte nur, dass mir jemand immer wieder, etwas Kaltes auf meinen Kopf legte, das tat mir gut. Vorsichtig öffnete ich die Augen. John war da. Eigenartig sah er aus. Hatte John geweint. Seine Augen waren ganz rot und verquollen. Vor allem hatte John ein Gesichtsausdruck, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. John bekam fast sofort mit, dass ich die Augen öffnete und ihn ansah. Erleichterung machte sich auf seinem Gesicht breit, in den sich tiefe Falten eingegraben hatten.

"Mäuschen es tut mir so leid. Ich habe es nicht gemerkt, dass es dir schlecht geht", vorsichtig setzte er mir die Brille auf.

"Es war nicht deine Schuld. Es kam ganz plötzlich", hauchte ich ganz leise.

Es tat gut ihn zu sehen. Er passte auf mich auf. Ich fühlte mich so angreifbar und bettelte förmlich nach seinem Schutz. Ich hatte solche Angst, dass die Träume wieder kamen.

"Passt du auf mich auf?", flüsterte ich ihn leise zu.

John nickte.

"Passt du auf, dass die Monster nicht wieder kommen?" fragte ich noch leiser, schon fast schlafen.

John streichelte mir das Gesicht und nickte wieder. Er war nicht fähig zu sprechen, so aufgewühlt war er. Sein Herz raste, aber ich konnte jetzt nichts für ihn tun.

"Das ist gut, dann kann ich schlafen", murmelte ich schon im Halbschlaf.

John nahm ein neues kaltes Tuch und legte es auf meine Stirn. Das tat so gut.

"Ja Kahlyn, schlafe solange du willst. Ich passe auf dich auf. Diesmal wirklich", brachte John mühsam und mit eigenartig klingender Stimme hervor.

Aber das registrierte ich gar nicht mehr richtig. Gleichmäßig atmete ich ein und aus. Die Bilder waren verschwunden und auch die Schmerzen, ließen langsam nach. John war da. Mein Freund würde nicht zulassen, dass die Monster mich wiederholten. Langsam kam ich wieder in einen normalen Atemrhythmus, es tat nicht mehr ganz so weh zu atmen. Ich atmete tief und gleichmäßig. Da ich mich von John beschützt fühlte, konnte ich völlig abtauchen in einen erholsamen Schlaf. Einen Schlaf ohne die Angst vor den Träumen. Es war kurz vor 19 Uhr, als ich tief und fest schlief.

Zwanzig Minuten später kam Doko Karpo herein, um mich noch einmal zu untersuchen. Das bekam ich gar nicht mehr mit.

"Jens, sie ist kurz zu sich gekommen. Es scheint ihr besser zu gehen. Sie hat mich sogar erkannt. Horch einmal sie atmet auf einmal ganz anders", berichtete John dem Arzt sofort, nach dem dieser den Raum betreten hatte.

Karpo sprach mit mir, auch wenn er merkte, dass ich ihn nicht hören konnte. Dabei maß er die Temperatur 44,6 °C, Blutdruck und Puls 95/55. Beruhigt nickte er John zu.

"Es wird wieder", sagte er leise zu John. "Aber ich habe keine Ahnung, wie viele solcher Attacken die Kleine noch aushält. Ihr müsst versuchen, ihr etwas mehr Zeit zu lassen. Ich glaube, sie ist gesundheitlich, an einen Limit angekommen, wo sie nichts mehr wegstecken kann. Lass sie schlafen, bis sie von alleine munter wird. Selbst wenn es drei Tage dauert. Dr. Jacob sagte mir, dass Schlaf bei diesen Kindern, wahre Wunder bewirkt."

 

Sender ging nach vorn, zu seinen Teams. Was er da zu sehen bekam, war genauso schockierend, wie das eben im Büro Erlebte. Seinen Männern, standen alle leichenblass, im Bereitschaftsraum. Sie wollten von Karpo wissen, was los war? Der wich, einer Antwort aus. Er wusste auch nicht mehr, als die anderen. Raphael war der Erste, der Sender entdeckte und stürmte auf ihn zu. Impulsiv wie es nun einmal seiner Art entsprach, stellte er gleich die erste Frage, die ihn in den Kopf kam.

"Rudi, was habt ihr dahinten, mit meiner kleinen Freundin gemacht? Ich hab in meinem ganzen Leben, noch nie jemanden, so schreien hören."

Als Sender nicht gleich antwortet, wollte er auf den Teamleiter, des anderen Teams losgehen. Serow, der das Wesen seines Teammitglieds sehr gut kannte, hielt ihn zurück.

"Beruhige dich Raphi. Rudi wird uns gleich sagen, was los war? Bitte."

Raphael versuchte sich zu beruhigen. Allerdings fiel es ihm sichtbar schwer. Sender drehte sich zu seinem so hitzigen Kollegen um, legte ihm die Hand auf die Schulter.

"Komm Raphi, setzen wir uns. Bitte gebt mir einige Minuten, ich muss mich erst beruhigen, bitte Raphi."

Wolle, der seinen Vorgesetzten, noch nie so blass gesehen hatte, nahm eine Zigarette aus seiner Schachtel, zündete sie an und reichte sie dem Teamleiter.

"Hier Rudi, rauche erst mal eine. Vielleicht hilft es dir, dich zu beruhigen."

Dankbar nahm Sender mit zitternden Händen, die Zigarette und inhalierte tief den Rauch. Ganz langsam, beruhigten sich seine Nerven. Diese unsagbare Wut, über das eben Gehörte und Erlebte, ließ etwas nach. Eigentlich, war es ja Zeit, für das Abendessen, allerdings hatte keiner mehr Hunger. Allen war der Appetit vergangen. So holten sich alle ihre Stühle und setzten sich zu Rudi. Sender fuhr sich immer wieder durch die Haare. Vier Zigaretten brauchte ihr Teamleiter, um wieder normal denken zu können und um einigermaßen seine innere Ruhe wieder zu finden. Nach einer Weile, kam auch der Polizeirat nach vorne, der ebenfalls fix und fertig aussah und setzte sich neben Sender.

Abwechselnd, erzählten sie in groben Zügen, was geschehen war. Fassungslosigkeit, stand in den Gesichtern, nicht nur der SEK-Leute, sondern auch in dem Gesicht von Dr. Karpo. Jacob, hatte einiges angedeutet, aber das hatte er nicht erwartet. Jetzt verstand er, wieso alle drei nicht auf die Kleine geachtet hatten. Alles, was sie erzählte hatte, war so schockierend, dass man es erst einmal verarbeiten musste. Man hatte gar keine Zeit, um auf etwas anderes zu achten. Nachdem Sender und Runge fertig waren, wollte Karpo aufstehen, um noch einmal, nach Kahlyn zu sehen. Er machte sich große Sorgen, um das Mädchen. Allerdings ließen ihn die Männer, nicht gleich weg.

"Warum hat sie so geschrien?", erkundigte sich Raphael, bei dem Arzt. "Ich habe noch nie einen Menschen so schreien hören. Es klang, wie der Schrei, eines wilden Tieres."

In dem Moment ging alles so schnell. Keiner von den Männern wusste etwas von dem, was Kahlyn über das Menschsein erzählt hatte. Sender hörte nur etwas, von Schrei eines wilden Tieres, er hatte nicht alles verstanden, weil er tief in Gedanken versunken war. So, wie er das hörte, ging er in seiner Wut auf Mayer und dessen Schule, massiv gegen Raphael vor und schlug ihm die Faust, mitten auf das Kinn. In dem Moment, als er zuschlug, waren Runge und Karpo schon bei Sender und hielten ihn fest. Ihr sonst so ausgeglichene Chef und Dienststellenleiter, hatte total die Kontrolle über sich verloren. Schließlich brauchten sie vier Leute, um Sender von Raphael weg zu ziehen. So verrückt wurde Sender auf den jungen Kollegen. Weil er dachte, dass Raphael Kahlyn ein Tier genannt hatte.

"Sag nie wieder…", fauchte er schwer atmend. "… sag nie wieder, von Kahlyn, das sie ein Tier ist. Nie wieder. Ich bring dich sonst um", sich wie ein Verrückter gebärend, schrie Sender und toppte.

Raphael, der immer noch benommen, von dem Schlag auf dem Boden saß und sich völlig verdattert das Kinn rieb, wusste gar nicht, was ihm passierte. Fassungslos starrten die Männer ihren Chef an.

"Was in Teufels Namen, ist denn in dich gefahren? Rudi", aber von allen Seiten ermahnten die Männer ihn nur, zur Ruhe.

"Halte die Klappe Raphi, bitte nur das eine Mal", sagte nicht nur Karpo zu ihm.

Langsam kam Sender wieder zu sich. Der Polizeirat sprach leise und beruhigend, vor allem beschwichtigend, auf Sender ein und wollte ihm das Missverständnis erklären. Sender wollte von all dem nichts hören. Er hatte sich festgefahren in seiner Meinung. Auf einmal wurde Runge laut. Etwas, dass keiner von Runge kannte. Dieser war dafür bekannt, niemals seine Ruhe zu verlieren. Allerdings lagen auch dessen Nerven blank.

"Verdammt noch mal, Rudi komme zu dir. Deine Jungs können nichts für das, was du da hinten gerade erlebt hast. Ich lasse dich gleich Dienstuntauglich schreiben, wenn du dich nicht sofort beruhigst. Los stehe auf, gehe raus an die frische Luft und in den Park. Beruhige dich, ich will dich erst wieder hier drinnen sehen, wenn du wieder klar denken kannst. Verstanden."

Sender erhob sich und ging hinaus. Er war so voller Wut, dass er nicht mehr richtig denken konnte. An Max gewandt, bat Runge, wieder leise und in einem normalen freundlichen Ton.

"Max, sei so gut und gehe ihm hinterher. Nicht, dass er noch mehr Mist baut. Aber greife nur ein, wenn es notwendig ist. Lass ihn laufen, er brauch das jetzt."

Runge ging zu Raphael hin und hielt ihm die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen. Der nahm dessen Hand und ließ sich hoch ziehen.

"Alles in Ordnung mit dir, Raphi?", fragte er besorgt.

"Klar Jo. Aber, was war denn mit dem auf einmal los? Ich hab doch gar nichts gemacht."

Tief durchatmend sagte Runge für alle hörbar. "Setzt euch noch mal kurz. Ich glaube ich muss das erklären. Raphi, du hast Rudi auf dem falschen Fuß erwischt. Aber richtig schlimm. Vorhin hatte uns Kahlyn erzählt, dass man ihnen in der Schule immer gesagt hat, dass sie keine Menschen seien."

Ein Stöhnen ging durch die Reihe der Männer. Sie konnten sich jetzt denken, weshalb ihr sonst eigentlich ruhiger und ausgeglichener Teamchef, so ausgerastet war. Es war einfach, zu viel für ihn. Erst dieser Schlag von dem Mayer. Dann die schwere Verletzung der Kleinen und die ständigen Zusammenbrüche. Kein Wunder, dass Sender einmal Dampf ablassen musste, ginge es vielen durch den Kopf.

"Weil uns das an Informationen noch nicht reichte. Wir ja immer alles genau wissen wollten, haben wir sie gefragt, was sie denn sei? Wenn sie keine Menschen wären. Sie antwortete in einen ganz ruhigen Ton, wilde ungebildete Tiere. Deshalb ist Rudi, gerade ausgeflippt. Er kann einfach nicht mehr. Was wir da hintern alles zu hören bekamen, ist unfassbar. Warum sind wir eigentlich hier, frage ich mich?"

Runge ließ sich wieder auf das Sofa plumpsen und raufte sich die Haare. Sein Kopf brummte, als wenn er gleich platzen würde.

"Wisst ihr, was ich mich ernsthaft Frage?"

Die Männer schüttelten den Kopf.

"Wie das dieses kleine Mädchen ausgehalten hat? Langsam verstehe ich, wieso sie ständig zusammenbricht. Vor allem, weshalb sie ständig Fieber hat. Ich fühle mich im Moment genauso. Ich weiß nicht mehr, was ich denken oder fühlen soll. Wie mag es, in diesem jungen Mädchen wohl aussehen? Ich darf gar nicht darüber nachdenken, dass sie so alt ist, wie meine Jenny."

Verzweifelt beugte sich Runge nach vorn und stützte seinen Kopf auf die Hände. Lange Zeit, blieb er so sitzen. Karpo ging jetzt doch noch einmal nach hinten zu Kahlyn, um sie noch einmal zu untersuchen. Als er wieder nach vorne kam, sahen alle sofort, dass der Arzt gute Nachrichten brachte.

"Sie ist über den Berg. John sagt, dass sie kurz bei Bewusstsein war. Jetzt schläft sie tief und fest."

Erleichtertes Aufatmen, ging durch die Gruppe.

Runges tiefer Bass erklang. "Da bin ich aber froh", das war alles, was er heraus bekam.

Keine zehn Minuten später, öffnete sich die Tür vom Bereitschaftsraum. Sender und Max kamen zurück. Sender ging als erstes auf Raphael zu.

"Tut mir leid Raphi. Echt tut mir wirklich leid. Ich hab glaube ich, total die Kontrolle verloren. Das ist mir noch nie passiert. Hab ich dich verletzt."

Raphael, war froh, dass Sender sich wieder ein bekommen hatte. "Rudi, außer meinem Stolz ist nichts verletzt. Obwohl mein Kinn ganz schön brummt", erklärte er leicht heraus. "Tut mir leid, was ich gesagt habe. Wirklich, so habe ich das nicht gemeint. Aber ich konnte doch nicht wissen, was die zu der Kleinen immer gesagt haben. Echt mal", offen sah er dem Teamleiter ins Gesicht.

Der legte die Hand auf dessen Schulter und schob ihn Richtung Tisch.

"Fran, kannst du irgendetwas zum Essen machen. Ich glaube es hilft der Kleenen nicht, wenn wir hier alle sitzen und heulen. Es reicht schon, dass der Mayer mich dazu gebracht hat, einen aus unserem Team zu schlagen. Hungern lassen wir euch deshalb noch lange nicht."

Die Männer grienten. Rudi hatte wie immer Recht. Er war wieder der Alte.

"Raphi, du gehst als erstes nach vorn in die Wachstube und machst eine Anzeige, bei der Dienstaufsicht gegen mich. Das ist ein Befehl. Das hätte nicht passieren dürfen."

Raphael schüttelte den Kopf. "Dann musst du eine Anzeige bei mir wegen Befehlsverweigerung machen. Das werde ich nämlich nicht tun. Ich glaube, nicht ich hab einen Schlag abbekommen, sondern du. Spinnst du jetzt völlig. Ich zeige dich doch nicht wegen sowas, bei der Dienst an. Merkst du noch was? Mein Gott, das war das erste Mal seit dem ich dich kenne, dass du ausgerastet bist. Glaube es mir, an deiner Stelle, wäre ich bei mir schon mindestens hundertmal ausgerastet, Rudi. Du hast also noch neunundneunzigmal frei", setzte er den letzten Satz noch nach und schlug Rudi, auf die Schulter. "Lass mal gut sein alter Freund, es gibt Schlimmeres, als mal kurz auszuflippen", Raphi machte eine Bewegung mit dem Kopf, in Richtung Schlafsaal.

Fran zauberte mal wieder, in kürzester Zeit ein Abendessen zusammen. Alle setzen sich an den Tisch. Fran, allerdings nahm einen Teller, schmierte einige Schnitten, die er hinter zu John brachte, zusammen mit einem großen Pot Kaffee mit viel Zucker. Als er im Schlafsaal John sah, wie er Wickel um Wickel erneuerte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Kein Wunder, dass die Kleine so an John hing. Er war ein Engel, wenn auch ein sehr großer. Leise, um Kahlyn nicht zu wecken, ging er zu deren Bett. Fran erschrak, als er die Kleine sah. Ganz eingefallen wirkte ihr Gesicht, aber auch schneeweiß, sah sie aus. ‚Hoffentlich wirst du bald wieder gesund‘, dachte Fran bei sich.

"John …", flüsterte er. "… ich hab dir ein paar Stullen gemacht. Du musst auch etwas essen. Hier ich hab dir auch einen Kaffee mitgebracht. Es hilft niemanden, wenn du als nächstes krank wirst. Die anderen essen auch was."

John sah hoch zu Fran. "Danke", sprach er leise und matter Stimme.

Nahm den Teller und die Tasse, stellte beides auf das benachbarte Bett. Wieder wechselte er die Umschläge. Immer noch war das Mädchen kochend heiß.

"Fran, kannst du mal kurz hier bleiben. Ich will nur neues Wasser holen."

Fran schüttelte den Kopf. "Bleib hier. Das mache ich schon. Bleib nur bei der Kleinen. Ich weiß nicht, wie sie auf mich reagiert."

 Fran schnappte sich die Schüssel und holte neues Wasser. John aß in der Zwischenzeit die Schnitten auf und trank seinen Kaffee. Als Fran zurückkam, reichte er beides dem Koch und nahm ihm die Schüssel mit kaltem Wasser ab.

"Danke", kam kurz von ihm.

Schon wieder, widmete John sich wieder der Kranken. Kurz nach 21 Uhr, kamen die Ersten ganz leise in den Schlafsaal und legten sich hin. Alle waren fix und fertig, von den letzten vier Tagen und wollten nur noch schlafen. Kurz nach 22 Uhr, eine Ungewohnte Zeit für die Truppe, waren neunzehn der vierzig Betten belegt und alle schliefen.

Nur John nicht. Der wechselte immer noch die Umschläge auf Kahlyns Stirn und an deren Gelenken. Auch bei John forderte irgendwann der Körper Ruhe. John hatte in den letzten Tagen, viel zu wenig geschlafen. Kurz vor 4 Uhr in der Früh, schlief er im Sitzen ein. Mit dem Rücken an das Bettgestell gelehnt, schlief er den Schlaf der Gerechten.

 

Deshalb bekam John auch nicht mit, dass ihn jemand in das Bett von Kahlyn drehte. Ihm ein Kissen unter den Kopf schob, ihn mit einer Decke zu deckte. Dieser Jemand war ich. Es war erst kurz nach 4 Uhr in der Früh als ich nach einem, neunstündigen erholsamen tiefen Schlaf aufwachte. Das erste was ich erblickte war John, der mit einem Wickel in der Hand, in sich zusammen gesunken, auf meinem Bett saß. John tat er mir so leid. Deshalb legte ich ihn, so vorsichtig wie möglich hin.

Leise, um niemanden zu wecken, ging ich aus dem Schlafsaal. Auf der Uhr über der Tür, war es 4 Uhr 19. Ich war ausgeschlafen. Überlegte allerdings, was ich jetzt machen sollte. Da alle noch schliefen und ich nicht wusste, wie ich mich hier bewegen durfte. Kurz entschlossen, ging ich erst einmal in die Dusche. Genoss einfach das heiße Wasser. Mir tat jeder Knochen im Körper weh. Krampfhaft überlegte ich, was gestern passiert war. Allerdings kam ich auf keine plausible Erklärung. Konnte mich an nichts mehr erinnern. Das Letzte, was ich noch wusste, war, dass ich zu Sender ins Büro kommen sollte und wir über die Schule gesprochen hatten. Mein Hals tat weh und ich konnte kaum schlucken.

Hoffentlich war ich nicht schon wieder zusammen geklappt. Allerdings wäre das die einzige logische Erklärung, dafür, dass ich nicht wusste, was in dieser Zeit geschehen war. Wieso passierte mir das auf einmal ständig? Ich hatte mir doch das N91 gespritzt, da dürfte das normalerweise gar nicht geschehen. Das wurde langsam aber sicher, zu einer schlechten Angewohnheit. Dagegen musste ich unbedingt etwas unternehmen. So ging das nicht weiter. Nach einer halben Stunde, die ich unter der heißen Dusche stand und die ich wirklich genoss, ging ich zu meinem Spind.

Zog mich neu an, die schmutzigen Sachen räume ich ordnungsgemäß weg, da ich Unordnung hasste. Dann nahm ich den Medi-Koffer, spritzte mir eine neue, sehr niedrige Dosis N91. Ich hatte beim Duschen gesehen, dass mein Arm blutunterlaufen war, ich mindestens ein Einstich von einer Injektion hatte. Kurz überschlug ich die Zeit. Falls ich einen Anfall gehabt hatte, war die Zeitspanne zu kurz. Doko Karpo hatte mich dann bestimmt eher gespritzt. Ich musste ihn dann mal fragen, falls er heute kam. Lieber etwas zu wenig, als zu viel, war schon immer meine Meinung. Außer im Kampf, da waren die Spritzen, oft notwendig. Mit Schmerzen konnte man nicht klar denken, vor allem nicht richtig kämpfen.

Nach der Spritze, ging ich nach vorn in den Bereitschaftsraum. In den Raum war niemand. Also legte ich meine Brille auf dem Tisch und band ein Tuch über die Augen und zog auch meine Schuhe aus. Ganz vorsichtig, meinen Körper genau beobachtend, begann ich mit leichten Übungen des Taiji. Es wurde landläufig auch als Schattenboxen bekannt, eine uralte chinesische Volkssportart, die mit langsamen, fließenden Bewegungen daher ging. Es half mir meine Energie zum Fließen zu bringen, wenn ich mich unwohl fühlte. Wann immer es mir nicht gut ging und dazu Zeit war, machte ich die Übungen. Meistens fühlte ich mich danach gleich um vieles besser. Ich konnte über das Taiji Zeit und Raum vergessen und völlig abschalten. Tiefatmend, mich auf den Fluss der Energie, also auf mein Qi konzentrierend, begann ich die etwas schwereren Übungen. Mir war immer noch schwindlig, also war ich immer noch nicht wieder richtig auf den Beinen, doch voller angestauter Energie. Das Taiji bestand aus einer genau festgesetzten Bewegungsabfolge, die wir uns in der Schule über viele Jahre antrainiert hatten. Sie half uns bei der Koordination der Bewegungsabläufe und stellte eine Harmonie der inneren und äußeren Balance her. Auf diese Weise konnten wir ein ausgewogenes Gleichgewicht finden. Die Bewegungen lösten einander fließend ab, wobei jeder Yang-Bewegungen und eine Yin-Bewegungen folgte. Was man mit Energie Abgabe und Aufnahme vergleichen konnte. Durch diese Jahrhunderte alte Technik die wir in einem Buch fanden, dass uns Doko Zolger, der Chefwissenschaftler in der Schule, einmal gab, trainierten wir unser Qi. Also den Körper, wie auch den Geist. Dadurch wurde Energie dort zugeführt, wo sie fehlte und der Energiefluss angeregt. Es brachte eine harmonische Atmung und regte die Blutzirkulation der Haut an. Auch förderte sie die Zwerchfellatmung, die bei mir immer noch etwas eingeschränkt war. Wenn ich, Taiji eine Stunde gemacht hatte, bekam ich das Gefühl, als wenn ich drei ganze Tage geschlafen hätte.

Tief versunken im Taiji bemerkte ich nicht, dass man mich kopfschüttelnd beobachtete. Es war bereits 5 Uhr 15, als Fran in den Bereitschaftsraum kam und das Licht anmachen wollte. Er bemerkte sofort, dass jemand im Raum war, deshalb ging er erst einmal vorsichtig nachsehen, wer so zeitig auf war. Er dachte er sieht nicht richtig, als er mich entdeckte. Deshalb ging er in die Dusche zurück, sagte den Jungs Bescheid, sie sollten leise sein und vor in den Bereitschaftsraum kommen, wenn sie etwas Unglaubliches sehen wollten. Diese Information verbreitete sich ganz leise, doch wie ein Lauffeuer. Nach nicht ganz fünfzehn Minuten, standen alle neunzehn Teammitglieder, kopfschüttelnd im Flur und sahen mir bei meinen Übungen zu.

Beim Taiji, schaltete ich vollkommen ab, ich nahm dann keine Einflüsse von außen mehr wahr. Warum das so war, wusste ich selber nicht, aber ich konnte dabei alle nervlichen Belastungen, Stress, Wut oder Traurigkeit abstreifen. Wenn ich dann fertig war, tauchte ich aus einer anderen Welt und vollkommen erholt auf. Deshalb machte ich das nur dann, wenn ich mich vollkommen sicher fühlte oder im Kampf, um die letzten Reserven zu mobilisieren. Dieses Gefühl hatte ich hier eigenartiger Weise, schon nach einem Tag gehabt. Tief ausatmend, machte ich die letzte Bewegung meiner Übung, wollte gerade zu meinen Schuhen und der Brille gehen, als ich die ganze Truppe stehen sah. Wie lange standen die schon hier, fragte ich mich ernsthaft. Ich hatte es nicht gemerkt. John der total übermüdet aussah und tiefe dunkle Augenringe unter den Augen hatte, kam auf einmal auf mich zu.

"Ich glaub mich tritt ein Pferd. Kahlyn, was machst du denn hier? Ab ins Bett mit dir", rief er mir zu.

Verwundert über seinen Ausruf, blieb ich stehen. "Warum?"

Ihm den Kopf, zugewandt und griff nach meiner Brille.

John und der Rest der Truppe, holten alle tief Luft.

"Du fragst warum? Rudi hilf mir, sonst flippe ich hier gleich aus. Ich halte das nicht mehr aus", John sprach in einem gereizten Ton, den ich nicht verstand und drehte sich um, sagte an Sender gewandt. "Ich leg mich noch einmal hin Rudi. Ich muss unbedingt etwas schlafen. Ich kann nicht mehr", schon war John fort.

Ich verstand ja, dass er müde war. Schließlich war er im Sitzen eingeschlafen. Allerdings verstand ich nicht, warum? Ich stand auf der einen Seite und auf der anderen Seite, achtzehn genervt aussehenden Männern. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, weil ich mir keiner Schuld bewusst war. Ich hatte doch keinen Fehler gemacht. Jedenfalls keinen den ich hätte verhindern können. Sender kam kopfschüttelnd, auf mich zu.

"Kahlyn, du legst dich bitte auch wieder hin. Bitte, Kleene!", bat er mich, mit einer komisch klingenden Stimme.

"Sir, aber warum? Ich bin ausgeschlafen und mir geht es gut, Sir. Warum soll ich mich wieder hinlegen? Ich verstehe das nicht, wirklich nicht Sir."

Sender verdrehte die Augen, nahm mich am Arm und zog mich in sein Büro. "Setze dich, Kahlyn", sagte er kurz. Dann griff er zum Telefon und wählte eine Nummer. "Jens, hier ist Rudi, wenn du dann in der Praxis bist, möchte ich dich sofort hier sehen… Ach, du bist noch da? In Ordnung, dann komme gleich mal her. Ja, bitte, bis gleich."

Sender setzte sich auf seinen Stuhl und schwieg mich an. Mir war nicht wohl dabei. Weil ich nicht wusste, was los ist. Er schüttelte ständig den Kopf. Plötzlich sagte er in das Schweigen.

"Kahlyn, wie geht es dir? Die Wahrheit bitte."

Ich sah ihn an. "Sir, mir geht es gut, Sir."

Er hatte diesen ungläubigen Blick, den ich schon so oft an ihm gesehen hatte. "Das soll ich dir glauben Kahlyn, nach allem, was gestern geschehen ist?", wieder schaute er mich, ungläubig an.

Karpo betrat das Büro. Seiner Überraschung Ausdruck gebend, mit den Worten. "Was machst du denn hier Kleines? Ab mit dir ins Bett."

Verdammt nochmal, jetzt reichte es mir. "Warum soll ich ins Bett? Ich verstehe das nicht, Doko Karpo."

Karpo raufte sich die Haare, nahm seine Arzttasche die er mitgebracht hatte und öffnete sie. "Darf ich dich untersuchen Kahlyn?"

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht wusste, was das sollte. "Ja klar, Doko", gab ich mein Einverständnis dazu.

Karpo untersuchte mich und das sogar zweimal.

"Rudi, ich weiß nicht wie und ich habe keine Ahnung warum. Erst recht kann ich dir nicht sagen, weshalb. Sie ist nach meinen dafür halten gesund, Rudi."

Als der etwas sagen wollte, fiel Karpo ihm ins Wort. "Frag bitte Kahlyn. Ich habe keine Ahnung, wirklich nicht Rudi. Nicht nach dem, was gestern Abend geschehen ist."

Jetzt wollte ich es wissen. "Was ist los Doko oder besser, was war gestern los? Alle, schicken sie mich ins Bett. Schauen mich an, als wenn ich schon Tod wäre. Mir geht es doch gut. Ich verstehe gar nichts mehr. Was soll das alles?"

Sender legte seinen Kopf auf die Tischplatte und schüttelte den Kopf. Er konnte es einfach nicht nachvollziehen. Einen kurzen Moment brauchte er, um sich zu beruhigen. Dann hob er den Kopf und sah mich lange durchdringend an.

"Kahlyn, was weißt du noch von gestern?"

Ich überlegte kurz. "Ich war hier im Büro und sprach mit euch…", ich zögerte. "…na ja, über die Schule. Dann bin ich munter geworden und John saß schlafend, auf meinem Bett. Ich war ausgeschlafen, also bin ich aufgestanden."

Karpo nickte. "Du weißt also nicht mehr, was gestern war."

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, ich weiß zum Beispiel nicht, wie ich ins Bett gekommen bin. Bin ich hier eingeschlafen oder was war los?"

Was sollte ich anderes sagen? Ich wusste es doch wirklich nicht.

Sender holte tief Luft. "Kahlyn, du weißt es wirklich nicht? Du bist gestern hier zusammen gebrochen und hast geschrien wie am Spieß. Hast wie eine Verrückte um dich geschlagen. John konnte dich kaum bändigen. Wir dachten, du überlebst die nächste halbe Stunde nicht mehr. Jens, hat dir in seiner Verzweiflung irgendetwas gespritzt. John, hat mit seinem ganzen Körpergewicht auf dir drauf gelegen, damit dir Jens überhaupt eine Injektion geben konnte. Wir haben gedacht du schaffst es nicht mehr."

Karpo ergänzte. "John, hat die ganze Nacht kühle Umschläge gemacht, damit dein Fieber wieder runtergeht. Du hattest 60,2°C Fieber dein Blutdruck und dein Puls hatten kosmische Dimensionen erreicht, 255/185 und du stehst hier, als wenn nichts wäre", jetzt wurde er lauter. "Was denkst du eigentlich, wie oft du noch solche Anfälle überstehst?", schimpfte Doko Karpo mich aus. "Du gehst jetzt ins Bett und ruhst dich noch etwas aus. Das ist eine Anordnung von mir. Ich will dich die nächsten zwölf Stunden, nicht auf den Beinen sehen."

Ich wollte ihm etwas sagen, doch er pulverte mich an.

"Hast du verstanden, was ich dir gerade gesagt habe, Kahlyn?"

Ich nickte. Was hätte ich anderes tun sollen. Es war ein klarer Befehl. Ich verstand gar nichts mehr. Stand allerdings sofort auf und ging aus dem Zimmer. Lief nach hinten in den Schlafsaal. Setzte mich auf mein Bett.

Warum sollte ich ins Bett gehen? Ich war gesund. So etwas hatte noch keiner von mir verlangt. Ich legte mich also hin und starrte auf das obere Bett. Ich versuchte einen gleichmäßigen Atemrhythmus zu finden, es gelang mir nicht. Also fing ich an zu grübeln. Etwas, was mir noch nie gut getan hatte. Was war nur los hier? Zeigten sie jetzt ihr wahres Gesicht. Hatte ich den Test, jetzt doch nicht bestanden? Ich verstand einfach nicht, was hier los war.

 

Karpo schüttelte den Kopf "Ich komme mit der Kleinen einfach nicht klar. Rudi, darf ich Doktor Jacob noch einmal anrufen, bitte."

Der nickte und ging aus dem Büro.

Karpo wählte die Nummer, der Jacobs. Dort meldete sich, eine weibliche Stimme. "Guten Morgen, hier bei Jacob."

"Guten Morgen, wenn ich mich recht entsinne, sind sie Schwester Anna, hier ist der sehr unfreundliche Dr. Karpo, von der Dienststelle 61 in Gera. Kann ich eventuell ihren Mann noch einmal sprechen. Ich weiß es ist noch sehr zeitig in der Früh, aber ich brauche dringend Rat es…"

"Es geht um Kahlyn", unterbrach Anna Karpo einfach.

"Ja", antwortete dieser etwas irritiert.

"Mein Mann ist noch nicht zurück und ich kann ihn von hier aus nicht erreichen. Dazu muss ich runter auf Station gehen. Vielleicht kann ich ihnen ja helfen. Ich kenne mich auch etwas aus", erklärte sie Karpo mit einer freundlichen Stimme, ganz anders als beim letzten Mal.

"Gestern Abend, hatte Kahlyn einen ganz schlimmen Anfall, hohes Fieber…", wieder wurde Karpo unterbrochen.

Er schüttelte seinen Kopf, über diese Art der Unterhaltung. Das war etwas was Karpo absolut nicht ausstehen konnte. Schwester Anna jedoch erklärte ihm freundlich und sehr offen.

"Entschuldigen sie dass ich sie unterbreche. Ich kenne diese Kinder, ich kann ihnen dadurch viel Rederei ersparen. Kahlyn schrie bestimmt wie am Spieß, als wenn sie jeden Moment sterben würde. Ja, das haben die Kinder bei hohen Fieber schon mal. Herr Doktor, die Kinder bekommen bei dem hohen Fieber schlimme Krämpfe und Schmerzen, die wir uns so nicht annähernd vorstellen können. Irgendwann kann das Gehirn, diese schlimmen Schmerzen nicht mehr aushalten und schaltet auf …" Schwester Anna überlegte einen kurzen Moment. "... mein Mann nennt es Schmerzbefreiung. Es ist eine Phase zwischen Bewusstsein und Bewusstseinslosigkeit. In dieser Phase, können die Kinder sich nicht mehr steuern. Sie machen das, was jeder bei schlimmen Schmerzen macht, sie schreien einfach ihre Schmerzen aus sich heraus. Kommen sie in die Bewusstlosigkeit, dann sind sie wieder ruhig, dann steuert das Unterbewusstsein dieses Verhalten. Sind sie bei Bewusstsein, dann steuern die Kinder das selber."

Karpo hörte aufmerksam zu. "Das ist interessant zu wissen, das hätte ich gestern Abend wissen sollen. Aber was mich irritiert….", wieder unterbricht ihn die Schwester. Karpo holt gereizt Luft.

"Das Kahlyn nach so einen heftigen Anfall, heute früh wieder quietsch fidel, am Frühstückstisch sitzt und sie dabei ansieht, als wäre nichts gewesen und vor allen überhaupt nichts mehr weiß."

Karpo bestätigte das. "Genauso ist es. Ich hab sie ins Bett geschickt und sie ist mit viel Wiederstand auch gegangen. Ich habe keine Ahnung, wie viele dieser Attacken, das kleine Mädchen noch aushält."

Schwester Anna lachte am anderen Ende der Leitung, es klang erleichtert. "Keine", sprach Anna leicht dahin.

"Wie keine, Schwester Anna", erkundigt sich Karpo erschrocken,

Schwester Anna kicherte. "Entschuldigen sie Herr Doktor. Ich denke immer nicht daran, dass sie die Kleine noch nicht so gut kennen. Ich denke es wird in der nächsten Zeit keinen dieser Anfälle mehr geben. Das ist meistens der dritte oder vierte Anfall in Folge. Oft ist es so, dass wir diese Anfälle gar nicht mitbekommen. Die Kinder stecken die Anfälle meistens so weg, ohne, dass wir das überhaupt bemerken. Danach kann es Jahre dauern, bis wieder so etwas geschieht. Irgendetwas, Dr. Karpo, lag dem Mädchen auf der Seele. Etwas, dass sie tagelang beschäftigt hat. Da die Kinder keine Emotionen zeigen dürfen, sucht sich der Körper ein Ventil, um diese Emotionen heraus zu lassen. In der Schule, konnten die Kinder sich gegenseitig trösten, oder zusammen lachen. Wenn sie Kahlyn etwas näher kennen lernen, sehen sie, wenn sie lacht oder weint. Jetzt können die Kinder das nicht mehr. Vor vielen Jahren hatten wir schon mal das Problem, deshalb weiß ich das. Könnte ich mit Kahlyn einmal kurz sprechen, ginge das? Dann kann ich ihnen sagen, ob alles in Ordnung ist."

Karpo überlegte kurz. "Ich hole sie ihnen, wenn sie nicht schläft", er legte den Hörer auf den Tisch und ging in den Schlafsaal, um das Mädchen zu holen.

"Kahlyn, kannst du mal bitte kurz kommen?", bat er mich, als er an meinem Bett angekommen war.

Ich nickte kurz. "Sir, jawohl, Sir."

Verwundert sah mich Doko Karpo an. Er ging wieder hinaus und ich folgte ihn unschlüssig. Was jetzt wohl wieder kommen würde. Wir gingen allerdings nur in Senders Büro.

"Kahlyn, hier will dich jemand sprechen", teilte mir Doko Karpo mit und hielt mir den Hörer hin. Sofort verließ er das Büro, damit ich alleine telefonieren konnte.

"Kahlyn, meine Kleine, wie geht es dir?"

Überrascht Schwester Annas Stimme zuhören, sagte ich das, was ich immer zu ihr gesagt hatte. "Dika Anna sere. – Schwester Anna, wie geht es dir?"

Schwester Anna lachte, wie jedes Mal. Sie hatte nie verstanden, was ich sagte, der Doko konnte ein paar Wörter unserer Sprache, aber nicht Schwester Anna.

"Liebe Schwester Anna wie geht es dir?", wiederholte ich meine Frage.

"Gut geht es mir Kleines, ich vermisse dein Lachen. Es ist ruhig geworden hier. Aber etwas anderes, der Doktor bei euch, macht sich große Sorgen um dich, Wie geht es dir?"

Ich atmete tief durch. "Ich weiß nicht Dika. Ich bin ganz durcheinander. Mir geht es eigentlich gut. Aber er hat mich ins Bett geschickt, obwohl ich Einsatzfähig bin. Ich verstehe nicht, was man von mir will? Alles ist hier verkehrt, Dika. Nichts ist so, wie es sein soll. Ich hab wohl gestern Abend, einen schlimmen Anfall bekommen, weiß aber nichts davon. Dika, ich möchte nach Hause. Bitte, kannst du den Oberstleutnant nicht fragen, ob ich nach Hause kommen darf. Bitte", flehte ich sie an.

Schwester Anna war schockiert, über das was sie da hörte. "Kahlyn, bleibe wo du bist. Sobald der Doko nach Hause kommt, kommen wir zu dir. Bitte in spätestens zwei bis drei Tagen, sind wir bei dir. Geb mir noch mal den Doktor."

Ich wollte noch nicht gehen. "Dika, kannst du nicht gleich kommen? Mich holen, bitte. Ich möchte so gerne wieder nach Hause", bei den letzen Worten, fing ich an zu weinen. "Bitte, bitte, Dika. Ich möchte nach Hause."

"Kleines, du weißt doch, dass ich kein Auto fahren kann. Ich muss warten bis der Doko kommt. Bitte meine Kleine, halte durch. Ich gehe gleich ins Büro und sage deinem Doko Bescheid. Dass er ganz schnell nach Hause kommen soll. Ja, sei tapfer bis dahin. Versprichst du mir das?"

Ich versuchte ruhig zu werden, Schwester Anna wusste immer, wenn ich weine.

"Kahlyn, bist du noch dran. Versprichst du mir tapfer zu sein bitte?"

"Dika ich verspreche es dir", sagte ich mit einem ungewohnten Ton.

"Weinst du Kleines?"

"Dika drö. - Schwester, helf mir bitte", würgte ich mühsam hervor, bekam mich nur sehr langsam wieder ein. Es dauerte einige Sekunden ehe ich wieder richtig sprechen konnte.

"Weinst du Kleines?", wiederholt sie ihre Frage.

"Nein." Antworte ich, mit fester Stimme. "Ich hab dich lieb Dika. Ich hole den Doktor jetzt. Bis bald Dika Anna."

Ich legte den Hörer hin und ging nach draußen. Vor dem Büro, auf dem Flur stand Karpo.

"Sir, Schwester Anna, möchte sie noch einmal Sprechen, Sir", gab ich ihm Bescheid.

Enttäuscht ließ ich ihn stehen und ging wieder nach hinten in den Schlafsaal. Karpo sah mir verdutzt nach. 'Wieso sagt sie wieder Sir zu mir?' Aber er musste ans Telefon, deshalb schob er den Gedanken erst einmal beiseite.

"Dr. Karpo am Apparat."

"Doktor, ich mache mir ernsthafte Sorgen um Kahlyn. So aufgelöst habe ich sie noch nie erlebt. Ich werde versuchen meinen Mann zu erreichen. Je nachdem, wo er jetzt ist, kommen wir sofort zu ihnen. Ich rufe sie dann wieder an. Passen sie bitte auf meine Kleine auf. Bitte."

Karpo verstand nun gar nichts mehr. Gerade hatte diese Schwester Anna alles herunter gespielt, auf einmal jedoch, schien sie richtige Panik zu haben.

"Schwester Anna, ich verstehe das nicht. Was hat ihnen Kahlyn erzählt?"

"Doktor, es ist nicht das, was sie mir erzählt hat, sondern das wie. Die Kleine ist verzweifelt. Sie hat mich allen Ernstes darum gebeten, mit Oberstleutnant Mayer zu sprechen und ihn zu bitten, dass sie wieder nach Hause darf. Zurück in diese Hölle. Wir waren so froh, dass wir es endlich geschafft haben, sie hier für immer heraus zu holen. Doktor, sie hat geweint, so verzweifelt ist sie. Bitte ich lege jetzt auf. Ich muss mit meinem Mann sprechen. Wir müssen zu Kahlyn. Bitte passen sie auf die Kleine auf."

Karpo war entsetzt. Grübelnd setzte er sich auf Senders Stuhl und ging das Gehörte schritt für Schritt noch einmal durch. Bis heute hatte er immer von sich gedacht, dass er Situationen klar erfassen konnte, aber in diesem Augenblick stellte er fest, dass er nicht wusste was diese Schwester Anna mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Er brauchte eine Weil, ehe er die notwendigen Informationen in eine für ihn verständliche Reihenfolge gebracht hatte. Entsetzt stellte er fest, dass er immer noch den Hörer in der Hand hielt und legte den Hörer auf. Kurzentschlossen ging der Truppenarzt in den Schlafsaal hinüber und noch einmal mit Kahlyn zu sprechen. Dort lag ich im Bett und starrte an die Wand. Karpo setzte sich auf mein Bett.

"Kahlyn, kann ich mit dir reden, bitte", bat er mich.

Ich reagierte nicht auf ihn. Ich wollte mit niemanden mehr sprechen. Er sollte mich in Ruhe lassen. Es war einfach nicht gut, wenn ich Zeit zum grübeln hatte. Rashida hatte mich immer, aus diesen Gedanken heraus holen können. Aber alleine, hatte ich das noch nie geschafft. Ich war ja auch noch nie, alleine gewesen. Beim Oberst war das anders, hatte ich dort ein unlösbares Problem, schob ich sie erst einmal beiseite und klärte sie dann später, wenn ich wieder zu Hause war. Hier allerdings wusste ich, dass es kein später geben würde, also musste ich meine Probleme selber lösen und bekam keine Hilfe, von irgendeiner Seite. Karpo berührte mich mit den Fingern, am Arm. Ich reagierte nicht, ich wollte allein sein und stellte mich schlafend.

"Kahlyn, ich weiß das du nicht schläfst. Kleines bitte, wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann rede mit mir. Ich kenne dich doch noch nicht so gut. Bitte Kleines."

Seine Stimme klang eigenartig. Weiter starrte ich an die Wand. Es gingen mir eigenartige Gedanken durch den Kopf. Ein Einsatz müsste jetzt kommen. Ich würde den Kugeln nicht mehr ausweichen. War ich jetzt so weit, wie Rina? Das ich sterben wollte? Mein Kopf tat wieder weh. Ich versuchte gleichmäßiger zu atmen, um vielleicht einzuschlafen. Karpo ignorierte ich komplett. Er fühlte meine Stirn, meinen Puls. Er sprach mit mir, doch ich reagierte nicht mehr auf ihn. Ich wollte ihn nicht hören. Ich hatte dicht gemacht, wie Rashida es immer nannte. Immer wieder versuchte ich mich, an Rashidas Stimme zu erinnern. "Täubchen schlaf, hör auf den Rhythmus der anderen. Atme tief ein und aus. Komm du kannst es." Da war aber niemand, auf den ich hätte hören können. Ich war alleine, ganz allein. Ich wollte nur noch nach Hause, zu meinen Freunden.

Karpo erhob sich. Er hatte aufgegeben und verließ den Raum. Ich war froh, dass er mich endlich in Ruhe ließ und weg war. Alles war falsch hier. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte auf das über mir befindliche Bett. Ich versuchte mich an meine Freunde zu erinnern. Stellte mir vor, dass wir auf unseren Baum saßen und unseren Traum träumten. Das half ein wenig, gegen diese verdammte Einsamkeit und darüber konnte ich einschlafen.

Karpo war entsetzt, was hatte er nur falsch gemacht. Der Kleinen ging es gerade noch gut. Weshalb bekam sie schon wieder Fieber? Hoffentlich kam Jacob bald. Er fühlte sich einfach überfordert mit der Kleinen. Er überlegte wieder und wieder, was er falsch gemacht haben könnte. Wieso war sie auf einmal so abweisend? Ging von Doko, wieder auf das Sir über. Er verstand es nicht. Karpo ging in Senders Büro, legte sich auf das Sofa. Er war fix und fertig. Die ganze Nacht, hatte er über den Unterlagen von Kahlyn gesessen und nach einer Möglichkeit gesucht, um ihr zu helfen zu können. War das alles umsonst gewesen? Karpo nickte ein und fiel in einen flachen unruhigen Schlaf, der keine wirklich Erholung brachte.

 

Zwanzig Minuten später, betrat Sender sein Büro, um nach Karpo zu sehen. Der lag sich hin und her wälzend, auf seinem Sofa. Der Arme, hatte es aber auch schwer. Es machte ihn fertig, dass er der Kleinen nicht helfen konnte. Er beschloss, dass er erst einmal nach ihr schauen wollte. Vielleicht würde sie sich ja über etwas Gesellschaft freuen. Er schloss leise die Tür zum Büro und ging nach hinten zu Kahlyn. Das Mädchen lag in ihrem Bett und schlief, war aber sehr unruhig. Deshalb ging er zu ihr hin und deckte sie zu. Dabei berührte er mit seiner Hand, die Hand des Mädchens, die glühend heiß war. Es ging ihr doch vorhin gut, wieso hatte sie jetzt schon wieder Fieber. Er verstand das alles einfach nicht. Was war nur mit der Kleinen los? Hin und her gerissen von seinen Gefühlen, überlegte er, ob er Karpo wecken sollte. Dann entschied er sich dafür, es nicht zu tun. Auch Jens brauchte etwas Schlaf. Was John konnte, ging es ihm durch den Kopf, konnte er schon lange. Sender nahm die Umschläge aus der Schüssel und holte neues kaltes Wasser und begann bei Kahlyn wieder Umschläge zu machen. Hoffentlich wurde es bald ruhiger um die Kleine. Lange würden wir so viel Aufregung, nicht mehr aushalten. Nur gut, dass in den nächsten Tage, keine Einsätze mehr geplant waren. Das Training hatten sie gerade in der Gruppe beschlossen, fiel heute mal aus. Alle waren fertig, brauchten etwas seelische und körperliche Ruhe. Sein Team war an der Limitgrenze angelangt, durch den ganzen Stress. Sender sah auf die Uhr, es war jetzt gleich 8 Uhr und noch früh am Tag. Was dieser Tag wohl noch bringen würde?

 

Knappe sechshundert Kilometer entfernt, saß Schwester Anna am Funktelefon in der Funkzentrale des "Projektes Dalinow" und wartete ungeduldig darauf, dass ihr Mann an das Funktelefon seines Wagens ging. Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Nur von hier aus konnte sie ihren Mann erreichen, wenn er unterwegs war. Nur gut, dass Heiko Corstens Dienst hatte, er war ein Freund der Jacobs und stellte stets ohne lange Diskussionen, die Verbindung zu ihrem Mann her. Bei den neuen Mitarbeitern im Projekt, gab es jedes Mal erst ellenlange Debatten über Dienstvorschriften und Dienstwege die eingehalten werden mussten und irgendwelchen Dienst- und Befehlsfolgen, sie einzuhalten hatte.

Wie satt sie dieses ganze Projekt hatte, konnte sich keiner vorstellen. Sie hatte immer gern gearbeitet, aber seit dem die Kinder weg waren und das waren erst vier Tage, war es nur noch die Hölle. Es war so schlimm, dass sie schon anfing die Tage zu zählen, die sie noch hier im Projekt verbringen musste. Es waren genau noch neunundzwanzig Tage und diese würden noch die Hölle werden, wie sie gestern von Heiko erfuhr. Man hatte Mayer in Gera festgenommen und in Handschellen in eine Zelle gesteckt. Ein schadenfrohes Lächeln huschte über Annas Gesicht. Wie sehr sie ihm diese Erfahrung gönnte. Mehrere Tage nun, saß Mayer nun schon in Gera im Untersuchungsgefängnis und hatte endlich einmal Zeit darüber nachzudenken, ob sein Verhalten richtig war. Sie war bestimmt kein Mensch, der irgendjemand etwas Schlechtes wünschte, aber Mayer gönnte sie diese Erfahrung von ganzem Herzen. Nur einmal zu erleben, dass es Menschen gab, die sich von diesem Unmenschen nicht alles gefallen ließen oder wie hier im Projekt, gefallen lassen mussten. Corsten hatte ihr allerding erzählt, dass Mayer in den nächsten Tagen wieder kam. Von Chris Martin, dem Stellvertreter hatten sie dann Details des Dramas erfahren und auch, dass dieser dafür sorgen würde, dass Mayer schnellst möglich wieder ins Projekt kommen würde. Da Hunsinger Oberstleutnant Fiedler im Moment nicht entbehren könnte. Das bedeutete für die Mitarbeiter im "Projekt Dalinow" das hier wieder alle, Mayers gesamte Wut abbekommen würden. Denn er hatte ja niemanden mehr, an denen er sich abreagieren konnte. Zum Glück oder besser zum Unglück der Projektmitarbeiter, waren die Kinder ja nicht mehr da. Über eine Sache waren sich alle einig, diese Behandlung würde sich Mayer nicht ungestraft gefallen lassen.

Mayer war der Anlass, weswegen Anna so unhöflich gegenüber, dem ihr unbekannten Karpo, war. Normalerweise ließ sie ihren Launen nicht an anderen Menschen aus. Deshalb war es kein Wunder, dass der Truppenarzt aus Gera, jetzt so schlecht auf sie zu sprechen war. Jemanden ihre Stimmung anmerken zu lassen, war ihr nur sehr selten passierte. Aber nach der Tracht Prügel, die sie nur eine Stunde zuvor von Mayer bekommen hatte, konnte sie einfach nicht nett und freundlich sein. Dazu ging es ihr in diesem Moment einfach viel zu beschissen. Sie konnte kaum atmen und jeder einzelne Knochen im Körper tat ihr weh. Chris Martin war gerade dabei, sie auf der Krankenstation zu verbinden, als Karpos Anruf einigen. Walli war gerade mit den Röntgenaufnahmen beschäftigt und Anderson stand im OP, um Chris zu operieren, der zwischen Anna und Mayer ging, um Jacobs Frau zu beschützen. Ihm hatte Mayer den linken Arm mehrfach gebrochen, den Anderson zur gleichen Zeit, wieder in Ordnung brachte. Die Schläge von Mayer bezogen sie nur, weil Anna Mayer daran hintern wollte, zu Kahlyn zu fahren.

Nur gut, dass Walli mit Doktor Anderson, gerade in diesem Moment im Projekt ankamen. Da Fritz sie nur ungern mit Mayer alleine ließ. Wenn ihr Mann im Projekt war, traute sich der Projektleiter schon viele Jahre nicht mehr, sie auch nur schräg anzusehen. Zu oft hatte ihm Jacob gezeigt, was er mit ihm machen würde, wenn er sich noch einmal wagen würde, sie zu schlagen. Deshalb bat er immer, wenn er für längere Zeit das "Projekt Dalinow" verlassen musste, die Andersons darum ins Projekt zu kommen. Da ja sonst kein Arzt da war, der in Notfall dem Personal helfen konnte. Das "Projekt Dalinow" ohne Arzt zu lassen, solange Mayer in der Nähe war, konnte tödlich enden. Die Sanitäter konnten viel richten, aber halt nicht alle durch Mayer verursachten Verletzungen behandeln. Deshalb bekam der Chefarzt immer eine Vertretung, bei seiner Abwesenheit. So wusste Fritz, dass sie in guten Händen war. Außerdem wollte Walli ihr helfen, den Umzug vorzubereiten. Langsam musste Anna anfangen zu packen. Anna hatte also Glück, im Unglück und konnte durch die Andersons und Chris Martin, wenigstens medizinisch versorgt werden.

Drei Rippen hatte ihr dieser Ar…, nein sie würde dieses Wort nicht einmal denken, hatte ihr Mayer gebrochen. Nur weil sie ihm erklärt hatte, dass Kahlyn doch überhaupt keinen Einfluss auf das Verhalten ihrer Vorgesetzten nehmen könnte und auf das, was in ihrer neuen Dienststelle ablief. Mayer könnte ihr doch nicht die Schuld dafür geben, dass ihr neuer Vorgesetzter bei dem Polizeirat in Thüringen angerufen hatte und er, deshalb einen Anpfiff bekam. Auch könnte ihm Anna nicht erklären, wieso Fritz noch nicht bei Kahlyn aufgekreuzt wäre. Sie hätte ihn noch nicht gesprochen. Daraufhin war Mayer vollkommen ausgeflippt und hatte sie windelweich geprügelt. Nur gut, dass Heiko Corstens und Chris Martin dazwischen gegangen waren und Mayer, nach einem kurzen aber schweren Kampf, von ihr herunter gezogen hatten. Sonst hätte sie der Projektleiter wahrscheinlich tot geschlagen. Das war so ein Mistkerl, so ein Ar…, nein rief sie sich zur Ruhe, du denkst dieses Wort nicht. Er ist der Mayer, derjenige, der sich hier im Projekt am schlimmsten entwickelt hatte. Der ihr wieder einmal bewies, wie tief doch die Abgründe der menschlichen Seele sein können. Endlich meldete sich Fritz am Funk.

"Fritz, schön das ich dich so schnell erreiche, Schatz. Wo bist du?", erkundigte sie sich bei ihren Mann.

"Engelchen, ich bin in einer halben Stunde, zu Hause. Ich war nur schnell mal kurz hinter den Büchen, entschuldige. Was ist denn los?"

Anna atmet erleichtert auf, sie war froh, dass alles in Ordnung war. Langsam hatte sie das Gefühl an Verfolgungswahn zu leiden. Jedes Mal wenn ihr Mann nicht sofort an den Funk ging, dachte sie ihm wäre etwas zugestoßen. Tief holte Anna Luft, um sich zu beruhigen und mit einer normalen Stimmlage sprechen zu können.

"Oh, das ist gut. Dann ich bereite gleich alles, für ein schönes Frühstück vor. Bis gleich Schatz."

Fritz legte das Funktelefon auf, wunderte sich allerdings sehr über den Anruf seiner Frau. Hoffentlich war nicht schon wieder etwas passiert. Seine Frau würde nie anrufen, wenn er fährt. Es sei denn, es gab irgendwo einen dringenden Notfall passiert. Im Projekt selber konnte nichts Schlimmes passiert sein, denn Mayer war ja nicht da, also konnte nur etwas mit den Kindern sein. Deshalb drückte er das Gaspedal etwas mehr und fuhr schnell die letzten vierzig Kilometer nach Hause.

Anna dagegen bereitete ein kräftigendes Frühstück vor. Eier, Speck, Toast, einen starken Kaffee, so wie es ihr Fritz liebte. Der Arme, sie wusste gar nicht, wie sie ihm die Geschichte mit Kahlyn beibringen sollte. Sie würde es einfach, spontan entscheiden. Aber sie mussten schnellstmöglich zu ihrem Mädchen und diesmal konnte Fritz sagen was er wollte, dieses eine Mal würde sie darauf bestehen mitfahren zu dürfen. Anna hatte nämlich ein ganz schlechtes Gefühl. Das hatte sie immer kurz bevor eins ihrer Kinder starb. Viel zu viele waren schon gestorben, es durften nicht noch mehr dazu kommen und schon mal gar nicht Kahlyn. Ihr kleiner Spatz, ihr größtes und gemeinsames Sorgenkind. Das Anna immer am meisten geliebt hatte, von all ihren Kindern, weil sie so ganz anders war.

Entsetzt dachte Anna an die Geburt der Kleinen, als sie das Gewicht und die Größe gesehen hatte. Schon Wochen vor der Geburt, hatte sie ihren Mann angefleht, irgendetwas zu finden, damit man die Kleine nicht tötet. Kahlyn war ein so wunderschönes Kind. Der dunkle Teint, der einen an dunklen Milchkaffee erinnert und die lustigen schwarzen Schillerlocken, standen in einem unbeschreiblichen Kontrast, zu den rot-orangenen Augen, die silbermetalisch glitzerten. Kahlyn und Rashida hatten die schönsten Augen von allen Kindern, fand Anna immer. Zum Glück fand Fritz heraus, dass ihre Kleine außergewöhnlich war. Ihre Anlagen waren um einiges besser, als die alle anderen Kinder. Sie besaß das beste Genmaterial überhaupt. Das einzige Manko von Kahlyn war, dass sie zu klein war. Man ließ sie am Leben, ach wie hatte Anna sich damals gefreut. Als die Kinder ein Woche alt gewesen waren, war Kahlyn die erste, die sitzen konnte. Sie war mit zwei Wochen, die erste die stehen konnte und lief als erste mit ungefähr drei Wochen. Ihr erstes Wort sagt sie mit nur drei Wochen. Die erst korrekte Anrede, sagte sie mit fünf Wochen zu Fritz, als er Kahlyn fragt.

"Wie geht es dir?" Kam zur Antwort.

"Sir, gut, Sir."

Wir fanden es damals so lustig. Als sie zwei Monate alt gewesen waren, hatten die anderen schon die Größe von hundertfünfunddreißig Zentimeter erreicht, Kahlyn war gerade mal hundertundeinen Zentimeter groß, also viel zu klein. Bei den Laufübungen, war sie immer die Schlechteste. Mayer sagte damals, wenn die Leistungen bis zum Ende des sechsten Monats nicht besser würden, müsste man sie töten. Anna hatte damals so geweint. Fritz holte sich Kahlyn, damals zu einer Untersuchung. Zu diesem Zeitpunkt war Kahlyn etwas drei Monate alt war und hatte gerade das Gymnasium begonnen. Immer noch bekam Anna eine Gänsehaut, wenn sie an damals dachte, weil die Situation einfach nur grotesk war. Da saß ein drei Monate altes Mädchen vor dir und sah dich an, wie ein Schüler des Gymnasiums. Anna wusste am Anfang nie, ob die Kinder überhaupt verstanden, was man ihnen erzählte. Bei Kahlyn war das noch schlimmer als bei den anderen Kindern, weil sie so klein und zierlich war. Es gab Zeiten, in denen wir dachten, sie kann nur. "Sir, ja, Sir" oder "Sir, nein, Sir" oder "Sir, gut, Sir". Bis wir mit bekamen, dass sie doch reden konnte. Anna erklärte Kahlyn, dass sie lernen musste schneller zu laufen und höher zuspringen. Kahlyn legte ihr Köpfchen schief, erwiderte darauf.

"Dika, warum? Dann muss ich doch so lange warten, bis die anderen kommen, Dika", oh Gott, hatten wir uns gefreut, als Kahlyn das sagte.

"Wieso musst du dann so langen warten?", wollte Anna von ihr wissen.

"Dika, die sind lahm und schwerfällig. Außerdem wollen die doch auch mal gewinnen. Die können mich sowieso nicht leiden, weil ich in allem besser bin. Die kommen doch nicht so schnell vorwärts wie ich, weil die so groß sind, Dika", antwortete sie uns, ihre Augen leuchteten dabei, wie zwei untergehende Sonnen.

"Kahlyn, du weißt doch, was mit Keri passieren wird", wollte Anna von dem kleinen Mädchen wissen.

"Dika, klar weiß ich das. Der wird in den Schlaf geschickt, seine Marke hängen wir dann an unseren Baum, das weißt du doch, Dika."

Wir schauten das kleine hübsche Mädchen, traurig an. "Kahlyn, wenn du aber die anderen immer gewinnen lässt, dann wirst du auch schlafen geschickt und dann ist deine Dika noch trauriger als bei Keri. Willst du das?"

Da nahm sie ihre kleinen kräftigen Arme, drückte Anna und schüttelte ganz wild ihr Köpfchen.

"Kahlyn du musst immer und überall, die Beste sein", erklärte Anna ihr damals. "Du bis die Kleinste und wir wollen nicht, dass der Oberstleutnant dich Schlafen schickt. Du kannst nur durch Leistung deinen Platz im Team behalten, nur wenn du überall die Beste bist, wirst du nicht in den Schlaf geschickt", von dem Tag an, war ihre Kleine in allem die Beste. Ja, so war ihre Kahlyn.

Eines Tage fiel es Anna gerade ein. Kam es zu einem Streit. Anne glaubte sich daran zu erinnern, dass Kahlyn damals ein Jahre alt gewesen war. Als der Oberstleutnant, Nairis wegen einer Kleinigkeit auspeitschen wollte. Bis zu dem Tag hatte Kahlyn in der Gruppe, immer einen schweren Stand. Sie war überall die Beste, aber mit Abstand die Kleinste und leichteste, das macht sie zum absoluten Außenseiter. Vor allem wurden die Kinder oft, wegen Kahlyns Temperaments bestraft. Die Kinder begriffen erst nach und nach, dass Kahlyn sich nur für die Gruppe stark machte. Sie nur ständig Ärger bekamen, weil sie die anderen beschützen wollte. Nairi stand vor dem Oberleutnant, mit ihren zweihundereinen Zentimetern und hundertzehn Kilo war sie um einiges größer und schwerer, als Mayer. Wehrte sich trotzdem nicht gegen dessen Schläge. Als der Oberstleutnant dem Befehl gab, sie wegen eines abgerissen Knopfes, auszupeitschen. Trat Kahlyn aus der Reihe, gerade einmal hundertsechsundsechzig Zentimeter groß und achtzig Kilo. Das hatte sich bis zu dem Tag, noch nie jemand getraut, sprach ohne Sprecherlaubnis.

"Sir, Wachtmeisterin Nairi, kann nichts dafür, Sir. Es war meine Schuld Sir. Wenn sie jemanden bestrafen wollen, Sir, dann bestrafen sie mich, Sir."

Der Oberstleutnant flippte total aus. Wenn Fritz nicht dazwischen gegangen wäre, hätte Mayer, Kahlyn schon damals getötet. Oft hatte sie sich mit solchen Einsätzen, für ihre Freunde in Gefahr gebracht. Nicht nur einmal, schlug sie der Oberstleutnant halb tot. Aber bei jedem Einsatz, war Kahlyn dabei. Nicht einen Einsatz, verpasste sie. Wie oft hatten wir mit ihr geschimpft. Es nutzte nichts. Kahlyn schaffte es immer, in nur wenigen Minuten, wieder fit zu sein.

"Dika", erklärte sie Anna immer wieder. "Der Tag an dem der Oberstleutnant mich in den Schlaf legt, ist noch nicht gekommen. Ich schaffe das schon, keinen Angst, Dika."

Waren die Wunden versorgt, ging es Kahlyn wieder gut. Trotzdem machte Anna, sich jetzt große Sorgen. So verstört hatte Kahlyn noch nie geklungen. Es klingelte an der Tür. Schnell stand Anna auf und öffnete.

"Fritz, oh bin ich froh, dass du wieder da bist, Schatz."

Anna nahm ihren dicken Schatz in den Arm, der hielt sie von sich, musterte Anna genau.

"Was ist los Engel? Du rufst mich doch nicht auf der Autobahn an, um mir zu sagen, dass du Frühstück machen willst."

Anna sah ihn verlegen an.

"Komm doch erst mal rein Schatz", Anna sah Jacob verlegen an.

Jacob ließ allerdings nicht locker.

"Fritz…", Anna wurde ernst. "Kahlyn. Ich weiß nicht, ich habe so ein dummes Gefühl, mit ihr stimmt etwas nicht. Ich hatte sie heute kurz am Telefon Fritz, sie will nach Hause. Fritz, ich weiß genau, sie hat geweint."

Fritz erschrak sichtbar. "Dann müssen wir sofort los."

"Nein." griff Anna streng durch, Jacob war schon seit vier Tagen unterwegs. "Erst frühstücken, dann fahren wir."

Gemeinsam setzten sie sich, an den Tisch und Fritz schlang mehr, als das er aß.

"Fritz, bitte esse in Ruhe, auf zehn Minuten kommt es doch nicht an, bitte."

Fritz nickte, Anna meinte es gut. "Hast ja recht mein Engel."

In Ruhe aßen sie auf. Jacob ging noch einmal in sein Laboratorium, um seine Vorräte an Spritzen aufzufüllen. Anna dagegen, ging in die Vorratskammer, um Kahlyns Lieblingsessen zu holen. Die Einzige normale Nahrung, die sie essen konnte, Karamelltoffees. Bestimmt hatte sie keine mehr, dachte sie so bei sich. Schon stiegen die Beiden ins Auto und fuhren los in Richtung Gera. Es war gerade 10 Uhr geworden. Fritz fuhr zügig los, ohne ein unnötiges Risiko einzugehen.

 

 Sender sah auf die Uhr, die vorn an der Tür hing. Es war gleich 11 Uhr. Er streckte sich ein wenig und stand auf, um neues kühleres Wasser zu holen. Das Fieber der Kleinen, wollte einfach nicht weg gehen. Unruhig wälzte sie sich, auf ihrer harten Pritsche. Er kam an Johns Bett vorbei, der schlief tief und fest. Er konnte sich vorstellen, dass John fertig war. Er hatte jetzt schon fast drei Tage bei der Kleinen gesessen. Sender öffnete den Wasserhahn und ließ das Wasser ein wenig laufen. Kurz entschlossen, steckte er den Kopf unter den Strahl. Ihm tat der Kopf weh. Seit drei Stunden grübelte er, warum es der Kleinen wieder so schlecht ging? Er kam einfach nicht dahinter.

War es vielleicht ein Fehler gewesen, sie wieder ins Bett zu schicken? Kam ihm plötzlich ein Gedanke. Nach allem, was er gestern von Kahlyn gehört hatte, war sie alles gewohnt, nur keine Fürsorge. Er nahm sich vor, noch einmal vorsichtig mit Kahlyn zu sprechen. Aber erst wenn es ihr besser ging. Denn in einem gab er Jens Karpo recht, die Kleine musste erst einmal zur Ruhe kommen.

Plötzlich klingelte das Telefon in seinem Büro. Bitte, sandte er ein Stoßgebet zum Himmel, bloß keinen Einsatz jetzt. Keiner seiner Männer war fähig, schon wieder auszurücken. Er ließ das Wasser einfach laufen und rannte hinüber in sein Büro. Karpo schlief jetzt so fest, dass er das Klingeln nicht mal registrierte.

Sender nahm ab. "Dienststelle 61, Major Sender am Apparat", meldet er sich leise, um Karpo nicht zu wecken.

"Hier ist Dr. Jacob, kann ich Dr. Karpo bitte sprechen", meldete sich der Arzt.

"Doktor Jacob ist etwas Wichtiges? Jens schläft grade. Er hat die ganze Nacht durchgearbeitet, soll ich ihn wecken", informierte Sender den Arzt.

"Nein, nein", meinte Karpos Kollege. "Das müssen sie nicht. Ich wollte ihm nur Bescheid geben, dass wir auf dem Weg sind. Ungefähr gegen 18 Uhr müssten wir in Gera eintreffen. Könnten sie ihm das ausrichten?", bat Jacob Sender darum seinen Kollegen zu informieren.

"Ja, klar mache ich das, Doktor. Ich bin froh, dass sie nochmal kommen. Ich mache mir wirklich Sorgen, um die Kleene."

Jacob schnaufte am anderen Ende. "Geht es ihr so schlecht?", erkundigte er sich sorgenvoll.

"Doktor, es geht ihr alles andere als gut. Aber nicht so schlecht, wie gestern Abend. Sie schläft, aber sie ist total unruhig und hat schon wieder hohes Fieber."

Jacob holte nochmals tief Luft, am anderen Ende der Leitung. "Lassen sie Kahlyn einfach schlafen. Ich werde Gas geben und mich beeilen."

Sender war erleichtert. "Fahren sie vorsichtig, bis nachher, danke nochmals. Ich geh mal lieber wieder hinter zu Kahlyn. Bis dann also."

Erleichtert legte der Major wieder auf. Leise ging er aus dem Büro, holte die Schüssel mit kaltem Wasser, widmete sich wieder seiner kleinen Patientin. Leise sprach er mit ihr, aber sie reagierte einfach nicht auf seine Worte. Gegen 12 Uhr kam Fran und holte ihm zum Essen. Bevor er nach vorne ging, weckte er John, der ja schon nicht gefrühstückt hatte. Da fiel ihm ein, Kahlyn ja auch nicht. Wann hatte die Kleine eigentlich das letzte Mal gegessen? Das war an dem Morgen, vor dem Einsatz, stellte er mit Entsetzen fest und das war nicht gerade viel. Also hatte sie schon wieder den zweiten Tag nichts im Magen. Kein Wunder also, dass es ihr so schlecht ging. Er musste unbedingt darauf achten, dass Kahlyn öfter etwas zu Essen bekam. John stand fast sofort auf, ging schnell duschen. Sah allerdings vorher noch einmal, nach seiner kleinen Freundin. Sender ging in sein Büro und weckte Karpo.

"Komm Jens, es gibt Mittag, schlafen kannst du dann, aber lege dich wenigstens hinten in ein Bett."

Karpo stand müde und völlig zerschlagen auf. "Ich hab keinen Hunger."

Sender sah seinen Truppenarzt böse an. "Jens, du gehst nach vorne und isst etwas. Auch wenn es nicht viel ist. Ihr nutz mir nichts, wenn ihr hier alle abklappt. Ende der Diskussion! Vorhin hat Jacob angerufen. Er ist gegen 18 Uhr hier. Also hast du noch genug Zeit, zum schlafen. Los komm jetzt."

Ohne Widerspruch zuzulassen schob er den schlaftrunkenen Karpo, aus seinem Büro. Vorn saßen schon alle am Tisch. Fran hatte sich wieder selber übertroffen. Fran war nicht nur ein guter Koch, sondern, so dachte Sender wieder einmal bei sich, auch ein sehr guter Psychologe. Er wusste immer, dass bestimmte Gerichte, die Stimmung der Truppe enorm anhoben. So gab es heute Rouladen mit Rotkohl und Klöße. Etwas, was jeder in der Truppe gern mochte. Er hatte sogar einen Nachtisch gezaubert, es gab selbstgemachtes Eis. Die Truppe ließ es sich schmecken, nur ab und an schauten einige, auf den nun wieder leeren Stuhl, auf dem seit kurzem Kahlyn saß. Jeder der Truppe, machte sich so seine Gedanken. Am meisten aber Fran, dem es nicht gefiel, dass die Kleine schon wieder nichts essen konnte. Aber das würde sich ändern. Er hatte nach dem Einsatz gestern, sofort eine Dose mit Kahlyns Spezialnahrung, in sein Fahrzeug gestellt. Das durfte nicht noch einmal passieren, dass sie nichts essen konnte. Die Kleine musste viel mehr essen. Nach dem Essen stand John sofort auf, nicht einmal seinen Nachtisch aß er noch, obwohl er Eis über alles liebte.

Mit dem kurzen Satz. "Ich geh hinter zu Kahlyn", war er auch schon verschwunden.

Fran stand ebenfalls auf und holte eine Tasse, goss Kaffee ein. Gab viel Zucker dazu und nahm ihn, um sie hinter zu John zu bringen. Im Schlafsaal angekommen, stellte er John seinen Kaffee hin.

"Für dich. Du siehst müde aus John", sagte er.

John nickte, er war einfach nicht in der Stimmung zu reden. Etwas, dass sehr selten bei ihm vorkam und davon zeugte, dass er total übermüdet war und in Sorge.

"Sag mal John, wie geht es der Kleinen?", erkundig sich Fran leise, um Kahlyn nicht zu wecken.

"Das siehst du doch. Ich verstehe auch warum. Statt im Bett zu bleiben und sich erst einmal zu erholen, musste sie mitten in der Nacht rumturnen. Kein Wunder also", John war wütend auf die Kleine.

Fran merkte, dass John alleine sein wollte und absolut nicht zum reden aufgelegt war. Also zog er sich zurück, mit einem freundschaftlichen Druck auf die Schulter des Freundes zurück. Er konnte sich schon vorstellen wie dem Kollegen zu Mute war.

"Ich hebe dir ein Eis auf", versprach er seinem unausgeschlafenen Kollegen.

John war froh, dass er mit Kahlyn wieder alleine war. Die Kleine glühte wieder und wälzte sich hin und her. Ganz mechanisch wechselte der Sanitäter die Umschläge und war ganz in seinen Gedanken versunken.

Kurz nach 17 Uhr klingelte es an der Wache, da heute kein Sprechtag war, fanden die Jacobs die Tür verschlossen vor. Wachtmeisterin Sören, drückte den Öffner, ein lautes Summen ertönte und sie ging hinaus auf dem Flur. Sender hatte sie davon informiert, dass der Arzt noch einmal käme, so war sie nicht erstaunt, den netten älteren Arzt wiederzusehen.

"Guten Tag Herr Doktor, schön dass sie so schnell gekommen sind. Kahlyn, liegt hinten im Schlafsaal, zwei Türen hinter Senders Büro", begrüßte sie den Arzt, der ihr nur kurz zunickte.

Dann sah sie, dass dieser nicht alleine gekommen war und wollte gerade seine Begleitung begrüßen. Als der Doktor schon an ihr vorbei eilte, um nach Kahlyn zu sehen.

"Seien sie meinem Mann nicht böse. Er ist wie ein Henker gefahren, um so schnell wie möglich hierher zu kommen. Ich bin im übrigens Schwester Anna, seine Assistentin und Frau. Guten Tag", stellte sich Anna selbst vor und begrüßte die Wachtmeisterin freundlich.  

Sören nickte. "Dann auch von mir einen guten Abend. Kommen sie, ich zeige ihnen den Weg", bot Jacobs Frau Hilfe an, da sie sich hier ja nicht auskannte.

Ines ging vor Schwester Anna her und brachte sie in den Bereitschaftsraum, wo sie von Sender in Empfang genommen wurde. Dr. Jacob dagegen, eilte sofort hinter zu Kahlyn. John, der immer noch Umschläge bei dem Mädchen machte, sah erschrocken auf, als die Tür aufgerissen wurde. Jacob kam herein geeilt, ohne auf den Geräuschpegel zu achten. Die Tür knallte gegen die Wand und Jacob stürmte auf Kahlyn und John zu.

"Entschuldigung, das wollte ich nicht. Ich war wohl zu etwas stürmisch. Wie geht es Kahlyn? Darf ich mal?", kamen die Worte des Arztes, wie aus einem MG geschossen.

John stand auf und machte dem Arzt sofort Platz. Jacob beugte sich, über das scheinbar unruhig schlafende Mädchen und sprach sie ihn ihrer Sprache an.

"Nikyta, sere? Mako? Dy! - Mein Kind, wie geht es dir? Was hast du? Sprich mit mir!", übersetzte Jacob sogleich, damit John verstand, was er zu Kahlyn sprach.

Allerdings kam von Seiten Kahlyns keine Reaktion. Dr. Jacob versuchte Kahlyn zu untersuchen. Dies war nicht mehr möglich, sobald er damit anfing oder sie auch nur berührt, schlug sie wie wild um sich.

John trat heran. "Soll ich sie halten, Doktor?"

Jacob schüttelte traurig den Kopf. "Wenn sie so mies drauf ist, brauchen wir nichts mit ihr machen, dann ist alles zu spät. Was ist passiert, das Kahlyn so blockt?", wollte er von John wissen, musterte ihn aufmerksam. "Sie sehen müde aus John. Was ist hier geschehen? Kahlyn, begann sich doch gerade wohl zu fühlen. Sie fällt doch nicht von alleine in so eine Haltung. Kommen sie ich muss mit allen reden. Ich muss wissen, was los war. Sonst kann ich ihr nicht helfen."

John wollte davon nichts wissen. Er wollte weiterhin die Umschläge machen. Jacob zog ihn am Arm, Richtung Tür.

"Kommen Sie John, die Umschläge können sie sich sparen, die helfen ihr nicht. Ich schicke Anna zu ihr. Meine Frau hat noch fast immer einen Zugang zu ihr gefunden."

John folgte dem Arzt widerwillig. Im Bereitschaftsraum sah Jacob seine Frau stehen und gab ihr konkrete Anweisungen.

"Anna, du folgst bitte den Gang dort, nach hinten. Im fünften Raum auf der rechten Seite ist Kahlyn. Kümmerte dich um sie. Anna sie blockt. Ich muss wissen warum? Ich hoffe du holst sie da raus. Ich will nicht zu dem schlimmsten Mitteln greifen müssen. Bitte Anna, hol sie aus der Blockade."

Jacobs Frau wurde ganz blass und nahm erschrocken die Hand vor dem Mund. Nickte dann aber wortlos und eilte sofort in die angezeigte Richtung. Sender, der wie alle anderen nicht begriff, was los war, sprach Jacob an.

"Sie blockt? Was heißt das jetzt schon wieder? Zu den schlimmsten Mitteln greifen? Was soll das bedeuten?", stellte der Major Jacob gleich mehrere Fragen.

Der Arzt ließ sich auf einen Stuhl fallen. Statt, dass er auf die Fragen antwortet, forderte er sich mehr Informationen ein, denn ohne die, konnte er Kahlyn nicht helfen.

"Ich muss wissen, was hier passiert ist. Detailgenau, sonst kann ich Kahlyn nicht aus dieser verdammten Blockade holen, ohne sie noch tiefer in den Abgrund zu stoßen. Was ist geschehen, dass sie so abblockt? Was habt ihr mit ihr gemacht? Normalerweise reagiert Kahlyn nicht so. Ich verstehe das irgendwie nicht", sprach Jacob jeden Satz betonend.

Von allen Seiten kam.

"Nichts haben wir gemacht."

"Überhaupt nichts ist passiert"

John dagegen, sah Jacob verlegen an. "Dr. Jacob, ich weiß nicht, was sie meinen. Ich weiß nur, dass ich heute früh etwas barsch zu ihr war. Aber das kann es doch nicht sein oder?", hoffnungsvoll sah er zu Jacob.

John hatte schon die ganze Zeit darüber gegrübelte, was den Ausschlag für das eigenartige Verhalten des Mädchens war, während er ihr die Umschläge aufgelegt hatte. Schritt für Schritt war er den Morgen durchgegangen. Das einzig ungewohnte an Kahlyns Reaktionen, an die er sich erinnern konnte, war eine Versteifung ihrer Haltung, als er gegangen war und ihr sagte, sie soll ins Bett gehen. Ja er war genervt und übermüdet. Aber das, so sagte er sich immer wieder, konnte nicht der Hauptgrund gewesen sein. Jacob, der seinen Schützling sehr gut kannte, harkte hier sofort nach.

"Was verstehen sie unter barsch. Haben sie sie angebrüllt oder geschlagen oder was verstehen sie darunter?"

John wurde wütend, bei den Worten von Jacob. "Ich kann ihnen gleich mal brüllen. Ich schreie niemanden an. Aber ich war und bin völlig übermüdet und in Sorge. Habe mich deshalb vielleicht ein wenig im Ton vergriffen. Aber ich wollte, dass sie sich wieder hinlegt. In der Nacht davor, wäre sie fast gestorben. Verdammt nochmal, ich hatte Angst um die kleine Maus", versuchte John so ruhig, wie möglich zu erklären.

Dr. Jacob nickte. "Jetzt ahne ich in etwa, was passiert ist. Major, darf ich kurz mit ihnen und ihren Männern sprechen. Ich kann mir denken, was los ist. Keine Angst es ist nicht ihr Fehler, sondern meiner. Wissen, sie es ist schwer für uns, zu denken wie sie. Wir sind mit diesen Kindern seit siebzehn Jahren zusammen. Wir kennen alle ihre Macken und ihre Reaktionen. Wir denken schon so wie diese Kinder", er holte tief Luft und sah zu Major Sender.

Der Dienstellenleiter nickte ihm zu.

"Setzen, sie sich bitte meine Herren, so redet es sich leichter. Vor allem sollten alle zuhören, denn sonst passieren solche Situationen immer wieder. Sie alle müssen schnellstens lernen, bei Kahlyn umzudenken. Sonst haben sie ständig diese Probleme."

Alle setzten sich an den Tisch. Jacob versuchte sich in der Schnelle, eine Strategie zu entwickeln. Überlegte, wie er am besten vorgehen konnte. Ohne die, wie er feststellen musste, sowieso schon ziemlich genervt wirkenden und überforderten Männer, noch mehr zu schockieren.

Es war genau das eingetreten, was er den Projektleitern schon seit Jahren, vorausgesagt hatte. Denn nicht nur Kahlyn, hatte diese extremen Probleme, sondern alle anderen acht ehemaligen Mitglieder des Teams 98 gingen durch dieselbe Hölle. Man hatte die Kinder viel zu isoliert aufgezogen, sie wussten nichts von der normalen Welt und alle neuen Situationen, brachte sie an den Rand des Ertragbaren. Aller Kinder fielen von einer Schocksituation, in die nächste, nicht nur Kahlyn. Allerdings hatte es Kahlyn noch um einiges schwerer, als ihre Freunde, denn sie besaß wesentlich mehr Gefühle und konnte oft ihr Temperament nicht zügeln. Jacobs Telefon stand seit Tagen nicht eine Minute still. Wenn er dachte, dass sein Leben nach dem Weggang der Kinder, ruhiger werden würde, so hatte er sich gründlich getäuscht. Denn die Tatsache, dass seine Kinder überall in der Republik verstreut lebten, bedeutete für ihn viel Fahrerei und erschwerte seine Arbeit ungemein. Er bekam kein Helikopter genehmigt und musste die weiten Strecken alle per Auto zurücklegen, das fraß seine Zeit. Jacob schwieg eine Weile und rieb sich sein grübelnd Kinn.  

"Entschuldigen sie bitte, wenn ich sehr direkt werden sollte. Ich habe leider keine Ahnung, wie ich einem normal denkenden Menschen, dass alles erklären soll. Alle die im "Projekt Dalinow" leben und arbeiten, sind so doof das jetzt klingen mag, nicht normal. Weil wir viel zu eng mit den Kindern zusammen gelebt haben und deshalb ganz anders denken als Menschen die außerhalb der Projektes leben und arbeiten. Es ist schwierig zu begreifen, wie diese Kinder ticken. Deshalb fällt es mir sehr schwer, mich in sie hineinzudenken", versuchte Jacob den anderen den Punkt zu klären, der eine Zusammenarbeit so schwierig macht. "Was in Kahlyn vor sich geht, ist kompliziert und für unsereins schwer zu verstehen. Aber ich muss versuchen ihnen zu erklären, warum das so ist. Damit sie nicht nachher denken, falls meine Frau keinen Erfolg hat, ich wäre eine Bestie", begann er langsam und holte nochmals tief Luft. "Sie müssen wissen, unsere Kinder kennen keine Fürsorge, keine Liebe, keiner Zuneigung. Die einzigen Menschen, von denen sie so etwas je bekamen, von denen sie es im Laufe der Zeit und nach viel Kampf zuließen, waren meine Frau und ich. Wir haben Jahre gebraucht, bis einige von ihnen so etwas wie Zuneigung annahmen. Bis heute gibt es einige Kinder in Kahlyns Team, die das komplett ablehnen. Kahlyn allerdings ist eine Ausnahme. Sie ist regelrecht süchtig nach Zuneigung und Fürsorge, kann aber nicht damit umgehen. Deshalb John, denke ich, hat die Kleine sie auch so schnell akzeptiert. Das ist völlig untypisches Verhalten für Kahlyn. Die bleibt aus Vorsicht, schon immer für sehr lange Zeit auf Distanz zu Fremden. Vor allem dauert es sehr lange, ehe man einen Zugang zu ihr findet", wieder rieb der Arzt sein Kinn, weil er nicht wusste, wie er sich erklären sollte. "Die Kinder müssen sie wissen, durften ihr Leben lang keine Gefühle zeigen. Aber sie lachen und weinen genau wie wir. Ich weiß von dir Jens, dass Kahlyn gestern einiges erzählt hat, kurz vor ihrem Zusammenbruch. Keine Ahnung, was genau zu diesem Zusammenbruch geführt hat, ich denke es ist die Gesamtsituation, die die Kinder im Moment völlig überfordert. In der Schule standen die Kinder in Kontakt zueinander. Ich würde sagen, es ist so etwas Ähnliches wie Telepathie. Sie sprachen ohne Worte miteinander, lachten und weinten zusammen. Sie entwickelten sogar eine eigene Sprache. Kahlyn, ist ein Mädchen, das sehr sensibel und impulsiv ist. Sie hatte schon immer viel mehr Probleme als die anderen gehabt, ihre Gefühle zu verbergen. Rashida ihre beste Freundin, erzählte mir aus Sorge um ihre Freundin, dass Kahlyn ab und zu, dazu neigt sich in sich selber zurück zu ziehen und dann alles ab blockt. Rashida, gelang es bis auf ein oder zweimal, das zu verhindern. Das passierte immer dann, wenn sie mit irgendeiner Situation nicht mehr klar kam, wenn sie total überfordert war. Mit dem Tod eines geliebten Kameraden oder mit der willkürlichen Bestrafung, an der sie sich die Schuld gab. Ich denke, genau das ist auch heute der Fall", wieder machte er eine Pause. "Könnte ich bitte einen Kaffee haben, ich bin seit mehr als fünfzig Stunden auf den Beinen. Ich bin todmüde", bat er Sender.

Der Major nickte. Fran sprang sofort auf, um einen Kaffee zu holen. Stellte die Kanne, gleich mit auf den Tisch.

"Zucker oder Milch?"

Jacob schüttelte den Kopf und goss sich eine Tasse voll, nahm einen großen Schluck. Ließ den Schluck in genüsslich herunter rinnen, trank noch einen Schluck und fuhr dann mit seinen Erklärungen fort.

"Kein Mensch, kann in seinem Leben alles schlucken, auch keine Kahlyn. Ich denke mir, gestern ist hier folgendes passiert. Kahlyn, berichtete von ihrem Leben in der Schule. Ich denke mir, sie wird es nur oberflächlich angekratzt haben."

Eine Sturmwelle der Empörung, tobte um den Tisch.

"Ich weiß meine Herren, das, was sie erzählt hat, reicht um sie wütend zu machen. Unsagbar wütend, aber glauben sie mir, die schlimmen Sachen hat sie nicht erzählt", traurig schüttelte er den Kopf. "Ich glaube, darüber kann sie gar nicht sprechen. Irgendwann kam ein Punkt, als auch über Bestrafungen gesprochen wurde", Jacob blickte in Sender Richtung.

Dieser nickte bejahend.

"Hab ich es mir doch gedacht. Kahlyn, müssen sie wissen, ist diejenige, die von Mayer am meisten bestraft wurde. Sie ist diejenige, die sich immer schützend vor ihre Kameraden stellte. Kahlyn, ist ein Engel, ein unglaublicher Engel. Das werden sie, erst nach und nach begreifen lernen. Stellen sie sich folgende Situation vor:...", Jacob nahm einen großen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und rieb sich müde das Gesicht. "... Kahlyn kommt verletzt von einem Einsatz wieder, der nicht so gelaufen ist, wie Mayer sich das vorgestellte hatte. Mayer, zitiert sie und die anderen in sein Büro, nach einer halben Stunde Gebrülle, kommt nur er und Kahlyn aus dem Büro. Die anderen aber, gehen runter in ihren Schlafsaal. Mayer, allerdings, geht mit Kahlyn auf den Hof. Es ist ein wunderschöner Sommertag in der Mittagszeit. Kahlyn, muss sich nackt ausziehen und wird an einem Gestell aufgehängt, mit Armen, Beinen daran festgebunden und ausgepeitscht."

Ein wütender Aufschrei ging durch die Truppe.

"Sie sagt dazu keinen Ton. Als, wenn das nicht schon eigentlich genug Bestrafung wäre, reicht dass diesem Unmenschen immer noch nicht", schwer atmete Jacob und gegen seine Wut ankämpfend, rieb er sich seine Brust. Man sah ihm deutlich an, dass er Schmerzen hatte. "Nein das reichte Mayer nie. Obwohl der Einsatz erfolgreich war, die Kinder sich etwas Ruhe verdient hatten, musste er Kahlyn quälen", wieder nahm er einen Schluck Kaffee, dann wischte er sich Tränen der Wut aus den Augen. "Wenn er keine Lust mehr hatte, Kahlyn auszupeitschen, holte er sich Salzwasser und goss es über die Wunden auf Kahlyn Körper. Er nannte das immer, Sauberwaschen. Bevor Kahlyn auspeitschte und sauberwusch, ging er um Kahlyn herum und nahm ihr ihre Brille weg. Alleine das wegnehmen der Brille, hätte genügt, um sie zu bestrafen, wenn sie wirklich einmal etwas gemacht hätte. Mayer allerdings, musste sie immer noch mehr quälen. Also peitschte er sie auch noch aus und spülte sie sauber."

Mühsam stützte Jacob den Kopf auf die Hände, versuchte sich zu beruhigen. John sah mitleidig auf den Arzt. Wie musste der sich wohl gefühlt haben, wenn er das jedes Mal miterleben musste? Jacob hatte sich wieder, einigermaßen beruhigt.

"Das ging oft über Tage so. Keiner von uns traute sich Kahlyn von dem Gestell zu holen. Weil Kahlyn es uns verboten hatte. Nach dem Mayer, einen von uns deshalb, fast erschossen hätte. Kurz vor dem nächsten Einsatz, kam er, ließ Kahlyn vom Gestell herunter und schickte sie zu mir hoch, zur Behandlung. Sie kam dann immer zu mir rein und begrüßte mich. ‚Doko, drö kirema, atul, semro. Mön Doko.' Das heißt - 'Doktor, Helfe mir die Wunden zu verkleben, meinen Augen helfen, ich habe keine Zeit. Danke Doktor.‘ Kaum hatte ich ihre Wunden und ihre Augen versorgt, gab sie mir einen Kuss und weg war sie. Aber immer, wirklich immer, hat sie gelacht. Wenn sie Kahlyn ein wenig besser kennen, sehen sie, wenn sie lacht oder weint. Zurück zu der Situation. Kahlyn ging schnell duschen, zog sich sauber Wäsche an und verschwand mit den anderen, zum nächsten Einsatz", Jacob goss sich Kaffee nach. "So, sahen die letzten fünfzehn Jahre von Kahlyns Leben aus. Jetzt stellen sie sich vor. Auf einmal sind nur noch Menschen um sie herum, die diese Art Zuneigung als Horror empfinden. Die diese Behandlungen als Menschenunwürdig einstufen. Würde sie das nicht auch völlig durcheinander bringen. Sie sind aber erwachsen, das Mädchen dort hinten ist trotz ihrer Kampferfahrung, immer noch ein Kind. Kahlyn hat in all den Jahren, so oft schwere Verletzungen gehabt. Die sie so manches Mal, nicht alleine behandeln konnte. Aber eins war immer das Gleiche. Ich war fertig mit der Behandlung, sie stand auf und ging zu ihrer Truppe. Keine halbe Stunde später, war sie beim nächsten Einsatz, nicht ein einziger Einsatz, in den letzten dreizehn Jahren, fand ohne Kahlyn statt. Sie stand immer vorn, an erster Stelle, nie hat sie andere die gefährlichen Sachen machen lassen. Ich fragte sie einmal, warum sie die anderen, das nicht machen lässt und sich ein wenig schont. Wisst ihr was sie mir sagte. ‚Doko, ich kann doch nicht die anderen, in den Tod schicken, wie soll ich damit klar kommen?‘", schwer atmete der Arzt, immer wieder rieb er sich seine Brust. Dann stand er auf, um aus seiner Tasche Tropfen zu holen. Er durfte sich nicht so aufregen, überlegte er sich. Nahm drei Tropfen auf die Zunge, setzte sich wieder, auf seinen Platz. Die Männer die an dem Tisch saßen, kämpfen gegen ihre Emotionen an und bekamen keinen Ton heraus.

"Glauben sie mir, ich habe nicht nur einmal versucht, dieses Untier davon abzuhalten. Kahlyn schimpfte dann immer mit mir. ‚Doko höre auf damit‘ sagte sie immer ‚er tut dir sonst noch etwas an, wer soll uns dann noch beschützen? Wer soll dann meine Wunden versorgen? Was wird dann aus Dika? Mir macht das nichts aus, beruhige dich, Bitte.‘ Dann nahm sie mich in den Arm und tröstete mich. Ich hätte sie trösten müssen und nicht umgekehrt. Ich erzähle ihnen dass nur, damit sie verstehen, was Kahlyn für ein Mensch ist und wie meine Kleine tickt. Glauben sie mir, Kahlyn würde niemals zulassen, dass jemand von ihnen verletzt würde, solange sie das verhindern kann. Würden sie aber verletzt, täte sie alles, was in ihrer Macht stände, um sie zu retten. Das ist Kahlyn", er nickte den Männer zu. "Aber um auf gestern zurück zukommen. Ich denke bei dem erzählen, steigerte sie sich in diese ganze Sache hinein. Durch die Trennung der Kinder, leiden diese im Moment an einer Art Nervenfieber, das durch die fehlende Verbindung entstanden ist. In ihrer Aufregung, merkte sie nicht, dass eine neue Attacke dieses Fiebers auf sie zukommt. So, erwischte es sie mit voller Stärke. Normalerweise, können die Kinder gegen Fieber ankämpfen. Sind selbst, wenn sie hochfiebrig sind, noch bei vollem Bewusstsein und einsatzfähig. Fieber, heißt bei den Kindern nicht nur, dass sie sich unwohl fühlen, sondern dadurch, dass es so extrem hoch ist, bedeutet das auch wahnsinnige Schmerzen. Ab einem bestimmten Schmerzlevel, können die Kinder die Schmerzen nicht mehr ertragen und fangen einfach an zu schreien. Ich sage dann immer, sie sind im Nirgendwo, in einen Bereich zwischen Bewusstsein und Bewusstlosigkeit. Fallen sie dann in die Bewusstlosigkeit, übernimmt das Unterbewusstsein die Steuerung und sie sind wieder still", wieder nahm Jacob einen Schluck Kaffee. Er sah wieder etwas besser aus. "Diese Kinder können Schmerzen ertragen, die sie sich nicht mal annähernd vorstellen können. Nach dem Jens, Kahlyn Medikamente gegeben hat, schlief Kahlyn wie viele Stunden?", wandte er sich jetzt an John.

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht genau, kurz vor 4 Uhr hab ich noch mal auf die Uhr gesehen, da schlief sie noch. Ich weiß nicht, wann ich eingeschlafen bin. Ich denke so kurz nach 4 Uhr. Eingeschlafen ist sie gegen 19 Uhr."

"W-w-w-a-aaaas?", rief Jacob erstaunt aus und sah John ungläubig an. "Das sind über neun Stunden, so lange hat Kahlyn noch nie, in ihrem ganzen Leben geschlafen. Sie ist wirklich fertig. Normal brauchen die Kinder zwei Stunden Schlaf, um wieder fit zu sein. Sie war also wirklich ausgeschlafen und es ging ihr wieder gut."

John schüttelte den Kopf. "Nein, es kann ihr nicht gut gegangen sein, sonst hätte sie doch nicht jetzt schon wieder Fieber."

Jacob sah traurig zu John. "John, das Fieber, hat andere Ursachen. Das kommt vom Blocken. Kahlyn, ist ein Mädel, das sehr viel nachdenkt. Kann aber dadurch, dass sie in einer ganz anderen Welt groß geworden ist, mit vielen Sachen die für uns normal sind, nicht umgehen. Bekommt sie ein Problem, das sie nicht kennt, zum Beispiel Fürsorge obwohl es ihr super geht, kann es vorkommen, dass sie das falsch interpretiert. Nun ist sie aber nicht gewohnt zu fragen, warum oder weshalb, sondern hat von klein auf gelernt, Befehlen zu gehorchen. Sie haben ihr befohlen ins Bett zu gehen, stimmt das?"

Gleichzeitig nickten John, Sender und Karpo. Jetzt war Jacob endgültig klar, was in Kahlyn Kopf vor sich ging.

"Damit haben sie es zwar gut gemeint, unser Kahlynchen aber total überfordert. Die drei Menschen, die sie am meisten mochten, schickten sie ins Bett. Kahlyn, wusste gar nicht, was sie dort soll. Wenn sie nicht gerade mal todmüde oder schlimm war, hat sie immer gearbeitet. Sie ging also ins Bett und fing an zu überlegen, was sie das alles hier soll? Ich kann mir schon fast denken, auf welche absurden Gedanken, die Kleine kam. Irgendwann war ein Punkt erreicht, in dem ihre Gedanken so konfus wurden, dass sie nicht mehr klar kam. Früher war Rashida da und sagte das ist Quatsch, hör auf mit diesem Unsinn. Aber jetzt war sie alleine. Ihr müsst euch das wie ein Hamsterrad vorstellen. Der Hamster möchte raus, kann aber nicht, weil das Rad sich ständig dreht. In diesem Rad, ist jetzt Kahlyn gefangen. Dort muss ich sie heraus holen", eine Weile schwieg Jacob und überlegte, ob er sich Rashida zur Hilfe holen sollte. Aber auch sein großes Mädchen lag hochfiebrig im Bett und kam mit all dem nicht klar. Ihm war bewusst, dass er das diesmal alleine machen musste. "Jetzt komme ich auf dem Punkt, der mir so überhaupt nicht gefällt. Den ich aber wahrscheinlich anwenden muss, wenn meine Frau keinen Zugang zu mehr ihr findet. Ich muss Kahlyn dort unbedingt heraus holen. Warum erkläre ich ihnen gleich. Aber erst erkläre ich ihnen wie, damit ich das hinter mir habe. Kahlyn, ist wie sie merken nicht mehr ansprechbar, je länger ich warte umso schlimmer wird es. Deshalb, werde ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Auch, weil es etwas ist, was ich wie den Tod hasse. Trotzdem bleibt es die einzige Möglichkeit, jetzt noch zu ihr Zugang zu finden. Ich muss ob ich es will oder nicht Oberstleutnant Mayer zu spielen."

"Wie, sie wollen sie schlagen?", stöhnte John auf.

Seine Kollegen starrten Jacob, alle entsetzt und schweigend an und waren zu keiner Reaktion mehr fähig.

"Ja, das muss ich wahrscheinlich machen. Ich hoffe sehr, dass ich das vermeiden kann. Aber, es heißt schon brutal, bösartig und gemein zu ihr sein. Und sie können sich einmal eine kurze Vorstellung darüber machen, wie die Kinder die letzten sechszehn Jahre behandelt wurden. Obwohl ich das nicht wirklich bringen. Sonst hat diesen Pat immer Rashida, Kahlyns beste Freundin übernommen, aber auch sie liegt wie alle Mitglieder des Teams 98 krank im Bett. Sie sind nicht die Einzigen die Probleme mit ihren Schützling haben. Mayer zu spielen, tut meinem Herzen, ganz und gar nicht gut. Im schlimmsten Fall, muss ich sie sogar richtig schmerzhaft schlagen. Aber nur, wenn meine Frau keinen Zugang zu ihr findet. Dann werde ich das tun müssen, so weh wie mir das tut. Das gefährliche an dem Zustand ist, das in zwei oder drei Stunden das Fieber wieder weg ist. Kahlyn kommt hier vor, verhält sich nach außen hin ganz normal. Der einzige Unterschied den sie merken würden, wäre, dass sie zum Beispiel John, wieder mit Sir anspricht, also in die alten Muster verfällt. Beim nächsten Einsatz der käme, würden sie sie ganz normal mitnehmen und sie würde alles versuchen, um sie zu schützen. Nach dem Einsatz allerdings, würden sie schlafen gehen. Wenn ihr dann am nächsten Morgen aufwacht, läge in Kahlyns Bett eine Leiche", Jacob rieb sich müde das Gesicht.

"Wie macht sie das?" Hinterfragte John ängstlich.

Jacob zuckte mit den Schultern und sah ihn verlegen an. "Das kann ich ihnen nicht genau sagen. Es kommt auf den Einsatz an und die Art des Kampfes, in den sie verwickelt wird. Aber eins ist immer gleich, es wäre die unschönste und brutalste Art die ich überhaupt kenne. Denn anders geht es nicht. Diese Kinder sind für Worte nicht sehr aufgeschlossen. Wenn sie blocken, prallen die Worte an ihnen ab, wie ein Prellball", schwer holte der Arzt Luft. "Ich möchte sie bitten, wenn ich etwas machen sollte, was ihnen überhaupt nicht zusagt, bitte mischen sie sich nicht ein. Es fällt mir sowieso schon schwer, dieses Spiel mit ihr zu spielen. Bitte, diese Sache kostet mich wahnsinnig viel Kraft und tut meinem Herzen überhaupt nicht gut. Ich mache das nur, um Kahlyn zu helfen, nicht um ihr weh zu tun. Ich liebe die Kleine, wie mein eigenes Kind. Bitte", flehend sah der Arzt, die Männer an.

"Wie macht sie das?", wiederholte John seine Frage.

Jacob schon auf das, was ihm gleich bevorsteht konzentriert, missverstand diese Frage völlig.

"John, das weiß ich nicht. Ich entscheide das spontan. Aber eine Frage habe ich an sie. Habt ihr hier einen Wasserschlauch, den ich nutzen könnte."

Sender nickt. "Unten auf dem Hof, dort wo wir die Fahrzeuge waschen."

"Zeigen sie mir den Weg dahin und bitte, bleiben sie hier. Ich bin nicht stolz, auf das was ich dann gleich machen muss und brauche dabei nicht noch Zuschauer. Es reicht schon, dass sie sich das anhören müssen."

Sender sah John an, der stand auf.

"Kommen sie mit Herr Doktor, ich zeige ihnen, wo sie lang müssen."

Sie machten sich die beiden auf den Weg.

 

Anna fand das Zimmer mit Kahlyn sofort und ging zu ihrem Spatzen, wie sie Kahlyn gern nannte. Ich wälzte mich von Alpträumen geplagt, auf meiner Pritsche herum.

Anna setzte sich zu mir. "Kahlyn, hörst du mich?"

Leider nahm ich nichts, von alle dem wahr. Anna versuchte es mit allen Tricks, die sie sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte. Keiner davon half, mich zurückzuholen. Über eine Stunde, versuchte sie Zugang zu mir zu finden. Immer, wenn sie mich berühren wollte, schlug ich um mich. Selbst die Umschläge, die Sender und John noch machen konnten, ließ ich bei ihr nicht mehr zu. Zum Schluss saß sie nur noch da und redet mit mir. Auch wenn ich kein Wort verstand. Nichts drang mehr bis in mein umnebeltes Bewusstsein vor. Dann kam Doko Jacob. Traurig schaute er auf seine Frau, die schüttelte den Kopf.

"Ist schon gut Anna, ich weiß, du hast alles versucht, mein Engel", er nahm sie in den Arm, drückte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.

"John, kümmern sie sich bitte um meine Frau. Für sie ist das noch schlimmer als für mich."

John nickte und nahm sich der jetzt weinenden Frau an.

"Bitte gehen sie. Es ist nicht schön, was ich jetzt machen muss. Lassen sie die Tür auf."

Doko Jacob setzte sich auf mein Bett, sah mich lange an. "Kahlyn, kannst du nicht zu mir kommen, bitte. Ich will das alles nicht mit dir machen Kleines. Es bricht mir das Herz. Tu mir das doch nicht an."

Aber ich reagierte nicht auf ihn. Über eine halbe Stunde versuchte Jacob, alles Mögliche, um doch noch Zugang zu mir zu finden. Es war vergebliche Mühe. Selbst, wenn ich es gewollt hätte, ich war so weit weg, dass ich nichts von alledem um mich herum mehr wahrnahm. Doko Jacob schüttelte den Kopf und rieb sich das Genick. Am liebsten würde er jetzt weglaufen. Aber was hätte das genutzt, es wäre gleichzusetzen mit meinem Todesurteil. Das wusste er zu genau. Jacob stand kurz entschlossen auf und räumte den Stuhl zur Seite, auf dem er gerade gesessen hatte. Mühsam holte er Luft. Es nutzte nichts, er musste es tun. Je länger er wartete, umso schlimmer würde es für ihn und seine Kleine werden. Jacob zog eine Koppel aus der Jackentasche, die er sich von John hat geben lassen. Faltete sie doppelt zusammen und schlug zu. Gleichzeitig brüllte der Arzt los.

"Leutnant Kahlyn, was faulen sie hier auf dem Bett herum, es ist Alarm. Raus hier los, los, los, los…"

Wieder schlug er zu, diesmal aufs Bett, so dass es laut knallte. Er riss mich am Arm, aus dem Bett. Ich stieß mit meinem Kopf gegen das Bettgestell über mir und fiel auf die Füße. Wieder traf mich ein Schlag. Ich versuchte mich zu schützen. 'Immer schlag mich du Arsch', dachte ich bei mir. Wieder brüllte die Stimme etwas und zog mich wieder auf die Beine. Wieder traf mich ein Schlag. Dieser warf mich zu Boden. Ich war ganz benommen. 'Schlag mich nur, irgendwann räche ich mich an dir'. Wieder höre ich, von ganz weit weg die Stimme.

"Auf die Beine, du faules Stück Dreck. Hoch mit dir Bastard, es ist Alarm, auf die Füße du Affenarsch."

Ich bekam im Unterbewusstsein nur das Wort Alarm mit. Das Brüllen und diese Stimme. Ich kannte sie. Es war nicht die des Oberstleutnants. Es war jemand anderes.

"Bewegen deinen faulen fetten Pferdearsch. Was kriechst du hier auf dem Boden herum, wie eine Made, du kleiner Mistkäfer."

Wurde ich angebrüllt und wieder traf mich ein Schlag. Ich versuchte ja, auf die Beine zu kommen. Aber ich schaffte es nicht. 'Was war los mit mir', fragte ich mich. Von weitem hörte ich die Stimme brüllen

"Hoch mit dir Missgeburt. Ein wenig Beeilung, du kleine stinkende Kröte."

Ich rappelte mich auf. Gleich darauf fiel ich wieder. Die Stimme brüllte mich an. Aufzustehen. Eine Hand griff, wie ein Schraubstock zu. Zehrte mich auf die Füße. Ich bemühte mich ja auf die Beine zu kommen und vor allem zu bleiben.

"Hoch mit dir Warzenschwein. Du wirst hier nicht fürs rumliegen bezahlt, hoch los, los, los du Dreckschwein."

Ich wollte, dass es aufhörte. Schon bekam ich einen Stoß in den Rücken und wurde durch den Raum gestoßen. Prallte gegen eine Tür. Ein heißer Atem traf mich in den Nacken. Ich versuchte aufzustehen, doch meine Beine gaben nach. Wieder zog mich jemand hoch, um mich wieder auf die Beine zu bekommen und stieß mich nach vorn, so dass ich laufen musste. Mein Kopf tat so weh. 'Wo bin ich?' Immer wieder kam der gleiche Befehl.

"Bewegen deinen Arsch du Made. Es ist Alarm, wird es bald du Bastard."

Ich taumelte einen Gang entlang, den ich nicht kannte. Dann ging es eine Treppe hinunter.

"Mach hin du Stinktier. Die Truppe wartet nur auf dich du dreckiges Stück Scheiße."

Wieder wurde ich gestoßen. Fast stürzte ich die Treppe hinunter.

"Beeilung, wir müssen zur Antonow, Oberstleutnant Mayer wartet."

Ich kannte hier nichts. Ich wusste nicht, wo ich war. Wieder wurde ich gestoßen. Schlug hart mit dem Kopf gegen die Wand. Ich musste unbedingt richtig munter werden. Automatisch schüttelte ich den Kopf. 'Wieso schlafe ich noch?'

"Mache hin du Bastard. Deine Leute warten schon auf dich. Sollen wir sie ohne den Teamleiter los schicken, du Missgeburt? Willst du das verantworten, du elender Kotzbrocken?"

Mein Team ging es mir durch den Kopf. Wieso hatten sie mich nicht mitgenommen. Vor allem, warum hatten sie mich nicht geweckt. Dann wurde ich durch eine Tür gestoßen und gegen eine Wand geschleudert. Ich fing mich ab. Langsam kam ich zu mir. 'Wo bin ich', fragte ich mich, 'was ist nur los?' Auf einmal traf mich ein Wasserstrahl und riss mir meine Brille vom Gesicht. Das Licht, es stach in meine Augen. Ich brüllte auf. Versuchte Luft zu bekommen. Da ich den Wasserstrahl genau ins Gesicht bekam. Ich kämpfte jetzt gegen das Licht und das Wasser. Das mir die Luft nahm. Es dauert ewig, bis ich klar denken konnte. Auf einmal war es vorbei. Das Wasser war aus und ich rutschte an der Wand herunter. Schritte kamen auf mich zu.

"Kahlyn?", sprach mich jemand an und dann drückte mir jemand meine Brille in die Hand. Vorsichtig setzte ich diese auf. Darauf gefasst gleich wieder Schläge zu bekommen. Diese blieben jedoch aus. Ich konnte wieder etwas sehen. Da stand mein Doko vor mir. 'Wie kommt der hierher? Wo bin ich überhaupt?' Ging es mir durch den Kopf. Ich sah ihn völlig verwirrt an.

"Doko, was ist los? Wo bin ich? Wo ist mein Team?"

Er reichte mir die Hand und ließ mich von ihm hochziehen. Kam auf die Füße und schwankte. 'Was ist mit mir los?'

Er zog mich in seine Arme. "Kleines, wenn ich so etwas noch mal mit dir machen muss, sterbe ich. Ich kann das nicht mehr. Ich kann das wirklich nicht mehr", Doko ließ mich los und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand. Besorgt sah ich ihn an.

"Doko dein Herz? Macht es wieder Probleme?", ich wusste nicht, was los war. Verstand gar nichts mehr. "Doko, wo ist mein Team und die Antonow?" Verwundert sah ich mich um.

Doko lachte. "Ach Kleine, komm gehen wir hoch. Ich muss mich ein wenig hinsetzten. Mir ist ganz schlecht", sprach mein armer alter Doko. Er tat mir so leid.

"Komm, ich gebe dir gleich etwas. Ich muss nur meinen Koffer finden. Wo ist der überhaupt und wo sind wir eigentlich? Das ist doch nicht die Schule."

Jacob lachte. "Nein, das ist nicht die Schule. Kahlyn, du hast geblockt. Wir haben dich nicht rausbekommen aus deiner verdammten Blockade. Weder die Dika noch ich. Deshalb musste ich das mit dir machen. Aber Kahlyn, ich kann das nicht mehr. Du weißt, mir hat das noch nie gelegen. Kontrolliere dich besser, so etwas darf nicht mehr passieren."

Jetzt fiel mir alles wieder ein. Ich war in Gera auf der neuen Dienststelle. Aber ich wusste nicht mehr, was passiert war. 'Verdammt, was ist nur los mit mir?' Wir gingen zur Treppe, dort setzte sich der Doko erst einmal. Ich setzte mich neben ihn und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Legte meinen Arm um seinen dicken Bauch. Er tat mir leid. Jetzt hatte er sich wieder wegen mir so aufgeregt. Ich überlegte, ob ich ihm auf meine Art helfen konnte. Sein Herz schlug nicht gut. Dika, hat mir erklärt, dass er sich nicht immer so aufregen durfte. Sonst bliebe sein Herz eines Tages ganz stehen. Ich ahnte ja nicht, dass es wieder so schlimm war. Kurz entschlossen stand ich auf und nahm meine Brille ab. Gab sie dem Doko zum Halten. Bereit einer meiner Fähigkeiten, das Krantonak, einzusetzen. Die ich sehr selten benutzte, da sie kostete mich viel Kraft.

"Doko, schließe die Augen und öffne sie erst, wenn ich es dir sage, bitte."

Verwunderte antwortete er mir. "Was ist los Kleines? Setze deine Brille auf. Deine Augen sind sowieso schon wieder entzündet."

Ich klopfte ihm auf die Schulter. 'Alles weißt du immer noch nicht von uns, mein guter alter kugelrunder Doko.'

"Vertraue mir einfach, schließe deine Augen und lass sie zu. Bis ich dir sage, du sollst sie wieder öffnen."

"In Ordnung."

Ich kniete mich vor ihm hin und fing an tief zu atmen. Dann öffnete ich die Augen und sah auf sein Herz. Ich konnte, wenn ich mich stark auf meine Augen konzentrierte, Energieimpulse die einen heilenden Einfluss hatten, auf kranke Körperstellen schicken. Keine Ahnung wie das funktionierte. Aber auf diese Art, konnte ich viel Dinge richten, aber auch andere schlimme Sachen machen. Durch puren Zufall, bekam ich das heraus, als einer aus unserem Team eine schwere Verletzung hatte. Das war vor mehr als fünfzehn Jahren. Nur kostete mich das alle Kraft die ich hatte. Deshalb setzte ich das sehr selten ein. Nur dann, wenn nichts anderes mehr half oder nur diese Möglichkeit blieb, um sofort zu helfen. Bei meinem Doko musste ich das jetzt machen. Er atmete so ungleichmäßig. Ihm durfte einfach nichts geschehen. Wieder konzentrierte ich mich auf sein Herz, ein rotes Licht drang in seine Brust ein. Ich konnte fühlen, wie sein Herzschlag ruhiger wurde. Auch hörte ich, dass sein Atem nicht mehr so stoßweiße ging. Ich sah sein Herz, es schlug jetzt gleichmäßig und kräftig, ich schloss die Augen, sank mit dem Kopf auf Dokos Knie.

"Du kannst die Augen wieder aufmachen", hauchte ich noch.

Ich fühlte mich leer. Ich wusste, ich hätte das nicht jetzt machen dürfen. Mir ging es nicht so gut, aber Doko ging es noch schlechter. Ich würde mich schnell erholen.

"Was hast du gemacht Kleines? Mir geht es auf einmal wieder gut."

"Gezaubert, Doko", murmelte ich schwach. Griff nach meiner Brille, setzte sie wieder auf. "Lass mich, einen Moment bitte."

Er nickte, sah mich aber ernst an. Ich drehte mich um, lehnte meinen Rücken an seine Beine und schloss die Augen, atmete tief ein und aus. Kämpfte darum nicht mein Bewusstsein zu verlieren. Selbst dieses kurze Krantonak brachte mich an meine Grenzen. Langsam ging es mir besser. Ich versuchte aufzustehen, aber es war noch zu früh. Doko schaute mich erschrocken an.

"Was ist Kahlyn?"

Ich konzentrierte mich auf meine Atmung. Ich musste wieder zu etwas Energie kommen. Zehn Minuten später, ging es mir wieder einigermaßen gut.

"Kahlyn, was ist los?", erkundigte sich mein guter dicker alter Doko, immer wieder.

"Es ist nichts, nur kostet mich das, was ich gerade mit dir gemacht habe, viel Kraft. Aber es geht wieder und wie geht es dir, Doko?"

Der schaute mich von oben an. "Gut Kleines. Du überraschst mich wieder. Du musst mir dann erzählen, was du gemacht hast. Mir ging es gerade gar nicht gut."

Ich nickte und stand langsam auf. Doko nahm mich in den Arm. Ich ließ es geschehen. Er und Dika Anna waren die einzigen Menschen, bei denen ich mich immer wohl gefühlt hatte. Wir stiegen langsam die Treppe hoch. Es fiel mir schwer. Aber es ging mir etwas besser. Nur war ich immer noch wackelig auf den Beinen. Wir kamen in den Bereitschaftsraum und dort sah ich Anna, meine Dika, meine liebe Schwester Anna. Sie war zu mir gekommen. Mein Herz schlug einen Purzelbäume. Doko beobachtete mich von der Seite.

"Na komm, gehen wir hin."

Bei ihr angekommen schaute ich sie an, am liebsten würde ich sie umarmen. Aber dazu konnte ich mich nicht entschließen. Es waren zu viele fremde Menschen hier.

"Na Kleines, alles in Ordnung?" Anna nahm mich in den Arm, ich genoss es.

"Ja, wenn du da bist immer, Dika Anna. Ich hab dich so vermisst", flüsterte ich ganz leise.

"Das glaube ich dir. Ich dich auch Spatz. Aber, du hast hier viele nette Freunde. Alle machen sich große Sorgen um dich. Kannst du mir sagen, was los war?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nicht genau. Ich weiß nur noch, sie haben mich einfach weggeschickt. Obwohl ich nicht krank war. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Dika, ich möchte nach Hause. Nehmt ihr mich wieder mit, bitte", flehend sah ich, von Dika zu Doko.

Beide schüttelten traurig den Kopf. "Es geht nicht. Aber, wenn du willst, kannst du uns immer besuchen", erklärte mir meine Dika.

Ich schüttelte den Kopf. Drehte mich einfach aus Annas Armen und lief zu meinem Spind. Ich musste einen Moment alleine sein. Das Anziehen trockener Sachen gab mir etwas Luft, zum Nachdenken. Jetzt wusste ich, was ich schon geahnt hatte. Dass sie mich nicht mehr haben wollten. Also musste ich versuchen, aus der Lager hier, das Beste zu machen. Ich zog meine nassen Sachen aus und trockene an. Dann ging ich zurück zum Tisch.

 

"Kahlyn", sprach mich Sender an, als ich mich gesetzt hatte. "Ist es hier wirklich so schlimm? Dass du wieder in diese Hölle willst?"

Ich zuckte mit den Schultern, was sollte ich dazu sagen, sie verstanden mich ja doch nicht.

Doko zog seinen Stuhl zu mir. "Kleines, was ist hier so schlimm, dass du wieder zu dem Oberstleutnant willst. Erkläre es mir, bitte Kleines."

Ich sah meinen Doko an. "Es ist doch egal, ihr wollt mich ja nicht mehr. Dann kann ich auch hier bleiben", antwortete ich trotzig und war kurz davor, wieder dicht zu machen.

"Kahlyn, natürlich wollen wir dich noch. Dass wir dich nicht nach Hause holen, hat nichts damit zu tun, dass wir dich nicht mehr haben wollen. Ich verstehe nur nicht, warum du wieder nach Hause willst. Sind deine Kollegen so schlimm, dass du es mit ihnen nicht aus hältst oder an was liegt es. Erkläre es mir, damit ich es verstehen kann."

Traurig sah ich meinen geliebten Doko an, zog die Füße auf den Stuhl und begann zu weinen. Nach einer Minute, hatte ich mich wieder gefangen und hob den Kopf, sah den Doko unglücklich an.

"Das versteht ihr ja doch nicht. Ihr wollt mich ja nicht mehr. Dann ist es eh alles egal. Dann kann ich auch hier bleiben", stellte ich trotzig fest. Niedergedrückt sah ich von Dika zu Doko.

"Kahlyn, erkläre mir warum. Ich verstehe es nicht, bitte Kleines."

Warum sah er es denn nicht? Sah er nicht, was hier los war? Warum begriff er nicht, dass ich hier nicht her gehörte?

"Kann ich mit dir alleine reden, bitte."

Doko Jacob erhob sich, sah kurz zu Sender.

Der Major nickte.

"Komm, wir gehen hinter."

Ich stand auf und folgte ihm. Wir gingen einfach in Senders Büro.

"Erzähle", forderte mein Doko nur.

Aber ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. "Es ist alles verkehrt hier Doko, wirklich alles."

Doko nickte. "Ich weiß, das haben mir die anderen auch schon gesagt. Aber keiner von ihnen, hat solche akuten Probleme, wie du. Sie haben alle gebrochen und ein Teil hatte auch sehr hohes Fieber. Aber keiner hatte so schlimme Ausfälle, wie du. Woran liegt das Kleines?"

Wieder einmal wusste ich keine Antwort und zuckte nur mit den Schultern. 

"Weißt du, was wir machen Kahlyn. Könntest du die vorstellen mit den Jungs da vorne, einmal über einen ganz normalen Tag zu reden. So wie du ihn kennst. Vor allem, lässt du dir von ihnen sagen, wie bei ihnen ein ganz normaler Tag aus sieht. Vielleicht lernst du dann schneller, wie das hier alles funktioniert. Oder, was ist hier so schlimm, das du wieder zurück willst. Zurück in diese Gott verdammte Hölle. Kleines wir sind froh, dass du jetzt endlich in Sicherheit bist. Kannst du dir nicht vorstellen, dass wir froh sind dich aus den Klauen des Oberstleutnants zu haben? Was ist hier so schlimm, dass du zu diesem Unmenschen zurück willst? An uns beiden kann es doch nicht liegen?"

Ich lehnte mich an seinen dicken Bauch und fing an hemmungslos zu weinen. So, wie ich es oft gemacht hatte, wenn ich verzweifelt war. Es hatte mir immer geholfen. Doko streichelte mir über den Rücken. Auch wenn selten Träne aus meinen Augen liefen und ich noch seltener schluchze, wusste er doch, dass ich weine. Halt auf meine Art. Er ließ mir Zeit die ich brauchte, damit meine Tränen versiegten. Nach einer Weile hatte ich mich wieder beruhigt.

"Nun erzähl mal, was los ist? Hängt es mit deinen Freunden zusammen?"

Ich nickte, sie fehlten mir so sehr.

"Kahlyn", jetzt schob mich Doko so weit von sich weg, das er mir in die Augen sehen konnte. "Kleines, deine Freunde gehen nicht mehr in die Schule zurück. Keiner von ihnen will je wieder dahin. Wenn du zurückkommst, bist du dort ganz alleine. Hier hast du aber viele neue Freunde, die sich aus Sorgen um dich, um den Schlaf bringen. John, hat dich stundenlang gepflegt, genau wie Sender. Fran, hat Dika seit Stunden im Verhör, um heraus zubekommen, was du gerne magst. Doko Karpo, hat die ganze Nacht über deinen Unterlagen gebrütet, um irgendetwas zu finden, was dir helfen kann. Sender, ist zwischen dich und den Oberstleutnant gegangen, um dich zu beschützen, John, hat diesen Unmenschen sogar geschlagen. Brauchst du noch mehr, um zu begreifen, dass hier Menschen sind die dich mögen."

Fassungslos starrte ich Doko an, so hatte ich es noch gar nicht gesehen. "Ich dachte…", fing ich zögernd an.

Doko ergänzte meinen Satz. "Du dachtest, die anderen wollen auch zurück."

Ich nickte.

Doko schüttelte den Kopf. "Nein Kleines, die haben alle Sehnsucht nach dir. Aber die wollen nie wieder in die Schule. Kannst du das nicht verstehen."

Und ob ich das verstehen konnte. "Doch das kann ich. Ich will ja auch nicht zu dem Oberstleutnant zurück. Aber ich komme hier nicht klar. Du weißt Doko, ich habe immer alle geführt und beschützt. Hier komme ich mir unnütz vor."

Doko nickte. "Jetzt endlich weiß ich, was los ist mit dir. Hier ist niemand, den du beschützen musst, denkst du."

Ich sah Doko an, nickte. "Ich will doch nur meine Freunde beschützen, Doko", würgte ich mehr heraus als dass ich sprechen konnte. Irgendwie wollte meine Stimme nicht so wie ich.

"Du siehst das falsch, meine Kleines. Du hast hier erst einen einzigen Einsatz mitgemacht. So, wie mir Sender gesagt hat. Aber ist es nicht so, dass du deine neuen Freunde auch beschützen musst, Kahlyn?" Doko schaute mir ernst in die Augen. "Kleines, du hast die härteste, aber auch die beste Ausbildung bekommen, die man sich vorstellen kann. Gegen euch, selbst gegen Raiko, sind das hier alles blutige Anfänger. Du musst nur lernen umzudenken. Helfe ihnen besser zu werden und zeige ihnen aller Tricks, die du kennst. Lerne deine neuen Kameraden erst einmal richtig kennen. Dann findest du Aufgaben, die du erfüllen kannst."

Wieder schüttelte ich den Kopf, Doko verstand es nicht. "Doko, ich verstehe nicht, was die von mir wollen. Nur während eines Einsatzes, verstehe ich sie und sie mich. Ansonsten weiß ich nicht, was ich mit denen machen soll. Verstehst du nicht, sie verstehen mich nicht und ich sie nicht."

Wütend sprang ich auf und lief wie ein gehetztes Tier in Senders Büro herum. Wieder kam diese verdammte Wut, die ich kaum bändigen konnte. Am liebsten würde ich schreien, um endlich diesen wahnsinnigen Druck in mir loszuwerden. Doko ließ mich laufen. Er wusste es half mir etwas den Druck abzubauen. Langsam bekam ich mich wieder unter Kontrolle. Doko klopfte auf den Platz neben sich.

"Komm mal her Kleines. Setzt dich, zu deinem alten Doko. Sag mal kannst du dich daran erinnern, wie wir zwei angefangen haben, uns verstehen lernten? Weißt du wie lange das gedauert hat? Fast drei Jahre, haben wir gebraucht bis wir Freunde wurden, aber heute Kleines sind wir das doch oder?"

"Ja." Sage ich ziemlich kleinlaut

"Na siehst du, geb den Jungs hier ein halbes Jahr Zeit. Glaube mir dann habt ihr euch aneinander gewöhnt. Du weißt, dass ich dich nicht anlüge. Versuche es wenigstens." Doko musterte mich ernst.

Ich nickte. "Vielleicht hast du ja recht. Aber ich weiß nie, wie ich mich verhalten soll. Das macht mich einfach fertig."

Da sagte Doko einen Satz, den ich schon mal gehört hatte. Nämlich von John. Vielleicht hatten sie beide Recht und ich verlangte wirklich zu viel von mir.

"Kahlyn, du warst sechszehn Jahre bei uns im Projekt und hast dort deine Verhaltensnormen gelernt. Hier geht es halt mal anders zu. Du kannst von dir nicht verlangen, dass du in vier Tagen das vergisst, was du in sechszehn Jahren gelernt hast. Außerdem sollst du das ja auch nicht alles vergessen. Nur ganz kleine Kleinigkeiten, das meiste bleibt ja so, wie du es gewohnt bist."

Nachdenklich schaute ich meinen Doko an. Wieder lehnte ich mich an seinen dicken Bauch. Wie sehr ich diesen dicken Bauch liebte. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass da drinnen ein Backofen war. Ich musste lachen, weil ich mir das gerade bildlich vorgestellt hatte. Doko, der das immer bemerkte, wenn ich was lustig fand, erkundigte sich schmunzelnd.

"Lachst du mich jetzt an oder aus Kahlyn?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein Doko, ich hatte grad einen lustigen Gedanken. Aber vielleicht hast du Recht. Ich werde es versuchen."

Doko klopfte mir auf die Schulter. "So ist es richtig. So gefällst du mir wieder. Das ist meine Kahlyn. Ein kleiner Kämpfer der nie aufgibt. Das steht dir besser als so eine Heulsuse", stichelte Doko etwas.

Jetzt lachte Doko und ich mit ihm. Er hatte ja Recht. Was half es Dingen nachzuweinen, die man nicht ändern konnte. Also musste ich versuchen, hier das Beste draus zu machen. Wir standen auf und gingen wieder nach vorn zu den anderen. So schlecht waren die Jungs ja nicht, ging es mir durch den Kopf. Vielleicht lernte ich das alles ja noch. Doko Jacob legte seinen Arm auf meine Schulter und zog mich an mich. Alle waren ruhig und starrten uns an.

"Na ihr Zwei", meine Dika sah fragend mich und Doko an. "Habt ihr eine Lösung für Kahlyns Probleme gefunden."

Doko musste lachen und ich lachte mit ihm. Da lächelte auch meine Dika und strahlte mich an. "So kenne ich meine Kahlyn, immer lachend. Da geht es mir gleich besser. Also setzt euch und erzählt."

Die anderen sahen verwundert zu Dika. Sie sahen mich nicht lachen. Aber meine Dika schon. Sie kannte mich halt sehr genau. Ich setzte mich auf meinen Platz. Den Platz neben John, meinen neuen Freund, der immer für mich da war. Bevor ich etwas sagen konnte, stellte mir Fran ein Teller mit Essen hin.

Er befahl im ernsten Ton. "Bevor hier irgendwas besprochen wird, isst Kahlyn erst einmal."

Seine Stimme klang so ernst, dass alle anfangen zu grienen. Sie kannten ihren Koch. Fran meinte das, was er sagte. Doko Jacob allerdings nickte dankend. Jetzt wusste er seine Kleine, in guten Händen. Hier würde sie wenigstens nicht hungern müssen. Trotzdem fing Doko an zu reden.

"Ich denke, ich habe Kahlyns Hauptproblem heraus gefunden. Kahlyn, du isst und hörst zu", wandte er sich an mich.

Ich würde mich vom Essen auch nicht abhalten lassen. Ich hatte einen mörderischen Hunger. Gerade überlegte ich, wann ich das letzte Mal etwas gegessen und auch bei mir behalten hatte. Mir fiel es einfach nicht mehr ein. So löffelte ich genüsslich den Brei, bekam ein molliges angenehmes Gefühl in den Bauch, während ich Doko zuhörte.

"Kahlyn", fing er an "ist wie ihr wisst sehr streng erzogen wurden. Es ist so, dass diese Kinder Worte, wie Freizeit, nicht kennen. Solange die Kinder auf der Welt sind, haben sie trainiert, gelernt, gekämpft. Erholungs- oder Schlafphasen, waren stets kurz bemessen. Vielleicht wäre es gut, wenn jeder aus ihrem Team, ihr mal erzählt, wie ein normaler Tag hier aussieht und wie viel Stunden ihr schlafen könnt. Was ihr so macht, wenn sie keinen Einsatz haben und was sie machen, wenn sie nichts zu tun haben. Das sind nämlich Sachen, die Kahlyn nicht kennt. Wenn Kahlyn fertig ist mit Essen, erzählt sie euch einmal, wie bei ihr ein sogenannter normaler Tag aussah. Vielleicht erkennt ihr dann einen Ansatz, wo ihr Eingreifen müsst, um ihr das Einleben hier zu erleichtern."

Hilfesuchend sah er zu Sender. Der zuckte mit seinen Schultern, begriff den Sinn des Ganzen noch nicht. Hoffte aber, dass er noch dahinter kommen würde.

"Tja, wo soll ich da anfangen?" Meinte er mehr zu sich selbst, als zu Kahlyn "Wenn ich hier Dienst habe, stehe ich um 5 Uhr 30 auf, gehe duschen, dann frühstücken. Dann, dass weißt du ja Kahlyn, verschwinde ich je nach Zeit und Wetter für eine Stunde, nach draußen in den Park. Die einzige Zeit die ich mir, für mich selber nehme. Das hat hier auch jeder akzeptiert. Die Kollegen wissen immer, wo sie mich finden können. Danach, das kommt immer darauf an, was anliegt, machen wir Training, Kondition, Kraft, Nahkampf, oder wir gehen in den Schießstand. Im Übrigen bin ich sehr neugierig, auf deine Ergebnisse dort. Haben Fortbildungen oder greifen den Kollegen vorn unter die Arme. Dann gibt es Essen, am Nachmittag muss ich leider sehr oft Schreibarbeit machen. Berichte schreiben oder lesen. Abends, gehen wir oft noch eine Runde laufen oder in den Kraftraum. Schauen auch einmal ein bissel Fern oder spielen Schach oder Karten. Dann geht es ins Bett. Wenn es irgend möglich ist, schlafe ich gern acht Stunden am Stück. Sind es weniger, bin ich kein richtiger Mensch. Das ist eigentlich ein normaler Tag, wenn keine Einsätze geplant sind oder dazwischen kommen. Kommt ein Einsatz dazwischen, läuft es ganz anders. Aber, das weißt du ja selber."

Endete Sender seine kurze Rede. Ich hustete, hatte ich mich doch bei dem Satz. "Acht Stunden" verschluckt. Ich überlegte krampfhaft, wann wir in der Schule mal acht Stunden geschlafen hatten, richtig geschlafen. Wenn wir nicht gerade schwer krank oder schwer verletzt auf der 6/rot lagen, der Krankenstation. Ich konnte mich nicht erinnern. Hilfe suchend sah ich zuerst zu Dika, dann zu Doko. Doko nickte mir zu. 

"Genau, das ist das Kahlyn. Was ich versuche dir zu erklären. Es gibt Sachen, die du nicht kennst. Aber hast du dich daran gewöhnt, wird es dir gut tun. Hier ist es nicht so schlecht, wie du denkst."

Ich begriff es trotzdem nicht. Raphael schaute mich an, dann ergriff er das Wort, obwohl ihm nicht wohl dabei war. Etwas war geschehen, was bei ihm selten vorkam. Es war noch nie vorgekommen, dass Raphael verunsichert war. Meistens sprach er, bevor der dachte. Aber bei mir hatte er einfach Angst, etwas Falsches zu sagen. Für Raphael erschien ich so verletzbar, das hat er noch nie erlebt. Er mochte mich, obwohl er mich gar nicht kannte. Er wunderte sich selber darüber. Da er auf solche Art Kritik wie ich sie angewandt hatte, eigentlich sehr empfindlich reagierte. Trotzdem konnte er sie mir nicht übel nehmen. Raphael holte tief Luft und begann zum Erstaunen seiner Teamkollegen sehr zögerlich zu berichten.

"Na ja, bei mir ist es ähnlich. Wenn ich im Dienst bin stehe ich meistens gegen 5 Uhr auf. Du musst wissen Kahlyn, ich laufe Frühs immer erst eine halbe Stunde im Park. Ich brauche das, um munter zu werden. Vor allem aber, um meinen Kopf frei zu bekommen. Wenn ich von draußen rein komme, gehe ich auch duschen, dann freue ich mich aufs Frühstück. Die Mahlzeiten hier, sind für mich immer die schönste Zeit. Da sitzen wir alle zusammen und man redet. Ich kenne das auch erst, seit dem ich hier bin. Wenn ich frei habe, vermisse ich das immer. Je nach dem, was für ein Tag ist, kommt dann das Training. Das macht mir am meisten Spaß. Ich liebe es, mich auszupowern. Am meisten mag ich das Nahkampftraining mit John, der fordert mich immer. Da kann ich mich richtig austoben. Danach duschen und dann gibt’s Mittag. Meistens lege ich mich dann eine Stunde aufs Ohr. Ich brauche das, ab und an, weil ich sonst, wie sagt ihr immer, zu hippelig werde. Danach kommen meistens Schulungen, Weiterbildungen oder ich widme mich meinem Fernstudium. Ich möchte meinen Abschluss machen, als Dolmetscher für Russisch und Englisch. Wenn ich damit fertig bin, gehe ich gern in den Kraftraum. Auch wenn man mir das nicht ansieht, hab halt nicht so viel Muskelmasse, wie die anderen, bin ich da doch nicht schlecht. Dann Abendessen und dann halt, zu was wir Lust haben. Manchmal gehen wir in den Park rüber, ein bissel Ballspielen. Volleyball oder Fußball oder manchmal, wenn alle faul sind, dann laufe ich eine Runde. Danach duschen und dann lese ich ein bissel, das mache ich nämlich gern. Gegen 23 Uhr gehe ich dann meistens schlafen. Du musst wissen, oft haben wir solche ruhigen Tage nicht. Also nutzen wir die Möglichkeit zu schlafen, so oft wir das können. Also sechs bis sieben Stunden Schlaf, brauche ich auch, sonst bin ich kein Mensch", beendete nun auch Raphael seinen Vortrag.

So ging es weiter. Jeder erzählte ergänzend, was er so alles hier machte. Ich staunte nicht schlecht. So etwas hatte ich noch nie gehört. So etwas, kannte ich nicht. Doko behielt mich im Auge, aber er schien zufrieden zu sein. Nach dem ich meinen Teller leer gegessen hatte, fragte mich Fran ob ich noch mehr wollte. Klar würde gern noch mehr essen. Das durfte ich nicht. Doko, der mich genau beobachtete, schenkte mir ein Lächeln. Er wusste, dass ich in der Hinsicht vernünftig war. Nicht wie andere, mir ohne Ende Nahrung, in den Magen schlang. Es tat mir nicht gut. Ich musste im Gegensatz zu den anderen, immer sehr aufpassen, dass ich nicht zu dick wurde. Ich neigte dazu, schnell Fett anzusetzen. Ich mochte das nicht. Deshalb achtete ich immer darauf, nie zu viel zu essen. Vielleicht lag es auch daran, dass mein Körper, durch die Bestrafung mit Essensentzug gelernt hatte, stets eine Reserve zu bilden oder es fiel halt mehr auf, weil ich so klein war.

Jetzt war es an mir, einen normalen Tag zu schildern. Hilfesuchend sah ich zu Doko. Ich kannte keinen solchen Tag, wie die Männer mir hier geschildert hatten. Nicht mal in der Soko, beim Oberst, hatte ich solche ruhigen Tage. Ging es mir durch den Kopf. Ich überlegte krampfhaft, aber mir fiel nichts ein. Verlegen sah ich zu meiner Dika und dann zu meinem Doko.

"Doko, ich weiß nicht, was ich sagen soll?", fing ich verlegen und unsicher an.

Doko nickte er nahm seine Stuhl und kam zu mir. Setzte sich neben mich und legte seinen Arm, auf meine Schulter.

"Kahlyn erzähle doch den Jungs hier einmal, wie deine Woche ausgesehen hat, bevor du hierher gekommen bist. Ich glaube, das war eine der ruhigsten Wochen, die ihr seit langem hattet."

Ich nickte, wusste ich doch nicht, wie ich sonst hätte anfangen sollen, so hatte ich wenigstens einen Beginn. Ich holte tief Luft. Doko drückte mich an sich. Ich lehnte mich einfach gegen seine Schulter, zog meine Beine auf den Stuhl und fing an zu erzählen. Ich wollte niemanden ansehen. Ich musste mich konzentrieren, um mich an das zu erinnern, was damals gewesen war. Im Laufe der Jahre, hatten wir uns angewöhnt, alles zu vergessen, was unwichtig war. Sobald es vergangen war, schoben wir es in den Hintergrund. Sonst wären wir wahrscheinlich kaputt gegangen.

"Am 22. August, kamen wir von unseren Einsatz aus Cuba zurück. Wir waren fertig. Der Einsatz hatte fast drei Monate gedauert. In diesen drei Monaten hatten wir kaum geschlafen und kaum etwas zu essen bekommen. Wir waren einfach verbraucht. Viele von uns waren verletzt oder hatten Verletzungen, die am abheilen waren. Wir landeten auf dem Schulgelände und mussten, wie immer zum Rapport. Der Oberstleutnant war stinksauer. Bei diesem Einsatz war seine Lieblingsschülerin verletzt wurden. Er ließ die ganze Wut, an uns aus. Ich war die letzte die zum Rapport musste, weil ich noch einige der anderen, versorgen musste, mit Dokos Hilfe. Alles, kann ich unterwegs nicht richten. Oft mussten wir nachoperieren, um bleibende Schäden zu verhindern. Nach Beendigung der Operationen, meldete ich mich beim Oberstleutnant, um mir meinen Anpfiff abzuholen. Die anderen hatten mir schon gesagt, dass er eine furchtbare Laune hatte. Mich überraschte also nicht, wie er mich Willkommen hieß. Als er dann aber, alle auf den Hof schicken wollte, reichte es mir. Alle waren fertig, konnten sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten und der Oberstleutnant, wollte uns wieder einmal für etwas bestrafen, für was wir nichts konnten. Aber es half nichts, wir mussten alle raus in den Hof. Alle außer Rina, die war in der Zwischenzeit verstorben. Dort wurden uns die Brillen weggenommen und wir wurden wieder einmal an die Wand gehängt. Eine Wand, wo den ganzen Tag die Sonne drauf scheint. Dort ließ er uns hängen. Nach dem dritten Tag, holte er uns runter und wir konnten endlich duschen gehen. Doko brachte uns etwas zu essen. Dann gingen wir, zu unserem Baum. Wir wollten Rina verabschieden. Im Laufe der Jahre, sind so viele gestorben. Wir gingen auf unseren Baum, ich nahm die Kette von Rina, hängte sie zu den anderen. Jeder von uns erzählte, was er an Rina bewundernswert fand und was sie alles konnte. Es dauerte fast drei Stunden, sechzehn Jahre sind eine lange Zeit. Schließlich gingen wir zurück, in unser Zimmer. Fertig wie wir waren, ließen wir uns danach nur noch auf die Pritschen fallen, wir wollten nur eins, schlafen. An der Wand kann man nicht schlafen. Die Schmerzen durch das Licht in unseren Augen und die Schmerzen in den Armen, verhinderten das. Wir bekamen nach anderthalb Stunden, also kaum, dass wir etwas geschlafen hatten, den nächsten Einsatzbefehl. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Wir zogen uns an, gingen im Laufschritt zur Antonow, setzten uns hin, arbeiteten auf dem Flug dahin die Vorgehensweiße aus. So wie wir es immer machen. Aber die Aufklärung, hatte wie so oft, schlampige Arbeit geleistet. So zog sich der Auftrag, der eigentlich nur achtundvierzig Stunden dauern sollte, wieder in die Länge. Wir bekamen es, mit vielen Angriffswellen zu tun. Immer zwischen vierzig und fünfzig Leute, die ohne Pause, gegen uns Neun vorgingen. Einige Male, mussten wir uns zurück ziehen. Wir versuchten sie mit unterschiedlichen Taktiken, zum Aufgeben zu zwingen. Aber nichts half. Wir hatten glaube ich, zwei Schlafpausen gemacht, die zehn Minuten dauerten. Wir standen, zwischen zwei Fronten, waren in einen Hinterhalt geraden. Mussten uns fast ständig verteidigen. Den fünften Tag, beschlossen wir dann zum letzten Mittel zu greifen, wir beschlossen zu töten. Es ist immer der letzte Ausweg, wenn gar nichts anderes mehr funktioniert. Am 31. August um 17 Uhr 53, hatten wir den Kampf, dann doch noch erfolgreich beendet. Nur zu welchem Preis. Wir sahen noch nach den Verletzten. Unseren und denen der Widerstandszelle. Danach gingen wir zur Antonow, kurz nach 19 Uhr am 31. August hatten wir unseren Einsatz erfolgreich, wenn auch nicht unbeschadet beendet, wir flogen nach Hause. Das war anders gar nicht mehr möglich. Wir liefen alle am Limit. Hatten wochenlang kaum geschlafen und am 25. August das letzte Mal etwas gegessen. Es gab niemanden, der nicht verletzt war. Der Oberstleutnant, der bei diesem Einsatz dabei war, putzte uns alle runter. Ich ging nach meinem Rapport hinter und versorgte die andern. Vier Leute von uns waren schwerverletzt. Rafik hatte eine lange Schnittwunde im Bauch, eine Aorta war verletzt. Sina einen Kreuzbandriss und Bruch in der Schulter. Andi einen Nasen und Jochbeinbruch, der gerichtet werden musste. Rashida allerdings, hatte es am schlimmsten erwischt, sie hatte einen Lungendurchschuss. Ich verstieß gegen die Anordnung des Oberstleutnants, dass alle erst zum Rapport mussten und dann behandelt werden durften. Mir war es egal. Wir hatten erst jemanden verloren, beim vorhergehenden Einsatz. Ich wollte nicht noch mehr Leute verlieren. Rashida bekam als letzte ihren Anpfiff, dann war Ruhe. Ich hätte dann nur noch, meine Verletzung behandeln müssen. Ich konnte einfach nicht mehr. Über zwei Stunden hatte ich ohne Unterbrechung operiert. Obwohl ich mich vor Müdigkeit, kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich musste unbedingt etwas schlafen. Meine Hände zitterten, so presste ich einfach eine Binde, auf die starkblutende Wunde und versuchte eine Weile zu schlafen. Aber es ging nicht die Wunde blutete zu stark, ich konnte die Blutung kaum noch kontrollieren. Also holte ich mich nach zehn Minuten, aus dem nicht sehr tiefen Schlaf zurück und begann mit der Versorgung meiner Wunde. Es war eine tiefe Stichwunde, die knapp an der Lunge vorbei gegangen war. Nichts sehr schlimm, aber unangenehm. Im gleichen Moment, in dem ich mit der Wundversorgung fertig war, kam der Oberstleutnant und sah, dass ich nicht schlief. Wie denn auch? Er putzte mich runter. Wollte wissen, warum ich nicht schlafen würde. Wie ich aussehen wollte, wenn ich in der neuen Dienststelle ankomme. Was man dort, von mir denken würde? Na so halt, in der Art. Es war glaube ich kurz vor 22 Uhr 30, als er mich endlich in Ruhe ließ. Ich legte mich hin, versuchte zu schlafen, aber es ging nicht. Wie immer konnte ich nicht so schnell herunterfahren. Irgendwann schlief ich wohl doch ein. Um 22 Uhr 55 landeten wir in der Schule. Wir gingen duschen und zum Friseur. Anschließend gingen wir zum Appell. Dort bekamen wir unsere Ordner, mit der Personalakte und den Zeugnissen. Bekamen, als wir alleine mit dem Oberstleutnant waren, unsere letzten Anweisungen vom Oberstleutnant. Dann gingen wir zu den Taxen. Gegen 1 Uhr fuhren wir hierher."

Ich beendete meine Rede. Da ich die Augen geschlossen hatte, um mich zu konzertieren, sah ich erst jetzt die entsetzten Gesichter. Doko schob mich etwas von sich weg. Ich setzte mich wieder richtig hin.

"Verstehen sie jetzt meine Herren, was ich meine. Das war noch eine ruhige Woche."

Raphael, der wie immer Probleme hat, sich mit seinem Temperament zurück zu halten, platzt heraus. "Ruhige Woche? Das ist nicht ihr Ernst oder Herr Doktor. Das ist Stress pur." An mich gewandt, konnte er sich die Frage nicht verkneifen. "Kahlyn, du hast nichts zu essen bekommen, bevor du hierher gefahren bist? Nicht einmal schlafen können? Wie hältst du das aus? Sowas ist doch unmenschlich."

Doko antwortete für mich. Ich war froh darüber. Ich hätte nicht gewusst, was ich darauf sagen sollte.

"Wissen sie junger Freund, die Kinder in dieser Schule, sind nichts anderes gewöhnt gewesen, es war immer so. Zu Essen bekamen sie stets sporadisch etwas, sie konnten nie damit rechnen, dass sie etwas bekamen. Schlaf war ein Luxusgut, was sie mal genossen, wenn man sie ließ. Damit meinte ich das Schlafen, gesund und unverletzt in einem Bett, in den Einsätzen selber schliefen sie immer in Schichten. Die eine Hälfte schlief zehn Minuten, die andere Hälfte hielt Wache, dann wurde abgelöst. Hat die zweite Hälfte des Teams auch ihre zehn Minuten Schlaf, dann ging es weiter im Einsatz."

Doko streichelte mir über den Kopf. Ich ließ es gern zu. Ich mochte diese Geste, die mir immer das Gefühl von Geborgenheit gab.

"Vielleicht können sie jetzt nachvollziehen, weshalb es Kahlyn so schwer fällt, hier klar zu kommen. Vor allem, warum sie Kahlyn nicht verstehen kann. Hier geht alles ruhig zu und es sind Freizeiten im Dienst, es gibt regelmäßig etwas zu essen und vor allem Schlaf. Ein Leben, was Kahlyn und ihre Kameraden mit ihren sechzehn Jahren, noch nie hatte. Die Lehrer in der Schule, arbeiteten rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb. Anders wäre die Ausbildung der Kinder, in fünf Jahren, gar nicht machbar gewesen. Nur vergaß man dabei, dass diese Kinder neben der Ausbildung, auch noch Bedürfnisse hatten. Diese können sie erst jetzt entdecken und erleben." Wieder sah er zu mir. "Wissen sie, was ich in all den Jahren nie richtig verstanden habe. Obwohl ich mit den Kindern alt geworden bin. Es ist die Tatsache, dass sie menschlich geblieben sind."

Proteste kamen von allen Seiten. Man fand das, was der Arzt sagte unverschämt. Ich verstand auch nicht gleich, was Doko meinte und schaute fragend zu ihm rüber.

"Kahlyn was verstehst du nicht?", fragte er mich, in den Lärm hinein, den die anderen machten.

Plötzlich wurden alle ruhig. Sie wussten nicht, woher der Arzt wusste, dass ich etwas fragen wollte. Sie kannten mich halt nicht so gut, wie mein Doko.

"Doko, wie meinst du das, dass wir menschlich geblieben sind? Du warst es doch, der mir immer wieder gesagt hat, dass wir keine Tiere sind. Du warst es doch, der mir immer wieder gesagt hat, ich soll auf mein Herz hören und das nicht alles richtig ist, was die in der Schule mit uns machen. Du hast mir immer gesagt, wenn ich verzweifelt war, ich solle durchhalten. Irgendwann kommt der Tag, an dem die Gerechtigkeit siegt und wir ein Leben führen können, was uns zusteht. Ohne Schläge, Hunger und Schlafmangel. Ich habe das den anderen immer gesagt und das hat uns alles, durchstehen lassen. Warum sagst du so was jetzt?"

Ich schaute ihn böse an. Er lächelte mich an. Ach wie ich diesen Blick an ihm hasste. Ich wurde dann immer so wütend. Weil er mir damit zeigte, dass ich ihn missverstanden habe.

"Kahlyn, schau mich nicht so böse an. Du hast doch deine Frage gerade selber beantwortet und meine auch. Aber glaube mir Kindchen, es ist doch verwunderlich, dass ihr noch solche lieben Menschen seid. Dass ihr weder verbittert noch rachsüchtig geworden seid."

Jetzt verstand ich, was er meint. "Was würde es nutzen, wenn wir verbittert sind, Doko? Dann wäre das Leben doch noch schwerer gewesen und Rache ist kein gutes Motiv. Das haben wir in all den Einsätzen gelernt. Aber manchmal, war es schon schwer", setze ich traurig dazu. "Glaube mir Doko, ich habe nicht nur einmal mit den Gedanken gespielt, den Oberstleutnant zu töten. Es wäre mir ein leichtes gewesen. Im Training hatte ich hunderte Male, die Gelegenheit dazu. Er hätte nie eine Chance gegen mich gehabt", beschämt schaute ich auf meine Hände.

Doko nahm mein Gesicht und drehte es zu sich. "Warum hast du es nicht gemacht Kahlyn? Erkläre es mir, deiner Dika und den Jungs hier. Bitte."

Ich sah ihn lange an. "Es gibt zwei Gründe. Erstens, weil du dann traurig gewesen wärst. Weißt du noch, als mich der Oberstleutnant mal wieder so schlimm zusammengeschlagen hatte. Ich war glaube ich reichlich ein Jahr. Da hatte ich sechs gebrochene Rippen und zwei davon steckten in der Lunge. Da hast du mich wieder zusammengeflickt. Als du fertig warst, war ich so voller Wut. Damals habe ich dir gesagt, das macht er nicht noch einmal mit mir, das nächste Mal töte ich ihn. Du warst so wütend, auf mich. Hast mir wieder einmal erklärt, dass man niemals seine Fähigkeiten, gegen einen Menschen einsetzten darf, der schwächer ist als man selber. Es sei denn, man schützt damit andere. Ich habe mir das gemerkt und mir geschworen, es nie wieder zu vergessen. Hätte ich ihn also getötet, dann wärst du traurig gewesen und ich hätte, Zweitens, gegen eins unserer Gesetze verstoßen, niemals unsere Fähigkeiten gegen Schwächere einzusetzen. Höchstens dann, wenn wir dadurch helfen, andere zu verteidigen. Doko du weißt besser als jemand anderes, dass es niemanden gibt der stärker ist als wir. Wir könnten uns nur gegenseitig töten, andere töten wir nur, wenn man uns keine andere Wahl lässt. Nur dann, wenn das Leben unserer Gefährten, mit keinem anderen Mittel gerettet werden kann, nur dann greifen wir zum letzten Mittel, dem Tod. Vieles, was du mir erklärt hast, haben wir zu festen Gesetzen gemacht, nach dem wir immer gehandelt haben. Auch, wenn wir dadurch, öfters verletzt wurden. Wir haben immer versucht so vorzugehen, dass man nur dann tötet, wenn es keine andere Wahl mehr gab. Vielleicht bist du und Dika dran schuld", sagte ich dann mit einem Lächeln, das nur für ihn bestimmt war. "Das wir Menschen geblieben sind. Ohne euch beiden, wären wir vielleicht wirklich nur noch Tiere."

Erschrocken sahen mich Doko und Dika an, dann nahm er mich einfach in den Arm und drückte mich. Das tat so gut, ich liebte meinen Doko, mehr als alles auf der Welt. Aber das ist mir erst in den letzten Tagen richtig bewusst geworden. Ich könnte nie zulassen, dass er oder die Dika, wegen mir unglücklich wären. Ein Aufstöhnen ging, um den Tisch. Keiner konnte begreifen, was ich da sagte. Doko der wohl begriff, was in den anderen vor sich ging, wandte sich wieder an die Männer. Nach dem er mir, einen Kuss auf die Stirn gegeben hatte.

"Wissen sie meine Herren, es ist selbst für mich oft schwer, den Gedankengängen dieser Kinder zu folgen. Für Außenstehende, wie sie es sind, muss es fast unmöglich sein. Aber durch solche Gespräche, erhält man einen Einblick in diese Gedankenwelt. Was das töten anbelangt, muss ich allerding Kahlyn Recht geben, es gibt niemand der besser ist, als diese Kinder. Ich habe so oft zu gesehen beim Training und auch, wenn ich heute, der dicke alte Doko bin, war ich mal ein ausgezeichneter Nahkämpfer. Ich hatte bereits, als Kahlyn vier Monate alt war, keine Chance mehr bei ihr, obwohl ich den höchsten Dan im Judo den "Dan judan" also den roten Gürtel besitze und im ständigen Training war. Ich lag innerhalb von drei Sekunden, geschlagen auf der Matte. Da war Kahlyn hundertachtundzwanzig Zentimeter groß und knapp fünfunddreißig Kilo schwer. Ich dagegen ein ausgewachsener Mann, von hundertneunundachtzig Zentimeter und guten neunzig Kilo, durchtrainiert bis zum geht nicht mehr. Da ich täglich mit den Kindern und deren Betreuer trainiert hatte. Aber, um auf das zurück zu kommen, was ich ihnen über Kahlyn lernen wollte. Schön Kleines, dass du das mit den Rippen angesprochen hast", wieder sah er mich lächelnd an. "Jeder von ihnen, hatte schon mal eine Rippenfraktur, das bleibt beim Nahkampf nicht aus. Ihr wisst also alle, was das für ein Schmerz ist. Kahlyn kam vor, sieben Jahren von einem Einsatz wieder, schwer verwundet. Die Kinder waren in einen Hinterhalt geraden und von einer Übermacht, zum Rückzug gezwungen worden. Sie sammelten sich versorgten die schlimmsten Verletzungen, gingen mit einer härteren Strategie, so will ich es mal nennen, wieder nach vorn. Schlossen den Einsatz erfolgreich ab. Wie gesagt, Kahlyn kam nach dem Einsatz schwer verletzt zu mir auf die Krankenstation. Sie war kaum noch in der Lage zu laufen. Rashida und Kela brachten sie zu mir. Sie hatten rechts vier gebrochene Rippen, links drei und zwei Kugeln in den Lungen. Ich operierte sie mit Rashidas und Annas Hilfe. Wir legten sie auf die Krankenstation, da war es kurz nach 20 Uhr", fragend schaute er zu seiner Frau, die nickt lächelnd. "Wir hatten Angst, dass sie die Nacht nicht überlebt. Gegen 23 Uhr sah ich noch einmal nach ihr, da schlief sie tief und fest. Also beschloss ich mit meiner Frau, dass wir uns abwechseln, mit der Wache an ihrem Bett. Anna legte sich hin und ich wollte die erste Wache übernehmen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich gegen 2 Uhr eingenickt war. Um 2 Uhr 30 ging der Alarm los und ich schreckte hoch. Als ich in das Bett sah, war Kahlyn weg. Ich sprang auf und rannte nach unten in den Raum, in dem die Kinder schliefen. Die waren schon unterwegs, zur Antonow und auf dem Weg zum nächsten Einsatz. Einen Blick in Kahlyns Waffenschrank sagte mir, dass sie mit dabei war. Zwei Tage später kamen die Kinder zurück. Ich schnappte mir Kahlyn und schimpfte mit ihr, wie sie mit so einer schweren Verletzung, zu einem Einsatz gehen konnte. Wie sie das verantworten konnte? Kahlyn sah mich an, so wie sie es immer macht, wenn sie etwas nicht versteht. Den Kopf leicht schiefhaltend ‚Doko, ich war doch in Ordnung. Es tat nichts mehr weh und ich bekam wieder Luft. Also kann ich auch arbeiten. Außerdem weißt du doch, dass ohne mich das Team nicht ausrücken darf. Der Oberstleutnant hätte alle bestraft, wenn ich nicht gekommen wäre. Ist schon gut Doko ‘ Also sechs Stunden, nach ihrer schweren OP, stand sie wieder auf den Beinen und ging arbeiten. Ich habe das so oft erlebt", er atmete tief ein und aus, dann fuhr fort damit etwas zu erklären, was keine begreifen konnte, der diese Kinder nicht seit Jahren kannte. "Nun stellen sie sich vor, was vorgestern gewesen ist. Sie hatte hohes Fieber, ja, aber keine Lebensgefährlichen Verletzungen. John sie haben sie gepflegt, was ich total nett finde. Aber, was nicht wirklich notwendig ist. Lassen sie solche Sachen in Zukunft einfach, das kostet sie nur unnötige Kraft. Legen sie sich lieber zu Kahlyn und geben der Kleinen so die Ruhe zum Schlafen. Sie müssen wissen, die Kinder haben schnell mal extrem hohes Fieber und eine Temperatur von über 56,5 °C, das haut sie mal eine Weile von den Füßen. Manchmal denke ich, es ist eine Art Schutzmechanismus ihres Körpers. Wenn der Schlafmangel zu groß geworden ist. So, werden sie gezwungen zu schlafen. Haben sie dann drei oder vier Stunden Schlaf, stehen sie auf und sind wieder fit. Sie haben dann, um auf das Problem mit der Blockade zurück zu kommen, eins gemacht. In ihrer Fürsorge und ihrem Schutzdenken, was diese Kinder, wie sie jetzt ja selber gehört haben, nicht kennen, haben sie überreagiert", jetzt schaute mich Doko ernst an. "Bitte Kahlyn, höre jetzt genau zu, damit auch du begreifst, dass dir niemand etwas böses wollte. Wie gesagt sie haben, in ihrem Fürsorgedenken folgendes gemacht. Sie wollten, dass Kahlyn sich richtig erholt. Ausgehend davon, dass wenn sie oder ich krank sind, wir wochenlang das Bett hüten müssen. Das ist bei diesen Kindern nicht so. Sie erholen sich, in so einer rasenden Geschwindigkeit, dass es für unsereins nicht nachvollziehbar ist. Sie habe Kahlyn also ins Bett geschickt. Eine kranke und unausgeschlafene Kahlyn, hätte das ohne murren gemacht. Aber eine gesunde und ausgeschlafene Kahlyn, kam sich damit bestraft vor und hatte keine Ahnung, warum. Sie verstand es einfach nicht. Sie ging ins Bett und fing an zu grübeln. Da sie aber ihre Welt nicht versteht, sie ist ja erst wenige Tage hier. Zog sie falsche Schlussfolgerungen. Gedankengänge, die selbst ich nicht nachvollziehen kann. Sie holten sie dann nochmal aus dem Bett, damit sie mit Anna telefonieren konnte. In ihrer Panik, schrie sie um Hilfe, das ist auch der Grund, warum wir sofort gekommen sind. Anna und ich, haben am Anfang diesen Fehler auch gemacht. Anna versprach ihr, in der Hoffnung, dass sie es schafft so lange hier zu bleiben, dass wir gleich kommen werden. Machte ihr aber klar, dass es ein paar Stunden dauern würde. Als sie ihnen Bescheid gab, dass Anna sie noch einmal sprechen wollte, Jens, das sagte sie nicht mehr Doko zu ihnen. Sondern sprach sie wieder mit Sir an. Stimmt’s?", fragend sah Doko, seinen Kollegen Karpo an der ihm bejahend zunickt. "Sehen sie, sie war also schon tief, in einer gebildeten Meinung verankert. Egal, was meine Frau gesagt hätte, sie hätte sie da nicht mehr heraus bekommen. So ging sie wieder in das Bett, sie ja hatte den Befehl bekommen. Wie ich meine Kahlyn kenne, fing sie wieder an zu grübeln. In der Schule, waren dann die anderen Kinder da, die sie da heraus holten. Aber hier nicht, hier war sie alleine. Also versank sie immer mehr in der Meinung, dass sie alle jetzt ihr wahres Gesicht gezeigt haben. John, der sie gepflegt hatte, motzte sie an und schickte sie, obwohl sie einsatzfähig war, ins Bett. Der Major, der für sie sogar sein Leben riskiert hatte, schimpfte mit ihr und schickte sie ins Bett. Doko Karpo, der ihr half, als es ihr schlecht ging und dem sie deshalb vertraute, schimpfte mit ihr und schickte sie gesund ins Bett. Sie begriff die Welt nicht mehr. Wissen sie, diese Kinder können mit Gewalt umgehen, aber nicht mit Zuneigung oder Fürsorge. Das sind Welten die sie nicht kennen. Auch, wenn meine Frau und ich, immer versucht haben, es ihnen zu geben. Sie kommen damit nicht richtig klar. Was auch noch wichtig ist, sie sind zwar Kampferfahren, aber sie sind Kinder von sechszehn Jahren, die ihre Welt nicht kennen. Ich denke das Resultat, was Kahlyn bei ihren Überlegungen heraus bekam war, das war hier alles ein Test von Oberleutnant Mayer und sie war sich darüber im Klaren, dass sie diesen nicht bestanden hatte."

Ich staunte über meinen Doko, genauso waren meine Gedankengänge.

"Kahlyn, deinem Gesicht nach zu urteilen. Liege ich richtig oder?"

Ich nickte.

"Tja, ich kenne dich ja nun schon ein paar Jahre. Ich denke auch mit meinen restlichen Schlussfolgerungen, liege ich richtig. Du hast beschlossen Schlafen zu gehen, stimmt’s Kleines?"

Wieder nickte ich. Aber diesmal schaute ich auf meine Hände, darauf war ich nicht stolz.

"Schlafen gehen?" John, ahnte Unheil.

"Ja John, schlafen gehen. So nennen es die Kinder, wenn jemand stirbt. Kahlyn, kannst du den Leuten hier erklären, was das bedeutet, ich weiß nicht, wie ich das erklären soll."

Ich schüttelte den Kopf, aber ich antworte trotzdem. 

"Ich weiß nicht, ob ich das erklären kann, Doko. Rina ist schlafen gegangen. Vielleicht kann ich es an ihr erklären. Rina fiel fünfunddreißig Meter in die Tiefe, das ist keine schlimme Sache, die uns umbringt. Euch vielleicht, uns aber nicht, wir brechen uns vielleicht etwas oder holen uns ein paar Prellungen, aber wir sterben nicht. Rina hatte, wie jeder andere von uns, ihren Koffer beim Kampf dabei. Außerdem war sie eine gute Ärztin. Sie hätte sich ohne Probleme behandeln können. Auch, wenn sie vielleicht nicht ganz so gut war wie ich. Aber sie hätte nicht sterben müssen. Sie ließ ihre Verletzung, einen Riss in der Lunge unbehandelt. Als wir sie fanden, sah ich, dass sie Blut in der Lunge hat. Ich weiß nicht wie ich das erklären soll, ich sehe so etwas einfach. Ich wollte sie gleich behandeln. Aber Rina wollte es nicht. Also ließ ich sie, jeder von uns hat die Möglichkeit, selber zu wählen, wann er schlafen geht. Daran darf ihn keiner hintern. Ich hatte ihr noch gesagt, dass wir nur noch wenige Tage durchhalten mussten. Dann wären wir frei, hatte Dika uns erklärt. Aber sie hatte das Leben so satt, sie wollte einfach nicht mehr. Ich hoffte so, dass sie es sich noch einmal überlegt. Also versuchte ich, in der Antonow zu retten, was zu retten war. Als wir zum Oberstleutnant, zum Rapport mussten, hatte sie den Schlag nicht abgefedert, so dass alles wieder aufging. Nach dem sie vom Rapport kam, ging ich mit ihr zu Doko, aber es war zu spät. Keine drei Minuten später, war sie Tod. Sie hatte den Tod gewählt. Sie hatte schon seit Chile gesagt, also seit über zwei Jahren, dass sie nicht mehr konnte."

Ich legte meinen Kopf auf die Arme und weinte. Ich hatte Rina geliebt. Doko nahm mich in den Arm und ließ mich weinen. Es tat gut.

"Aber du warst nicht verletzt." Max trocken schluckend.

Da ich nicht antworten konnte, übernahm es Doko.

"Nein, sie war noch nicht verletzt. Aber bei dem nächsten oder übernächsten Einsatz, wäre folgendes passiert. Kahlyn, wäre absichtlich, einen oder mehreren Schlägen, Stichen oder Schüssen nicht ausgewichen. Hätte diese mit ihrem Körper abgefangen, ohne dass das irgendjemand von ihnen auch nur gemerkt hätte. Nach dem Einsatz wären sie bestimmt alle Duschen gegangen. Kahlyn, allerdings wäre in ihr Bett gegangen, ungeduscht. Duschen, hätte sie nicht gehen können, dann wäre ihre Verletzung aufgefallen. Sie hätten sich nichts dabei gedacht, die Kleine ist halt todmüde. Hätten sie wahrscheinlich noch zugedeckt, aber eins hätten sie gemacht, sie hätten sie schlafen lassen. Am nächsten Morgen wären sie alle aufgestanden und hätten sich gewundert, dass Kahlyn nicht aufsteht. Vielleicht ist sie noch müde, doch gegen Mittag, so wie ich sie einschätze, wären sie dann doch unruhig geworden, hätten nach ihr gesehen. Allerdings hätten sie dann nur noch ihren Tod festgestellt, da sie schon in der Nacht verblutet war. Glauben sie mir, ich habe das oft genug erlebt, in der Schule. Erst seit dem ich mit Kahlyn die Vereinbarung habe, dass sie alle, wirklich alle untersucht, starb selten jemand, auf dies bestialische Weiße. Kahlyn, stimmt das, was ich sage?"

Ich nickte.

Sender sprang auf und kam um den Tisch gelaufen. "Das ist jetzt nicht dein Ernst Kahlyn, sag mir, dass das nicht dein Ernst ist."

Was sollte ich sagen, es war so. Hätte mich Doko, heute nicht aus der Blockade geholt, wäre es so gekommen.

"Sir, doch, Sir. Es tut mir leid Sir."

Sender hockte sich vor mich hin, wie er es schon ein paarmal gemacht hatte. "Kahlyn, verdammt noch mal, muss ich dich jetzt, nach jedem Einsatz untersuchen oder dazu zwingen duschen zu gehen."

Ich schüttelte den Kopf. "Sir, nein Sir. Ich mache das ja nicht, Sir." Als ich den ungläubigen Blick Senders sah, setzte ich nach. "Sir wirklich nicht, ich hab ja kapiert, was mir der Doko heute erklärt hat, Sir. Ich mache jeden Fehler, nur einmal, Sir. Ich verstehe, dass es ein Fehler war, er wird nicht mehr vorkommen, Sir."

Sender verdrehte die Augen, ihm ging dieser verdammte Sir auf die Nerven. Aber er wollte jetzt nicht auch noch damit anfangen. Wieder einmal kam mir Doko zu Hilfe.

"Major Sender, ich glaube nicht, das Kahlyn noch einmal diesen Fehler macht. Ich müsste mich, in meinem kleinen Mädel, total irren. Dass ich so falsch liege mit meiner Einschätzung, kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Kahlyn, denkt immer gerade. Sie kennt keine Hintergedanken, Falschheit oder Boshaftigkeit. Wenn sie sagt, sie hat begriffen, dass es ein Fehler war, können sie ihr glauben. Oder aber, man müsste die Kleine, so sehr in die Ecke drängen, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, außer den Tod."

"Kahlyn, es stimmt doch was ich sage?"

An mich gewandt, sagte Doko jetzt mit ernster Miene, er merkte dass dieses Sir, den Major aufregte. Als ich nickte, fuhr er fort.

"Eine andere Sache noch. Diesen Sir, das kannst du dir hier sparen. Das hier, sind alles deine neuen Kameraden. Du deckst ihren Arsch und sie deinen. Die Situation schweißt euch doch zusammen und verträgt das Sir nicht, denn dazu gehört ein gewisses Vertrauen. Wenn du außerhalb der Dienststelle bist und einen Ranghöheren Offizier triffst, ist das Sir in Ordnung. Aber hier, innerhalb der Gruppe, kannst du es weglassen. Deine Freunde hast du doch auch nicht mit Sir angesprochen. Das hier sind deinen neuen Freunde, Kameraden oder Kampfgefährten, suche dir aus, wie du sie nennen willst. Also höre auf mit dem Rumgeziere, das gehört sich nicht", damit war für Doko die Sache vom Tisch.

Für ihn war das immer alles Einfach. Für mich leider nicht. Aber ich nahm mir vor, es zu versuchen. Sender sah mir lange ins Gesicht. Dann nickte er und stand auf. Beim Aufstehen, blickte er auf die Uhr und erschrak.

"Hilfe Leute, wisst ihr, dass es jetzt gleich 21 Uhr ist. Wir haben noch kein Abendbrot gegessen und ich muss noch Akten, über Akten lesen. Also Leute folgendes. Fran du machst Abendbrot, die anderen helfen Fran. John, Detlef und Kahlyn kommen in mein Büro."

Damit drehte der Major sich um und ging in Richtung Büro. John, Detlef und ich folgten ihm. Die anderen fingen an, sich zu unterhalten. Ich sah zu Dika und Doko, lächelte ihnen zu. Folgte Sender in sein Büro. Wenn auch mit einem unguten Gefühl. Ich wusste nicht, was er von mir wollte. Im Büro angekommen sprach Sender, Serow sofort an.

"Detlef kannst du mir ein Gefallen tun? Ich habe im Moment einfach keinen Nerv dafür. Kannst du den Bericht über den Einsatz vorgestern schreiben, der muss unbedingt raus. Ich bekam heute schon einen Anpfiff. Aber ich bin einfach noch nicht dazu gekommen. Bitte."

Serow nickte lächelnd. "Das kann ich mir vorstellen. Mache ich dir gleich fertig. Sonst noch was?"

Sender schüttelte den Kopf. "Nein, Detlef erst einmal nicht."

Sofort drehte sich Serow um und verließ Senders Büro.

"So jetzt zu Euch beiden, setzt Euch."

Erschrocken blickte ich zu John, dann zu Sender. John der wohl merkte, dass ich nicht wusste, was das sollte, lächelte mir zu. Er ahnte, dass es nichts Schlimmes war, was auf sie zu kam.

"Setz dich Kahlyn, es ist nichts Schlimmes", meinte Sender der wohl bemerkt hatte, dass er den falschen Ton anschlug. John setzte sich auf die Stuhllehne meines Stuhles, als wenn er über mich wachen würde, das gibt mir eine gewisse Sicherheit. Keine Ahnung, ob ihm das bewusst war, aber ich war ihm dafür unendlich dankbar.

"Warum ich noch einmal mit euch beiden reden wollte, ist folgendes."

Sender stand noch einmal auf, um sich einen Kaffee zu holen. Hielt die Tasse zu uns hin. Als John nickte, nickte ich auch, in der Hoffnung dass ich diese Geste, richtig verstanden hatte. Sender lächelte mir zu, also hatte ich richtig verstanden, was er meinte. Er reichte John einen Kaffee mit viel Zucker, mir meinen schwarz, nahm sich einen mit Milch. Dann setzte er sich auf seinen Platz. Nachdenklich trank er einen Schluck und fing dann an zu sprechen.

"Es geht um folgendes. Kahlyn, weißt du, was mir vorhin klar geworden ist, bei dem Gespräch mit deinem Doko?"

Ich schüttelte den Kopf, traute mir aber nichts zu sagen, weil ich nicht wusste, wie.

"Ich habe dich auf der einen Seite total überschätzt, du bist ein Kind. Unerfahren im Umgang mit Menschen, wie wir es sind. Erzogen, zum absoluten Gehorsam. Auf der anderen Seite, habe ich dich vollkommen unterschätzt. Du bist viel erfahrener im Kampf und viel härter im Nehmen, als wir es uns überhaupt vorstellen können. Beides ist nicht gut. Aber, das wird sich im Laufe der Zeit ändern. Du wirst lernen, wie du mit uns umgehen musst und wie du mit uns klar kommst. Aber wir, werden auch von dir lernen können, besser zu werden, im Kampf. Also haben wir alle einen Vorteil. Wir werden stärker, wir lernen zu denken, wie der andere zu kämpfen und zu handeln", er blickte mich ernst an und sah dann ernst zu John.

"John, du ahnst was ich vorhabe. Aber ich muss es Kahlyn erklären. Kleene, sag mal, weißt du, was eine Patenschaft ist."

Ich schüttelte wieder den Kopf, antworte leise. "Nein", wollte ich doch umsetzen, was mir mein Doko vorhin erklärt hatte. Wusste aber nicht so richtig wie. Ich beobachtete Sender genau, oft konnte man bei den Betreuern, Lehrern, Doko und auch Dika, genau im Gesicht ablesen, ob man etwas richtig oder falsch gemacht hatte. Sender Gesicht zeigte Erstaunen, was mir deshalb nicht entging, wusste ich aber nicht, wie ich das einordnen konnte.

"Also Patenschaft heißt, dass du einen Ansprechpartner bekommst, der immer für dich da ist. Ich denke, weil ihr zwei schon etwas Vertrauen aufgebaut habt, sollte John das machen, wenn er das möchte."

John lächelte strahlend zu seinem Chef, dann zu mir.

"Klar mache ich das, wenn Kahlyn das will?"

Ich zuckte mit den Schultern, weil ich nicht wusste, was sie von mir wollten. Da ich mir nicht traute etwas zu sagen, schwieg ich lieber.

"Kahlyn, das heißt. Wenn dir etwas durch den Kopf geht, mit dem du nicht klar kommst. Gehst du einfach zu John und fragst ihn. Ich weiß meine Kleene, es ist nicht deine Art, Fragen zu stellen. Aber Kleene, wenn du das, was die letzten Tage passiert ist, nicht wiederholen willst, musst du lernen das zu machen. Könntest du das versuchen?", wieder sah er mich, mit diesem komischen Blick an, den ich nie verstanden hatte.

Leise sagte ich für mich Sir, dann laut. "Ich werde es versuchen." Dann wieder ganz leise für mich Sir. So hatte ich es eine Weile bei John gemacht und mittlerweile fiel es mir schon ganz leicht, bei ihm den Sir ganz wegzulassen. Erleichtert atmete John wie auch Sender auf.

"So, das hätten wir. John, ich würde gern noch einmal mit Kahlyn alleine sprechen."

John musterte Sender.

"Keine Angst, ich werde sie nicht überfordern. Ich habe meine Lektion gelernt."

John nickte und stand von meiner Lehne auf, drückte mir beruhigend meine Schulter. Sofort ging er zur Tür und verließ das Büro.

"So Kahlyn, jetzt wo wir alleine sind, muss ich doch einmal, ein wenig mit dir schimpfen", als er sah, wie ich mich versteifte, fügte er schnell hinzu. "Keine Angst, es wird nicht schlimm", er kam, um den Schreibtisch herum, setzte sich auf die Kante. Dann stellte er seinen Fuß auf die Sitzfläche meines Stuhles und sah mich fragend an. "Kahlyn, bist du dir eigentlich im Klaren darüber, dass du mich in den letzten vier Tagen, mehr Nerven gekostet hast, als die Jungs hier in einem ganzen Jahr?"

Ich wusste nicht, was er von mir wollte. Deshalb zuckte ich mit den Schultern. Ich glaube, das wird eine dumme Angewohnheit bei mir, schoss es mir auf einmal durch den Kopf.

Ganz leise zu mir sage ich. Sir "Ich weiß nicht, was sie meinen", leise sagte ich für mich, noch einmal Sir.

Verunsichert, sah ich auf meine Hände. Was hätte ich sonst machen sollen. Sender merkte sofort, dass ich überhaupt nicht verstand, was er meinte. Deshalb änderte er seine Vorgehensweiße. Sender nahm seinen Fuß vom Stuhl und hockte sich vor mich hin.

"Sieh mich bitte mal an Kahlyn", vorsichtig nahm er mein Kinn und hob es soweit hoch, dass ich ihm in die Augen blicken musste.

"Sag mal, habe ich irgendwelche Ähnlichkeit, mit dem Oberstleutnant? Dass du solche Angst vor mir hast."

Ich hatte keine Angst vor ihm. Warum auch? Er hatte mir doch nie etwas getan. Ich hatte ja nicht einmal Angst vor dem Oberstleutnant. Angst machte mir nur das, was ich nicht verstand. Dinge die ich verstand, konnten mir keine Angst einjagen. Auf die konnte ich mich einstellen, gegen die konnte ich mich wehren. Ich verstand wieder einmal nicht, was ich von diesen Menschen halten sollte. Sender ließ mir Zeit zum Nachdenken.

Sir, sage ich Gedanken. "Ich habe keine Angst vor ihnen. Nicht mal vor dem Oberstleutnant, habe ich Angst", das zweite Sir, vergaß ich selbst zu denken.

"Warum, Kleene, kannst du dann nicht mit mir sprechen, wie mit John? Warum schreckst du vor allem, was ich dir sage zurück? Ich verstehe das nicht."

Ich holte tief Luft, wie soll ich ihm das erklären. Aber Doko hatte Recht. Ich musste unbedingt Vertrauen aufbauen. Wie sonst sollte ich im Kampf jemand vertrauen. Ich rieb mir das Gesicht, wusste ich doch nicht, wie ich das erklären sollte.

"Ich weiß nicht, wie ich ihnen das erklären soll. Mir fehlen die Worte. Es ist schwer für mich, so etwas in ihrer Sprache zu erklären."

Ich suchte nach Worten. Ich kannte diese Wörter, hatte sie aber noch nie laut benutzt, nicht einmal bei Doko und Dika.

"John, müssen sie wissen ist mit mir auf der gleichen Rangebene. Ich akzeptiere ihn. Aber sie Si…" wieder falle ich in alte Gewohnheiten zurück.

"Ist nicht schlimm Kahlyn, das wird dir noch oft passieren, es reißt dir keiner den Kopf ab", beruhigte Sender mich lächelnd.

"Aber sie, sind mein Vorgesetzter, wir mussten immer den Respekt zollen. Ach, ich weiß nicht wie ich das sagen soll", verzweifelt rieb ich mir den Nacken.

"Kahlyn, rege dich nicht wieder so auf. Wir können das auch später machen", Sender der merkte, dass ich überfordert war.

"Nein, ist schon gut, sie haben ja Recht, Genosse Major. Aber es ist schwer zu erklären", wieder machte ich eine Pause, mir fehlten einfach die Worte. 'Ich habe noch nie mit einem Vorgesetzten, ein solches Gespräch geführt', ging es mir durch den Kopf.

"Sag mal Kahlyn, könntest du dir eventuell vorstellen, mich wie alle anderen, einfach Rudi zu nennen. Dann geht das vielleicht auch mit dem Sir besser. Weißt du mir ist es doch egal, was ich für einen Rang habe. Selbst der Rang vom Polizeirat ist mir schnuppe. Weil mir der Mensch dahinter um vieles wichtig ist. Kannst du das verstehen."

Ich nickte und sage leise "Ja."

Sender lächelt. "Weißt du, ich habe mit dem Polizeirat, über fünfzehn Jahre Dienst geschoben. Davon fast sieben Jahre hier in der Einheit. Wir haben uns so oft gegenseitig den Arsch gerettet, dass es uns egal ist, welchen Rang, wer hat. Wir wissen, was wir für Menschen sind."

"Ich weiß, was sie meinen, das geht wohl allen so, die miteinander kämpfen. Es ist ein blindes Vertrauen da. Ich weiß, dass mein Hintermann auf mich aufpasst, hätte ich das Gefühl nicht, wäre es schlimm in einem Kampf", erklärte ich ihm einfach einen Gefühl folgend. Es waren die richtigen Worte, Sender nickte mir zu. "Aber im Kampf, ist das alles einfach. Da zählen Ränge nicht. Da zählen nur das Überleben und der Sieg. Hier, ist das schwieriger."

Verlegen schaute ich wieder auf meine Finger. Die begannen wieder einmal Übungen zu machten, ohne dass ich das wollte. Aber ich war nervös und musste einfach irgendwo Druck ablassen. Meine Finger waren dazu gut geeignet. 

"Ich glaube dir das gern, was du grad gesagt hast. Vor allem nach dem, was ich heute von dir gehört habe. Kleene, weißt du was: du hast so viel Zeit, du musst das doch nicht alles gleich lernen. Mir reicht es schon, wenn du mir eine Frage ehrlich beantwortest", er sah mich fordernd an. "Würdest du mir dein Leben anvertrauen?"

Ich nickte. "Ja, das würde ich immer tun. Sie haben, obwohl sie wussten, dass sie danach Schmerzen haben werden, sich schützend vor mich gestellt. So etwas macht keiner, wenn er nicht jemanden beschützen will. Keiner nimmt Schmerzen auf sich, wenn er es nicht muss."

Sender lachte erleichtert, dann stand er auf und streichelte mit der Hand über meinen Kopf. Etwas, was sonst nur Doko und Dika machen durften. Ich ließ es geschehen und es tat so gut.

"Darf ich sie auch etwas fragen?", wagte ich mich, einen Schritt weiter vor. Bereit mich sofort dafür zu entschuldigen. Sender Augen, bekamen ein eigenartiges Funkeln.

"Natürlich Kahlyn, du kannst mich alles fragen, was du willst", antwortete er, mit einem eigenartigen Klang in der Stimme, den ich bei ihm noch nie gehört hatte.

"Würden sie mir ihr Leben anvertrauen."

Jetzt lachte Sender, über sein ganzes Gesicht. "Kahlyn, du kannst Fragen stellen, Kleene. Das habe ich doch schon. Sogar schon zweimal, nein eigentlich, sogar dreimal. Das erste Mal, als dieser Mayer da war. Kleines, einen zweiten Schlag von diesen netten Herren, hätte ich nicht überlebt. Ich war wehrlos. Der zweite Schlag Mayers, hätte mich getötet. Das weißt du genau. Deshalb hast du ihn, auch auf dich gelenkt. Das nächste Mal bei dem Einsatz. Da hast du mir sogar zwei Mal das Leben gerettet. Einmal, als du diesen bärtigen Kerl davon abhieltst, mir ein Messer zwischen die Rippen zu jagen und das zweite Mal, als du mich zu Boden gerissen hast, als der Querschläger durch den Gang pfiff, den einer der Entführer abgeschossen hatte. Ich würde dir, immer wieder mein Leben anvertrauen."

Offen schaute er mir ins Gesicht. Ich wusste gar nicht, dass er das mitbekommen hatte. In dem Tunnel ging es ihm gar nicht so gut. Er bekam nach einem Schlag in die Rippen und bekam dadurch kaum noch Luft. Aber es war gut zu wissen, dass er mir vertraute und ich ihm.

"Kleene, darf ich dich mal in den Arm nehmen?"

Ich nickte und stand sofort auf. Er nahm mich ganz vorsichtig in den Arm. Das tat so unglaublich gut. Ein Gefühl, was ich nur selten erlebt hatte, durchfuhr meinen Körper. Ich fühlte mich wohl. Von mir aus, bräuchte er mich nie wieder los lassen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und ließ es einfach geschehen. 'War es wirklich vorbei? Hatte Doko Recht? Brach für mich jetzt ein Neues Leben an, ohne Bestrafung, ohne Hunger, ohne Angst.' Auf einmal fing ich an zu weinen. Sender ahnte wohl mehr, als dass er sich sicher war, was in mir vor ging. Er hielt mich ganz fest. Ich wollte es so gern glauben. So gern mochte ich daran glauben, dass all das endlich vorbei war. Sender schob mich von sich, als ich in sein Gesicht sah, erblickte ich Tränen. Ich verstand nicht, warum? Nahm den Kopf ein wenig schief, fuhr mit dem Finger, über das nasse Gesicht. Warum weinte er? Er hatte doch keinen Grund. Hatte ich etwas falsch gemacht? Ich hielt den Kopf schief, sah ihn einfach an. Verlegen wischte er sich die Tränen weg, dann lächelte er.

"Kahlyn, schau mich nicht so an. Vor allem, sag den Jungs da draußen nicht, dass ich heule. Dass du dich jetzt hast von mir drücken lassen, war das schönste Geschenk, was ich seit langem bekommen habe. Ich glaube ich werde alt", erklärte er und schob mich zurück auf meinen Platz.

Ich konnte mir ein, "Warum?", nicht verkneifen, erschrocken hielt ich innen.

"Warum Kahlyn? Weil ich weiß, dass du es nicht gewohnt bist, in den Arm genommen zu werden. Weil ich weiß, dass du das nicht jeden machen lässt. Deshalb geht einem alten Kämpfer wie mir, die Tränenschleuse auf."

Ich verstand, was er meint, ging es mir doch manchmal ebenso, dass ich vor Freude weinte. "Ist schon gut, Rudi. Ich erzähle es keinen versprochen."

Über Sender Gesicht ging eine Sonne auf, so strahlte er. Weil ich ihm beim Namen nannte und ganz normal mit ihm gesprochen hatte.

"Kahlyn, sag mal, aber bitte, sag mir deine ehrliche Meinung, wenn du das nicht machen möchtest, dann musst du das nicht machen. Könntest du dir vorstellen, ein paar Taktik-Übungen in der Theorie mit uns abzuhandeln."

Irritiert schaute ich Sender an, weil ich nicht wusste, was er damit meint. "Ich weiß nicht, was du meinst?", sagte ich einfach so daher. Weil ich in Gedanken überlegte, wie man Taktik Übungen in der Theorie machen konnte.

"Was meinst du, wie ich das meine?", antwortete Sender der nicht begriff, worauf ich hinaus wollte.

"Wie macht man Taktik Übungen, in der Theorie?", konkretisierte ich meine Frage.

"Wie habt ihr Taktik gelernt, wenn nicht in der Theorie?", kontert Sender mit einer Gegenfrage.

"Im Kampf. Wenn man einen Fehler macht, bezahlt man das mit Verletzungen oder dem Leben", antwortete ich ihm ehrlich.

Wieder einmal kam eine Reaktion, die ich nicht erwartet habe. "Im Kampf?", entfuhr es Sender und er rauft sich dabei die Haare.

Komischerweise ging mir durch den Kopf. 'Wenn er so weiter macht, dann hat er bald eine Glatze.' Ich musste lachen, weil ich ihn mir mit Glatze vorstellte. Aber zum Glück, konnte er meine Gefühle nicht sehen.

"Kahlyn, wir wollen auch verhindern, dass jemand verletzt oder getötet wird, deswegen schulen wir unsere Kämpfer theoretisch. Könntest du uns, vielleicht ein paar deiner Taktiken beibringen? Das, was du da bei der Geiselnahme abgezogen hast, war brillant, einfach brillant."

Ich kratzte mich am Hinterkopf, warum nicht. "Das kann ich gerne versuchen. Obwohl ich nicht weiß, wozu das gut sein soll? Im Kampf ist es später sowieso wieder anders. Es kommt doch immer auf die Situation an. Die ist aber jedes Mal, eine andere", erklärte ich Sender.

Der Major nickte. "Aber Kahlyn, es ist doch so, dass es ähnliche Situationen gibt. Aus denen kann man dann, Verhaltensweisen oder Vorgehensweisen, ableiten. Ohne jedes Mal, eine ganz neue Taktik erarbeiten zu müssen."

Ich nickte, wollte gerade etwas sagen. Als es klopfte. Fran trat ein.

"Rudi, das Essen ist fertig, kommt ihr beide auch vor, die anderen sind am Verhungern", breit grinste er Sender an.

"Aber klar doch. Wir kommen sofort. Kahlyn, sag mal kannst du dir, wenn du Zeit hast, für mich eine Akte durchsehen? Ich komme irgendwie nicht dahinter, was da falsch ist. Vielleicht kannst du mir helfen? Es wäre total lieb."

Ich nickte, es war eine schöne Sache und ein noch besseres Gefühl, dass ich gebraucht wurde. Sender hielt mir die Hand hin und zog mich aus dem Stuhl. Wir folgten Fan, das erste Mal, seit dem ich hier auf der Wache war, ging es mir richtig gut. Irgendwie hatte ich das Gefühl, ich gehörte hierher. Ich freute mich, als ich nach vorn kam, saßen auch Dika und Doko noch am Tisch. Sie waren noch nicht nach Hause gefahren. Schnell ging ich zu meinem Platz und setzte mich. Kaum das ich saß, fragt mich John.

"Na ist der Kopf noch dran?" Lachend blickte er mich an. Verdutzt, sah ich zu ihm hoch.

"Warum soll mein Kopf nicht mehr dran sein?"

John fing schallend an zu lachen. "Kahlyn, das ist nur eine Redensart. Ich erkläre dir das mal. Es war ein Spaß. Lass es dir schmecken."

Verwundert sah ich, dass mir Fran gerade Essen hin stellte. Ich hatte keinen richtigen Hunger, da ich doch erst vor ein paar Stunden Nahrung bekam. Ich suchte nach Blickkontakt mit Doko. Als ich ihn fand, nickte er mir zu. Freudig machte ich mich über den Brei her. Klar hatte ich noch etwas Hunger. Die letzten Wochen, hatten wir wieder einmal sehr wenige Nahrung bekommen. Es tat gut mal richtig viel zu bekommen. Allerding durfte das nicht zur Gewohnheit werden. Doko, der wohl meine Gedankengänge, nachvollziehen konnte, lächelt mir zu.

"Kahlyn, esse ruhig. Das schadet dir nicht, wenn du mal etwas mehr bekommst. Ich weiß, dass du selber merkst, wenn du zu viel isst. Also habe kein schlechtes Gewissen. Mit Jaan musste ich schon schimpfen. Ob du es glaubst oder nicht, er hat es geschafft, in der kurzen Zeit fünf Kilo zuzunehmen."

Schallend lachte er und ich stimmte ein. Das konnte ich mir denken. Jaan war schon immer der Verfressenste von uns gewesen und seit Chile war das noch schlimmer geworden. Na ja, er würde das auch noch lernen. Nach dem Essen, bekam ich noch Gelegenheit, mit Dika und Doko zu reden. Es war so schön. Ich liebte die beiden. Sie waren immer da gewesen, wenn es mir schlecht ging. Kurz nach 23 Uhr, fuhren sie dann los. Nicht ohne mir zu sagen, dass ich sie besuchen sollte. Ich versprach es ihnen, wenn ich auch nicht wusste, wie ich zu ihnen kommen sollte. Aber ich nahm an, auch das würde sich finden.

John saß mit den anderen am Tisch und spielt Karten. Andere saßen beim Fernseher, wieder andere lasen. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Also ging ich in Senders Büro und holte mir die Akte. Die er mir gegeben hatte. Bleistift und Lineal und ging hinter ins Besprechungszimmer. Weil es mir vorn einfach zu laut war. Ich vertiefte mich in Zahlen und Daten. Lange musste ich lesen, um hinter die ganze Sache zu kommen. Wieder einmal fehlten mir die anderen. Was ich las, bekamen die anderen automatisch mit, so ging es wesentlich schneller, alle Details zu erfassen. Wir hatten uns im Laufe der Jahre spezialisiert. Jeder war auf einem anderen Gebiet gut, alle arbeiteten immer zusammen. Das war unsere Stärke als Team gewesen. Obwohl jeder für sich, auch alles konnte. Nur halt nicht alles gleich gut. Dadurch, dass ich halt Situationen sehr schnell erfassen konnte, war ich in der Lage alles zu koordinieren. Heute dauerte es halt länger, ich musste alles alleine lesen. Aber das war nicht schlimm. Nach dem ich die Unterlagen durch gearbeitet hatte, fing ich an die Zahlen und Daten in Diagramme, verständlicher darzustellen. Dazu nutzte ich einfach die Rückseite der Blätter, die nur einseitig beschrieben waren. Am Ende schrieb ich Sender dann meine Schlussfolgerungen auf, damit er meinen Gedankengängen folgen konnte. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, ging ich in Senders Büro. Legte den Ordner genau, vor seinem Stuhl aufgeschlagen auf seinen Schreibtisch, so dass er sah auf welches Ergebnis ich gekommen war.

Ich sah auf die Uhr, es war 5 Minuten vor 1 Uhr. Deshalb beschloss ich duschen zu gehen. Ich wollte die Zeit nutzen, um einmal richtig zu schlafen. Einen Schlaf der nicht von Krankheit bestimmt war, sondern einfach von Müdigkeit, ich fühlte mich verdammt müde. Also ging ich zu den Spinden und zog mich aus, meine Sachen legte ich zusammen, die waren ja noch sauber, um sie morgen wieder anzuziehen. Da sah ich John, der hektisch nach mir suchte. Ich freute mich ihn zu sehen. John jedoch guckte mich an, schüttelte den Kopf.

"Sag mal Mäuschen, wo warst du denn? Wir suchen dich schon seit fast anderthalb Stunden."

Ich sah ihn verdattert an. 'Wieso suchen die mich? Wo soll ich hingehen?'

"Ich war hinten im Besprechungszimmer und habe für den Major, einen Ordner durchgesehen. Ihr wart alle beschäftigt und ich wusste nicht, was ich machen soll. Da hab ich mir die Akte geholt und bin hinter gegangen, weil vorne so ein Krach war. Da kann ich mich nicht konzentrieren. John ich bin so etwas nicht gewohnt", setzte ich entschuldigend dazu.

John haute sich an die Stirn. "Herr…"

Ich sah ihn verständnislos an, weil ich nicht wusste, was er damit meinte.

"Herr, bitte schmeiße Hirn vom Himmel, hier regnet es Idioten."

Dabei grinste er mich eigenartig an. Drehte sich um und ließ mich total durcheinander zurück. Ich wusste überhaupt nicht, was ich davon halten sollte. 'War er durchgedreht oder wahnsinnig geworden?', fragte ich mich allen Ernstes.

Kein zehn Sekunden später, stand John wieder vor mir und grinste mich an.

"Kahlyn, komm wir gehen duschen. Ich erkläre dir alles, wenn wir von oben nass werden. Dann sieht keiner, dass ich vor Dummheit weine."

Er war verrückt geworden, jetzt wusste ich es genau.

"John, bleib mal ganz ruhig", erklärte ich ihm ganz sanft. "Ich gebe dir gleich etwas, dann geht es dir besser."

Ich beugte mich in meinen Schrank, holte den Ampullenkoffer, um ein Beruhigungsmittel aufzuziehen. Jetzt war es an John, der nicht verstand, was los war. Auf einmal, nahm er meine Hand und hielt sie fest, schüttelte dabei den Kopf. Ihm kam auf einmal die Erleuchtung, was ich dachte. Er konnte nur noch lachen, versuchte sich krampfhaft zu beruhigen, aber es ging nicht. In dem Moment, kam Karpo um die Ecke und sah uns Beide. Sah erst auf mich, wie ich mit dem Ampullenkoffer da stand. Dann auf John der sich vor Lachen nicht beruhigen konnte. Auf einmal begriff er, was los war.

"Kahlyn, wenn willst du einen Spritze geben. Doch nicht etwa John?"

Ich nickte.

Doko Karpo schüttelte nun auch lachend den Kopf.

"Das brauchst du nicht, räume ihn wieder weg. Ich glaube ich weiß, was los ist. John hat die ganze Wache verrückt gemacht, weil du auf einmal weg warst. Alle haben dich jetzt fast neunzig Minuten gesucht. Auf einmal kam er vor und meinte, du wärst im Besprechungszimmer gewesen und hättest gearbeitet. Dem einzigen Ort, wo wir dich nicht gesucht haben. Auf die Idee, dass du arbeitest, sind wir leider alle nicht gekommen. Jetzt bekommt er sich vor Lachen nicht mehr ein."

Ich schaute zu John. Der immer noch lachte. Dabei aber nickte und sich den Bauch hielt.

"Warum lacht er? Ich verstehe das nicht", sagte ich trocken, weil ich das nicht nachvollziehen konnte. Was ist dran zum Lachen?

"Ach Mäuschen, das verstehst du noch nicht. Aber irgendwann, wirst du das bestimmt verstehen", erklärte mir John, immer wieder vom Lachen unterbrochen. "Komm wir gehen duschen, solange die anderen noch nicht da sind, sonst ist es wieder so eng", bat er und begann sich ebenfalls auszuziehen.

Ich tat es ihm gleich, obwohl ich immer noch nicht verstanden hatte, was los ist. Aber das war ich ja, langsam schon gewohnt. Nach dem Duschen, legte ich mich ins Bett. Es dauerte keine drei Minuten, da war ich fest eingeschlafen und schlief ganze vier Stunden durch.

Gegen 5 Uhr 15 erwachte ich und war ich ein neuer Mensch. Das erste Mal seit Monaten, hatte ich richtig erholsam geschlafen. Ich ging in die Dusche und stellte fest, dass ein reges Treiben eingesetzt hatte. Angezogen lief ich nach vorn, in Richtung Bereitschaftsraum. Als ich jedoch an Senders Büro vorbeigehen wollte, erschallte von drinnen ein Pfiff. Ich sah in die Richtung, Sender winkte mich zu sich. Also bog ich in sein Büro ab.

"Morgen Kahlyn", begrüßte er mich freudig lächelnd. "Sag mal Kleines, wann hast du das hier gemacht?", dabei zeigte er auf den Ordner.

"Gestern, als Doko und Dika weg waren. Ihr wart alle beschäftigt und ich wollte niemanden stören. Wusste nicht, was ich machen sollte. Da bin ich hinter ins Besprechungszimmer und habe den Ordner durchgearbeitet. Hätte ich das nicht machen sollen? Aber du wolltest es doch?", stellte ich gleich zwei Fragen.

Sender schüttelte den Kopf. "Kahlyn, um Gottes Willen, wie machst du das nur? Weißt du, dass ich an diesem Datensalat, seit ungefähr drei Wochen sitze und ihn nicht vom Tisch bekommen habe. Diesen Ordner noch nicht einmal zur Hälfte durchgesehen habe. Geschweige, dass ich verstanden habe, um was es hier geht. Eigentlich, wollte ich dir damit, nur eine Beschäftigung geben, wenn du mal Langeweile hast. Dachte, da hast du wochenlang zu tun. Du aber nimmst dir das mal zwei Stunden vor. Dann erklärst du mir in aller Seelenruhe, weshalb-wer-wo-warum-was gemacht hat und legst ihn mir fertig ausgewertet, auf den Schreibtisch. Als wenn es nichts wäre", Sender schüttelte den Kopf.

Ich beschloss das zu beherzigen, was er mir gestern erklärt hat.

"Rudi, du wolltest doch, dass ich mir das angucke. Es hat halt etwas länger gedauert, in der Gruppe hätten wir das in zwanzig Minuten geschafft. Tut mir leid, schneller ging es leider nicht", entschuldigte ich mich. "Ich musste ja alles alleine lesen. Sonst lesen wir das alle zusammen, da ist es halt schneller zu schaffen", versuchte ich ihm zu erklären.

Sender machte etwas, was ich überhaupt nicht begriff. Er nahm die Platte des Schreibtisches in die Hände und schlug seinen Kopf auf den Tisch. Ich schaute ihn erschrocken an.

"Was ist los?", fragte ich ihn, entsetzt blickend.

"Hilfe Kahlyn, jetzt hast du gerade etwas falsch verstanden. Ich habe nicht gesagt, dass du zu langsam warst. Sondern, dass ich nicht verstehen kann, wie du das so schnell gemacht hast. Hast du nicht verstanden, was ich gesagt habe. Ich arbeite jetzt schon seit drei Wochen an dem Ordner und kam einfach nicht dahinter, was da nicht stimmte. Du machst das so locker in zwei Stunden."

Mir fiel ein, was Doko mir einmal erklärt hatte, als wir intensiv nach einer bestimmten Krankenakte suchten, weil Teja ein bestimmtes Medikament nicht vertrug. Doko wusste, dass das schon einmal passiert war. Wusste aber nicht mehr, bei wem, also mussten wir alle Akten durchsehen.

"Rudi, Doko Jacob hat mir mal erklärt, dass wir Kinder wesentlich schneller lesen und wichtige Informationen erfassen können, als ihr. Vielleicht liegt es daran. Wenn es dir hilft, kann ich dir solche Sachen gern abnehmen. Ich helfe dir gern", erklärte ich ihm. Sender nickte.

"Das was du hierherausgearbeitet hast, ist folgerichtig und übersichtlich dargestellt. Eine super Leistung, ich komme bestimmt drauf zurück, Kahlyn. Ich danke dir sehr, das ist etwas, was ich noch nie gern gemacht habe. Komm, gehen wir frühstücken." Er erhob sich und legte den Arm, um meine Schulter.

"Rudi, darf ich dich etwas fragen?" Sender nickte.

"Was ist?"

Ich erzählte ihm, was gestern mit John los war, dann fragte ich "Was bedeutet es, wenn John, sowas sagt? ‚ Herr bitte schmeiße Hirn vom Himmel, hier regnet es Idioten‘ ich dachte er ist wahnsinnig geworden. Manchmal verstehe ich zwar die Worte, kann den Sinn aber nicht erfassen."

Hoffnungsvoll sah ich Sender an. Sender fing auch an zu lachen, genau wie John. Er stützte sich mit den Händen auf seine Oberschenkel, versuchte krampfhaft Luft zu bekommen.

"Kahlyn...", japste er "… sagt dir das Wort Metapher etwas?"

Ich schüttelte den Kopf. Sender ging zu seiner Kaffeemaschine, holte zwei Becher Kaffee, einen schwarzen und einen weißen Kaffee.

"Das hier Kahlyn, nenne ich ein Lebenselixier. Weil es mir hilft, wenn ich müde bin munter zu bleiben. Es erhält mich eigentlich, ja nicht am Leben. Sondern ist eher ungesund, wenn man, wie ich, zu viel davon trinkt. Es ist also eine Metapher. Es ist ein Wort, welches nicht in seiner wörtlichen, sondern in einer übertragenen Bedeutung gebraucht wird. Man könnte sie auch als bildhaftes Gleichnis bezeichnen. Verstehst du das in etwa?"

Ich nickte. "Ja, weil du nicht während des Kampfes einschläfst, schütz es dich vor Schaden."

Sender wuschelte mir über den Kopf. "Genau, so meine ich das. Was John mit seinen Worten sagen wollte, ist auch so gemeint. Er hatte dich wie verrückt gesucht, war regelrecht in Panik, weil du auf einmal verschwunden warst. Aber, er kam halt nicht auf die Idee, dass du arbeitest und dich einfach nur an den ruhigsten Ort, hier in der Wache zurück gezogen hast. Ins Besprechungszimmer. Einfach, weil das niemand von uns je nutzt. Er hat einfach damit zum Ausdruck bringen wollen. ‚Oh Hilfe bin ich dumm gewesen.‘", wieder musste er lachen. "Aber Kahlyn, ich glaube da wirst du noch eine Weile brauchen, ehe du das verstehen wirst", er legte wieder den Arm um mich. "Komm Kleene, ich habe Hunger wie ein Bär und mir geht es das erste Mal seit Tagen wieder richtig gut."

Zustimmend nickte ich. "Mir auch", gab ich ihm leise zu verstehen.

Da lächelte er und schob mich aus dem Büro, dann ergänzte er.

"Kahlyn, merke dir eins, auch wenn wir manchmal lachen, niemand wird dich hier je auslachen."

Ich nickte, obwohl ich eigentlich gerade das Gefühl hatte, dass er sich über mich halb tot gelacht hatte. Trotzdem glaubte ich ihn. Ich war mir ganz sicher, er hatte es nicht böse gemeint. Es war halt manchmal schwer mit mir, weil ich nicht verstand, was die alle von mir wollten. Ich dachte halt anders, aber es war nicht schlimm, vielleicht lernte ich das ja noch irgendwann.

Kapitel 6

Alle saßen schon am Frühstückstisch. John sah mich grinsend an, auch Raphael. Ich wunderte mich darüber. Ich setzte mich auf meinen Stuhl. Fran brachte mir meinen Brei. Was ich da sah, brachte mich auch dazu, zu lachen. Fran, der Gute liebe Fran, hatte meinen Brei verziert. Rund herum, auf den Tellerrand, lagen Karamelltoffees. Woher wusste er, dass ich die so sehr mochte? Dann fielen mir Dokos Worte ein, 'Fran quetscht seit Stunden deine Dika darüber aus, was du magst'. Ich sah ihn dankbar an.

"Danke Fran, das ist aber lieb von dir."

Ich schluckte, machte mich allerdings sofort über den Brei her und begann zu futtern. Die Menge war viel zu viel. Aber heute wollte ich noch einmal richtig zuschlagen.

"Fran", bat ich. "Bitte mache mir nicht immer so viel. Das bin ich nicht gewohnt und die Nahrung ist teuer, hat uns der Oberstleutnant immer gesagt. Wir reden dann mal über die Mengen, die ich brauche. Aber heute, lass ich es mir noch einmal richtig schmecken", wieder nahm ich einen Löffel, die Karamelltoffees allerdings, legte ich alle an den Rand. Die würde ich ganz zum Schluss essen. Ich liebte diese süßen Sachen. Ich hatte die ab und an mal, von meiner Dika bekommen, wenn es mir schlecht ging. Ach, war ich da immer glücklich. Dika wurde sogar einmal deswegen von dem Oberstleutnant bestraft. Als ich das sah, bin ich dazwischen gegangen. Wenn nicht vier Lehrer dem Oberstleutnant zu Hilfe geeilt wären, hätte ich diesen damals getötet. Drei Wochen, war der auf der Krankenstation. Dann bekam ich Prügel auf dem Hof. Als dann der Oberstleutnant wieder gesund war, bekam ich nochmal eine Strafe. Zwei Tage Lichtbox, aber es war die Sache wert. Unsere Dika hatte doch keine Chance gegen diesen Unmenschen.

Diese Dinge gingen mir bei dem Essen durch den Kopf. Ich beobachtete die anderen genau. Einfach, um zu lernen, wie ich mich verhalten musste. Aber ich konnte nicht wie sie reden. Das hatte ich nie gelernt, selbst beim Oberst hatte ich das nie gemacht. Sie sprachen über ihre Familien. Ich lauschte. Interessierte mich doch, was das war. Sender merkte wohl an meiner ganzen Körperhaltung, dass ich vieles von dem, was gesprochen wurde, nicht verstand. Er nickte mir zu. Nachdem wir fertig waren, kam Senders Auszeit. Fragend schaute er mich an.

"Na Kleene, hast du Lust mit in den Park zu kommen?"

Ich nickte. "Ja gern."

Also überließen wir den anderen den Part des Tischabräumens. Fran, der mitbekommen hatte, das Sender in den Park gehen wollte, nahm die Toffees von meinem Teller und steckte sie in eine Tüte. Ich war erschrocken darüber, darum erklärte er mir.

"Kahlyn, die kannst du doch auch draußen essen. Nimm sie einfach mit."

Ich schaute zu Sender, zu John und dann zu Fran, aber alle nickten. Glücklich, das Fran die Toffees nicht weg schmeißen wollte, das war mein erster Gedanke gewesen, nahm ich die Tüte und steckte sie mit in meinen Overall. Wir verließen die Wache. Otto, der Kiosk-Besitzer, reichte uns das Übliche. Eine Zeitung, Zigaretten, einen weißen und einen schwarzen Kaffee. Dann gingen wir zu Sender Lieblingsplatz. Es war schön hier, noch schöner als die anderen Male. Vielleicht lag es daran, dass es mir richtig gut ging. Ich war ausgeschlafen und endlich war auch mein Fieber etwas herunter gegangen. Vor allem war ich satt und, dabei grinste ich in mich hinein, hatte sogar Toffees. Was konnte es noch schönes geben?

Ich setzte mich neben Sender und beobachte die Vögel, die oben in der Kastanie ein Nest hatten. Ich sagte kein Wort, ich genoss einfach nur die Ruhe.

Sender dagegen beobachtete mich von der Seite. Irgendwie, so kamen ihm die Gedanken, war die Kleine auf einmal ganz anders. Jacob, mit dem er sich gestern, sehr intensiv über Kahlyn unterhalten hatte, erzählte ihm, dass Kahlyn eine ganz Verträumte war. Im Gegensatz zu den anderen Kindern, konnte sie sich an Kleinigkeiten erfreuen und zog Ruhe und Geborgenheit in sich auf, wie ein Schwamm die Feuchtigkeit. Irgendwie hatte er das nicht glauben können. Alles, was er bei Kahlyn die letzten Tage erlebt hatte, war nichts als Stress gewesen. Doktor Jacob meinte, wartet ab und lassen sie der Kleinen Zeit warm zu werden. Sie werden schnell merken, dass sie ein Engel ist. Ein kleiner dicker zwar, aber ein Engel. Wenn ich sie mir jetzt so von der Seite betrachte, war ich geneigt dem Doktor recht zu geben. Ihr sonst so ernstes Gesicht, in dem nie ein Lächeln erschien, hatte einen eigenartigen Ausdruck angenommen. Er folgte ihren Blick, sah, dass sie beobachtet, wie Vögel ihre Jungen versorgen.

"Ein Königreich für deine Gedanken, Kahlyn", sprach Sender leise vor sich hin.

Ich war mir gar nicht sicher ob er wusste, dass er das laut gesagt hatte. Ich drehte mich zu Sender um. "Wie meinst du das?", fragte ich ihn genauso leise.

"Ich würde gern wissen, was in deinem Kopf vor sich geht, wenn du die Vögel in ihrem Nest beobachtest."

Ich schaute wieder zu dem Nest. Sollte ich darüber reden? Ich war mir da nicht sicher. Ich gab sehr viel von mir preis, wenn ich das sagte, von meinen Sehnsüchten und meiner Hoffnung. Vielleicht sollte ich es einmal versuchen. Schließlich hatte ich mir vorgenommen und es auch Doko und Dika versprochen, dass ich lernen wollte offener zu werden und Vertrauen zu fassen. Doko meinte ich könne den Männern hier genauso vertrauen, wie meinen alten Freunden in der Schule. Leise mehr zu mir selber, als zu Sender, fing ich an zu erzählen.

"Weißt du, wir hatten solange ich denken kann, einen Traum. Wir nannten ihn immer, unseren Traum und träumten ihn immer zusammen, wenn wir auf unserer Kastanie saßen. Wir träumten, wir wären Vögel, ein Schwarm von lauter schwarzen Raben. Wir saßen alle oben auf dem Baum und wärmten uns gegenseitig. Wenn jemand einen Wurm sah, flog er hinunter und fing ihn. Dann wurde er geteilt, so dass jeder ein Stück bekam und keiner, Hunger haben musste. Immer, wenn wir auf dem Baum saßen, waren wir glücklich. Dann, wenn alle satt waren, flogen wir in den Himmel, weit über die Wolken hinaus. Soweit uns unsere Flügel tragen konnten und wir waren frei. Wenn ich so diese Vögel betrachte, dann wünschte ich mir, ich wäre so ein kleiner Vogel. Es muss ein schönes Gefühl sein, wenn jemand da ist, der einem Futter bringt und einen wärmt", ich hielt den Kopf etwas schräg und genoss einfach dieses Bild.

Stellte mir vor, ich wäre in dem Nest, würde so gut versorgt. Sender konnte es nicht fassen, was er da hört. Für ihn wie für alle anderen, war es unvorstellbar, dass ein Kind in Kahlyns Alter sich so etwas vorstellen musste. Sie wussten alle mehr oder weniger, was Fürsorge war. Aber, er konnte sie langsam verstehen.

"Kahlyn, das wirst du alles noch kennen lernen. Das verspreche ich dir."

Ich schaute Rudi lange an, ohne etwas zu sagen. Es ging mir durch den Kopf, dass es gar nicht möglich war. Ich hatte niemanden, der mir so etwas zeigen konnte. Aber dann fiel mir ein, was Fran heute früh getan hatte. Er stellte mir nicht nur den Brei hin, sondern machte sich Gedanken, wie er mir eine Freude bereiten konnte. Ein Gefühl, was ich noch nie gekannt hatte, wuselt durch meinen Körper. Ich hätte nicht sagen können was es war, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich nickte und blickte wieder hinauf zu den Vögeln.

"Das habe ich schon. Heute früh, beim Frühstück."

Ich nahm die Tüte mit den Toffees aus dem Overall und hielt sie Sender hin. Der nahm sich eins und steckte es sich in den Mund.

"Und wie hat es sich angefühlt?"

"Gut, aber…" Verlegen schaute ich auf meine Hände, die wieder einmal anfingen nervös zu spielen.

"Aber was, Kahlyn?"

Ich holte tief Luft, sagte einfach das, was ich im Moment fühlte. Etwas, dass mir total schwer fiel. Bis jetzt hatte ich nur mit meinen Freunden, über solche Dinge gesprochen. Ich wollte, dass Sender, in meinen Gedanken nannte ich ihn schon Rudi, mein Freund werden würde. Ich mochte ihn sehr, genau wie John, Fran und vielleicht sogar Raphael. Rudi ließ mir Zeit, er ahnte, dass es mir nicht leicht fiel, über diese Dinge zu reden. Ich schluckte, aber irgendwie wollten die Worte nicht aus meinen Mund. Mit einer eigenartigen Stimme, etwas, dass ich nicht beeinflussen konnte, sagte ich.

"Rudi ich habe Angst, aus dem Traum zu erwachen."

Mehr konnte ich nicht sagen, es ging einfach nicht. Ich hatte meine schlimmsten Befürchtungen ausgesprochen. Seit gestern Nachmittag, kam ich mir vor, wie in einem wunderschönen Traum, der niemals enden sollte. 'Bitte er soll ganz lange dauern'. Schöne Träume, das hatte ich, schon als kleines Kind, sehr schnell gelernt, gehen irgendwann vorbei. Dann holte ein die Realität umso härter ein. Es wurde im Anschluss noch schlimmer als zuvor. Rudi verstand nicht die ganze Bedeutung, aber er ahnte wohl, was ich meinte. Er setzte sich auf, legte den Arm um meine Schulter. Es war schön, ich entschloss mich diesen Traum so lange zu genießen, wie es ging. Egal, was danach kam. Hoffte aber, es würde ein sehr langer Traum werden.

"Kahlyn, dann träume einfach weiter. Vielleicht hört der Traum nie wieder auf."

Ich nickte, sprach Rudi doch aus, was ich gerade dachte. Sender schaute auf seine Armbanduhr, die zeigte uns, dass wir schon eine ganze Stunde hier waren. Unsere Kaffeebecher waren schon lange leer. Leise, so als ob er mich nicht erschrecken wollte, aber mit einem Lächeln im Gesicht, sagte er.

"Dieser Traum ist jetzt leider zu Ende Kahlyn. Wir müssen wieder rein. Aber es werden noch viele Träume kommen, die dir auch gefallen werden", mit dem letzten Wort stand er auf und reichte mir die Hand. "Komm, gehen wir rein. Wir müssen auf den Schießstand, ich will endlich mal wissen, wie gut du bist."

Ich schaute ihn an. "Na dann los", sagte ich einfach. Mich auf das Schießen freuend. Ich konnte das ganz gut. Das sagte ich Sender auch. "Na dann, ich hoffe, ich enttäusche dich nicht allzu sehr. Der beste Schütze bei uns, ist immer noch Cankat. Aber ich bin auch nicht ganz schlecht. Mal sehen, ob ich deinen Anforderungen genüge. Dem Oberstleutnant nach, war ich immer grottenschlecht. Na mal sehen", damit gingen wir los.

 

Plötzlich rief hinten uns, eine männliche Stimme. "Rudi, das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein", erklangt es laut und mit einem gefährlichen Unterton.

Sender drehte sich herum und ich ebenfalls. Hinter uns lief ein etwa hundertachtundfünfzig Zentimeter großer und siebzig Kilo schwerer dunkelhäutiger Mann, mit schneeweißem Haar. Er war um die sechzig Jahre alt, sprach mit einem eigenartigen Akzent. Sein Gesicht war vernarbt, das linke Bein zog er beim Laufen etwas nach.

"Hallo Josef, wie geht es dir?" 

"Mir geht es schlecht, wenn ich sehe, dass du dir jetzt noch Verstärkung mitbringst, um meinen Rasen völlig zu ruinieren."

Sender lachte herzlich. "Ach Josef, komm halte mal die Luft an. Gegen mich, ist die Kahlyn ein Fliegengewicht und es tut ihr gut mal an die frische Luft zu kommen. Wir haben außerdem ganz still da gesessen und nur die Vögel beobachtet. Du siehst, wir waren ganz brav."

Josef sah mich mit einem so bösen Blick an, dass mir ganz anders wurde. Gleich dachte ich, würde er mich anschreien und zur Schnecke machen, so wie der Oberstleutnant oder die Lehrer, wenn wir etwas Falsches gemacht hatten. Plötzlich änderte sich sein Blick und fing breit an zu grinsen.

"Na euer Glück. Aber trampelt mir ja nicht auf den Beeten herum, dann werde ich richtig Böse", grinsend wandte er sich von uns ab und ging zurück zu einer Schubkarre, die etwas hinter uns stand.

"Das machen wir bestimmt nicht, Josef. Nicht wahr Kahlyn?" sagte Rudi zu mir.

Ich nickte. Breit grinsend drehte sich Rudi um und ging weiter zum Kiosk. Im Vorbeigehen warf er Otto die Schachtel zu.

"Bis Morgen", die Ampel schaltete auf Grün und wir verschwanden in der Wache.

 

Dort angekommen wollte ich zum Waffenschrank gehen. Rudi schüttelte verneinend den Kopf.

"Kommt ihr?", wandte er sich seine Truppe und ging winkend in Richtung Hof. Verwundert sah ich mich um. Wo war die Truppe von Serow. Ich suchte Johns Nähe.

"John?" Fragte ich ihn leise.

"Was ist Mäuschen?"

"Wo sind Raphael, Detlef und die anderen, kommen die nicht mit zum Schießtraining?"

John schüttelte den Kopf. "Nein, die sind schon seit einer halben Stunde hinten an den Hallen und machen Kondition. Wir teilen das immer auf. Nur heute Nachmittag haben wir zusammen Training im Nahkampf. Alles andere machen wir getrennt. Der Schießstand hat nur zehn Stände. So ist es besser. Da haben wir keinen Leerlauf. Ich werde froh sein, wenn das wieder vorbei ist. Ich hasse das Schießen."

Verwundert sah ich John an. "Warum?"

John lachte. "Oh je, du weißt das ja noch gar nicht. Kahlyn, ich bin beim Schießen eine totale Katastrophe. Ich schieße unterirdisch schlecht. Bin schon immer froh, wenn ich überhaupt mal die Scheibe treffe."

Sender fing schallend an zu lachen, die anderen Jungs auch. "Na, so schlimm ist es doch auch wieder nicht." Sender klopfte den erheblich größeren John auf die Schulter. "Irgendwann, wirst du besser. Man kann halt nicht alles gut können."

Ich sah perplex zu Sender hoch und hatte glaube ich tausend Fragezeichen im Gesicht stehen.

Rudi bemerkte meinen Blick. "Ja Kahlyn, hier wird niemand zur Schnecke gemacht, wenn er nicht alles kann. John hat andere Qualitäten und die sind tausendmal wichtiger als das Schießen. Ich habe genug Scharfschützen. Los Leute, wir wollen los. Wir wollen heute auch auf den Parcours. Ich will endlich wissen, was unsere Kahlyn wirklich kann."

Ein Aufstöhnen, ging durch die Reihe der Männer. Ich begriff nicht warum. Mir machte das Schießentraining immer Spaß. Ich freute mich darauf zu sehen, wie gut die Männer wirklich waren. Ich ging zum Spind, holte aus Gewohnheit, den Medi-Koffer, ohne den ich nirgends hinging. John, Rudi, aber auch die anderen guckten mich verwirrt an. Allerdings sagte keiner der Männer etwas, sie akzeptierten es einfach, wie es war.

Wir stiegen in unser Einsatzfahrzeug, der eigentlich ein umgebauter Bus war, um zum Schießstand zu fahren. Die Wache hier hatte keinen eigenen Schießstand, wie mir John erklärte. Der war oben in der NVA-Kaserne. Wir fuhren fast eine halbe Stunde, das erste Mal, sah ich etwas von der Stadt in der ich jetzt leben würde. Ich war auf der Herfahrt, überhaupt nicht in der Lage gewesen, darauf zu achten. Zwar hatte ich einiges registriert, um mir Wege einzuprägen, aber ich kannte die Funktion der einzelnen Gebäude nicht. Wir hatten ja keine Erfahrungen mit Städten. Als wir zu unseren Einsatz gefahren waren, war ich ebenfalls abgelenkt. Mit großen Augen sah ich mich um. John der merkte, dass ich mich dafür interessierte, erklärte mir einige diese Gebäude. Wenn ich auch das meiste nicht verstand. 'Was ist ein Kaufhaus? Was ist ein Kino, ein Bahnhof?' Aber das würde ich schon noch erfahren. Doko hatte mir gestern immer wieder geraten, ich sollte mir mehr Zeit lassen. Wenn ich etwas nicht gleich verstand, dann halt später. So akzeptierte ich einfach, was John mir erklärte. Auch, wenn ich es absolut nicht nachvollziehen konnte. Ein Gebäude interessierte mich aber besonders, John erzählte mir es wäre ein Buchladen. Da wollte ich gern mal hin.

Nach über einer halben Stunde Fahrt, kamen wir endlich in der Kaserne an, die unweit der Autobahn lag. Ein riesiges Gelände umzäunt mit einer hohen Mauer, auf deren Mauerkrone S-Draht gespannt war, ähnlich wie in unserer Schule. Irgendwie fühlte ich mich hier gleich wohler, konnte aber nicht erklären warum. Wir fuhren auf das militärische Gelände und bis ganz dessen Ende, dort hielt Fran an. Kaum dass das Fahrzeug hielt, verließen unseren Bus und gingen auf ein extra umzäuntes Gelände zu. Dort befand sich ein kleines flaches Gebäude. Wir betraten es durch eine Pforte, in der ein Posten wache hielt.  

"Guten Morgen, Major Sender mit Team Alpha 61 zum Schießtraining", meldete Sender uns an.

Aha, dachte ich bei mir, hier werden also doch die Umgangsformen des Meldens eingehalten. Im Stillen freute ich mich darüber. Wir gingen alle hinein und dann die Treppe nach unten, erst einmal auf den Schießstand. Dort erhielten wir Lärmschutz, Brillen, auch bekamen wir Pistolen.

"John, warum können wir nicht mit unseren eigenen Waffen schießen. Das wäre doch viel besser", verwirrt sah ich John an.

"Keine Ahnung, wenn wir hierher gehen, schießen wir immer mit den gestellten Waffen. Ich hasse das, da bin ich noch schlechter, als mit meiner eigenen Waffe."

Das glaubte ich ihm gerne, viele schossen sich über die Jahre, mit ihren Waffen ein. Mir selber machte das nicht so viel aus, wir mussten oft mit dem schießen, was wir grad da hatten. Zur Not sogar mit selbst gebauten Bögen. Trotzdem war ich aber mit meinen Waffen eingeschossen. Ich wusste genau, um wie viel die Waffe bei jedem Schuss verzogen. Mit meiner Waffe traf 100 prozentig dahin, wo ich auch hin treffen wollte. Mich wunderte daher Johns Reaktion nicht. Ich wusste, dass von anderen Teams, mit denen wir zusammen arbeiten mussten. Die taten sich oft schwer damit, mit unseren Waffen, die sich nicht kannten, zu schießen.

Na ja, dann mal los, dachte ich bei mir. Ich trat an den Schießstand, lud meine Waffe und legte die Schutzbrille auf den Tisch, die ich nicht nutzen konnte. Gerade wollte ich meine Waffe entsichern, als Oberleutnant Lange, seinem Namensschild nach, der Verantwortliche für den Schießstand, auf mich zu kam. In einem mir nur zu gut bekannten Ton, pfiff er mich erst einmal zusammen.

"Sagen sie mal Leutnant, scheint hier so sehr die Sonne, dass sie eine Sonnenbrille aufsetzen müssen. Runter damit und zwar sofort! Setzten sie gefälligst sofort die Schutzbrille auf!"

Ach, wie sehr ich das hasste. Es war immer dasselbe, kam ich irgendwo neu hin und musste ich mich wegen meiner Brillen runterputzen lassen.

"Sir, entschuldigen sie bitte, Sir. Ich brauche diese Brille, aus gesundheitlichen Gründen, Sir. Mir nutzt ihre Brille nichts, da ich damit nichts sehen kann, Sir", gab ich ihm, in gewohnter Form eine Antwort.

Der Oberleutnant jedoch ließ sich nicht davon irritieren. Sender der am anderen Ende stand und die Lärmschützer auf hatte, bekam von der Szene gar nichts mit. Genau wie alle anderen, war er aufs Schießen konzentriert.

"Sagen sie Leutnant habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt? Runter mit der Brille und zwar sofort!"

Dabei versuchte er mir die Brille vom Gesicht zu ziehen oder wollte sie mir sogar herunter schlagen. Einen Fehler, den er sofort bereute. Da ich nicht geahnt hatte, was gleich geschehen würde und vor allem, wie dreist mein Gegenüber werden würde, reagierte ich instinktiv. Reflexartig fing ich die Hand des Oberleutnants ab, griff mit der zweiten Hand zu, drehte mich um, legte ihn mit einem Morote Seoinage, einem Zweiarm-Schulterwurf auf den Boden. Es gab einen Knall, da Lange mit seinen Stiefeln gegen die Bretterwand flog. Dadurch wurden die Anderen auf unsere Auseinandersetzung aufmerksam. John der in der Box neben mir stand, fing schallend an zu lachen. Sender brüllte am anderen Ende des Schießstandes.

"Ruhe."

Dann kam er entsetzt auf mich zu. Ich hielt den Oberleutnant, immer noch den Arm verdreht, mit einem Fuß auf den Rücken im Schach.

"Was ist hier los, Kahlyn? Bitte lass los. Kahlyn, bitte."

Ich ließ Lange los und sah irritiert auf Rudi. Er hatte mich angegriffen, was sollte ich denn da tun. Dieser rappelte sich auf und wollte wutentbrannt auf mich los gehen. Eigentlich ja zu Unrecht. Er hatte nur eine Reaktion von mir, auf sein Verhalten hin bekommen. In solchen Situationen reagierte ich mehr instinktiv, als bewusst. So wie ich es immer tat. Keiner in der Schule griff uns und vor allem mich mehr an. Da man über Jahre unsere Instinkte geschult hatte, wussten alle, dass das nicht gut und vor allem sehr schmerzhaft war. Fremde aber, wie der Oberleutnant, wussten das nicht und wurden einfach jedes Mal, von unseren Reflexen überrascht. Auch wenn ich im Recht war, machte mich auf einen Anpfiff gefasst. Oberstleutnant Mayer hatte uns, wenn uns so etwas passiert war, jedenfalls immer zur Schnecke gemacht. Es tat mir leid, aber was sollte ich machen. In solchen Situationen handelten wir erst, dann dachten wir. Das hatte uns schon viele Male das Leben gerettet. Sender kam auf mich zu. Er konnte sich schon denken, was passiert war und gab sich in gewisser Weise die Schuld daran.

Der Oberleutnant allerdings, versuchte mich anzubrüllen. "Was fäll…" weiter kam er nicht.

Mit einem Wink schnitt Sender ihm das Wort ab. "Kahlyn was war los?", erkundigte sich Rudi in einem ruhigen Ton, der mich noch mehr verunsicherte.

"Sir, ich weiß nicht genau, Sir. Er griff mich an und ich wehrte mich, Sir. Es tut mir leid, Sir. Aber ich kann das nicht beeinflussen, Sir. Diese Reflexe sind antrainiert, Sir", versuchte ich das, was passiert war zu erklären.

Sender drehte ich zu Lange um "Stimmt das Oberleutnant, haben sie Leutnant Kahlyn angegriffen?", ernst schaute er den Schießstandwart an.

Lange schüttelte den Kopf. "Nein Major Sender, ich forderte den Leutnant mehrmals auf, die Brille abzusetzen und die Schutzbrille aufzusetzen. Sie weigerte sich. Ich griff nach der Brille und wollte sie ihr wegnehmen. Es ist nicht gestattet, mit Sonnenbrillen auf dem Schießstand zu sein."

Jetzt war es Sender alles klar. Er fing an zu grienen. "Tja Oberleutnant Lange, da haben sie wohl heute eine neue Lektion gelernt. Greifen sie niemals…" ernst schaute er den Oberleutnant an "… niemals nach der Sonnenbrille von Leutnant Kahlyn. Das könnte Schmerzen verursachen. Es tut mir leid, ich hätte sie darauf hinweisen müssen, dass der Leutnant die Brille tragen muss. Aus gesundheitlichen Gründen."

Ich sah wie der Oberleutnant sich mit schmerzverzehrten Gesicht den Arm rieb.

"Sir, darf ich mir bitte ihren Arm einmal ansehen, Sir? Ich wollte sie nicht verletzen, Sir", bat ich meinen Gegenüber. Nach dem ich Sender angeschaut und genickt hatte.

Der Oberleutnant war aber so wütend auf mich, dass er das nicht wollte. "Nein, danke. Darauf kann ich verzichte. Ich gehe dann zum Stabsarzt. Das wird ein Disziplinarverfahren nach sich ziehen. Das war ein Angriff gegen einen ranghöheren Offizier. Für sie wird das ernste Konsequenzen haben. Das lasse ich mir nicht gefallen", wütend drehte er sich um und wollte gehen.

Sender allerdings, konnte und wollte das nicht so stehen lassen. Er empfand das als ungerecht. Es war nicht meine, sondern Langes Schuld.

"Oberleutnant Lange, kommen sie noch einmal zurück."

Der konnte gegen den Befehl, eines ranghöheren Offiziers nichts machen. Also kam er zurück.

"Bitte Kahlyn, sei so nett und zeige dem Oberleutnant deine Augen."

Ich nickte, nahm die Brille ab.

Lange zuckte zurück. "Was ist mit ihren…"

"Genau, das ist der Grund, warum Leutnant Kahlyn die Brille trägt. Hatte sie Leutnant Kahlyn darauf hingewiesen, dass sie die Brille aus gesundheitlichen Gründen tragen muss?"

Der Oberleutnant nickte.

"Sehen sie, also hat Kahlyn alles richtig gemacht. Der Fehler lag auf ihrer Seite und nicht auf Seiten des Leutnants. Vielleicht sollten sie, ab und an mal nachfragen, weshalb? Dann müssten sie nicht so reagieren, wie sie reagiert haben. Kahlyn, du untersuchst bitte den Arm des Oberleutnant, das ist ein Befehl", wandte er sich erst an mich und dann an Lange. "Sie lassen sich von dem Leutnant behandeln, auch das ist ein Befehl. Leutnant Kahlyn ist eine ausgezeichnete Ärztin. Schluss jetzt mit der Diskussion. Wir haben wichtigeres zu tun", ließ Rudi Lange gar nicht erst zu Wort kommen, als dieser etwas sagen wollte.

Ich half Lange die Jacke auszuziehen, stellte fest, dass es sich bei der Verletzung des Armes, nur um eine Zerrung war. Das war zwar schmerzhaft, aber nichts, was in ein paar Tagen nicht von alleine wieder weg ging.

"Sir, ich gebe ihnen jetzt eine Spritze in dem verletzten Muskel, das könnte etwas brennen. Sind sie Allergiker? Oder haben sie irgendwelche Unverträglichkeiten?", wollte ich vorsichtshalber von Lange wissen.

Der Oberleutnant schüttelte den Kopf. Ich nahm aus meinem Medi-Koffer die Ampullen und zog eine Injektion auf, die ich in den Muskel gab. Diese Injektion würde drei bis vier Tage wirken, so dass Lange keine Schmerzen mehr hatte.

"Sir, jetzt müsste es wieder besser gehen, Sir", erklärte ich ihm.

Oberleutnant Lange nickte. "Danke, tut mir leid, wegen ihren Augen, Leutnant. Lassen sie die Brille einfach auf."

"Sir, Danke, Sir", ich räumte alles wieder zusammen.

Im Anschluss ging ich zu meinem Schießstand, um die Übung zu beenden. Stellte mich etwas seitlich, wie ich es gewohnt war und schoss vier Schuss mit der rechten und vier Schuss mit der linken Hand und damit, das achter Magazin der Tokarew TT-33 leer. Die TT-33 war einer Halbautomatik Pistole. Ich mochte diese Waffen nicht besonders, sie lagen einfach nicht gut in der Hand. Diese Waffe war mir einfach zu schwer. Ich hatte eine PMM, also eine Makarow. Diese spezielle für uns angefertigte Waffe mit einem Zwölfermagazin, war um einiges leichter. Vor allem aber besser zu führen. Sender und John standen hinter mir und sahen mir zu.

"Ganz gut? Kahlyn, du bist nicht nur ganz gut. Kahlyn, du bist Klasse. Lange holen sie mal die Scheibe von Kahlyn ran."

Ich war nicht gut. Mir machte noch immer die Sache, mit Lange zu schaffen. Ich hatte einmal etwas danebengeschossen. Cankat, wäre so etwas nie passiert. Lange griff hinter sich und betätigte an einem Pult, einen Schalter, ließ die Scheibe heran fahren. Sechsmal hatte ich die innere Zehn getroffen, aber zweimal davon die äußere Zehn mit angerissen und das auf eine Distanz von elfeinhalb Metern. Das war mehr als schlecht. Ich beruhigte mich langsam. Vorsichtig sah ich zu Sender.

"Sir, darf ich noch einmal schießen. Ich war nicht ganz bei der Sache, Sir. Entschuldigen sie, das war nicht gut, Sir."

Sender nickte breit grinsend. Schnell wechselte ich das Magazin und atmete tief durch. Lang hängte eine neue Scheibe ein und ließ sie nach hinten fahren. Wieder stellte ich mich etwas seitlich, so wie ich es gewohnt war. Konzentrierte mich auf meine Atmung, erst mit der rechten, wechsele fliegend, dann mit der linken Hand je vier Schuss. Lange holte die Scheibe wieder heran. Jetzt war ich zufrieden, alle acht Schuss saßen genau da, wo sie hingehörten.

"Sir?", sprach ich den Schießstandwart an. "Wie weit können sie die Scheibe nach hinten fahren, Sir?"

Ich beobachte ihn genau. Diese Frage hatte ihn wohl noch keiner gestellt? Es war jedes Mal das Gleiche.

"Wir können heute nur auf achtzig Meter gehen. Leider ist der hintere Teil des Zuges kaputt, der wird morgen erst repariert. Normalerweise kann man die Scheiben auf hundert Meter fahren", wieder schaute ich fragend zu Sender.

"Sir, darf ich, Sir?"

Der Major nickte. Er wollte schließlich wissen, wie gut ich wirklich war. Na ja, ich auch, da ich die Waffe nicht kannte. Es reizte mich immer auszutesten, wie gut ich mit einer mir fremden Waffe zurechtkam. Lange setzte eine neue Scheibe ein und fuhr auf Maximalentfernung. Ich schoss viermal rechts und links, dann war ich selber gespannt. Beim Schießen hatte ich gemerkt, wie mir die Waffe weggerutscht war. Es war aber nur minimal. Das hatte allerdings bei dieser Entfernung oft große Auswirkungen. Die Scheibe kam nach vorn. Ich war selber erstaunt, die Waffe war gut justiert. Achtmal die Zehn davon siebenmal die innere und einmal die äußere. Ärgerlich aber nicht schlecht, für eine Waffe die ich nicht kannte. John der hinter mir stand, schüttelte den Kopf.

"Was ist?", erkundigte ich mich bei ihm.

Mit einem säuerlich wirkenden Gesicht, winkte er ab.

"John?"

John winkte mir zu, bat mich so mitzukommen. "Dazu muss ich ja nicht noch etwas sagen oder?"

Ich sah mir Johns Scheibe an. Wenn ich ehrlich war, dann musste ich zugeben, dass ich entsetzt war. Über das, was ich da erblickte. Einmal die Sieben, einmal die Fünf, dreimal die vier und dreimal die Drei. Das war wirklich grauenvoll. Er hatte vorhin nicht übertrieben, als er sagte, er sei froh die Scheibe überhaupt zu treffen. Kein Wunder, dass er seine Waffe nicht pflegte. Er hatte keinerlei Spaß am Schießen. Aber es würde besser werden. Ich brachte schon ganz anderen Leuten das Schießen bei, dachte ich bei mir. Schließlich hatte sogar Raiko das Schießen gelernt und der war ein Fall von keine Lust und keine Ahnung, wie ich es immer bezeichnet hatte. Also genauso wie ich in Punkto Technik. Er weigerte es sich immer das Schießen zu lernen.

"John, kannst du mir bitte einmal zeigen, wie du schießt?"

Sender und die anderen, die seit Jahren versuchten, dass John besser im Schießen wurde, es aber aufgegeben hatten, schauten zu. Etwas dass bei einem unsicheren Schützen, wie John, dazu führte, dass er noch schlechter schoss, als vorher. Ich sah seinen Fehler sofort. Er stand und atmete völlig falsch. Er war sehr groß, deshalb musste er sich anders stellen. Ich hatte in der Schule das Problem gehabt, das alle größer waren als ich, mir keiner zeigen konnte, wie ich schießen musste.

"John", begann ich ihn zu korrigieren. "Du stehst völlig falsch und du darfst beim Schießen nicht atmen. Wir bekommen das schon hin, ich versuche es dir einmal richtig zu erklären."

Lange ließ eine neue Scheibe nach hinten fahren, John nahm sich ein neues Magazin. Wie es so oft bei sehr großen Schützen war, stand er schon völlig falsch.

"John, du darfst dich nicht so gerade hinstellen. Stelle dich etwas seitlich."

Ich korrigierte seine Haltung. "So ist es richtig."

John nahm die Waffen in beide Hände und drehte, den Fehler machten viele, den Oberkörper parallel zur Scheibe.

"John, bitte stelle dich mit dem Oberkörper parallel zu den Beinen. Den rechten Arm knickst du etwas ein. Das hat den Vorteil, dass du den Rückstoß besser abfangen kannst."

Wieder korrigierte ich seine Haltung, bis sie in Ordnung war. Ich stellte mich hinter John. Da er wesentlich größer war, konnte ich gar nicht so leicht erkennen, wohin er zielte. "Die Waffen mit denen ihr hier schießt, verziehen leicht nach rechts, das liegt am Modell. Das heißt, du musst ein kleinen wenig nach links ansetzten mit dem Zielen", ich hielt mit an Sender fest, um mich auf die Zehenspitzen zu stellen, was in Schuhen für mich ein Problem war. "Ja, genau so, jetzt ist es besser. Jetzt atmest du langsam ein und aus. Bis du einen gleichmäßigen Rhythmus hast."

Ich beobachte John genau. Endlich war er in einem richtigen Atemrhythmus und konnte schießen. "Jetzt schießt du immer, wenn du mit einatmen fertig bist, aber bevor du ausatmest."

John schoss achtmal, genau im Rhythmus. Ich sah schon beim Schießen, dass dieser Versuch dazu beitragen würde, das Herz Johns höher schlagen zu lassen. Lange holte die Scheibe zurück. John und Sender, wie auch die anderen staunten nicht schlecht. Ihr schlechtester Schütze hatte, fünfmal die Neun und dreimal die Acht getroffen. Eine Leistung mit den John zufrieden sein konnte. Seine Augen strahlten.

"So gut hab ich noch nie geschossen. Darf ich gleich noch einmal?"

Sender lachte und gab seine Zustimmung. John stellte sich hin, wie ich es ihm gesagt hatte. Ich nahm einige geringe Korrekturen vor. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und fand fast sofort den Rhythmus wieder und schoss. Lange holte die Scheibe zurück. John fielen fast die Augen heraus. Er hatte sich selber übertroffen, siebenmal die Neun und einmal die Zehn, im äußeren Ring. Er legte seine Waffe hin und machte etwas, dass mich total erschreckte. Bei den anderen jedoch, einen gewaltigen Lachanfall auslöste. Weil das Resultat nicht das war, was John erreichen wollte. Er drehte sich zu mir um und wollte mich, so sagte er mir hinterher, in der Taille nehmen und hochheben. Allerdings, wie schon so oft gesagt, sollte keiner versuchen, mich zu überraschen. Meine Reflexe sind nun mal schneller, als ich denken konnte. Er versuchte mir in die Taille zu fassen. Ich griff jedoch instinktiv seinen Overall unter den Achsen und schlug ihm mit rechtem Spann von hinten den linken Fuß weg. Legte ihn so, mit einen De-ashi-barai, ein sogenannter Fußfeger auf den Boden. John war kaum auf dem Boden angekommen, tat es mir schon leid. Verdammt nochmal, das war heute das zweite Mal, dass ich so reagierte. Aber sie waren auch selber schuld daran. Jedes Mal mussten sie mich so erschrecken, das war doch nicht normal.

"Tut mir leid John. Tut mir wirklich leid. Hab ich dich verletzt", brachte ich mühsam hervor.

John lag auf den Boden und bekam sich nicht mehr ein vor Lachen. "Oh man, Kahlyn", presste er mühsam zwischen zwei Lachsalven hervor. "Dir kann man nicht mal einen Kuss geben, ohne dass du ein Schlafen legst."

Diesmal lachte auch Lange mit. Der ja nun selber gesehen hatte, dass ich reagierte ohne zu denken. "Leutnant, sie sind echt gut", sprach er sich die Lachtränen, aus dem Gesicht wischend.

"John, ist dir was passiert?", erkundigte ich stattdessen nochmals besorgt.

Mir war egal, was der Oberleutnant von mir dachte. Das war jetzt das dritte Mal, dass ich John zu Fall brachte. Wie oft würde er mir das noch verzeihen? Ich hielt ihm die Hand hin.

"Danke, Mäuschen", nahm meine Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. "Man ich wollte dich nur ein Stück hoch heben, um dir einen Kuss zu geben."

"Tut mir leid John, wirklich, es tut mir leid."

John lachte immer noch. "Nicht schlimm, Mäuschen. Aber jetzt bekommst du trotzdem deinen Kuss. Aber nicht gleich wieder umwerfen, bitte", sagte er immer noch lachend und nahm mich in der Taille, hob mich hoch und gab mir ein Kuss auf die Wange. Ich glaube ich wurde ganz rot. Es war mein erster Kuss den ich in meinem Leben bekam, von jemanden den ich nicht schon Jahre kannte. Dann setzte er mich wieder auf die Erde.

"So ist es besser", meint er immer noch gegen das Lachen ankämpfend.

"Na, ihr lebt ja gefährlich. Ist die Kleine immer so drauf?", wollte Lange von den anderen wissen.

Die zuckten mit den Schultern.

"Keine Ahnung, so genau kennen wir sie noch nicht. Aber was wir bis jetzt von ihr zu sehen bekamen, reicht glatt weg dazu, nie in die Versuchung zu kommen, sich mit der Alpha61 anzulegen", erklärte Max immer noch lachend.

"Sir, ich kann nichts dazu, Sir. Das ist jahrelanges Training, Sir. Wir haben gelernt so schnell zu reagieren, es hat seine Vorteile, Sir. Man lebt einfach länger, Sir", erklärte ich Lange.

Der schüttelte den Kopf, sah mich fragend an. "Sag mal wie alt bist du eigentlich. Viel älter als zwanzig kannst du doch nicht sein?"

Ich sah Rudi hilfesuchend an. Weil wir strikte Befehle hatten, nicht über unser Alter zu sprechen, außerhalb der Teams. Im Team ließ es sich ja nicht verheimlichen.

Sender übernahm den Part. "Spielt das Alter eine Rolle?", Sender schaute Lange grienend an.

Der schüttelte den Kopf.

"Na ja, sie würden es sowieso nicht glauben. Warum soll ich es ihnen dann sagen."

Mit diesen Worten Senders war das Thema unbeantwortet vom Tisch. Wir gaben unsere Waffen ab und gingen hinaus ins Gelände. Etwas hinter dem Gebäude versteckt, lag noch ein Schießstand. Der für die Scharfschützen geeignet war und für das Training auf große Entfernungen genutzt wurde. Wir bekamen unsere Waffen, Dragunow Scharfschützen Gewehre. Sie waren schwer, sie hatten außerdem eine viel zu geringe Reichweite. Diesmal sagte Sender dem Schießwart gleich Bescheid, dass ich keine Schutzbrille bräuchte, sondern meine Brille auflassen müsste. Damit es nicht wieder zu Missverständnissen kam. Dann gingen wir auf den Schießstand. Das Dragunow war ein etwas robusteres Gewehr, als die, die wir benutzten. Ging es mir vergleichend durch den Kopf. Ich mochte meins lieber. Wir bekamen vor ungefähr zwei Jahren, jeder ein M21, als Ersatz für unsere Waffen, die in Chile verloren gegangen waren. Die besorgte uns Oberst Fleischer, der Leiter der Soko Tiranus.

Beim M21 handelte es sich um ein halbautomatisches Scharfschützengewehr. Sie hatten ein Zielfernrohr mit drei bis neunfachem Zoom. Vor allem, waren sie etwas leichter und lagen dadurch um einiges besser in der Hand. Durch die Zwanzigermagazine die wir dazu bekamen, war ein schnelles Nachladen in Kampfsituationen möglich. Ohne ständig das Magazin wechseln zu müssen. Wie es beim Dragunow der Fall war, was ja nur ein Zehnermagazin besaß. Außerdem hatten die M21 Scharfschützen Gewehre eine wesentlich größere Reichweite, von zweitausendfünfhundert Meter. Da es sich bei unseren Gewehren um eine Spezialausführungen handelte. Cankat traf damit sogar noch Ziele in einer Entfernung von dreitausend Meter, wenn es windstill war. Aber die Dragunow waren auf kurze Entfernung nicht schlecht.

Wir machten unsere Schießübungen. Ich half John ein bisschen. Er hatte sichtbar besserer Laune. Dann ging es auf den Parcours. Der nichts anderes darstellte als ein Versuch, Geiseln zu befreien. Auch dieses Training brachten wir hinter uns. Anschließend fuhren wir zur Dienststelle zurück. John war in einer guten Stimmung. Ich glaube ihm hatte das erste Mal das Schießtraining Spaß gemacht. Etwas, dass ich ihm auch gönnte. Ich konnte mir vorstellen, wie frustrierend es war, wenn man etwas nicht schaffte. Obwohl man sich bemühte besser zu werden. In meinem Team in der Schule, ging es vielen ähnlich. Ich war froh, dass wir es hinter uns hatten. Wenn ich ehrlich sein sollte, hatte das für mich nichts, mit wirklichem Training zu tun. Ich schätze, wir waren einfach zu hart ran genommen wurden. Ich blickte stumpf aus dem Fenster des Busses. Ich brauchte dringend etwas, womit ich mich auspowern konnte. Ich war es einfach nicht gewohnt, so ruhig zu leben. Kurz bevor wir die Wache erreicht hatten, kam Sender auf mich zu.

"Kahlyn stimmt etwas nicht mit dir? Du bist so komisch. Ganz anders als heute früh."

Ich holte tief Luft. Wie konnte ich Sender erklären, was mir fehlt. Es würde keiner der Kollegen verstehen. Auch wusste ich nicht, wie ich mich erklären sollte. Ich schüttelte den Kopf.

"Es ist nichts. Wirklich."

Aber Rudi schien es mir nicht zu glauben. Kaum dass wir die Wache betraten, gab es Mittagessen. Simon der Koch vom Delta-Team hatte gekocht. Fran ging sofort in die Küche und wollte mir etwas zu essen machen. Aber ich hatte aber keinen Hunger. Sagte es ihm auch ehrlich. Alle schauten mich besorgt an, weil ich nichts essen wollte.

"Ich habe wirklich keinen Hunger, ich hab doch heute nichts gemacht. Wovon soll ich Hunger haben?", sagte ich schließlich. "Ich bin das nicht gewohnt, bitte."

Ich stand auf und ging zum Fenster. Die Blicke der anderen gingen mir auf die Nerven. Wir bekamen sonst alle zwei oder drei Tage einmal etwas Nahrung, wenn wir Glück hatten. Ich war es nicht gewohnt, so viel zu Essen. Mir war immer noch schlecht vom Frühstück, weil es viel zu viel gewesen war. Fran setzte sich traurig hin. Er tat mir leid. Senders Blick spürte ich im Rücken, aber was sollte ich anders machen. Ich hatte nun einmal keinen Hunger. Es war halt mal so. Eine unsagbare Wut stieg in mir hoch. Ich konnte nicht einmal sagen, warum.

"Rudi kann ich raus in den Park gehen, bitte. Ich würde gern eine Runde laufen."

Der schaute mich besorgt an. "Alles in Ordnung mit dir?"

"Ja, ich möchte nur ein bisschen alleine sein", antwortete ich ihn sofort.

"Dann verschwinde. Ich schicke dir John, wenn wir los gehen."

Ich nickte und ging zu meinem Spind, zog Trainingssachen an. Meine Schuhe zog ich aus. Daraufhin verließ ich die Wache. Nichts ahnend, dass ich eine Gruppe Männer zurück ließ, die sich schon wieder Sorgen um mich machten.

"Was ist mit Kahlyn los?", wollte Serow wissen, "Gab es wieder Probleme?"

Das Sender Team schüttelte den Kopf.

"Im Gegenteil, sie ist eine Bereicherung für das Team. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was diese Kleine auf dem Kasten hat. Die hat John sogar dazu gebracht, die Scheibe zu treffen."

Das Team lachte gezwungen.

"Trotzdem stimmt etwas nicht mit ihr", musste Raphael noch los werden.

John, der sonst eigentlich in jeder Diskussion mitten drin war, sagt gar nichts. Das fiel sogar Sender auf. "John was geht dir durch den Kopf?"

Sender kannte seine Sanitäter gut genug. Wenn der so ruhig war, ging ihm etwas an die Nieren.

"Ach, es ist nur so eine Idee die mir durch den Kopf spukt. Aber ich bin mir nicht sicher, dass es wirklich der Grund ist, warum Kahlyn auf einmal so ruhig war."

Arno der Stellvertretende Teamleiter des Delta-Teams erkundigte sich. "Komm rück mal raus mit der Sprache."

John druckste herum. "Na ja, überlegt mal, was das Mäuschen uns gestern von ihrem Tagesablauf erzählt hat. Ihr wart doch aller der gleichen Meinung, dass es Stress pur war. Stellt euch mal vor, wenn ihr an so etwas gewöhnt seid, dann habt ihr auf einmal so einen ruhigen Tag, wie wir. Ich weiß, es war stressig für uns. Aber für Kahlyn, war das wahrscheinlich ein stinklangweiliger Tag. Ich glaube, das Mäuschen ist nicht ausgelastet. Deshalb hat sie auch keinen Hunger. Was ich persönlich, gut nachvollziehen kann. Zu Hause esse ich nicht mal die Hälfte von dem, was ich hier in mich reinstopfe", beendete er nachdenklich, seine Überlegungen.

Alle neunzehn Männer schlossen sich Johns Gedankengängen an.

Fran war es dann, der alles auf den Punkt bringt. "Wie können wir ihr helfen runterzufahren?"

Alle sahen sich an, zucken mit der Schulter.

"Mit ihr reden", war die kurze, aber richtigste Antwort, die jemand geben konnte. Sie kam von Raphael.

Barfuß nur mit Trainingshose und T-Shirt begleitet verließ ich die Wache. Es war ein schönes Gefühl, wieder den Boden unter den Füßen zu spüren.

Otto, der Kiosk-Besitzer rief mir zu. "Na Kleines, einen Kaffee."

Ich schüttelte den Kopf und lief am Kiosk vorbei. Im Park angekommen lief ich ein paar Runden. Aber es machte keinen richtigen Spaß. Also beschloss ich kurzerhand, dass ich paar Koordinationsübungen zu machen könnte. Diese Übungen verlangten viel Konzentration, da alle Bewegungsabläufe sehr langsam ausgeführt wurden. Dazu brauchte man sehr viel Kraft und Körperbeherrschung. Ich wusste, dass mich das auspowern würde. Es war genau das, was ich jetzt brauchte. Nachdem ich mich umgeschaut hatte, ob Josef in der Nähe war, sprang ich über das Beet und ging einfach auf die Wiese. Zum Glück war er nirgends zu entdecken. Ich zog meine Trainingshose aus, auch mein T-Shirt, so dass ich nur noch im Bustier, meiner Bandage und Turnhose war. Man brauchte sehr viel Bewegungsfreiheit für das Fobnekotar. Setze auch meine Brille ab und band mir ein Tuch vor die Augen. Die Brille würde ich bei den Übungen sowieso nur verlieren. Mir war schon klar, dass ich in kürzester Zeit viele Zuschauer haben würde. Aber das war mir im Moment egal. Außerdem war es immer so. Mich störte das nicht sonderlich, wenn mir dabei jemand zusah. Meistens bekam ich dies sowieso erst hinterher mit, wenn ich mit den Übungen fertig war.

Ich begann mit einigen Taijiübungen, die mir dabei halfen mich zu konzentrieren. Als ich merkte, dass meine Atmung sich beruhigt hatte, fing ich an das Fobnekotar, diese langsamen kraftintensiven Übungen, zu machen. Die wir uns selber beigebracht hatten. Ich führte Hände auf die Wiese und ging ich in den Handstand, ganz langsam und in Zeitlupe. Das war der Trick bei der ganzen Sache, wenn man diese Übungen sehr langsam machte, jeder Bewegungsablauf dauerte fast eine Minute, so verbraucht man die zehnfache Kraft und es förderte außerdem im höchsten Maße die Körperbeherrschung. Im Handstand angekommen grätschte ich die Bein, wie gesagt alles in Zeitlupentempo. Beugte im Anschluss das Becken und führte so den Oberkörper in Richtung Boden. Danach schloss ich die Grätsche, so dass die Innenseiten meiner Beine die Außenseiten meiner Arme berührten. Dann öffnete ich die Grätsche wieder, brachte auf diese Weise das Becken wieder in eine aufrechte Position und schloss die Beine, führte sie also wieder zurück in den Handstand. Im Handstand angekommen, beugte ich wieder das Becken und führte dieses Mal die geschlossenen Füße zwischen meinen Armen hindurch. Ich verlagerte mein Gewicht auf den rechten Arm und führte die Beine durch eine Drehbewegung nach hinten. Nahm damit fertig, den linken Arm wieder auf die Wiese und stand so in einer Art schwebenden Liegestütze. Verlagerte den Körperschwerpunkt nach vorn und drückte mich wieder in den Handstand. Jetzt wiederholte ich diese Übung, nur, dass ich das zweitemal das Gewicht auf den linken Arm nehme, so dass beide Seiten gleichmäßig trainiert werden konnten. Achtundzwanzig Minuten dauerte ein Durchlauf, ich machte davon meistens zehn bis fünfzehn, aber ich wusste, dass ich so viel Zeit nicht haben würde. Mir genügten auch zwei. Ich wiederholte also beide Seiten noch einmal. Damit fertig ging ich wieder aus dem Handstand, in den normalen Stand und atmete über das Taiji aus. Nahm das Tuch ab, setzte meine Brille wieder auf. Anschließend zog ich mich wieder an, lief noch eine Runde um den Park.

Es war jetzt 14 Uhr 58. Ich musste also rein in die Wache. Deshalb machte ich mich auf den Rückweg. Einige der Parkbesucher schüttelten den Kopf und redeten miteinander. Mir war es egal, denn mir ginge es wieder besser. Ich nahm mir vor mit Sender zu sprechen und zu fragen, ob ich heute Abend noch einmal in den Park gehen durfte, um diese Übung noch einmal zu wiederholen.

In der Wache angekommen, ging ich zum Spind, holte mir ein Handtuch, ich war in Schweiß gebadet. Aber ich fühlte mich wieder sau wohl, obwohl ich noch nicht wieder so fit war, wie ich eigentlich dachte. Normalerweise fing ich erst beim zehnten oder elften Durchlauf an zu schwitzen. Auf dem freien Platz vor dem Bereitschaftsraum, machte ich noch einige Dehnungsübungen, um die angespannte Muskulatur zu lockern. Bei diesen Übungen überlegte ich, wann ich das letzte Mal diese Übungen mit so viel Ruhe, vor allem nur so aus Spaß gemacht hatte. Es war glaube Jahre her. Da stets viel zu wenig Zeit gewesen war, dass ich mir diese Freuden mal in Ruhe zu gönnen konnte.

Vor dem Kampf machten wir das Fobnekotar immer, um uns warm zu machen, aber genießen konnten wir das nie. Es war schön hier, kam mir der Gedanke. Ich glaube ich konnte mich doch an dieses Leben gewöhnen. Doko hatte Recht, ich musste nur lernen umzudenken. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, dass John mich die ganze Zeit beobachtete. Als ich mit meinen Dehnungsübungen fertig war, wischte ich mir noch einmal den Schweiß vom Körper. Ich war klatschnass geschwitzt. Da entdeckte ich John. Weil er nichts sagte, schaute ich ihn fragend an. Wie es meine Art war, hielt ich den Kopf etwas schräg.

"Was ist, John, stimmt etwas nicht?"

John schüttelte den Kopf. "Kahlyn, du erstaunst mich immer wieder. Was in Gottes Namen, hast du da draußen im Park gemacht?"

Nochmals wischte ich mir den Schweiß vom Körper. "Fobnekotar…", gab ich zur Antwort. "… das ist eine Übung, die dazu beiträgt eine bessere Körperbeherrschung zu erlernen und wahnsinnig viel Kraft kostet", erklärte ich John. "Aber weißt du, ich brauchte das vorhin einfach. Ich bin es nicht gewöhnt nichts zu tun. Ich hatte auf einmal das Gefühl gehabt, dass ich gleich platzen würde. Einfach weil ich…"

Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte, ohne den Freund zu verletzten. Ich hatte beim Schießtraining mitbekommen, dass alle fertig waren. Aber für mich war das keine Anstrengung. John lächelte mich an.

"Das haben wir mitbekommen. Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Kahlyn, bitte, wenn du so etwas hast, dann rede mit uns."

Ich nickte. "John, ich bin ja nur rausgegangen, weil ich etwas laufen wollte. Die Idee kam mir beim Laufen und ich fand sie gut, weil ich mich da richtig auspowern kann. Außerdem...", ich zuckte verlegen mit den Schultern, "... habe ich das erste Mal seit Jahren, wieder dazu richtig Zeit gehabt, es zu genießen und vor allem auch Lust."

John sah mich freudig an. "Kahlyn, das freut mich, dass es Spaß gemacht hat. Kann ich das lernen? Ist das schwer? Könntest du mir das beibringen?", überhäufte John mich mit Fragen.

"Klar bringe ich dir das bei. Aber du musst Geduld haben, es dauert lange, eh man das kann. Wir haben uns das als Kinder selber beigebracht. Die Idee stammte von Rashida. Sie wollte damit erreichen, dass wir ruhiger werden und lernen uns zu konzentrieren. Erst viele Wochen später lernten wir aus einem Buch, das wir von Doktor Zolger bekamen Taiji. Aber ich glaube, es hat irgendwie, etwas miteinander zu tun. Man kann beides gut miteinander verbinden."

John gab mir Recht. "Das stimmt Kahlyn, diese gleichmäßigen Bewegungsabläufe, erinnern mich sehr an das Taiji. Obwohl es doch etwas ganz anderes ist. Sag mal, hast du jetzt überhaupt noch Kraft für das Training?", er sah mich besorgt an, da mir immer noch der Schweiß in Bächen über den Körper lief.

Ich nickte freudig. "Klar, darauf freue ich mich ja schon."

"Na dann mal los, aber zieh deine Schuhe an."

Erstaunt schaute ich John an. "Warum? Ich bin es gewohnt barfuß zu laufen."

John nahm meine Schuhe und drückte sie mir in die Hand. "Anziehen. Kahlyn, wir müssen doch erst in die Halle laufen."

Ich setzte mich auf den Boden und zog die Schuhe wieder an, nahm mir ein neues Handtuch, das ich mir um den Hals legte. Der Schweiß lief mir immer noch in Strömen über den Körper. Dies wunderte mich sehr. Ich checkte meinen Körper durch, doch es war alles in Ordnung. Deshalb gab ich nichts weiter darauf, schob dieses Schwitzen auf die Tatsache, dass mein Körper auf die Umstellung in meinem Leben, halt auf diese Weise reagierte.

Die anderen waren auch schon fertig mit Anziehen und wir liefen gemeinsam hinter zu den Hallen. Das Laufen tat mir gut. Es war für mich immer, wie eine Befreiung. Oder das Abstreifen aller Lasten. Ich fühlte mich so wohl wie lange nicht mehr. Sender und die anderen warfen mir immer wieder Blicke zu. Ich nahm mir vor Rudi oder John zu fragen was los war. Aber erst einmal wollte ich das Training genießen.

Wir kamen nach fünfundzwanzig Minuten laufen, zu einigen der riesigen Hallen. An dem wir am zweiten Tag schon einmal vorbei gelaufen waren, als wir im Station trainierten. Diesmal jedoch, bogen wir gleich ab und lief auf die erste Halle zu, die auf diesem großen Trainingsgelände stand zu und betraten sie.

Dort zogen wir alle die Schuhe aus und gingen auf die Matten. Fallübungen, Wurfübungen, Technikübungen. Es wurden Paare gebildet. John nahm sich meiner an. Obwohl noch einige der anderen mit mir trainieren wollten. John griff durch.

"Leute ihr wisst, Kahlyn ist immer noch verletzt. Ich möchte nicht, dass sie durch einen ungenau geführten Schlag, wieder neu zu bluten anfängt. Solange sie noch nicht wieder ganz auf den Posten ist, trainiere ich mit ihr."

John zwinkerte mir zu. Mir war es egal, Hauptsache ich konnte etwas machen. Wir gingen die einzelnen Techniken des Ashi-guruma, des Beinrades und des De-ashi-barai, den Fußfeger durch. Das ist der Wurf, mit dem ich John bei unseren ersten Zusammentreffen gelegt hatte. Immer wiederholten wir die Zeit und Bewegungsabläufe. John der hier den Trainer machte, bekam sehr schnell mit, dass ich viele der Abläufe besser erklären konnte und bat mich immer wieder um Hilfe. Nach fast drei Stunden, konnten alle den Fußfeger und das Beinrad korrekt ausführen. Das war ein schweres Stück Arbeit für mich gewesen. Es hatten sich einige böse Fehler bei meinen Kollegen eingeschlichen, aber es hat wahnsinnigen Spaß gemacht.

Anschließend liefen wir, einmal um das gesamte Gelände herum, fast anderthalb Stunden brauchten wir nach Hause. Dort angekommen ging es unter die Dusche. Ich hatte kein Bedürfnis mehr nach Fobnekotar. Das würde ich einen anderen Tag wieder machen. Ich ließ mir Zeit beim Duschen, es tat mir einfach nur gut. Dann zog ich mich an und lief nach vorn zum Abendessen, ich hatte einen Mordshunger. Als Fran mich sah, fragt er nur.

"Wie viel Kahlyn?"

Ich nannte ihn die Wassermenge und er kümmerte sich um meinen Brei. Als er ihn brachte musste ich auf meine Art lachen. Er hatte mit Toffees, die er ausgerollt hatte, ein Gesicht auf den Brei gezaubert. John der neben mir saß, fing ebenfalls an zu grinsen. Fran aber strahlte wie eine Sonne.

"Sieht lustig aus, was Täubchen?"

Ich nickte und blickte ihn an. Es gab nur zwei Menschen die mich bis jetzt so genannt hatten. Das war Rashida, meine Freundin und Gosch, mein Drachenflieger.

"Das sieht man, du strahlst wie ein Honigkuchenpferd."

Ich verstand zwar nicht, was er damit meint, aber es war mir egal. Ich war glücklich. Ich glaube, ich war das erste Mal in meinem Leben glücklich. Ich nahm meinen Löffel und aß den Brei mit dem Gesicht. Bei irgendeinem Löffel, ich hatte schon eine ganze Menge davon gegessen, dachte ich mir auf einmal, jetzt fresse ihn auf, den Oberstleutnant. Fresse ihn einfach auf, dann ist er weg, für immer. Was beiße ich ihm jetzt ab? Dadurch musste ich noch mehr anfangen zu lachen, so sehr, dass ich mich verschluckte. John klopfte mir auf den Rücken. Nachdem ich wieder Luft bekam, versuchte ich etwas zu sagen. Aber es kamen nur glucksende Geräusche aus meinem Mund. Alle fingen an zu lachen. Es klang aber auch komisch. Ich hatte so etwas noch nicht erlebt. John und die anderen guckten mich so komisch an, aber ich konnte nicht aufhören.

Das erste Mal in meinem Leben lachte ich laut. Es klang so komisch, je mehr ich versuchte aufzuhören, umso schlimmer wurde es. John der merkt, dass ich vor Lachen keine Luft mehr bekam, half mir dann aufzuhören. In dem er mir die Nase und den Mund zuhielt. Ich war ihm so dankbar. Mir taten die Rippen weh vom Lachen, der Bauch, aus meinen Augen liefen lauter Tränen. Nach dem ich wieder Luft bekam und wieder normal sprechen konnte, fragte mich John verwundert.

"Was war denn mit dir auf einmal los? Das war das erste Mal, Mäuschen, dass wir dich haben Lachen hören."

Wieder kam mir das Lachen hoch. Aber diesmal konnte ich es bezwingen. Verlegen begann ich mit meinen Fingern zu spielen. John hielt sie fest und hob mein Kinn hoch, so dass ich ihn ansehen musste.

"Was war denn los Mäuschen? Du musst nicht verlegen sein."

"Ich hab mir grad vorgestellt, dass ich den Oberstleutnant Stück für Stück auffresse", flüsterte ich ganz leise und zuckte mit den Schultern. Auch, weil mir schon wieder das Lachen kam und ich aber nicht schon wieder lachen wollte. "Irgendwie, kam mir das beim Essen ein, Entschuldigung", sagte ich ganz verlegen.

Sender der sich immer noch die Lachtränen aus den Augen wischte, schaute mich an und schüttelte den Kopf. "Kahlyn, warum entschuldigst du dich? Nur weil du lachen musstest. Ich fand das so schön, jetzt glaube ich dir. Jetzt weiß ich, dass es dir wieder gut geht, meine Kleene. Dein Doko und deine Dika, glauben mir das nicht, wenn ich ihnen das erzähle."

Ich sah Sender an und hielt den Kopf etwas schräg. "Aber, warum konnte ich nicht mehr aufhören? Mir tat das so weh. Aber ich konnte einfach nicht, obwohl ich wollte."

John sah mich an. "Vielleicht Kahlyn, weil du glücklich bist und dir eine Last von den Schultern genommen wurde. Ich weiß es nicht. Aber jetzt wissen wir, dass du Lachen kannst und das ist das Schönste an dem heutigen Tag. Hoffentlich lachst du noch oft. Ich helfe dir gern beim Aufhören", diesmal griente er wie ein Honigkuchenpferd.

Alle schauten mich eigenartig an. Ich wusste gar nicht warum. Aber es war mir auch ehrlich gesagt ganz egal. Ich wusste nicht wie das kommen konnte. Aber das komische daran war, dass ich mich sau wohl fühlte und das, obwohl meine gebrochenen Rippen und die Zwerchfellverletzung, eine Schmerzwelle nach der anderen durch meinen Körper sandte. Ich hatte ein Gefühl, dass ich noch nie in meinem Leben gehabt hatte. Es war einfach schön.

Nach dem Abendessen ging ich mit den anderen zwanzig Minuten in den Kraftraum, trainierte ein wenig. Aber irgendwie hatte ich keine Lust, zu nix. Die anderen gingen hinaus, um noch etwas laufen, ich jedoch ging zu meinem Spind, um zu duschen. Danach setzte mich auf meinen Platz, schaute zum Fenster hinaus. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Sonst war ich immer in Bewegung, so einfach mal da zu sitzen und nichts zu tun, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Auf dem Tisch vor mir, lag einen Block und Bleistifte, den irgendjemand hatte herumliegen lassen. Ich nahm sie mir und fing an zu zeichnen. Erst einen Vogel, dann einen Hund, ein Pferd, ein Flugzeug und einen Baum, der unserem verdammt ähnlich sah. Ich war gerade dabei John zu zeichnen, als es dunkel über mir wurde. Ich schaute auf und sah Sender über mir stehen. Erschrocken legte ich den Stift weg, weil ich nicht gefragt hatte.

"Ich…", stotterte ich "… ich … es war niemand da, den ich hätte fragen können", versuchte ich mein ungehöriges Benehmen zu erklären.

Sender setzte sich neben mich und nahm die Zeichnungen in die Hand. "Kahlyn, was ist los? Zeichne doch weiter, die Bilder sind einfach wunderschön. Wo hast du so zeichnen gelernt?", wollte er von mir wissen.

Nachdenklich schaute ich auf die Bilder, die waren nicht gut, das war gekritzelt. "Oh, das habe ich nicht gelernt", antworte ich verlegen. "Das ist auch nicht gut, Jaan kann gut zeichnen. Weißt du Rudi, wenn wir bei den Einsätzen warten mussten, du weißt doch, wie das manchmal ist. Man ist vor Ort, irgendwo in der Walachei und wartet stunden- oder tagelang auf dem Befehl des Zugriffs. Dann kommt es schon einmal vor, dass man sich langweilt. Jaan fing dann immer an, mit einem Stock zu zeichnen. Er fing immer mit mir an, ich weiß nicht warum. Dann malte er jeden darum, Rina, Rashida, Raiko, Cankat, Teja, Sina, Andi, Rafik zum Schluss sich. Je nachdem wie lange wir warten mussten, waren am Ende alle auf dem Bild. Am Anfang hab ich ihm immer nur zugesehen und dann irgendwann, habe ich mitgemacht. Es hat mir geholfen, nicht ins grübeln zu verfallen. Das tat mir noch nie gut. Nicht immer konnten wir schlafen, wenn solche Pausen waren."

Sender nahm die Zeichnungen in die Hand, schaute sich jedes einzelne Bild an. "Mal weiter Kleene", bat er mich.

Ich nahm also den Stift wieder auf und machte meine Zeichnung fertig. "Sag mal, wann hast du eigentlich angefangen zu zeichnen? Das sind sechs Zeichnungen und es ist gerade mal 22 Uhr."

Ich zuckte mit den Schultern, ich hatte nicht auf die Uhr gesehen. "Ich weiß nicht genau, vor einer Viertelstunde vielleicht. Warum?", fragte ich nach.

Sender schüttelte wieder einmal seinen Kopf. "Sag mal Kahlyn, kannst du den Polizeirat zeichnen."

Ich nickte, sage aber. "Ich weiß nicht, ob ich noch genau weiß wie er aussieht, aber ich denke schon."

Ich nahm ein neues Blatt, zeichnete den Polizeirat, nach dem ich fertig war, gab ich das Bild Sender. Der nahm das Blatt und sah es sich an, wieder schüttelte er den Kopf.

"Stimmt was nicht?" fragte ich ihm.

"Ach Kahlyn, hab doch einmal ein wenig Vertrauen in dich selber, das Bild ist spitze. Du hast wirklich Talent zum Zeichnen. Weißt du, ich male auch ein bisschen. Es ist ein guter Ausgleich zu diesem Job hier. Aber den dicken Polizeirat, den bekomme ich einfach nicht hin. Sag mal, magst du mal mit Farben malen, dann kann ich dir Farben geben."

Ich sah Sender an und verstand, was er sagte, nur nicht, was er damit zum Ausdruck bringen wollte.

"Mit Farben malen? Wie geht das?"

"Ach Kahlyn, ich vergesse immer wieder, dass du viele Sachen nicht kennst. Aber wenn wir in zehn Tagen Bereitschaft haben, dann zeige ich dir, was ich meine. Ach so meine Kleene, ich habe mit dem Polizeirat gesprochen, in den Wochen in der wir frei haben, wohnst du erst einmal bei uns. Wir haben oben unterm Dach ein Gästezimmer, dort richten dir der Polizeirat und seine Frau ein Zimmer für dich ein. Ich denke, du solltest noch nicht in eine eigene Wohnung ziehen. Sondern erst mal lernen, wie man hier draußen klar kommt. Bist du damit einverstanden?"

Ich sah Sender an wie ein Mondkalb. Wieder einmal hatte ich keine Ahnung, von was er sprach. Erneut zuckte ich mit den Schultern, weil ich einfach nicht wusste, was ich darauf antworten sollte. Es wurde wirklich langsam aber sicher, zu einer dummen Angewohnheit. Deshalb sah ich ihn, aber mit leicht schräg gehalten Kopf an, sagte nichts dazu. Was hätte ich auch sagen sollen. Mir waren Begriffe wie Frei, Gästezimmer unterm Dach, eigenen Wohnung, einfach nicht bekannt und ich konnte mir nichts darunter vorstellen. Sender merkte wohl, dass ich einfach nicht wusste, wovon er sprach.

"Ach Mensch Kahlyn. Du hast es wirklich manchmal schwer Kleene. Komm bitte mal mit in mein Büro. Keine Angst, ich will dir nur etwas erklären."

Rudi stand auf und ich folgte ihn, wie so oft in den letzten Tagen in sein Büro.

"Setz dich", bat er mich. "Willst du einen Kaffee, Kleene?"

Ich nickte, so bekam ich einen Kaffee. "Danke."

Sender nahm sich auch einen und stellte seine Tasse allerdings auf den Tisch.

"Schau mal hier drüben an die Tafel. Hier siehst du die vielen schwarzen, grünen, blauen und roten Magnete."

Ich nickte.

"Hier…", erklärte mir Sender "... ist einmal das Alphateam."

Rudi zeigte auf die obere Reihe der Magneten, die unter einer Zahlenfolge hingen, die von 1 bis 31 gingen. Daneben stand ein A, darunter ein B und ein D. Dann kam eine größere Lücke und diesen folgten die Buchstaben WF, Lücke, WS, Lücke und WN. Unter einander standen Namen unter den Zahlen, die mir klar machten, warum dort immer große Lücken waren. Sonst hätten die Namen nicht in die Zahlenspalten gepasst.

"Darunter ist das Beta- und noch eine Reihe darunter ist das Delta-Team. Siehst du das. Die anderen Reihen, sind für dich im Moment noch nicht wichtig, das betrifft vorn die Wachstube. Das erkläre ich dir später mal, falls du einmal den Dienstplan vorn für die Wachstube mitmachen musst."

Wieder nickte ich, zuckte aber parallel dazu mit den Schultern, weil ich überhaupt nicht wusste, worauf er hinaus wollte.

"So jetzt hast du doch für jedes Team, einmal grüne, rote und blaue Magnete, unter den Zahlen. Die grünen Magnete bedeuten, dass dieses Team Frei hat. Frei zu haben heißt Kahlyn, dass die Teams zu Hause bei ihrer Familie sind. Blau heißt, das Team hat Bereitschaft und Rot heißt das Team hat Dienst. Die Schwarzen Magnete sind einfach nur Lückenfüller, für die Tage die es nicht gibt. Du weißt ja hoffentlich wenigstens, dass ein Monat unterschiedlich viele Tage hat, also 28-29-30 oder 31 Tage. Je nachdem, was für ein Monat oder für ein Jahr ist."

Ich nickte. Langsam kam ich hinter dieses System. Ich hatte mich schon gewundert, was das zu bedeuten hatte.

"Aber?" Erschrocken hielt ich innen.

"Was aber? Kahlyn frag mich ruhig, wenn du etwas wissen willst. Ich weiß ja jetzt, dass du vieles gar nicht wissen kannst, weil du es nicht kennst."

Ich fühlte mich irgendwie nicht wohl bei der Sache. "Aber, warum macht ihr sowas?"

Jetzt war es an Sender mich fragend anzusehen. "Wie meinst du die Frage? Ich verstehe nicht, auf was du hinaus willst, Kahlyn?"

Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich erklären sollte. Was ich meinte. Es kam mir einfach komisch vor.

"Warum macht ihr das? Na mit dem Frei und der Bereitschaft und dem Dienst? Das ist total kompliziert, wie soll man sich merken, was man gerade machen muss. Bei uns war das einfacher, wir hatten immer Dienst gehabt, solange ich denken kann."

Sender nickte traurig. "Ich weiß. Das habe ich jetzt verstanden. Tja Kleene, ich weiß nicht wie ich dir etwas erklären soll, was du gar nicht kennst. Wir arbeiten nicht wie ihr, jahrelang durch", Rudi lachte. "Ich glaube, das würde keiner von uns auf die Dauer aushalten. Es ist für uns schon immer hart, drei Wochen am Stück hier zu sein. Die drei Wochen Bereitschaft, wo man oft hierher muss und nichts weiter machen kann", Rudi sah mich durchdringend an. "Ich weiß du kannst dir nicht vorstellen, dass es außer Kampf noch etwas anderes gibt. Das man einmal nicht auf Arbeit ist. Ihr wart das immer, das haben wir jetzt begriffen, meine Kleene. Allerdings muss das die Hölle sein, sich nie erholen zu dürfen. So etwas Kahlyn ist für uns unvorstellbar. Denn es gibt doch noch etwas anders als Arbeit. Wir haben schließlich alle Familie, Freunde und Hobbys."

Er erkannte schnell an meiner Haltung, dass ich keinen Schimmer hatte, von was er da sprach. Wieder einmal raufte er sich die Haare.

"Oh Manne, ist das schwer zu erklären. Kahlyn, wir arbeiten hier drei Wochen am Stück, dann haben wir drei Wochen Bereitschaft und anschließend, dann haben wir zum Glück, drei Wochen frei. Das heißt, wir gehen nach Hause. Verstehst du das?"

Ich verstand wie so oft nur Bahnhof. Aber mich wunderte das absolut nicht mehr. Das ging mir schon seit Tagen so. Ich hatte mich eigentlich immer für jemanden gehalten, der schnell ist im Auffassen von Fakten war. Aber hier verstand ich einfach nicht, worum es ging. Also schüttelte ich wieder einmal den Kopf.

"Rudi, ich bin doch Zuhause."

Sender war am Verzweifeln. "Kahlyn, du bist auf Arbeit. Das hier, wo wir jetzt sind, ist dein Arbeitsplatz. An den Tagen, wo wir frei haben ... "Rudi unterbrach sich einfach, er sah irgendwie genervt aus. "... So hat das alles, überhaupt keinen Zweck, ich mach das anders…"

Rudi raufte sich noch einmal die Haare, schüttelte verzweifelt den Kopf und holte tief Luft. Entschlossen griff er zum Telefon und wählte eine Nummer, die er scheinbar aus dem Kopf wusste, denn er musste nirgends nachschauen. Fast sofort meldete sich eine weibliche Stimme.

"Guten Abend Veilchen. Sag mal wie lange seid ihr ungefähr noch auf? Könnt ihr mir ein wenig von eurer Zeit opfern?", fragte Rudi, da er wusste es würde kein Nein von Viola kommen. Sie ahnte wohl, dass es dringend war.

"Guten Abend Rudi.", erklang Violas Stimme. "Warum willst du das wissen?"

Sender räusperte sich. "Ich habe einen kleinen Überfall vor. Aber nur, wenn ihr noch nicht ins Bett wollt."

Viola lachte. "Nein, wir wollten noch nicht ins Bett. Kannst ruhig mal kurz vorbei kommen. Jo ist auch noch auf."

"Danke Veilchen, ich bin schon unterwegs. Ich bringe Besuch mit", breit grinsend legte Rudi auf.

 

"Komm Kahlyn. Ich zeige dir einfach mal, was ich meine. Ich weiß sonst ehrlich gesagt nicht, wie ich dir das erklären soll. Da du es ja gar nicht kennst."

Er stand auf und ging zur Tür. Wir liefen nach vorn in den Bereitschaftsraum. Rudi wandte sich sofort an John und Detlef, die beide ganz verdattert guckte.

"John, Detlef, ihr beiden übernehmt hier einmal für zwei Stunden den Laden. Sollte etwas sein, bringt ihr meine und Kahlyns Ausrüstung mit und holt uns beim Polizeirat ab."

Die beiden nickten und sahen ihren Chef, aber verwundert an. Noch nie hatte der während des Dienstes, die Wache verlassen. Das war ein für Rudi ungewohntes Verhalten.

"Ich erkläre es euch alles hinterher, sonst wird es zu spät für Jo."

John und Detlef nickten. Auf einmal grinsten die beiden und konnten sich denken, was Sender vorhatte.

"Komm Kahlyn, beeilen wir uns."

Wir eilten nach vorne in die Wachstube.

"Felix, sag mal, ist einer deiner Jungs in der Nähe?"

Der mit Felix angesprochene Wachtmeister nickte.

"Ja, Toniwagen 23 ist auf der Selbmannstraße. Warum willst du das wissen?"

Sender lächelte zufrieden. "Dann sei so lieb und rufe ihn bitte mal her, um mich und Kahlyn abzuholen. Wir müssen mal schnell zu den Runges fahren. Ich muss Kahlyn etwas zeigen und erklären. Du erreichst mich bei den Runges, wenn etwas sein sollte. John und Detlef wissen Bescheid. Bei Alarm holen sie uns dort ab. Wenn kein Alarm ist, rufe ich dich an und du schickst uns einen Wagen, der uns wieder abholt."

Der Wachtmeister nickte. "Geht klar Rudi. Dann viel Spaß."

Sender drehte sich um und ging zur Tür. Weil ich mich nicht rührte rief er. "Komm Kahlyn, keine Angst es ist nichts Schlimmes."

Ich machte einen zögerlichen Schritt, um meinem Major zu folgen, wenn auch mit gemischten Gefühlen. Ich mochte es einfach nicht, wenn ich nicht wusste, worum und wohin es ging. Zu gut war mir der Stechlinsee noch in Erinnerung. Verunsichert schielte ich immer wieder zu Rudi. Tief holte ich Luft und folgte ihm nach kurzem Zögern. Gemeinsam verließen wir die Wache. Auf der Straße rechts von der Wache, stand bereits der Toniwagen und wir stiegen ein. Fast fünfzehn Minuten fuhren wir, bis wir in eine Siedlung mit ganz kleinen Häusern kamen. Sender, der hinten bei mir saß, beobachtete mich von der Seite.

"Kahlyn, hast du noch nie solche Häuser gesehen?"

Ich schüttelte unbewusst den Kopf. Selten wurden wir in zivilen Bereichen eingesetzt. Wenn dann allerdings nur in Großstädten in großen Gebäuden, meistens bei Geiselnahmen in irgendwelchen Hallen, Hochhäusern oder Werksgeländen. Vielleicht hatte ich dies unbewusst mal gesehen, wenn ich auf Spurensuche war, doch da war nie Zeit, das richtig zu registrieren. Wenn wir mit den Einsätzen fertig gewesen waren, schliefen wir sobald wir Platz genommen hatten, in den Transportern. Von der Umgebung, außerhalb des Kampfes, bekamen wir nie etwas mit.

Wieder einmal schoss es Sender durch den Kopf‚ die Kleine konnte einen nur leidtun. Es war schlimm, was man diesen Kindern alles versagt hatte. Dass sie nicht einmal die normalsten Dinge im Leben kannten. Laut sagte er an mich gewandt.

"Kahlyn, diese Häuser, nennen wir Einfamilienhäuser. Das sind Häuser, in den meisten Fällen, nur eine Familie wohnt. Was eine Familie ist, weißt du aber?"

Ich kannte das Wort. Oberstleutnant Mayer hatte immer zu uns gesagt, wir wären eine Familie, das sagte ich Sender auch.

"Ja, der Oberstleutnant sagte immer, wir sind alle eine Familie. Deshalb darf er mit uns machen, was er will. Wir wären seine Kreaturen und müssten deshalb immer tun, was er sagt. Er darf deshalb auch mit uns tun und machen, was er will."

Es folgte ein Quietschen der Reifen, Rudi und ich, wurden gegen die Vordersitze geschleudert, so bremste der Fahrer ab.

Sender explodierte förmlich, "Was hat dieser Mensch zu euch gesagt?", brüllte er mich an und schnappte nach Luft.

Die beiden Kollegen, die vorn im Streifewagen saßen, drehten sich um und stellten die gleiche Frage.

"Wie bitte, was hat der zu Euch gesagt?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Das wir machen müssen, was er sagt und er mit uns machen kann, was er will. Da wir alle eine Familie sind", wiederholte ich, dass was ich gerade gesagt hatte.

In der Annahme genuschelt zu haben, so dass man mich dadurch nicht verstanden hatte. Ich bekam eine Reaktion die ich überhaupt nicht verstehen konnte.

"Der spinnt doch wohl."

"Der hat sie doch nicht alle."

"Beruhigt euch Jungs...", bat Sender die Fahrer und schüttelte den Kopf. "... vor allem fahrt bitte weiter. Jo und Viola wollen dann ins Bett. Ich glaube mich wundert bei diesem Mayer gar nichts mehr. Fast hätte es mich gewundert, wenn der etwas anderes von sich gegeben hätte."

Rudi holte tief Luft um sich wieder zu beruhigen und vor allem, um wieder leiser sprechen zu können. Er war gerade sehr laut geworden. "Kahlyn, meine Wut hat nichts mit dir zu tun. Ich hoffe du weißt das. Kleene, ich zeige dir gleich, was eine richtige Familie ist. Nur musst du ganz leise sein, der Kleine von Runges ist erst vier Jahre alt und leider hat er einen ganz leichten und oberflächigen Schlaf. Er wird bei jedem noch so kleinen Geräusch munter. Die Runges brauchen dann ewig um ihn wieder zum Einschlafen zu bringen."

Der Fahrer war in der Zwischenzeit weitergefahren und kam im selben Augenblick bei den Runges an und wir verließen sofort den Wagen und der Fahrer fuhr weiter. Die Kollegen mussten ihren Streifendienst wieder aufnehmen. Rudi bedankte sich beim Aussteigen beim Fahrer. "Danke ihr Zwei fürs herbringen. Ich rufe in der Zentrale an, wenn wir zurück wollen. Bis dann also."

 

Rudi ging auf einen niedrigen Zaun zu und öffnete ein kleines Tor. Lächelnd schaute er mich an und winkte mir zu folgen.

"Komm Kahlyn, hier ist mein Zuhause und das, von den Runges. Ich zeige dir jetzt mal, wo ich normalerweise lebe, wenn ich nicht auf Arbeit bin."

Aufmunternd nickte er mir zu. Dann ging er einen Weg entlang. Ich folgte ihm, wenn auch zögerlich, durch das Tor. Interessiert schaute ich mich um und blieb ich einfach stehen. Es war so wunderschön hier. Vor diesem, ich überlegte kurz wie es Rudi genannt hatte, Einfamilienhaus, gab es so etwas wie ein kleiner Park. Hier gab es Blumen, eine Wiesen und eine Katze, mit rotem Fell.

Ich hockte mich hin und mautze ganz leise. Vergaß, wie es mir so oft passierte, wenn ich mit Tieren in Kontakt kam, alles, was um mich herum geschah. Ich liebte Tiere über alles und konnte durch sie völlig herunterfahren. Oft war es so, dass ich mit ihnen besser umgehen konnte, als mit normalen Menschen. Denn Tiere kannten keine Falschheit oder Hinterhältigkeit, wie es normale Menschen leider nur zu oft an den Tag legten. Tieren konnte ich voll und ganz vertrauen und sie vertrauten mir genauso. Das Kätzchen kam neugierig näher. Kurz vor mir setzte es sich hin. Ich ahmte die Sprache der Katze nach und das Kätzchen antwortete mir sofort.

Wir hatten schon sehr früh lernen müssen, Tierlaute zu imitieren. Fast immer konnte ich verstehen, was sie mir zu sagen versuchten. Ich vergaß darüber völlig, dass ich mit Rudi hier war und redete mit der Katze, die eigentlich ein Kater war, ganz intensiv. Der kleine rote Kater kam immer näher. Zum Schluss war er so nahe, dass er sich auf den Rücken legte und sich von mir den Bauch graulen ließ. Mit der anderen Hand graulte ich ihm hinterm Ohr.

Rudi kam und wollte mich in die Realität zurückholen. Vorsichtig legte er mir seine Hand auf die Schulter. Völlig auf die Katze fixiert und auf die Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Streicheleinheiten, reagierte ich instinktiv. Stand halb auf und ging noch im Aufstehen in einen Harai-goshi. Legte Rudi, durch den Hüftfeger schwungvoll auf die Matte, die eigentlich ein Kieselweg war. Das auf knallen Rudis auf dem Weg, brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Das Kätzchen schrie kurz auf und nahm vor Schreck Reißaus. Ich starrte starr vor Schreck, auf den mir zu Füßen liegenden Major und konnte mich nicht mehr rühren. Immer noch nicht, hatten die Jungs begriffen, dass es einfach gesünder war, mich anzusprechen, bevor man mich berührt.

Viola und Johannes Runge standen in der Tür und sahen zu, wie Sender von mir gelegt wurde. Runges lautes und donnerndes Lachen ertönte, als er sah, wie sein Freund auf den Boden landete. Das und der Knall, brachten mich wieder zurück in die Wirklichkeit. Oh nein, dachte ich bei mir, nicht schon wieder. Sender lag am Boden und bekam sich vor Lachen nicht mehr ein.

"Kahlyn, was machst du denn mit mir? Ich wollte dich doch nur holen."

"Es… es… tu ... tut mir leid… i ... ich war in Gedanken… wirklich."

Ich stand richtig auf, denn ich hatte immer noch ein Knie am Boden und zog Sender auf die Beine. "Entschuldige bitte", sagte ich noch einmal.

Rudi immer noch lachend, klopfte sich seinen Overall sauber und schüttelte seinen Kopf.

"Komm", meinte er. "Ich bin ja selber schuld. Kleene gucke nicht so. Ich bin wirklich selber schuld, dass ich auf dem Boden gelandet bin. Langsam müsste ich ja wissen, dass es besser ist dich anzusprechen, bevor man dich berührt. Macht nichts, ist doch nichts passiert. Komm Kleene, mach nicht so ein Gesicht, es gibt Schlimmeres."

Allerdings stand ich wie angewurzelt da. In dem Moment, als ich Rudi auf die Beine gezogen hatte, entdeckte ich den Polizeirat bewusst und mir wurde ganz schlecht. Polizeirat Runge hatte das alles mit angesehen. Er war Zeuge davon geworden, was ich mit meinem Vorgesetzten gemacht hatte. Jetzt würde ich verdammt viel Ärger bekommen und das zu Recht. Runge der wohl ahnte, was in mir vorging, kam auf mich zu.

"Komm rein Kahlyn. Ach schau doch nicht so. Es ist doch nichts passiert, halb so schlimm. Du musst dich nicht fürchten, hier wird keiner bestraft. Aber deine Reflexe sind einmalig, wirklich einmalig."

Entschlossen schob er mich in Richtung des Hauses und in die Richtung einer Frau die völlig perplex guckt. Sie musterte mich auf eine ganz komische Weise. Als ob sie überprüfen würde, ob ich eine Gefahr für sie darstellen könnte.

"Veilchen, darf ich dir Rudis neue Kollegin vorstellen. Das hier ist Leutnant Kahlyn und unser zukünftiger Gast. Kahlyn, das hier ist meine Frau Viola."

Viola sah mich nochmals irritiert an. Dann schaute sie böse und völlig entsetzt zu ihren Mann. "Jo, das kann doch wohl nicht wahr sein. Sagtest du gerade eine Kollegin. Das hier ist doch noch ein halbes Kind. Bist du völlig von Sinnen, hat dich dein Verstand denn jetzt total verlassen", wütend und mit einem bösen Unterton, sprach sie mit dem Polizeirat. Schüttelte ungläubig den Kopf. "Ihr habt sie doch nicht mehr alle. Das arme Mädchen", dann kam sie auf mich zu und wollte mich in den Arm nehmen.

Runge hielt sie zum Glück davon ab. Dafür war ich ihm mehr als dankbar. Auch, wenn mir der Schreck noch in allen Knochen saß. Diese Frau machte mir Angst. Ich hätte nicht einmal begründen können, warum. Die Art und Weise wie sie mit dem Polizeirat gesprochen hatte, gefiel mir überhaupt nicht. Nur mein Respekt vor dem Polizeirat, verhinderte, dass ich ihr ordentlich die Meinung sagen würde.

"Veilchen, bitte nicht. Lass der Kleenen Zeit, hier warm zu werden. Ich erkläre dir im Anschluss alles einmal ausführlich. Das hat schon seine Richtigkeit. Kahlyn ist die neue Kollegin, die bei uns wohnen soll. Bitte habe etwas Geduld mit ihr, sie kennt hier viele Dinge nicht und ist schnell mit Situationen überfordert. Bitte", bat Runge seine Frau ernst und lächelte sie eigenartig an.

"Kommt bitte rein", fordert uns diese Frau auf.

Viola, der Polizeirat und Rudi gingen ins Haus. Ich allerdings stand da und traute mich nicht, dieses Gebäude zu betreten. Ich konnte dort einfach nicht hinein gehen, es ging nicht. Keine Ahnung, warum. Ich hätte es nicht einmal begründen können. Auf irgendeine verdrehte Art und Weise, kam es mir falsch vor. Ich hatte das Gefühl, als wenn ich etwas zerstören würde, wenn ich durch diese Tür, vor mir gehen würde.

Mein Major kam zurück und schaute mich verwundert an. "Was ist los Kahlyn? Warum kommst du nicht mit rein?"

Irritiert sah er mich fragend an. Verlegen schaute ich auf meine Füße.

"Ich gehöre nicht hierher Rudi. Ich habe kein Recht hier zu sein."

Sender nahm mein Kinn und schob meinen Kopf soweit nach oben, dass ich gezwungen war, ihm in die Augen zu sehen.

"Kahlyn, ab heute gehörst du hierher. Jo, Viola, Jenny, Tim, Tom und ich, sind ab heute deine Familie. Und das hier meine Kleene, ist dein neues Zuhause. Komm Kahlyn, komm mit hinein, es tut gar nicht weh."

Ich schüttelte den Kopf. Alles in mir sträubte sich, dort hinein zu gehen. Ich verstand selbst nicht warum. Es war nur ein Gefühl, dass mich daran hinderte. Als ob mich von hinten jemand festhielt und mir ein weitergehen unmöglich machte. Ich konnte keinen konkreten Grund dafür benennen. Ich drehte Rudi den Rücken zu und setzte mich einfach auf die Stufe. Nahm meine Knie in die Arme und begann zu schaukeln. Rudi ließ mich allein vor der Haustür sitzen, in der Hoffnung, dass ich von alleine nachkommen würde. Er wusste sich nicht anders zu helfen. Vor allem wusste er nicht, was er davon halten sollte. Erst Recht hatte er keine Ahnung, was er dagegen tun konnte, ohne mich wieder unter Druck zu setzen. Mein Major hatte alles erwartet, aber nicht diese, für ihn nicht nachvollziehbare Reaktion.

Viola Runge, gab ihm ein Zeichen, ins Haus zu gehen. Leise flüsternd bat sie den besten Freund ihres Mannes, um etwas Geduld und Zeit. "Rudi, lass uns Frauen mal allein."

Sender nickte, da er keine bessere Idee hatte. Viola Runge kam nochmals aus dem Haus und setzte sich einfach neben mich. Sie sagte keinen Ton, sie berührte mich nicht und versuchte auch keine Annäherung. Darüber war ich sehr froh.

Die Frau beobachtete genau wie ich, die Katze beim Spielen mit einer Maus. Ab und zu schielte ich einmal zu ihr hinüber. Einfach, um mir ein Bild von ihr zu machen. Irgendwie erinnerte sie mich ein wenig an meine Dika. Sie hatte ein ganz liebes Gesicht und ein wunderschönes Lächeln.

Leise kaum hörbar sprach Viola. "Ach wie schade, die arme kleine Maus. Jetzt hat sie unser Tiger doch noch erwischt."

Ich blickte zu dem Kater und miaute leise. Tiger hielt innen mit seinem Spiel, mit der Maus und miaute zurück. Ich wusste, dass das Mäuschen noch nicht Tod war. Denn ich hörte sie ängstlich piepsen. Tiger hielt sie mit der Tatze gefangen. Ich miaute noch einmal und signalisierte dem Kater auf diese Weise, er sollte die Maus am Leben lassen und zu mir kommen. Tiger ließ die Maus los. Sofort verschwand das kleine Mäuschen zwischen den Büschen. Tiger dagegen kam immer wieder miauend auf mich zu. Der Kater schimpfte mit mir, weil ich sein Spiel unterbrochen hatte. Ich miaute zurück und schließlich gab er Ruhe. Wieder und wieder streifte Tiger, an meinen Beinen entlang. Dann stellte sich der Kater auf die Hinterbeine und legte die Pfötchen auf meine Knie. Mit seinem Gesicht streifte er meins und zeigte mir auf diese Weise seine Zuneigung. Ich nahm ihn hoch und legte ihn auf meinen Schoss. Ganz langsam und vorsichtig und miaute ich immer wieder. Langsam entspannte sich der Kater und ich nahm meine Hand und fuhr ihm immer wieder durch das Fell, bis er anfing zu schnurren. Viola beobachtete mich eine Weile von der Seite. Ganz leise und kaum hörbar sprach sie, in einem erstaunten Ton zu mir.

"Na, das Herz von Tiger hast du dir schon mal erobert. Wenn Tiger dich mag, dann mag ich dich auch. Weil Tiger nicht jeden an sich heran lässt. Er ist ein sehr kluges Tier, musst du wissen. Der weiß genau, wer es gut und ehrlich mit ihm meint. Sag mal, hast du auch so einen Durst wie ich?"

Vorsichtig sah ich diese Frau von der Seite an. Ich wusste nicht, ob ich ihr trauen konnte. Aber sie hatte so etwas in der Stimme, wie ich es sonst nur von Doko und Dika, kannte. Die Beiden hatten gesagt, ich sollte offener sein. Das war so verdammt einfach gesagt.

Viele der fremden Menschen, denen ich im Laufe der Jahre begegnet war und vor allem vertraut hatte, zeigten schnell ihr wahres Gesicht. Das, was wir dann zu sehen bekamen, war meistens nicht schön und fast immer bezahlten wir unser Vertrauen, im Anschluss mit schlimmen Schmerzen. Deshalb waren wir, nicht nur ich, sondern alle aus unserem Team, Fremden gegenüber sehr vorsichtig und vor allem misstrauisch. Ich konnte nicht einfach einen Schalter umlegen und sagen, ab heute vertraute ich einfach jeden Menschen, der auf mich zukam. Es war schon schwer den neuen Kollegen auf der Wache ein wenig zu vertrauen.

Hier war es noch um einiges schwieriger. Ich rieb mein Genick und dann das Gesicht, schielte zu der Frau hoch. Auf der anderen Seite hatte der Doko aber recht, ich musste anfangen jemanden zu vertrauen. Sonst wäre ich bald sehr einsam. Vor allem kostete es wahnsinnig viel Kraft, ständig auf der Hut sein zu müssen. Wo konnte ich besser anfange Vertrauen zu lernen, wenn nicht hier an diesen Ort. Rudi, das wusste ich nun schon, konnte ich ein wenig Vertrauen und dem Polizeirat auch. Beide schienen dieser Frau großes Vertrauen entgegen zu bringen. Das merkte man an der Art und Weise, wie sie mit ihr umgingen. Denn ich sah die ruhige und ausgeglichene Aura, die die Beiden umgab. Wenn die beiden der Frau vertrauten, dann konnte ich es mir auch wagen. Innerlich gab ich mir einen Schubs, auch wenn es mir nicht leicht fiel, ich würde versuchen ihr ein wenig Vertrauen entgegen zu bringen. Ich konnte ja vorsichtig sein und erst einmal beobachten, wie sie sich so gab. Tief holte ich Luft und fuhr mir durch die Haare. Tiger gab mir ein wenig Sicherheit, der schnurrend auf meinen Schoss lag und die Streicheleinheiten hörbar genoss, die er von mir bekam.

"Kahlyn, du kennst doch meinen Mann, den Polizeirat. Hat der dir etwas getan oder warum kommst du nicht zu uns ins Haus?"

Ganz sanft sagte sie das. Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Es hatte nichts mit dem Polizeirat zu tun, dass ich dieses Haus nicht betreten wollte. Lange schwieg ich, sie ließ mir Zeit und drängte mich nicht. Das fand ich sehr nett von ihr, denn die meisten Zivilisten, reagierten auf das Warten, sehr ungehalten. Aber ich wusste auch nicht, wie ich ihr etwas erklären sollte, was mir selber unklar war. Aber ich würde ihr wenigstens antworten, das hatte sie sich verdient.

"Mam, ich gehöre nicht hierher, Mam", wiederholte ich das, was ich gerade Rudi gesagt hatte, nochmals ganz leise.

"Warum?"

Kam die Frage die ich ihr halt nicht so genau beantworten konnte. "Mam, es ist nicht meine Welt, Mam. Ich sollte nicht her sein, Mam", antwortete ich einem Gefühl folgend.

"Kahlyn noch ist es nicht deine Welt. Aber es könnte auch deine Welt werden, wenn du es zulässt. Vor allem, wenn du uns eine kleine Chance gibst, dass wir dir unsere Welt zeigen und erklären können."

Ich drehte meinen Kopf zu dieser Frau, die ich gar nicht kannte. Irgendwie gelang es ihr ein wenig mein Herz zu erobern. Sie schien wirklich lieb zu sein. Vor allem hatte sie wunderschöne Augen. Türkis mit bernsteinfarbenen Sprenglern darin, man hatte bei ihr das Gefühl bis auf den Grund ihrer Seele zu schauen.

Ich sah mir diese Viola erst einmal genau an. Das schmale Gesicht wurde umrahmt von goldblonden Haaren, die sie mit einem Band zusammen hielt. Eine vorwitzige Strähne hatte sich heraus gestohlen und fiel ihr über das Gesicht. Das sah lustig aus, denn bei jeder Bewegung hüpfte die Locke auf und ab. Viole Runge strich diese freche Strähne energisch wieder hinter ihr Ohr, so dass sie nicht mehr vor ihren Augen hing. Ich musste unbewusst lächeln, die gleiche Bewegung machte Dika Anna oft, wenn ihr die Haare ins Gesicht fielen. Lange genug hatte ich sie betrachtet. Ich musste ihr irgendetwas antworten. Es war unhöflich so lange zu schweigen, aber ich wusste nicht was. Deshalb entschloss ich mich sie zu fragen. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass irgendetwas an dieser Frau nicht stimmte. Allerdings konnte ich nicht sagen, was. Dieses Gefühl reichte aus, dass ich sehr achtsam bleiben würde. Es war nichts greifbares, was mich zur Obacht zwang.

"Mam, warum soll das meine Welt werden, Mam? Ich verstehe es nicht. Was haben sie davon, wenn ich hier herkomme."

Traurig sah mich Viola an. "Ich habe nichts davon, wenn du hier her kommst, Kahlyn. Aber ich denke, du hast es dir mehr als verdient, unsere Welt kennen zu lernen und hier endlich die Ruhe zu finden, die du noch nie hattest. Vor allem, solltest du endlich einmal ein richtiges Zuhause haben. Jo, hat mir heute Nachmittag einiges aus deiner Welt erzählt, Kahlyn. Als ich das gehört habe, musste ich weinen", sie schluckte schwer und schwieg.

"Mam, warum haben sie geweint, Mam? Sie kennen mich doch gar nicht, Mam. Es kann ihnen doch egal sein, Mam", irritiert sah ich sie jetzt an.

Ich sah allerdings, dass sie mir die Wahrheit gesagt hatte, denn ihr Herz hämmerte wie verrückt in ihrer Brust. Vor allem macht sie ein trauriges Gesicht. Ich verstand wie so oft diese Menschen nicht. Machte sie mir vielleicht etwas vor? Wieso füllten sich auf einmal ihre schönen Augen mit Tränen. Das irritierte mich noch mehr.

Ich wollte nicht, dass sie weint. Auch wenn ich ihr nicht traute und sie nie völlig in mein Leben lassen würde, sollte sie nicht weinen. Vor allem begriff ich nicht, weshalb sie an meinem bisherigen Leben Anteil nahm. Diese Frau brachte mich völlig durcheinander. Ich wusste nicht genau, wie ich sie einschätzen sollte. Etwas dass mir nur sehr selten passierte. Eigentlich konnte ich mich drauf verlassen, wenn mein Bauch sagte derjenige ist gut oder schlecht. Ein Zwischending gab es nicht. Bei dieser Frau schrie mein Bauch, bring dich in Sicherheit, aber alles, was sie mir sagte und zeigte, zog mein Herz an. Aufmerksam und auf jede Schwankung ihrer Stimme achtend hörte ich mir an, was Viola Runge dazu zu sagen hatte.

"Weil das, was mir Jo von dir erzählt hat nicht schön war. Das hat sich kein Mensch verdient. Erst recht kein Kind."

Verwirrt schaute ich sie an. "Mam, wie meinen sie das, Mam?"

"Kahlyn, das lässt sich nicht so einfach erklären. Ich würde dir gern etwas zeigen, damit du mich verstehen kannst. Weißt du es ist schwer etwas zu erklären, was der Gegenüber noch gar nicht kennt. Deshalb würde ich es dir gern zeigen. Könntest du mich kurz begleiten, weil wir dazu ins Haus gehen müssten. Sonst kann ich dir das, was ich meine nicht zeigen. Wenn wir fertig damit sind, kannst du wieder nach draußen gehen, wenn du nicht im Haus bleiben möchtest und dann hier auf Rudi warten. Wenn dir das lieber ist", fragend sah sie mich an.

Viola Runges Gesicht war ganz ernst. Zwischen ihren Augenbraunen bildete sich eine steile Falte. Wieder strich sie sich die vorwitzige Strähne hinter das Ohr und lächelte mich an. Sie löste das Band um ihre Haare und band es neu, so dass die Haare gebändigt wurden. Jetzt erst sah ich, dass Viola wunderschöne Locken hatte, fast wie unsere Dika. Ich miaute kurz und setzte Tiger auf seine Pfoten, den ich bis jetzt gekrault hatte. Dieser verschwand mit einem letzten Gruß irgendwo nach hinten, zwischen den dortigen Büschen. Ich dagegen nickte dieser Viola zu und stand auf. Viola tat es mir gleich und hielt mir die Hand hin.

"Komm mit Kahlyn."

Ich folgte ihr in das Haus. Die mir dargebotene Hand schlug ich allerdings aus. Immer noch war ich mir nicht sicher, ob ich dieser Frau trauen sollte. Ich war hin und hergerissen zwischen meinem Gefühl und dem, was ich erlebte. Ungewohnt war das, was ich hier zu sehen bekam. Wir betraten einen schmalen Flur, auf deren beiden Seiten ein Vorhang von der Decke bis zum Boden hing. Ein bordeauxfarbener in sich gemusterter Stoff mit goldener Bordüre verriet mir, dass was sich etwas dahinter verbarg. Danach kam ein wandhoher Spiegel, mit einem goldenen Rahmen. Auf der anderen Seite öffnete sich der Flur in einen kleinen Raum. An den beige gestrichenen Wänden hingen Unmengen von Bildern. Auf denen waren der Polizeirat, Viola Runge, Rudi und drei Kinder abgebildet. Ich betrachtete mir die Bilder genau, die in Rahmen aus Fichtenholz und Glas steckten und dadurch geschützt wurden. Auf den Bildern waren auch einige andere mir unbekannte Personen abgebildet.

Viola Runge ließ mir die Zeit die ich brauchte, um mir die ganzen Bilder anzusehen. Langsam, sich immer wieder nach mir umdrehend, ging sie auf eine Treppe zu. Die ebenfalls aus Fichtenholz bestehende Wendeltreppe, führte nach oben ins nächste Stockwerk. Das Geländer bestand aus einen dunkelgebeizten Handlauf der durch gedrechselte Streben gehalten wurde und einfach schön aussah. Auf der ersten Stufe der Treppe blieb Viola Runge stehen und sah mich bittend an.

"Kahlyn, bitte sei in Tims Zimmer leise. Er hat einen ganz oberflächlichen Schlaf. Dadurch wird er bei jedem Geräusch munter."

Stufe für Stufe stieg sie die Treppe hinauf. Auch hier waren, an den Wänden der Treppe, überall Bilder zu sehen. Ich schaute mir jedes dieser Bilder an. Irgendwie wurde ich mit jedem Bild trauriger. Ich konnte nicht einmal genau sagen, warum. Am Ende der Treppe kam ein langer, im hellen Grün gestrichener Flur, von dem viele Türen abgingen. Wir liefen zu der ersten Tür und Viola legte den Zeigefinger auf die Lippen. Ganz vorsichtig und vor allem leise, machte sie die Tür auf. Als sie das Licht anmachen wollte, hielt ich ihre Hand fest und schüttelte den Kopf und zeigte auf meine Brille. Erstaunt sah sie zu mir herüber. Sie schob mich in den Raum. Was ich hier zu sehen bekam, kannte ich nicht. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Da es dunkel war, konnte ich meine Brille absetzen. Ich schob sie einfach nach oben, hoch auf den Kopf und konnte mir alles ganz genau ansehen. Überall standen Regale. Darin waren kleine Autos. Aber sie bewegten sich nicht. Ich ging zu einem der Regale und sah mir das alles an. Ich wusste nicht, was das ist? Traute mir auch nicht etwas anzufassen. Wer brauchte solche kleinen Autos. Darin konnte man überhaupt nicht fahren. Außerdem standen in dem Zimmer noch ein großer Schrank und daneben ein Bett mit lauter Gitterstäben. Ich ging dorthin und sah hinein. Wieso waren da Gatter vor dem Bett? Böse drehte ich mich zu dieser Frau um. Darin lag ein kleiner Junge, zusammengerollt mit einem Hund im Arm. Wieso sperrten sie den Jungen ein? Wieder sah ich böse zu dieser Viola. Dann wieder zu dem Jungen. Warum ließen sie den Jungen mit einem toten Hund schlafen. Ich verstand das nicht. Viola winkte mich zu sich. Ich setzte meine Brille wieder auf und lief zu ihr. Ganz leise schloss sie die Tür. Flüsternd erklärte sie mir.

"Kahlyn, das ist Tim unser kleiner Sohn. Er wird nächste Woche vier Jahre alt. Komm, ich zeige dir auch unseren Tom, das ist der mittlere von unseren drei Kindern. Er ist schon elf Jahre", leise gingen wir zur nächsten Tür.

Viola öffnete die Tür nicht ganz so vorsichtig. Tom war noch wach.

"Tom, wieso schläfst du nicht. Du musst morgen früh aufstehen. Na ja, ist nicht so schlimm. Da kann ich dir Kahlyn vorstellen. Kahlyn, komme bitte mal rein. Das hier ist Tom."

Ich betrat den Raum, wie bei Tim standen hier überall kleine Autos. Aber da waren auch Bücher, ganz viele Bücher sogar. Ich ging auf das Regal zu und sah mir die Bücher an.

"Willst du eins lesen? Dann kann ich dir eins borgen, wenn du willst", fragte mich Tom mit einer glockenklaren Stimme.

Ich sah irritiert zu Viola.

"Wenn du das möchtest, kann dir Tom gern ein Buch borgen? Bringst es einfach wieder mit, wenn du das nächste Mal kommst."

Ich schüttelte den Kopf. Ich würde nicht wiederkommen, ich gehörte nicht hierher. Sagte ich mir immer wieder.

"Du redest wohl nicht viel, oder?", erkundigte sich Tom.

Ich nickte, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

"Tom, jetzt wird geschlafen. Sonst sage ich deinem Vater Bescheid."

Tom nickte. "In Ordnung Mutti, ich schlafe jetzt. Hab nur die Zeit verpasst, Mutti. Das Buch war gerade so interessant."

"Schon gut, komm Kahlyn. Aber jetzt wird geschlafen."

"Mach´s gut Kahlyn. Ich freue mich schon, wenn du bei uns einziehst. Paps hat schon viel über dich erzählt. Also bis bald", Tom legte sich ins Bett und drehte sich zur Wand herum. Schloss sofort die Augen, so wie es Viola Runge verlangt hatte.

"Nachti Großer, süße Träume", sprach Viola, mit einem Klang in der Stimme, den ich nur von Dika kannte.

Sie ging zu Tom und gab ihn ein Kuss auf die Stirn. Dann kam sie wieder zu mir und schloss die Tür. Viola lief weiter nach hinten in dem Flur.

"Na dann komm. Gehen wir noch zu Jenny, meiner einzigen Weiblichen Verstärkung."

Verwirrt sah ich diese Viola an und sie lächelte.

"Kahlyn, hier im Haus leben vier Männer und nur zwei Frauen. Ich hoffe Jenny schläft noch nicht."

Leise klopfte sie an eine Tür, von drinnen hörte man ein genauso leises. "Herein."

 

Viola öffnete die Tür und sah mir aufmuntern zu.  

"Guten Abend Schatz. Schau mal, wen ich dir mitbringen. Das hier ist Kahlyn. Kahlyn, das ist unsere Große Tochter Jenny, sie ist so alt wie Du. Ich denke ihr zwei werdet euch gut verstehen."

Jenny sah mich strahlend an. "Komm doch rein Kahlyn. Na gefällt es dir bei uns?"

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Als Viola die Tür ganz aufmachte, damit ich auch eintreten konnte. Aus einem der Regale heraus, sahen mich lauter kleine Menschen an. Viola war auf ihre Tochter fixiert und achtete nicht auf mich.

"Jenny, stell dir mal vor, Kahlyn, hat das Herz von Tiger erobert. Er hat mit ihr geschmust und sich sogar von ihr anfassen lassen."

Viola drehte sich herum und sah das Entsetzen auf meinem Gesicht.

"Kahlyn, was ist denn?", vorsichtig folgte sie meiner Blickrichtung. "Kahlyn, das sind Puppen. Jenny sammelt sie."

Sie ging auf das Regal zu und holte eine der Puppen heraus. Dann kam sie, mit der Puppe in der Hand auf mich zu. Ich bekam Panik, machte einige Schritte zurück. Ich wusste doch, diesen Menschen zu vertrauen, war ein Fehler, ein sehr großer sogar.

"Jenny, nimm bitte." Viola hielt Jenny die Puppe hin.

Vorsichtig kam sie auf mich zu. "Kahlyn, was ist denn? Das sind Puppen, Kahlyn. Damit spielen die Mädchen. Genau wie die Jungs mit ihren Autos spielen. Hast du noch nie eine Puppe gesehen."

Mühsam, gegen die in mir aufsteigende Panik ankämpfend, nickte ich mit dem Kopf.

Viola reagierte sofort. "Jenny, kommst du bitte mal. Wir gehen in runter", an mich gewandt, informierte sie mich: "Kahlyn, du musst da nicht rein. Kind, du bist ja schneeweiß im Gesicht. Ist dir nicht gut? Ich wollte dich nicht erschrecken."

Diese heuchlerische Frau, tat so, als ob sie sich um mich sorgte. Sie hat mich hier hoch gelockt weil sie ein neues Opfer suchen wollte. Aber nicht mit mir. In mir hat sie sich das falsche Opfer ausgesucht. Sie sollte es nur versuchen, mir zu nahe zu kommen. Wehe sie fasst mich an, dann würde sie etwas erleben. Hass kam in mir hoch und eine ungeheure Wut.

Jenny kam aus ihrem Zimmer und schloss sofort die Tür. "Komm Kahlyn, wir gehen runter in die Küche", Jenny hielt mir ihre Hand hin.

Wie konnte dieses Mädchen nur so tun, als wäre alles in Ordnung. Sie hatte gerade eine Leiche berührt. Mich schüttelte es, regelrecht durch, so sehr ekelte ich mich. Ich war unfähig mich zu bewegen oder etwas zu sagen. Ich kämpfte gegen meinen Hass und meine Wut, die ich kaum bändigen konnte.

Viola schüttelte den Kopf. "Jenny, geh schon mal vor. Wir kommen gleich nach."

Jenny lief in Richtung Treppe, sich immer wieder nach mir umschauend.

"Kahlyn, komm", bat mich Runges Frau.

Viola wollte mich an den Schultern nehmen. Ich wich ihr aus. Fast wäre sie gestürzt. Aber das war mir egal. Sie sollte sich nicht wagen mich zu berühren. Sie sollte mich nicht versuchen anzufassen, dann würde ich sie umbringen.

Ich fand mein Gefühl bestätigt. Mein Bauch hatte mich wie immer nicht getäuscht. Wäre ich nur nicht in dieses Haus gegangen. Ich wusste, dass es nicht gut war, meinen Bauch zu ignorieren. Er hatte es mir gesagt, dass hier etwas nicht stimmte. Mühsam versuchte ich mich herunter zu atmen, um mich endlich wieder zu beruhigen. Allerdings wollte es mir nicht gelingen. Ratlos stand Viola Runge im Gang und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass mich Puppen in Panik versetzen. Also ließ sie mich erst einmal stehen und ging nach unten, um meinen Major zu holen.

Froh, dass diese schreckliche Frau endlich weg war und ich alleine war, ließ ich mich an der Wand nach untern gleiten. Ich setzte mich einfach auf den Boden. Mir war so verdammt schlecht, dass ich nicht mehr laufen konnte. Verzweifelt und ganz alleine, saß ich in diesem schrecklichen Haus fest und legte meinen Kopf auf die Knie.

Alte Erinnerungen kamen in mir hoch, die ich seit vielen Jahren verdrängt hatte. Die nur noch mit dem hohen Fieber kamen. Mir war speiübel und ich zitterte am ganzen Körper. Tief atmend, versuchte ich mich zu beruhigen. Vor allem aber den Hass und die Wut in mir zu bändigen. Ich nahm kaum noch etwas, um mich herum wahr. Auf einmal hörte ich Rudis Stimme.

"Kleene, was ist denn los? Viola kam gerade nach unten. Sie sagt, dass du nicht mit herunter kommst und magst dir auch nicht helfen lassen."

Panisch wandte ich ihm mein Gesicht zu und starrte ihn an. Was Rudi da sah, erschreckte ihn. Das blanke Entsetzen stand auf meinem sonst unbeweglichen Gesicht. Er kam näher und hielt mir die Arme entgegen und hockte sich zu mir.

"Was ist denn los, meine Kleene? Rede mit mir. Sonst kann ich dir doch nicht helfen."

Ganz vorsichtig, auf Abwehrreaktionen von mir gefasst, nahm Rudi mich in den Arm. Ich ließ es gesehen. Ich brauchte einen Halt, um nicht ins Bodenlose zu stürzen. Ich hatte panische Angst, davor etwas zu tun, was den Kindern schaden könnte. Denn die konnte nichts dafür, was diese Menschen hier machten. Sie kannten ja nichts anderes. Mir war schlecht. Ich fühlte mich einsam und unendlich alleine. Hatte das Gefühl, dass ich gleich wahnsinnig werden würde. Vor allem hatte ich Angst, meine Kontrolle zu verlieren. Angst davor, dass meine Wut und mein Hass, über meinen Verstand siegten. Warum ging es mir immer wieder durch den Kopf, ließen diese Menschen, ihre Kinder mit Leichen spielen? Mich würgte es. Wieso ließen der Polizeirat und Rudi das zu. Ich hatte den beiden vertraut. Hatte ich mich auch in den beiden getäuscht?

"Kahlyn, bitte beruhige dich doch. Was ist los meine Kleene?"

Rudi verstand nicht, wieso seine Kleene, wie er mich immer bei sich nannte, auf einmal so durchdrehte. Was war der Auslöser? Dass sie hier, wie ein Häufchen Unglück saß und am ganzen Körper zitterte und krampfte.

"Kahlyn, bitte komm mit nach unten. Hier tut dir doch niemand etwas. Das sind alles ganz liebe Menschen."

Ich brachte keinen Ton hervor. Liebe Menschen? Das ich nicht lache. Diese Unmenschen lassen ihre Kinder, mit toten Kindern spielen und mit toten Hunden. Das sollen liebe Menschen sein? Wieder würgte es mich. Ich wollte hier nur weg. Nur ganz weit weg von hier. Ich rang krampfhaft nach Luft. Ich konnte kaum noch atmen. Der schlimmste Alp hatte mich wieder eingeholt und Rudi tat so, als ob da nichts dabei wäre. Mir war so verdammt schlecht. Meine Muskulatur zog sich im Krampf zusammen und meine Fingerspitzen taten weh. Jeder Atemzug den ich machte, brachte mir Höllenqualen. Ich konnte nur sehr mühsam den Brechreiz unterdrückend. Ich brachte nur einige abgehackte Wörter hervor.

"Will … John … den … anderen … jetzt"

Rudi nickte, obwohl er nicht verstand, warum. Er wusste nun schon zu genau, dass, wenn ich so blockte, bei mir nichts mehr zu erreichen war.

"Komm Kleene, wir gehen in deine Wache."

Rudi erhob sich und half mir mühsam auf die Beine. Ich war kaum noch in der Lage zu laufen, konnte nur noch die Fußballen benutzen, so verkrampft waren meine Muskeln und meine Knie wollten mir im aufrechten Gang nicht mehr gehorchen. Ich wollte aber hier weg. Ohne Hilfe würde ich das nicht mehr schaffen. Kaum, dass ich mich noch gerade halten konnte, denn mein Rücken machte bereits einen Buckel. Meine rasselnde Atmung machte Rudi immer größere Angst. Er fürchte, dass ich jeden Moment ersticken könnte. Ihm wurde Himmel Angst und Bange. Vorsichtig mich stützend und beruhigend auf mich einredend, brachte Rudi mich vor das Haus. Als der Polizeirat ihn etwas fragen wollte, bekam nur ein Kopfschütteln von Sender.

"Ruf die Zentrale an. Sie sollen uns sofort holen kommen", rief Rudi Runge über die Schulter zu.

Vor dem Tor im Zaun, ließ Rudi mich wieder setzen, weil meine Beine nachgaben. Am ganzen Körper zitternd und immer schlimmer gegen den Brechreiz ankämpfend, umschlang ich meine Beine mit den Armen und fing an zu schaukel. Versuchte diese Bilder, wieder ganz nach hinten zu schieben. Dorthin, wo sie hingehörten.

"Kahlyn, bitte rede mit mir. Kleene, wie soll ich dir sonst helfen."

Ich schüttelte den Kopf und lehnte mich nach rechts, von Sender fort und gab dem Drang, mich zu erbrechen, einfach nach.

"Um Gottes Willen, Kleene was hast du? Hast du wieder einen Anfall?"

Rudi sollte ruhig sein. Er sollte endlich ruhig sein. Er wusste, dass diese Frau ihre Kinder mit toten Kindern spielen ließ. Er wusste es genau, aber er hatte nichts dagegen unternommen. Genau wie der Polizeirat. Runge rief Sender etwas zu. Was der Major allerdings nicht verstand. Da ich mich schon wieder erbrach. Deshalb stand er auf und ging auf das Tor zu.

Als Rudi mich los ließ, reagierte ich instinktiv. Ich war frei. Endlich konnte ich weg. Ich wollte schnellst möglich von hier weg. Nie wieder wollte ich hier her. Unweit des Hauses lag ein Wald, den hatte ich vorhin schon entdeckt. Wenn ich es bis dorthin schaffte, fanden sie mich nicht mehr.

Ich sprang auf und lief so schnell ich konnte, auf den Wald zu. Immer wieder strauchelnd und mich aufrappelnd, schaffte ich es den Wald zu erreichen. Dort angekommen, wählte ich den ersten Baum und sprang hinein, kletterte daran nach oben. Kaum, dass ich oben angekommen war, zog ich meine Schuhe aus. Ich warf sie einfach weg, in unterschiedliche Richtungen, um meine Verfolger zu verwirren. Dann sprang ich, von Baum zu Baum, um am Boden keine Spuren zu hinterlassen. Endlich war ich weg von diesen Kindermördern. Aber ich wusste nicht, wo ich hin laufen sollte? Ich wollte zurück, zur Dienststelle.

Da ich ungefähr wusste, wo sie lag, machte ich mich auf den Weg dorthin, um sie zu suchen. Der Wald war sehr klein. Also musste ich sehr schnell wieder auf den Boden zurück und lief, wie ein gehetztes Tier, einen Weg entlang in Richtung Norden. Wir waren vorhin immer Richtung Süden gefahren. Ich lief über ein Feld und kam an den Fluss. Dort angekommen folgte ich dessen Verlauf in Richtung Nordwesten, kam bald darauf in bekanntes Gebiet. Dort entdeckte ich das Stadion. Kurze Zeit später lief ich an den Hallen vorbei, in Richtung Wache. Keine fünf Minuten später klingelte ich an der Tür der Wache. Man öffnete mir und Felix, einer der Wachtmeister, stand im Flur und sah mich entsetzt an. Ich lief an ihm vorbei in den Bereitschaftsraum. Von dort aus sofort weiter in den Schlafsaal. Ich legte mich in mein Bett und rollte mich zusammen.

Durch das Laufen an der frischen Luft, ging es mir wieder etwas besser und die Verkrampfungen hatten etwas nachgelassen. Aber ich bekam die Bilder, nicht mehr aus meinem Kopf. Solange hatte ich nicht mehr daran gedacht. Plötzlich öffnete sich die Tür. John rief nach mir:

"Kahlyn, was ist denn los? Wo ist Rudi?" John kam auf mich zu und setzte sich zu mir auf mein Bett. "Kahlyn, Mäuschen, wie siehst du aus. Du blutest ja. Wieso ist dein Overall total dreckig? Wo sind deine Schuhe? Mäuschen, erzähle mir bitte, was passiert ist. Bitte Kahlyn", John zog mich in seine Arme.

Ich fing wieder an zu zittern.

"Mäuschen, was ist los. Wo ist Rudi? Nein, beruhige dich erst Mal."

Ganz fest hielt mich John. Das tut so gut. Langsam hörte das Zittern auf. Immer wieder streichelte er mir über den Kopf. Dann fing er an mich hin und her zu schaukeln. Irgendwie tat das gut, es beruhigte mich ein wenig.

Kaum hörbar sprach ich das Entsetzliche aus. "John, die spielen mit toten Kindern. Da war ein Zimmer ... mit lauter toten Kindern", wieder fing ich an zu zittern.

"Wieso tote Kinder? Mäuschen, hier spielt man mit Puppen."

Ich schüttelte wie wild den Kopf. "Nein John. Da waren lauter mumifizierte tote Kinder. Alle standen sie ... an Gestelle gebunden ... in den Regalen und diese Jenny ... sammelt sie", presste ich hervor, da ich kaum noch atmen konnte. Mich schüttelte es vor Ekel und ich begann wieder zu würgen.

"Kahlyn, wie kommst du denn auf so einen Quatsch. Keiner, wirklich keiner spielt hier mit mumifizierten toten Kindern. Kahlyn, wirklich keiner. Wenn das jemand tun würde, der würde von Rudi, den anderen und mir richtigen Ärger bekommen. Glaubst du mir das?"

Mühsam schüttelte ich den Kopf. "Ich habe es ... doch selber gesehen. Sie standen in Regalen ... auf Gestellen festgebunden ... und alle nebeneinander. Ich habe es selber gesehen. Gen…", panisch und schwer nach Atem ringend, versuchte ich Luft zu bekommen und schaute zu ihm auf.

"Mäuschen, wie kommst du nur auf so eine wahnwitzige Idee?" Zitternd klammerte ich mich an John.

Ich wollte nicht darüber reden. "Ich habe es doch gesehen … Glaube mir … ich habe… es … gesehen … John.“

"Kahlyn, komm beruhige dich. Wir reden später. Dann erzählst du mir, was los ist?"

John glaubte mir nicht. Er wollte es nicht wahr haben, dass sein Major so etwas zulässt. Aber ich konnte jetzt nicht mehr reden. Es ging nicht mehr. Die Krämpfe wurden immer heftiger. Ständig musste ich würgen und jetzt kam auch noch das Fieber. John hielt mich fest in seinen Armen und wieder schaukelte er mich. Versuchte mich damit zu beruhigen. Immer heftiger würgte es mich. Wieder verkrampften meine Muskeln, waren jetzt auch für John an meinen Körper gut sichtbar und ich zitterte wie Espenlaub. Irgendwann schlief ich erschöpft ein. John ließ mich vorsichtig auf das Bett gleiten und stand auf, um von Senders Büro aus, bei den Runges anzurufen, um erst einmal zu erfahren, was genau vorgefallen war. Da er ja von mir keine nachvollziehbare Antwort bekommen hatte.

 

Runge meldete sich. "Bei Runge."

"Jo, hier ist John. Sag mal, was im Teufels Namen, habt ihr mit dem Mäuschen gemacht. Die kam vor ungefähr vierzig Minuten völlig verstört in die Wache gestürmt und ist seit dem nicht mehr ansprechbar. Verdammt nochmal, ihr ging es gerade gut. Sie hat heute das erste Mal laut gelacht. Was ist denn bei euch schon wieder passiert, dass sie so durch den Wind ist?"

"Dem Himmel sei Dank. Moment John.” Runge hielt die Sprechmuschel zu.

"Jenny, bitte sei so lieb und lauf raus zum Wäldchen und sage Rudi Bescheid. Kahlyn, ist in der Wache. Er braucht sie nicht mehr suchen", erleichtert atmete Runge auf. "John, so jetzt bin ich wieder da. Wir wissen nicht, was passiert ist. Wirklich nicht. Veilchen hat Kahlyn die …"

In dem Moment ertönte ein furchtbarer Schrei. John ließ den Hörer fallen und rannte hinter in den Schlafsaal. Kahlyn saß in der äußersten Ecke ihres Bettes und schrie sich die Seele aus dem Leib. Als wenn man sie gleich umbringen wollte.

"Kahlyn, Mäuschen komm es ist gut. Du hast schlecht geträumt. Beruhige dich doch."

Vorsichtig, um die völlig in Panik geratene Kahlyn nicht noch mehr zu erschrecken, näherte John sich dem Mädchen. Von vorn kamen die Jungs gelaufen. John sagte nur ein Wort. "Raus", dann wandte er sich Kahlyn zu.

"Mäuschen, ganz ruhig. Ich bin ja da. Ganz ruhig Kahlyn. Ich komme zu dir", fortwährend redend, näherte John sich dem wie am Spieß schreiendem Mädchen. "Tzzcht, beruhige dich doch. Kahlyn, ich bin es, dein John."

Max sah zur Tür herein.

"Ruf Jens an, er muss kommen."

Leise und beruhigend sprach John auf das Mädchen ein. Wieder nahm er Kahlyn in den Arm. Aber dieses Mal schlug sie ums sich und wehrte sich nach Leibeskräften.

"Kahlyn, bitte beruhige dich doch."

John fing an, trotz des Wiederstandes den Kahlyn leistete, sie in seinen Armen hin und her zu wiegen. Dabei drückte er, den sich aufbäumenden Körper fest an sich, anders hätte er die Kleine nicht halten können. In seiner Verzweiflung fing der Sanitäter an ein Lied zu summen. Was er bei seiner Tochter immer summte, wenn er sie beruhigen wollte. Langsam ließ ihr Wiederstand nach, langsam beruhigte sich Kahlyn. Verdammt nochmal, was war da nur passiert. Wieder fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Die Tür ging auf, Jens kam herein.

"John, was ist denn hier schon wieder los?", erkundigte sich der Arzt.

John schaute den Arzt verzweifelt an und zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht Jens. Kahlyn kam vor einer reichlichen dreiviertel Stunde hier an, total verdreckt, blutig und völlig verstört. Ich fragte sie, was los wäre. Kahlyn erzählte mir, dass die Jenny mit mumifizierten toten Kindern spiele, die sie in einem Regal sammelte. Ich ließ sie nur wenige Augenblicke alleine, um bei dem Runges anzurufen, dass sie hier ist, da fing sie an zu schreien. Jens, ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Sobald ich sie los lasse, fängt sie wieder an zu schreien. Ihr Herz setzt laufend aus, habe ich das Gefühl. Ich hab Angst um die Kleine, hilf ihr bitte."

Karpo ging zu John und Kahlyn. Als der Arzt Kahlyn berühren wollte, fing sie wieder an zu schreien und sich in Johns Armen zu winden.

"Tzzcht … Kahlyn, ich bin doch hier, ich lasse nicht zu, dass dir etwas passiert", wieder fing John an das Lied zu summen, sie hin und her zu schaukeln. Kahlyn beruhigte sich nicht wieder. Karpo war fassungslos.

"Ich rufe Jacob an. Vielleicht weiß der einen Rat. Hoffentlich ist er zu Hause."

Sofort verschwand er aus dem Schlafsaal und ging in Senders Büro, hob den Hörer auf und wählte sofort die Nummer der Jacobs.

"Bei Jacob", meldete sich Schwester Annas, verschlafene Stimme.

"Kann ich Fritz bitte sprechen, es ist dringend. Tut mir leid, dass ich mitten in der Nacht anrufe."

"Fritz, Jens ist dran mit Kahlyn stimmt etwas nicht", rief Anna ihren Mann.

"Jacob am Apparat. Was ist denn los Jens, was ist mit der Kleinen, wieso schreit sie so?", man hörte in seiner Stimme, die Sorgen die er sich machte.

"Fritz, wir wissen es nicht. Keine Ahnung, wie ich dir das erklären soll. John könnte das besser. Aber der muss bei Kahlyn bleiben. Er ist der einzige der sie im Moment ein wenig beruhigen kann. Weißt du etwas über mumifizierte tote Kinder."

Jacob stöhnte auf. "Oh nein … Ja, aber Jens, was hat das mit Kahlyn zu tun."

"Das kann ich dir nicht sagen. Warte ich frage mal John, ob er weiß, was das bedeuten könnte. Warte", Karpo legte den Hörer auf den Schreibtisch und lief hinter zu Kahlyn und John.

"John, hast du eine Ahnung, was das mit den Kindern bedeuten könnte?"

John antwortete, dabei die sich in seinen Armen windende und die aus Leibeskräften schreiende Kahlyn mühsam bändigend.

"Ich vermute, Kahlyn hat Jennys Puppensammlung gesehen. Ihre Oma macht ca. achtzig Zentimeter große und lebensechte Puppen", erklärte er dem Arzt nach Atem ringen, denn langsam ging ihn die Kraft aus, um Kahlyn zu bändigen.

Karpo drehte sich um, ihm schwante Schlimmes. Er lief eilig zurück zum Telefon. Erklärte Jacob das, was ihm John gerade erklärt hatte.  

Jacob stöhnte auf. "Jens, die Kinder kamen nach einem Einsatz in Rumänien im Sommer 1965 alle, wirklich alle, total verstört nach Hause. Wochenlang konnten wir sie nicht beruhigen, sie schrien sich die Seele aus dem Leib. Kahlyn, die sensibelste von allen, schrie ‚warum hast du sie getötet warum, es sind Kinder‘ viele Monate später, nachdem sich die Kinder beruhigt hatten. Sie waren damals fast neun Wochen nicht mal in der Lage aufzustehen, fragte ich Kahlyn ganz vorsichtig, was los war, ich bekam keine Antwort. Sie zog sich komplett in sich zurück. Vor einem Jahr ungefähr also fast zehn Jahre nach dieser Sache, wurde eins der Mädchen schwerkrank. Es bekam richtig hohes Fieber, es fing wieder an so schlimm zu schreien, genau wie damals. Fast alle anderen Kinder, Jens, fingen in der darauffolgenden Nacht wieder an zu schreien. Kahlyn, war in dieser Nacht bei einem Sondereinsatz, zu dem sie alleine geschickt wurde. Der Pilot rief mich ca. hundertfünfzig Kilometer vor der Schule an, also die Entfernung in der Kahlyn mit ihren Freunden die Verbindung halten konnte, das Kahlyn auf einmal anfing zu schreien. Er wusste nicht, was er machen sollte. Ich sagte ihm er soll ein Stück zurückfliegen und auf mich warten, Sobald er aus dem Bereich heraus war, in dem die Kinder die Verbindung halten konnte, beruhigte sich Kahlyn wieder etwas. Ich fuhr zu ihr und wollte von ihr Antworten.

So leid es mir tat, aber ohne ihre Hilfe, konnte ich den anderen, nicht helfen. Am ganzen Körper schlotternd, erzählte sie mir von dem Einsatz und davon, dass sie eine Höhle fanden, in den lauter tote mumifizierte Kinder waren. Sie erklärte mir, dass diese Höhle wie ein Haus eingerichtet war. Immer wieder erbrach sie sich, wurde von Krämpfen geschüttelt. Jedes Kind hatte etwas anderes gemacht. Das eine wusch Wäsche, das andere kochte Essen, das nächste bediente die anderen Kinder. Eins schaukelte sogar ein Baby in einer Wiege. Jens, es muss furchtbar gewesen sein. So stelle ich mir ein Horrorkabinett vor, eine Puppenstube mit mumifizierten Kindern. Wenn du jetzt sagst, diese Jenny hat lebensechte Puppen in einen Regal stehen. Kann ich mir vorstellen, was in der Kleinen vor sich geht. Sie kennt doch keine Puppen. Woher soll sie auch wissen, dass es so etwas gibt? Alles kam in diesem Moment wieder hoch, von damals, die Kinder haben das nie verarbeiten können. Wie denn auch, es hat doch keiner von uns gewusst. Ich möchte nicht wissen, was diese Kinder noch alles mit sich herum tragen", während Jacob das aufgeregt erzählte, hatte Karpo es kaum geschafft ruhig zu bleiben. Jetzt ließ er den Hörer fallen und lief auf die Toilette, um sich zu übergeben.

"Jens… Jens… bist du noch da", rief Jacob ständig ins Telefon. Als Sender sein Büro betrat.

"Hallo, wer ist denn dran. Jens ist nicht da, ich weiß nicht, wo er ist."

Jacob meldete sich "Hier Dr. Jacob, wer ist am Telefon und wo ist Jens?"

In selben Moment kam Karpo zurück ins Büro, schneeweiß im Gesicht und am ganzen Körper zitternd. Er nahm Sender ohne ein Wort zu sagen, den Hörer aus der Hand.

"Ich bin wieder da, entschuldige Fritz, ich hab mich übergeben müssen. Sag mir einfach, was ich mit der Kleinen machen soll. Mehr kann ich im Moment nicht mehr ertragen."

Jacob verstand seinen Kollegen, nur zu gut, ihm ging es damals ähnlich. "Spritze ihr eine dreifache Dosis von N91 und lasst sie nicht allein. Wir haben damals vier Kinder verloren, die danach einfach schlafen gegangen sind. Passt auf die Kleine auf oder soll ich noch mal kommen?"

Karpo schüttelte den Kopf, dann wurde ihm bewusst, dass Jacob das gar nicht sehen konnte. "Nein, brauchst du nicht. Danke Fritz, wir reden ein anderes Mal. Sei nicht böse, aber mir ist grad nicht nach reden", wieder würgte Karpo und atmet heftig.

"Ist schon gut Jens, das kann ich gut verstehen. Gebe dir auch eine, das N91 hilft bei dir genauso, wie bei Kahlyn. Aber nur eine Einheit bitte und lege dich dann hin, du bist dann nicht mehr einsatzfähig und musst schlafen."

"Danke Fritz, mach ich."

Damit legte Karpo einfach auf. Sender, der seinen Truppenarzt schon in vielen Situationen erlebt hatte, sah ihn fragend an, bekam aber keine Antwort. Karpo schüttelte nur den Kopf. Kurz entschlossen nahm er aus seiner Arzttasche eine Spritze, spritzte sich eine Einheit N91. Dann zog er die dreifache Menge auf und ging hinüber zu Kahlyn. Mit Johns Hilfe gelang es ihm schließlich, der sich wie wild gebärenden, immer noch wie am Spieß schreiende Kahlyn, eine Injektion in die Halsschlagader zu geben. Völlig außer Atem, von dem Kampf mit Kahlyn fragte John, den Arzt.

"Was… ist… mit ihr?"

Karpo schüttelte nur den Kopf und fing wieder an zu würgen, schnell verließ er den Raum. Keine zehn Minuten später schlief Kahlyn ruhig und traumlos. John verstand nicht, was mit seiner kleinen Freundin los war. Aber er wollte Kahlyn auch nicht alleine lassen, also musste er warten. Vorsichtig wollte er sie aus den Armen, auf das Bett legen, damit sie eine bequemere Schlafposition hatte. Sobald er sie losließ fing Kahlyn wieder an zu schreien. Mühsam beruhigte John die Kleine wieder durch hin und her schaukeln. Dann rutschte er mit ihr im Arm, auf das für ihn sehr harte Bett und hielt sie einfach fest in den Armen. Irgendwann schlief auch John, völlig erschöpft von dem fast zweieinhalb Stunden dauernden Kampf, in dieser Position ein.

 

Jo folgte Kahlyn und Rudi aus dem Haus.

"Rudi…" doch der würgte seine Worte ab und rief ihn nur zu.

"Ruf die Zentrale an, sie sollen uns sofort holen kommen."

Völlig irritiert, aber durch den keinen Widerspruch zulassenden Ton seines Freundes ahnend, dass es dringend war, lief er in den Flur, um die Wache anzurufen. Als er aufgelegt hatte, ging er zurück zur Haustür und rief Rudi zu.

"Rudi, die Jungs sind in fünf Minuten da. Schneller geht es leider nicht."

Rudi stand kurz auf, weil er seinen Freund nicht verstanden hatte, dadurch, dass Kahlyn sich übergeben musste.

"Was hast du gesagt?"

In dem Moment als er sich zu Jo umdrehte, sah er wie Kahlyn aufsprang und wie ein gehetztes Tier, in das kleine Wäldchen lief. Kahlyn strauchelte ständig und rappelte sich wieder auf. Rudi war sprachlos und lief ihr hinterher. Allerdings merkte er sehr schnell, dass er keine Chance hatte, dem panischen Mädchen zu folgen. Erstaunt stellte er fest, dass Kahlyn viel schneller lief, als er sich das in seinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Solch eine Geschwindigkeit war doch nicht normal, dachte er bei sich. Er blieb stehen und rief ihr nach.

"Kahlyn, warte doch, ich komme mit. Bleib doch hier, wir fahren gleich in die Wache."

Auch, wenn er wusste, dass es nichts nutzte, wollte er es wenigstens versuchen. Er gab auf. Es hatte keinen Zweck ihr hinterher zu jagen, ohne Taschenlampe, konnte er sie dort drinnen nicht finden. ‚Verdammt noch mal, warum bin ich nur aufgestanden? dachte er bei sich. Jo, wäre auch heran gekommen. Was mache ich nur jetzt. Die Kleine kennt sich doch hier gar nicht aus. Ich muss sie finden.‘ Rudi ging zurück zum Haus.

"Jo, hast du eine Taschenlampe."

Jo stand völlig aufgelöst da, in der Tür. "Verdammt nochmal Rudi, was ist mit der Kleinen? Veilchen und Jenny sitzen drinnen und weinen. Was ist passiert?", verwirrt schaute Runge Rudi an.

"Jo, ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen. Das Einzige, was ich aus ihr heraus bekommen habe, ist, dass sie zu John wollte und den anderen. Jo, irgendetwas, muss da oben passiert sein. Ich habe noch nie, so ein Entsetzen in dem Gesicht eines Menschen gesehen. Jo, die Kleine zeigt sonst nie Gefühle. Mir ist himmelangst und bange geworden. Sie hat kaum Luft bekommen. Vor allem das Gesicht. Du hättest den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen müssen. Als wenn der Leibhaftige vor ihr stehen würde."

Jo raufte sich die Haare. Er war völlig verzweifelt. Das war schon das zweite Mal, dass er mehr oder weniger schuld trug an der seelischen Verwirrung der Kleinen. Nahm das denn gar kein Ende?

"Komm rein. Jenny kann die Lampen holen. Wir müssen mit Veilchen reden, was da oben los war."

Jo und Rudi gingen zurück ins Haus und weiter nach hinten in die Wohnküche. Wo Jenny und Viola weinend am Tisch sitzen.

"Jo, ich wollte ihr doch nur Jenny zeigen", schluchzte Veilchen völlig aufgelöst, als die beiden den Raum betraten.

"Viola, bitte erzähle uns genau, was da oben passiert ist. Bitte genau."

Veilchen versuchte sich zu beruhigen. "Ich ging erst mit ihr zu Tim. Sie sah ihm lange beim Schlafen zu, dann gingen wir zu Tom, auch dort war sie noch ganz normal. Erst als wir zu Jenny kamen, war sie wie ausgewechselt."

"Sie mag mich nicht. Ich habe sie erschreckt. Das wollte ich nicht Paps, wirklich nicht."

Oh nein, ging es Jo und Rudi durch den Kopf. Jenny, bitte du nicht auch noch.

Rudi ging zu seinem Patenkind. "Jenny, dich trifft keine Schuld, wirklich nicht. Kahlyn, hatte eine schlimme Kindheit. Irgendetwas hat sie erschreckt und wir müssen herausfinden, was. Kannst du uns helfen?"

Jenny sah ihren liebsten Paten weinend an. "Als Mutti die Tür aufmacht hat, guckte sie ganz normal in das Zimmer. Wenn sie Reaktionen hätte zeigen können, würde ich sagen neugierig. Paps hat mir erklärt, dass sie das nicht kann. Sie hielt den Kopf ein bisschen schräg. So wie ich das auch manchmal mache, wenn ich nachdenklich bin. Dann erzählte mir Mutti, dass Kahlyn sich mit Tiger angefreundet hat. Kahlyn, sah sich um und sah meine Sammlung. Auf einmal war sie schneeweiß im Gesicht geworden. Sie hatte einen Blick, ich weiß nicht, wie man sowas nennt…", hilfesuchend und schluchzend, sah sie zu ihrer Mutti an.

"Jo, das blanke eiskalte Entsetzen stand ihr auf dem Gesicht. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Mir ging dieser Blick durch Mark und Bein. Ich sagte zu ihr, was ist los und folgte ihrem Blick. Sie schaute in Jennys Puppenregal. Ich nahm eine Puppe heraus. Ich dachte, sie hat noch nie eine Puppe gesehen und wollte sie ihr zeigen. Als ich ihr die Puppe hin hielt, damit sie diese anfassen kann, da stolperte sie rückwärts aus dem Zimmer. Ich gab Jenny die Puppe. Ich wollte mit Kahlyn und Jenny zu euch nach unten gehen. Da reagierte sie nicht mehr auf mich. Ich mache mir solche Vorwürfe. Das wollte ich nicht", Viola fing wieder an zu weinen.

Rudi nahm sie in den Arm, um sie zu trösten.

"Ich weiß nicht, was passiert ist", gestand ihm Viola schluchzend.

Jo sah von seiner Tochter zu seiner Frau. "Das glaube ich dir gern. Viola, ich denke wir werden noch viele solche Situationen durchstehen müssen, wenn wir die Kleene hier aufnehmen. Das ist das, was ich euch heute Nachmittag gesagt habe. Ich weiß aus Kahlyns interner Akte … Rudi, wenn du frei hast, lasse ich dir die "ausversehen" mal auf dem Schreibtisch liegen. Zeigen darf ich dir die ja nicht … dass die Kleene viele schreckliche Dinge erlebt haben muss. Aber keine, wirklich keine, hing mit Puppen zusammen. Jedenfalls fällt mir nichts dazu ein, allerdings bin ich auch erst beim Jahr 1967. Ich denke, ich hätte mir das bestimmt gemerkt. Veilchen, Jenny, euch trifft keine Schuld, hört auf zu weinen. Jenny, sei so lieb und hole uns Taschenlampen, wir müssen Kahlyn finden. Die Kleene ist in Panik und kennt sich hier nicht aus."

Jenny stand weinend auf und ging in den Keller. "Hoffentlich passiert ihr nicht noch irgendetwas", sagte sie im Gehen.

Rudi schüttelte den Kopf. "Das macht mir keine Sorgen. Ich habe Angst, dass sie sich etwas antut. Kahlyn ist es gewohnt auf sich aufzupassen. Sie hat in viel schlimmeren Situationen überlebt. Jo, du bleibst hier. Schau, da kommt die Streife, die Jungs helfen mir suchen. Außerdem muss Jenny ins Bett. Morgen ist Schule", ordnete Rudi an.

Jenny die gerade wieder ins Zimmer kam, schüttelte den Kopf. "Ich kann jetzt nicht schlafen, Onkel Rudi. Ich muss wissen ob es Kahlyn gut geht. Ich schaffe das schon morgen mit der Schule. Ich helfe dir suchen."

Rudi schüttelte verneinend den Kopf. "Jenny, wenn du nicht schlafen gehst, das kann ich verstehen. Aber du gehst nicht dort raus. Kahlyn, ist eine ganz Liebe. Aber ich weiß nicht, was sie in Paniksituationen macht. Es wäre viel zu gefährlich, dich mit dort raus zunehmen. Frage deinen Paps, was sie vorhin mit mir gemacht hat, nur weil ich sie erschreckt habe. Du bleibst hier, das ist mein letztes Wort oder du gehst schlafen", sprach Rudi streng.

Jenny die ihren Onkel kannte, wusste, dass es dann keine Diskussion mehr gab, wenn er in einem solchen Ton sprach.

"Ist gut Onkel Rudi, aber findet sie bitte."

Rudi nahm sich eine Taschenlampe und ging nach draußen zum Toniwagen, um seine Kollegen zu informiert. Er instruierte seine Kollegen genau und bat sie ihn sofort zu holen, falls sie Kahlyn fanden und nichts allein zu versuchen. Denn das Mädchen kannte die beiden Wachtmeister noch nicht. Mit drei Sprechfunkgeräten ausgestattet, gingen sie in das Wäldchen. Immer mehr verzweifelten die Männer, da sie Kahlyn nicht finden konnten. Aber auch weil sie keinerlei Spuren von ihr entdecken konnten. Es war als ob sie sich in Luft aufgelöst hätte. Endlich fanden sie, nach über einer halben Stunde einen ersten Hinweis. Kahlyns Schuhe lagen weit verstreut, an verschiedenen Plätzen im Wald. Was hatte das zu bedeuten? Langsam eine dreier Kette bildend durchkämmten sie jeden Winkel des kleinen Wäldchens. Als plötzlich Jenny angelaufen kam. Laut rief sie nach ihrem Paten.

"Onkel Rudi, Kahlyn ist in der Wache."

Erleichtert atmete Rudi auf. Informierte die beiden Kollegen und ging zurück zu dem Haus der Runges, sein Patenkind um die Schulter fassend. Im Haus angekommen stand Jo, schneeweiß im Gesicht, an der Wand gelehnt.

"Jo, was ist los?", erkundigte sich Rudi sofort.

Jo war völlig durch den Wind. Er holte erst einmal tief Luft, dann fasste er sich und gab konkrete Anordnungen. In einem Ton, dem sich im Haus Runge niemand wiedersetzte.

"Jenny, du gehst zu deiner Mutter, sag ihr Bescheid, dass ich mit Rudi ins Revier fahre und ihr geht schlafen."

Damit ging er zur Tür und zog seinen Freund hinter sich her.

"Jo, was ist los?"

Runge schob seinen Freund, in den Toniwagen und gab den Kollegen die Anweisung, mit Blaulicht und Sirene, ins Revier zu fahren.

"Jo, verdammt nochmal, was ist denn los?", fragte Rudi jetzt ein drittes Mal und diesmal ziemlich barsch.

"Das weiß ich nicht, genau deshalb fahren wir ja ins Revier. John hat mich grade angerufen. Völlig aus dem Häuschen und wollte von mir wissen, was wir mit Kahlyn gemacht hätten. Als ich ihm erzählen wollte, was los ist, hörte ich genau so einen Schrei wie gestern. Ich fand fast, er war noch schlimmer. Ich will wissen, was da los ist. Verdammt nochmal, kommt die Kleene nie zur Ruhe."

In der Wache angekommen, war es 2 Uhr 15. Jo und Rudi waren entsetzt, denn schon draußen vor der Wache, hörten die beiden Offiziere, Kahlyn wie am Spieß schreien. Sender sah seinen Männern an, die alle ganz grau im Gesicht waren, dass es schon die ganze Zeit so schlimm gewesen sein musste. Was hier abging, war noch schlimmer als gestern.

"Jo, kümmer dich bitte um die Jungs, ich gehe gucken, was hier los ist und informiere euch dann."

Sender lief in Richtung Schlafsaal, als er an seinem Büro vorbei kam, sah er die Tür offen stehen. Hörte deutlich, dass jemand, aus dem am Boden liegenden Telefon, nach Jens rief. Er nahm den Hörer auf und meldete sich

"Hallo, wer ist dran. Jens ist nicht da, ich weiß nicht, wo er ist", ein völlig in Aufruhr scheinenter Dr. Jacob meldete sich.

"Hier Dr. Jacob, wer ist am Telefon und wo ist Jens?"

In dem Moment als Sender gerade antworten wollte, kam Karpo zur Tür mehr herein geschwankt, als gelaufen. Wortlos riss er Sender, den Hörer aus der Hand.

"Ich bin wieder da. Entschuldige Fritz, ich hab mich übergeben müssen. Sag mir einfach, was ich mit der Kleinen machen soll. Mehr kann ich heute nicht mehr ertragen."

Karpo hatte sich übergeben müssen, verdammt nochmal. Was war hier los? Fragte sich Sender, immer wieder. Karpo, der sonst immer lächelnde und immer fröhliche, durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringende Truppenarzt, sah aus, als wenn er gleich umfiel. Er verfluchte es, dass er nicht verstand, was Jacob, seinem Truppenarzt erzählte. Er hörte nur Jens antworten.

"Nein, brauchst du nicht. Danke Fritz, wir reden ein anderes Mal. Sei nicht böse, aber mir ist grad nicht nach reden."

Sein Truppenarzt fing an zu würgen, musste sich auf den Stuhl setzen, weil er am ganzen Körper zitterte. Karpo rang nach Luft und war kurz davor, sich zu erbrechen.

"Danke Fritz mach ich."

Sender wollte wissen, was los war. Der Arzt schüttelte nur mit dem Kopf. Karpo stand auf und ging am ganzen Körper zitternd, zu seiner Tasche, zog sich eine Medizin aus einer Ampulle, spritzte sie sich selber. Dann zog er aus der gleichen Ampulle die dreifache Menge auf und eilte schwankend aus dem Büro.

Sender stand wie ein begossener Pudel in seinem Büro und verstand die Welt nicht mehr. Er setzte sich hin und raufte sich, verzweifelt die Haare.

Er hatte Karpo noch nie, wirklich noch nie, so von der Rolle erlebt. Im Hintergrund schrie Kahlyn, wie am Spieß. Es gab wohl keinen Menschen, der noch schlimmer schreien konnte, ging es ihm durch den Kopf. Kaum war Karpo aus dem Büro und Sender hatte den Gedanken noch nicht ganz zu Ende gedacht, begann Kahlyn noch lauter, noch panischer zu schreien. Etwas, was Sender nicht für möglich hielt. Schreie, die er noch nie in seinem Leben gehört und er sich nicht einmal vorstellen konnte. Eilig, wollte er in den Schlafsaal gehen. Als er allerdings sah, mit welcher gewaltigen Kraft sich die junge Frau, gegen Karpo auflehnte und welche Kraft, sein stärkster Kämpfer benötigte, um dieses sich wild gebärende junge Mädchen zu bändigen, ging er lieber nicht auch noch hinein. Aus Angst alles noch schlimmer zu machen.

Nach fast zehn Minuten kam Karpo schwankend und klitschnass geschwitzt, aus dem Schlafsaal. Er war schneeweiß im Gesicht und zitterte am ganzen Körper. Er nahm Sender gar nicht mehr wahr. Sondern ging nur aus dem Zimmer, schloss hinter sich die Tür. Rutschte einfach an der Wand herunter und fing hemmungslos an zu weinen. Im Schlafsaal drinnen schrie Kahlyn immer noch aus Leibeskräften. Sender hockte sich zu seinem Truppenarzt und nahm ihn in den Arm. Der war dankbar für diese Hilfe und begann sich langsam zu beruhigen.

"Jens bitte, was zum Teufel ist hier los. Rede mit mir. Oder soll ich Jacob anrufen und es mir von ihm erzählen lassen?"

Karpo schüttelte den Kopf.

Sender stand auf und zog seinen Freund auf die Beine. "Komm mit nach vorne, bitte."

Der schwankte mehr, als er gehen konnte. Kein Tropfen Blut war mehr in seinem Gesicht, so hatte es den Eindruck. Mühsam ging er Richtung Besprechungszimmer

"Nicht vor der ganzen Truppe, nur wir zwei, bitte und nicht in dein Büro. Das schaffe ich heute nicht mehr."

"Kann ich wenigstens Jo dazu holen? Seine Frau und die Tochter sitzen zu Hause und verstehen die Welt nicht mehr. Ich denke, er sollte ebenfalls wissen, was los ist."

Karpo nickte, wand sich aus Sender Armen. Schwankend ging er auf die Tür des Besprechungszimmers zu. Langsam wurden die Schreie Kahlyns leiser. Sie schien sich zu beruhigen. Sender lief nach vorn zu seinem Freund Runge.

"Jo, kommst du mal bitte. Euch, erzähle ich später, was los ist. Ich weiß ihr könnt jetzt nicht schlafen. Aber beruhigt euch wenigstens."

Runge folgte Sender mit verständnislosem Blick ins Besprechungszimmer. Als er etwas fragen wollte, schüttelte sein Freund den Kopf. Er wusste doch auch nicht mehr. Er winkte dem Polizeirat nur zu mitzukommen. Im Besprechungszimmer angekommen, erschraken beide, denn Karpo saß an der Wand nach unten gerutscht, neben der Tür und zitterte wie Espenlaub.

"Verdammt nochmal, Jens, was ist denn hier los, dass du so durch den Wind bist. Du bist doch sonst durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen. Rede endlich, mir platzt der Kopf gleich. Ich will endlich wissen, was hier los ist", wurde Sender jetzt laut und fuhr seinen völlig verstört wirkenden Kollegen an.

Sender machte es verrückt und vor allem wütend, dass er nicht wusste, was mit seiner Kleenen, wie er Kahlyn bei sich nannte los war. Er wollte ihr helfen, wusste aber nicht wie. Jo Runge stand neben den wütenden Sender und legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und sah fassungslos zu dem Truppenarzt. Er hatte Karpo in vielen schlimmeren Situationen erlebt. Niemals sah er den Arzt in solch einer Verfassung. Karpo der immer noch am ganzen Körper schlotterte und aussah, wie eine Kalkwand, begann sich gerade zu beruhigen. Endlich fing die Spritze bei Karpo an zu wirken und die Farbe kehrte langsam in sein Gesicht zurück.

"Bitte Rudi, gebe mir noch ein paar Minuten, kannst du mir vielleicht einen Kaffee holen?" Sender nickte und lief nach vorn ins Büro, um drei Kaffee zu holen.

Mittlerweilen schien sich Kahlyn beruhigt zu haben. Es war Ruhe im Schlafsaal. Nach dem vorangegangen Geschrei, tat die Ruhe richtig weh. Was um Himmels Willen, war nur los? Ging es Sender durch den Kopf. Was konnte die Kleene so durcheinander bringen, dass sie wieder so durch den Wind war. Senders Gedanken drehten sich im Kreis. Er kam sich vor wie in einem Hamsterrad. Er kehrte zurück in Besprechungszimmer. Wortlos reichte er Karpo einen Kaffee mit viel Zucker, Runge einen mit viel Zucker und viel Milch. Dann überlegte er es sich anders, nahm Karpo den Kaffee nochmals aus der Hand und zog ihn hoch, reichte ihm dann seinen Kaffee zurück, den Runge kurz gehalten hatte.

"Komm setze dich auf einen Stuhl und rede mit uns."

Karpo trank einige Schlucke Kaffee, der sonst so strikte Nichtraucher, fragte Runge. "Jo, hast du eine Zigarette für mich, Bitte."

Flehend sah er Runge an. Der griff in seine Trainingsjacke, zündete ihm einen Zigarette an und gab sie Karpo. Tief inhalierte Karpo den Rauch, langsam wurde er ruhiger. Seine Hände zitterten so, dass er die Zigarette mit zwei Händen halten musste. Plötzlich fing Kahlyn wieder an zu schreien, es schien ewig zu dauern, bis das Mädchen sich wieder beruhigte. Verdammt nochmal, was war da los, ging es Sender und Runge durch den Kopf. Mehrmals wollte Karpo anfangen zu erzählen und jedes Mal versagte ihm die Stimme ihren Dienst. Endlich nach fast zwanzig Minuten war er soweit, dass er wieder reden konnte. Immer wieder von langen Atempausen unterbrochen, in dem er sich versuchte zu beruhigen, erzählte er den beiden befreundeten Männern, was er von Jacob erfuhr. Zum Schluss saß alle drei schwer atmend und gegen ihre Gefühle kämpfend, aber schweigend da. Sprachlos, was sie da gehört haben, fassungslos über das Grauen, was diese Kinder erleben mussten.

Runge der älteste von den dreien, fing sich als erstes. "Wie, um Himmels Willen, soll ich das Jenny und Veilchen erklären? Was sagen wir den Männern dort vorn? Vor allem, wie können wir der Kleenen helfen?"

Karpo schüttelte den Kopf. "Ich weiß es ehrlich nicht. Sie muss damit alleine fertig werden. Keine Ahnung, ob sie therapierbar ist. Ich habe wirklich keine Ahnung. Ich kann auch im Moment nicht klar denken, Jo. Rudi, du weißt, so schnell falle ich nicht um. Aber das hat mich wirklich von den Schuhen geholt. Wie kann dieses Kind so etwas verkraften und vor allem damit leben? Ich frage mich ernsthaft, was sie noch alles erlebt hat. Wie viel Grauen, hält dieses arme Kind noch aus?"

Sender der immer noch nicht wieder klar denken konnte, sah seine beiden Freunde an. "Ich glaube sie ist stärker, als wir alle glauben. Das Leben hat sie stark gemacht und ihr Doko und ihre Dika haben ihr Moral mitgegeben. Ich werde nochmal mit ihr reden, wenn sie das überhaupt noch zulässt", müde erhob sich Sender und rieb sich verzweifelt das Gesicht. "Ich muss nach vorne mit den Jungs reden. Jo, sei so lieb und bringe Jens nach Hause. Gebe den beiden Frauen ein Kuss von mir. Es tut mir leid, ich wollte der Kleenen nur eine Freude machen und das kam dabei raus. Weißt du, was ich langsam aber sicher denke? Wir sollten sie für immer hier behalten, ohne frei und ohne Breitschaft, für ein normales Leben ist Kahlyn, so habe ich langsam das Gefühl, nicht geschaffen", mit diesen Worten wollte Rudi den Raum verlassen.

Runge sprang wütend auf und hielt ihn die Tür zu. "Sag mal Rudi, jetzt merkst du wohl gar nichts mehr. Nur weil Kahlyn, bei der ersten Begegnung mit uns, nicht gleich so spurt, wie du es willst, soll sie den Rest ihres Lebens in der Wache verbringen. Das lasse ich nicht zu. Wir haben gewusst, dass es nicht einfach werden wird. Ich gebe Veilchen die Akte zu lesen. Auch, wenn sie sich die Augen dabei ausweint. Sie muss wissen, was das Mädchen erlebt hat. Dann finden wir schon Wege, ihr zu helfen. Natürlich wird es immer mal wieder Zwischenfälle geben. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass sie zu vielen von uns, ein Vertrauensverhältnis aufbaut, so wie sie es mit John hat. Nur dann, können wir ihr wirklich helfen."

Sender nickte. "Du hast ja Recht Jo. Aber ich muss das erst mal alles verkraften", Sender setzte sich wieder.

Runge klopfte den Freund auf die Schulter. "Kommt mit ihr Zwei. Ich rede mit den Leuten. Jens, hast du noch Injektionen, die du geben kannst, falls einer abklappt? Ich glaube an Schlaf brauchen wir heute alle nicht mehr zu denken."

Karpo nickte zustimmend. Gemeinsam gingen sie vor zu den Anderen, die wie ein Häufchen Elend auf ihren Chef warten.

"Setzt euch Jungs, dass was ich euch erklären muss, zieht euch die Füße weg. Ich habe keine Ahnung, wie wir das alles, John beibringen sollen. Aber das wird sich auch noch finden. Jens, du bist bitte so lieb und schaust noch einmal, nach Kahlyn und John. Im Anschluss gehst vor in die Wachstube. Ruf von dort aus meine Frau an. Informiere sie, wie es Kahlyn geht. Sage ihr, ich komme so schnell wie möglich nach Hause. In der Zentrale sagst du bitte Bescheid, dass ich heute nicht komme. Inge, soll alle Termine absagen oder umlegen. Dann kommst du wieder in den Bereitschaftsraum. Du musst den ganzen Mist nicht noch ein drittes Mal mit anhören, also lasse dir Zeit", gab Runge Karpo genaue Instruktionen.

Der Arzt war froh, dass er nicht dabei sein musste. Runge setzte sich auf einen Stuhl und stützte den Kopf in die Hände.

"Verdammischt nochmal", sprach er mehr zu der Tischplatte, als zu den Leuten, die völlig verstört um den Tisch herum saßen. Dann hob er den Kopf und erblickte die Zeichnungen, von Kahlyn.

"Wer hat das denn gezeichnet?", erkundigte Runge, einfach, um etwas Zeit zu gewinnen.

Sender sah seinen Freund an. "Das war Kahlyn, kurz bevor ich mit ihr zu euch gefahren bin", Sender legte den Kopf seine Hände und stöhnte.

"Das gibt es doch nicht, verdammischt nochmal", schimpfte Runge ein zweites Mal.

 

Dann holte er tief Luft. "Hört zu Jungs, dass was wir gerade von Dr. Jacob erfahren haben, ist purer Horror. Unwissend, haben wir eine Lawine ins Rollen gebracht. Wir müssen der Kleenen unbedingt helfen, hier klar zu kommen. Ich glaube nicht, dass es ihr hilft, dass ich euch diesen ganzen Scheiß erzähle. Denke eher, dass es euch genauso fertig macht wie Jens, Rudi und mich. Aber erzähle ich euch das nicht, könnt ihr den Ernst der Lage nicht begreifen. Der uns, bis vor wenigen Stunden, selber noch nicht klar war und uns passieren noch mehr solcher Pannen. Ich weiß nicht, wie viele solcher Schocks, die Kleene noch verkraftet, ohne wahnsinnig zu werden. Was soll ich also machen, ich muss euch alles erzählen. Bitte tut mir ein Gefallen und dreht nicht durch, es hilft der Kleenen nicht", der Polizeirat schloss die Augen und holte tief Luft. "Folgendes ist passiert. Rudi wollte Kahlyn erklären, was es heißt Frei zu haben, wie ihr wisst, kennt Kahlyn das ja nicht. Also rief er mich an, ob er schnell mit ihr mal vorbei kommen könnte. Im Auto stellte er fest, dass Kahlyn nicht mal wusste, was eine Familie ist. Ihre Definition von Familie, hat sie von diesem Oberstleutnant. Familie in ihren Augen bedeutet folgendes. Die Schule ist ihre Familie, das heißt der Oberstleutnant darf alles mit ihnen machen, sie sind seine Kreaturen und müssen alles tun, was er sagt. Er darf mit ihnen alles tun, was er will und keiner hat ein Recht etwas dagegen zu tun."

Ein Stöhnen ging durch die Mannschaft. Runge nickte seinen Männern zu. Raphael machte etwas völlig Ungewohntes. Er nahm seinen Kopf in die Hände und stöhnte ganz laut. Keiner registrierte das bewusst.

"Ungeheuerlich, so etwas von einem verantwortlichen Offizier zu hören. Da fragt man sich, wozu wir eigentlich hier sind. Aber gehen wir ein Stückchen weiter, in der Geschichte. Kahlyn, so erzählte mir Rudi in der Küche, hat in ihrem Leben noch nie Einfamilienhäuser gesehen, auf alle Fälle nie bewusst. Ganz starr hätte sie aus dem Fenster des Toniwagens gesehen. Als sie ausstieg und zu unserem Häuschen ging, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ich glaube, wenn sie hätte Gefühle zeigen können, hätte ihr Gesicht Erstaunen gezeigt. Wir, das heißt meine Frau und ich sahen das und gingen zur Haustür raus. Sie nahm nichts mehr um sich herum wahr, stand nur da und schaute. Dann kam unser Tiger. Ihr kennt ja alle dieses kleine garstige Biest. Ich bekam einen Schreck und wollte ihn verscheuchen, weil ich Angst hatte, er könnte Kahlyn etwas tun. Aber stellt euch vor, Kahlyn ging in die Hocke und mautze, sie rief ihn einfach. Tiger, dieser alte kratzbürstige Kater, kam auf sie zu, als wenn er sie schon ewig kennen würde und ließ sich von ihr graulen. Immer wieder mautze sie und Tiger antwortete ihr. Fast konnte man glauben sie unterhielten sich. Rudi ging auf Kahlyn zu und wollte sie holen. Sie war wie weggetreten. Ihr könnt euch sicher vorstellen, was dann mit ihm passierte. Er landete im hohen Bogen auf der Matte."

Die Jungs lachten, schon einige Male, hatten sie Kahlyn bei solchen Aktionen erlebt. Raphael saß still, den Kopf auf seine Hände gestützt, da. Er lachte nicht mit, sondern grübelte vor sich hin. Sender beobachtete ihn schon eine ganze Weile, eine ungewohnte Reaktion von Raphael. Demjenigen seiner Truppe, der immer laut und vorwitzig war. ‚Was war los mit ihm? Er musste sich dann mal, mit ihm unterhalten‘, ging es Sender durch den Kopf.

"Wir wollten, dass sie reinkommt. Aber Kahlyn wollte nicht, keine Ahnung, warum. Meine Frau fragte sie und bekam zur Antwort ‚ich gehöre nicht hierher. Das ist nicht meine Welt.‘ Irgendwie gelange es Viola dann doch, Kahlyn zum Reinkommen zu überreden. Sie ging an den Bildern von uns vorbei und jedes Bild hat sie sich angesehen. Es dauerte ewig, bis sie oben im ersten Stock waren. Dort zeigte sie Kahlyn, Tim und Tom, wie sie halt leben. Soweit ging alles gut, dann klopften sie an Jennys Tür, von dem Moment an, lief alles aus den Rudern. Jenny hat, wie ihr wisst jedes Jahr von Violas Mutter, eine selbstgemachte Puppe geschenkt bekommen. Als Kahlyn die sah, stand ihr das Entsetzen im Gesicht geschrieben. Das Mädchen, was wir kennen hat bis auf einmal, noch nie ihre Gefühle gezeigt. Jetzt stand ihr das blanke Entsetzen im Gesicht. Sie war zu nichts mehr zu bewegen. Rudi bekam nur aus ihr heraus, das sie wieder hierher wollte, zu euch und John. Ich glaube, sie fühlt sich hier in Sicherheit", schwer atmend stützte Runge seinen Kopf mit den Händen ab, jetzt kam der schwerste Teil. Immer wieder nickte Raphael, bei Runges Worten. ‚Was geht in dessen Kopf vor sich?‘, fragt Sender sich immer wieder. ‚So hat er Raphael noch nie erlebt.‘

"Rudi brachte sie vor das Haus und ließ sie einen Moment los. Sie sprang auf und lief weg, in einer Geschwindigkeit die ihr euch nicht vorstellen könnt. Rudi, ist ein guter Läufer, schon immer gewesen. Er hatte keine Chance. Sie hat das Stück, bis zu unserem Wäldchen in kaum zehn Sekunden geschafft. Unvorstellbar. Keine fünf Minuten später, war sie hier in der Wache, mit dem Auto braucht man fünfzehn Minuten. Ich weiß nicht, wie schnell diese Kinder laufen könne. Ihr wisst ja, was dann passiert ist. Jetzt wissen wir auch, warum. Dr. Jacob erzählt es, vorhin Jens am Telefon", wieder machte Runge eine Pause.

Im Stillen überlegte er, ob es richtig war die Männer damit zu belasten. Er entscheidet sich für ja. Wie wollten sie sonst Kahlyn helfen, wenn niemanden klar war, wie ernst die Lage war. Er stöhnte leise vor sich hin. Das erste Mal seit dem Runge angefangen hat zu sprechen, nahm Raphael den Kopf von den Händen und schaute zu Runge. Raphael hatte einen merkwürdigen Blick, so voller Wut und Hass.

"Da muss ich jetzt wohl durch", sprach Runge mehr zu sich selbst, als zu den Männern in der Wache. Immer wieder fuhr er sich durchs Haar. "Dr. Jacob erzählte Jens, das 1965, da war Kahlyn also sechs Jahre alt, etwas Schreckliches bei einem Auslandseinsatz passiert war und zwar fanden die Kinder, in einer Höhle, durch die sie mussten, ein Horrorkabinett vor. Dort…", stöhnend sah Runge die Männer an, ihm fiel es so schwer den Männern das zu erzählen. Seine Augen füllten sich mit Tränen und er schämte sich ihrer nicht. "... Dort ... dort waren lauter mumifizierte Kinder die an Gestelle gebunden waren und die dadurch gezwungen wurden verschiedene Handlungen durchführten. Durch die Puppen von Jenny, kam das bei der Kleenen alles wieder hoch. Deshalb schrie sie so. Jetzt hat sie Jens erst mal ruhig gestellt. Aber ich habe keine Ahnung, wie sie damit klar kommt, wenn sie wieder aufwacht", mehr brachte Runge nicht übers Herz den Teams zu erzählen.  

Alleine die Tatsachen genügten um alle zu schockieren, zu was hätte er noch mehr ins Detail gehen sollen. Kein Ton kam von Seiten der Jungs. Es wäre Runge lieber gewesen, alle hätten geschrien. Aber diese Ruhe hier im Raum, tat richtig weh. Raphael derjenige, der sonst immer der erste war, der sich bemerkbar machte, legte den Kopf auf den Tisch und schüttelte sich ständig. Die anderen starrten Runge nur fassungslos an. Nach fast drei Minuten kam die erste Reaktion. Kurt, der jüngste von Serows Team, sprang auf und lief hinter zu den Toiletten. Er war schneeweiß im Gesicht und versuchte krampfhaft nicht zu brechen. Keiner konnte es ihm verübeln, allen waren mehr oder weniger schlecht. Raphael stützte den Kopf auf die Hände und sprach wohl mehr zu sich selber, als zu den anderen. "Wie hält die Kleine das aus? Reicht es nicht, dass dieser Oberstleutnant, so ein Schwein ist und sie misshandelt? Ich dachte immer ich hätte eine schlimme Kindheit gehabt, aber gegen Kahlyn, lebte ich in einem Paradies."

Alle schauten Raphael erstaunt an. Noch niemals hatte er über seine Familie gesprochen, noch nie. Das war ein Tabu Thema, bei dem ihr Kollege immer sehr empfindlich reagierte. Alle dachten, ‚Na gut, wenn er nicht drüber reden will, ist es gut‘. Aber dass er keine gute Kindheit gehabt hatte, ahnte keiner.

"Raphi, wie eine schlimme Kindheit?"

Sender sah ihn jetzt entsetzt an. Raphael schüttelte den Kopf. Er stand auf und ging zum Fenster.

"Es ist nichts. Ist auch egal. Ich will darüber nicht reden", blockte er wie immer alles ab.  

Sender der dachte, dass er jedes seiner Teammitglieder kannte, fiel in dem Moment ein, dass Raphael der Einzige in den drei Teams war, der nicht durch sein Team gelaufen war. Sondern sofort Serows Team zugeordnet wurde.

Die normale Vorgehensweiße war sonst so, dass einer im Team zur anderen Mannschaft wechselte, damals jedoch fielen vier Mitglieder gleichzeitig aus. Er hatte aber nicht alle, gleichzeitig bei sich aufnehmen können, so schickte er Raphael gleich in sein Reserveteam, da er mit Serow gut klar kam und dieser ein sehr guter Teamleiter war, mit einer gesunden Menschenführung. Eigentlich wusste er nichts über Raphael, das musste er dringend ändern, aber nicht heute. Karpo kam in den Bereitschaftsraum, dadurch wurden Sender Gedankengänge unterbrochen.

"Jens, gehe bitte mal zur Toilette. Kurt, ist dort, ihm geht’s nicht gut."

Jens sah wieder etwas besser aus, das beruhigt Sender. Er nickte und ging gleich hinter zu Kurt. Runge jedoch stand auf und ging zu Raphael.

"Raphi, was heißt hier schlechte Kindheit. Bitte, du musst uns helfen. Klar, wir haben alle eine mehr oder weniger schöne Kindheit gehabt, aber ich glaube, keiner von uns würde es als schlechte Kindheit bezeichnen. Einige von uns, sind noch im Krieg geboren und die Nachkriegszeit, war alles andere als schön gewesen. Aber deshalb, von einer schlechten Kindheit zu reden, ist glaube ich etwas übertrieben. Wenn es aber so ist, bist du vielleicht der einzige, der Kahlyn helfen kann, hier klar zu kommen. Bitte Raphi."

Der schüttelte den Kopf. Er machte dicht, genau wie es Kahlyn auch machte, wenn sie mit etwas nicht klar kam oder über etwas nicht reden wollte.

"Raphi was ist los?" Serow kam zu seinem Schützling.

"Es ist nichts, meine Kindheit geht nur mich etwas an", mühsam zwang er sich ruhig zu bleiben.

"Raphi, bitte", setzte Serow unvorsichtiger Weise nach.

Der sowieso, sehr impulsive Raphael explodierte und brüllte seinen Teamleiter wütend an. "Bist du taub oder was? Meine Kindheit geht keinen etwas an, nur mich", wütend stieß er seinen Vorgesetzten von sich und stürmte aus dem Raum. Serow, der ihm nacheilen wollte, wurde durch Runge aufgehalten.

"Detlef, bleibe hier, Raphi beruhigt sich schon wieder, lass ihm etwas Zeit. Jetzt erreichst du bei ihm nur das Gegenteil, von dem, was du erreichen willst."

Jens kam zurück. "Was ist mit Kurt?", erkundigte sich Sender sofort besorgt.

"Ich hab ihm etwas zur Beruhigung gegeben, er schläft. Ich hab auch noch mal nach Kahlyn gesehen, die schläft ganz ruhig, John hält sie in seinen Armen", erleichtert atmete Sender auf.

"Was machen wir nun? Schlafen gehen lohnt sich nicht mehr. Fran, machst du Kaffee, es ist gleich halb 6 Uhr. Ich denke wir sollten Frühstücken."

Wie auf Befehl, öffnete sich die Tür zum Flur. Eine wie immer strahlende Ines Sören betrat den Raum.

"Morgen allerseits. Na hier ist ja `ne Stimmung, wie auf dem Friedhof. Wieso seid ihr schon alle auf?"

Die Antworten die sie bekam, gefielen ihr gar nicht.

"Halts Maul"

"Lass uns in Ruhe"

"Halte die Klappe"

Sören war der Tag versaut, na das konnte ja noch heiter werden, dachte sie so bei sich. Als Runge das Wort ergriff.

"Ruhe! Warum lasst ihr eigentlich euren Frust, an Ines aus. Die kann doch nichts dafür."

Erschrocken, sahen die Männer, Sören an.

"Tut mir leid", kam von denen, die sie gerade angemotzt haben.

"Tut mir leid Ines, wenn du eine fröhliche Frühstücksrunde erwartest, gehe rüber ins Kaffee oder vor in die Wachstube. Ich glaube uns ist allen der Hunger vergangen."

Sören begriff nicht, was los war. "Was issen bei euch wieder los? Kahlyn wieder krank?"

Alle nickten.

Kapitel 7

Keine zehn Minuten später, die Stimmung hatte sich wieder etwas beruhigt, kam Raphael. Er öffnete die Tür und kam zurück in den Bereitschaftsraum. Als Serow zu ihm wollte, schüttelte er nur den Kopf und rief im Vorbeigehen.

"Ich leg mich hin. Bis später", mit diesen Worten verschwand er in Richtung Schlafsaal, nicht bereit mit jemand zu sprechen.

Sender, der das so nicht akzeptieren konnte, lief ihm hinterher. "Raphael, in mein Büro und zwar sofort."

Raphael verdrehte die Augen, das hatte ihm gerade noch gefehlt, eine Standpauke von Sender. Na, er war ja selber schuld. Sender hielt Raphael die Tür auf und ging hinter ihm ins Büro und schloss die Tür.

"Setzt dich", sprach er ernst zu seinem so jungen Kollegen schauend, ging gewohnheitsgemäß, als erstes zur Kaffeemaschine, um sich einen Kaffee zu holen.

"Willst du auch einen?", er blickte zu Raphael, der nickte. "Zucker und Sahne?"

Raphael schüttelte den Kopf. "Bitte, schwarz."

Sender reichte Raphael die Tasse. "Raphi, was ist los mit dir? So hab ich dich noch nie erlebt. Raus mit der Sprache. Ich weiß von Detlef, dass du nie über deine Familie redest. Ich habe das auch immer akzeptiert. Nur mein Freund, wenn du so austickst, kann ich das nicht mehr."

Sender schaute Raphael direkt in die Augen.

Sein junger Kollege holte genervt Luft. "Ich habe vorhin etwas Doofes gesagt, ist schon gut."

Sender schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. Bitte nicht noch ein Sorgenkind, ging es ihm durch den Kopf. "Raphi, du kannst hier auf stur schalten, dann sitzen wir heute Abend noch hier und motzen uns an. Oder du redest jetzt Klartext mit mir und erklärst mir, was los ist. Schlimmer als bei Kahlyn, kann es doch nicht sein oder?"

Raphael nickte. Müde rieb er sich das Gesicht, war hin und her gerissen zwischen seiner Wut, seinem Hass und einem Gefühl, dass er bis dato nicht kannte. Er empfand für Kahlyn so etwas wie Bruderliebe, zählt sie irgendwie, zu seiner nicht vorhandenen Familie. Sie hatte genau so viel Leid wie er erfahren, sogar noch einiges mehr. Gleich beim ersten Treffen, obwohl Kahlyn ihn so runtergeputzt hatte, schloss er sie in sein Herz. Sie hatte etwas an sich, so etwas unschuldiges, etwas Engelhaftes. Auch, wenn sie im Kampf, so hatte er den Eindruck gewonnen, ein Juwel war, ein ganz besonderes und verdammt seltenes sogar, man konnte bestimmt von ihr wahnsinnig viel lernen. Alleine das Nahkampftraining mit ihr, war spitze, so viel hatten sie noch nie in nur einer Trainingseinheit gelernt. Wie sie aus dem Fußfeger herauskam, war der blanke Wahnsinn. Raphael schaut hinüber zu seinem Chef und war ihm dankbar dafür, dass er ihm die Zeit ließ, mit sich selber ins Klare zu kommen. Etwas, dass er bei Rudi Sender immer bewundert hatte, er mochte seinen Dienststellenleiter sehr. Seine Gedanken kehrten zurück zu Kahlyn. Diese Eleganz mit der sie kämpft war bewundernswert, es zeugt von viel Kampferfahrung und vor allem viel Engagement. Aber im normalen Leben, war sie ein kleines Mädchen, das er vor Schaden beschützen sollte, wie eine kleine Schwester halt. Lange sah er noch einmal zu Rudi, rieb sich immer wieder das Genick, er hat schon die unterschiedlichsten Reaktionen erlebt. Sein Pflegevater, war sehr aufgebracht gewesen, als er ihm nach Jahren alles erzählte. Sollte er wirklich so viel Vertrauen zu Rudi haben und mit ihm darüber reden. Würde es ihm dann wieder wochenlang schlecht gehen? Er hatte noch nicht sehr oft über seine Kindheit gesprochen. Vor allem noch nie mit jemand, dem er nicht tausend prozentig vertraute. Warum sollte er auch? Dadurch wurde seine Kindheit nicht besser. Aber, er wollte Kahlyn helfen. Der Polizeirat hatte Recht, wenn sie jemand verstehen und ihr helfen konnte, dann er, weil er wusste wie sie sich fühlte. Ihm ging es vor Jahren genauso, er ging damals durch die gleiche Hölle. Raphael nahm einen Schluck aus seiner Tasse und gab sich einen kleinen Schups und musterte Rudi nochmals lange. Tief holte er Luft und nahm all seinen Mut zusammen. Er würde mit dem Alp der ihn nachts verfolgen würde, schon klar kommen, die Hauptsache war doch, dass es Kahlyn wieder besser ging.

"Vielleicht hast du recht, Rudi. Klar ist es nicht so schlimm, wie bei Kahlyn. Aber sie war auch nicht schön. Ist doch auch egal", versuchte er sich noch einmal, um dieses Gespräch zu drücken.

In Gedanken war es einfach solche Entschlüsse zu fassen, sie aber umzusetzen war schwer. Sender raufte sich wieder einmal die Haare, wie oft hatte er das in den letzten Tagen gehört.

"Raphael, mir ist das aber nicht egal. Ich möchte wissen, was in meinen Leuten vor sich geht. Es tut mir leid, normalerweise machen, dass die Leute, bei mir in den ersten Tagen durch. Wie nennt es John immer ‚Die Durchleuchtung‘ also raus mit der Sprache, was ist los?"

Raphael sah traurig in die Tasse, dann dachte er nochmal an seinen Entschluss, vielleicht könnte er der Kleinen wirklich helfen. Leise in seine Tasse blickend, begann er zu erzählen.

"Rudi, mein Vater war wie dieser Oberstleutnant. Er war ein Schwein. Er schlug mich als Kind so oft grün und blau, dass ich sogar im Hochsommer, nur langärmlig herum laufen konnte. Zu essen bekam ich nur, wenn ihm gerade mal danach war und weil das nicht reichte, hat er mich im Suff sogar…", Raphael konnte nicht weiter sprechen, die Tasse glitt ihm aus seiner Hand und zersprang auf dem Boden in tausend Teile. Sender, der Raphael beobachtet hatte, konnte nicht glauben, was der ihm erzählte.

"Er hat dich missbraucht, Raphi?"

Raphael nickte stumm und Tränen der Wut, stiegen in seine Augen.

Sender stand auf und ging zu seinem jungen Kollegen. "Warum hast du ihn nicht angezeigt?"

Sender hob das Kinn von Raphael mit der Hand nach oben, nachdem er sich auf den Schreibtisch gesetzt hatte und zwang Raphael auf diese Weis, ihn anzusehen.

Raphael zuckte mit den Schultern. "Damals glaubte ich noch, dass mir das keiner glauben würde. Er hat genau das gesagt, was Kahlyn über ihre Familie gesagt hat. ‚Ich bin deine Familie, du musst tun, was ich dir sage und ich kann machen mit dir, was ich will und keiner kann mir das verbieten‘. Deswegen hat mich das ja so aufgeregt, Kahlyn tut mir so leid, ich weiß wie sie sich fühlt", auf einmal brach alles aus Raphael heraus. "Als ich damals zu Hause weg bin, dachte ich noch jeder lebt so. Rudi ich hatte nie Freunde. Keiner wollte mit dem schmuddeligen Raphael, etwas zu tun haben. Ich gewöhnte mir an, meine Unsicherheit durch freche Worte zu überspielen. Als ich vierzehn Jahre alt war, ging ich in die Lehre und zog zu Hause aus. Ich wohnte auf einmal zur Untermiete. Kam bei einer Familie unter, die super lieb war. Bis dahin wusste ich gar nicht, was dieses Wort bedeutet. Ich kam dahin und am ersten Abend, als mir der Mann über den Kopf streicheln wollte, floh ich aus dem Zimmer. Ich bekam Panik, ich dachte er wollte mich schlagen. Die Frau kam mir hinterher und wollte mich beruhigen. Ich war in mein Zimmer geflohen und hatte mich in der äußersten Ecke, hinter den Schrank versteckt. Dort hatte ich Sicherheit, hinter mich konnte niemand, rechts und auch links, konnte mir niemand etwas tun. Nur von vorn, konnte man mich schlagen und da konnte ich mich schützen. Viele Monate hat es gedauert, bis ich begriff, dass mir niemand etwas Böses wollte. Dann irgendwann erzählte ich den beiden alles. Sie fingen mich auf und lernten mir, wie eine Familie wirklich ist. Sie erklärten mir alles, was für euch normal ist. Beide ermöglichten es mir auch, zur Polizei zu gehen. Aber ich habe nie jemanden davon erzählt. Warum auch, es wird davon doch nicht besser. Ich kann Kahlyn so gut verstehen. Ihr habt alle so komisch geguckt, als ich zu Kahlyn sagte, dass ich diese gemeinsamen Mahlzeiten so liebe, ich kenne das erst, seit dem ich vierzehn Jahre alt bin", traurig sah er zu seinen Füßen, wo die kaputte Tasse lag. "Tut mir leid wegen der Tasse, ich bringe dir eine neue mit", brachte er mühsam hervor, schwer gegen seine Emotionen kämpfend und wollte sich bücken, um die Scherben aufzuheben.

Sender jedoch, drückte ihn auf seinen Stuhl zurück. "Raphi, es tut mir echt leid, was dir geschehen ist. Warum, aber Junge, hast du noch nie etwas gesagt. Du musst das nicht alles alleine tragen."

Raphael sah Sender traurig an. "Du hast keine Ahnung wie das ist, wenn man sich jeden Tag in der Schule, beschimpfen lassen muss, als Assi. Wenn keiner etwas mit dir zu tun haben will, weil du stinkst. Wenn du im Sportunterricht nicht richtig mitmachst, bekommst du Ärger mit der Lehrerin, du traust dir aber nicht zu sagen, dass es nicht besser geht, weil dein Vater dir am Tag zuvor, die Rippen gebrochen hat. Oder, weil du nicht mit zum Schwimmen gehst. Weil du dich dann ausziehen musst. Das kannst du aber nicht, weil dann jeder deinen zerschlagen Körper sehen würde und du deshalb Zuhause wieder Ärger bekommst. Dabei würdest du gern schwimmen, weil du das Schwimmen über alles liebst. Am nächsten Tag bekommst du vom Lehrer einen Tadel, weil du die Schule geschwänzt hast. Oder, du kommst ohne Hausaufgaben in die Schule, weil dein Vater dein Heft, fünf Minuten vor dem Gehen zerrissen hatte. Ihr habt doch alle keine Ahnung."

Plötzlich, unerwartet fing Raphael an zu weinen. Sender war entsetzt, er hatte geglaubt, dass was ihm Kahlyn erzählt hatte, wäre eine Ausnahme. Jetzt hatte er plötzlich noch jemanden in seiner Abteilung, der ein ähnliches, wenn auch auf eine andere Art hartes Schicksal hinter sich hatte. Nur, dass er dieses Schicksal, seit neunundzwanzig Jahren alleine tragen musste.

"Raphi, schau mich mal an", er nahm Raphaels Kinn und zwang ihm so, zu ihm hoch zu sehen. "Bitte Junge, du musst nie wieder, alleine damit klar kommen. Aber ich habe eine Bitte an dich, erzähle uns allen, was du erlebt und wie du dich gefühlt hast. Kahlyn, kann das doch nicht, sie hat nie eine andere Welt kennen gelernt, als diese Schule. Du schon, vielleicht hilft es uns zu verstehen, wie sie sich fühlt."

Raphael schüttelte den Kopf. "Rudi, ich kann das nicht. Ich hab dir das jetzt im Vertrauen erzählt. Weil ich weiß, dass du das nicht breit trittst. Was denkst du, warum ich keine Frau habe? Ich kann das nicht, sobald mich eine Person, egal welches Geschlecht sie hat, auch nur anfasst, fliehe ich. Ich ekle mich vor allem, was körperlicher Kontakt ist. Es ist schon immer schwer für mich, nicht zusammen zu zucken, wenn mir jemand mit der Hand auf die Schulter haut. Was denkst du, warum ich so abweisend bin? Versuche doch einmal meine Situation zu verstehen."

Sender stand auf und holte sich und Raphael neuen Kaffee.

"Aber so geht das doch nicht weiter, Raphi. Sprich wenigstens mal mit Jens darüber oder soll ich das machen. Vielleicht kann der dir helfen."

Raphael schüttelte den Kopf. "Ich habe schon sieben Therapien hinter mir. Ich bin nicht therapierbar, hat man mir gesagt. Aber ich komme schon klar. Nur, das mit Kahlyn, hat mich aus der Spur geworfen."

Eine Weile starrte er in seine Tasse, tief in Gedanken versunken. Plötzlich fasste er einen Entschluss. "Rudi, ich werde über einiges reden, aber nicht über alles, bitte. Aber bestimmt Dinge lasse ich weg, es ist schon schlimm genug, es zu erleben. Man muss nicht noch, darüber reden. Verstehst du", ernst sah Raphi seinen Chef an.

"In Ordnung, du entscheidest ganz allein, über was du reden willst. Aber jedes Gefühl, was du uns erklären kannst, hilft uns einen Schritt weiter, bei Kahlyn."

Raphael nickte, hielt Sender die Tasse hin und bückte sich, um die Scherben aufzuheben. Stand auf und holte einen Lappen, aus dem Nachbarzimmer, um den Kaffee aufzuwischen. Sender ließ ihn gewähren, er konnte sich denken, dass sein Kollege Zeit brauchte, um sich zu beruhigen. Als Raphael fertig war, gab er ihm die Tasse zurück.

"Raphi, kannst du mir eine Frage ehrlich beantworten."

"Ich werde es versuchen", antwortet dieser leise.

"Na ja, eigentlich sind es zwei Fragen."

Raphael lächelte seinen Vorgesetzten an, weil er ahnte welche Fragen dieser jetzt stellen würde. Es waren die gleichen, die ihm auch seine Zieheltern stellten.

"Egal, mach nur, jetzt hab ich A gesagt, jetzt muss ich auch mit dem B leben."

Sender lächelte zurück, langsam wurde sein Kollege wieder der Raphael, der er immer war. Wenn er ihn jetzt auch, mit anderen Augen sah.

"Hast du jemals mit den Gedanken gespielt deinen Vater zu töten? Als du zur Polizei gegangen bist. Warum bist du zur Polizei gegangen?"

Raphael atmete tief ein und aus. "Rudi, das ist nicht so einfach, mit ja oder nein zu beantworten, das ist komplizierter."

Sender nickte, das konnte er sich vorstellen.

"Zu deiner ersten Frage, ob ich mit dem Gedanken gespielt habe, meinen Vater zu töten. Als Kind, habe ich das oft vorgehabt, aber es hat mir immer der Mut gefehlt. Wenn er besoffen im Bett lag und sich hätte nicht wehren können, stand ich so manches Mal, mit einem Messer in der Hand vor seinem Bett. Aber ich konnte es nicht. Als ich dann zur Polizei ging, war mir zwar klar das ich das theoretisch mit eine Waffe besser könnte und durch meine Ausbildung, hätte ich es auch machen können. Aber es kam für mich nie in Betracht. Schon meiner Zieheltern wegen. Mein Ziehvater, war ein Polizist im Ruhestand. Er war es auch, der mich auf die Idee brachte, Polizist zu werden. Er konnte nicht verstehen, dass ich mir all das habe gefallen lassen. Er hat nie verstanden, warum ich nie zur Polizei gegangen bin und diesen Mann angezeigt habe. Aber er lernte mir, zur Polizei Vertrauen zu haben. Dadurch dachte ich, wenn ich bei der Polizei bin, kann ich vielleicht mithelfen Kinder zu beschützen. Damit es keinem Kind, mehr so schlimm geht, wie mir. Es ist mir auch schon, einige Male gelungen", wieder sah er nachdenklich, in seine Tasse. "Aber als ich Kahlyn kennenlernte, kam alles wieder hoch. Diese ganze Scheiß Wut. Soll ich dir mal etwas verraten."

Sender nickte.

"Dieser Oberstleutnant hatte Glück, dass ich nicht hier war, ich hätte ihn ohne nachzudenken getötet", beschämt guckte er in seine Tasse.

"Genau das ist der Punkt, Raphi. Dass dir, deine Vergangenheit gefährlich werden kann. Aber jetzt weiß ich Bescheid, kann dich von solchen Taten abhalten. Wir bekommen das schon hin. Nun komm mit vor."

Damit erhob sich Sender und ging aus seinem Büro. Raphael stand auf, folgte ihm. Vorn saßen immer noch die Kollegen, am unberührten Frühstückstisch.

Raphael ging zu Serow. "Tut mir leid Detlef, wegen vorhin", der grinste seinen Freund an.

"Ist nicht deine Schuld, Raphi. Ich hab dich halt auf dem falschen Bein erwischt. Ich weiß ja, dass du es nicht so meinst."

Raphael nickte und ging auf seinen Platz, wie oft hatte er wohl Detlef schon diesen einen Satz gesagt, ging es ihm durch den Kopf.

Runge sah zu Sender. "Na alles geklärt?"

Sender nickte.

Raphael dagegen nahm sich ein Brötchen und schmierte es sich, fing einfach an zu essen. Der neben ihn sitzende Mario schüttelte Kopf.

"Wie kannst du jetzt etwas essen, Raphi?", fragte er ihn wütend.

Raphael aß einfach weiter. Nachdem er aufgegessen hatte, trank er einen Schluck Kaffee. Dann wandte er sich Mario zu.

"Wie ich essen kann? Fragst du mich. Das kann ich dir erklären. Ich wäre als Kind verhungert, wenn ich nicht dann, wenn es etwas zu essen gab, gegessen hätte. Auch, wenn ich wütend war oder geschockt oder kurz vorher erst windelweich geprügelt worden bin", erklärte er in einem bösen Tonfall. Erschrocken sahen ihn seine Kollegen an. "Ich hätte nämlich nie etwas gegessen", setzte er erklärend und traurig nach.

Mario sah seinen Teamkollegen entsetzt an. "Wie, du wärst verhungert, Raphi?"

Raphael schluckte schwer an den Erinnerungen, die durch seinen Kopf schossen, dann stützte er seinen Kopf auf die Hände, saß schweigend da. Nur Sender der genau wusste, was im Augenblickt im Kopf seines Kollegen vor sich ging, ahnte welchen schweren Kampf dieser mit sich kämpfte. Mario wollte noch etwas sagen, doch Sender sagte kurz angebunden.

"Ruhe."

Da schwieg Mario und sah seinen Major erstaunt an. Der schüttelte nur den Kopf, ein Zeichen, dass es besser war zu schweigen. Mehrmals holte Raphael tief Luft, dann fing er ganz leise an zu erzählen.

"Solange ich denken kann, hat mein Vater mit mir Sandsack gespielt. Immer, wenn er wütend nach Hause kam, schlug er mich halb tot. Er fand immer einen Grund. Ich war vier Jahre alt, das ist das erste Mal, an dass ich mich genau erinnere. Da hatte ich den Tisch, noch nicht fertig gedeckt. Da gab er mir einen Tritt, dass ich durchs ganze Zimmer flog. Als ich weinte, schlug er mir links und rechts eine ins Gesicht. ‚Steh auf du Wichser, du bist ein Mann. Du hast nicht zu flennen, wie ein Weib.‘ Er holte noch mal aus, da schluckte ich meine Tränen runter und stand auf. Ich wollte nicht noch mehr Schläge abbekommen. Ich wusste ja, wie das lief. Ich ging zum Tisch und beeilte mich, dass alles fertig wurde. Aber ich hatte keinen Hunger mehr. Ich saß da und starrte auf meinen Teller, auf dem eine Schnitte trockenes Brot und ein Würstchen lag. Mein Vater schaute mich an, ich werde sein Gesicht nie vergessen, er griente breit. ‚Du hast keinen Hunger, du kleiner Wichser? Das ist gut dann hab ich mehr. ‘ Er griff nach meinem Teller und aß mein Zeug mit. Dann schickte er mich in mein Bett. In unserer Wohnung, gab es eine Nische, die war ungefähr zwei Meter lang, ein Meter hoch und einen halben Meter breit, da drinnen lag eine Decke, das war mein Bett. Ich verkroch mich in die hinterste Ecke und rollte mich zusammen. Wie eine Katze und weinte mich in den Schlaf."

Wieder schluckte Raphael hart und kämpfte gegen seine Gefühle. Er stand auf und ging zum Fenster, er wollte seine Kollegen nicht ansehen. Aus dem Fenster schauend sprach er weiter.

"Am nächsten Morgen, deckte ich den Tisch. So wie ich es gewohnt war, stellte Margarine, Sirup und Brot auf den Tisch. Ich setzte mich und wartete, dass er aufstand. Ohne ihn durfte ich nichts essen und konnte es ja auch nicht, ich war noch zu klein. Kurz vor dem Mittag, die Sonne stand schon sehr hoch, stand er auf, setzte sich und schnitt sich eine Scheibe Brot ab, schmierte sich eine Schnitte und aß. Ich war noch zu klein, ich konnte mir keine Scheibe abschneiden. Er sah mich an und lachte, ‚Hast wohl Hunger, du Furz? Heute bekommst nichts, hättest gestern Abend essen sollen.‘ Damit war die Sache für ihn vom Tisch. Ganze drei Tage hat er das, mit mir durchgezogen."

Raphael schlug wütend gegen die Wand. Versuchte sich mühsam zu beruhigen. Ganz bewusst holte er Luft, um sich herunter zu atmen und so seine Wut in den Griff zu bekommen.

"Ihr wisst doch überhaupt nicht, was Hunger ist. Ihr ahnt doch nicht einmal, wie weh Hunger tut. Man hat das Gefühl, das einen tausende Messer durch den Bauch fahren. Man bekommt Krämpfe, man bricht und zwar solange bis man nur noch Blut spuckt. Aber man gewöhnt sich dran, nichts zu bekommen. Manchmal, bekam ich von einer Nachbarin etwas zu essen geschenkt. Die rief oft bei der Polizei an, aber nie konnten sie diesem Arsch, was sich mein Vater nannte, etwas nachweisen. So erging es mir bis ich vierzehn war. Erst dann lernte ich euer Leben kennen. Lernte, was es heißt, geliebt zu werden. Meine Zieheltern, die mir während meiner Lehre ein Zimmer vermieteten und mich dann für immer aufnahmen, habe ich zu verdanken, dass ich Polizist geworden bin. Ohne sie, weiß der Teufel, wäre ich wahrscheinlich schon längst tot oder im Knast."

Schweigend kehrte er an den Tisch zurück, setzte sich auf seinen Platz und stützte den Kopf in die Hände, schwieg. Er konnte nichts mehr sagen. Diese verdammte Wut hatte ihn voll im Griff, er musste sich erst einmal beruhigen. Seine Kollegen starrten ihn an. Sie konnte nicht glauben, was der immer zu Scherzen aufgelegte, oft sehr impulsive Raphael, ihnen da erzählte. Die meisten von ihnen waren in guten und liebenswerten Familien groß geworden. So etwas dachten sie, gab es nur bei anderen, aber doch nicht hier mitten unter ihnen. Ein Fehler den viele Menschen begingen.

"Aber warum, hast du ihn nie angezeigt", war eine Frage, die man Raphael schon so oft gestellt hatte.

Während seiner Ausbildung zum Polizisten, musste er wie alle zum Psychotest, damals hatte ihn der Psychologe das immer wieder gefragt. Raphael holte noch mal Luft, versuchte so leise und ruhig wie irgend möglich, zu sprechen.

"Warum nicht? Warum glaubt ihr eigentlich, gibt es so viele Kinder die misshandelt werden und nie entdeckt werden. Oder erst entdeckt werden, wenn sie völlig zerschlagen oder gar tot, irgendwo weggeschmissen werden. Weil man als Kind glaubt, dass die Erwachsenen einen niemals glauben würde. Weil man denkt, dass man selber daran schuld ist geschlagen zu werden und weil man keinerlei Vertrauen mehr hat. Weil der Papa oder die Mama es dir bei jedem Schlag regelrecht einprügeln, dass du keine Rechte hast. Ihr habt doch gehört, was Kahlyn gesagt hat. Die gleichen Worte, bekam ich stets von meinem sogenannten Vater, zu hören. ‚Ich bin deine Familie! Du musst machen, was ich sage! Ich kann mit dir tun, was ich will! Und keiner kann mich daran hintern. ‘ Was denkt ihr, warum ich vorhin so ausgetickt bin. Normalerweise wollte ich das nicht laut sagen, es war mir gar nicht bewusst, dass ich laut gesprochen habe. Ich kannte doch auch nichts anderes, verdammt nochmal. Für mich war das ein normales Leben, Normalität nannte ich das", wieder saß Raphael grübelnd da und starrte auf die Tischplatte.

Serow, der nicht glauben konnte, was er da zu hören bekam, kam mit einem Argument, das so oft vorgebracht wurde. "Aber du musst doch bei Freunden gesehen haben, dass es auch anders geht."

Raphael begann laut und schallend zu lachen. Sein Lachen klang so abgrundtief böse, das eine Gänsehaut über den Körper lief. Dieses Lachen von ihm, war so voller Hass und in seinen Augen stand so viel ungezügelte Wut, dass seine Kollegen ihn nicht wiedererkannten. Das war nicht der Raphael den alle mochten, dieser Raphael lehrte sie das Grausen. Nichts hielt den überreizten Kollegen jetzt mehr auf seinen Stuhl. Raphael so wütend auf Detlef, obwohl dieser nichts dazu konnte, dass beim Aufspringen der Stuhl nach hinten wegflog und er mehr zum Fenster rannte als ging. Nur um weg von seinen Kollegen zu kommen und nicht vor Wut jemanden zu schlagen. Raphael stand mit zu Fäusten geballten Händen am Fenster, deren Knöchel weiß waren, so fest hatte er sie geschlossen und starrte ohne etwas zu sehen, hinaus auf die Kreuzung.

"Bei welchen Freunden denn, Detlef? Glaubst du wirklich ich hatte Freunde? Verdammt nochmal, seid ihr wirklich so bescheuert, dass ihr das nicht begreifen könnt oder stellt ihr euch hier nur als dämlich an, um mich zu provozieren?", schrie er jetzt seine Freunde und Kollegen an und drehte sich dabei abrupt um.

Raphael atmete schwer und versuchte sich zu beruhigen, stützte sich dabei auf die Stuhllehne von Marios Stuhl und krallte sich dort regelrecht fest. Seine Augen, sein Gesicht, die gesamte Körperhaltung, alles drückte pure Wut und unendlichen Hass aus. So hatte keiner der Kollegen, den immer zu Scherzen aufgelegten, jemals Raphael gesehen. Man konnte richtig Angst vor ihm bekommen. Die Schlagadern am Hals traten hervor und man sah sie regelrecht pulsieren. Raphaels Augenlider zuckten und alle Muskeln in seinem Körper waren angespannt. Seine Atmung ging rasselnd und stoßweise. Raphael stand kurz davor durchzudrehen. Er drehte sich erneut zum Fenster um, stützte seine Arme gegen das Fensterbrett, um einfach wieder Luft zu bekommen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Es dauerte fast drei Minuten, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte. Erst dann konnte er in einem fast normalen Ton, zu seinen Kollegen sprechen. Ruckartig drehte er sich um und sah seine Kollegen immer noch böse an. Obwohl er leise sprach hörte man seine ganze Wut aus diesen Worten heraus.

"Ihr begreift es wirklich nicht oder? Wenn man so ein Kind ist, ist man völlig isoliert. Man hat keine Freunde. Wie denn auch? Niemand will etwas mit einen wie dir zu tun haben. Wer von euch, hätte sich je mit einem, stinkenden, verwahrlosten, ständig Läuse habenden Kind abgegeben. Wer?" Immer lauter wurden er, brüllte das letzte Wort regelrecht hinaus. "Wer? Verdammt nochmal, wer?", fragte er noch mal ganz leise. Tränen der Wut liefen ihm übers Gesicht. Wieder musste sich Raphael beruhigen und stützte seine Arme auf das Fensterbrett, versuchte sich mühsam runter zu atmen. Sprach dann hinaus zur Straße, nur um niemanden ins Gesicht sehen zu müssen.

"Meistens war ich dreckig und ungewaschen, meine Sachen hatte ich oft wochenlang an, bis ich sie dann selber einmal gewaschen habe, mit Seife und kalten Wasser. Im Sommer öfter, als im Winter. Ich besaß nur eine Hose und ein Hemd, ich besaß nicht einmal Unterwäsche, geschweige denn Schuhe. Im Winter trug ich Schuhe die ich mir aus Pappe baute. Was denkt ihr, wie viele Kinder, mit mir dem Stinki, wie sie mich immer nannten, spielen wollten. Keiner verdammt nochmal und wenn es einer versuchte, unterbanden es die Eltern. Mit solch einem Drecksack gibst du dich nicht ab, was sollen denn die Leute von uns denken?, sprachen die Eltern dann zu ihren Kindern. Irgendwann gewöhnte ich mir an, meine Wut und meine Aggressionen hinter frechen und vorlauten Bemerkungen zu verstecken. Etwas, dass ich mir bis heute noch nicht abgewöhnen konnte. Weil es etwas ist, dass ich absolut nicht steuern kann. Es ist zu einem Reflex bei mir geworden, wie bei Kahlyn das Werfen. Wisst ihr, wie man sich fühlt, wenn man so wie ich gerne Sport macht und im Sportunterricht nicht mithalten kann. Weil ein der Vater am Tag zuvor, sämtliche Rippen gebrochen hat. Ich bin damit in die Schule gegangen und nie zum Arzt. Wie hätte ich denn alleine zu einem Arzt gehen sollen? Sagt mir das. Man ist doppelt bestraft, man kann keinen Sport machen und man hat Schmerzen. Nein, eigentlich sogar dreimal. Denn man bekommt auch noch vor der gesamten Klasse gesagt, dass man unfähig ist und ein Versager. Der Lehrer, der ach so tolle Lehrer putzt ein runter, weil man ja ein Dreckschwein ist und sowieso zu nichts taugt, als Assi Kind. Oder man schwänzt Schule, weil Schwimmunterricht ist. Da kann man nämlich nicht hingehen, weil man sich dann ja ausziehen muss. Wie verdammt noch mal hätte ich schwimmen gehen sollen? Ich besaß nicht mal eine Unterhose, geschweige denn eine Badehose. Wieder wird man dreimal bestraft. Das erste Mal vom Vater, der dich halb tot schlägt. Das zweite Mal vom Lehrer, der dich vor der Klasse runterputzt und dir sagt, dass du zu dumm zu allen bist und dich ständig einen Versager nennt. Zu guter Letzt, weil du etwas, dass du von ganzem Herzen liebst, nicht machen kannst. So sieht die Gerechtigkeit von misshandelten und verwahrlosten Kindern aus. Ihr ganzes scheiß beschissenes Leben ist so und rings um sie herum, sitzen nur Klugscheißer, die hinter alles besser wissen und von nichts eine Ahnung haben. Nur helfen tut dir kein Schwein. Entweder du hilfst du selbst oder verreckst oder du landest im Knast, weil du dich ein einziges Mal gewehrt hast. Du verlierst zu allen Menschen, die um dich herum sind, das Vertrauen. Du bist ständig alleine und nur auf dich selber angewiesen. Alleine bist du deshalb, weil keiner da ist der deine Tränen trocknet, deine Wunden versorgt und dafür sorgt, dass dir Gerechtigkeit widerfährt. Du bist immer allein. Ihr habt doch alle keine Ahnung, wie so ein Leben ist. Ich leg mich hin, tut mir leid, ich kann einfach nicht mehr."

Raphael ließ seine Kollegen einfach sitzen und ging nach hinten in Richtung Schlafsaal. Er musste allein sein, sich beruhigen, sonst würde er noch etwas tun, was er hinter her bereut. Er ging zu seinem Spind und zog sich aus. Dann ging er unter die Dusche. Er kam sich schmutzig vor und wollte den ganzen Mist einfach nur abwaschen. Viel zu viel hatte er in der letzten halben Stunde von sich preisgegeben, er konnte seinen Kollegen nie wieder unter die Augen treten, das wurde ihm eben schlagartig klar. Nach einigen Minuten rutschte er an den Kacheln herunter und weinte wie ein Kind. Lange saß er dort. Weinte sich den Hass und die Wut einfach von der Seele. Es tat gut diesen ganzen Mist, einmal heraus zu lassen. Das Wasser lief über seinen Körper und wusch nicht nur die Tränen weg, sondern auch all die Wut und den ganzen Hass.

Nach dem er sich wieder beruhigt hatte, zog er sich wieder an und ging in den Schlafsaal. Er wollte nach seiner kleinen Freundin und John sehen. Allerdings waren beide nicht mehr da. Also legte er sich einfach in Kahlyns hartes Bett und schlief fast sofort ein, er war fix und alle.

Kapitel 8

John erwachte, weil ihm alles weh tat. Wie, war sein erster Gedanke, kann Kahlyn nur auf so einen Bett, erholsam schlafen. Vorsichtig bewegte er sich. Kahlyn drehte ihm, ihren Kopf zu.

"Du bist ja wach Mäuschen. Wie geht es dir?" Kahlyn schüttelte den Kopf, atmete heftig und schwer. "Mäuschen, kann ich dich kurz los lassen? Ich muss mich hinsetzen, mir tut alles weh."

Kahlyn nickte. Sie war nicht fähig zu sprechen. John ließ das Mädchen los und setzte sich mit dem Rücken an die Wand. Kahlyn allerdings, fing sofort wieder an zu zittern und ihre Atmung begann von neuem zu rasseln.

"Komm zu mir Mäuschen, komm zu mir, ich halte dich im Arm", ängstlich zog er, das wieder am ganzen Leib zitternde Mädchen zu sich.

Ganz leise kaum hörbar hauchte sie. "Ich kann nicht aufhören zu zittern", sie versuchte krampfhaft Luft zu bekommen.

"Kahlyn, das ist nicht so schlimm. Ich bleibe bei dir, bis es dir wieder gut geht. Das verspreche ich dir."

"Warst du die ganze Zeit hier?", fragte Kahlyn mit schwacher Stimme.

John nickte und streichelt ihr das Gesicht. "Ja, du hast so geschrien, Kahlyn. Sobald ich dich losgelassen habe, hast du wieder angefangen zu schreien. Trotz der hohen Dosis N91, die dir Dr. Karpo gespritzt hat. Ich konnte dich kaum bändigen."

"Tut mir leid, John."

John fing wieder an, sie zu schaukeln. Wie er es die halbe Nacht gemacht hatte, das Zittern wurde langsam etwas weniger.

"Schon gut Mäuschen. Ich verstehe nur nicht warum? Dir ging es doch so gut. Was haben die nur mit dir gemacht?"

Als Kahlyn antworten wollte, schüttelte John den Kopf.

"Beruhige dich erst einmal, Mäuschen. Reden können wir später."

Leise fing John an das Lied zu summen, was Kahlyn gestern so geholfen hatte. Sie schmiegte sich an ihn und genoss einfach die Nähe und die Ruhe die der Freund ausstrahlte. Kahlyn sog diese Ruhe regelrecht in sich auf. John merkte wie schwer es ihr fiel sich wieder zu beruhigen. Er spürte den Kampf den Kahlyn in sich führte. Er spürte die Krämpfe die durch ihren Körper jagten. Schwer atmend lag sie mit geschlossenen Augen in seinen Armen. Selbst äußerlich, konnte die man durch die Haut sehen, wie sich ihre Muskulatur unter Krämpfen zusammenzog.

John verstand einfach nicht, was mit diesem Mädchen los war. So konnte es doch nicht weiter gehen. Auf diese Weise ging sie systematisch kaputt. Lange saß John da und schaukelte seine kleine Freundin, auch wenn das Zittern etwas nach gelassen hatte, so blieb doch die Verkrampfung in der Muskulatur. Endlich wurde die Atmung etwas ruhiger und ging nicht mehr so rasselnd.

Kahlyn hob den Kopf und sah John an. "Ich hab so ein Durst", flüstert Kahlyn leise.

John sah seine sie an. "Tja da haben wir jetzt, ein kleines Problem, Kahlyn. Wenn ich dir etwas zu trinken hole, muss ich dich los lassen. Mäuschen dann bist du einen Moment alleine. Denkst du, das schaffst du schon?"

Kahlyn nickte, sah ihn aber eigenartig an dabei.

"Was möchtest du trinken?" John streichelte Kahlyn das Gesicht. "Ich beeile mich."

"Kaffee", kam ganz leise von Kahlyn.

"In Ordnung. Ich gehe nur vor ins Büro von Rudi. Du weißt, das ist nur ein Zimmer dazwischen und hole uns beiden eine Tasse. Fange aber bitte nicht wieder an zu schreien, ja. Das halte ich nicht noch einmal aus. Es bricht mir das Herz", bange, man könnte fast sagen ängstlich, sah John auf die Kleine.

Kahlyn schüttelte den Kopf und setzte sich hin. John stand auf und lief so schnell es seine steifen Beine zu ließen, nach vorn in Senders Büro. Schnell goss er zwei Kaffee ein, gab automatisch in beide Zucker, ohne dass es ihm bewusst war und lief schnell zurück in den Schlafsaal. Kahlyn saß die Arme, um die Beine geschlungen auf dem Bett und wippte ständig vor und zurück. Ach Mensch, ging es John durch den Kopf, kommst du eigentlich nie zu Ruhe. Langsam reichte es. Vorsichtig, um Kahlyn nicht zu erschrecken, sprach er sie an.

"Kahlyn dein Kaffee."

Kahlyn sah ihn völlig geistesabwesend an und drehte ihren Kopf zu ihm hoch. Die Kleine wusste gar nicht, was er von ihr wollte.

"Du wolltest doch einen Kaffee, Mäuschen?"

Als wenn die Worte ganz lange brauchten, um ihr bewusst zu werden, nickte sie viel zu spät. John reichte ihr die Tasse und setzte sich neben sie. Das Bett hat einen Vorteil, kam ihn ein Gedanke, hier fällt keine Tasse um. Verwundert über seine Gedanken, schüttelte John, über sich selber den Kopf. Dann legte er den Arm um Kahlyns Schultern und trank einen Schluck Kaffee, oh wie gut der tat. Kahlyn nahm ebenfalls einen Schluck.

Leise kaum hörbar, sagte sie. "Der schmeckt aber gut."

John sah verwirrt zu ihr, als ihm einfiel, dass er Zucker in den Kaffee von Kahlyn gegeben hatte.

"Oh je, Kahlyn. Ich habe glaube ich, Zucker in deinen Kaffee getan. Darfst du das überhaupt trinken? Du hattest doch gesagt, du verträgst vieles nicht, nicht dass du noch schlimmer krank wirst. Warte, ich hol dir einen neuen", sofort wollte John aufspringen.

"Nein, ist schon gut. Ich merke das sofort, wenn ich etwas nicht vertrage. Das Schlimmste, was mir jetzt noch passieren kann ist Durchfall. Damit kann ich leben. Das schmeckt aber gut, ich möchte den trinken", völlig fertig lehnte sie ihren Kopf gegen Johns Schulter.

"Geht es dir wieder etwas besser, Mäuschen?", erkundigte sich John vorsichtig.

Kahlyn nickte.

"Wenn du reden willst, sag einfach etwas. Du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Ich möchte so gern, dass du nie wieder solche Anfälle bekommst. Es macht mich fertig, dich so leiden zu sehen. Bitte Kahlyn rede mit mir, es muss ja nicht jetzt gleich sein, aber irgendwann."

John schwieg erst einmal, nippte immer wieder an seiner Tasse. Kahlyn trank einige Schlucke, dann reichte sie John ihre Tasse und legte sich wieder hin. Ihren Kopf lag auf Johns Oberschenkel und starrte sie auf das obere Bett.

"John, ich weiß nicht, wie ich das alles erklären soll. Ich schäme mich so dafür. Weißt du damals, es war alles so verdammt schlimm und es geriet alles außer Kontrolle. Es kam so vieles zusammen. Wir beschlossen gegen unseren eigenen Kodex zu verstoßen. Wir begannen gegen unsere eigenen Gesetzte zu handeln. Wir wussten einfach nicht, was wir tun sollten. Wir... wir ... wir wollten einfach nur, dass es aufhört. Es sollte einfach nur aufhören Verstehst du?"

Man sah Kahlyn an, wie sie gegen sich selber kämpfte. Ihr sonst so starres Gesicht, war von Angst und Furcht gezeichnet. Sie fing wieder an zu zittern und die Krämpfe verstärkten sich. Was mochte in ihr nur vor sich gehen, ging dem Sanitäter durch den Kopf. Er hatte schon so viel gesehen, in seinem Leben, aber solche Krämpfe waren den Sanitäter unbekannt, er musste sich mal mit Karpo darüber unterhalten.

Außerdem John verstand gar nichts von dem, was die Kleine erzählte. Er wurde aus ihren Worten nicht schlau. Sie ergaben einfach für ihn keinen Sinn. Deshalb schüttelte er den Kopf.

"Kahlyn, ich verstehe nicht, was du meinst. Ich verstehe den Zusammenhang nicht."

Kahlyn starrte ihm an. Die pure Angst stand ihr im Gesicht. Ihr wurde klar, dass er gar nicht wissen konnte, von was sie sprach. Dadurch ihr wurde aber auch bewusst, dass sie alles erzählen musste. Aber sie musste etwas tun, sie hatte das Gefühl gleich wahnsinnig zu werden. Sie konnte einfach nicht mehr klar denken. Vorsichtig setzte sie sich auf, lehnte sich an Johns Schulter und legte ihren Arm um seinen nicht vorhandenen Bauch. Zog die Beine an ihren Körper, wie ein kleines Tier, was sich schützen wollte. Sie hielt sich einfach an John fest wie eine Ertrinkende. John stellte seine Tasse ab und nahm sie richtig in den Arm, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben, in dem er sie auf seinen Schoß zog. Das war, so glaubte er zu mindestens, das was Kahlyn im Moment am meisten brauchte. Tief holte Kahlyn Luft und fing leise an zu sprechen.

"Es war bei einem unserer Auslandeinsätzen. Kurz nach dem wir unsere Ausbildung abgeschlossen hatten und alleine zu Einsätzen fahren konnten. Nein das stimmt nicht Mayer war mit, aber er war nett bei dem Einsatz. Aber dieser Einsatz war einer der schlimmsten Einsätze überhaupt. Ich glaube wir waren fünf oder sechs Jahre alt. Ich weiß es nicht mehr genau. Es ist einfach viel zu lange her. Es gab noch sieben oder acht schlimmere Einsätze, aber keiner von denen hängt uns so an, wie dieser verdammte Einsatz. An dem wir heute noch, alle zu kauen haben", ängstlich sah sie nach oben zu John. "Wir flogen nach Rumänien, in die südlichen Karpaten. Dort gibt es Laufkraftwerk. Es ist das größte Kraftwerk an der Donau überhaupt und nennt sich das Eiserne Tor. Es ist zuständig für die gesamte Energieversorgung der Region. Dieses Kraftwerk wurde von Terroristen besetzt gehalten, die es in die Luft sprengen wollten. Weil man nicht mehr weiter wusste, forderte man uns an. Hätten sie den Staudamm gesprengt, dann wäre das gesamte Tal abgesoffen. Du musst wissen John, wir hatten damals schon den Ruf eines Todeskommandos. Wir bekamen immer die Schlimmsten und aussichtslosesten Aufträge. Die einheimische Polizei zeigte uns, was sie schon unternommen hatten und meinte wir sollten stürmen. Auch auf die Gefahr hin, dass es zu einer Explosion kommen würde. Obwohl die dort die gesamte Belegschaft, als Geisel genommen wurden war und die Bewohner im Tal jämmerlich ertrunken wären. John, das konnten wir nicht machen. Wir suchten nach einer anderen humaneren Möglichkeit. Wir sahen uns alles in Ruhe an. Irgendjemand von uns sagte, da sind doch überall Berge. Wo Berge sind, sind oft auch Bergwerk. Wir fragten die Einsatzleitung, ob es in der Nähe ein Bergwerk gäbe. Die meinten dann ja eins. Aber das würde schon Jahrzehnte nicht mehr genutzt und auch nicht mehr gewartet. Wir fragen, ob es davon Karten gibt. Es gab einige aber sehr ungenaue Karten. Allerdings bestätigte das unsere Vermutung, dass diese Stollen fast bis an das Kraftwerk führten. Es waren, wenn die Zeichnungen einigermaßen korrekt waren, nur etwa zehn Meter Tunnel, die wir graben mussten. Das ist normalerweise ein Klacks für uns. So konnten wir von einer Seite angreifen, von der wir nicht erwartet wurden. Eventuell, würde es uns dadurch gelingen die Sprengladungen zu entschärfen, bevor man merkt, dass wir überhaupt da sind. Wir erklärten unseren Plan, nahmen genügend Material, zum Bau einer Strecke mit und gingen in das Bergwerk. Es hatte einen flachen Zugang und wir kamen gut voran. Da wir auch nicht sicherten, wir vermuteten keine Gegner hier. Die Zeichnungen waren sehr ungenau, irgendwo mussten wir falsch abgebogen sein."

Kahlyn fing plötzlich noch mehr an zu zittern. Sie hatte Angst über das alles zu sprechen. Nicht einmal ihren Doko hat sie alles erzählen können. Aber sie musste einmal darüber sprechen. Diese ganze Sache ließ sie einfach nicht los. Systematisch machte diese Geschichte sie kaputt. Jedes Mal, wenn diese Sachen in ihr hochkamen, hatte sie größere Probleme, sie wieder in die Ecke zu verstauen, wo ihr diese Geschichte nichts mehr anhaben konnte. Kein Einsatz machte ihr so viele Probleme. Immer häufiger wurde sie davon eingeholt. Früher kamen diese Sachen nur hoch, wenn sie sehr hohes Fieber hat. In letzter Zeit allerdings, holten sie diese Ereignisse jede Nacht ein. Vor allem, seit dem sie alleine schlafen musste. Bis vor wenigen Tagen holte sie Rashida immer wieder von diesem Horrortrip herunter. Aber die war nicht mehr da. Sie brauchte aber jemanden, der sie in den Arm nahm, wenn diese Sachen sie einholten. Alleine schaffte sie es auf Dauer nicht, dagegen anzukämpfen. Wieder schielte sie zu ihrem neuen Freund hoch und klammerte sich zitternd an ihn. Sie hatte solche Angst ihm alles zu erzählen. John reichte ihr die Tasse und so sie trank einen Schluck. Es half ein wenig, gegen das Zittern. Ängstlich schaute sie zu John auf.

"Wenn ich dir das alles erzähle, dann magst du mich nicht mehr", flüsterte sie in einer kindlichen Art, die ihr keiner zutrauten würde.

Das passte zu seinem Patenkind Jenny, aber nicht zu der Kahlyn, die er hier kennen gelernt hatte. Fast im gleichen Augenblick wurde John bewusst, dass Jenny genauso alt war, wie Kahlyn. Unwillkürlich fuhr er sich durch sein kurz geschorenes Haar.

"Kahlyn, egal was passiert ist, du bleibst meine kleine Freundin. Ich werde dich immer mögen. Ich weiß selber, wie das in Einsätzen ist, man muss da oft etwas tun, auf das man nicht stolz ist. Einfach, um schlimmeres zu verhindern. Glaubst du mir das?"

Kahlyn nickte zögerlich. Langsam beruhigte sich die Kleine wieder, das Zittern allerdings blieb. Nicht nur in ihrem Körper und sondern auch in ihrer Stimme. Unsicher fuhr sie fort in ihrer Erzählung.

"Wir waren irgendwo falsch abgebogen oder die Karten waren einfach falsch gezeichnet", flüsterte Kahlyn mehr als das sie sprach. "Wir kamen an eine Kreuzung in der es eigentlich vier Abgänge hätte geben müssen. Aber es gab nur drei. Wir hätten aber den fehlenden Weg gehen müssen. Wir studierten die Karte und entschlossen uns den linken Weg zu nehmen. Hätten wir nur den rechten gewählt. Dann wäre uns das alles erspart geblieben. Aber nein, wir nahmen den linken", mühsam versuchte Kahlyn sich zu beruhigen. Nach einer ganzen Weile fuhr sie fort, ganz leise. "Wir folgten den Gang und kamen in eine riesige Höhle die hell erleuchtet war. Wir hatten alle keine Brillen auf. Da wir hier ja kein Licht vermuteten. Wir waren geblendet und sahen nicht gleich, wo wir waren. Also setzten wir unsere Brillen auf und damit kam der Schock", ängstlich, gegen die Bilder in ihren Kopf ankämpfend, klammerte sich Kahlyn an John. "Du kannst dir nicht vorstellen, was dort war. Dort waren lauter kleine Kinder, die arbeiteten dort. So dachten wir am Anfang. Raiko und Rina unsere beiden Dolmetscher, sie sprachen beide fließend Rumänisch, riefen den Kindern zu, dass wir ihnen nichts tun, dass wir uns nur verlaufen haben. Aber es kam keine Reaktion von denen. Wir gingen in die Höhlen und erschraken uns zu tote. John diese Kinder waren tot. Sie verrichteten Arbeiten, ob… ob… obwohl sie tot waren."

John stöhnte laut, er war unfähig auch nur ein Wort zu sagen.

"Es… es… waren…do… dort… laut… lauter Zimmer, in… in… den einem, war eine Küche. Dort stand ein Kind und kochte, das andere machte …" Kahlyn überlegte, weil ihr das Wort nicht gleich einfiel "… Gemüse sauber, heißt das glaube ich. Ein anderes hatte eine Rolle in der Hand und rollte etwas aus. In jedem Zimmer machten die Kinder etwas anderes, eins hatte sogar eine Wiege, darin lag ein Baby… das geschaukelt wurde... Es war grauenvoll. Wir zählten achtunddreißig Kinder, wir gingen vorsichtig weiter und kamen an einen Seitengang. Da lagen lauter Gebeine, ich weiß nicht wie viele, aber ich habe fünfzehn Schädel gesehen. Obenauf lag ein Kind, was halb verwest war, es… es stank so furchtbar. Wir gingen weiter, zu keinem Wort fähig und kamen in eine andere kleine Höhle. Da standen sechs Becken mit, ich glaube es heißt Formaldehyd. Darin lagen noch mehr Kinder… In… in… dem letzten Becken, sahen wir eine Bewegung und gingen dorthin." Kahlyn schüttelte sich, ihr Atem ging stoßweiße, wieder liefen Wellen von Krämpfen, durch ihren Körper. Kaum hörbar sprach sie weiter. "John…" verzweifelt klammerte sie sich, am ganzen Körper zitternd, an John. Kämpfte gegen diese Bilder, die in ihrem Kopf wieder erschienen. "John, das Kind lebte noch. Wir rissen den Deckel von dem Becken und holten das Mädchen dort raus. Aber es war zu spät. Nichts in der Welt, hätte sie mehr retten können. Jede Minute die sie länger lebte, wäre eine Qual. Wir beschlossen als Gruppe sie zu erlösen, aber keiner wusste wie. Ich machte das Krantonak mit ihr. Ich bin die Einzige die das kann, warum weiß ich nicht. Ich nutze das eigentlich nur zum Heilen, weiß aber, dass man das auch zum töten nutzen kann. Hab das aber damals noch nie dazu benutzt. Vor allem kostet mich die Heilmethode, alle Kraft, die ich habe und ich bin dann mehrere Minuten hilf- und wehrlos. Ich hielt ihr Herz an, damit die Qualen vorbei waren. Was hätten wir machen sollen, wir wollte die Kleine doch nicht verletzen."

Kahlyn begann wieder zu krampfen. Fast zehn Minuten war sie nicht mehr in der Lage zu sprechen. John nahm sie wieder in den Arm, schaukelte sie. Langsam beruhigte sich das Mädchen wieder. Ganz leise, sich an John klammernd, erzählte sie weiter.

"Wir saßen dort und weinten, aus Wut und aus Qual. Wir hatten unseren wichtigsten Kodex gebrochen, niemals ohne Grund zu töten. Es war für die anderen schon schlimm, aber für mich war es die Hölle, ich… ich… ich habe sie getötet."

Kahlyn fing an zu weinen, Tränen liefen über ihr blasses Gesicht. Sie hielt sich an John fest, wie an einem Rettungsseil. Ihr ganzer Körper zitterte, ihr Atem ging rasselnd. Flüsternd erzählte sie weiter.

"Auf einmal hörten wir Schritte. Ich wies die anderen an sich zurück zu ziehen. Ich konnte nicht. Ich war viel zu erschöpft, vom Krantonak. Die anderen konnten mich nicht mitnehmen. Sie konnten sich selber kaum auf den Beinen halten. Uns war allen so schlecht. So schnell es ging, zog ich mich in den Schatten zurück und kroch auf allen vieren in eine Ecke. Langsam ging es mir etwas besser. Ich sah einen Mann kommen. Klein, dürr mit irrem Blick. Er ging zu dem offenen Becken. Dann entdeckte er, das am Boden liegende Mädchen. Er fing an mit ihr zu schimpfen, was er sagte verstand ich nicht. Dann fasste er sie an den Haaren und wollte sie wegschleifen. Da bin ich einfach durchgedreht", entsetzt sah Kahlyn hoch zu John und vom heftigen Weinen begleitet, so dass John Mühe hatte sie zu verstehen. "John, hatte dieses Kind, nicht schon genug gelitten. Ich sprang mit der letzten Kraft die ich noch hatte, aus meiner Deckung und legte ihn schlafen. Rief nach den anderen. Wir verstießen ein zweites Mal an diesen Tag gegen unsere eigenen Gesetze. Wir legten ihn kurz bevor er zu sich kam, in das Becken und schlossen den Deckel. Normalerweise, hätten wir ihn an die Behörden übergeben müssen, das ist mir klar. Aber wir waren so voller Wut, John und so voller Hass. Wir konnten nicht anders handeln. Wir konnten nicht mehr klar denken."

Kahlyn krümmt sich vor Schmerzen und klammerte sich an John. Heftig atmend, so als wenn sie gleich ersticken würde, lag sie in seinen Armen. Ihre Hände und die Füße, waren völlig verkrampft. John hatte schon viel gesehen als Sanitäter, aber so etwas noch nicht. Die Kleine musste wahnsinnig Schmerzen haben. Auch der Oberkörper die Bauchmuskeln waren völlig verkrampft, es war kein Wunder dass sie kaum atmen konnte. Mühsam versuchte sich Kahlyn wieder zu beruhigen. Man merkte, wie viel Mühe es sie kostete gleichmäßig zu atmen. Langsam hörte das Rasseln wieder auf und die Atmung wurde ruhiger. Jedes Wort, was sie sprach war eine Qual.

"Vorn in der großen Halle stand ein Bett. Rashida kämmte dem Mädchen die Haare und wir legten sie dort hinein. Dann verließen wir diese Höhle und sprengten den Eingang so, dass ihn nie mehr jemand findet. Die anderen hatten festgestellt, dass es nur diesen einen Eingang gab. Dann gingen wir zurück und suchten den richtigen Gang. Im Anschluss gruben wir den Tunnel, entschärften die Sprengladungen und setzten die Terroristen fest. Auf dem Flug nach Hause, wollte uns der Oberstleutnant fertig machen. Warum es so lange gedauert hat und warum wir alle so schwer verletzt waren. Ich schickte einfach ihn weg, sonst wäre es zu einer Katastrophe gekommen. Zu Hause angekommen, legten wir uns in die Betten und wollten schlafen. Aber wir bekamen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf. Irgendwann, schliefen wir ein und mit dem Schlaf bekamen wir alle Fieber. Richtig hohes Fieber und mit dem Fieber kamen der Schmerz, und die Alpträume. Wir schrieen alles, aus uns heraus. Weißt du John, die Fieberschmerzen, sind seit dem nicht mehr das Schlimmste, sondern die Bilder. Die Bilder von der Höhle, die immer dann kommen, wenn das Fieber kommt. Die Bilder von diesen Kindern, die immer noch dort arbeiten."

Auf einmal fing Kahlyn wieder an zu weinen. Sie lag in Johns Armen, dieser war nicht fähig sie zu trösten. Er streichelte automatisch ihren Rücken, aber er konnte nichts sagen. Hass stand in seinen Augen und eine unsagbare Wut. Nach einer ganzen Weile, konnte Kahlyn sich langsam wieder beruhigen. Allerdings bemerkte sie, dass es ihren Freund nicht gut ging. John hatte akute Atemprobleme, sein Herz raste, als wenn es gleich zerspringen wollte. Kahlyn sah besorgt zu ihm hoch. Der hatte so mit sich selber zu tun, dass er gar nicht in der Lage war, auf seine kleine Freundin zu reagieren. Erschrocken setzte sich Kahlyn auf.

"John?", rief sie ihn panisch.

Ihr Freund kämpfte gegen diese unsagbare Wut in sich und gegen den stechenden Schmerz in seiner Brust. Kahlyn nahm die Brille ab, wandte das Krantonak an. Sie konnte doch nicht zulassen, dass ihrem Freund, der die ganzen Tage immer für sie da war, etwas geschah. Sie musste ihm helfen. Auch, wenn es ihr selber nicht gut ging. Lange dauerte es, bis Johns Herz wieder in einem normalen Rhythmus schlug. Endlich hatte sie es geschafft. Erschöpft lehnte sie sich an die Wand und rang schwer nach Luft. Kippte plötzlich zur Seite weg. Sie lehnte jetzt halb an der Wand und halb an John.

"Kahlyn, was hast du gemacht mit mir?", fragt John erstaunt.

Kahlyn konnte ihm nicht mehr antworten. Langsam wie in Zeitlupe, rutschte sie an der Wand herunter und rollte sich zusammen. Wie ein verletztes Tier, lag sie da. Stoßweiße atmend und mit geschlossenen Augen.

"Kahlyn, was hast du gemacht, was ist mit dir?"

Kahlyn reagierte nicht mehr. Fast zehn Minuten dauerte es, bis wieder eine Reaktion von ihr kam und sie nach Johns Hand tastete und sich daran festhielt. Eine kleine Ewigkeit brauchte Kahlyn, bis sie wieder richtig atmen konnte. John besorgt, um seine kleine Freundin, versuchte mit ihr zu reden.

"Kahlyn, sag doch was."

Nach dem fünften oder sechsten Mal, reagierte Kahlyn ganz leise. "Gib mir Zeit, bitte", hauchte sie, mehr konnte sie nicht sagen.

John zog sie zu sich hoch und hielt sie wieder im Arm. Das half etwas. Die Körperwärme Johns, dessen gleichmäßiger Atemrhythmus und die Ruhe die er ausstrahlte, tat ihre Wirkung genauso, wie es immer bei Rashida der Fall war. Langsam beruhigte sich die Atmung von Kahlyn und ihre Kräfte kehrten wieder. Es dauerte aber fast noch zwanzig Minuten, ehe Kahlyn wieder sprechen konnte. Das Krantonak hatte sie einfach zu viel Kraft gekostet. Ganz langsam zeigte Kahlyn, ohne etwas zu sagen auf die Tasse. John gab sie ihr. Langsam trank sie Schluck um Schluck, den jetzt kalten Kaffee. Aber es half ihr wieder zu Kräften zu kommen.

"Kahlyn, rede doch mit mir. Bitte. Ich habe Angst um dich, was ist mit dir?", flehte John sie an.

Kahlyn blickte hoch zu ihm. "Tut mir leid John, so ist es immer, wenn ich das Krantonak anwende. Danach bin ich ohne Kraft, es raubt mir das letzte bisschen Kraft. Aber ich musste es tun, sonst wärst du gestorben. Du darfst dich nicht so aufregen, es ist nicht gut", flüsterte Kahlyn, die immer noch geschwächt war, vom Einsatz ihrer Fähigkeit.

John verstand nicht so richtig, was los war. Aber das interessiert ihn jetzt auch weniger, er wollte über das Gehörte mit Kahlyn reden.

"Kahlyn, dass was ihr in dieser Höhle gesehen habt, ist unvorstellbarer Wahnsinn. Ihr habt als ihr das Mädchen erlöst habt, nicht gegen euren Kodex verstoßen. Jedenfalls nicht nach meiner Auffassung. Ihr habt die Kleine erlöst, ihr Schmerzen und einen qualvollen Tod erspart. Was ihr mit dem Mann gemacht habt, war nicht richtig. Da gebe ich dir Recht. Aber es ist verständlich. Ihr wolltet, dass es aufhört. Dass er aufhört Kinder so qualvoll zu töten. Du musst dir da keinen Vorwurf machen", versuchte er seiner kleinen Freundin zu erklären.

Die schüttelte den Kopf. Mühsam jedes Wort erkämpfend, erklärte sie ihm "John, wir sind Polizisten, wir sind da, um Verbrecher zu verhaften und ihrer gerechten Strafe zu zuführen. Nicht, um Selbstjustiz zu machen. Wir sind nicht besser als er", wieder fing sie an zu zittern. "Aber, wir wollten, dass er genau so leidet, wie diese Kinder. Das es falsch war, wurde uns fast sofort klar, als wir den Höhlenzugang gesprengt hatten. Aber da war es schon zu spät. Wir waren fertig, total fertig. Eigentlich gar nicht mehr in der Lage, unseren Einsatz zu beenden. Wir bekamen da schon alle hohes Fieber, konnten es gerade noch so kontrollieren. Dann fiel uns ein, dass die Terroristen damit gedroht hatten, das Kraftwerk in die Luft zu sprengen, das hätte noch mehr Tode gefordert. Also führten wir unseren Auftrag zu Ende. Egal wie beschissen es uns ging. Keiner kam bei diesem Einsatz, ohne eine Verletzung davon. Einen Einsatz, der normalerweise ohne Verletzungen, zu schaffen gewesen wäre. Deshalb hatte sich der Oberstleutnant ja so aufgeregt. Aber wir waren alle nicht richtig bei der Sache. Ich weiß bis heute nicht, wie wir es überhaupt geschafft haben. Vier meiner Freunde gingen in der darauffolgenden Woche schlafen. Sie wollten danach nicht mehr Leben. Es ging einfach nicht mehr, sie kamen damit einfach nicht klar. Ich wollte auch schlafen gehen, aber meine Freunde brauchen mich doch, verstehst du?" Kahlyn klammerte sich an John, wie an ein Rettungsseil.

"Ihr habt diesen Auftrag, noch erfolgreich abgeschlossen?", ungläubig schüttelte John den Kopf. "Ich fasse es nicht, ich hab gerade gedacht, ich muss sterben, Kahlyn und ich habe es nur gehört und nicht gesehen", er drehte Kahlyns Kopf zu sich herum und küsste ihr die Stirn. "Ihr seid Engel, alle wie ihr seid. Anders, kann man Euch nicht bezeichnen. Keiner von den Männern da draußen, wäre dazu noch in der Lage gewesen."

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Nein John, wir sind Mörder. Wir haben den Mann getötet. Selbst, wenn er sich aus dem Becken befreien konnte. Ist er dort elend verhungert oder verdurstet. So etwas darf es nicht geben. Wir sind da, um zu beschützen, nicht um zu morden."

John sah Kahlyn ernst an. "Du hast Recht mit dem, was du sagst. Es war ein großer Fehler. Habt ihr so etwas, noch einmal gemacht?"

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Nein, nie wieder John. Wir machen jeden Fehler, nur einmal und glaub mir, wir bezahlen bitter dafür."

John lehnte sich bequem zurück. "Kahlyn, jeder Richter dieser Welt, wird Nachsehen mit euch haben. Jeder Richter dieser Welt, kann eure Reaktion verstehen. Es war eine absolute Ausnahmesituation. Ihr wart so alt, wie die Kinder dort. Auch, wenn ihr Kämpfer seid, so seid ihr doch immer noch Kinder. Wie kann man dann verlangen, dass ihr in jeder Situation richtig handelt. Was ihr dort getan habt, war das, was man eine Kurzschlussreaktion, eine Affekthandlung nennt. Eine Handlung, die zeitnah am Ereignis liegt und durch Emotionen bestimmt wurde. Keiner, wird euch das je zum Vorwurf machen", er drehte den Kopf zu seinem Mäuschen.

Kahlyn schüttelte immer wieder heftig den Kopf, zu jedem Wort, dass John sprach.

"Doch John, es gibt jemanden, der uns das zum Vorwurf macht, das sind wir selber und unser Gewissen. Es hätte nicht geschehen dürfe", traurig schaute sie auf ihre Hände, automatisch wollten ihre Finger an Bewegungsübungen zu machen, das ging aber nicht, weil ihre Hände vollkommen verkrampft waren und sich die Finger nicht bewegen konnten.

"Schluss jetzt!" John wurde jetzt böse und sah Kahlyn ernst an. "Du hörst mir jetzt einmal ganz genau zu. Jeder Mensch macht Fehler, wirklich jeder, nicht nur ihr. Auf machen Sachen, Mäuschen, kann man nicht stolz sein. Aber man braucht sich ihrer, auch nicht zu schämen. Was ihr dort gemacht habt, das stimmt, war ein großer Fehler. Aber ihr wisst das selber und ihr habt seitdem nie wieder gegen diesen Kodex verstoßen. Keiner, mein Mäuschen, wird euch dafür bestrafen. Wenn es dir hilft, dann mache eine Selbstanzeige. Dann bekommst du einen Abschluss. Sonst frisst dich das alles noch auf."

Kahlyn sah John lange an, leicht den Kopf schräg gehalten. Nach einer ganzen Weile, in dem sie über das Gesagte nachzudenken schien, erwiderte sie in einem ganz anderen Ton. Man merkte ihr an, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, der ihr half mit dieser Sache abzuschließen.

"Du hast Recht John, das werde ich machen. Dann können diese armen Kinder, wenigstens endlich beerdigt und betrauert werden. Vor allem können dann endlich alle aus dieser schlimmen Höhle heraus. Ich werde alles auf mich nehmen, damit meine Freunde keine Strafe bekommen. Denn ich war diejenige, die den Befehl gab die Höhle zu versiegeln."

John strich ihr mit dem Finger über die Wange, er war froh, dass er ihr mit einem einfachen Vorschlag helfen konnte.

"Wir reden, wenn es dir besser geht, mit Runge. Der wird dir dabei bestimmt helfen, damit du mit der Sache endlich einmal abschließen kannst. Aber etwas anderes. Ich verstehe jetzt, was dich so erschreckt hat bei den Runges. Kahlyn, du vertraust mir doch oder?", wieder musterte er seine kleine Freundin.

Kahlyn nickte und sah ihn eigenartig an.

"Wenn du mir vertraust, sag mir bitte mal, habe ich dich schon einmal angelogen."

Kahlyn schüttelte mit dem Kopf.

"Wenn ich dir jetzt sage und bitte, rege dich nicht wieder auf. Jenny würde niemals, mit toten Kindern spielen, würdest du mir das glauben."

Kahlyn fing wieder an zu zittern, John hielt sie fest in seinen Armen. Langsam schüttelte sie den Kopf.

"John, glaube mir, diese Jenny macht das. Ich hab die Kinder doch selber gesehen John, mit meinen eigenen Augen", sie nahm die Brille ab und zeigte auf ihre Augen.

Verzweifelt rieb sich John das Genick. Er wusste sich keinen Rat mehr.

"Kahlyn, würdest du mit mir noch einmal zu Runges fahren. Ich weiß, dass Jenny vor zwei Wochen, eine ihre Puppen herunter geschmissen hat. Dem Püppchen ist ein Arm abgebrochen, ich kann dir beweisen, dass dies wirklich keine toten Kinder sind. Es sind Puppen, Kahlyn. Ich würde Jo und Rudi die Hände abhacken, wenn sie ihren Kindern tote Kinder zum Spielen geben", setzte er noch nach.

Um die sich immer mehr in diesen Wahnsinn hineinsteigernde Kahlyn vom Gegenteil zu überzeugen. Aber sie wehrte sich vollkommen dagegen. Sie glaubte ihm nicht, obwohl sie ihm vertraute. Diese schrecklichen Bilder, jetzt konnte sich John vorstellen, was in dem Mädchen vor sich ging, ließen sie einfach nicht los. Da sie wie es schien, gar keine Ahnung davon hatte, dass es Puppen auf dieser Welt gab, konnte sie ihn nicht glauben. Er verstand sie ja, doch war ihm auch klar, dass er sie dazu zwingen musste, ihren Irrtum zu erkennen. Denn in ihrer Welt gab es viele Puppen, wie sollte sie hier klar kommen, wenn sie jedes Mal, eine regelrechte Panik bekam, wenn sie einer Puppe begegnen würde.

"Kahlyn, bitte meine Kleine, vertraue mir nur dieses eine Mal. Du musst begreifen lernen, dass es hier so etwas nicht gibt. Dir werden hier überall Puppen begegnen. Du wirst immer wieder, mit solchen Dingen konfrontiert. Du wirst nie Ruhe finden, wenn du Angst davor hast dieser Tatsache ins Auge zu sehen."

Kahlyn klammerte sich zitternd an John. "Ich hab Angst, dort wieder hinzugehen. Selbst mit einem toten Hund, lassen sie ihre Kinder spielen. Bitte John, ich will nie wieder da hin."

John begriff sofort, was Kahlyn meinte.

"Kahlyn, der Hund ist nicht tot, das ist ein Plüschhund. Ich weiß genau, was du meinst. Ich selber habe den kleinen Hund, Tim zu Weihnachten geschenkt. Weil Tim sich so sehr einen Hund wünscht, aber durch seine Krankheit keinen haben darf."

 

Kahlyn sah auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Tim krank war. Eigentlich hätte ihr dies sofort auffallen müssen. Sie sah so etwas sonst immer sofort. Ihr fiel aber auch ein, wie viel sie dort gesehen hatte, was sie gar nicht kannte. Sie war durch diese vielen Dinge, die sie sah, viel zu sehr abgelenkt und hat auf nichts anderes mehr geachtet. Sonst hätte sie ihm doch gleich helfen können. Sie musste zu ihm und zwar sofort. Sie musste ihm helfen, es war nicht gut, wenn so ein kleiner Junger krank war. Dieser Tim, war noch so klein. Sie erinnerte sich, dass diese Viola sagte, sie müsse ganz leise sein, weil Tim bei jedem Geräusch munter werden würde. Sie musste zu ihm. Sie musste ihm helfen.

"Ich will zu Tim", forderte Kahlyn fest entschlossen, auch wenn ihr ganz schlecht bei dem Gedanken wurde. John sah sie verwundert an. Wieso wollte das am ganzen Körper zitternde Mädchen, auf einmal zu den Runges. Gerade hatte sie sich vehement geweigert, noch einmal zu Jo und Viola zu gehen. Plötzlich fiel John ein, was Jacob ihm erzählt hatte. Keiner seiner Kollegen würde mehr sterben und sich quälen müssen, solange es Kahlyn verhindern konnte. Sie würde keine Ruhe findet, wenn es jemanden nicht gut ginge. Es war wegen Tim.

"Kahlyn, du kannst Tim nicht helfen. Seine Krankheit ist angeboren. Die Ärzte im Klinikum haben uns erklärt, er kann und muss damit leben."

Kahlyn schüttelte den Kopf, versuchte aufzustehen. Ihr fehlte aber die Kraft, zum Laufen. "Bitte hilf mir John. Alleine schaffe ich es nicht, bis zu Tim, bitte."

Verzweifelt sah Kahlyn ihren Kollegen und Freund an. John gab nach, was sollte er auch anderes machen. Die Kleine würde auf allen Vieren zu Tim kriechen, wenn es sein musste. Soweit kannte er sie schon. Also stand er auf und half ihr auf die Beine. Ganz wacklig, stand sie auf ihren Beinen, als sie einen Schritt machen wollte, klappt sie einfach weg. John fing sie auf.

"Warum kannst du nicht laufen Kahlyn, was ist los mit dir?", wollte John wissen, der sie einfach auf den Arm genommen hatte. Vorsichtig legte er sie wieder in ihr Bett. Schwer atmend und nach Luft ringend, blieb Kahlyn einen Moment liegen.

"Ich hole Jens."

Kahlyn hielt John einfach fest, schüttelte den Kopf.

"Er kann nichts machen. Es gibt nichts, was mir helfen kann. Außer ich selber. Bitte bringe mich zu Tim. Dort erkläre ich dir alles. Lass mich einfach schlafen, bitte."

John raufte sich die Haare hin und her gerissen, von seinen Gefühlen. Er kannte Kahlyn. Sie würde nicht eher Ruhe geben, bis sie bei Tim war.

"In Ordnung Kahlyn, ich bringe dich zu Tim. Wenn du mir vorher erklärst, warum du nicht laufen kannst."

Kahlyn nickte und zog sich zu John.

Der Sanitäter erkannte jetzt, was sie wollte und nahm sie wieder in den Arm. Jacob, so ging es ihm durch den Kopf, hatte Recht mit der Behauptung, dass Kahlyn süchtig war nach Zuneigung und Fürsorge. Es gab ihm ein gutes Gefühl. Nachdem sich ihr Atem ein wenig beruhigt hatte, erklärte sie John mühsam.

"Immer, wenn ich diese Anfälle bekomme, ist es so, als wenn bestimmte Nervenbahnen abgeschaltet werden. Mal ist es das Hören, mal das Sehen, mal der Tastsinn, mal wie dieses Mal meine Beine, die ich nicht mehr fühle. Das gibt sich aber, nach ein paar Stunden. Ich glaube, es ist eine neuraler Ausfall oder eine Blockade, ich weiß es nicht genau. Aber diesmal ist es nicht schlimm. In ein oder zwei Stunden, ist das wieder normal. Nur habe ich vorhin bei dir Krantonak gemacht, es kostet mich viel Kraft und dadurch kann ich halt kaum laufen."

John sah erstaunt auf Kahlyn, die in seinen Armen lag. "Wieso und wann hast du das gemacht?", fast im gleichen Atemzug fiel ihm ein, dass es ihm vorhin so schlecht ging und es auf einmal wieder weg war. "Vorhin, Kahlyn, als es mir so schlecht ging?"

Kahlyn nickte.

"Deshalb ging es mir auf einmal wieder gut?"

Wieder nickte seine kleine Freundin.

"Danke Kahlyn, aber dir geht es doch selber nicht gut, warum machst du das?"

Kahlyn blickte John verwundert an. "Du wärst gestorben, wenn ich das Krantonak nicht gemacht hätte. Dein Herz wäre zersprungen. Ich habe es nur dazu gezwungen, wieder normal zu schlagen. Ich wollte dich nicht so aufregen, aber du wolltest wissen, was damals passiert war", Kahlyn zuckte mit den Schultern. "Aber ich kann doch nicht zulassen, dass dir etwas passiert. Du bist doch mein Freund."

John streichelte über Kahlyn´s Kopf "Du bist verrückt Mäuschen. Du kannst dich kaum auf den Beinen halten und hilfst anderen", John drückte Kahlyn einen Kuss auf die Stirn. "Geht es wieder?"

 "Ja."

"Aber diesmal ganz langsam, Mäuschen. Versprochen?"

Langsam stellte er Kahlyn auf die Füße. Die wollten einfach nicht stehen bleiben und verweigerten ihr den Dienst. Also nahm John sie kurz entschlossen auf den Arm und trug sie aus dem Schlafsaal. Lief nach vorn in Richtung Bereitschaftsraum.

"John, der Medi-Koffer", bat sie ihn.

John ging vor zu den Jungs.

"Jo, bitte sei so lieb und lasse dir von Fran eine Dose mit Kahlyns Nahrung mitgeben und lass dir sagen, wie man die zu bereitet. Dann fahren wir zu dir", an Alexander, der ihm am nächsten saß, gewandt. "Ali, du gehst bitte mal in Kahlyns Spind und holst ihren Medi-Koffer und bringst ihn vor in die Wachstube." Alexander nickte und stand auf.

"Rudi, ich melde mich und Kahlyn, für eine Weile ab. Wir sind bei den Runges. Haben dort eine wichtige Mission zu erfüllen. Frage mich bitte jetzt nicht was. Ich erkläre dir alles ganz genau, wenn ich zurückkomme, versprochen. Es ist wichtig. Tut mir leid, aber einer von uns beiden, muss ja hier bleiben. Geht das in Ordnung?"

Sender nickte. Er war froh Kahlyn wieder einigermaßen munter zu sehen. John drehte sich um und trug Kahlyn in Richtung Wachstube. Ines die am Tresen gerade einen Mann bediente, drehte sich um, als John die Tür aufstieß.

"Kleinen Moment bitte, Herr Becker", dieser nickte und sah aber verwundert auf den Polizisten, der ein kränklich wirkendes Kind auf den Armen hielt, was scheinbar ebenfalls ein Polizist war. "John, was ist los. Hallo Kahlyn, geht es dir wieder besser, du siehst schlimm aus Kleine…"

John unterbrach Sören einfach. "Bitte Ines, ich brauche dringend einen Wagen, der uns zu den Runges bringt und zwar gleich."

Ines drehte sich um. "Bernd?"

Wachtmeister Bernd Schuster, hatte aber schon reagiert und über Funk bereits einen Wagen angefordert.

Einen Moment später meldete er. "John, der Wagen ist in zwei Minuten da. Toni 12 steht am Ausgang Wiesestraße. Ihr müsst euch beeilen. Lange kann er dort nicht stehen. Sonst blockiert er die Straßenbahn und die Kreuzung ist dicht."

John winkte Jo zu, der grade mit dem Medi-Koffer und der Nahrung von Kahlyn in die Wachstube kam. Sofort verließen sie die Wache und gingen nach rechts, auf die Wiesestraße, wo der Toniwagen schon stand. Alle drei stiegen sofort ein, um die Kreuzung frei zu machen. John setzte vorsichtig Kahlyn in das Auto und stieg selber ein. Jo stieg auf der anderen Seite des Fahrzeugs ein. Kaum, dass die Türen geschlossen waren, fuhr der Wagen los. Kahlyn kuschelte sich an John und zog die Beine auf den Sitz. John legte den Arm um das Mädchen. Wieder zitterte sie am ganzen Körper und rückte soweit es ging, von Jo weg. Der ihr seit dem Vorfall unheimlich war. Jo setzte zu einer Frage an. John schüttelte den Kopf. Er wusste selber nicht so genau, was dass alles sollte. Die Nahrung, hatte er nur einer inneren Eingebung folgend, mitnehmen lassen. Kahlyn, atmet gleichmäßig, sie war in einem tiefen Schlaf gefallen. So, wie er es im Bus schon erlebt hatte. Wieder einmal, bewunderte er das junge Mädchen. Sie hatte ein Ziel, bereitet sich darauf vor, das auch zu erreichen.

Keine fünfzehn Minuten später, kamen sie vor Runges Haus an. Jo stieg aus. John jedoch blieb sitzen. Kahlyn schlief noch ganz fest. Er wusste nicht, ob er sie wecken sollte. Vorsichtig bewegte er sich und sofort öffnete Kahlyn die Augen.

"Bleib sitzen, ich hol dich gleich. Ich komme nur nicht mit dir zusammen, aus dem Auto", erklärte er ihr.

Kahlyn sah zu dem Haus. Auf einmal zeigte sich in Kahlyns Gesicht ein Ausdruck, den John noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Das pure Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Er folgte ihrem Blick und sah eine von Jennys Puppen, am Fenster sitzen.

"Kahlyn, du musst das heute nicht machen. Es ist nicht schlimm. Wir fahren einfach zurück.", bat John, aus purer Angst, dass Kahlyn wieder, in einen Anfall hineinrutschen könnte.

Dieses unberechenbare Mädchen, schüttelte den Kopf. Trotz des panischen Entsetzens, das sie verspürte, war sie fest entschlossen, zu dem kranken Tim zu gehen.

"Na dann komm."

John half ihr beim Aussteigen, es ging schon etwas besser. Vorsichtig lief sie ein paar Schritte, dann knickten ihre Beine einfach wieder weg. John fing sie auf, er hatte schon damit gerechnet. Da der Druck von Kahlyns Hand auf seinen Arm immer stärker und ihre Schritte immer unsicherer wurden. John nahm die Kleine wieder auf dem Arm. Kahlyns Atmung ging stoßweise und war völlig verkrampft.

"Kahlyn, warum machst du das? Du kannst dich doch kaum auf den Beinen halten."

Kahlyn legte ihren Kopf auf seine Schulter. "Ich muss es, für Tim tun, bitte."

John trug sie so behutsam wie möglich, in das Haus und nach hinten in die Küche. Jo, der schon vorgegangen war, hatte für Kahlyn und John Platz gemacht.

"Setzt euch. Kahlyn möchtest du etwas trinken und etwas essen? John ein Kaffee?", wandte er sich an die Beiden.

Immer noch nicht wissend, was das alles sollte. Kahlyn sah immer noch panisch zu John. Jetzt erst entdeckte auch Jo den Gesichtsausdruck Kahlyns. Verwundert blickte er zu John. Der konnte das jedoch gar nicht sehen. Der Sanitäter sprach beruhigend auf Kahlyn ein. Er hatte die Worte von Jo überhaupt nicht mitbekommen.

"Kahlyn, du musst keine Angst habe, wirklich nicht. Du weißt ich lasse nicht zu, dass dir jemand etwas tut."

Die Kleine schluckte immer noch schwer und kämpfte gegen die Panik und den Brechreiz. Aber langsam entspannt sich wieder etwas. Vorsichtig setzte John sie auf den Stuhl. Jo, der in der Nähe war, merkte, dass es Kahlyn nicht gut ging und zog sich etwas zurück.

"John, Kahlyn wollt ihr einen Kaffee und etwas essen?", fragte er noch einmal.

Kahlyn schüttelte erst den Kopf. John aber nickte. Kahlyn blickte John an und nickte dann auch.

Erfreut darüber, sagte John. "Für Kahlyn auch einen, so wie ich ihn trinke."

Viola die ganz verstört und unsicher in der Ecke, der Wohnküche stand, ging langsam auf die Kaffeemaschine zu und goss beiden einen Kaffee ein. Beide Tassen bekamen ganz viel Zucker, dann stellte sie von Kahlyns Blick verfolgt, die Tassen auf den Tisch und zog sich zu ihren Mann zurück. Kahlyn trank von dem Kaffee.

"Wo ist Tim?", fragte sie flüsternd John.

Der Sani sah fragend die Runges an.

"Oben in seinem Zimmer, soll ich ihn mal herunter holen?"

John nickte, sagt aber im Anschluss sogleich. "Viola, vertraust du Kahlyn?"

Die sah ihren Mann an, der nickte. "Ja, auch wenn ich nicht weiß, was Tim damit zu tun hat."

John zuckte mit den Schultern. "Ich weiß nur, dass Kahlyn keine Ruhe gegeben hat. Sie wollte unbedingt zu Tim. Sie hat mir nicht erklärt, warum. Aber ich vertraue ihr. Ich weiß, dass sie nie etwas tun würde, was jemand schadet. Das wusste ich schon seit Tagen, aber seit heute früh weiß ich, dass dies die absolute Wahrheit ist. Lasst sie einfach gewähren bitte. Das ist wichtig für sie und für euch. Es baut Vertrauen auf. Stimmt's Kahlyn?"

Die schaute aus dem Fenster und war ganz weit weg und nahm scheinbar nichts von der Unterhaltung wahr. John drückte die Schulter von Kahlyn, was sie wieder zurück holte.

"Kahlyn, hast du verstanden, was ich gerade gesagt habe."

Kahlyn nickte nur, sagte aber nichts.

"Dann rede doch mit uns."

Kahlyn musterte die beiden Runges und sah in ihre Gesichter. Was mochte bloß ihn ihren Köpfchen vor sich gehen, fragten sie alle drei.

"Ich vertraue ihnen nicht. Ich traue niemanden wie denen da", gab sie trocken zur Antwort, ohne jegliche Regung, in ihrem Gesicht.

John schüttelte verzweifelt den Kopf. "Viola, bitte hole Tim. Du weißt ich würde nie zulassen, dass ihm etwas passiert. Ich vertraue Kahlyn voll und ganz. Macht ihr den ersten Schritt. Bitte."

Flehend sah er seine Freunde an. Viola nickte und ging zur Treppe, um Tim zu holen. Drei Minuten später, kam sie mit dem völlig verschlafenen Tim die Treppe herunter, sie musste ihn wecken. Durch die Unruhe in der Nacht, war Tim munter geworden und erst gegen 6 Uhr am Morgen, wieder eingeschlafen. Sie kam mit dem Jungen auf dem Arm zu Kahlyn. Diese schüttelte den Kopf und zeigte auf das Sofa, was in der Wohnküche stand. Viola brachte Tim dorthin, setzte sich zu ihm. Kahlyn wollte aufstehen, immer noch gehorchten ihre Beine nicht richtig. Sie machten einfach nicht, was sie sollten. John half ihr zum Sofa. Sie setzte sich neben Tim.

"Geh", bat sie Viola.

An John gewandt. "Kann man es hier dunkel machen? Das Licht tut meinen Augen weh. Mir geht es sowieso nicht so gut. Bitte."

John sah fragend zu den Runges. Die beiden nickten. Jo und Viola Runge ließen die Jalousien herunter und zogen die Vorhänge zu, es war fast stockdunkel im Raum. Kahlyn sprach in der Zwischenzeit, mit dem kleinen Buben.

"Tim, du musst keine Angst haben", ganz leise und in einem Ton, den weder Jo, noch John, je von ihr gehört hatten. "Ich will dich nur untersuchen. Weil mir John gesagt hat, dass du krank bist."

Tim schien Kahlyn, voll zu vertrauen. Im Gegenteil zu sonst, wo er auf alle Fremden, mit Schreiattacken reagierte, war er ganz ruhig und sah Kahlyn lachend ins Gesicht.

"Wa um, mad du so dundel? Is mad dad nid", sagte er zu Kahlyn.

Diese streichelte ihm, mit so viel Zärtlichkeit über die Wange, dass Jo, Viola und John das Herz aufging und sie sich verwundert anschauten.

"Tim, mir tut das Licht weh. Du musst wissen, ich habe Zauberaugen. Die können dich gesund machen. Aber dazu muss ich meine Brille absetzten und meine Augen mögen kein Licht. Ich kann, wenn es dunkel ist, viel besser sehen, als wenn es hell ist."

Tim griff nach der Brille und zog sie ihr einfach von Gesicht. Kahlyn ließ sich das ohne Gegenwehr gefallen. Immer erstaunter, wurden die Drei.

"Un, was mad du nun, tut dad weh?", erkundigte sich der kleine Mann bei Kahlyn, in seiner kindlichen Art.

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Es tut nicht weh. Du wirst gar nichts spüren. Bleib einfach nur liegen, ja?", Kahlyn nahm Tims Hände in die ihren und hielt ihn fest. Ganz lange beobachtete sie den Jungen. Es dauert bestimmt fünfzehn Minuten, bis Kahlyn wieder eine Reaktion zeigte. Zur Verwunderung seiner Eltern und seines Patenonkels, hielt Tim ganz still. Der kleine Zappelphillip rührte sich nicht einen Millimeter. Kopfschüttelnd sahen alle zu Tim und Kahlyn.

"John?"

"Ja Mäuschen, was ist? Kannst du Tim helfen?"

Kahlyn nickte müde und leise erklärte sie John.

"Ich muss Tim schlafen legen. Es geht nicht anders. Das, was ich vorhabe, kann ich so nicht machen. Das würde ihm Schmerzen bereiten. Wenn ich ihn schlafen lege merkt er nichts davon. Kläre das mit den Beiden, bitte...", tief atmend, wandte sie sich wieder Tim zu. "Tim, weißt du was. Es ist gar nicht schlimm, was du hast. Ich mache das ganz schnell heile. Dann kannst du auch besser schlafen und wirst nicht ständig munter. Wäre das schön?"

Tim blickte lächelnd zu Kahlyn und nickte. "Beibs du da bei uns?", fragte er weiter.

Kahlyn zuckte mit den Schultern. "Willst du das?"

Tim nickte. "Hmm", gab er nur von sich, statt mit einem klaren ja zu antworten.

"Ich überlege es mir, versprochen", erklärte sie dem Buben.

Der kleine Mann war damit völlig zufrieden.

Viola näherte sich Kahlyn ganz vorsichtig. "Kahlyn, tut das weh, was du machst?"

Kahlyn schüttelte den Kopf.

"Dann mach es, ich vertraue dir."

Damit ging sie wieder zurück zu John und ihrem Jo. Der nahm seine Frau mit einem unguten Gefühl in den Arm.

Kahlyn wandte sich an Tim. "Gleich ist es besser. Tim, allerdings wirst ein paar Tage Kopfweh haben, das kann ich leider nicht ändern. Aber, ich mache etwas dagegen, damit es nicht so schlimm ist. Geht das klar?"

Tim nickte.

Vorsichtig streichelte Kahlyn über Tims Gesicht und am Hals entlang. Griff in dessen Nackenmuskel und legte ihn auf diese Weise schlafen. Fast konnte man meinen, dass Tim das gar nicht gemerkt hatte. Plötzlich geschah etwas, was Viola fast dazu brachte sich auf Kahlyn zu stürzen. Hätten Jo und John, sie nicht mit Gewalt zurück gehalten. Kahlyn, fasste den Buben unter den Rücken und zog ihn mit einem Ruck, dass es nur so krachte, ins Hohlkreuz. Dann ergriff sie Tims Kopf und drehte ihn mit einem Ruck zur Seite, wieder krachte es mörderisch. Viola schrie auf, als sie sah wie Kahlyn mit ihren Jungen umging. Kahlyn ließ sich von Violas Verhalten nicht beirren. Als nächstes wandte sie, obwohl sie kaum noch Kraft hatte, das Krantonak an. Das erste Mal sah John, was das hieß. Aus Kahlyns Augen kamen rote Strahlen, die sich tief in den Körper des Jungens hinein bohrten und der bisher flache Atem Tims, wurde auf einmal tief und kräftig. Ewig schien diese Prozedur zu dauern. Auf einmal schwankte Kahlyn und das Krantonak brach ab. Schwer atmend, hielt sich Kahlyn an der Lehne des Sofas fest.

Leise bat sie. "John, drö medo. – John, hol den Medi-Koffer."

John ahnte mehr, als dass er verstand, was Kahlyn von ihm wollte und holte ihren Medi-Koffer. Stellte ihn genau vor die Kleine und hockte sich daneben.

"Mön. – Danke", hauchte sie, mehr als dass sie sprach.

Mit fahrigen Händen, versuchte sie den Koffer zu öffnen.

"Kahlyn, gebe nur die Zahlen ein. Ich mache ihn dir auf."

Kahlyn nickte. Selbst zum Sprechen hatte sie einfach keine Kraft mehr. Mühsam holte sie Luft und man sah, wie schwer es ihr fiel, sich zu konzentrieren. Langsam gab sie an beiden Schlössern die Zahlenkombination ein. John öffnete ihr den Koffer. Sofort griff sie nach den Glaskolben und den Injektionsnadeln. Dann zeigte sie auf den Ampullenkoffer. Mühsam kämpfte sie dagegen an, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Kahlyn wollte den Jungen aber unbedingt noch spritzen. John nahm den Koffer mit den Ampullen heraus und reichte ihn seiner Kollegin. Stellte ihn einfach auf den wiederverschlossenen Deckel. Immer Kahlyn im Auge behaltend, die ihm gar nicht mehr gefiel. Schneeweiß war ihr Gesicht. Zum Glück sah er in den vorhandenen Lichtverhältnissen nicht, dass feine Fäden von Blut aus ihrer Nase, den Augen und den Ohren liefen. Aufmerksam beobachtete der Sanitäter, das Mädchen, so gut es bei diesem Licht ging. Ihr ging es überhaupt nicht gut, das sah er sogar in dieser Dunkelheit. John rutschte etwas, an Kahlyn heran, um ihr zusätzlichen Halt zu geben. Ganz langsam, sich mühsam konzentrieren, man sah ihr an wie schwer ihr das fiel, zog sie zwei Einheiten B23 auf. Das war ein Mittel, was man geschwächten Personen gegen Schmerzen verabreichte und eine Wirkungsdauer von vier bis fünf Tagen hatte. Dieses Mittel musste aber erhitzt werden, sie zeigte auf den Medi-Koffer, dass sie etwas daraus benötigte. John verstand nicht gleich. Deshalb versuchte sie selber danach zu greifen und kam dabei beängstigend ins Schwanken. Da verstand John, was sie wollte.

"Moment Kahlyn, ich gebe dir den Brenner."

Kahlyn atmete immer schwerer. Sie war so müde und mochte am liebsten schlafen. John reichte ihr den Brenner und sie machte ihn durch den Starter an. Erhitzte das Medikament auf 86 °C. Danach ließ sie es abkühlen, bis es die richtige Temperatur hatte, 36,2 °C wie Tims Körpertemperatur. Sofort spritzte sie es, dem zu sich kommenden Tim, in die Halsschlagader. Reichte John die Spritze, den Brenner, beobachtete den Jungen. Der öffnete eine Minute später die Augen und sah Kahlyn an.

Kahlyn streichelte ihn ganz lieb. "Alles gut. Bring ihn weg, John", bat sie ihren großen Freund.

John nickte. Sah der Sanitäter doch nur zu genau, das Kahlyn, kurz vorm Zusammenbruch stand.

"Viola, gehst du mit Tim hoch bitte und zwar schnell."

Viola kam sofort angerannt und nahm ihren Sohn auf den Arm. Lief mit ihm die Treppe hinauf. Gerade noch rechtzeitig. So dass der Bub nicht sah, dass Kahlyn zusammenbrach. John, der das hatte kommen sehen, fing die Kleine auf und legte sie auf das Sofa.

 

"Das hat dich, deine letzte Kraft gekostet", konnte er sich nicht verkneifen zu sagen.

Kahlyn bekam davon nichts mehr mit. Sie krümmte sich zusammen, wie ein verletztes Tier und fing am ganzen Körper an zitternd. Fiel in einen unruhigen Schlaf, ihr ganzer Körper war verkrampft und jetzt auch noch ihre Haut an zu bluten, was John noch gar nicht sehen konnte. Vorsichtig setzte ihr John die Brille auf, so dass man die Vorhänge und Jalousien, wieder öffnen konnte.

"Jo, du kannst wieder aufziehen", erklärte er kurz.

In dem Moment, als Licht in den Raum kam, erschrak John fürchterlich. Erst jetzt sah man, wie schlecht es Kahlyn wirklich ging. Sie war nicht nur schneeweiß im Gesicht, sondern ihre Hautfarbe, ging in eine blasses grau lila über. Auch entdeckte der Sanitäter das Blut das Kahlyn aus der Nase, dem Mund den Ohren und der Haut liefen. John war entsetzt und tastete nach ihren Puls. Er kommt, trotzdem er es dreimal wiederholte, nur auf dreizehn Schläge in der Minute. Er durfte so etwas nie wieder zulassen, nahm er sich fest vor. Viola kam eine halbe Stunde später nach unten und war völlig aufgelöst.

"Was hat dieses Monster mit meinem Sohn gemacht? Ich bring sie um. Kaum, dass ich oben war, hat er sich hingelegt und ist eingeschlafen. Ich bekomme ihn nicht munter. Ich bringe sie um. Die kann was erleben. Was hat sie dem Jungen nur angetan? Ich drehe gleich durch. Ich bring sie um, wenn den Buben, etwas passiert. Wo ist sie überhaupt?"

Wutentbrannt kam Viola die Treppe herunter gestürmt und schimpfte dabei vor sich hin. Erst jetzt bekam Viola mit, dass Kahlyn nirgends zu sehen war. Vor allem sah sie die besorgten Blicke ihres Mannes und Johns. Der Sanitäter aus Rudis Einheit warf Viola böse Blicke zu und zeigte auf das Sofa. Entsetzt über das Verhalten und die Worte Violas. Er bekam erst einmal keinen Ton heraus. Er war sprachlos über deren Verhalten. Einer Frau die er immer als herzenswarm und ungeheuer liebevoll eingeschätzt hatte. Nach wenigen Sekunden hatte er sich gefangen.

"Du bist so etwas von ungerecht, Viola. Du solltest dich in Grund und Boden schämen. Kahlyn, konnte sich kaum auf den Beinen halten, als sie hierhergekommen ist. Wollte unbedingt zu deinem Jungen kommen, um Tim zu helfen. Du hast nichts anderes zu tun, als sie ein Monster zu nennen und ihr schlechte Absichten zu unterstellen. Dabei liegt sie hier und ist so gut wie tot. Schäm du dich denn eigentlich überhaupt nicht", John schüttelte den Kopf und war richtig laut geworden.

Erschrocken sah Viola, auf das am ganzen Körper zitternde und blutende Mädchen. Es tat ihr auf einmal leid, dass sie sich von ihrer Wut hat mitreißen lassen. Leise ging sie auf die Kleine zu und sah diese entsetzt an. Schneeweiß und blutverschmiert war sie im Gesicht und kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn. Das gesamte Gesicht bekam auf einmal Flecken.

"Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Du hast Recht John. Ich war nur so erschrocken. Tim schläft nie so fest."

John zuckte mit dem Schultern. Kahlyn war ihm im Moment wichtiger. Ihr ging es überhaupt nicht gut. Tim jedoch schlief, mit ihm war bestimmt alles in Ordnung. John stand aus der Hocke auf und streckte seine Knie durch. Er hatte die ganze Zeit vor dem Sofa gehockt und ständig Kahlyns Puls kontrolliert. Vorsichtig deckte er eine Decke, über das zitternde Bündel Elend. Dann holte er sich seinen Kaffee und drückte ihn erst einmal Viola in die Hand. Vorsichtig hob er Kahlyn hoch und setzte sich hin. Zog die Kleine zu sich auf den Schoss und nahm sie in seine Arme, um ihr etwas Sicherheit zu geben. Kahlyn spürte entweder seine Wärme oder war es seine Nähe? Jedenfalls entspannte sie sich zusehends und verfiel in einen tiefen erholsamen Schlaf. Beruhigt nahm er Viola die Tasse ab und trank einen großen Schluck. Reichte Viola die Tasse zurück. John war todmüde. Er brauchte den Kaffee jetzt einfach, um nicht ebenfalls einzuschlafen.

"Danke. Viola holst du mir bitte mal einen feuchten Lappen. Damit ich Kahlyn das Gesicht waschen kann. Lassen wir ihr einfach etwas Ruhe. Sie erholt sich schnell."

Angespannt wie der Sani war, legte er den Kopf etwas in den Nacken, damit dieser auch entspannt konnte und rutschte auf dem Sofa ein Stück nach unten. Viola holte einen Waschlappen und wusch vorsichtig das Gesicht und die Hände des so jungen Mädchens. Spülte ihn wieder aus und legte ihn einfach zur Kühlung auf deren Stirn. Ihr tat das Herz weh, wenn sie die Kleine so liegen sah. Vor allem ärgerte Viola sich über ihr eigenes Verhalten.

"Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es war Unrecht. Aber ich versteh nicht, was sie mit dem Kleinen gemacht hat John?", wollte Viola von ihm wissen. "Ich war gerade völlig in Panik und habe nicht überlegt, was ich gesagt habe. Sondern hatte mich von meiner Wut leiden lassen. Wirklich es tut mir leid."

John sah Viola eine Weile traurig an. Ihm ging durch den Kopf, wie oft sich Kahlyn wohl schon solche Beleidigungen anhören musste. Auch, wenn danach immer Entschuldigungen on Maß kamen, taten solche Beschimpfungen bestimmt weh. Irgendwann so stellte er sich vor, konnte man diese nicht mehr hören und vor allem nicht mehr ernst nehmen. Erstaunlich, dass Kahlyn trotzdem noch für solche Hilfen offen war. Keiner hatte ihr gesagt, geh und helfe Tim. Die Initiative kam von ihr alleine. Es war Kahlyn ein Grundbedürfnis anderen zu helfen. Dabei spielte es keine Rolle, wie schlecht es ihr ging. Er hatte diese Worte von Jacob nicht ernst genommen. Jetzt begriff er, dass der Arzt die volle Wahrheit gesagt hatte.

John konnte Viola ja irgendwo verstehen. Ihm wurde vorhin auch ganz bange ums Herz, als er sah, was Kahlyn mit Tim machte. Aber er konnte sich auch vorstellen, dass die Kleine im Moment einfach keine Kraft mehr dazu hatte, erst lange etwas zu erklären. Dazu ging es ihr einfach zu schlecht. Gezwungen lächelte er jetzt Viola zu und gab ihr den Waschlappen zurück. John überlegte krampfhaft, wie er das erklären sollte. Er verstand selber nicht, was Kahlyn hier gemacht hatte.

"Ich weiß nicht, was sie gemacht hat. Vorhin hatte mir Kahlyn erklärt, was sie so aufgeregt hat. Was mir das Mädel erzählt hat, übertrifft eure Vorstellungsmöglichkeiten. Es ist ein Wunder, dass sie noch nicht wahnsinnig geworden ist. Jo, du weißt, was los war. Du hast sie bestimmt am Telefon schreien hören. Ihr wisst beide, dass ich wahnsinnige Kräfte habe und eigentlich jeden halten kann, egal wie sehr er tobt. Aber Kahlyn konnte ich kaum bändigen. Wir haben zehn Minuten gebraucht, um ihr ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Fast zweieinhalb Stunden hat sich die Kleine in meinen Armen gewunden vor Schmerzen und wie ich jetzt weiß, vor Grauen. Als sie mir erzählte, warum sie so geschrien hat und vor was sie sich so gefürchtet hatte, dachte ich im ersten Moment, ich würde wahnsinnig werden. Jo, ich dachte mein Herz springt aus meiner Brust, ich konnte kaum noch atmen und mir tat die ganze Brust weh. Ich habe krampfhaft versucht bei Bewusstsein zu bleiben, weil ich der Kleinen helfen wollte. Mir ging es fast so beschissen wie Kahlyn und glaube mir, am liebsten hätte ich auch angefangen mir diese verdammte Wut von der Seele zu schreien, wie Kahlyn. Auf einmal, war alles vorbei. Ich bekam wieder Luft und konnte wieder atmen. Aber Kahlyn lag zusammengekrümmt neben mir, in ihrem Bett, genau wie jetzt", John streichelte, der jetzt ruhig schlafenden Kahlyn über den Kopf. "Als sie dann wieder zu sich kam, unterhielten wir uns über das Geschehene."

Jo sah seinen Freund an. "Meinst du das mit den Kindern."

John nickte. "Ja genau, woher weißt du das?"

Jo erzählte Viola, die mit immer größerem Entsetzen zuhörte, in groben Zügen, was er von Jens und dieser von Dr. Jacob erfahren hatte. Als er seine Erzählung beendet hatte, setzte sich Viola zitternd auf den Stuhl.

"Das arme Kind. Jo, wir müssen mit Jenny reden, die Pu…"

John unterbrach Viola einfach "Nein Viola, das ist der falsche Weg. Wir können Kahlyn nicht alles aus dem Weg räumen, was sie erschrecken könnte. Vor allem wie willst du es schaffen Viola, dass die Kleine sich hier in dieser Welt zu Recht findet, wenn sie sich ihrer Angst nicht stellen kann. Kahlyn muss lernen, dass es bei uns Puppen gibt. Auf der ganzen Welt, gibt es Puppen. Sie kann doch nicht jedes Mal denken, dass es tote Kinder sind. Lasst mich nachher, bitte machen, ja?", fragend sah er die Beiden an.

In Punkto Kahlyn, vertrauten Viola und Jo ihren Freund John. Er war der Einzige, der im Moment in der Lage war, stets einen Zugang zu ihr zu finden. Vor allem hatte Kahlyn Vertrauen zu ihm aufgebaut, was sehr wichtig war.

"Hört zu ihr beiden. Es scheint so, als ob Kahlyn nicht mal Dr. Jacob, alles erzählt hat. Mir erzählte sie die Geschichte weiter, nämlich den Teil, der ihr viel mehr zu schaffen macht, als das mit den Kinder sowieso. In der Höhle ist noch viel mehr passiert…", ausführlich und immer auf seine kleine Freundin achtend, erzählte John, was sie ihm berichtet hat. Viola und Jo konnte nicht glauben, was sie da zu hören bekamen. Als er fertig war, verließ Jo kurz den Raum und kam einige Minuten später, mit einer Flasche Uralt wieder. Jo goss allen einen Schnaps ein und stürzte seinen sofort hinter. John jedoch im Dienst, lehnte seinen ab. Viola jedoch, trank ihren auch in einem Zug leer. Sie brauchte den Schnaps jetzt, um wieder normal denken zu können.

"Jo, in den nächsten Tagen, will Kahlyn bei dir eine Selbstanzeige machen. Ich habe sie auf diese Idee gebracht. Wahrscheinlich wusste die Kleine, gar nicht, dass man eine solche Anzeige gegen sich selber machen kann. Kahlyn braucht das aber, damit endlich Ruhe in die Sache kommt. Ich möchte, dass du diese Anzeige wirklich aufnimmst. Was du dann damit machst, musst du entscheiden. Aber ich denke, sie braucht das wirklich, um endlich einen Schlussstrich unter die ganze Geschichte zu ziehen. Vor allem will Kahlyn, dass die Kinder beerdigt werden. Ich denke das ist das, was ihr und ihren Freunden, am meisten zu schaffen macht. Der Gedanke daran, dass die Kinder immer noch in dieser Höhle ‚leben und arbeiten müssen’, solange sie dort sind, lässt dass der Kleinen keine Ruhe. Denn solange können sie ja nicht beerdigt werden. Was denkst du, Jo, was sie für eine Strafe erwarten würde?", erkundigte sich John nun ängstlich.

"John, ich glaube gar keine. Auch nach Rumänischen Gesetz ist das, was die Kinder dort getan haben, eine Affekthandlung. Da sie sogar im Anschluss, noch viele tausende Leben gerettet haben, wird da keine Strafe zu erwarten sein. Es war nicht richtig, aber es ist verständlich. Ich hätte dieses Schwein erschossen", setzte Jo, bitter nach.

Viola nickte ebenfalls und man sah wie sie mit sich kämpfte. Dann sprach die Frau des Polizeirates aus, was den beiden Männern auch Sorgen bereitet.

"Was machen wir mit den Puppen? Vor allem, wie können wir, Kahlyns Vertrauen zurück gewinnen."

John zuckte mit den Schultern. "Ich weiß es nicht, Viola. Das muss einfach die Zeit bringen."

Kahlyn rührte sich.

John setzte sich wieder auf und wandte sich seiner kleinen Freundin zu. "Na Kleines, geht’s wieder?"

Kahlyn nickte.

Vorsichtig setzte sie John neben sich. Kahlyn setzte sich hin und zog die Füße an den Körper.

"Willst du einen Kaffee oder was zu essen, Kahlyn?" Viola sah John an.

Kahlyn reagierte nicht auf Viola, sondern sah zu John, der nickt. "Ich hätte auch Hunger Viola, wenn du eine Schnitte für mich hättest. Ich habe heute, noch gar nichts gegessen und es ist gleich Mittag. Also ich habe einen mörderischen Hunger und schlimmen Durst und du Kahlyn?"

Fragend sah er seine Freundin von der Seite an. Als ob es das normalste der Welt war, dass Kahlyn hier etwas aß und trank. Die zuckte mit den Schultern, dann nickte sie.

"Aber, ich hab hier nichts zu essen", erklärte Kahlyn leise John.

Jo hörte es trotzdem. Sogleich ließ Runge sein dunkles tiefes Lachen ertönen. "Doch Kahlyn, wir haben etwas zu essen für dich. Du musst uns allerdings sagen, wie viel Wasser und wie viel Pulver wir nehmen müssen. Wenn ich ehrlich bin, ich hab es vorhin nicht richtig mitbekommen oder vergessen. Sonst muss ich Fran noch einmal kurz anrufen. Ich glaube ich werde langsam vergesslich", wieder ertönte sein herzliches Lachen, froh dass John soweit gedacht hatte.

"Sir, bitte fünfundvierzig Milliliter Wasser und ein Messlöffel des Pulvers, Sir. Danke, Sir."

Viola ging zum Herd, um das Wasser aufzukochen. Jo erklärte ihr, wie man den Brei für Kahlyn zubereitet. Dann stellte sie die Suppe an und machte auch die warm. 'Gott sei Dank muss ich heute nicht kochen,' ging es Viola durch den Kopf. 'Jenny muss heute mit Tom und Tim essen. Für Kahlyn ist es wichtiger, die Mahlzeit zusammen einzunehmen.' Keine fünf Minuten später stand für alle Suppe auf dem Tisch und Kahlyn bekam ihren Brei. John half Kahlyn an den Tisch. Da diese immer noch ganz wacklig, auf den Beinen war. Kein Wunder, nachallem, was geschehen war. Alle ließen es sich schmecken. Nur Kahlyn stocherte in ihren Brei herum.

"Was ist los Kahlyn? Schmeckt es nicht?"

Kahlyn schüttelte den Kopf und sah nach oben. Jetzt fiel es den anderen wie Schuppen von den Augen.

"Kahlyn, Tim schläft. Er bekommt dann etwas, sobald er aufgewacht ist. Das verspreche ich dir. Keine Angst, wir lassen ihn nicht hungern. Er ruft, sobald er munter ist."

Erleichtert atmete Kahlyn aus. Dann aß sie ihren Brei. Lächelnd sah ihr Viola zu.

"Kahlyn, ich muss mich bei dir e ..."

John der Angst hatte, dass seine Kleine sich wieder aufregt, schüttelte leicht den Kopf. Deshalb ließ Viola ihre Entschuldigung fallen.

"Danke, dass du Tim geholfen hast. Aber, wenn ich ehrlich bin, war mir Angst und Bange, als ich sah, was du mit ihm gemacht hast, kannst du das verstehen?"

Kahlyn nickte.

"Kannst du mir bitte erklären, was du da gemacht hast."

Kahlyn wollte nicht mit dieser Frau reden. Es kostete sie schon Überwindung, mit ihr an einem Tisch zu sitzen und zu essen. Allerdings brauchte sie gerade jetzt ihre Nahrung. Sie fühlte sich vollständig ausgelaugt. Zweimal hatte sie heute schon Krantonak gemacht, obwohl sie am Ende mit ihrer Kraft war. Sie konzentrierte sich auf den Brei und tat so, als ob sie die Frage nicht registriert hatte. Sie konnte einfach nicht mit der Frau reden. Sie konnte ihr nicht verzeihen, dass sie ihre Kinder mit toten Tieren und Kindern spielen ließ. Viola sah John verunsichert an. Gerade hatte Viola den Eindruck gewonnen, dass es eine kleine Annährung gegeben hatte. Aber sie spürte fast körperlich, die Abwehr, die Kahlyn um sich herum aufbaute. Also ließ sie diese in Ruhe essen. Alle aßen schweigend. Dann räumte Viola den Tisch ab. Kahlyn zog ihre Füße auf den Stuhl. Das war eine Unart, die Viola überhaupt nicht leiden konnte. Viola wollte gerade etwas sagen, als John ganz leicht mit dem Kopf schüttelte. Also schwieg sie wieder. Kahlyn schaute aus dem Fenster und sah auf das Schwimmbecken. An dessen Rand Tiger stand und immer wieder mit der Tatze ins Wasser schlug.

"Möchtest du schwimmen gehen?"

Viola folgte den Blicken Kahlyns. Diese ignorierte Viola, wie gehabt. Um Hilfe bittend, sah Runges Frau John an. Sie hatte eigentlich eine gute Hand für Kinder und kam fast sofort, mit allen Kindern klar. Bei Kahlyn spürte sie nichts als Ablehnung. John lächelte Viola zu, konnte er sich denken, was in dieser kinderlieben Frau vor sich ging.

"Kahlyn, wollen wir uns wieder auf das Sofa setzten?"

Das Mädchen nickte müde. Allerdings schaffte sie es nicht alleine aufzustehen. John half ihr zum Sofa. Setzte sich und nahm Kahlyn wieder in den Arm.

"Kleines, darf ich dich etwas fragen oder willst du noch etwas schlafen."

Kahlyn sah John müde an. Dann nickte sie wortlos. John war sich nicht sicher, welchen der beiden Fragen, das Nicken galt. Er wartete einfach eine Reaktion von Kahlyn ab, wenn sie schlafen wollte, würde sie sich wie immer zusammen rollen. Da sie das nicht machte, sah er sie lächelnd an.

"Kahlyn, ich weiß, dass du Angst vor den Puppen hast," John holte tief Luft.

In dem Moment, kam wieder einmal eine Reaktion von Kahlyn, die so keiner erwartet hatte. "Ich habe keine Angst vor dem, was ihr Puppen nennt. Ich mag nur nicht, dass man mit toten Kindern spielt. So etwas gehört sich einfach nicht", sagt sie ganz leise, aber bestimmt und nur für John bestimmt.

John nickte, konnte er sich vorstellen, dass Kahlyn ihm und auch den Polizeirat in dieser Hinsicht nicht mehr vertraute. "Kahlyn, das ist ja genau das Problem, das wir im Moment haben. Du magst Viola und Jo nicht, weil sie zulassen, dass Tim und Jenny, mit toten Kindern und Tieren spielen."

Kahlyn nickte. "So was macht man nicht", setzte sie in einen trotzigen Ton nach.

"Kahlyn, sag mal, ich habe dich doch noch nie belogen, oder etwa doch?"

Kahlyn schüttelte den Kopf. John hatte ihr immer geholfen, sie vertraute ihm, fast so wie ihrer Rashida. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie alleine sie war. Für alle unbegreiflich drehte sie sich auf einmal von John weg, rollte sich in der anderen Sofaecke zusammen. John der ahnte, was in seinem Schützling vor sich ging, rutschte zu ihr.

"Kahlyn, Mäuschen du bist nicht alleine. Du hast doch mich. Komm fange nicht wieder an zu grübeln. Dein armer Doko schafft das nicht mehr, das weißt du doch."

Kahlyn drehte ihm ihren Kopf zu. John konnte nicht glauben, was er da sah. Große Tränen liefen aus ihren Augen. Kahlyn weinte.

"So schlimm? Ach Mäuschen, komm", er zog Kahlyn einfach in seine Arme, auch wenn sie sich am Anfang wehrte. Dieses Mal ließ der Wiederstand jedoch schnell nach. Wieder schaukelte er das Mädchen, hin und her. Es dauerte ewig lange, bis sich Kahlyn beruhigte. Man merkte daran, wie überfordert die Kleine im Moment war. Ganz vorsichtig redete John weiter.

"Kahlyn, ich weiß ja, dass du es zurzeit verdammt schwer hast. Deine ganze Welt bricht auseinander. Nichts ist mehr so, wie du es kennst. Aber nicht alles ist schlecht. Schau mal, wir wollen dir alle helfen. Aber wenn du dir nicht helfen lässt, geht das nicht. Hilfe muss man auch annehmen, das weißt du als Ärztin auch. Sag mal Mäuschen, vertraust mir noch ein ganz kleines bisschen?"

Kahlyn nickte, legte ihren Arm über seinen Bauch, hielt sich an John fest.

"Siehst du", liebevoll streichelte John ihr Gesicht. "Du weißt, ich lasse nicht zu, dass dir jemand weh tut. Aber Kahlyn, ich lasse auch nicht zu, dass du dir weh tust. Etwas, dass du gerade machst. Da drüben sitzen zwei Menschen, die dich genau so lieb haben wollen, wie ich es tue. Aber du stößt sie weg. Du gibst ihnen nicht einmal eine kleine Chance. Nur weil du etwas Falsches, von ihnen denkst. Weil du auf einer Meinung behaarst, die falsch ist. Würdest du mir eine Chance geben, dir etwas zu erklären. Bitte Mäuschen."

Kahlyn sah John lange fragend an, legte sie ihren Kopf an seine Schulter und senkte ihren Blick. Fast könnte man glauben, sie wäre eingeschlafen. Jo der etwas sagen wollte, öffnet den Mund. John schüttelte leicht den Kopf. Also schwieg der Polizeirat. Denn er vertraute seinem Sanitäter, der sich in psychologischen Dingen oft besser auskannte, als der Truppenarzt. In solchen Dingen konnte man John immer vertrauen. Ganze zehn Minuten später, so lange dauerte der Kampf, dem Kahlyn mit sich kämpfte, hob sie ihren Kopf und sah John noch eine lange Zeit an. Dann nickte sie, wenn auch zögerlich.

"Das finde ich richtig gut von dir, Kahlyn. Ich denke die beiden haben sich echt eine Chance verdient. Sie habe dir schließlich auch vertraut. Als du Tim ohne Erklärungen geholfen hast."

Wiederum nickte Kahlyn. Jedoch sprach sie immer noch keinen Ton.

"Pass auf Kahlyn, wenn ich dir beweise, das dort oben in Jennys Zimmer keine toten Kinder sind, sondern alles nur Puppen. Würdest du den beiden dann ein kleines bisschen vertrauen", wieder brauchte Kahlyn lange, ehe sie eine Antwort gab.

"Wie willst du mir das Beweisen, John?" 

"Kahlyn, das erkläre ich dir gleich. Erst möchte ich wissen, ob sich meine Mühe überhaupt lohnt. Ob du den Beiden dann, ein klein wenig vertrauen würdest? Wenn ich dir deinen Irrtum beweisen kann?"

Kahlyn nickte, sah hoch zu ihrem großen Freund.

"In Ordnung", John lächelte ihr aufmunternd zu und wandte sich dann an den Polizeirat. "Jo, deine Tochter hat doch vor vierzehn Tagen, eine ihrer Puppe herunterfallen lassen und dabei ist ein Arm abgebrochen. Habt ihr diese Puppe noch da?"

Jo nickte, stand auf, um eben diese Puppe zu holen. Mit einem Schlag fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und ihm wurde klar, was John vor hatte. John dankbar, dass Jo mitdachte, wandte sich wieder an Kahlyn.

"Mäuschen, ich muss dich mal etwas fragen. Nur damit ich weiß, ob ich in meinen Gedankengängen richtig liege. Diese Kinder die dort in der Höhle waren, hatten doch ihre Knochen und alles, oder?"

Kahlyn schüttelte sich und wieder zog das Grauen in ihr Gesicht. John tat in der Seele weh. Aber es ging nicht anders. Kahlyn würde sonst nie zur Ruhe kommen. Es tat ihm so leid. Schon deshalb, weil Kahlyn wieder begann, am ganzen Körper zitterte.

"Ich weiß, Kahlyn, es ist schlimm daran zu denken. Aber es ist verdammt wichtig. Ich muss das wissen, damit auch du es verstehen lernst."

Kahlyn atmete schwer, dann jedoch antwortete sie. "Ja hatten sie und alle Organe. Alles bis auf das Blut."

John drückte sie ganz fest an sich. "Mäuschen, ist schon gut. Bitte beruhige dich wieder. Sag mal, du kannst genau sehen, wenn du jemanden anschaust, was er für Krankheiten hat. Wie funktioniert das?", erkundigte sich John.

Nicht nur weil ihn das interessierte, sondern auch, um Kahlyn von diesen grauenvollen Erinnerungen wegzubekommen. Das Zittern wurde immer schlimmer. Kahlyn konnte kaum noch antworten. John zog es das Herz zusammen, weil er sie so quälen musste. Aber wollte er erreichen, dass sie endlich etwas zur Ruhe kam. Um das zu erreichen, musste er sie leider noch einmal durch die Hölle jagen. Es ging nicht anders. Erklärungen und Beteuerungen würden hier nicht helfen, da Kahlyn wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben eine richtige Puppe gesehen hatte. Wie sollte sie es also verstehen, ohne sich die Puppe noch einmal anzuschauen.

"John das kann ich dir nicht erklären. Ich sehe das einfach und nicht nur das. Ich kann auch sehen, ob jemand sich schon einmal eine Rippe, oder ein Bein oder so, gebrochen hat", hauchte Kahlyn mehr, als sie sprach.

Pures Entsetzen, stand in ihrem jungen Gesicht. Denn in diesem Moment kam Runge mit der Puppe im Arm in den Raum.

John nickte. Denn das bestätigte genau seine Vermutungen. "Kahlyn, pass mal auf und sieh vor allem genau hin. Jo bitte, komme mal mit der Puppe her."

Kahlyns Muskulatur verspannte sich vollkommen. In dem Moment als Jo mit der Puppe auf sie zu kam, wäre sie, wenn es in ihrer Macht gelegen hätte, wahrscheinlich weggelaufen. Der gesamte Körper Kahlyns reagierte mit Abwehr. Die Muskeln in Händen und Füßen verspannten sich, selbst der Rücken schien sich zu verkrümmen, da sich auch im Bauchraum die Muskeln zusammen zogen. John hielt Kahlyn mit einen Zwangsgriff fest und unterband dadurch, dass sie weglaufen konnte. Die Seele des Sanitäters schrie vor Verzweiflung und sein Herz blutete. Er wusste genau, welche seelischen Qualen er seiner kleinen Freundin zufügte. Aber es ging nicht anders. Kahlyn musste den Unterscheid begreifen lernen. Damit war wirklich das Begreifen gemeint. Sie musste die Puppe berühren, betasten, anfassen, beschnuppern und wenn nötig sogar schmecken können. Damit sie begriff, dass das hier nichts mit der Höhle zu tun hatte. Dass Puppen etwas völlig anderes waren, als die toten Kinder aus der Höhle. Sonst hatte sie keine Chance zur Ruhe zu kommen.

"Kahlyn bitte, schaue dir die Puppe genau an. Bitte Mäuschen nur ganz kurz."

Kahlyn wollte den Kopf wegdrehen. Doch John hielt mit einem eisernen Griff ihren Kopf fest. Er zwang sie auf diese Weise, sich die Puppe genau anzusehen. Viola schrie auf, als sie das Entsetzten, in Kahlyn Gesicht sah. Wie diese immer blasser wurde, wieder anfing zu bluten und zu würgen.

"John, lasse Kahlyn sofort los", brüllte sie den Paten, ihrer Kinder an.

"Ruhe", mahnte Jo, seine Frau zur Disziplin.

Er ahnte, dass es John schon schwer genug fiel, Kahlyn das anzutun. Da musste seine Frau, nicht auch noch verrücktspielen. Mittlerweilen, wehrte sich Kahlyn mit aller Kraft, die sie noch hatte. John der von Anfang an mit dieser Reaktion von Kahlyn rechnen musste und wusste, dass Kahlyn nicht wenig Kraft besaß, hatte sie vorher schon fixiert und umklammerte jetzt ihre Beine mit seinen Beinen, nur damit sie sich nicht aus seinem Griff drehen konnte.

"Kahlyn, mein Mäuschen, bitte, schau nur einmal hin. Nur ein einziges Mal. Ich lasse dich dann sofort los. Du musst es begreifen. Du musst es sehen, weil du dann deinen Fehler erkennst."

Kahlyn fing an zu wimmern. Dann fing sie an zu schreien. Immer panischer, wurden Ihre Schreie. Sie fing an, um sich zu schlagen, zu treten und dann erbrach sie sich. Sie wollte da nicht hinsehen. Sie konnte sich nicht richtig wehren. Nicht einmal das Schließen der Augen half. Selbst dann sah sie noch die Konturen. Schließlich gab sie auf. Kahlyn hatte im Moment keine Chance, gegen den um vieles stärkeren John. Da die Umklammerung mit der sie John fixiert hatte, keine Gegenwehr zuließ, ohne dass sie sich selber töten würde. Sie war einfach viel zu geschwächt, von den Anfällen der letzten Tage. Kahlyn ließ locker, sie hörte auf sich zu wehren. John auf einen erneuten Ausbruch vorbereitet, hielt sie weiter fest. Sprach jetzt, allerdings beruhigend auf sie ein.

"Kahlyn, mein Mäuschen, bitte schau dir die Puppe an. Sag mir bitte, hat sie Organe und hat sie Knochen. Das kann sie auch nicht haben, Mäuschen. Weil sie kein richtiger Mensch ist. Es ist ein Pappmensch, den man nachgebaut hat. Der zwar aussieht wie ein Mensch, aber keiner ist. Kahlyn, das hier sind keine toten Kinder. Sondern Kinder, die man gebaut hat, damit Mädchen damit spielen können."

Kahlyn entspannte sich langsam. Ihre rasselnde Atmung wurde ruhiger.

John atmete erleichtert auf. Er hatte es geschafft. Aber zu welchen Preis? Würde ihn Kahlyn das jemals verzeihen? Er ließ Kahlyn los und fing an zu weinen. John war fix und fertig und genau wie Kahlyn, klitschnass geschwitzt. Das, was er Kahlyn jetzt angetan hatte, war das Schlimmste, was man einen Menschen antun konnte. Es war grauenvoll, aber in ihrem Fall notwendig. Eine Art Schocktherapie. Nur das gab ihr die Möglichkeit, sich dem zu stellen, was ihr solch ein Grauen einbrachte. John musste das tun, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn nie wieder Vertrauen würde, wenn sie sich beruhigt hatte. Die Kleine musste ihren Irrtum erst einmal begreifen, mit reden war ihr in diesem Fall nicht beizukommen. Sobald John Kahlyn losgelassen hatte, floh die Kleine regelrecht vor John. In dem sie andere Sofaecke kroch zu mehr war sie gar nicht mehr in der Lage. Sie kroch so weit weg von dem Mann, den sie für ihren Freund gehalten hatte, wie es nur ging. Der Freund der sie jetzt so enttäuscht hatte. Kahlyn rollte sich zusammen und zitterte am ganzen Körper. Mühsam nach Luft ringend und leise vor sich hin wimmernd, lag sie in der Ecke und machte sich so klein wie möglich, um sich zu schützen. Sie war wütend auf John. Beinah hätte es ein großes Unglück gegeben. Warum tat er ihr das an? Sie hatte ihm vertraut und er … er hat sie hintergangen und verraten. Langsam beruhigte sie sich und bekam wieder besser Luft.

Plötzlich spürte sie etwas. Verwundert horchte Kahlyn auf. Das ganze Sofa auf dem sie lag vibrierte. Sie blickte auf. Erschrocken stellte Kahlyn fest, dass John weinte. Warum weint er jetzt? Er hatte ihr weh getan und nicht sie ihm. Eine ganze Weile sah sie zu, wie er weinte. Er saß den Kopf auf die Hände gestützt da und schluchzte. Warum nur? Sie wollte nicht, dass er weinte. Niemand sollte weinen und traurig sein. Sie konnte nicht sehen, dass er so weinte. Das wollte sie nicht. Hatte sie ihn vielleicht ausversehen verletzt? Kahlyn rutschte auf ihm zu und zog ihn in ihre Arme.

"John, bitte höre auf zu weinen", verlangte sie ganz leise. Vorsichtig schielte sie zu der Puppe. Wie John diese toten Kinder nannte. Aber der Freund war wichtiger. Sie sah sich seinen Körper an, aber sie konnte keine Verletzungen sehen. Nur sein Herz schlug wie wild. Wieso hatte er sich so aufgeregt und warum litt er so? Weinte er vielleicht nur deshalb, weil er ihr weh tun musste? Weil sie sich gegen die Wahrheit stellte. Sie hatte das in der Schule, auch einige Male mit ihren Freunden gemacht, sie wusste wie schwer so etwas war, wenn man jemanden liebte. Hatte er vielleicht Recht, dass dies keine toten Kinder waren?

"John, höre doch bitte auf. Bitte, höre auf. Ich wollte dir nicht weh tun."

John sah Kahlyn an. Traurig schaute er aus. Mühsam nur konnte er sprechen. Kahlyn sah in seinen Augen die Qual und wie sehr er litt. Wieso aber, hatte er ihr das angetan? War sie wirklich im Unrecht? Wenn er ihr etwas böses gewollte hätte, dann würde er jetzt nicht hier sitzen und weinen. John liefen die Tränen über das Gesicht. Kahlyn wischte ihm die Tränen ab und hört genau zu, was er ihr sagte. Achtete auf jede Nuance in seiner Stimme, um zu verstehen, warum er ihr das alles angetan hatte. Sie wollte verstehen, warum ihr Freund sie verraten hatte.

"Ich musste das machen Mäuschen. Es gibt auf der ganzen Welt Puppen, Kahlyn. Das musstest du einfach begreifen. Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie weh mir das gerade alles tat. Denkst du mir ist das leicht gefallen, dir das alles anzutun. Aber du musst es begreifen. Wenn du das nicht begreifst, dann kommst du nie zur Ruhe. Verstehst du das?"

Kahlyn nickte, ja sie hatte es begriffen. Wie es vorhin John bei ihr gemacht hatte, gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn. John sah sie an, trotzdem noch Tränen aus seinen Augen liefen, musste er lächeln. Dieser Kuss sagte viel mehr als Worte.

"Danke Kahlyn. Komm, schauen wir uns mal, das arme kaputte Püppchen an", er knuffte Kahlyn ein wenig in die Seite.

Jo und Viola sahen einfach nur zu. Sie begriffen nicht, wie John das immer machte. Keiner von beiden, so ehrlich waren sie zu sich selber, hätten das Kahlyn antun können. John stand auf und ging zum Küchentisch. Er hielt Kahlyn die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Kahlyn schüttelte den Kopf. Langsam und verdammt schwankend, stand sie auf und kam unsicher auf den Tisch zu. Auf dessen Platte, die Puppe lag. John behielt Kahlyn im Auge. Bereit, bei dem kleinsten Anzeichen von Schwäche, Kahlyn sofort aufzufangen. Schwer atmend und mit dem Ausdruck von Grauen im Gesicht, kam sie an den Tisch. Alle sahen ihr an, wie schwer das für sie sein musste. Wie viel Kraft und Überwindung sie dieser Schritt kostete. Allen drei im Raum Anwesenden war klar, dass Kahlyn das nur John zu liebe tat. Weil sie wollte, dass er nicht mehr weinen musste und nicht mehr traurig war. Kahlyn kam an den Tisch. Vorsichtig berührte sie die Puppe. Am ganzen Körper, zitternd stand Kahlyn da. Auf einmal fing sie an zu würgen. John ging auf sie zu und nahm Kahlyn in den Arm.

"Ganz ruhig atmen Mäuschen. Dann geht das ganz schneller vorbei. Komm setzt dich lieber."

Kahlyns Atem ging rasselnd und stoßweiße. Man sah ihr an, dass sie kaum Luft bekam. Sie ließ sich von John, an den nächsten Stuhl führen und setzte sich zitternd hin.

"Schau mal Mäuschen. Hier der Arm ist abgebrochen, siehst du, dass es wirklich nur Pappe ist."

Vorsichtig immer eine Hand auf ihren Rücken, griff er nach dem abgebrochenen Arm und legte ihn vor Kahlyn. Die sah ihren Freund an, der nickte ihr aufmunternd zu. Am ganzen Körper zitternd und mühsam nach Atem ringend, griff sie ganz vorsichtig nach dem Arm. Entschlossen nahm sie den Arm jetzt in die Hand und untersuchte ihn. Sogar daran riechen musste sie. Viola sah John an und fragte ihn im Stillen, ob sie etwas sagen durfte. John lächelte und nickte Viola zu. Ganz leise, um Kahlyn nicht zu erschrecken, erklärte sie ihr.

"Kahlyn, diese Puppen macht meine Mutti. Jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten, bekommt Jenny eine geschenkt. Das hier ist die Sabine. Die bekam sie erst vor neun Wochen, zu ihrem Schulabschluss. Aber sie ist gestolpert und hat sie dabei fallen gelassen. Drei Tage lang, hat Jenny geweint, weil der Arm abgebrochen ist. Oma meinte, das ist nicht so schlimm, sie bekommt einen neuen Arm. Jenny liebt diese Puppen, schon viele Jahre. Meine Mutti verdient ihren Lebensunterhalt damit."

Kahlyn hatte den Kopf schräg gelegt und sah Viola Runge an.

"Viola, ich glaube Kahlyn versteht überhaupt nicht, von was du redest. Wie sollte sie das auch verstehen? Sie hat keine Mutter und keine Oma und weiß nicht, was Lebensunterhalt ist. Stimmt´s Mäuschen?"

Kahlyn nickte. Denn sie hatte diese Frau wirklich nicht verstanden. Kaum hörbar und immer wieder, vom mühsamen nach Atem ringend unterbrochen, flüsterte sie.

"Aber … Jenny … ist … traurig… das … ist … nicht … gut … kein … Kind… sollte … traurig… sein", japste Kahlyn mehr, als dass sie sprach.

Viola schüttelte den Kopf. Sie verstand keiner der Reaktionen dieses Mädchens. Da saß sie fix und fertig. Sah aus, wie der Tod auf Latschen. Ihr ging es beschissen. Aber sie machte sich Sorgen um Jenny, weil die traurig war. Kahlyn versuchte aufzustehen, aber die letzten Tage hatte sie einfach zu viel Kraft gekostet. Sie schaffte es nicht. John der seinen Schützling, ständig im Auge behielt, ahnte, was sie haben wollte.

"Du brauchst den Medi-Koffer, Mäuschen?"

Völlig geschafft nickte sie kaum merklich. John ahnte es mehr, als dass er es sah. Drehte sich ganz langsam um, immer Kahlyn im Auge behaltend und griff er nach dem Medi-Koffer. Holte ihn hoch und stellte ihn auf den Tisch. Was Viola und Jo jetzt sahen, begriffen sie noch weniger, als das zuvor geschehene. Es ging einfach nicht in ihren Kopf und war für sie nicht nachvollziehbar.

John der ahnte, was Kahlyn vorhatte, fing an zu lächeln. 'Das machst du gut Kahlyn, stelle dich deinen Ängsten', ging es durch seinen Kopf.

"Kann ich dir helfen, Kahlyn?", erkundigte er sich, mit einem Lausbubengesicht.

Kahlyn, hat sich etwas entspannt, seit dem sie diesen Arm untersucht hatte. Aber sie hatte immer noch Probleme, mit ihrer Atmung. John stellte sich hinter ihren Stuhl und hielt sie einfach fest. So dass sie das Gefühl von Sicherheit hatte. Es half ein wenig gegen dieses verdammte Zittern, langsam wurde auch die Atmung etwas ruhiger. Langsam und mit zittrigen Händen, versuchte sie den Medi-Koffer zu öffnen. John beugte sich zu ihr vor.

"Mach die Zahlen rein. Ich mach ihn dir auf."

Kahlyn stellte die Zahlen, am Schloss ein und John öffnete ihr den Deckel. Kahlyn stützte auf einmal den Kopf auf die Hände und atmete ganz tief und bewusst. Viola, die etwas sagen wollte, wurde wieder einmal von John, mit einem Kopfschütteln, davon abgehalten. Er kannte das schon von Kahlyn, er wusste, dass sie versuchte sich beruhigen.

Auf einmal kam Jenny in den Raum und wollte auf John zulaufen. Jennys Pate schüttelte kurz mit dem Kopf und legte den Finger auf den Mund. Dann sah er auf Kahlyn. Jenny sein liebes schlaues Patenkind, begriff sofort und blieb am Ende des Tisches stehen. Nach fast zehn Minuten, öffnete Kahlyn die Augen.

Sie griff zielsicher und entschlossen in ihren Koffer. Holte den Kleber und den Brenner heraus. Plötzlich waren ihre Hände ganz ruhig. Zielgenau brachte sie den Kleber auf, dann zündete sie den Brenner. Ganz vorsichtig erwärmte Kahlyn den Kleber, auf beiden Seiten des abgebrochenen Armes. Drückte ihn dann ganz vorsichtig zusammen. Sie machte den Brenner aus, legte beides ordentlich zurück in den Medi-Koffer. Damit fertig, nahm sie eine Tyronplatte aus dem Koffer und schnitt sie so zu, dass es den abgebrochen Arm stützte. Gleichmäßig und zügig hintereinander, trug sie die Natriumchloridlösung, auf die Platte auf und legte sie als Gipsverband, um den Arm. Wieder räumte Kahlyn das, was sie nicht brauchte, zurück in den Koffer. Um die Verletzung der Puppe vollständig zu behandeln, nahm sie noch eine schmale Binde aus dem Koffer. John lachte jetzt schon, mit einem breiten Grinsen, genau wie Jo. Viola und Jenny dagegen waren fasziniert, von dem was Kahlyn mit der Puppe machte. Gekonnt, was von viel Erfahrung beim Verbinden zeugte, wickelte sie die Binden um den "Gips". Anschließend bekam sie noch eine Armschlinge, aus dem Rest der Binde. Damit fertig schloss Kahlyn ihren Koffer, stellte ihn auf dem Boden. Mit schräg gehalten Kopf, begutachtete sie ihr Werk. Dann sah sie zu Jenny. Keiner der anderen hatte geahnt, dass sie überhaupt mit bekommen hatte, dass Jenny gekommen war. Leise und mühsam sprechend, mit vielen Pausen flüsterte Kahlyn.

"Jetzt ist es besser. Jetzt geht es deiner Sabine wieder gut. Ganz geheilt, ist es nicht. Aber besser als ab, ist es schon", wieder legte Kahlyn ihren Kopf ein ganz kleines bisschen schief.

Jenny ging auf Kahlyn zu und gab ihr einen Kuss. "Danke Kahlyn. Du bist ganz lieb. Jetzt geht es Bienchen, wirklich wieder gut. Der Arm bleibt so. Oma muss keinen neuen machen."

Kahlyn sah hilfesuchend zu John, der nickte ihr zu. "Hab ich gern gemacht. Ich bin ja Arzt. Da kann ich auch dem Bienchen helfen. Hauptsache, du bist nicht mehr traurig. Aber passe auf, dass sie nicht wieder stürzt. Noch einmal kann ich sie nicht heile machen", erklärte sie Jenny ganz leise, mit vielen Unterbrechungen.

Auf einmal fingen alle an zu lachen. Kahlyn verstand nicht warum. John zog sich einen Stuhl heran und sah Kahlyn an.

"Mäuschen du verstehst nicht, warum wir jetzt lachen oder?"

Kahlyn nickte.

"Weil wir froh sind, dass du dich vor Jennys Puppen, jetzt nicht mehr so fürchtest. Es ist schön, dass du diesen Schritt gemacht hast."

Kahlyn sah John lange an. "Du hattest Recht, mit dem, was du vorhin gesagt hast, John. Danke", erklärte sie ihm mit müder schleppender Stimme.

John streichelte Kahlyn, über den Kopf "Ach Mäuschen. Glaube mir eins. Das war für mich genauso schwer, wie für dich. Ich bin froh, dass du nicht mehr böse bist mit mir. Aber kannst du uns vielleicht noch erklären, was du mit Tim vorhin gemacht hast?"

Kahlyn nickte sah von John zu Jo, Viola, auch Jenny. Dann blickte sie sehnsüchtig zum Sofa. John begriff, dass sie schon wieder weit, über ihre Grenzen gegangen war.

"Komm Mäuschen, leg dich ein wenig hin. Dir geht es doch nicht gut."

Kahlyn nickte und ließ sich von John ohne Wiederstand hochheben und auf das Sofa legen. John setzte sich hinter sie und zog sie wieder in seinen Arm. Er wollte unbedingt, dass sie sich sicher fühlte. Genug hatte sie jetzt durch gemacht. Kahlyn musste unbedingt zur Ruhe kommen. Als die Kleine sich an John geschmiegt hatte, wusste sie immer noch nicht, ob sie den anderen wirklich vertrauen konnte.

In dem Moment ging Jenny zu ihrem Paten und lehnte sich an ihn. Gab ihm einen Kuss, den sie ihm vorhin ja nicht geben durfte. Diese Geste war für Kahlyn das Zeichen genug, den Runges wenigstens eine kleine Chance zu geben. Ihnen mit viel Vorsicht zu vertrauen. Wenn Jenny ihren John so mochte, dann mochte John sie auch. Dann konnte sie zu mindestens Jenny vertrauen.

"Ich habe vorhin", fing Kahlyn ganz leise sprechen. Immer wieder dazu gezwungen, eine Pausen zu machen, um zu Atem zu kommen. "bei Tim drei verschobene Wirbel im Lendenbereich, eingerenkt. Ich vermute, dass die schon seit seiner Geburt verschoben sind. Es war keine Entzündung zu sehen oder Blutergüsse. Außerdem, war einer der Nackenwirbel völlig verdreht. Ich verstehe nicht, dass es noch niemand gemerkt hat. Er muss ständig wahnsinnige Schmerzen gehabt haben. Mit dem Krantonak, habe ich den Herzklappenfehler gerichtet. Aber es ist noch nicht ganz in Ordnung. Ich komme in ein paar Wochen nochmal hier her. Dann richte ich das noch ganz. Es war einfach zu schlimm. Ich hatte nicht mehr so viel Kraft. Deshalb hat es einfach nicht mehr gereicht. Tim müsste jetzt viel besser Schlafen. Er hat auf alle Fälle keine Schmerzen mehr, die sind für immer weg. Der Herzklappenfehler, den er jetzt noch hat, ist minimal. Das können wir in ein paar Wochen noch richten, wenn es mir wieder besser geht", Kahlyn drehte ihren Kopf zu John. "Ich möchte nach Hause John, in meine Wache."

Der nickte. "Jo kannst du uns fahren oder soll ich in der Wache anrufen?"

Jo schüttelte den Kopf, zeigte auf die Flasche. "Tut mir leid, John. Aber ich rufe die Wache selber an."

Der Polizeirat stand sofort auf und ging in den Flur. Viola die ganz traurig guckte, kämpfte einen schweren Kampf mit sich, traute sich einfach nicht Kahlyn etwas zu fragen.

John sah seine Freundin an. "Viola, was ist los?"

Diese sah unsicher auf Kahlyn.

"Kahlyn, kann Viola dich was fragen? Die traut sich nicht."

Kahlyn nickte.

"Kahlyn, könntest du es dir vielleicht überlegen, ob du uns noch mal besuchen kommst. Wir würden uns alle freuen. Wirklich, wenn du willst reden wir mit Jenny, dass sie die Puppen wegräumt. Nicht wahr, das würdest du machen, Jenny."

Dabei sah sie ihre Tochter an, die sofort nickte. Aber ihre Augen sagten etwas anders. Auf ihre Puppe zu verzichten fiel Jenny schwer. Diesem Mädchen zu liebe, würde sie das allerdings machen.

Kahlyn sah von einem zum anderen. "Ich denke darüber nach. Ich habe es Tim doch versprochen. Aber die Puppen musst du nicht wegräumen, Jenny. Wir können ja hier untern reden. Ich weiß ja jetzt, dass das Puppen sind."

Wieder wurde erleichtert gelacht.

"Danke Kahlyn, das ist mehr, als ich nach dem Vorgefallen erwarten konnte."

Kahlyn, die bei Violas Worten ihren Kopf, in deren Richtung drehte, sah diese erstaunt an.

"Kahlyn, es tut mir leid, dass wir dich damit so erschreckt haben. Das wollten wir wirklich nicht", setzte Viola erklärend nach.

"Ihr könnt da nichts dazu. Woher solltet ihr das wissen? Nur ich wusste nicht, dass es sowas auch gibt. Aber Bienchen, hat ein schönes Gesicht", an John gewandt. "John, ich möchte in meine Wache. Ich bin so müde."

"Na, dann komm. Ach Viola, bitte stelle die Dose mit der Nahrung von Kahlyn so, dass die Kinder nicht dran kommen. Sie ist für uns giftig. Nicht das da etwas passiert."

Viola nickte. "Ich weiß, das hat Fran Jo als erstes gesagt. Denkt ihr an Jos und Tims Geburtstagsfeier? Kahlyn, wenn du möchtest, bist du gern eingeladen. Also Danke mein Kind, für alles und gute Besserung."

John half Kahlyn beim Aufstehen. Schwankend, aber diesmal alleine, verließ sie das Haus von Runges. In dem Moment, kam der Toniwagen von der Wache. Sie konnten sofort einsteigen und fuhren gleich los. Fünfzehn Minuten später, kamen sie in der Wache an. Kahlyn ging mit Johns Hilfe, hinter in den Schlafsaal und fand ihr Bett belegt vor. Als John, Raphael wecken wollte, schüttelte sie den Kopf und ging auf ein anderes Bett zu, legte sich dort hinein. Kaum, dass sie lag, schlief sie tief und fest. Jo setzte sich auf das Bett mit dem Rücken ans Fußende gelehnt. Beobachtet Kahlyn noch weitere zehn Minuten beim Schlafen. Er stellte jedoch sehr schnell fest, dass Kahlyn tief und vor allem ruhig schlief. Vorsichtshalber, kontrollierte er die Temperatur und den Puls. Beides schien ihm normal zu sein. Erleichtert atmete er auf und nahm eine Decke, von einen der anderen Betten, deckte die schlafende Kahlyn zu.

"Schlaf schön Mäuschen und erhole dich endlich."

 

Verwundert sah er auf Kahlyns Bett und sah seinen Kollegen Raphael dort schlafen. Verständnislos schüttelte er den Kopf. Hier standen neununddreißig weiche Betten und Raphael legte sich freiwillig, in dieses harte Bett. Er musste unbedingt mit Rudi reden. Vor allem aber musste er etwas essen. Er hatte einen barbarischen Hunger. Die letzten Stunden, hatten ihn wahnsinnig viel Kraft gekostet und Violas Suppe machte nicht wirklich satt. Runges Frau kochte halt einfach zu gesund. Leise um die schlafenden Kollegen, nicht zu wecken, verließ er den Schlafsaal und ging nach vorne zu den anderen. Rudi war nicht in seinem Büro. Etwas das John verwunderte, normalerweise hielt sich Rudi um diese Zeit, immer im Büro auf. Aber nach dem, was hier los war, wird er sich wohl um seine Leute kümmern. Die bestimmt völlig durch den Wind waren. Er behielt Recht. Rudi saß mit den Anderen am Tisch und diskutierte. Als er John sah, schüttelte er den Kopf.

"John, du siehst furchtbar aus. Lege dich bitte sofort hin und schlafe auch etwas. Du nutzt uns nichts, wenn du auch noch abklappst."

John nickte. Wandte sich aber sofort, an Fran.

"Fran, hast du für einen kurz vor dem Verhungern stehenden John, etwas zu essen. Vorher kann ich nicht schlafen. Bitte."

John setzte seinen treusten Dackelblick ein, der bei Fran eigentlich nicht nötig war, aber die anderen zum Lachen brachte. Fran, der John schon viele Jahre kannte, ging auf Johns Scherz ein, auch ihm machte die Stimmung hier langsam zu schaffen.

"Nee John, wer nicht rechtzeitig zu den Mahlzeiten da ist, hat Pech. Der muss hungern", griente Fran, seinen großen immer hungrigen Freund, frech an. "Die Bande hier, hat alles aufgefuttert."

Proteste kamen von allen Seiten. Keiner von ihnen hatte wirklich Hunger, deshalb hatte Fran heute nicht einmal gekocht. Es gab nur Schnittchen.

Fran sah die Bande an. "Wie ihr habt nichts zum Mittag bekommen? Da muss ich mir wohl zum Abendessen, etwas Leckeres einfallen lassen. Oder habt ihr immer noch keinen Hunger?"

Kurt der ja noch weniger, als alle die anderen im Magen hatte, meinte. "Na wenn es Kahlyn wieder besser geht, dann geht es mir auch wieder besser. Ich hab jedenfalls jetzt Hunger."

Fran sah in die Runde und alle nickten zustimmend. "Ist in Ordnung, so gefallt ihr mir besser. So eine Friedhofsstimmung, kann ich für den Tod nicht ab."

Der Koch drehte sich auf der Stelle um und verschwand in seiner Kochnische. Kurze Zeit später, kam er mit einer großen Platte, die er auf die Mitte des Tisches stellte und holte noch zwei extra Teller. Einen für John und einen für Kurt

"So ihr Zwei, ihr bekommt extra etwas, damit die anderen Euch nichts wegfuttern. Es wird aufgegessen, sonst gibt’s kein Abendbrot", griente er wie eine Fettbemme und war schon wieder in seiner der Küche verschwunden, in der es nach kurzer Zeit lecker roch. Langsam kam die Gruppe, um Sender wieder zur Besinnung und entspannte sich sichtbar. Es wurde sogar wieder etwas gescherzt. Auch wenn man die Runde nicht als lustig bezeichnen konnte, war sie doch lockerer, als vor einer halben Stunde.

Rudi gab John ein Zeichen, ihm ins Büro zu folgen. John schloss die Tür und ließ sich auf das Sofa fallen, legte einfach die Füße hoch. Rudi ließ es geschehen. Er sah, dass John fix und alle war.

"John, wenn du müde bist, geh schlafen."

John schüttelte den Kopf. Er musste mit jemanden reden, sonst würde er noch durchdrehen. "Hast du einen Kaffee für mich, Rudi. Ich muss einfach reden. Ich hatte heute nicht nur einmal das Gefühl, dass ich gleich werde wahnsinnig. Weißt du, was ich nicht verstehe?"

Rudi reichte seinem Stellvertrete und besten Freund, eine Tasse Kaffee mit viel Zucker.

"Nein John, aber du erklärst mir das, vielleicht gleich."

Dabei sah er John genau an. Der sah schlecht aus, käsig im Gesicht. Etwas, dass bei John ganz selten war und tiefe schwarze Augenringe, unter den Augen. Was hatte er nur mit der Kleinen, alles durchgemacht. Er wusste, dass John die Kleine, obwohl sie ihn so schnell gelegt hatte, sofort ins Herz schloss. John trank den Kaffee langsam, in kleinen Schlucken, dann setzte er sich auf.

"Rudi, wie kann ein Kind wie Kahlyn, noch normal sein. Ich verstehe es nicht. Vorhin, nachdem ich Kahlyn ins Bett gebracht habe. Stellte ich mir vor, dass Ramira jetzt so alt ist, wie Kahlyn damals war. Ramira bekommt schon Schreikrämpfe, wenn sie sich mal das Knie aufschlägt. Dieses Mädchen da hinten, erlebt Horror, den wir uns nicht vorstellen können und geht dann einfach zum normalen Tagesgeschäft über. Macht sich fertig, weil sie einmal in ihren Leben, einen Fehler gemacht hat. Will eine Selbstanzeige machen, um einen Abschluss zu finden. Ihr geht es beschissen. Sie bekommt kaum Luft. Kann nicht mehr Laufen. Zittert am ganzen Körper und hat nichts Besseres zu tun, als zwei Leben zu retten und einer Puppe den Arm zu reparieren. Statt sich hin zu legen und sich auszuruhen, hilft sie anderen. Ich kapiere das alles nicht." John fuhr sich durch sein kurzes Stoppelhaar. Sender hörte sich, den Wirrwarr an Informationen an. Verstand aber nur teilweiße, auf was John hinaus wollte.

"John, von was redest du? Nicht laufen können? Fehler? Selbstanzeige? Leben retten? Von was redest du da?"

John stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Ihm brummte der Schädel, dass er schreien könnte. Leise zu seinen Füßen sprechend, erzählte er Sender alles, was er seit gestern Abend erlebt und gehört hatte. Nachdem John geendet hatte, herrschte lange Schweigen. Sender verstand die Welt nicht mehr. Was mochte in den Kopf, von Kahlyn vorgehen. Er gestand sich ein, dass ihm scheiß egal war, was aus diesem Kindermörder geworden war. Waren seine Vorstellungen, von Moral und ehrenvoller Handlungsweise, etwa nicht mehr in Ordnung. Er musste dringend einmal darüber nachdenken. Er hatte vor Kahlyn Hochachtung, würde sie auf diesen Weg begleiten. Dies sagte er auch John.

"John, egal, was auf Kahlyn zukommt. Ich stehe an ihrer Seite. Sie hat ein größeres Herz, als wir alle zusammen. Komm wir gehen vor. Ich muss einfach mal wieder, lachen und scherzen. Auch wenn mir absolut nicht danach zumute ist. Aber es hilft der Kleenen nicht, wenn wir hier eine Friedhofsstimmung haben."

Damit stand Rudi auf und wollte John auf die Beine helfen. Der hatte noch eine Frage.

"Rudi, wieso schläft, Raphael eigentlich in Kahlyns Bett."

Oh Gott ging es Sender durch den Kopf. Das wusste John ja noch gar nicht. Kurz nicht ins Detail gehend, klärte Sender seinen besten Mann über das auf, was ihm Raphael erzählt hatte. John war genauso entsetzt wie Sender. 

"Sag mal Rudi, was ist nur los im Moment. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Aber ich denk es ist gut, dass wir wissen, was mit Raphael los ist. Oft habe ich seine Reaktionen einfach nicht verstanden. Aber ich denke, wir sollten nicht an seinen Wunden kratzen. Du siehst, was mit Kahlyn passiert. Du sieht aber auch, wohin es Raphael gebracht hat. Er schläft wieder in seiner Ecke zu Hause. Obwohl er neununddreißig weiche Betten hat. Rudi, Raphael geht genauso an seiner Vergangenheit kaputt, wie Kahlyn. Lass sie ruhen, wir schaffen das auch ohne ihn. Wenn er freiwillig etwas macht, ja. Aber du wirst ihn zu nichts zwingen. Es reicht, wenn Kahlyn leidet. Raphael muss nicht auch noch durch diese Hölle gehen. Ich werde ihn wecken und kurz mit ihm reden. Dann komme ich vor zu euch."

Damit stand John müde auf und ging nach hinten zu Raphael. Sender ging vor, zu den anderen. Sender sah auf die Uhr, es war kurz vor halb Drei. Im Bereitschaftsraum angekommen, sprach er Alexander Klein an, der in seinem Team war.

"Ali, sei bitte so lieb und gehe mal nach unter zu Tony, in die Asservatenkammer. Frag ihn, ob er ein paar Bilderrahmen für Kahlyns schöne Zeichnungen hat. Damit, können wir hier den Raum, etwas gemütlicher machen. Oder hat jemand etwas dagegen."

Alle schüttelten den Kopf. Ali verschwand, nach unten zu Tony. Keine fünf Minuten später, kam er wieder, mit zwei großen Bilderrahmen. Sender hängte diese in der Fernsehecke auf. Die Männer setzten sich und Sender teilte ihnen Johns Beschluss mit. Die Männer waren damit einverstanden. Langsam entspannte sich die Lage. Man lachte sogar wieder. Nicht so wie vor einer Woche, dazu ist einfach zu viel passiert. Außerdem, waren die Männer viel zu müde dazu. Eine halbe Stunde später, kam John mit Raphael auch nach vorn. Raphael fühlte sich unwohl, das sah man ihm an. John schon immer der Psychologe des Teams war, sagte leise zu Raphael.

"Was ist los, Raphi? Denkst du, die anderen wollen jetzt nichts mehr mit dir zu tun haben? Weil du uns, ein Stück deiner Seele gezeigt hast?"

Raphael sah John ernst an und nickte traurig.

"Du bist ein Spinner, echt mal", brummelte er leise zu seinem Kollegen.

Laut sagte er, so dass es alle hören konnten, fragte er in die Runde.

"Leute, ich brauche mal kurz eure Meinung. Ich komme irgendwie grad nicht klar."

Die Männer schauten John fragend an. "Was los John?", kam es von allen Seiten.

"Wenn jemand, wie Kahlyn seine Gefühle zeigt, so wie sie es getan hat, das ist doch in Ordnung für euch oder?" Er sah in die Runde.

Alle nickten. 'Na hoffentlich formuliere ich die Frage jetzt richtig,' schoss es John durch den Kopf. 'Aber egal, die Männer werden es schon wissen, wie ich das meine'.

"Weil sie eine Frau ist?"

Es kamen viele Reaktionen von allen Seiten. John sah Raphael an und nickte ihm zu. Raphael hörte solche Sätze wie.

"Was hat das damit zu tun?"

"Jeder sollte seine Gefühle zeigen dürfen."

"Aha, also muss sich niemand dafür schämen, dass er seine beschissene Kindheit hatte und nicht gern daran zurück denkt? Auf die er ja eigentlich keinen Einfluss hatte."

Alle nickten und wussten jetzt, worauf John hinaus wollte. Arno und Detlef, fingen gleichzeitig mit den gleichen Worten an

"Im Gegenteil…" sie unterbrachen sich, da sie ja nicht gleichzeitig sprechen konnte und im Duett singen wollte sie nicht.

Detlef sprach weiter. "Im Gegenteil, Raphi. Jetzt wissen wir wenigstens, warum du manchmal so komisch bist. Du hättest das schon viel früher machen sollen. Ich will dir mal etwas sagen. Egal, was dein Vater mit dir gemacht hast. Du bist ein wertvolles Mitglied unseres Teams und alle respektieren dich. Ich kann nur für mich sprechen. Raphi, ich ziehe den Hut vor dir, dass du trotzdem, so ein prima Kerl geworden bist", lachend setzte er hinterher. "Du bist und bleibst, mein liebenswerter Chaot. Dem ich in jeglicher Notsituationen, bedingungslos meinen Arsch anvertraue. Nun zieh nicht so ein Gesicht, sondern setzt dich und lach wieder."

Damit ging er auf Raphael zu und nahm ihn in den Arm. Schob ihn einfach, zu seinen Kollegen. Arno sagte nur einen Satz, mit Absicht in seinem verschrobenen Berliner Akzent.

"Wat soll ick, dazu noch sajen, de Cheffe hat jesprochen."

Kopfschüttelnd fing das ganze Serow Team, an schallend zu lachen. Raphael stimmte schließlich mit ein. Eine halbe Stunde später, brachte Fran das Lieblingsgericht der Mannschaft auf den Tisch, Schnitzel mit Bratkartoffeln, alle hauten rein. Als alle gegessen hatten und Fran beim Abwaschen geholfen wurde, blickte Sender auf die Uhr. Es war nun halb Sieben, am frühen Abend. Alle sahen aus, als hätten sie seit fünf Wochen nicht geschlafen. Also stand er auf und sprach ein Machtwort.

"So meine Herren, jetzt kommt ein Befehl, der keinen Widerspruch zulässt. Alle unter die Dusche und ab ins Bett. Wer in einer Stunde, noch nicht schläft, bekommt von mir eine Abmahnung. Also los und bitte, im Schlafsaal leise. Macht mir die Kleene nicht munter."

Keiner der Männer, war über den Befehl böse. Im Gegenteil. Einige verzichteten sogar auf die Dusche und gingen sofort schlafen. Sender ging vor in die Wachstube.

"Felix, wir sind alle durch die Reihe weg tot. Nach den letzten beiden Tagen, brauchen die Jungs einfach etwas Ruhe. Bitte wecke uns nur, wenn es gar nicht anders geht. Also, wenn Alarm ausgelöst wird. Dann weckst du auch nur die, für die der Alarm gilt. Verstanden, wecke sie persönlich, nicht mit der Alarmglocke. Tust du mir den Gefallen. Die Männer müssen mal richtig ausschlafen. Die laufen mir alle am Limit."

Wachtmeister Felix Böhmer nickte. "Geht klar Rudi, dann leg du dich auch mal hin. Du siehst nämlich auch aus, als ob du gleich aus den Latschen kippst."

Sender nickte und ging gähnend nach hintern in den Schlafsaal, ohne zu duschen. Schmiss sich so wie er war auf das Bett und war innerhalb weniger Minuten fest eingeschlafen.

Kapitel 9


Bereits am frühen Sonntagabend des 7. September 1975, also genau eine Woche nach Kahlyns Eintreffen auf der Wache, herrschte im Aufenthaltsraum des Reviers 61 eine ungewohnte Stille. Es war noch nicht einmal 20 Uhr. Etwas, dass in all den Jahren, seit dem Bestehen der Wache, noch nie vorgekommen war. Keiner der zwanzig zurzeit anwesenden Teammitglieder des SEK 61, war noch zu sehen. Alle lagen sie in ihren Betten und schliefen, einen erschöpften Schlaf. Die Männer waren einfach fix und alle. Die letzten sieben Tage waren unvorstellbar kräfteraubend gewesen. Sie gingen bei den Männern regelrecht an die Substanz. Durch die Anhäufung der unter normalen Umständen, kaum vorstellbaren Ereignisse, wurden die sonst durch ihren Beruf schon hartgesottenen Polizeibeamte, an den Rand des Ertragbaren gebracht. Nicht physisch, denn da hatten sie diese Woche nicht viel leisten müssen, sondern psysisch war ein Punkt erreicht, an dem die Männer nichts mehr wegstecken konnten.

Viele der Kollegen waren schon mehr als fünfzehn Jahre im Dienst und hatten eine Menge Dinge gesehen und gehört. Wirklich keiner von ihnen, hatte bis jetzt so eine chaotische Woche erlebt. Alles, was sie in der vergangen Woche erfahren und erlebt hatten, nicht nur von der Seite Kahlyns, sondern auch von Raphael und den Jacobs, waren Berichte von zum Teil unvorstellbaren Episoden, aus deren Leben. Auch wenn das Gehörte, alles nur Erzählungen waren, konnte man es nur sehr schwer verarbeiten. Alleine die Vorstellung, dass Menschen so leben mussten, war schwer zu verkraften. Warum waren sie Polizisten geworden, wenn sie solche Dinge nicht verhindern konnten? Fragten sie sich nicht nur einmal im Laufe der Woche. Vor allem, dass Kollegen von ihnen, an solchen Vorfällen beteiligt waren, machte den Männern schwer zu schaffen.

Viele schliefen an diesen Abend mit ähnlichen Gedankengängen ein, wie Rudi und John: dass sie über ihre Einstellungen zum Beruf, einmal gründlich nachdenken sollten. Nur waren alle viel zu müde, um noch klar denken zu können. Der letzte Gedanke galt Kahlyn und der Hoffnung, dass die Kleine nun endlich etwas zur Ruhe kommen würde und in der Wach wieder ein normales Leben einkehren möge. Diesen Stress darüber waren sich alle im Klaren, würden sie nicht lange durchhalten. Sie waren einiges an Stress gewohnt und hatte schon viele, in ihren Augen, schlimme Einsätze erlebt. Aber was seit ein paar Tagen hier los war, hielt keiner auf Dauer aus.

Die meisten der Teammitglieder hatten selber Kinder in Alter zwischen zehn und achtzehn Jahren oder Kontakt zu Kindern in diesem Alter. Sie fanden es deshalb noch um einiges schlimmer, da sie unbewusst Kahlyn mit diesen Kindern verglichen. Das ein Vergleich gar nicht real war, wurden den Männer gar nicht bewusst. Dadurch wurde ihre Wut auf Mayer und seine Mitarbeiter noch stärker. Umso glücklicher waren die Männer darüber, dass ihre Kinder in der Obhut ihrer Frauen aufwuchsen, so dass sie eine glückliche Kindheit hatten. Mit ihren Gedanken an ihre glücklichen Kinder, fanden sie endlich Ruhe und schliefen ein, um sich etwas erholen zu können.

 

Kurz vor halb Zehn Uhr am Abend dieses Tages, bekam Wachtmeister Felix Böhmer, in der Wachstube, einen Anruf von der Soko Tiranus. Einer Spezialeinheit, bestehend aus festen Mitgliedern, die verstärkt wurden durch Kämpfer verschiedener anderer Teams. Die Soko Tiranus, wurde nur dann dazu gezogen, vom Ministerium für Staatsicherheit, wenn andere Einheiten diese Fälle nicht mehr abschließen konnten. Meist waren es ausweglose Situationen, in denen man hoffte, die Geiseln durch den Einsatz der Spezialisten der Soko Tiranus noch zu finden, beziehungsweise die Verbrecher noch dingfest machen zu können. Dieser Einheit gehörte seit elf Jahren, auch Kahlyn an.

"Dienststelle 61 Gera, Wachtmeister Böhmer am Apparat", meldete sich der Diensthabende Wachtmeister der Spätschicht.

"Guten Abend Genosse Wachtmeister, ich müsste dringend mit Leutnant Kahlyn sprechen, hier ist Oberst Fleischer von der Soko Tiranus. Ich habe einen Sondereinsatz für Leutnant Kahlyn. Der Befehl kam von ganz oben, sonst würde ich Kahlyn heute nicht anfordern."

"Jawohl, Genosse Oberst, ich gehe sie holen. Es dauert aber einen Moment."

Felix ging hinter in den Schlafsaal und suchte das Bett in dem Kahlyn schlief. Er hockte sich vor das Bett und weckte seine Kollegin so leise wie möglich.

"Kahlyn, wache auf, ein Oberst Fleischer will dich sprechen, von der Soko Tiranus."

Kahlyn öffnete die Augen und war sofort hell wach. "Sir, ich komme, Sir."

Antwort sie und stand sofort auf. Nichts mehr war ihr anzumerken, von den vergangen Strapazen. Sie sah noch etwas blass aus, aber sonst war sie wieder voll da und wieder die Alte. Gemeinsam verließen sie den Schlafsaal. Auf dem Gang hielt Kahlyn ihren Kollegen kurz am Arm fest.

"Genosse Wachtmeister, ich muss bestimmt zu einem Einsatz, sonst würde der Oberst nicht anrufen. Könnten sie mir einen Gefallen tun und mir schnell etwas zu essen machen, bitte. Dann kann ich in der Zwischenzeit, telefonieren und spare etwas Zeit."

Felix nickte seiner neuen Kollegin zu. "Klar, wenn du mir sagst wie ich das machen muss."

Kahlyn erklärte ihm schnell, wie der Brei in welchen Mengen zubereitet wurde und rannte vor in die Wachstube. Sah sich suchend um. Da lag ein Hörer auf den Schreibtisch, zu dem lief sie hin und ergriff ihn.

"Genosse Oberst, Leutnant Kahlyn am Apparat, Sir", meldete sich Kahlyn ordnungsgemäß.

"Guten Abend Kahlyn, wie geht es dir?", erkundigte sich der Oberst als erstes.

Der Kahlyn sehr mochte und einen Narren, an diesem sonderbaren Mädchen gefressen hatte.

"Sir, mir geht es gut, Sir" gab Kahlyn gewohnheitsgemäß zur Antwort, die gern mit der Soko Tiranus zusammenarbeitete.

Auch wenn es für sie immer zusätzliche Einsätze bedeutet hatte. Allerdings bekam sie sehr oft Anerkennung, von dem Oberst, die ihr sonst niemand entgegen brachte. Das tat Kahlyn gut.

"Kahlyn, ich brauche dich dringend für einen Einsatz, kannst du weg?"

Kahlyn, hatte keine Ahnung und sah sich in der Wachstube um, blickte nach hinten in Olivers Büro und sah den diensthabenden Schichtleiter darin sitzen.

"Sir, einen Moment Sir, ich frag bei dem Diensthabenden der Wache nach, ob etwas anliegt, Sir", Kahlyn legte den Hörer nochmal auf den Schreibtisch und lief hinter in Olivers Büro.

"Genosse Oberwachtmeister, wissen sie ob heute oder in den nächsten Tagen Einsätze geplant sind, Sir?"

Oliver sah Kahlyn verwundert an. "Nein Kleines. Wie geht’s dir?"

"Sir, wieder gut, Danke Sir."

Ohne sich auf eine weitere Diskussion über ihre Gesundheit einzulassen, verließ sie Olivers Büro und ging vor zum Telefon. Oberwachtmeister Oliver Jäger, der neugierig geworden war, kam ebenfalls in die Wachstube.

"Genosse Oberst, der diensthabende Wachtmeister meint, es sind keine Einsätze geplant, Sir. Die anderen kann ich nicht fragen die schlafen alle schon, hier war ziemlich viel Stress, Sir", leise setzte sie nach. "Genosse Oberst, wegen mir, Sir."

Der Oberst lachte herzhaft, am anderen Ende. "Hast dich wohl, noch nicht richtig eingelebt oder?"

Kahlyn rieb sich verlegen das Genick. "Genosse Oberst, ja ich hatte ein paar Probleme, Sir. Aber ich bekomme das schon noch hin, Sir."

Wieder erklang ein schönes Lachen. "Das weiß ich Kahlyn. Pass auf es ist jetzt 21 Uhr 27. Ich schicke dir den Gosch so, dass er 21 Uhr 45 da ist. Der ist schon in Gera, muss nur noch tanken. Reicht dir die Zeit?"

Kahlyn dachte kurz nach, duschen, essen, anziehen und ausrüsten. "Genosse Oberst, das reicht. Das schaffe ich locker, Sir. Welche Ausrüstung, Sir?"

"Nur Nahkampf. Den Rest stelle wie immer ich. Dann geb mir mal euren Diensthabenden und mach dich fertig. Den Rest auch das Abmelden, kläre ich mit ihm."

Kahlyn winkte Oliver heran. "Genosse Oberst, ich mache los. Bis dann, Sir."

Um die Abmeldung abzuschließen, reichte sie dem völlig verdattert guckenden Oliver den Hörer und verließ sofort die Wachstube. Im Bereitschaftsraum angekommen, hatte Felix gerade den Brei auf den Teller gemacht. Kahlyn setzte sich auf den Tisch und schlang hastig die Mahlzeit herunter.

"Danke Felix", sagte sie einfach.

Den Wachtmeister beim Vornamen nennend, ohne es zu merken, zwischen zwei Löffeln Brei. Drückte den verdutzten Felix, den leeren Teller in die Hand und spurtete zu den Spinden. Schnell zog sie sich aus und ging sich duschen. Sie hatte nur noch fünfzehn Minuten Zeit. Aber das reichte, so dass sie einen Augenblick lang, die Dusche genießen konnte. Die Hände an die Wand gestützt, ließ sie zwei Minuten das pure heiße Wasser über ihren Körper laufen und genoss einfach nur die Entspannung. Wickelte den Verband ab und wusch die Brandsalbe herunter. Alle Verletzungen sahen gut aus und waren fast verheilt. Dann wusch sie sich und ging so nass wie sie war, nach vorn zu den Spinden.

Felix, der in der Zwischenzeit alles abgewaschen hatte, was von der Spätschicht eingedreckt wurde. Nutzte die Zeit um für sich und für die Wachstube, gleich noch ein paar Schnitten zu schmieren. Unbewusst beobachtete er das junge Mädchen, was seit Tagen für Aufregung in der Wache sorgte. Erstaunt stellte er fest, dass Kahlyn viel mehr Muskeln hatte, als er eigentlich dachte. Dampfend stand sie vor ihrem Spind und rieb sich mit einer Creme ein. Dann zog sie sich Turnhose und Bustier an. Sie drehte sich ein Stück herum und Felix erschrak. Der gesamte Rücken war vernarbt, lange dicke Narben zogen sich bis hinunter in die Oberschenkel. Wer hat ihr das nur angetan? Fragte er sich erschrocken. Dann drehte er sich weg, weil ihm bewusst wurde, was er da eigentlich tat. Schnell ging er nach vorn in die Wachstube, in der er Oliver telefonieren sah. Kaum war er da, rief dieser ihm schon zu.

"Felix, ich brauche in zehn Minuten drei Toniwagen hier vor der Wache, die müssen die Kreuzung absperren", ordnete Oliver an.

Felix musterte seinen Kollegen verwundert. Als dieser leicht den Kopf schüttelte, nickte er einfach und ging hinter an den Funk, um die entsprechenden Kollegen davon zu informieren und die Kreuzung rechtzeitig absperren zu können.

Kahlyn war in der Zwischenzeit trocken und konnte ihre Spezialschuhe anziehen. Danach zog sie einen engen, speziell für sie gefertigten Kampfanzug an und band sich das Fangseil um, darüber einen speziellen Gürtel. In dafür vorgesehene Taschen, steckte sie ihre Nahkampfausrüstung, innen in den Gürtel kamen sie die Shuriken-Sterne. Seitlich auf der rechten Seite steckte sie ein Mejo, in eine kleine Tasche. Das ist eine Rolle, die mit ausfahrbaren Messern bestückt wurde und hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Jo-Jo. Hinten in den Gürtel kamen die Nunchaku und an die Seite, rechts und links, die Sai. Dann schnallte sie sich ein Nahkampf-Halfter um, an dem sie ihre beiden Taiji Schwerter und den Tonfa befestigte. Vom Halfter aus zum Gürtel lief ein Gurt, den sie in am Gürtel befestigte. Dort hinein steckte sie ihre Shuriken-Messer, die fest darin justiert waren und nur mit einer speziellen Technik aus der Halterung gezogen werden können. Dann band sie sich, um beide Hand und Fußgelenke ihre Messerhalfter und steckte die vier Kampfmesser hinein. Die Sturmhaube wurde noch aufgesetzt, nach hinten geschoben, wie eine Kapuze. Ein Band wurde noch über die Stirn gebunden, schon war sie fertig ausgerüstet. Kahlyn sah auf die Uhr und lief nach vorn in die Wachstube. Die drei Wachtmeister trauten ihren Augen nicht, als sie Kahlyn sahen. So etwas hatten sie in ihrer gesamten Dienstzeit noch nicht gesehen.

"Oliver, wann kommt der Hubschrauber?"

Wieder bemerkte Kahlyn nicht, dass sie nur die Vornamen benutzte. Sie war viel zu sehr mit dem bevorstehenden Einsatz beschäftigt, als dass sie auf solche Feinheiten achten würde. Sie regelte die anfallenden Probleme einfach so, wie sie es mit ihren Freunden in der Schule, auch immer geregelt hatte. Da sie in Gedanken schon mitten in den psysischen Vorbereitungen, für diesen Einsatz war. Die sie stets durchlaufen musste, wenn sie bei der Soko, ihre Einsätze tätigte.

Kahlyn brauchte das, da vieles in der Soko anders ablief, als sie es von der Schule her gewohnt war. Die Verhaltensnormen waren völlig andere und auch der Ablauf der Einsätze ein völlig anderer war. Am Anfang hatte sie damit immer extreme Probleme, deshalb gewöhnte sie sich an, sich stets auf diese Situation auch seelisch vorzubereiten. Dann so stellte sie schnell fest, bekam sie weniger Probleme.

"In drei Minuten", kam die knappe Antwort des Diensthabenden.

"Sag mir Bescheid."

Kahlyn sprang aus dem Stand, auf den Tresen und setzte sich im Schneidersitz darauf. Konzentrierte sich auf ihr Qi, was man sich als die vitale Energie, Lebenskraft vorstellen konnte und schaltete einen Augenblick komplett ab. Nach exakt drei Minuten, atmete Kahlyn tief durch und sprang vom Tresen. Verließ ohne ein Wort zu sagen die Wache, immer noch tief in Gedanken versunken.

Kaum war sie aus der Tür und auf die Straße getreten, als auch schon der Hubschrauber vom Typ BO 105 landen wollte. Gosch der Pilot, der Kahlyn schon viele Jahre kannte, sah erfreut ihr Zeichen. Das Schlagen der geschlossenen Faust, auf die offene Hand. Gosch war heil froh, dass er hier nicht landen musste. Es war durch die Oberleitung der Straßenbahn, nicht ganz ungefährlich. Allerdings gab es in der unmittelbaren Nähe keine andere Möglichkeit zu landen. In dem Park war es um noch einiges gefährlicher, durch die Bäume und den darin lebenden Vögeln. Vor allem hatte man ihm von der Flugsicherung davon abgeraten und ihm die Kreuzung empfohlen oder den Flugplatz. Eine Landung hier, würde aber lange dauern, da es Millimeterarbeit war. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sein Täubchen, wie er Kahlyn immer nannte, einfach aufsprang. Die Schlagweite seines Rotors, betrug immerhin fast zehn Meter, er hat nur eine Fläche von knapp zwölf Meter zum Landen. Das war immer Präzisionsarbeit und er würde dadurch eine Ewigkeit, diese große Kreuzung blockieren. Er hatte mit der Landung zwar keinerlei Problem, aber auf Kahlyns Art ging es einfach schneller.

Deshalb war er froh, dass er seinen Hubschrauber nur auf der Höhe von acht Meter halten brauchte. Kahlyn lief auf die Straße und nahm Anlauf. Sie sprang etwa zehn Meter vor dem Hubschrauber, aus dem Laufen heraus, in die Höhe und fasste nach den Kufen. Gosch hielt dagegen und balancierte den Hubschrauber aus. Gleichzeitig zog er den Drachen an, um abzufliegen und vor allem, um an Höhe zu gewinnen. Kahlyn, kletterte in der Zeit des Abfluges, hinten in die offene Tür. Das Gosch und Kahlyn unten auf der Straße, für Verwirrung sorgte, war den Beiden gar nicht bewusst. Sie hatte das schon so oft gemacht, dass es für sie das normalste der Welt war. Gosch der schon seit über neun Jahren mit Kahlyn zusammenarbeitete, wunderte sich darüber schon lange nicht mehr. Für ihn waren solche Aktionen von Kahlyn völlig normal.

Die Wachtmeister in der Wache allerdings, rieben sich die Augen und schüttelten fassungslos den Kopf. So etwas hatten sie nicht für möglich gehalten und noch nie gesehen. Kopfschüttelnd, gaben sie die Kreuzung, die um diese Uhrzeit selten befahren wurde, wieder frei und gingen diskutierend zu ihren Fahrzeugen.

 

Otto, der Kioskbetreiber, dachte allerdings, dass er gerade geträumt hatte. Immer wieder rieb er sich seine Augen. Wenn er Rudi morgen davon erzählte, dachte er so bei sich, der würde ihm das nie im Leben glauben. Mit diesem Mädchen stimmte irgendetwas nicht. Das stellte er schon fest, als sie das erste Mal bei ihm vor dem Kiosk stand. Er konnte nicht einmal genau erklären, warum oder wieso. Aber vom ersten Augenblick an, als er sie sah, ahnte er, dass es mit der noch Schwierigkeiten geben würde.

Alleine dieses Gebrüll, in die letzten Tage aus der Wache hatte ihn schon sehr genervt. Man bekam das Gefühl, dass dort drinnen jemand abgeschlachtet wurde. So ein Geschrei gab es noch nie in der Wache und er hatte schon viele schlimme Zeiten dort erlebt.

Viele der Anwohner kamen zu ihm, um sich bei ihm zu erkundigen, was denn da los wäre und um sich bei ihm über den anhaltenden Krach zu beschweren. Er konnte aber auch nichts Genaues sagen. Wenn er Rudi darauf ansprach, gab dieser nur ausweichende Antworten, wie ‚Otto dass willst du nicht wissen‘ oder ‚Otto frage lieber nicht, dann kannst du nicht mehr schlafen‘. Das stimmte auch irgendwie, denn Rudi und der Rest der Wache, sahen einfach nur Scheiße aus. Aber etwas Genaues erzählte ihm Rudi auch nicht. So müde und abgekämpft, wie die Leute der Wache aussahen, ging dort drinnen, seitdem dieses Mädchen dort war, nichts Gutes vor. Wie immer, wenn es um Sachen der Wache ging, war der sonst so gesprächige Sender, verschwiegen wie ein Grab. Manchmal kotze es ihn an, dass Rudi in allem, was seinen Dienst betraf, nicht zum Reden zu bringen war. Aber Otto wusste, dass das so sein musste. Selbst Ines, die Wachtmeisterin, mit der er ein gutes freundschaftliches Verhältnis hatte, schwieg diesmal eisern.

"Otto, glaube mir es ist besser, wenn du darüber nichts weißt. Sonst kannst du nimmer schlafen und es geht dir wie uns. Wir fallen von einem Horror in den nächsten. Aber glaube mir, es wird nicht mehr vorkommen. Bald wird es wieder ruhig sein. Wenn die Leute fragen, sage ihnen einfach, es ist eine Ausnahmesituation. Es wird so hoffen wir alle, nicht mehr vorkommen."

Mehr bekam er aus ihr nicht heraus. Sören, die sonst schnell einmal ein paar Infos im Vertrauen erzählte, weil sie wusste, dass er nichts herum tratschte. Sondern, dass er auch nur die Leute beruhigen und bei Laune halten wollte, um der Wache unnötigen Stress zu ersparen, schwieg sich aus. Von niemand bekam er etwas berichtet, über das, was zurzeit in der Wache drüben ablief. Seit einer Woche, machte ihm die Wache, richtig Angst. Tief holte er Luft und schloss kopfschüttelnd seinen Kiosk ab und ging nach Hause, um in Ruhe seinen Feierabend zu genießen. Denn morgen um 6 Uhr musste er wieder hier sein, dann warteten die ersten Kunden schon vor seinem Kiosk.

 

"Guten Abend, Gosch", begrüßte Kahlyn den schwarzhaarigen schlanken Piloten der Soko, wie einen alten Freund. "Wie geht es dir?"

Der Drachenflieger gab gerade an die Flugsicherheit die Aufnahme des Passagiers bekannt und konnte nicht gleich antworten.

"Gut geht’s mir und dir? Siehst ganz schön blass um die Nase aus, musst wieder mal an die Sonne, Täubchen."

Kahlyn schnallte sich an und kippte die Lehne ein Stück zurück und zog gewohnheitsgemäß die Füße auf den Sitz.

"Es geht so."

Gosch schielte hinüber zu Kahlyn. "Na glücklich klingst du ja nicht gerade. Ist es so schlimm in der neuen Dienststelle, dann frag doch den Oberst, ob du ganz zu uns kommen kannst?"

Kahlyn schüttelte den Kopf. Sie konnte sich noch gut, an die Aussprache mit dem Oberst erinnern, als es um die neuen Dienststellen gegangen war. Damals war ihr auch diese Idee gekommen. Der Oberst meinte aber, es wäre nicht gut für sie, weil sie dann nur noch schwere Aufträge hätte und gar nicht mehr zum runterfahren kommen würde.

Was wusste der Oberst schon? Sie hatte sich bei ihm immer wohl gefühlt. Nie gab es Druck. Er sagte immer, es dauert so lange wie es dauert, sogar schlafen konnte sie immer bei ihm. Aber er sah das wohl als Stress pur an. Dabei wusste er gar nicht, was Stress war. Bei ihm war es immer eine Erholung, wenn sie bei ihm arbeiten durfte. Aber der Oberst bestand darauf, dass es ihm lieber war, dass er sie nur ab und an holte, wenn es mal gar nicht anders ging. Damit musste sie halt leben.

"Gosch, du weißt doch, dass der Oberst mich nicht will. Was soll ich machen? Ach und so schlecht ist es auf der neuen Wache auch nicht. Nur halt ganz anders…"

Gosch unterbrach sie lachend, er ahnte nur zu genau, was mit seiner kleinen Freundin los war. "Als bei eurem feinen Oberstleutnant? Sag nur, du hast nette Leute, wie uns dort."

Kahlyn nickte, wenn auch zögerlich.

"Was ist los Täubchen? Raus mit der Sprache, wir haben noch fast zwei Stunden Flug vor uns, du kannst also noch schlafen. Erzähle Onkel Gosch alles. Hopp, hopp…" wieder grinste er breit.

Kahlyn liebte ihren Gosch, mit ihm konnte sie immer Spaß haben. Sie schmiss sich immer weg vor Lachen, wenn er sich selber als Onkel oder Papa Gosch bezeichnete, das klang immer so lustig.

"Na ja, ich hab ein paarmal schlapp gemacht. Keine Ahnung, was mit mir zurzeit los ist. Doko hat uns gesagt, das hängt mit der fehlenden Verbindung zusammen, aber es war grauenhaft. Gosch, ich konnte mich nicht mehr steuern. Hatte hohes Fieber und war nur am brechen und hatte ständig Anfälle."

Gosch drehte ihr den Kopf zu. "Kahlyn, das klingt ja schlimm. Wie viele solche Anfälle hattest du?"

Besorgt sah der Pilot Kahlyn an. Er mochte das junge Mädchen, die ihn schon so oft verblüfft hatte. Wie viele Einsätze hatte er in den letzten Jahren mit der Kleinen gemacht. Da musste er mal kurz überlegen. Fünfzehn oder sechzehn im Jahr bestimmt. Mal neun Jahre oder waren es elf, er war sich da nicht mehr so sicher. Gosch musste kurz nachrechnen, nein es waren elf Jahre, genauso lange war er selber bei der Einheit, das waren um die hundertsiebzig Einsätze. Jedes Mal dachte er, jetzt kann sie dich nicht mehr überraschen. Trotzdem kamen immer wieder neue Sachen hinzu, ging es ihm durch den Kopf.

Kahlyn überlegte in der Zwischenzeit, wie viele Anfälle sie seit ihrer Ankunft in Gera hatte. Allerdings wusste sie es nicht genau. Deshalb zuckte sie mit den Schultern.

"Ich weiß nicht es nicht genau Gosch, aber fünf oder sechs waren es bestimmt. Das sind aber nur die, ich absolut nicht steuern konnte. Einige konnte ich abfedern, aber die anderen haben mich so plötzlich überrascht, dass ich nichts dagegen tun konnte. Mich kotzt das so an. Ich mag es überhaupt nicht, wenn ich mich nicht kontrollieren kann", verlegen sah sie auf ihren Piloten. "Sag mal Gosch, weißt du, was los ist. Du weißt ich mag gern wissen, was auf mich zu kommt."

Gosch sah erschrocken zu seinem Mädchen hinüber, als sie ihm berichtete, dass es so viele Anfälle war. Sie war doch erst seit sieben Tagen in der neuen Einheit. Besorgt musterte er Kahlyn von der Seite. Es war also kein Wunder, dass sie so blass aussah. Normalerweise hatte sie eine richtig goldbraune Hautfarbe.

"Kahlyn, bist du überhaupt in der Lage zu arbeiten? Sonst sage das dem Oberst. Du weißt, dass er nie schimpft. Wenn es nicht geht, dann geht es halt nicht."

Oft genug hatte er in den Anfangsjahren erlebt, dass Kahlyn vor dem Oberst die Starke markiert hatte. Im ersten Jahr, wäre sie einmal fast verblutet. Aber er wusste aber auch, dass Kahlyn sich immer in einer rasenden Geschwindigkeit von Verletzungen erholte, an denen andere Monate zu knabbern hatten. Oft war sie in wenigen Stunden, wieder einsatzfähig. Trotzdem machte er sich, genau wie der Oberst oft Sorgen um Kahlyn. Wie oft hatte Mayer, die Kleine schwerverletzt zu Einsätzen geschickt. Oft bekamen sie das erst hinterher mit. Aber sie hatte immer Erfolg. Kahlyn sah Gosch von der Seite an.

"Gosch, es ist schon gut. Ich bin fit. Ich hab ja kapiert, dass ich beim Oberst sagen kann, dass es nicht geht. Aber du hast mir immer noch nicht verraten, was anliegt, bitte Gosch."

Der nickte, kannte er seine Kahlyn lange genug, dass er wusste, dass sie gern Vorinformationen haben wollte, um schneller agieren zu können. Sie hatte ihm einmal erklärt, dass der Flug sonst tote Zeit wäre, die einer Geisel das Leben kosten konnte. Deshalb lächelte er jetzt seine kleine Kollegin an und informierte sie, wie mit dem Oberst abgesprochen.

"Hinten auf dem Sitz liegt das Dossier, der Oberst hat es mir extra mitgegeben. Der kennt dich ziemlich gut, was?"

Kahlyn nickte und langte nach hinten. Eine ganze Weile war sie tief in die Informationen versunken. Dann blickte sie Gosch böse an. Wie oft musste er diesen bösen Blick schon ertragen. Immer bekam er ihn ab.

"Warum habt ihr mich nicht eher geholt? Die arme Frau. Warum wartet ihr immer so lange? Das war vor einer Woche schon absehbar, dass ihr das nicht hinbekommt. Weiß der Teufel, ob die noch lebt."

Gosch zuckte mit den Schultern. "Kahlyn, es lag nicht an dem Oberst. Verhaue ihn bloß nicht wieder. Der kann da nichts für. Die Soko die das bearbeitet hat, wollte es unbedingt als ihren Erfolg verzeichnen. Du kennst doch diese Typen, wie den Oberstleutnant. Die es nicht ertragen können, einmal einen Fall abzugeben. Die wollen immer Erfolg haben, obwohl sie wissen, dass sie es nicht hinbekommen. Erst heute Vormittag um 11 Uhr, wurde denen der Fall weggenommen. Der Oberst wollte es gegen 14 Uhr Conny übergeben, hat ihn extra angefordert. Weil er ja weiß, dass du dich erst einleben musst. Aber Conny sagte er schafft es nicht. Du weißt, wie das ist mit Conny. Der übernimmt nur Sachen, die er auch verantworten kann. Er meinte zum Oberst, wenn einer noch eine minimale Chance hat, die Frau zu finden, falls die überhaupt noch lebt, dann wärst du das. Deshalb hatte sich der Oberst vor knapp vier Stunden entschlossen, nach dir zu schicken. Früher ging es nicht Kahlyn. Ich musste mal wieder etwas schlafen, in einen Bett. Bin erst vor neun Stunden von einem Einsatz zurückgekommen, der über eine Woche ging. Ich war einfach platt und musste mal wieder richtig in einem Bett schlafen. Er wollte dir aber keinen anderen Piloten zuteilen. Er weiß, dass wir beiden eingespielt sind."

Kahlyn nickte. Sie war froh, dass sie ihren Gosch hatte. Auch wenn die anderen Piloten der Soko nicht schlecht waren, Gosch und sie waren ein unschlagbares Team. Der Drachenflieger verstand sie ohne Worte. Einfach Zeichen genügten, wie vorhin auf der Kreuzung. Das Schlagen der geschlossenen Faust, auf die geöffnete Hand, heißt nichts anderes, als dass Gosch einen Schlag zu erwarten hatte und gegensteuern musste. Gosch wusste, dass acht Meter, für sie eine Höhe war, die sie locker schaffte. Hubschrauber waren gegen seitliche Schläge mehr als empfindlich. Einer, der anderen Piloten hätte landen müssen, was bei der Kreuzung nicht ungefährlich war, durch die Oberleitung der Straßenbahn. Vor allem hätte es ewig dauert und die Kreuzung wäre lange Zeit blockiert gewesen. Hätte Kahlyn den Sprung, bei einem der anderen Piloten gemacht, wäre der Hubschrauber abgestürzt. So aber hatten sie sich kostbare Minuten gespart, die der Geisel das Leben retten konnten.

"Oh du armer, dann bist du ja total müde, kannst du überhaupt noch fliegen, Gosch? Soll ich eine Weile übernehmen? Musst mir nur sagen, wohin wir fliegen müssen."

Gosch lächelte. "Ach Kahlyn, du bist echt ein Engel. Nein es geht. Wenn du nachher beim Oberst bist, lege ich mich noch eine Stunde hin. Dank dir, kann ich das ja jetzt, in kurzer Zeit tief und fest schlafen. Ich denke vor um 2 Uhr, fängst du sowieso nicht an. Also hab ich noch gut eine Stunde die ich schlafen kann, du instruierst mich dann auf den Flug, so wie wir das immer machen."

Kahlyn nickte. "Genauso machen wir das. Aber ich sehe nicht mehr viel Hoffnung für die Geisel. Das sag ich dir mal ehrlich. Die sind jetzt schon seit sieben Tage auf der Flucht. Na wir werden sehen. Ich schlaf noch ein bisschen. Wecke mich dann. Ich glaube das werden anstrengende Tage."

Gosch schüttelte den Kopf. "Täubchen, mache mich nicht unglücklich, wieso Tage? Meine Frau hat in drei Tagen Geburtstag. Wir wollten eigentlich wegfahren. Wenn ich da nicht zu Hause bin, gibt es einen richtigen Krieg", erklärte er ihr unvorsichtigerweise und sah erschrocken Gosch zu Kahlyn, die immer noch das Dossier in der Hand hielt.

Kahlyn sah traurig zu ihrem Piloten. Ach der Arme. Da wird deiner Frau nichts anderes übrig bleiben, als auf dich zu warten. Aber sie wollte nicht, dass Gosch sich Sorgen machte und versuchte ihn zu beruhigen.

"Gosch, nach dem was ich hier gelesen habe, sind die nicht da, wo die Soko sich das eingebildet hat. Wir werden die erst suchen müssen. Das kann dauern. Aber ich verspreche dir, ich werde mich beeilen. Ich will ja nicht, dass du mit deiner Frau Krieg hast. Warte erst einmal ab, wir schaffen es bestimmt, dass wir vor dem zehnten fertig sind. Wenn nicht alles schief läuft. Schon wegen der Geisel. Ich werde mir alle Mühe geben, es schnell zu beenden."

Gosch nickte, er wusste, dass Kahlyn so reden würde.

"Wie hast du mir mal gesagt, Gosch. Die Hoffnung stirbt zum Schluss", zitierte sie Goschs Worte.

Entschlossen legte sie das Dossier einfach in den Fußraum und rollte sich auf den Sitz zusammen. Keine Minute später schlief sie tief und fest. Gosch sah nach drüben zu seiner kleinen Freundin. Wie ich sie immer deswegen bewundert hatte. Heute kann ich auch so schnell schlafen.

Gosch erinnerte sich an diesen denkwürdigen Einsatz vor acht Jahren. So als wenn es gestern gewesen wäre. Der dauerte über zwei Wochen. Er war so fertig, dass er nicht mehr richtig fliegen konnte. Ständig nickte er am Steuer weg. Kahlyn die ebenfalls eine Flugausbildung auf dem Hubschrauber hatte, aber dann wieder in den Einsatz musste, zwang ihm zur Landung. Kaum war der Drachen auf dem Boden, befahl sie ihm auszusteigen. Er sollte sich hinlegen, befahl sie ihm, in einem gereizten Ton, den er selten bei ihr hörte. Sie setzte sich an seinen Kopf und nahm diesen auf ihre Oberschenkel. Dann machte sie etwas, was er nie in seinem Leben vergessen würde. Es war eine dunkle Nacht, sie nahm ihre Brille ab und das erste Mal sah er bewusst ihre Augen. Sie fasste mit beiden Händen in sein Gesicht, beugte sich über ihn. Dann fuhren rote Strahlen aus ihren Augen und trafen seine Augen. Er wehrte sich mit all seiner Kraft. Kahlyn hielt ihn mit so einem eisernen Griff, dass er irgendwann aufgab, weil sie ihn böse anschrie. Nach neun Minuten oder zehn Minuten, lockerte sich plötzlich der Griff und Kahlyn klappte einfach zur Seite weg. Er würde nie vergessen, wie panisch er damals gewesen war. Aber ihm ging es auf einmal wieder gut. Er saß neben diesen zierlichen erst acht Jahre alten Mädchen. Das viel zu groß war für ihr Alter war und Sachen machte, die keiner seine Kollegen je zustande bringen würde. Nach einer reichlichen Viertelstunde, kam sie wieder zu sich, stand auf und ging zum Heli.

"Komm", befahl sie kurz und knapp.

Kahlyn nahm auf dem Pilotensitzt Platz und er musste auf der anderen Seite einsteigen. Etwas dass ihm gar nicht gefiel.

"Wir haben keine Zeit, verdammt nochmal", schimpfte sie ihn aus.

Er stieg völlig von der Socke ein und setzte sich auf den Platz des Co-Piloten. Als er sie fragen wollte, was los war, brüllte sie ihn an.

"Halt die Klappe und mache, was ich dir sage. Mach den Sitz zurück und schließe die Augen."

Gosch war damals total durcheinander. "Warum soll ich das machen, Täubchen?" 

"Weil du schlafen musst, in einer halben Stunde brauche ich dich wieder fit. Also quatsche nicht so dämlich rum, sondern schlafe endlich, so wie ich dir das jetzt sage. Schließe die Augen, hole tief Luft und denke ich schlafe jetzt zwanzig Minuten tief und traumlos. Wenn du das machst, hat dein Körper sich erholt, wie nach acht Stunden Schlaf. Mach es einfach, verdammt nochmal, du nutzt mir nichts, wenn du halb schläfst. Das ist ein Befehl."

Gosch ergab sich seinem Schicksal. Er hatte Kahlyn noch nie zuvor, so wütend erlebt. Diesmal war sie es und brüllte ihn ständig an. Also gehorchte er ihr und schloss die Augen, machte genau, was sie gesagt hatte und schlief genau zwanzig Minuten. Danach war er fit wie nach acht Stunden Schlaf. Er war wieder voll da. Als er Kahlyn fragen wollte, wie das möglich war. Sie sagte nur kurz angebunden.

"Übernehme."

Kahlyn kletterte hinter den Pilotensitz und machte ihm so, während des Fluges Platz, damit er auf seinen Sitz hinüber rutschen konnte. Dabei hielt sie den Heli trotzallem fest in der Position. Er war fassungslos, was dieses Mädchen da machte, akzeptierte es einfach. Da er sah, dass die sowieso oft aufgebrachte Kahlyn, sonst an die Decke gegangen wäre. Das wollte er lieber nicht wieder provozieren. Bei einem Einsatz, wenige Wochen zuvor, hatte sie ihn einfach zurück fliegen lassen. Kaum dass er auf seinen Platz saß und die Steuerung des Drachens übernommen hatte, setzte sie sich auf den Platz des Co-Piloten und rollte sich zusammen. Sie schlief genau zehn Minuten, dann ging der Einsatz weiter. Viele Wochen später, bei einem anderen Einsatz, fragte er sie dann einmal, was sie damals gemacht hatte. Sie meinte nur kurz angebunden.

"Gosch, ich habe dich etwas umprogrammiert. Du kannst das jetzt immer."

Seit diesem Tag, war er in der Lage sich in kürzester Zeit zu erholen. Egal wie lange er schlief. Er kam sich immer vor, als wenn er acht Stunden geschlafen hätte. Es war ein herrliches Gefühl. Oft litt er vorher an Schlafmangel. Etwas, dass man sich in seinen Job eigentlich nicht leisten konnte. Gosch war seinem Täubchen für diese Fähigkeit dankbar. Aber er hatte nie genau verstanden, was diesen Krantonak wirklich war. Er wusste nur, dass sie ihm mit dieser Fähigkeit, schon einige Male das Leben gerettet hatte. Nur mochte der Pilot es nicht sonderlich, das Kahlyn das Krantonak anwendete, weil sie danach immer einige Zeit bewusstlos war. Gott sei Dank, setzte sie diese Fähigkeit nur im Notfall ein.

Eine dreiviertel Stunde später, landete der Helikopter auf einem großen Platz, vor einem der Gebäude, der Soko Tiranus. Das Gelände befand sich in der Nähe der Ortschaft Bad Kleinen und lag nur circa siebzehn Kilometer nördlich von Schwerin. Die Soko hatte vor sieben Jahren ein eigenes Gelände bekommen, da immer mehr große Einsätze, an dieser Einheit hängen bleiben. Zurzeit waren es fünfunddreißig feste Mitglieder. Dazu kam das Wartungspersonal, was ebenfalls fest angestellt war, aber nicht in der Soko wohnte. Sondern nur den Tages- und Bereitschaftsdienst hier übernahmen und die Piloten. Die Mitglieder der Soko, waren die Besten der Besten und waren hier bis auf weiteres, ständig stationiert. Immer dann, wenn es hieß ein Fall wäre nicht lösbar, wurde er an seine Einheit weitergegeben.

Ab und zu wie heute, griff der Oberst trotzdem noch, auf ausgewählte Mitglieder anderer Teams zurück, wie Conny und Kahlyn. Die nicht ständig bei der Soko stationiert waren, dabei handelt es sich um Spezialisten, wie Kahlyn. Die eine Koryphäe in punkte Spurensuche war. Wurde jemand vermisst oder Geiselnehmer waren nicht auffindbar, schrie ihr Oberst immer laut nach ihr. Sie fand bis jetzt jeden Vermissten.

Wenn Gosch ehrlich sein sollte, freute er sich immer, wenn er mit Kahlyn zusammen arbeiten konnte. Einige Mal sogar, hatte ihn der Oberst aus dem Urlaub geholt, zum großen Kummer seiner Frau, weil er niemanden anderen mit Kahlyn fliegen ließ. Oh je, wenn er an die ersten Einsätze mit Kahlyn dachte, rutschte ihm heute noch das Herz in die Hosen. Wie oft hatte er da fast einen Herzkasper bekommen.

Der Drachenflieger überlegte gerade, wie oft sie das Aufsitzen geübt, wie Kahlyn das Einsteigen in den Heli während des Fluges nannte. Bis er den Bogen heraus hatte und der Heli nicht mehr ins trudeln geriet. Immer wieder sagte sie zum Oberst, der unbedingt wollte, dass das auch die anderen Piloten lernen sollten. Es wäre nicht möglich, dass die anderen das lernen könnten. Das könnte nur ein Pilot lernen, der seinen Heli so lieben würde wie Gosch. Nicht einmal alle ihrer Freunde würden das schaffen. Damit war das Thema für Kahlyn erledigt.HeHel Na ja, heute waren sie ein eingespieltes Team, in vielen Situationen, wusste er schon vorher, was Kahlyn machte oder tun würde. Das war auch gut so. Mittlerweile, vertraute ihm sein Täubchen blind. Lange genug hatte das gedauert. Kaum berührte der Helikopter den Boden, wachte Kahlyn auf. Schnell schnallte sie sich ab und griff nach dem Dossier und stieg sofort aus.

"Du gehst sofort schlafen Gosch. Das ist ein Befehl. Ich wecke dich dann, wenn ich so weit bin. Du nutzt mir nichts, wenn du durchhängst. Ich denke vor 3 Uhr werden wir nicht starten, also schlafe richtig. Ich sorge dafür, das Kaffee und Schnittchen bereitstehen, wenn du munter bist. Du weißt der Oberst, lässt dich Rippchen nicht hungrig losfliegen. Also los, die Techniker können sich um den Drachen kümmern. Sofort ins Bett, das ist ein Befehl."

Gosch der seine Kahlyn kannte, lachte schallend. Sie hatte ja recht, deshalb sagte er breit grienend. "Aye, aye Mam."

 

Kahlyn die schon losgelaufen war, drehte sich herum und rückwärts laufend, drohte sie ihm mit der Faust. Dann drehte sie sich wieder zurück und lief sie im Laufschritt auf das rechte Gebäude zu, in dem das Besprechungszimmer war. Kahlyn beeilte sich. Keine Minuten später, hatte sie schon das Gebäude erreicht. Sie folgte der Treppe in den ersten Stock und bog rechts in den Gang ein. Wie oft sie wohl schon hier hoch geeilt war. Aber immer, hatte sie sich auf die Zusammenarbeit mit dem Oberst gefreut.

Am Anfang so erinnerte sie sich, hatte sie immer Bammel. Sie traute sich nie ihre Meinung zu sagen. Weil sie ja wusste, wie der Oberstleutnant auf sie reagierte. Der Oberst merkte ganz schnell, genau wie ihr jetziger Major, dass sie gut war in der Erkennung von Details. Deshalb fragte er sie immer nach ihrer Meinung. Schnell stellte sich heraus, dass sie fast immer mit ihren Vermutungen richtig lag. Mit der Zeit freute sie sich immer, wenn sie den Oberst sah. Sie hatte allerdings nie einen bestimmten Abstand unterschritten. Sie war bis zu einem gewissen Grad, immer offen und ehrlich zu ihm und zollte ihm stets Respekt. Auch weil er sie so anders behandelte, als der Oberstleutnant.

Obwohl ihr mit Schrecken, einige wirklich schlimme Auseinandersetzungen einfielen, wo es richtig zur Sache ging. Bis hin, zur Bedrohung durch sie, mit Waffen, da er sie in die Enge trieb. Der Oberst war allerdings nie nachtragend gewesen. Hatte auch nie ausschließlich die Schuld bei ihr gesucht. Immer wieder hatte er ihr verziehen und sie sogar in Schutz genommen. Vor allem ließ sie nie los, bevor sie nicht etwas gegessen und vor allem aber geschlafen hatte. Seine ersten Fragen waren immer, wie lange hast du geschlafen und hast du etwas gegessen. Sogar ihre Nahrung, hatte er sich, über den Doko besorgt.

Endlich hatte sie das Besprechungszimmer erreicht. Deutlich klopfte sie an, von drinnen kam ein lautes.

 

"Herein."

Sofort betrat Kahlyn den Raum. Der Oberst erblickte sein Mädchen und eilte auf sie zu, nahm sie erst einmal in den Arm. Dann schob er sie etwas von sich weg und musterte sie eindringlich. Kahlyn, kam so wie immer, erst einmal gar nicht dazu, sich ordentlich zum Dienst zu melden.

"Kahlyn, du siehst schrecklich aus. Was ist los mit dir? Kannst du den Einsatz überhaupt durchführen? Wann hast du das letzte Mal geschlafen und gegessen?", erkundigte sich Oberst Fleischer erschrocken, als er sah wie blass sein Mädchen aussah.

"Genosse Oberst, Leutnant Kahlyn meldet sich zum Dienst, Sir. Ja ich bin einsatzfähig, Sir. Geschlafen bis 21 Uhr 20, gegessen um 21 Uhr 29, Sir", meldete sich Kahlyn jetzt doch noch ordnungsgemäß an.

Eine ganze Weile wurde sie vom Oberst sehr intensiv gemustert.

"Sir, mir geht es wirklich gut, Sir. Endlich weiß ich wieder einmal, wie ich mich zu verhalten habe und weiß, was ich wie zu machen haben, Sir."

Der Oberst nickte, er konnte sich vorstellen, wie schlimm das für sein Mädchen im Moment sein musste. Deshalb klopft er ihr noch auf die Schulter und zeigte auf einen Stuhl.

"Setzt dich und erzähl."

Kahlyn wusste, dass sie nicht umhin kam zu berichten. Also setzt sie sich und erzählte in groben Zügen von dem, was seit Tagen vorgefallen war. Sich in allem sehr kurz fassend, denn sie wollte los.

"Na, da bist du ja durch die Hölle gegangen. Sag mal Kahlyn, ist es wirklich so schlimm dort?"

Kahlyn schüttelte den Kopf. "Sir, eigentlich nicht, Sir. Ich war nur nicht darauf vorbereitet, dass das alles passiert, Sir. Sie wissen, ich habe da schon immer Probleme mit allem was neu ist, Sir."

Der konnte sich vorstellen wie schwierig dies für die Kollegen und Kahlyn war. Er erinnerte sich noch gut, an die ganzen Schwierigkeiten, die er mit ihr am Anfang hatte.

"Na ja, du schaffst das schon. Da bin ich mir ganz sicher. Ansonsten sagst du mir mal Bescheid und ich treffe mich mal mit deinen Major. Versprochen?"

Kahlyn nickte.

"Was sagst du nun zu der ganzen Geschichte? Kahlyn, ehrlich."

Kahlyn lehnte sich zurück und sah den Oberst an. "Sir, warum haben sie mich nicht eher geholt. Die ganze Sache wird jetzt sehr viel schwierig werden. Weil der Täter, mindestens einen Tag Vorsprung hat. Keine Ahnung, ob ich den noch finden kann. Die Chance Sir, dass die Geisel noch lebt, ist minimal, Sir. Die liegt bei unter einem Prozent, Sir. Wenn die Täter so einen Vorsprung haben, endledigen sie sich oft ihrer Geisel, weil die irgendwann nur noch eine Belastung sind, Sir. Aber ich werde mein Bestes geben, vielleicht hat die Geisel ja Glück, Sir. Na ja, ob man das Glück nennen kann, weiß ich nicht, Sir."

Der Oberst nickte.

Ihm gingen heute früh die gleichen Gedanken durch den Kopf. Cornelius Lange, von allen nur Conny genannt, hatte deshalb den Auftrag auch nicht übernommen. Was er gut verstehen konnte. Er wusste, dass Kahlyn den Auftrag auch nur übernahm, weil sie die Täter fassen wollte. Für die Geisel, bestand kaum noch ein Funken Hoffnung. Viel eher hätte man ihm diese Sache übergeben müssen. Aber diese karrieregeilen Offiziere, mussten sich immer profilieren.

"Wie willst du vorgehen? Was brauchst du an Material und wie viele Leute brauchst du, Kahlyn?", erkundigte sich Fleischer.

Obwohl er die Antworten darauf eigentlich schon kannte. Ganz selten nur, arbeitete Kahlyn mit anderen seines Teams zusammen.

"Sir, kümmern sie sich darum, dass man in Gera Bescheid sagt, dass ich ein paar Tage ausfalle, Sir. Nicht dass ich dort Ärger bekommen. Ich brauche nur Gosch und die Möglichkeit, den Drachen unterwegs ständig und ohne lange Verzögerung, aufzutanken. Dann brauche ich einen Co-Piloten für Gosch, am liebsten wäre mir Sigi. Der kennt mich schon ein kleines bisschen, Sir. Diese Sache ist hier nicht in zwei Stunden erledigt, Sir. Den Ersatzpiloten brauche ich, weil Gosch unbedingt ab und an mal schlafen muss, Sir. Dann muss die Versorgung der Männer gewährleistet sein, mindestens für drei bis vier Tage, Sir. Ich brauche einen Medi-Koffer und mehrere Peilgeräte, Funkgeräte und genügend Akkus, um mit Gosch und dem Ersatzpiloten im Funkkontakt bleiben zu können, Sir, und…" verlegen sah Kahlyn auf ihre Füße. "… und ein Paar Schuhe, Sir. Sie hatten gesagt, nur Nahkampfausrüstung. Sie erwähnten nicht, dass ich kilometerweit Laufen muss, Sir."

Oberst Fleischer sah zu Kahlyns Füßen und fing an herzhaft zu lachen. Er war wieder einmal überrascht, dass Kahlyn ihn hundertprozentig, beim Wort genommen hatte. Er würde es wohl nie lernen, wie Kahlyn zu denken.

"Oh Kahlyn, ich bin ganz ehrlich, soweit habe ich nicht gedacht."

Ein warmes, angenehmes Lachen ertönte. Er schüttelte über sich selber den Kopf. Kahlyn, die mittlerweile genau wusste, wie der Oberst dachte, lachte mit ihm, auch wenn man es nicht sah. Der Oberst kannte sein Mädchen schon lange genug, um zu wissen, wann sie sich vor Lachen wegschmiss.  

"Ja ja, lach den Oberst nur aus, Kahlyn", meinte Fleischer, weil er sah, dass sich Kahlyn wieder einmal vor Lachen fast krümmte. Er konnte mittlerweilen alle Gefühle des Mädchens sehen. Auch wenn sie nicht in ihrem Gesicht standen, konnte man es an ihrer Körperhaltung ablesen.

"Sir, ich lach sie nicht aus, Sir. Ich lache nur gerade über mich, Sir. Weil ich gestehen muss, ich habe gestern meine Schuhe, in irgendeinem Wald in Gera weggeschmissen. Ich hätte, selbst wenn ich es gewollt hätte, keine anziehen können. Auch wenn sie mir das gesagt hätten, Sir."

Jetzt musste der Oberst noch mehr lachen. "Kahlyn, du hast deine Schuhe weggeschmissen, warum das denn?"

Kahlyn winkte ab. "Sir, bitte, Sir. Darüber möchte ich nicht sprechen, Sir. Es ist halt so, Sir."

Der Oberst schüttelte wieder einmal den Kopf, über seine kleine Freundin. Sie hatte hier in seiner Einheit, obwohl sie nur ab und zu einmal hier war. Schon mehr Schuhe bekommen, als jeder andere seiner Untergebenen. Aber, wenn es nur das war, dachte er bei sich, damit konnte er leben.

"Klar bekommst du Schuhe, das weißt du doch meine Kleine. Die übliche Sorte und Größe?", erkundigt er sich immer noch lachend.

Kahlyn lachte, wurde aber gleich wieder ernst und sah demonstrativ auf die große Uhr an der Wand.

"Ist schon in Ordnung, Kahlyn. Ich weiß du willst los. Also nun erzähle mir mal genau, was du vor hast und wo du hin willst?"

Kahlyn stand auf und erklärte punktgenau, was sie vor unternehmen wollte. Wo sie vor allem, mit der Suche beginnen würde. Wieder einmal überraschte sie den Oberst. Weil sie wo ganz anders anfangen wollte mit ihrer Suche, als die Soko, es getan hatte.

 

"Sir, es ist purer Quatsch, was die Soko ihnen erzählt hat. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich der Täter mit der Geisel in Richtung Petersberg bewegen soll. Dort muss er ständig damit rechnen entdeckt zu werden, falls er die Geisel noch bei sich hat. Schauen sie mal, hier ist der Pinnower See. Er muss an einem Naherholungsgebiet vorbei, so nennt man das doch? ... " Verlegen und unsicher schaute ich zum Oberst.

Der nickte mir aufmunternd zu.

"... das würde er vielleicht machen, wenn er schon alleine wäre. Aber nicht mit einer Geisel im Schlepptau. Er hat meiner Meinung nach den kürzesten Weg aus der Stadt heraus gewählt. Ist über Neumühle raus auf die L42", ich sah den Oberst offen an. "Ich würde mich an seiner Stelle, in einer der südlich von Dümmerhütte liegenden Wälder aufhalten. Da mich da keiner vermuten würde."

Der Oberst schüttelte den Kopf. "Wie kommst du darauf? Die Soko vermutet den Täter, genau in der endgegengesetzten Richtung", wiedersprach der Oberst und runzelte die Stirn.

Wie so oft, während eines Einsatzes, vergaß ich in dem Moment sämtlichen Etikette und war vollkommen auf den Einsatz konzentriert, ging automatisch in die persönliche Anrede und ließ den Sir vollkommen weg. Etwas, dass mir bei Mayer oft Ärger und Stress eingebracht hatte. Alle anderen Offiziere allerdings ausnahmslos akzeptierten. Jedenfalls diejenigen, mit denen ich öfter zusammen arbeiten musste. Es war ein wesentlich einfacheres Arbeiten und vor allem zeigte es, dass man einander vertraute. So wunderte sich Oberst Fleischer auch nicht, dass ich ganz normal mit ihm sprach. Er wusste dann war ich schon mitten im Einsatz.

"Oberst, überlege einmal, und denke dich in den Täter hinein. Dann ist ganz einfach logisch. Weil ich, wenn ich durch diesen Wald laufe, ständig Deckung habe und so immer in Richtung Westen marschieren kann, ohne gesehen zu werden. Dadurch muss ich nur wenige Meter freies Land überqueren, um von einem Waldgebiet in den nächsten Wald kommen. Die Gefahr, auf diese kurze Entfernung mit der Geisel entdeckt zu werden, wird dadurch minimiert, wenn ich den richtigen Zeitpunkt wähle. Verdammt nochmal, ihr müsst endlich mal aufhören, wie Polizisten zu denken. Welcher Verbrechen denkt wie ein Polizist? Verrate mir das bitte einmal, Oberst. Das ist etwas, das ich euch schon seit vielen Jahren sage. Wann begreift ihr das endlich mal? Oberst, der hat seine Flucht aus dem Gefängnis bis ins Detail geplant. Sonst wäre er nicht in der Lage gewesen zu fliehen. Denkt ihr nicht, dass er dann auch alle Eventualitäten eingeplant hat. Der Täter ist nach dem im Dossier liegenden Profil, hochintelligent. Dadurch denke ich, wird er seine Flucht nach einem Wahrscheinlichkeitsprinzip geplant haben, so wie es jeder intelligente Mensch macht. Deshalb Oberst, rechnet er auch damit, dass seine Verfolger Polizisten sind", ich unterbrach mich kurz.

Griente meinen Oberst frech an. Bei ihm konnte und durfte ich mir so etwas erlauben. Oberst Fleischer grinste mich ebenfalls lachend an und nickte bestätigend.

"Vor allem weiß er Oberst, dass ihr, wie es meist der Fall ist, auch so denkt und geht deshalb genauso an die Verfolgung heran. Wilhelm Russo kennt sich hier genau aus. Er stammt aus Niendorf, also aus der Nähe von Petersberg, hat sozusagen Heimvorteil. Da er genau weiß, wo er sich verstecken kann. Ich denke, deshalb wird er wie folgt vorgehen. Circa zehn Kilometer von Dummerhütte entfernt, stößt man auf die L5, dort liegt Boddin. Etwas nordwestlich von Boddin liegt ein kleines Jagdschloss, was seit Jahren leer steht. Man hat das darin befindliche Kinderheim vor ungefähr drei Jahren verlegt, da es zu klein geworden war. Dort würde ich mich, an seiner Stelle, einige Tage verstecken. Ich gehe stark davon aus, heute ist der siebente Tag seit der Geiselnahme. Dass Russo, gestern Nacht seine Geisel dort getötet hat und weiter gezogen ist. Nach dem er ein wenig mit der Geisel gespielt hat und seinen Spaß hatte. Wir werden zu neunundneunzig Prozent, dort deren Leiche finden. Wenn wir, das heißt die Geisel ganz großes Glück hat, auf alle Fälle aber Spuren, von ihren Aufenthalt finden. Hat er aber die Geisel gestern noch nicht getötet, was ich innig hoffe, denke ich, ist dort ein guter Ansatz, um neue Spuren aufzunehmen. Entweder hat sich Russo dort ein Fahrzeug organisiert oder er ist weiter zu Fuß unterwegs. Was ich eher vermute. Wenn er ein Fahrzeug hat, ist dort mein Einsatz zu Ende. Ihn dann noch zu finden, nach der langen Zeit, ist denke ich unmöglich. Du weißt Oberst, dass ich das nur ganz spontan entscheiden kann. Ich muss warten, was mir mein Bauch sagt. Ist er allerdings zu Fuß weiter, kann ich seine Spur aufnehmen und werde ihn hoffentlich finden, bevor er der Geisel etwas antut."

Oberst Fleischer starrte mich ungläubig an. "Erkläre mir, wo du dann suchen willst, Kahlyn. Ich weiß, dass du komischer Weise immer richtig liegst, mit deinen Vermutungen. Aber das kommt mir allerdings mehr als nur spanisch vor. In welche Richtung würdest du gehen und warum in Teufels Namen, sollten er die Geisel weiter mitschleppen? Ich verstehe das nicht."

Irritiert von den Worten des Obersts, schüttelte ich den Kopf. Warum sah der Oberst wieder einmal das Offensichtliche nicht?

"Sir, sie haben das Dossier doch genau wie ich gelesen. Ich weiß, dass sie das sehr gründlich tun, Sir. Wenn sie nicht nur die Buchstaben gelesen haben, muss ihnen das doch auch aufgefallen sein, Sir."

Oberst Fleischer starrte mich an, wie einen rosafarbenen Pinguin. Ich sah ihm genau an, dass er wieder einmal überhaupt nicht wusste, von was ich sprach.

"Kahlyn, du sprichst in Rätseln. Was bitte soll mir aufgefallen sein?"

Ich stand auf, nahm das Dossier in die Hand und schlug das Täterprofil auf. Drückte anschließend, mit dem Kopf schüttelnd, meinem Oberst das aufgeschlagene Dossier in die Hand. Zeigte dann auf die Daten die ich meinte.

"Sir, hier steht im Täterprofil Russos, dass der Täter, schon mehrere Vorstrafen wegen sexuellen Missbrauchs hatte. Das ist auch der Punkt, der mich noch für die Geisel hoffen lässt…"

"Ja aber…" unterbrach mich der Oberst.

Jetzt fiel ich ihn ins Wort. Etwas, dass ich selten machte, mir nur beim Oberst traute, wenn dieser mal wieder wichtige Informationen, nicht mit der Sache in Verbindung brachte. Informationen, die wirklich wichtig waren und für Geiseln Lebensrettend sein konnten.

"Sir, bitte denken sie einfach einmal wie ein Sexualtäter. Der eine weibliche Geisel in seiner Gewalt hat und unter unglaublichen Stress steht. Denken sie wirklich, der handelt noch rational. Auch wenn Russo hochintelligent ist, bleibt er ein Sexualtäter, der seinem Trieb folgt. Er ist frei, hat eine weibliche und ich nehme an attraktive Geisel, in seiner Gewalt. Was denkst du Oberst, was er macht, um sich zu beruhigen? Er wird seinen Drang nachgeben und die Geisel, nicht nur als Geisel sehen, sondern auch als Objekt seiner Lust. Er saß vor seiner Flucht, wegen eben dieses Delikts ein. Russo hat also das, was ihr Männer immer als Druck bezeichnet. Er will sich befriedigen, wie kann er das besser, als mit der Geisel. Gerade dort liegen meine Hoffnung und auch meine Angst. Russo, hatte sein vorheriges Opfer, so geht es aus dem Dossier hervor, viel Leid angetan. Also denke ich, wird er es auch diesmal tun. Lassen sie mich einfach machen, Oberst. Sobald Gosch auf ist und etwas gegessen hat, fliegen wir los. Ich fange an bei dem Kinderheim zu suchen. Sollte ich dort nichts finden. Gehe ich der Spur der Soko nach, aber erst dann", ich sah den Oberst ernst an, der nickte.

"Komm wecken wir Gosch. Dann esst ihr etwas, dann ab mit euch. Hoffen wir, dass du auch dieses Mal Recht hast."

Ich nahm ihm das Dossier und legte es wieder zurück zu den anderen Unterlagen. Wandte mich zur Tür und hielt sie auf. Gemeinsam verließen wir den Raum und begaben uns nach unten in den Bereitschaftsraum. Kaum, dass ich eingetreten war, kamen mir einige bekannte Gesichter entgegen.

"Hallo Kahlyn, schön dich wieder mal zu sehen. Du warst ja lange nicht mehr bei uns. Wir haben dich schon vermisst."

Wieso lange? Ging es mir durch den Kopf. So lange kam es mir überhaupt nicht vor. Eher, als wäre es erst gestern gewesen. Allerdings fiel mir auf einmal ein, dass ich einen Monat vor Cuba das letzte Mal hier zum Einsatz war. Oh Hilfe, das war ja schon wieder vor mehr als vier Monaten. Das war wirklich lange her.

"Na ja, Conny. Ich hatte doch gar keine Zeit. Tut mir wirklich leid. Ich hab dich auch vermisst. Aber der Oberstleutnant, hatte uns mit Arbeit eingedeckt und die geht immer vor. Aber erzähl, wie geht es dir? Grau bist du geworden", konnte ich mir nicht verkneifen, um den weißhaarigen Conny wie immer etwas zu necken. Der holte aus und wollte mir aus Spaß vor die Brust boxen. Wie so oft, dachte er nicht an meine Reflexe. Jedes Mal, aber wirklich jedes Mal, machte er denselben Quatsch. Er stolperte an mir vorbei und fing sich lachend ab.

"Ach manne Kahlyn. Wann bleibst du einfach einmal stehen. Nur einmal möchte ich dich treffen."

Über das Schauspiel, das hier wirklich jedes Mal stattfand, lachte die ganze Mannschaft. Der Oberst war weiter gegangen, um sein Piloten zu wecken. Ich klopfte Conny, der extra auf mich gewartet hatte, auf die Schulter.

"Na ja, wenn du irgendwann einmal so schwarze Haare hast, wie ich. Dann bleibe ich stehen."

Erwiderte ich und hatte wieder die Lacher auf meiner Seite. Gosch sagte einmal zu mir, ich sollte Conny das einmal zur Antwort geben. Der würde sich dann wegschmeißen vor Lachen. Aber irgendwie konnte ich das bis jetzt nie. Aber heute war mir danach. Es kam genau wie es Gosch vorher gesagt hatte. Conny musste in die Knie gehen vor Lachen. Vor allem, weil er mit der Antwort von mir, nie gerechnet hätte. Ich hatte keine Ahnung, warum dass alle so komisch fanden, aber das war nicht schlimm, die Truppe hier lacht immer. Dann schloss einer der neuen Kollegen zu uns auf. Ein etwas siebenundzwanzigjähriger gut durchtrainierter Mann von hundertneunundachtzig Zentimeter Größe und fünfundneunzig Kilo. Jemand den ich noch gar nicht kannte.

"Na, was bist du denn für eine."

Anschließend sah er nach draußen, wo es stockdunkel war. Im Anschluss auf mich und tat so, als ob er sich die Brille hochschob. Oh nein, ging es mir durch den Kopf, dazu hatte ich jetzt wirklich keine Lust und erst recht keine Zeit. Nicht schon wieder dieser Brillenquatsch. Wirklich dazu hatte ich heute keine Nerven. Ich wollte endlich los, der Geisel lief die Zeit weg. In dem Moment kam Gosch, mit dem Oberst herein, nur gut. Sie erlösten mich aus der blöden Situation. Gosch wurde fuchsteufelswild, wenn mich jemand, wegen meiner Brille ärgerte. Das wusste hier in der Soko jeder und hielt sich daran. Vor allem wurde der Oberst immer böse, wenn einer seiner Leute dachte er wäre etwas Besseres und mich auf mein Alter und Aussehen reduzierte.

"Was ist los, Steve? Lasst mir die Kahlyn in Ruhe oder du bekommst richtigen Ärger mit dem Gosch. Spiel Karten, hau jemanden auf die Nasen, aber mach ´ne Fliege, ab", kam sein trockener Kommentar.

"Danke Gosch", sage ich nur.

Ich hatte echt keine Lust auf diese Diskussion. Vor allem musste ich das in den letzten Tagen, einfach zu oft machen. Irgendwann nervte das einfach nur noch. Der Oberst allerdings wurde richtig sauer und sagte zu dem mir unbekannten Kollegen.

"Steve, wenn Kahlyn und Gosch dann weg sind, will ich dich in meinem Büro sehen."

Ich sah den Oberst an. "Sir, er hat doch nichts gemacht, Sir", nahm ich den Neuen in Schutz. Ich wusste ja wie das war, er tat mir irgendwie leid.

"Das weiß ich Kahlyn. Aber bei mir zählt auch der Wille. Das gibt es hier nicht. Das weißt du. Außerdem bist du schon länger bei der Truppe, als Steve überhaupt denkt. Er ist erst seit drei Wochen hier und markiert den großen Helden. Wenn er so viele Einsätze hinter sich hat, wie du, Kleines, dann kann er von mir aus, hier den Macho raushängen lassen. Aber bis dahin, hat er seine Füße stillzuhalten, oder er ist raus. Er soll erst einmal beweisen, was er kann. Was ich bis jetzt von ihm gesehen habe, reißt niemanden vom Stuhl. Keine Diskussion mehr."

Damit sah er mich ernst an. Er hatte ja recht. Es war immer das Gleiche mit den neuen Kämpfern die in die Soko kamen. Diese Typen dachten meistens, sie wären etwas besonders, wenn sie´s in die Soko Tiranus geschafft hatten. Dass sie sich erst ihren Platz hier im Team verdienen mussten, lernten sie aber schnell. Ich nickte, hatte ich das doch schon so oft erlebt. Na ja, da musste er durch. Selber schuld, warum hatte er die große Klappe.

"Los ihr Zwei, essen und dann ab", sprach der Oberst jetzt ein Machtwort.

Conny kam zu uns, während wir etwas aßen und wollte mich ausfragen.

"Conny bitte. Ich bin in Gedanken schon mitten im Einsatz. Wir sehen uns bestimmt bald wieder, dann können wir reden."

Ich sah ihn an und hoffte, dass er den Wink verstand. Das tat er auch. Er war selber genauso. Vor dem Einsatz, war er selten ansprechbar, weil er in Gedanken, so wie ich es auch machte, alles schon plante. Deshalb war er einer der Besten. Trotz seiner erst neunundzwanzig Jahre, hatte er eine absolut einmalige Erfolgsquote. Warum sein Haar schon weißes war, hatte er bis jetzt noch niemand erzählt. Ich denke aber, er hatte einmal etwas Schreckliches erlebt. Cankat von uns, war nach dem Einsatz in Rumänien, über Nacht ebenfalls schneeweiß geworden. Was bei ihm, da er ja noch so jung aussah wie ich, noch eigenartiger wirkte.

"Genosse Oberst, wie lange braucht Sigi hierher, Sir?", fiel mir gerade noch etwas ein, dass ich klären wollte. "Kahlyn, der kann frühestens, in drei Stunden hier sein, er ist im Urlaub." Ich überlegte krampfhaft, wie wir das machen. "Gosch, der Drachen ist aufgetankt, bevor du das nächste Mal tanken musst, sagst du hier Bescheid, dann nimmst du ihn von hier aus mit."

Als Gosch mich komisch ansah, erklärte ich ihm.

"Gosch, du musst im Heli schlafen. Ich weiß nicht, wann ich dich brauche. Ich will dich auch, wenn Sigi fliegt in der Nähe haben. Wenn du fliegst, kannst du Sigi hier absetzen, dass er hier schlafen kann. Der kann nicht schlafen, wie du."

Durch die Nähe des Einsatzortes, war das Betanken hier das einfachste. Die dreißig Minuten konnte ich überbrücken, die es dauert, bis der Drache zurück kam.

Gosch sah mich verwirrt und fragend an.

"Gosch, du kannst nicht zwei oder drei Tage am Stück fliegen, ich brauche dich aber in der Nähe, also muss Sigi in der Zeit in der du schläfst den Heli fliegen."

Gosch nickte. Ich sah den Oberst fragend an, der war einverstanden. Als Gosch gerade fertig mit Essen war, öffnete sich die Tür und Christopher kam herein. Mit einen Schuhkiste unter Arm. Conny und Gosch konnten nicht anders, sie mussten grinsen.

"Hört auf mit Lachen, ich kann nichts dazu, der Oberst hat gesagt nur Nahkampf."

Ich wusste, warum die Beiden lachten. Aber damit erreichte ich nur das Gegenteil, sie lachten noch mehr. Ach manne, dachte ich so bei mir, immer das Gleiche, wegen meiner Schuhe. Na egal, die Jungs hier lachten halt gern.

In dem Moment wurde mir eins bewusst, die Jungs auf der Wache 61 genauso waren. Warum konnte ich mit denen nicht so locker umgehen, wie hier mit den Jungs. Gosch der mich genau beobachtete, merkte sofort, das ich abgelenkt war. Ich wirkte auf einmal total weggetreten.

"Kahlyn, was ist los? Du grübelst über etwas. Stimmt etwas nicht?" Ich blickte verwirrt zu ihm, sagte geistesabwesend. "Ach nichts."

Gosch jedoch, der mich schon so lange kannte, schüttelte den Kopf und kam um den Tisch, setzte sich auf den Platz neben mich.

"Kahlyn was ist los? Ich fliege nicht eher los, bevor wir das geklärt haben. Ich habe keine Lust, dich wie vor acht Jahren, wie ein Sieb nach Hause zu bringen. Was ist los?"

Ich wollte nicht darüber sprechen. Allerding wusste ich, dass er Recht hatte. "Ach Gosch, es ist nichts weiter. Mir fiel nur gerade auf, dass die Jungs von der Wache in Gera, auch so eine lustige Band sind, wie ihr. Ich überlege, warum ich mit denen nicht so reden kann, wie mit euch."

Gosch wuschelte mir über den Kopf. "Ach Täubchen, das ist doch normal. Erstens hast du mir vorhin erzählt, ging es dir die ganze Zeit nicht gut. Du warst von den sieben Tagen vielleicht drei ansprechbar. Wie willst du in drei Tagen, zu den Jungs dort das Verhältnis aufbauen, dass du zu mir den Oberst, dem grauen Conny und den anderen hier hast. Denke doch mal nach."

Ich gab ihm irgendwo Recht. "Es kam mir bloß grad in den Kopf, ist halt so. Aber du hast Recht, wie immer du schlauer Gosch du und nun ab. Wir müssen los, wir sind schließlich nicht zum Kaffeekränzchen hier. Danke Christopher", schnappte mir den Karton mit den Schuhen und beim Losgehen drehte ich mich nochmals kurz um.

"Genosse Oberst, wir machen los. Die Ausrüstung ist denke ich, schon im Heli, wie ich sie kenne, Sir. Der Medi-Koffer auch, Sir?"

Der Oberst nickte. "Ich wünsche euch vollen Erfolg und drücke der Geisel die Daumen, nun macht los."

Gosch stand auf und ich folgte ihm. Der Oberst ging zum Fenster und sah uns hinterher. Beim Einsteigen in den Heli, der schon lief, sah ich wie er den Daumen nach oben hielt. Na hoffentlich hatte er Recht. Dann startete Gosch und wir flogen los. Ich schnallte mich gar nicht erst an, wir hatten höchstens zehn Minuten zu fliegen. Ich gab Gosch die Koordinaten, des Zielortes. Zog die Schuhe, einfach über meine anderen drüber, das machte ich immer so. Dadurch konnte ich die Schuhe einfach schneller wechseln. Das war mein Hauptproblem, im Notfall schmiss ich die Schuhe einfach ab, wusste dann allerdings meistens nicht mehr, wo ich sie ausgezogen hatte und lief entweder barfuß weiter oder aber in meinen Spezialschuhen.

Das waren, aus Leinenstoff gemachte Strümpfe, in denen die Zehen und das Längsgewölbe ausgeschnitten blieben. Das Längsgewölbe, war der Teil des Fußes, der nie den Boden berührt, es sei denn man hatte Plattfüße. Die Zehen und das Längsgewölbe, brauchte ich beispielsweise beim Laufen auf oder in Bäumen, wie wir das nannten, oder beim Baumspringen oder dem Wandlaufen. Der Ballen, Spann und Fersenbereich waren rundherum, mit Tyronplatte verstärkt so dass man aus großer Höhe auf eine Nagelplatte springen konnte, ohne sich die Füße zu verletzen. Schwester Anna hatte das für uns entwickelt, weil wir nach vielen unserer ersten Einsätze, mit total kaputten Füßen nach Hause gekommen waren. Sie hatte eine Manufaktur gefunden, die diese Strümpfe für uns herstellte. Für die Tyronplatten, wurden nur Taschen eingenäht, die wir dann selber mit diesen verstärkten. Der Vorteil war, wir konnten normal Schuhe darüber anziehen.

"Gosch, wie lange noch?" Ich sah hinüber zu meinem Piloten.

"Kahlyn, in sechs Minuten sind wir da, schlaf ruhig ich sage dir Bescheid."

Ich schloss die Augen und machte das, was ich immer vor jedem Einsatz machte: Konzentrierte mich nochmals völlig auf die Details. Schritt für Schritt ging ich alles noch einmal durch. Ich fand keinen Fehler, in meinen Gedankengängen. Nach viereinhalb Minuten öffnete ich die Augen und atmete tief durch, kippte die Lehne des Sitzes nach hinten. Ich kletterte nach hinten und nahm mir alles, was ich im Moment benötigte. Das waren zwei Akkus, die im Durchschnitt, vier Stunden hielten und eins der Funkgeräte, klemmte alles hinter den Gürtel.

"Gosch, auf der üblichen Frequenz, Kanal 1. Bitte sorge dafür, dass ich in sieben Stunden wieder eine Möglichkeit bekomme, die Akkus zu tauschen. Ich will nicht zu viel Ballast mitnehmen. Ach, ich lasse die Schwerter, die Sai und den Tonfa erst einmal hier, das brauche ich bei der Suche nicht. Ich will nur leichtes Gepäck, ich werde schnell laufen. Bitte, wenn du das nächste Mal kommst, bringe mir eine Flasche Wasser mit. Die habe ich vergessen welches mitzunehmen. Wann musst du das nächste Mal tanken."

Gosch grinst und griff unter seinen Sitz, holte eine Trinkflasche mit Wasser hervor.

"Gosch du bist ein Schatz", er bekam einen Kuss, auch die Flasche, klemmte ich in den Gürtel.

"Kahlyn, ich weiß, dass du an dich immer zuletzt denkst. Ich dachte die könntest du sicher gebrauchen. Ich denke in dreieinhalb maximal viereinhalb Stunden, das kommt drauf an, was du machst. Bitte nehme das blaue Funkgerät."

Ich schaute ihn verwundert an, tauschte aber sofort die Funkgeräte.

"Seit zwei Monaten, haben wir Testgeräte. Eben die blauen Funkgeräten, darin ist ein Peilsender eingebaut. So dass ihr, wenn sie sich bewähren, nur noch ein Gerät braucht. Ist leichter zu handhaben, nur das Gerät anmachen, schon ist der Sender aktiviert. Hat schon ein paar Mal zuverlässig funktioniert, weiß aber außer dir und Conny bis jetzt noch keiner. Ach und mit dem Wasser brauchst du nicht sparen, ich habe noch fünf Flaschen dabei. Sag einfach Bescheid, wenn du was brauchst, ich werfe dir dann eine runter", Gosch lächelt verschmitzt.

"Danke Gosch, dann hab ich nicht so viel Gepäck."

"Kahlyn, wir sind da, wo willst du runter?" Ich nahm die Brille ab.

"Gosch, fliege bitte einmal ganz langsam über das Gebiet. Am besten machst du Suchschleifen über ein Gebiet von zwei Quadratkilometern. Ich will sehen, ob ich von hier oben etwas erkennen kann. In circa zehn Meter Höhe."

Gosch nickte und holte sich die Genehmigung von der Flugsicherung und flog im Anschluss über das gewünschte Gebiet spiralförmige immer enger werdende Kreise. Ich erkannte einige Spuren, die ich mir dann unten ansehen wollte. Wenn ich davon ausging, dass der Täter die Geisel hier irgendwo verscharrt hatte, müsste ich noch Reste von Wärmespuren sehen. Gott sei Dank, fand ich dies nicht außerhalb des Gebäudes.

"Gosch, alles klar ich steige aus. Drücke mir die Daumen, dass im Haus keine Leiche liegt. Geh auf fünf Meter bitte, du musst nicht landen, ich springe ab. Kreise dann einfach, ich sage dir Bescheid, sobald ich los gehe. Das kann aber einen Moment dauern. Erst mal Funkstille, falls ich etwas finde, rufe ich dich. Alles klar?"

Gosch nickte.

Er kannte meine Vorgehensweiße. Ich öffnete die hintere Tür, auf der Seite des Co-Piloten, kletterte vorsichtig auf die Kufe des Helis und hielt mich mit den Füßen an der Querstrebe fest, schloss die Tür von außen. Gosch hatte die richtige Höhe erreicht, ich klopfte an die Scheibe und gab ihm das Zeichen für den Absprung, in dem ich mit dem Zeigefinger eine kreiselnde Bewegung machte. Gosch wusste dann Bescheid, dass er gegenhalten musste. Beide Hände an die Hufe nehmend, stützte ich mich ab und ließ die Beine nach unten baumeln. Langsam so wenig Bewegung wie möglich machend, glitt ich ganz hinunter, bis ich nur noch an den Händen hing. Als wenn ich Klimmzüge machen wollte. Dann schaukelte ich ganz kurz, das war das Zeichen für Gosch, dass sich gleich das Gewicht veränderte. Ich ließ los und im Fallen verlagerte ich mein Gewicht, rollte auf der Wiese ab. Stand fast sofort wieder auf den Füßen. Mit der flachen  Handfläche nach oben weisend, machte ich eine kreisende Handbewegung, um Gosch zu zeigen er soll auf Höhe gehen, mit der anderen Hand zeigte ich ihm fünf Finger, das wieder holte ich ein paar Mal. Gosch wackelte mit dem Heli, das heißt er hatte verstanden und ging auf fünfzig Meter Höhe.

Das ehemalige Kinderheim, was direkt an der L5 lag war umzäunt durch eine vier Meter hohe Mauer, vor der Bäume gepflanzt waren. Ich nutzte einen Baum, um die Mauer zu überqueren und ließ mich auf der anderen Seite herunterfallen. Hier war es stockdunkel. Ich setzte meine Brille ab, steckte sie in eine kleine mit Tyronplatte verstärkte Tasche, die sie vor Beschädigungen schützte. Langsam, das gesamte Gelände genau sondierend ging ich über das Gelände. An einer Stelle blieb ich kurz stehen. Vorsichtig kniete ich mich hin und schaute mir an, was ich entdeckt hatte. Es war etwas Blut, vielleicht sechs Stunden alt. Ich folgte der Spur und ging auf das Haus zu. Die Spur führte dran vorbei, in Richtung Tor. Ich merkte mir, wo die Spur endete und kehrte zum Haus zurück. Vorsichtig drückte ich die Klinke herunter, die Tür ging auf. Jedes Geräusch vermeidend, öffnete ich die Tür einen Spalt und huschte hinein. Eine große Empfangshalle, mit umgestürzten Stühlen und Bänken, sah ich. Hier hatte vor kurzem ein Kampf stattgefunden. Wieder entdeckte ich Blut. Es war vielleicht acht oder neun Stunden alt. Ich folgte der Blutspur im Haus und ging nach rechts durch eine offene Tür. Auf jedes Geräusch achtend schlich ich ins Zimmer, allerdings war hier niemand mehr.

Meine Vermutung bestätigte sich, es hielten sich hier, über längere Zeit mindestens zwei Personen auf, die mehrmals etwas gegessen hatten. Es standen einige Teller herum und es lag ein durchgerissenes Seil auf dem Boden. Vorsichtig näherte ich mich dem Seil, betrachte es. Es wurde über mehrere Tage durch gescheuert, einige der Fransen sahen schmutzig aus. Also hatte die Geisel versucht sich zu befreien. Mehrere blutige Binden, lagen neben einem Stuhl. Auch ein Schuh. Es war ein Frauenschuh.

So schlimm das war, aber es war gut. Jetzt kam der Täter nicht mehr so schnell vorwärts. Meiner Erfahrung nach, lief hier keiner mehr barfuß, bzw. war es gewöhnt barfuß zu laufen. Also musste der Täter, entweder für seine Geisel neue Schuhe besorgen oder aber er würde mit der Zeit langsamer laufen müssen. Aufmerksam durchsuchte ich das Zimmer und ging zurück in die Empfangshalle. Da aber weder Fußabdrücke die Treppe hoch, noch in die anderen Räume führten, sparte ich mir die Zeit alles zu untersuchen. Das konnte die Soko machen. Ich nahm das Sprechfunkgerät und schaltete es ein.

"Gosch, die Frau ist nicht hier."

Gosch atmete erleichtert auf.

"Der Oberst soll bitte eine Gruppe herschicken, auch die Spurensicherung und alles durchsuchen. Sag denen aber, dass ich hier war, einiges angefasst habe, es ging nicht anders. Ich habe mich nicht geirrt der Täter war hier, es gibt leider einige Blutspuren, ich folge der Spur draußen erst einmal. Es waren zwei Blutspuren. Ich denke es ist das Blut einmal von dem Täter und einmal von der Geisel. Die eine Spur fängt links hinterm Haus im Garten an. Ich melde mich wieder, wenn ich etwas Wichtiges habe. Hast du mein Peilsignal? Kreise in hoher Höhe, um meine Position, maximal zwei Kilometer Abstand."

Gosch schwieg einen Moment, sehr wahrscheinlich gab er meine Anweisungen weiter, an den Oberst.

"Kahlyn, ich habe dein Peilsignal, der Oberst schickt ein Teil seiner Leute her, er fragt ob er einen Suchtrupp schicken soll? Geht klar ich gehe auf Höhe", bestätigte er meine Bitte und meinen Gedankengang.

"Nein Gosch, das wäre Blödsinn. Die haben mindestens sieben Stunden Vorsprung. Also ich melde mich, halte Funkstille. Wenn etwas ist, melde ich mich."

Im gleichen Augenblick stellte ich das Funkgerät leise und verließ das Haus. Schnell hatte ich die Blutspur wieder gefunden, die vom Haus wegführte. Ich folgte der Spur, doch auf einmal war sie weg. Vorsichtig um keine Spuren zu zerstören suchte ich das Gelände ab, aber ich konnte die Spur nicht wieder finden. Verwundert ging ich zurück. Nochmals lief ich die Spur ab, zurück in den Garten. Plötzlich fand ich eine weitere Spur, die um das Haus herum führte und durch ein kleines Tor, welches durch Hecken an der westlichen Mauer verdeckt wurde. Dieses Tor war offen, die Spur führte hindurch. Immer schneller laufend, folgte ich der deutlichen Spur auf jedes Geräusch achtend.

Etwa hundertzwanzig Meter, also kurz vor dem Wald, sah ich die Spur, die ich vom Heli aus entdeckt hatte. Einen Schuh, also war die Frau jetzt ganz barfuß. Ich horchte in den Wald. Aber ich hörte im Umkreis von fünfhundert Metern keine Geräusche, es wäre auch ein Wunder, wenn der Täter sich noch hier irgendwo aufhalten würde.

"Gosch, hast du meine jetzige Position."

Gosch antwortete sofort. "Ja, die hab ich, Kahlyn."

Wie immer funktionierte, das ohne große Worte. Bei Gosch brauchte ich nichts mehr zu erklären. "Gosch, teilte der Spurensicherung diese Position mit, hier liegt noch ein Schuh. Ich gehe weiter in den Wald."

Mit diesen Worten beendete ich den Funkverkehr und folgte weiter der Spur. Sie führte nicht in den Wald, wie ich erst vermutet hatte. Sondern Russo und die Geisel liefen weiter auf der Straße in Richtung Woez. Ich traute der Sache nicht und suchte trotzdem, beidseitig der Straße nach Spuren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er einfach so, mit einer barfüßigen Frau, kilometerweit auf der Straße lief. Ich fand keine weiteren Spuren, verdammt nochmal. Ich folgte der Straße ungefähr einen halben Kilometer, fast zwei Stunden brauchte ich, weil ich nach Spuren suchte. Da war nichts. Es wurde langsam hell. Wie ich das hasste, wenn es bei der Spurensuche plötzlich hell wurde. Ich konnte ohne Brille wesentlich mehr erkennen, als mit. Aber es nutzte nichts, ich sah nichts mehr und meine Augen brannten schon wir Feuer. Deshalb ging ich zurück, als ich die ersten Häuser des Dorfes Woez sah. Nochmals suchte ich nach Spuren. Kam nach einer Stunde, an die Stelle zurück, wo ich angefangen hatte.

Verdammt nochmal, mir lief die Zeit weg. Verzweifelt suchte ich jetzt in der entgegengesetzten Richtung. Keine fünfzig Meter weiter in Richtung Süden, entdeckte ich eine Spur. Sie führte in den Wald. Russo war gut, der war verdammt gut. Jeder andere hätte die Spur übersehen. Statt auf dem Boden zu laufen, war er mit seiner Geisel über Baumstämme gelaufen, die am Rand des Weges lagen. Ich hätte die Spur fast übersehen. Nur durch meine jahrelange Ausbildung in diesen Sachen und durch die viele Erfahrung, nahm ich die wenigen Anzeichen erst. Erst hatte ich nur ein kleines abgebrochenes Ästchen entdeckt. Dachte in diesem Augenblick, dass es von einem Tier abgebrochen wurde. Aber, weil ich keine anderen Spuren mehr hatte entdecken können, ging ich dieser winzigen Spur dann doch nach. Fast vier Stunden hatte mich diese Suche aufgehalten.

"Gosch, wie sieht es mit deinem Tank aus? Wann musst du wieder tanken?", erkundigte ich mich und setzte mich auf einen der Stämme, um etwas zu trinken.

"Eine halbe Stunde noch, dann muss ich tanken."

Ich lehnte mich kurz an den Baum. "Gosch, ich lass den Funk an, ich muss zehn Minuten abspannen. Ich dachte schon ich muss aufgeben. Dieser Russo ist wirklich gut. Ich hab ihn total unterschätzt. Der hat etwas auf den Kasten, mein lieber Mann. Der fordert alles von mir. Pass du bitte auf die Geräusche auf, ich bin fix und alle. Mir tun die Augen weh. In zehn Minuten sagst du mir Bescheid. In Ordnung?"

Tief hole ich Luft, trank noch einen Schluck.

"Kahlyn geht klar. Ich passe auf."

Damit schloss ich die Augen und schlief für zehn Minuten.

"Kahlyn." Die Stimme von Gosch holte mich zurück.

Ich hatte mich etwas erholt. "Danke Gosch, fliege jetzt tanken, meine jetzige Position, gibst du der Spurensicherung. Hier ging der Täter mit der Geisel in den Wald. Vielleicht finden die noch etwas, was ich übersehen habe. Ich gehe Richtung Westen. Du Gosch, wie weit kannst du den Peilsender orten? Ich brauche zwei neue Akkus. Der Oberst soll mal neue bestellen, die halten nicht mal drei Stunden. Die leeren lasse ich hier liegen, die soll die Spurensicherung mitnehmen oder jemand von der Soko holen. In Ordnung?"

"Kahlyn, der Peilsender frisst Strom ohne Ende. Du wirst mehr Akkus brauchen, ich schmeiße dir vier ab und hole neue. Das weiteste war bis jetzt zwanzig Kilometer. Keine Angst ich finde dich."

Gosch flog über meine Position und schmiss einen Beutel ab, der zehn Meter vor mir aufschlug. Darin waren vier Akkus, eine Flasche mit Wasser.

"Danke Gosch, du kannst glaube ich Gedanken lesen, wie immer. Ich gehe weiter, hab schon fast fünf Stunden eingebüßt. Bis dann. Melde dich, wenn du in Funkreichweite bist."

Damit nahm ich die Tasche und holte mir die neuen Akkus raus, wechselte die alten. Legte die leeren Akkus, die Trinkflasche in den Beutel und legte alles auf den Baumstamm, an dem die Spur war. Schnell trank ich noch einen Schluck und folgte wieder der Spur. Ich musste aufpassen wie ein Schießhund. Russo war wirklich verdammt gut. Zügig folgte ich der Spur.

Plötzlich fing es an zu regnen. Verdammt nochmal, nicht auch das noch. Noch achtsamer, sah ich mich nach Spuren um. Der Regen spülte alle Spuren weg. Nach fünf Stunden vergeblicher Suche, gab ich auf. Es musste schon später Nachmittag sein. Wieso meldete sich eigentlich Gosch nicht zurück? Ich ließ mich, an einem überhängenden Felsen nieder, der etwas Schutz vor dem Regen bot. Sintflutartig regnete es. Als wenn der Himmel alle Schleusen aufgemacht hätte. Da wurde mir bewusst, dass der Oberst keinen Heli raus ließ, bei solch einem Wetter. Der wusste, dass ich auch alleine klar kam. Die Entscheidung war mehr als vernünftig. Es wurde nun auch noch richtig böig. Sogar hier im Wald war es stürmisch. Also war ich, auf mich alleine gestellt. Den Kopf an den Fels gelehnt, schloss ich die Augen. Verdammt nochmal, was mache ich nur. Aufgeben kam für mich nicht in Frage. Solange die Geisel lebt, würde ich versuchen sie zu retten. Einen Vorteil hatte dieses Wetter, der Täter ging bestimmt nicht weiter. Russo würde auch Schutz suchen. Da er vermutete, dass seine Verfolger aufgaben. In Gedanken ging ich die Karte noch einmal durch und schloss alle Möglichkeiten aus, die keine hohe Wahrscheinlichkeit hatten. Es kamen, nur noch zwei Ziele die in Frage kommen. Die eine wäre Richtung Westen, dass er versucht nach Döbbersen zu kommen und sich dort eine Scheune suchte, um das Unwetter abzuwarten. Die zweite wäre nach Süden, um weiter Richtung Püttelkow zu gehen. Was würdest du machen Kahlyn? Fragte ich mich selbst und meinen Bauch. Der mir immer wieder in solchen ausweglosen Situationen weiterhalf. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich im Süden gesucht wurde, war geringer, ging es mir durch den Kopf. Da man gezwungen wurde, lange Strecken ohne Deckung zu laufen. Aber der Bursche, hatte mich heute schon einige Male überrascht. Kurzentschlossen stand ich auf. Spuren brauchte ich bei diesem Wetter, keine mehr suchen. Die waren alle weg, ich konnte nur auf meinen Instinkt und auf meinen Bauch hoffen. Vor allem auf etwas Glück. Ich brach in Richtung Süden auf. In der Hoffnung, dass Gosch, mich dann noch anpeilen konnte. Egal, ich musste es wenigstens versuchen. Dieses Wetter war ein besserer Schutz, als jeder Wald. Ich lief los, zwar achtete ich immer noch auf Hinweise oder eventuelle Spuren, aber ich hatte kaum noch Hoffnung, etwas zu finden. Über eine Stunde lief ich, ohne dass ich eine Spur entdecken konnte.

Ich überquerte gerade einen Feldweg, als plötzlich wie aus dem nichts ein Motorrad an geschossen kam. Verdammter Idiot. Ich sprang zur Seite, sonst hätte das Fahrzeug mich frontal erwischt. Der Fahrer fuhr einfach weiter. Das gab es doch nicht. Ich blieb erst mal liegen und schnappte nach Luft. Einer meiner noch nicht ganz verheilten Rippen, macht gerade knacks. Na prima, das konnte ich jetzt gerade noch gebrauchen. Vorsichtig tastete ich meine Rippen ab. Gott sei Dank war nichts weiter passiert. Nur angebrochen, das heilte wieder. Schlimmer hatte es mein Bein erwischt. Ich war in die am Wegrand liegenden Baumstämme gesprungen und einer der Äste bohrte sich genau in meinen Oberschenkel. Innerlich kochte ich vor Wut. Das war heute nicht mein Tag. Ich riss meine Hose weiter auf und untersuchte die Wunde. Es war nur eine tiefe Stichwunde, mit dem Wasser aus meiner Flasche, versuchte ich die Wunde etwas auszuwaschen. In meinem Gürtel hatte ich immer etwas Nähzeug, für den Notfall. Damit vernähte ich die Wunde provisorisch und verband sie mit Streifen, die ich aus der Sturmhaube, schnitt. Zusammen geknüllter Stoff, wirkte wie ein Druckverband. Das musste für den Anfang reichen. Ich stand auf, in Ordnung es blutet nicht mehr. Das hatte mich wieder, eine halbe Stunde Zeit gekostet. Verdammt nochmal, heute war aber wirklich nicht mein Tag.

Es half nichts, ich musste weiter. Ich unterdrückte den Schmerz, so gut es halt ging. Diesmal allerdings etwas vorsichtiger, vor allem aber langsamer. Da bei jedem Schritt, das Pochen in meinem Bein schlimmer wurde und lief weiter in Richtung Süden. Keine fünfundzwanzig Minuten später, hörte es so plötzlich auf zu regnen, wie es angefangen hatte. 'Gosch, bitte finde mich, ich muss mein Bein versorgen', kam mir so der Gedanke. 'Wie soll dich Gosch finden? Du hattest gesagt du gehst Richtung Westen. Selber schuld,' dachte ich so bei mir. Auf einmal, sah ich am Boden etwas glitzern. Ich bückte mich und entdeckte einen Knopf. Vorsichtig blickte ich mich um. Dort war ein Blatt abgerissen und dort ein Ästchen. Ich folgte der Spur. Auf einmal sah ich Bluttropfen, jemand hatte sich an einem Ast verletzt. War mir das Glück doch noch holt? Vor allem der Geisel? Bitte, liebes Glück, sagte ich im Stillen zu mir. Ich möchte dich nicht für mich, sondern nur für die Geisel. Langsam auf jedes Geräusch achtend, lief ich weiter, auf jedes noch so kleine Detail achtgebend. Über eine halbe Stunde, folgte ich den Bluttropfen. Der Spur mit den abgeknickten Zweigen, als sich mein Funkgerät bemerkbar machte.

"Gosch, Gott sei Dank. Ich habe mir schon Sorgen gemacht", erleichtert atmete ich auf.

"Kahlyn, ich habe dich gesucht. Wieso bist du in Richtung Süden unterwegs? Dein Peilgerät funktioniert nicht mehr richtig, das setzt laufend aus", aufgeregt hörte sich Gosch an.

"Erkläre ich dir später. Das Unwetter hat alle Spuren beseitigt. Gosch, kannst du hier in der Nähe irgendwo runterkommen, ich brauche dringend den Medi-Koffer. Ich habe aber keine Ahnung mehr, wo ich genau bin. Ich denke in Höhe des Wäldchens bei Püttelkow. Aber bin mir nicht ganz sicher."

Gosch reagierte nicht gleich.

"Gosch, hast du gehört, was ich dir gesagt habe?" Ich wurde ungehalten, denn ich musste dringend mein Bein versorgen.

"Ja Kahlyn, entschuldige bitte. Ich musste erst einmal den Oberst beruhigen. Der war kurz vor dem Durchdrehen. Wollte schon eine Suchmannschaft losschicken. Als, wenn du so schnell verloren gehst. Ich dachte, du warst aus dem Peilradius, aber dein Peilsender funktioniert nicht mehr richtig. Der setzt laufend aus, ich musste erst das Signal wieder finde. Kahlyn, du hast recht mit deiner Annahme. Du bist westlich der Ortschaft, wenn du hundertfünfzig Meter Richtung Westen gehst, kommst du auf ein Feld. Dort warte ich auf dich", erleichtert atmete Gosch auf. Er hätte es dem Oberst nicht verziehen, wenn seinem Täubchen etwas passiert wäre.

"Geht klar ich bin gleich da. Bitte merke die meine jetzige Position, du musst mich dann hierher zurückbringen."

Aufatmend machte ich mich auf den Weg. Kaum zwei Minuten später, kam ich aus dem Wald, erblickte Gosch und seinen Drachen. Ich lief im Laufschritt auf ihn zu.

"Mein Gott Kahlyn, wie schaust du aus", verwundert sah ich Gosch an.

Dann schaute ich in die Scheibe des Helis. Oh je, ich sah aus wie ein Schwein, blutverschmiert und dreckig. "Ach es ist nichts weiter. So ein Depp von Motorradfahrer, kam bei dem Regenguss angerast und hätte mich fast über den Haufen gefahren. Hast du den Medi-Koffer bei. Hallo Sigi, tut mir leid, dass ich dir den Urlaub versaut habe. Aber ich denke, du kannst bald wieder zurück. Ich habe eine heiße Spur gefunden. Ich denke, ich finde sie bald."

Dankend nahm ich Gosch den Koffer ab und stellte ihn einfach auf die Rückbank des Drachens, dessen Tür offen war.

"Das war ja ein Sauwetter jetzt. Wir hatten keine Chance den Drachen zu starten. Ein Wind war das, das kannst du dir nicht vorstellen."

Ich nickte, öffnete den provisorischen Verband. So wie ich ihn löste fing die Wunde wieder an zu bluten. Mist verdammter, dachte ich so bei mir, da hatte es eine der großen Adern erwischt, vorsichtig auf dem anderen Bein stehend, versuchte ich die Blutung zu finden.

"Gosch, bitte halte mal den Spiegel. Ich finde die Blutung nicht."

Gosch hielte den Spiegel, ich drehte ihn mir so, dass ich besser sehen konnte. Dann entdeckte ich die kaputte Ader. Mit einer kleinen Menge Kleber, die ich genau auf die Stelle gab und dem Brenner, versiegelte ich die Blutung. Dann säuberte ich mit einer Pinzette die Wunde, von dem immer noch reichlich vorhanden Dreck und den kleinen Holzsplittern. Gab Kleber in die Wunde und brannte sie aus, dann spülte ich mit Natriumchloridlösung nach. Noch einmal gab ich Kleber drauf und versiegelte mit dem Brenner die Wunde. Dann vier Stiche mit einen Faden, fertig. Vorsichtig bewegte ich das Bein, die Naht hielt. Eine spezielle Salbe verhinderte, dass eine Entzündung in die Wunde kam. Noch eine Binde darum, schon war das Bein fertig. Dann zog ich das Oberteil aus, untersuchte meine Rippen. Die waren nicht kaputt, wahrscheinlich hatte sich eine der vorher angebrochenen Rippen, nun wieder gerichtet. Jetzt war sie so, wie sie sein sollte. Na da hatte ich ja wenigstens einmal ein bissel Glück gehabt. Schoss es mir durch den Kopf. Vorsichtshalber, nahm ich eine Tyronplatte, setzte sie als Schutz vor die kaputte Rippe, machte auch hier einen ordentlichen Verband. Dann zwei Injektionen F28, gegen Entzündung, B32 gegen Schmerzen. Zwei weiter Spritzen B32 zog ich auf, mit je fünf Einheiten, nahm mir zwei eingeschweißte Kanülen, beides legte ich in mein Brillenfach, für den Notfall. Zufrieden räumte ich den Koffer auf und stellte ihn hinter den Sitz des Co-Piloten. Langsam wurde mir besser. Sigi, der noch nicht so oft, mit mir gearbeitet hatte, war etwas blass um die Nase. Gosch redete beruhigend auf ihn ein. Ich setzte mich neben den Heli und zog meine Beine an, ich war fertig.

"Gosch, bitte ich muss zehn Minuten beschützt schlafen, bitte."

Gosch nickte und kam zu mir, setzte sich einfach hinter mich und nahm mich in den Arm. Ich lehnte mich an ihn und schloss die Augen. Versank sofort im Nichts. Genau zehn Minuten später sagte Gosch zu mir.

"Kahlyn du musst weiter."

Ich öffnete die Augen und sah ihn einigermaßen erholt an. "Gosch, kannst du mich bitte einweisen. Ich habe keine Ahnung ob ich die Stelle, ohne langes Suchen wieder finde. Bitte, gehe auf große Höhe, ich habe höchstens noch eine Stunde Abstand zu Russo. Wenn du mich eingewiesen hast, möchte ich, dass du stets fünf Kilometer hinter mir bleibst. Nicht, dass der noch eine Kurzschlusstat macht. Wenn ich den Täter habe, sage ich dir durch ein und ausschalten des Peilgerätes Bescheid."

Gosch nickte, er kannte das Spiel schon von mir. Ich tauschte noch einmal alle Akkus aus und nahm dankend eine neue Flasche Wasser, die zweite Flasche trank ich sofort aus. Nahm mir ein Satz Handschellen und einen weiteren Peilsender. Auch tauschte ich das beim Sturz kaputt gegangene Funkgerät aus.

"So ich mach los, Gosch. Sag dem Oberst nicht, dass ich was habe. Du weißt der dreht gleich wieder am Rad. Wenn wir Glück haben, ist in drei bis vier Stunden alles vorbei. Russo hat es mir verdammt schwer gemacht, der ist echt gut Gosch. Beinah wäre ich auf seine Tricks reingefallen", sagte ich mehr zu mir, als zu Gosch.

"Aber nur beinah. Gute Jagd Kahlyn", entgegnete mir Gosch und Sigi grinste mich an.

"Gosch, schlaf ein wenig, wenn du mich eingewiesen hast. Ich brauche dich dann fit."

"Geht klar Täubchen. Bis später."

Einen letzten Schluck Wasser trinkend, warf ich die nun leere Flasche hinter die Rückbank und machte los. Fast eine Stunde hatte ich Russo jetzt geschenkt. Aber die Erholungspause tat mir gut. In einen leichten Trap fallend, lief ich auf das Wäldchen zu. So wie ich es mir gedacht hatte, fand ich die Spur nicht gleich wieder. Natürlich hätte ich die auch so noch gefunden. Nur hätte das wieder Zeit gekostet. Zeit die gegen die Geisel arbeitete. Gosch wies mich in zwei Minuten ein. So konnte ich wesentlich schneller, die Spur wieder aufnehmen. Vorsichtig auf alle Geräusche achtend näherte ich mich den Beiden. Die Geisel schien am Ende ihrer Kraft zu sein. Fast ständig fiel sie hin. Das sah ich an den Spuren die ich fand. Mädel sagte ich in Gedanken zu ihr, halt noch eine kurze Zeit durch. Bitte, du hast es bald geschafft. Ich legte etwas Tempo zu, über eine Stunde folgte ich jetzt der Spur. Wieso ging der Täter wieder zurück? Er lief im Kreis. Wieso marschierte er nur im Kreis? Warum machte er so einen Quatsch? Ich konnte seinen Gedankengängen nicht mehr folgen. Blieb aber an der Spur dran. Die aus abgeknickten Ästchen und Blättern bestand und Bluttropfen. Folgte den Stellen, wo die Geisel gelegen hatte. Kleine Bluttropfen bestärkten mich darin, dass ich noch richtig war. Höchstens zwanzig Minuten war Russo noch vor mir. Ich zog meine Schuhe aus und wieder wurde mir bewusst, dass ich ein paar neue Schuhe opferte. Aber ohne Schuhe war ich einfach leiser. Ich band mir die Schuhe an den Gürtel. Aber ich wusste, dass die Chance sehr gering war, dass ich sie dann noch hatte. Aber ich ging davon aus, dass ich damit der Geisel helfen konnte. Vielleicht passten sie ihr ja einigermaßen. Ich ging in den Baum. Es wurde gerade dunkel. Nur noch eine halbe Stunde, dann konnte ich meine Brille abnehmen. Von hier oben sah ich einfach mehr. Langsam sprang ich von Baum zu Baum.

Keine zehn Minuten später, entdeckte ich den Täter und die Geisel. Die Geisel war an einen Baum gebunden und sie schlief. Der Täter dagegen beobachtete die Umgebung genau. Ich wartete, für die Geisel bestand im Moment keine Gefahr. Ich hoffte sehr, dass der Geiselnehmer ebenfalls bald einschlafen würde. Das wäre für mich der Idealfall. Lange saß ich auf meinen Baum und wartete ab. Es war stockdunkel, da es eine Wolkenverhangene Nacht war. Endlich konnte ich meine Brille absetzen. Jetzt war ich in Vorteil. Ich wartete, fast anderthalb Stunden, als der Kopf Russos, immer wieder nach unten sackte. Vorsichtshalber blieb ich noch eine viertel Stunden länger, auf meinem Baum sitzen. Oftmals rissen sich solche Leute, fünf bis sechs Mal aus dem Schlaf, bevor sie fest schliefen. Sie wussten, dass es gefährlich war einzuschlafen. Trotzdem war es oft so, dass diese Leute ihren eigenen Körper überschätzten und einschliefen. Das war nicht zu verhindern, über kurz oder lang brauchte jeder seinen Schlaf. Da Russo alleine war, vermutete ich, dass er schon viele Tage nicht gut geschlafen hatte. Russos Körper, der an solche Strapazen ja nicht gewöhnt war, forderte in solchen Fällen einfach sein Recht: Zu unserem und der Geiseln Glück.

Kurz vor Mitternacht, ging ich leise aus dem Baum und schlich mich von hinten an Russo heran. Ein Griff in den Nacken, er schlief, noch tiefer und noch fester, als zuvor. Er würde sich später bestimmt fragen, wie und wieso das alles geschehen konnte und vor allem wie er an den Baum gekommen war. Ich musste bei dem Gedanken breit grinsen. Das geschah ihm nur zu Recht. Ich griff ihn unter die Schultern und fest in die Achseln, zog ihn zu einem besonders dicken Baum. Lehnte Russo mit den Rücken daran. Machte eine Handschelle, um sein rechtes Handgelenk und zog den Arm nach hinten, dann griff ich mir sein linkes Handgelenk und fixierte ihn auf dies Weise fest an dem Baum. So dass er sich nicht mehr bewegen konnte, ohne sich selber schlimme Schmerzen zu zufügen. Außerdem legte ich ihm, auf die gleiche Weise, Fesseln um die Füße. Die ich an einen benachbarten sehr dünnen Baum, mit einer dritten Fessel fixierte. So konnte er sich nicht mehr bewegen. Den Peilsender legte ich hinten an den ersten Baum und schaltete ihn an. Die Soko konnte ihn so orten, die würde den Geiselnehmer später abholen. Niemals, wenn ich das irgendwie verhindern konnte, nahm ich die Geisel und den Täter in einem Transportmittel mit. Der Täter hatte der Geisel schon genug angetan. Er sollte ruhig auch etwas leiden. Ich hätte ja auch einen dünneren Baum nehmen können oder die Fußfessel lassen können, das wäre für ihn bequemer gewesen. Aber Russo sollte ruhig spüren, wie das ist zu leiden. Er sollte ruhig auch ein paar Schmerzen haben. Vor allem sollte er sehen, wie sehr die Geisel gelitten hatte. Außerdem hatte eine solche Fixierung des Geiselnehmers, den Vorteil, dass er sich auf diese Weise nicht selber befreien konnte.

Ich würde ihn auf keinen Fall im Heli mit nehmen. Die Geisel musste ihn sieben lange Tage ertragen. Das waren genau sieben Tage zu viel. Ich schaltete jetzt auch meinen Peilsender ein und aus, wiederholte dies mehrmals, bis ich der Meinung war das Gosch es verstanden hatte. Langsam, um die Geisel nicht zu erschrecken lief ich auf sie zu und hockte mich vor ihr hin. Mit wirklich keiner Silbe, dachte ich in dem Moment an meine Auge. Das war ein Fehler, der mir schon öfters passiert war. Vorsichtig schnitt ich die Geisel los. Dann hob ich ihren Kopf und erschrak mich. Dieses verdammte Schwein, hatte das Gesicht der Frau vollkommen zerschnitten. Ich schluckte schwer. Ich musste sehen, was ich da später machen konnte? Aber ganz würde ich die Narben, nicht verhindern können. Ich nahm meine Wasserflasche und hielt sie ihr an die ausgetrockneten Lippen.

"Mam, hallo, es ist vorbei, Mam", flüstere ich ganz leise, um sie nicht zu erschrecken. "Mam, sie brauchen keine Angst mehr haben. Es ist vorbei. Ich bin von der Polizei, Mam."

Ganz langsam öffnete sie die Augen und kaum, dass sie mich sah, fing sie an zu schreien. Als sie merkte, dass sie frei war, wollte sie sogar weglaufen. Ich hielt sie fest. Verdammt nochmal, fluchte ich im Stillen. In diesem Moment fiel mir ein, dass ich meine Brille nicht aufhatte. Es war ja stockdunkel. Ich hielt sie einfach fest. Redete weiterhin beruhigend auf sie ein.

"Mam, ich bin die Kahlyn. Ich wollte sie nicht erschrecken. Bitte beruhige sie sich doch. Ich bin von der Polizei, Mam", mehrmals wiederholte ich diese Worte, im leisen Ton.

Auf einmal begriff sie, was ich ihr sagte.

Wiederholt sagte ich zu ihr. "Mam, beruhigen sie sich doch bitte, es ist vorbei. Ich bin Kahlyn und ich bin von der Polizei. Bitte beruhigen sie sich doch, bitte Mam."

Sie starrte mich ungläubig an. Ich hätte ja die Brille wieder aufsetzen können. Aber nun hatte sie meine Augen schon gesehen. Ich wusste aus Erfahrung, dass viele nach dem ersten Schock, unsere Augen als sehr schön empfanden, fremdartig aber wunderschön. Ich sah die Geisel an.

"Mam, sie müssen keine Angst habe. Ich habe nur andere Augen als sie. Ich kann doch nichts dafür, Mam. Aber durch diese Augen, konnte ich sie finden. Ich sehe im dunklen besser als sie. Bitte Mam, vertrauen sie mir einfach. Ich will sie hier wegbringen, Mam."

Die Geisel nickte stumm, sie war völlig verstört und desorientiert.

"Sehen sie, ich habe ein paar Schuhe für sie, darf ich mir ihre Füße kurz angucken."

Wieder nickte diese nur, zu keinem Wort fähig. Ich nahm ihre Füße, um diese zu untersuchen. Sie sahen wirklich schlimm aus. Ich zog einige Dornen heraus und Splitter. Jetzt wusste ich, woher die meisten der Bluttropfen kamen. Diese kamen nicht nur vom Gesicht, sondern auch von den Füßen.

"Mam, darf ich von ihren Rock zwei Streifen abschneiden, Mam?" Fragte ich sie leise, nicht weil ich ihre Erlaubnis dazu brauchte, sondern einfach, um mit ihr zu reden. Ich wollte sie aktiv an ihrer Befreiung teilhaben lassen und sie ablenken, von den Schmerzen.

Wieder nickte sie wortlos, mich entsetzt anblickend.

Ich nahm mein Messer und schnitt zwei Streifen von dem Rock. Der jetzt mehr ein Band als ein Rock war. Sigi oder Gosch konnten ihr dann, ihre Jacke geben. Die Streifen wickelte ich ihr vorsichtig, um die Füße, dann zog ich ihr die Schuhe an.

"Mam, ich gebe ihnen jetzt eine Spritze, damit die Schmerzen nicht mehr so schlimm sind, darf ich das, Mam? Keine Angst, ich weiß was ich mache, ich bin nicht nur Polizistin, sondern auch Ärztin, vertrauen sie mir einfach, Mam."

Zögerlich nickte sie, der Unglaube stand ihr ins Gesicht geschrieben, aber scheinbar hatte sie keine Kraft oder keinen Mut mehr sich zu wehren.

"Mam, damit das Mittel schneller wirkt, spritze ich es ihnen in die Halsschlagader, erschrecken sie also bitte nicht, Mam."

Ganz langsam, sodass sie genau zusehen konnte, was ich machte, steckte ich die Kanüle auf den Kolben, näherte mich ihrem Hals. Sie wehrte sich nicht ein bisschen, das war kein gutes Zeichen. Entweder war sie noch schwächer als ich dachte oder aber sie war schon so weit, dass ihr alles egal war.

"Mam, war es schlimm?", erkundigte ich mich bei ihr.

Langsam nickte sie. Ich merkte, dass sie meine Frage völlig falsch verstanden hatte. Aber es war egal.

"Mam, können sie mir sagen wie sie heißen, Mam. Ich bin die Kahlyn."

Mehrmals versuchte sie zu antworten. Aber sie bekam kein Wort heraus. Ich gab ihr die Flasche in die Hand.

"Trinken sie Mam, dann wird es besser."

Mit zitternden Händen nahm sie die Flasche an den Mund und trank gierig. Immer mehr, ich ließ sie gewähren, obwohl ich wusste, dass sie nicht so viel trinken durfte. Ich wusste aus eigener Erfahrung, dass der Durst das Schlimmste war, mit dem die Geiseln nach der Befreiung zu kämpfen hatten. Das Schlimmste, das ihr passieren konnte war, dass sie sich erbrach. Nachdem sie fast die halbe Flasche getrunken hatte, nahm ich ihr die Flasche weg.

"Mam, ihnen wird schlecht. Lieber später noch einmal etwas trinken, das ist besser. Können sie mir sagen wie sie heißen, Mam?", fragte ich sie noch einmal.

Kaum hörbar flüsterte sie. "Katrin Tiraht, danke."

Ich streichelte ihr über die Arme. "Darf ich Katrin zu ihnen sagen Mam?", aus Erfahrung wusste ich, dass der Vorname immer so etwas wie Vertrauen aufbaute.

Katrin nickte.

"Katrin, wollen wir versuchen, von diesem schrecklichen Ort wegzukommen? Ich denke mir, sie waren lange genug hier, Mam?"

Katrin schaute mich ängstlich an. "Ja", hauchte sie mehr, als das sie sprach.

Ich stand langsam auf, steckte die Flasche hinter den Gürtel. Vorsichtig unter die Achseln greifend, half ich Katrin auf die Beine. Dann zog ich das Sprechfunk gerät heraus.

"Gosch, wo seid ihr?"

Einen Augenblick später, kam die Antwort. "Kahlyn, ca. zweihundert Meter südlich von dir, ist der Wald zu Ende, dort warten wir."

Ich lächelte Katrin an. "Geht klar Gosch, ich komme mit der Geisel heraus. Hast du das zweite Peilsignal?" 

"Ja Kahlyn, klar und deutlich."

"Dann gebe bitte diese Position der Soko durch, das ist der Täter. Er hat es sehr unbequem, sie sollen sich also ruhig ganz viel Zeit lassen. Russo kann ruhig etwas leiden. Bitte komme mit zwei Decken, den Medi-Koffer und zwei Flaschen Wasser, zum Waldrand. Sigi sollte lieber beim Heli bleiben. Der ist vorhin schon bei mir ganz blass geworden. Sage dem Oberst Bescheid, die Geisel heißt Katrin Tiraht. Man soll versuchen die Familie zu informieren. Ich brauche am Landeplatz einen Sanka und auch einen Arzt, man sollte die junge Frau nicht aus den Augen lassen. Sie steht völlig unter Schock", gab ich meinem Piloten konkrete Anweisungen und beendete das Gespräch.

Steckte mir das Funkgerät wieder hinter den Gürtel. Dann fasste ich Katrin unter die Achseln und nahm ihren Arm über meine Schulter, um sie stützend vom Baum an den sie lehnte, wegzuziehen.

"Na dann komm Katrin, bringen wir dich hier raus."

Ganz langsam gingen wir, aus dem Wald. Über eine halbe Stunde brauchte ich, für diese kurze Strecke, um die völlig fertige Frau aus dem Wäldchen zu führen. Immer wieder, schaute sie sich um.

"Keine Angst Katrin. Er tut ihnen nichts mehr. Ich passe jetzt auf sie auf. Kommen sie, es ist nicht mehr weit."

Endlich hatten wir es geschafft, Gosch der uns sah, wollte uns sofort entgegen kommen. Als Katrin meinen Piloten sah, versteifte sie sich völlig, versuchte sogar zu fliehen. Ich hielt sie fest und schüttelte in Goschs Richtung den Kopf.

"Katrin, der Mann, da vorne ist einer der beiden Piloten, die nach ihnen gesucht haben. Er ist Polizist, so wie ich. Er heißt Gosch und er ist mein bester Freund. Vor ihm brauchen sie keine Angst zu haben."

Ängstlich und zitternd sah Katrin mich an.

"Wirklich Katrin, er will ihnen nur helfen. Darf er heran kommen bitte. Katrin."

Endlich nickte die Geisel und ihre Atmung beruhigte sich etwas.

Ich gab Gosch ein Zeichen, er lief langsam auf uns zu und legte der jungen Frau eine Decke, um die Schultern. Dann setzen wir sie auf die Decke.

"Gosch, bitte knie dich hin und zieh die Decke auf deine Beine. Ich muss Katrin dringend, ärztlich versorgen. Katrin, ich muss jetzt etwas mit dir machen, weil das schmerzhaft ist, werde ich dich für eine Weile ruhig stellen. Keine Angst, es tut nicht weh. Darf ich das?"

Katrin nickte und sah mich ängstlich an.

Ich glaube ihr war schon alles egal. Hauptsache diese Schmerzen hörten endlich auf. Ich griff ihr in den Nacken und legte sie schlafen. Vorsichtig fing ich sie auf, legte sie so auf die Decke, dass Gosch ihren Kopf halten konnte. Ich öffnete den Medi-Koffer und fing an ihre Wunden zu versorgen. Es war verdammt schlimm, acht tiefe Schnittwunden hatte die Geisel alleine im Gesicht. Dem Himmel sei Dank, waren die Augen nicht verletzt. Aber die Verletzungen waren sehr schlimm. Vorsichtig säuberte ich die Wunden, klebte sie ordentlich zusammen, so dass keine schlimmen Narben blieben. Wenn sie eine gute Heilung hatte, dann würde das fast komplett verheilen. Dann kümmerte ich mich um ihre Füße.

"Gosch, die Kleine kommt gleich wieder zu sich. Versuche sie zu halten. Ich will sie nicht noch einmal schlafen legen."

Gosch nickte. Er hatte schon so oft erlebt, dass ich im Akkord Wunden versorgte. Aber Katrin zuckte nicht mal und das, obwohl sie bei vollen Bewusstsein war. Ich glaube sie begriff, dass ich ihr nur helfen wollte. Oder ihr war mittlerweilen alles egal. Über eine Stunde brauchte ich, um all ihre Wunden zu versorgen. Ich hatte bei Geiseln, schon viele schlimme Dinge gesehen. Aber das hier war schon heftig. Nachdem alle Wunden versorgt waren, sah ich mir ihr Gesicht noch einmal an. Es sah schlimm aus. Ich würde dann in der Wache, nachdem Fotos gemacht wurden, das Krantonak anwenden. Sonst würde sie den Rest ihres Lebens entstellt bleiben. Erst einmal gab ich ihr einige Injektionen, den Heiler F28, etwas gegen die Schmerzen, hochdosiert B32, außerdem zog ich N91 auf. Das ich erhitzten musste und ihr nach der Abkühlphase ebenfalls spritze. Zusätzlich gab ich ihr noch Tscenns, ein Mittel das aufbauend wirkte, mit reichlich Nährstoffen und Traubenzucker. Es war jetzt kurz vor 2 Uhr.

"Katrin. Können sie aufstehen?"

Die junge Frau nickte wortlos. Zusammen mit Gosch halfen wir ihr auf und brachten sie zum Heli und flogen dann zum Stützpunkt der Soko zurück. Knapp zwanzig Minuten später landeten wir und trugen sie hinein in den Bereitschaftsraum. Sie musste mit diesen kaputten Füßen nicht mehr laufen. Die Frau hat mehr als genug gelitten. Der Oberst hatte gleich zwei seiner Leute, mit einer Trage zum Helikopter geschickt, um sie dort abzuholen. Wir legten sie, weil der Sanka noch nicht da war, auf eins der Sofas. Der Oberst kam und nahm mich in den Arm, schüttelte den Kopf. Das sagte mehr als die Worte.

"Kahlyn, verdammt ich hab mir Sorgen gemacht."

Ich nickte nur und zog ihn mit in Richtung der Geisel. Ich wollte Katrin nicht so lange alleine lassen.

"Genosse Oberst, Einsatz um 3 Uhr 09 erfolgreich beendet, Sir", meldete ich nach seiner Armbanduhr fassend, korrekt die Beendigung des Einsatzes.

Der Oberst schüttelte immer noch den Kopf.

"Bitte Sir, machen sie Fotos vom Gesicht der jungen Frau, als Beweismittel und das schnell, je länger es so bleibt, umso schwieriger wird es für mich, bitte Sir."

Fleischer lief in sein Büro und holte eine Kamera, von allen Seiten, macht er Aufnahmen von Katrin, um alles zu dokumentieren. Als er fertig damit war, setzte ich mich kurz zu der Geisel.

"Katrin, ich möchte, dass Gosch sie jetzt festhält. Was ich jetzt mache, tut nicht weh, es sieht nur etwas komisch aus. Dafür werden sie, aber keine bleibenden Narben im Gesicht haben. Darf ich das noch für sie tun?"

Katrin nickte und plötzlich lief eine Träne über ihr Gesicht.

"Gosch, bitte, du musst sie richtig fixieren. Ich kann beim Krantonak keine Abwehrreaktionen gebrauchen. Conny, bist du so lieb und hältst ihre Beine. Oberst, sie ihre Arme. Ich habe keine Ahnung, ob sie überhaupt noch in der Lage ist sich zu wehren. Christopher, bitte lösch alle Lampen. Bitte, wirklich alle, vorher kann ich nicht anfangen. Ich sage Bescheid, wenn ich anfange will."

Es wurde stockdunkel im Raum, mehrmals atmete ich tief ein und aus. Viele von denen, die mich noch nicht kannten, wussten nicht, was das sollte. Diskutierten lautstark, was das werden soll. Der Oberst wies seine Leute, im ruhigen und freundlichen Ton zurecht.

"Ruhe, jetzt ist hier absolute Ruhe, verstanden."

Schlagartig wurde es ruhig, das war gut. Nochmals konzentrierte ich mich auf das Krantonak.

"Gosch", sagte ich nur kurz und fing mit der Behandlung an. Begann mit der Heilung der Wunden, fast vierzig Minuten brauchte ich, um alle Wunden in ihrem Gesicht zu heilen, so eine bleibende Entstellung des Gesichtes zu verhindern. Kein bisschen wehrte sich Katrin. Ich schaute ihr in die Augen, ewig dauerte es, bis eine Regung kam. Leider durfte ich ihr Gedächtnis nicht verändern. Liebend gern würde ich das tun. Aber das durfte ich nicht. Ich konnte jedoch ihren Lebensmut verstärken und ihr die Fähigkeit geben erholsam schlafen zu können. Trotz der schlimmen Dinge, die sie erlebt hatte. Auch das Wissen, wie man diese Fähigkeit anwendete, gab ich ihr. Weitere fünfzehn Minuten später, war es geschafft. Das war das längste Krantonak, was ich seit langem gemacht hatte. Ich konnte nicht mehr. Ich schloss die Augen, so wie meine Augen zu waren, fiel ich vom Sofa und war bewusstlos.

Der Oberst, der das kannte, fing mich auf. Zusammen mit Conny, trugen sie mich nach hinten, in eins der Betten. Gosch, der den beiden gefolgt war, blieb bei mir, um mich zu überwachen.

Kurze Zeit später, traf endlich auch der Sanka ein und brachte Katrin ins Krankenhaus. Die Neuen aus der Soko allerdings, hatten viel Stoff für Spekulationen. Die der Oberst sofort vom Tisch fegte. In dem er ihnen viele Dinge über mich erzählte. Gosch, der nach zwanzig Minuten feststellte, dass ich tief und fest schlief, legte sich einfach in das Nachbarbett und schlief auch ein. Kurz nach 6 Uhr erwachte er aus einem erholsamen Schlaf. Wieder setzte er sich an meinem Bett. Gegen halb 7 Uhr, wachte auch ich aus einem erholsamen Schlaf auf. Neben mir saß Gosch und starrte mich an. Das erste, was ich zu hören bekam, war eine große Standpauke

"Verdammt Kahlyn, irgendwann bringst du dich noch einmal um", das zweite war ein Kuss auf die Stirn und die Worte. "Du bist ein Engel", und das Dritte. "Hast du auch so ein Hunger wie ich?"

 

Ich musste lachen, das war Gosch, wie ich ihn kannte. Wir gingen vor zu den anderen, Gosch hatte mir vorher schon meine Brille geholt. Keiner von den Neuen, sagte auch nur einen Mucks. Ich bekam eine riesen Portion, auf Anordnung vom Oberst, der meinte, wenn ich das nicht aufessen, dürfte ich nie wieder bei ihm arbeiten. So war es immer, ich sagte nur.

"Jawohl, Sir. Aber ich habe in Problem, Sir."

Da lachte Oberst Fleischer, mit einem vielsagenden Blick auf meine Füße. "Deine Schuhe sind weg."

Ich nickte und die ganze Bande lachte. "Sir, nein, Sir, ich hab sie aber diesmal nicht verloren. Die hat Katrin noch an, Sir, ich bräuchte auch einen neuen Anzug. Leider hab ich meinen zerrissen. Tut mir leid, Sir."

Der Oberst schmiss sich halb weg vor Lachen. "Das ist mal wieder typisch für dich, Kahlyn. Alles machst du kaputt oder verlierst es."

Da fiel mir ein, dass der Täter ja noch am Baum festgemacht war, aber alle hier gemütlich herum saßen.

"Genosse Oberst, habt ihr vergessen den Typen abzuholen, diesen Russo, Sir?"

Jetzt lachte er noch mehr. "Nein Kahlyn, haben wir nicht, wirklich nicht. Du hast über zwei Stunden geschlafen."

"Wie bitte?" Erschrocken sah ich ihn an.

"Ja aber, wenn ich es mir recht überlege, hätte er ruhig noch ein wenig dort sitzen können. Er hat ganz schön geschrien, als wir dort ankamen", sehr darum bemüht ernst zu gucken.

Ich liebte meinen Oberst. Er war immer für einen Scherz bereit. Conny sah mich immer wieder an. Wollte nun doch endlich wissen, wie es mir ging. So erzählte ich einiges, bekam von allen Seiten gute Ratschläge. Irgendwann wurde mir das alles zu viel. Gosch, der mich schon so lange kannte und auch der Oberst beendeten das Ganze.

"Hört ihr mal auf", bat der Oberst.

Gosch jedoch sah mich prüfend an.

"Kahlyn, was ist los? Komm raus mit der Sprache."

Was hätte ich den sagen sollen. Mir war das alles zu viel, ich war einfach nur fertig. Am liebsten würde ich hier bleiben. Obwohl die Männer, in Gera ja auch nicht schlecht waren. Aber die hier, kannte ich fast alle seit Jahren. Ich tat mich schwer in solchen Dingen, wie Vertrauen und Freundschaften aufbauen. So wie ich es immer machte, wenn ich mit etwas nicht klar kam, zog ich die Beine auf den Sitz und hielt meine Beine umschlungen, so als wenn ich mich selber festhalten würde und fing an zu schaukeln.

"Täubchen, was ist los, komm erzähle es uns."

Ich schüttelte den Kopf. Selbst wenn ich gewollt hätte, es war wie ein Katzenjammer, der in diesem Moment hoch kam. Ich nahm den Kopf auf die Knie und fing einfach an zu weinen. Der Oberst stand auf und zog seinen Stuhl zu mir.

"So schlimm Kahlyn, ist es wirklich so schlimm."

Ich reagierte nicht. Ich versuchte mich krampfhaft zu beruhigen. Nach drei oder vier Minuten zog mich der Oberst einfach in seine Arme.

"Komm schon, beruhige dich erst einmal."

Langsam wurde es besser und ich konnte wieder klarer denken. Vorsichtig drückte ich mich von ihm weg.

"Sir, entschuldigen sie, Sir. Es ist nicht schlimm. Nur ist alles anders, als ich es gewohnt bin, Sir. Ich fühle mich so einsam. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, Sir. Wenn ich hier war, hatte ich die Verbindung ja auch nie. Aber ich wusste, wenn ich nach Hause komme, sind alle wieder da, Sir. Jetzt ist es immer ruhig. Eine Ruhe die richtig weh tut und ich weiß, dass es für immer so bleibt, Sir. Das macht mir Angst. Ich weiß nicht, ob ich damit klar komme, Sir. Das ist so, als wenn sie auf einmal taub wären und nichts mehr hören, absolut nichts mehr, Sir", ich schaute ihn an und zuckte mit den Schultern. "Sir, sie wissen, dass wir es dort nie gut hatten, aber ich will nach Hause, Sir. Ich habe immer dort gelebt und ich will, dass meine Freunde auch wieder dahin kommen, Sir", erneut fing ich an zu weinen.

Fleischer zog mich in seine Arme, damit ich mich wieder beruhigen konnte. "Kahlyn, meine Kleine. Das, was du jetzt gerade erlebst, dieses Gefühl nennt man Heimweh. Das geht vorbei, glaube es mir. Jeder, der von zu Hause ausziehen muss, geht durch diese Phase. Gebe dir ein halbes Jahr. Bitte. Hast du dich in der Zeit, nicht dort eingelebt, dann verspreche ich dir eins. Schau mich an meine Kleine", entschlossen hob er mein Kinn, so wie es Doko, John und Rudi schon so oft gemacht hatten. "Wenn du dich dann immer noch fremd und unwohl fühlst, dann sagst du mir Bescheid, dann fordere ich dich an und nehme dich hier auf."

Eine Welle von Hoffnung, rollte durch meinen Körper. "Wirklich?", fragte ich schniefend.

Oberst Fleischer nickte mir lächelnd zu.

Das gab mir neuen Mut. Es war nur eine Frage der Zeit.

"Kahlyn, ich könnte dich gleich hierher holen. Aber bitte Kleines, verstehe mich. Ich würde dir damit eine Chance nehmen, neue Menschen kennen zu lernen, vor allem ein neues Leben. Ein Leben, was du noch nicht kennst. Es ist wichtig, dass du das lernst, dich immer wieder auf neue Menschen einzustellen. Das gehört zum Leben dazu. Ihr wurdet all die Jahre isoliert, vom normalen Leben fern gehalten. Es ist nicht so, dass ich dich nicht haben will. Aber schau dich hier mal um. Es wäre wie in deiner Schule, du wärst das ganze Jahr, hier isoliert. Du musst aber auch lernen, dass es schönere Dinge im Leben gibt, wie die Gewalt. Wie das, was du tagtäglich in deinem Leben siehst. Du hast keine Ahnung, was eine Disko ist, Kino, Theater, Rummel oder kennst du das?"

Irritiert sah ich ihn an, dann schüttelte ich den Kopf.

"Du weißt nicht mal, was es heißt Frei zu haben oder Urlaub, obwohl du diese Worte kennst. Das ist der Grund, warum ich dich zur Sender Gruppe geschickt habe. Dort lernst du dass alles kenne. Du musst dir nur etwas mehr Zeit lassen. Kleines, du bist noch so jung. Du kannst das allen noch lernen. Auch, wenn es im Moment schwer für dich ist, versuche es wenigstens. Bitte", flehend sah mich der Oberst an, noch einen Versuch unternahm er, um mir klar zu machen, dass das, was ich durchmachte, nichts schlimm war. "Schau mal Kahlyn, wenn du eine Geisel befreist, hast du nie Probleme oder?" Fragend sah er mich an. "Das ist auch ein fremder Mensch für dich…"

Ich unterbrach ihn einfach. "Sir, das ist was anderes, diese Menschen brauchen meine Hilfe und sind in Not. Ohne mich kommen die nicht klar, wie eben diese Katrin, Sir. Das ist etwas ganz anderes, Sir", versuchte ich ihm zu erklären.

Der Oberst nickte. "Ich kann mir vorstellen, dass es für dich schwierig ist, so etwas wie Freundschaft oder Zuneigung zu fremden Menschen aufzubauen. Kleines sieh mal, Gosch, Conny, die anderen und auch ich, waren dir irgendwann auch einmal fremd. Jetzt magst du uns, zeigst uns sogar deine Gefühle. Du lachst mit uns, du weinst vor uns und du schreist sogar den Gosch und mich an, wenn wir nicht spuren. Sachen die vor elf Jahren für dich undenkbar waren. Gib den Jungs in Gera ein bisschen Zeit und vor allen dir."

Oh man, wie oft hatte ich das in der letzten Zeit schon gehört, verlangte ich wirklich zu viel von mir. Ich drückte mich vom Oberst weg, umklammerte wieder meine Knie. Eine ganze Weile saß ich so da und überlegte. Als Conny etwas sagen wollte, schüttelte Gosch den Kopf. Deshalb schwieg er. Der Oberst hatte Recht, ich musste das lernen, sonst passiert mir sowas, wie mit den Puppen immer wieder. Nach einer ganzen Weile sagte ich ganz leise.

"Sir, ich glaube sie haben Recht. Ich muss das lernen und muss mich meinen Ängsten stellen. So wie ich es mit der Puppe von Jenny gemacht habe. Sonst werde ich irgendwann wahnsinnig. Darf ich sie etwas Fragen, Sir?", nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, um die Frage, die mir jetzt schon seitdem ich in Gera war, durch den Kopf schwirrte, endlich los zu werden.

"Kahlyn, du weißt, dass du mich immer fragen kannst, egal was."

Ich holte tief Luft. "Sir, warum hat man das mit uns gemacht, Sir. Ihr seid alle so ganz anders als wir, ihr dürft zeigen, wie ihr euch fühlt und habt ein ganz anderes Leben, wie wir es kennen. Ihr habt…", ich überlege, wie das hieß. "… Familie, nennt ihr das glaube ich. Aber das ist etwas ganz anderes, als wie wir das gelernt haben. Warum durften wir nicht so leben?"

Der Oberst fuhr sich über den Kopf. Das genau war die Frage, auf die er schon seit Jahren wartete. Auf die er keine richtige Antwort wusste und vor der er sich schon immer gefürchtet hatte. Wie nur sollte er mir die Sache erklären. Er wusste ja dass ich nicht dumm war. Aber er wusste auch, dass ich von den normalsten Sachen keine Ahnung hatte und in dieser Hinsicht, wie ein Baby war.

"Oh Kahlyn, wie soll ich dir das erklären? Es gibt genauso, wie es Menschen gibt, wie die Geiselnehmer, überall kranke Menschen. Wie diesen Oberstleutnant und alle, die vor zwanzig Jahren mit dem Projekt Dalinow angefangen haben. Es sind Menschen, meine Kleine, die kein Herz und keine Seele haben. Diese Menschen beschlossen, Supersoldaten zu bauen, also euch, die besser sind als wir. Damit sie Kriege gewinnen können und andere Menschen, dadurch unterdrücken könne."

Ich erschrak heftig über die Worte Fleischers. "Sir, das würde ich niemals machen und die anderen auch nicht, Sir", unterbrach ich ihn.

"Das ist ja das Problem, Kahlyn. Das Projekt Dalinow, ist nicht so gelaufen, wie diese Leute sich das vorgestellt hatten. Ihr seid keine gefühllosen Monster geworden, die ohne nachzudenken, jeden Befehl ausführen. Deshalb gab es auch nur hundert Kinder, wie Euch. Zum Glück. Du weißt selber, wie viele ihr noch seid zehn."

Ich schüttelte den Kopf "Sir, wir sind nur noch neun, Sir. Rina ist schlafen gegangen nach Cuba, sie wollte nicht mehr leben, Sir."

Entsetzt sah mich der Oberst an, das wusste er noch gar nicht. Wütend schüttelte er den Kopf. "Kahlyn, einundneunzig Kinder haben diese Leute auf dem Gewissen und du willst da wieder hin. Wie lange denkst du, dass es dauert, bis es keinen mehr von Euch gibt. Weiß du, was ich manchmal denke."

Ich schüttelte den Kopf.

"Der Oberstleutnant hat versucht, euch alle zu töten. Nicht durch die eigenen Hand. Seine Finger würde der sich nie schmutzig machen. Sondern dadurch, dass er euch ständig zu Einsätzen schickte, die nicht machbar waren. Wo ihr eine hundertprozentige Sterbechance hattet. Ihr habt nicht für umsonst, den Ruf eines Todeskommandos innen gehabt. Aber ihr habt ihm einfach nicht den Gefallen getan. Ihr seid einfach so frech und kommt zwar verletzt, doch immer wieder lebend zurück. Deshalb, ließ er nicht zu, dass ihr euch verbindet, bevor ihr zum Rapport wart. Deshalb schlug er auf eure frisch genähten Wunden. Deshalb gab er euch kaum Nahrung, damit ihr geschwächt in den Kampf zogt."

So hatte ich das alles noch nie gesehen. Er war nicht besser zu uns, wie der Geiselnehmer zu Katrin. Ich versuchte meine Wut zu unterdrücken. Ich musste aufstehen und musste laufen. Ich ließ einfach alle stehen und lief hinaus auf das Gelände. Ich musste alleine sein. Sonst hätte ich jemanden etwas getan. Ich war so voller Wut.

Gosch der mir folgen wollte, wurde von einem scharfen Befehl des Oberst daran gehindert. "Du bleibst hier Gosch. Da muss sie durch. Es tut ihr weh. Aber sie muss das endlich begreifen. Sonst kommt sie dort nie los. Lass sie laufen. Kahlyn stellt nichts an, sie will nur niemanden verletzten. Gosch setzte dich."

Der Oberst hatte ja so Recht. Das Gelände der Soko war riesig. Ich lief eine Weile und blieb bei meinem Lieblingsplatz stehen. Ich blickte in die Ferne, dachte an meine Freunde. Ich setzte mich hin und sah blicklos in die Ferne. In meinen Gedanken, sah ich sie alle vor mir. Ob sie das schon alle begriffen hatten? Wollten sie deshalb nicht mehr zurück? War ich die Einzige, die das nicht sehen wollte? Alles, was der Oberst gesagt hatte, war wahr. Auch fielen mir die Worte ein, die Mayer damals auf dem Stechlinsee gesagt hatte. „… wieder sechs weniger.“ Mir fielen so viele Sachen ein, die das bestätigten. Chile, der Stechlinsee, Rumänien, Vietnam. Wie oft hatte uns der Oberstleutnant zu Einsätzen geschickt, die eigentlich unseren Tod bedeutet hatten. Ich durfte gar nicht an den Einsatz vor zwei Jahren, in Chile denken, neunzehn von uns starben damals. Das war über die Hälfte meiner Leute. Ich konnte absolut nichts dagegen tun. Wir waren danach mehr tot, als lebendig, keiner von uns war unverletzt. Der Oberst hatte monatelang nach uns gesucht und brachte uns hierher. Pflegte uns mit seinem Team wieder gesund. Kaum, dass wir wieder einigermaßen fit waren, mussten wir wieder zu Einsätzen. Beim Einsatz danach, kam ich völlig übermüdet, am Ende meiner Kraft, nicht nur physisch sondern auch psychisch fertig, hier an. Ich unterhielt mich mit ihm, weil er keine Ruhe gab, über diesen schlimmen Einsatz. Da meinte er, eigentlich hätten wir alle sterben müssen. Kein normaler Mensch, hätte das überleben können. Trotzdem fanden wir immer einen Weg zu überleben, mehr oder weniger schwer verletzt. Ich schüttelte mich, mir kam der Einsatz in Rumänien in den Kopf, dort war es genauso gewesen. Die einheimische Polizei, wollte, dass wir stürmen. Hätten wir das gemacht, wären von unseren zweiunddreißig Leuten, die wir damals noch waren, über die Hälfte gestorben. Eine unsagbare Wut, kam in mir hoch.

Warum machten das Menschen, warum nur? Kein Mensch hatte das Recht, jemanden so etwas anzutun. Lange saß ich da und schaute in die Ferne. Ich beschloss, in Gera neu anzufangen, dass was ich dort bekam, als mein Zuhause anzusehen. Ich beschloss auch, den Runges eine Chance zu geben. Schlechter als der Oberstleutnant, konnten die nicht sein. Rudi hatte sich schützend vor mich gestellt, so etwas hätte der Oberstleutnant nie getan. Eins schwor ich mir und meinen Freunden, wenn ich eines Tages, den Oberstleutnant noch einmal in die Finger bekam, würde ich ihn nicht töten, sondern ihn auf meine Weise bestrafen. Ich würde das Krantonak einsetzen, ihm meine schlimmsten Erinnerungen einpflanzen. Das war die einzige Strafe, die gerecht war. Er sollte mit meinen schlimmsten Erinnerungen leben. Den Rest, das wusste ich, würde er dann selber tun.

Ich hatte mich wieder beruhigt und stand auf. Lief langsam, auf das Gebäude der Soko zu. Ich betrat den Bereitschaftsraum und ging auf den Oberst zu. Wie oft hatte ich das schon gemacht. Ich setzte mich auf seine Beine und umarmte ihn.

"Sir, es tut mir leid, ich musste raus, sonst hätte ich etwas getan, was falsch ist, Sir. Aber ich habe nachgedacht, sie haben Recht, Sir. Die Jungs in Gera haben sich eine Chance verdient. Zwei meiner neuen Kollegen, haben ihr Leben riskiert, um mich vor dem Oberstleutnant zu beschützen und alle haben sich ständig Sorgen um mich gemacht, Sir. Ich weiß zwar nicht wie, aber ich werde es versuchen, Sir."

Ich stand auf und setzte mich auf meinen Stuhl, wieder zog ich die Beine an. Ich wusste nicht, wie ich das erklären sollte, was mir noch auf der Seele lag. Aber ich musste es, dem Oberst klar machen.

"Was hast du meine Kleine? Dich bedrückt doch noch etwas. Hast doch noch etwas auf deiner Seele, komm rede mit uns", der Oberst lächelte mich an.

"Sir, ich habe mir eins geschworen, vorhin da draußen. Eines Tages werde ich mich an den Oberstleutnant rächen…"

Der Oberst unterbrach mich. "Kahlyn, Rache ist kein gutes Motiv, es stürzt dich ins Unglück."

Ich nickte, das war mir klar. "Sir, ich werde ihn nicht verletzten, jedenfalls nicht körperlich, Sir. Eines Tages werde ich ihn treffen, dann mache ich ihm ein wunderschönes Geschenk, Sir. Ich schenke ihm, über das Krantonak meine schlimmsten Erinnerungen, Sir. Damit er begreift, durch welche Hölle, wir tausende Male gegangen sind, wegen ihm, Sir. Es ist dann nicht mehr mein Problem, wie er mit diesen Bildern klar kommt, Sir. Wir mussten es auch, für uns lernen, Sir."

Der Oberst schreckte entsetzt zurück. Das hat er nicht erreichen wollen. "Kahlyn…" Weiter kam er nicht.

"Sir, sie wissen nicht, was dieser Mensch uns alles angetan hat, vieles habe und kann ich ihnen gar nicht erzählen, Sir. Erst vorgestern, kam alles wieder hoch, Sir. Sie fragten mich, wieso ich meine Schuhe weggeschmissen habe, Sir? Ich erkläre es ihnen, ich war in Panik, weil ich dachte das die Tochter, vom Polizeirat mit toten Kindern spielt, Sir. Ich rannte weg, Sir."

Entsetzt sah mich der Oberst an. "Wie kommst du, auf so eine irrwitzige Idee?"

Ich kroch in mich zusammen, versuchte mich zu beruhigen. "Sir, es ist keine irrwitzige Idee, es ist eine Tatsache, Sir", ich holte tief Luft und fing an zu erzählen, nur grob nicht ins Detail gehend. "Es war ein ganz einfacher harmloser Einsatz. Aber einer der schlimmsten Einsätze, die wir je hatten. Es war vor ungefähr zehn Jahren…" Als ich alles kurz umrissen habe, holte ich tief Luft. "Sir, deshalb werde ich eine Selbstanzeige machen. Ich will, dass es endlich aufhört, Sir. Vor allem will ich, dass endlich diese Kinder ihre Ruhe finden. Ich bin mir sicher, dass ich erst Ruhe finden kann, Sir, wenn die Kinder beerdigt sind, Sir. Und auch deshalb werde ich das Krantonak anwenden, nur deshalb, für diese Kinder, Sir. Damit nie wieder, jemand so etwas einem Kind an tut, weder das, was man den Kindern antat, noch das, was man uns antat, Sir."

Ich schluckte schwer und sah auf meine Füße. Weil ich selber wusste, dass dies nicht richtig war, deshalb setzte ich noch etwas nach.

"Sir ich hoffe sehr, dass ich dazu nie die Gelegenheit, bekommen werde, Sir."

Ich wusste, dass der Oberst jetzt mit mir gleich über Moral reden würde. Das hatte er oft getan, um mir Fehler, die ich machte zu erklären. Diesmal jedoch tat er es nicht, entsetzt blickte ich ihn an. Das pure Entsetzen, hatte ihn gepackt. Aber, das musste er auch nicht, ich wusste, was er dachte.

"Sir, ich verspreche ihnen, ich denke noch einmal in Ruhe darüber nach. Vielleicht ist das doch der falsche Weg, Sir. Ich hoffe sowieso, dass ich den Oberstleutnant, nie wieder in meinem Leben treffen werde. Das ist für uns beide gesünder, Sir. Eins weiß ich nämlich, ich lasse mich nie wieder von ihm schlagen, Sir. Er hat mir das letzte Mal, Rippen gebrochen. Das letzte Mal hat er mir meinen Stolz verletzt und mich erniedrigt, Sir. Es wird Zeit, dass ich aufstehe und ihm endlich einmal zeige, wer ich wirklich bin, Sir. Wenn ich wieder in Gera bin, werde ich sowieso mit Polizeirat Runge reden müssen. Ich werde diese Selbstanzeige machen, in diesem Zusammenhang, werde ich Oberstleutnant Mayer, wegen Misshandlung Schutzbefohlener und wegen vielfachen Mordes und mehrfach versuchten Mordes anzeigen, Sir. Dann werden wir sehen, ob es auch für uns Gerechtigkeit gibt, Sir. Da bin ich mir, nämlich nicht so sicher, Sir."

Der Oberst hatte sich gefangen, obwohl er das Gehörte noch nicht verarbeitet hatte, beugte sich hinüber zu mir und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

"So machst du das Richtig, Kahlyn. Selbstjustiz ist nicht der Richtige Weg. Wenn du aber, das Krantonak gegen ihn einsetzt, ist das Selbstjustiz."

So hatte ich das nicht gesehen, also blieb mir nur der eine Weg, den würde ich auch gehen.

"Sir, sie haben recht, Sir. Manche Entscheidungen, sollte man doch überdenken. Aber wissen sie, es ist manchmal so schwer, klar zu denken. Vor allem, wenn man so eine verdammte Wut und so viel Hass im Bauch hat, wie ich zurzeit. Danke, dass sie mir immer helfen, klar zu denken und einen besseren Weg zu finden, Sir. Sonst hätte ich einen schlimmen Fehler gemacht. Schließlich sind wir da, um Verbrecher zu stellen und nicht um Selbstjustiz zu machen, Sir. Danke, Sir."

Die neuen Mitglieder der Soko, schüttelten den Kopf. So etwas hatten sie in ihrem Leben, noch nie erlebt. Es war ihnen unverständlich.

"Sir, ich glaube, sie werden mich, wohl immer nur in Notfällen holen können. Ich werde es in Gera erst einmal versuchen, Sir. John, Rudi, Jens, Detlef, Raphael und all die anderen deren Namen ich noch nicht kenne, haben es verdient, Sir. Außerdem denke ich, kann ich ihnen vielleicht noch etwas lernen oder Sir? Ganz schlecht bin ich ja nicht, Sir", erklärte ich ihm mit einem Anflug eines Lächelns.

Gosch schlug mit dem Kopf, auf die Tischplatte, dass es nur so knallte. "Oh nein Kahlyn, Täubchen, das ist jetzt nicht dein Ernst oder?", er sah mich verzweifelt an, dann den Oberst.

Ich verstand nicht, was er meinte. Das passierte mir so oft, er sagt etwas, ich verstand die Worte. Aber sie ergaben für mich keinen Sinn.

"Gosch, ich habe das ernst gemeint. Habe ich etwas Falsches gesagt?", zweifelte ich an mir.

Jetzt fing der Oberst an zu lachen, ich verstand gar nichts mehr. Verwirrt sah ich von einem zum anderen. Manchmal waren die Leute hier schon komisch.

"Täubchen, du bist nicht ganz schlecht, du bist nicht gut, Kahlyn, mein Engel mit den orangenen Augen, du bist spitze. Jeder der hier im Raum sitzt, ist mindestens zehn Jahre älter als du. Aber du kannst uns allen, noch etwas beibringen und wenn es Anstand und Einsicht ist. Täubchen, du bist oft so genial. Keine von uns hätte diesen …" Gosch wollte das böse Wort mit A nicht sagen. "… diesen Täter gefunden, wirklich keiner. Wir haben uns hier mit der Spurensicherung unterhalten, als das schlimme Unwetter tobte. Die waren fassungslos, dass du diese Spur gefunden hast. Du weißt gar nicht, was du für eine Bereicherung bist. Ohne dich, wäre diese Katrin, wahrscheinlich tot. Und hätten wir sie retten können, wäre sie für den Rest ihres Lebens entstellt." Er wuschelte mir über den Kopf. "Täubchen, gucke nicht so, das ist die Wahrheit oder was sagt ihr? Man, sagt doch auch mal was."

Hilfe suchend sah er zu seinen Kollegen an, die alle nickten. Viel zu beschäftigt, damit das eben Gehörte zu verarbeiten, als dass sie in der Lage waren, zu sprechen. Nicht jeder konnte, wie der Oberst und Gosch, die beiden erfahrensten Kämpfer, sofort wieder zur Tagesordnung übergehen. Dazu gehörte eine gewisse Abgeklärtheit und Lebenserfahrung. Etwas das die jüngeren Mitglieder der Truppe, noch nicht hatten.

"Siehst Täubchen, die denken genauso."

Da lachte ich ihn an. "Gosch, du weißt doch, dass sich hier keiner traut, dir zu wieder sprechen", sagte ich einfach eine Gefühl folgend.

Der Oberst fing schallend an zu lachen.

Conny kam um den Tisch und zog mich in seinen Arm. "Du bist, wie immer absolut ehrlich. Keiner würde sich trauen, mein Engelchen, dem Gosch zu wiedersprechen, wenn es um dich geht. Aber Kahlyn, wenigstens hast du nicht auch weiße Haar bekommen, bei dem, was du erlebt hast", liebevoll gab er mir einen Kuss auf die Stirn. "So ihr lieben, ich lege mich jetzt hin. Ich habe morgen noch einen Einsatz. In fünf Stunden werde ich abgeholt. Also Engelchen, wir sehen uns bestimmt bald wieder. Halte die Ohren steif", ein letztes Mal drückte er mich noch und verschwand in Richtung Ruheräume.

"Du auch Conny und denke dran, nimm den Kopf immer runter", rief ich ihm nach. "Gosch, wenn wir hier fertig sind, würde ich dann gern nach Hause wollen, bitte. Wenn ich nicht mehr gebraucht werde, Sir?"

Gosch stand auf, auch der Oberst.

"Mach's gut meine Kleine, den Bericht schreibe ich wie immer?"

Ich nickte.

"Dann Gosch ab mit euch und danke Kahlyn, für die gute Arbeit, bis zum nächsten Mal. Rufe an, wenn etwas ist, versprich mir das", Oberst Fleischer nahm mich in den Arm und ich nickte.

"Sir, bis zum nächsten Mal, Sir. Danke noch mal für alles, Sir."

Entschlossen gingen wir Richtung Tür und weiter zum Heli. Endlich nach Hause, ich setzte mich neben Gosch und schnallte mich an. Der reichte mir eine Flasche mit Wasser, die ich dankend annahm. Es tut gut zu wissen, dass ich jetzt ein neues zu Hause hatte. Irgendwie freute ich mich auf Gera, vielleicht nahm mich Rudi, ja wieder einmal mit in den Park.

"Gosch, bist du böse, wenn ich noch etwas schlafe? Die letzten Tage, haben mich einfach fertig gemacht und bei dir fühle ich mich sicher."

Gosch griff zu mir herüber und streichelte mir mein Gesicht. "Täubchen, das glaube ich dir gerne. Du hast zwei Stunden."

Ich rollte mich zusammen und nahm mir vor, eine Stunde zu schlafen. Diesmal wollte mein Körper einfach mehr Schlaf. Gosch weckte mich, als wir noch fünfzehn Minuten Flugzeit hatten.

"Kahlyn, du solltest langsam munter werden, wir sind in einer viertel Stunde da."

 

Ich setzte mich auf und stellte die Lehne hoch. Der arme Gosch. "Warum hast du mich nicht eher geweckt?"

Gosch lächelte mich an. "Täubchen, du hast so ruhig geschlafen. Das hätte mir in der Seele leid getan, dich zu wecken."

Ich zog die Beine auf den Sitz und lehnte mich gegen die Tür, etwas was Gosch nicht gerne sah.

"Gosch, gucke nicht so, ich bin doch angeschnallt. Sag mal, was machst du, wenn du frei hast? Die haben in Gera so ein komisches System mit Frei, Bereitschaft und Dienst. Ich kapiere das System irgendwie nicht", erklärte ich achsenzuckend.

"Täubchen, das ist ganz einfach zu erklären. Du und ich, wir haben Dienst, der Oberste eh, der ist mit seinem Job verheiratet. Ich glaube der macht sogar, seinen Urlaub in der Soko. Wenn du Bereitschaft hast, kannst du eigentlich alles machen, was du auch machst, wenn du frei hast. Nur, dass du immer erreichbar sein musst. Wenn du Frei hast Kahlyn, dann kannst machen, was du willst, kannst weg fahren oder sonst was machen."

Ich verstand nur Bahnhof. "Gosch, ich verstehe deine Worte, aber ich verstehe nicht, was du mir erzählst."

Jetzt war es an Gosch tief Luft zu holen. "Täubchen, was machst du besonders gerne?"

Versuchte er das Pferd, von hinten aufzuziehen. "Schlafen und essen", antwortete ich, weil es das erste war, was mir einfiel.

"Das ist nicht dein Ernst, was noch Täubchen."

Ich überlegte, was ich noch alles gern machte. "Nahkampftraining, Kampfschwimmen, Schießübungen, na eigentlich alles."

Gosch verzweifelte, deshalb versuchte er von einer anderen Seite heran zu gehen. "Täubchen, was habt ihr gemacht, wenn ihr mal ganz viel Zeit hattet und nicht im Kampf wart?"

"Geduscht und dann geschlafen und wenn wir etwas bekommen haben, etwas gegessen."

Gosch war verzweifelt. Jetzt dachte er, dass er Kahlyn schon so lange kannte, aber er kannte sie doch immer noch nicht.

"Täubchen, ich habe keine Ahnung, wie ich dir Frei erklären soll. Es ist etwas, was du nicht kennst. Am besten wartest du ab, was passiert, wenn du mal nicht arbeiten musst. Ich denke langsam, dass du das wirklich nicht kennst."

Jetzt war ich noch verwirrter als vorher, deshalb nahm ich mir vor, John einmal zu fragen.

"Täubchen, wir sind gleich da. Soll ich landen?"

Ich schüttelte den Kopf und kippte die Rücklehne nach hinten, schnallte mich ab. Kletterte in den hinteren Bereich, wo immer noch meine Waffen lagen. Schnallte mir alles um, dann beugte ich mich nach vorn und gab meinem Drachenflieger einen Abschiedskuss.

"Pass gut auf dich auf und grüße die Jungs noch einmal von mir."

Gosch besprach gerade die Absperrung. "Das mache ich doch glatt. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder. In zwei Minuten kannst du raus. Auf welche Höhe soll ich gehen, Täubchen, da unten ist keine Wiese", besorgt sah er mich an.

"Schon gut Gosch, ich bin das gewohnt. Auf acht Meter, ich geb dir Zeichen. War schön mit dir, bis bald mal."

Beim letzten Wort öffnete ich die hintere Tür und kletterte wieder auf die Kufen, so wie ich es schon hunderte Male gemacht hatte. Ich schloss die Tür und gab Gosch das Zeichen für den Absprung. Langsam glitt ich mich nach unten und schaukelte kurz, dann ließ ich mich in einer Rolle fallen. Unten angekommen, machte ich unser Zeichen für den Abschied. Eine geschlossen Faust, die das Herz berührte und von den Lippen geküsst wurde. Dann streckte sich der Arm zum Heli. Gosch zog hoch und wackelte zum Abschied kurz mit dem Heli, schon war er weg.

Ich war zu Hause. Sofort räumte ich die Kreuzung und lief hinein in die Wache. Ging in die Wachstube um mich dort ordentlich wieder anzumelden. Denn dort hatte ich mich ja schließlich auch abgemeldet. So wie ich es jahrelang gemacht hatte, so machte ich das auch jetzt.

 

 

Kapitel 10

John erwachte am Montagmorgen, es war kurz nach 4 Uhr in der Früh: Nach einem tiefen, erholsamen und über zehnstündigen Schlaf. Er streckte sich und stand auf, um nach seiner kleinen Freundin zu sehen. Hoffentlich hatte sie sich ein wenig erholt. An ihrem Bett angekommen war es leer. Na vielleicht war sie in ihr Bett gegangen, weil sie da besser schlafen konnte. Allerdings war das Bett auch leer. Verdammt nochmal, wo war Kahlyn schon wieder hin. Leise, um die anderen nicht zu wecken, ging er nach draußen. Alles dunkel, na gut Kahlyn brauchte ja kein Licht, also tastete er sich vorwärts. Im Bereitschaftsraum angekommen rief er.

"Kahlyn bist du hier?", es kam keine Antwort. Also griff er nach dem Lichtschalter, um etwas besser sehen zu können. Auf einem der Sofas, lag Raphael mit einem Buch in der Hand, der beim Lesen eingeschlafen. Aber von Kahlyn war nichts zu sehen. John lief in die Dusche, Toilette, sogar in das Besprechungszimmer, dann nach vorn in die Wachstube. Dort angekommen, erkundigte er sich bei der Nachtschicht, ob sie wüsten, wo Kahlyn steckt? Was er da zu hören bekam, haute ihn fast von den Socken. Sie wäre im Einsatz erzählte man ihm.

"Wie im Einsatz?"

Ja sie wäre gestern, kurz vor 22 Uhr mit einem Heli, abgeholt wurden. John glaubte falsch gehört zu haben. Er konnte nicht fassen, was er hier erfuhr. Wann sie wieder kommen würde? Wissen wir doch nicht, wir bekamen keine Informationen. Da reichte es John wirklich und er sprang, aus Sorge um seine junge Kollegin, aus dem Anzug.

"Sagt mal Jungs, ist das nicht eigentlich so, dass die Teamleiter zu entscheiden haben, wer, wann und wo einen Einsatz hat. Dass wir wenigstens, davon unterrichtet werden, wenn eins unserer Teammitglieder wegbeorderte wird?"

Wachtmeister Kai Nowotie, der erst neu auf der Wache war, zuckte mit den Schultern.

"John, der Major hatte klare Instruktionen gegeben, dass nur diejenigen zu wecken sein, die zum Einsatz müssten. Oliver sagte mir, er habe Oberst Fleischer gefragt, ob er den Major wecken soll. Aber dieser meinte das bräuchte er nicht machen, der wüsste Bescheid. Also pflaume mich gefälligst nicht an. Sondern regele dass mit Oliver oder mit diesem Oberst. Ich war überhaupt noch nicht da, als diese Kahlyn weg ist."

John sah seinem Kollegen an, dass der sich zu Unrecht gemaßregelt fühlte. "Ist schon gut Kai. Tut mir leid, ich wollte dich nicht an pulvern. Ich war nur erschrocken, weil ich das Mäuschen nicht gefunden habe. Sagt ihr uns Bescheid, falls ihr etwas von ihr hört. Ich mache mir echt Sorgen um die Kleine."

Der Wachtmeister nickte "Klar mache ich doch gern. Ich hab ja von Oliver gehört, was gestern bei euch wieder los war. Weißt du ich verstehe einfach nicht, was das für ein Mädchen sein soll. Du Oliver hat mir erzählt, wie sie weg ist. Er war noch total von der Rolle. Das kannst du mir glauben. Die kam hier vor mit Schwertern, einem Gurt voller Messer und barfuß. Dann setzte sie sich auf den Tresen und war drei Minuten überhaupt nicht ansprechbar. Vor allem stand sie nach den drei Minuten auf und ging ohne ein Wort zu sagen raus. Oliver wollte gucken, wo sie hinläuft. Du der war noch total von der Rolle und durcheinander, wie er mir das erzählt hat. Sie blieb kurz an der Treppe stehen, machte dem Piloten der grade landen wollte, ein Zeichen und lief auf die Straße. Dann in einer Geschwindigkeit los, die du dir nicht vorstellen kannst. Sprang vielleicht neun oder zehn Meter, bevor sie unter dem Heli war, einfach in die Höhe. Der Heli war wie Oliver sagte, so circa sieben oder acht Meter über dem Boden und diese Kahlyn griff einfach nach den Kufen des Hubschraubers. Das musst du dir mal vorstellen sieben oder acht Meter. Du weißt John, ich kann auch einen Hubschrauber fliegen, ich war ja bis vor kurzen Pilot bei den Gebirgsjägern, hab nur meiner Frau zu liebe dort aufgehört. Aber das geht nicht, John, das geht einfach nicht. Man kann auf diese Weise keinen Hubschrauber besteigen, da kommt dir jeder Hubschrauber runter. Oliver meinte, der Heli hätte etwas hin und her gewackelt und ist sofort los geflogen. Ich überlege die ganze Zeit, wie das gehen soll. Es würde nur gehen, wenn der Pilot genau wusste, was auf ihn zukam. Dazu gehört viel Übung, so einen Ruck auszugleichen. Das heißt, die beiden müssen dass schon öfter gemacht haben, sonst wäre das hier auf der engen Kreuzung nicht machbar. Weißt du wegen der Oberleitung, der hat nur etwas mehr als vier Meter Spielraum gehabt und das ist wirklich nicht viel."

John hörte gespannt zu. "Wie hoch gesprungen und an den Kufen festgehalten", John konnte sich nicht vorstellen, was Kai meint.

"Na halt so, als wenn du an ein Reck springst. Dann hat sie sich hochgestemmt und ist als der Pilot schon am Wegfliegen war, in den Hubschrauber eingestiegen. Weißt du, was dort oben für Kräfte wirken, die Kleine muss eine wahnsinnige Kraft haben. Oliver jedenfalls, war total durch den Wind, als ich kam."

John begriff immer noch nicht, was Kai ihm da erzählte. Aber er konnte sich vorstellen, dass das wirklich passiert war. Nachdem, was er bei dem ersten Einsatz gesehen hatte, war er nahe daran, alles über Kahlyn zu glauben. Die Nahkampfausrüstung von ihr hatte er ja gesehen, wenn sie die mitgenommen hatte, dann sah das bestimmt nicht schlecht aus. Insgeheim musste er grienen, bei der Vorstellung wie Kahlyn in voller Nahkampfausrüstung aussah.

"Na ist gut Kai. Sag einfach Bescheid, wenn ihr etwas erfahrt, bis später. Ich weiß nur nicht wie Rudi auf diese Nachricht reagiert. Ich glaube der flippt gleich komplett aus. Das ist etwas, dass er für den Tod nicht ausstehen kann. Wenn man ohne ihn zu informieren, seine Leute irgendwo anders einsetzt."

Damit verließ John die Wachstube und ging nach hinten, um in Ruhe zu duschen. ‚Höre auf dir Gedanken zu machen, du weißt doch wie schnell Kahlyn wieder auf den Füßen ist,‘ sagte er sich immer wieder. Allerdings konnte die Worte die er an sich selber richtete, ein Rest Sorge nicht vertreiben. Kurz nach 5 Uhr kamen nach und nach auch die anderen aus dem Schlafsaal und versammelten sich vorn am Tisch. Rudi, der gleich duschen gegangen war, kam nach dem Duschen vor in den Bereitschaftsraum und sah sich suchend nach seinem Sorgenkind um. Als er John sah fragte er ihn.

"John, wo ist Kahlyn?"

Der Sanitäter stand auf und zeigte in die Richtung von Senders Büro. Ging nach hinten und Sender folgte ihm verwundert.

"John, wo ist Kahlyn?", wiederholte er seine Frage, in einem mehr als gereizten Ton und reichte seinem Freund einen Kaffee.

"Rudi, setze dich, Kahlyn ist nicht da. Sie wurde gestern Abend, kurz vor 22 Uhr zu einem Sondereinsatz geholt."

Rudi starrte seinen Stellvertreter ungläubig an. "Wie bitte was wurde sie? Wieso und warum hat mich keiner informiert? Verdammt noch mal."

"Rudi, du hattest Felix die strikte Anweisung gegeben, dass er bei Alarm nur diejenigen wecken soll, die davon betroffen sind, das war nun mal nur Kahlyn. Oliver hat alles mit einem Oberst Fleischer abgeklärt. Der meinte du wüsstest Bescheid."

Rudi machte ungläubige Augen. "Mit Oberst Fleischer? Was bitte hat die Soko Tiranus mit Kahlyn zu tun?"

John zuckte unwissend mit den Schultern, er kannte keine Soko Tiranus.

"Kennst du die?" Antwortete John mit einer Gegenfrage.

"Klar kenne ich diese Soko. Ich wollte sogar vor einigen Jahren einmal zu diesem Team. Habe es mir aber anders überlegte. Na ja weger der Runges. Du weißt ich hänge sehr an meiner Familie und wäre ich zur Soko gegangen, hätte ich sie kaum noch gesehen. Bei denen ist Urlaub und Frei ein Fremdwort, weil die mit Einsätzen überschüttet werden", informierte Sender seinen Stellvertreter, der noch gar nicht solange hier beim SEK61 war, starrte dann kurz grübelnd in die Kaffeetasse. "Ich hatte auch schon einmal mit denen einen Einsatz. Das ist eine Einheit, die dem Ministerium für Staatssicherheit unterstellt ist. Und immer nur für ganz bestimmte, vor allem aussichtslose Aufträge geholt wird. Dieses Team ist einfach spitze und hat den Ruf, die Kaderschmiede für Führungskräfte zu sein. Einige SEK Teamleiter wurden dort ausgebildet unter anderem, der Leiter des Kürschner Teams in Rostock, die müssen dort einen ausgezeichneten Trainer haben. Was die machen, da bleibt einen die Luft weg. Vor sieben oder acht Jahren, das war kurz bevor du zu uns gekommen bist, hatten wir mal mit denen zu tun, weil wir einen Fall nicht alleine zu Ende gebracht hätten. Aber ich verstehe nicht, was die Soko mit Kahlyn zu tun hat. In ihrer Akte habe ich davon nichts gelesen."

John machte ein Gesicht, das klar und deutlich zeigt, dass er keine Ahnung davon hatte. "Rudi, das kann ich dir nicht sagen. Aber die müssen öfter mir Kahlyn zu tun haben. Jedenfalls, nachdem, was Oliver dem Kai erzählt hat. Kennt zu mindestens der Pilot, unsere Kahlyn mehr als nur genau. Der musste nicht mal landen…" Genau er zählte er Rudi das, was Kai ihm gerade gesagt und erklärt hat.

Sender schüttelte den Kopf. "Na die kann sich was anhören, wenn sie wieder kommt. Die kann doch ohne meine Erlaubnis, nicht einfach die Wache verlassen. Ich denke die Kleene schläft, dabei ist die schon wieder im Einsatz. So geht das nicht, echt mal."

John ahnte Unheil auf Kahlyn zukommen. "Rudi, das Mäuschen kann da doch nichts dazu. Die handelt einfach, wie sie es seit Jahren gewohnt ist. Woher soll sie wissen, dass sie hier vorher jemanden Bescheid sagen muss. Die wird dir nur genau erklären, wie es mit der Rangfolge verhält. Du Major, der andere Oberst, sie bekommt einen Befehl von einem Ranghöheren und der ist bindend. Du weißt doch, wie geradlinig das Mäuschen denkt. Pass auf, dass du nicht alles Vertrauen kaputt machst, wenn du sie anpfeifst. Rede normal mit ihr und erkläre ihr, dass du das nächste Mal geweckt werden willst. Egal, was die in der Wachstube sagen."

Sender war wütend und dadurch für nichts zugänglich. Wenn er eins wie die Pest hasste, war es die Tatsache, wenn man ohne sein Wissen seine Leute abzog und einfach, wo anders einsetzte. Zu oft hatte er dadurch schon gute Leute verloren, wie vor einiger Zeit Charly. John hatte damals nur durch einen Zufall überlebt.

"Warten wir's ab", sagte Rudi mit einer unterdrückten Wut, die John nicht entging.

John war nicht wohl dabei, er kannte seinen Freund. Hoffentlich riss er die Kleine nicht in Stücke, wenn sie wieder kam. "Rudi, denke daran, wie sensibel Kahlyn oft reagiert. Aus ihrer Sicht, hat sie nichts Falsches gemacht. Wenn du sie ungerecht behandelst, fällt sie vielleicht wieder in einer Blockade. Du weißt, wie sie reagiert hat, als wir sie gesund ins Bett geschickt haben. Kannst du dir vorstellen, wie sie reagiert, wenn du sie jetzt für eine Sache rügst, die sie überhaupt nicht beeinflussen konnte. Jedenfalls nicht aus ihrer Sicht", ernst sah er zu Sender.

"Ist gut John, ich hab's kapiert. Komm, gehen wir frühstücken."

Entschlossen sich auf keine weitere Debatte einzulassen, stand Rudi auf. John wusste, dass Sender nicht mehr mit ihm darüber diskutieren wollte. Aber das Thema war in seinen Augen nicht gut abgeschlossen, hoffentlich dachte Rudi noch einmal darüber nach. John hatte keine Lust, dass es der Kleinen wegen Sender impulsiven Charakters, wieder schlechter ging. Die hatte genug durch für eine Woche erlebt. Besorgt sah er Sender nach und ging dann auch aus dem Büro. Vorn hatte Fran schon das Frühstück fertig. Fragend sah er John an.

"Weckst du Kahlyn oder soll ich ihr später etwas machen?"

Der schüttelte den Kopf. Bevor John etwas sagen konnte, polterte Sender schon los. Der Teamleiter war immer noch wütend, dass man ohne seine Zustimmung einfach seine Leute hier wegholt. "Kahlyn, ist nicht da. Keine Ahnung, wann sie wiederkommt. Sie ist bei einem Sondereinsatz."

Oh je, dachten viele der am Tisch Sitzenden, da hatte einer richtig schlechte Laune. Etwas, dass bei Sender ganz selten vorkam, aber doch ab und an mal passierte. Also widmeten sich alle schweigend ihrem Frühstück. Kaum das Sender fertig war, stand er auf und verließ wortlos die Wache, alle wussten, dass er raus in den Park ging. Das war vielleicht besser so. Jedenfalls konnte sich Rudi dort richtig abreagieren. Kaum hatte Sender den Raum verlassen, schwatzten und lachten die Männer wie gewohnt. Selbst Raphael, lachte wieder mit. So ging man zum Alltag über. Was blieb einen auch anders übrig. Eine Stunde später, kam Sender zurück. Zum Glück er hatte sich beruhigt. Unterm Arm trug er zwei dicke Ordner.

"In einer Stunde Konditionstraining. Ab Mittag habt ihr Freizeit. Um 15 Uhr machst du eine Taktikschulung, John. Ich habe das hier durchzuarbeiten. Zieht euch nicht zu warm an, es ist draußen schon bullig heiß."

Damit ging Rudi in sein Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch. Entschlossen griff er nach dem Hörer und rief seinen Freund Runge an.

"Büro Polizeidirektion Gera, Sekretariat Polizeirat Runge, was kann ich für sie tun. Unterwachtmeister Müller am Apparat", meldete sich Inge, Runges Sekretärin.

"Inge hier ist Rudi, kann ich Jo bitte mal kurz haben? Ich muss ihn etwas fragen."

"Tut mir leid Rudi, Jo ist für zwei Tage in Berlin, die haben Stabsitzung. Soll ich ihm etwas ausrichten oder soll ich ihm nachtelefonieren."

„Verdammter Mist“, schimpfte Rudi leise vor sich hin. Es kam mal wieder alles zusammen, schoss es Sender durch den Kopf. "Nee Inge, es ist nichts Wichtiges. Ich wollte eigentlich nur etwas wissen, wegen seines Geburtstags. Kannst du mir einen Tipp geben, was er sich wünscht? Durch die Aufregung mit der Kleenen, ist mir das alles aus der Hand geglitten."

Inge lachte, sie konnte sich gut vorstellen, was bei Sender zurzeit los war. Runge hatte ihr einiges von dem erzählt, was geschehen war, als er heute früh im Büro erschien. "Tja, du weißt doch Rudi, Jo liebt Gedichtbände, soviel ich weiß, würde er sich über ein Buch von Eugen Roth sehr freuen. Er liebt dessen trockenen Humor. Aber sag mal, wie geht es dieser Kahlyn eigentlich? Jo hat mir erzählt, was passiert ist. Es muss ja grauenvoll gewesen sein."

Rudi strich sich durch die Haare. "Ja, das war es auch Inge. Noch ein paar solche Tage und ich bin schneeweiß."

Inge lachte, genau das hatte Jo heute früh auch gesagt.

"Inge, Kahlyn ist zu einem Einsatz. Ich denke mal ihr wird es gut gehen. Obwohl ich mir da nicht mehr so sicher bin. Seit dem ich weiß, dass sie den letzten Einsatz trotz hohen Fieber gemacht hat. Vor allem eine Leistung erbracht hat, dass uns allen der Unterkiefer nach unten geklappt ist. Aber mittlerweile weiß ich auch, dass Kahlyn sich schneller als wir erholt. Na warten wir es ab."

Aha daher weht der Wind, von wegen du willst wissen, was Jo zum Geburtstag will, dachte sich Inge. Sender war ihr schon einer. Aber so einfach konnte sie ihn nicht austricksen. Erwischt mein Freund, mir kannst du so schnell nichts vormachen.

"Na und du wolltest jetzt von Jo jetzt wissen, wo sie steckt. Du machst dir Sorgen, stimmt’s?"

Sender lächelte etwas gezwungen. Inge kannte ihn halt zu gut. "Ja du hast Recht. Inge, ich wollte Jo fragen, was er darüber weiß. In ihren Unterlagen steht nichts von einer Verbindung mit der Soko Tiranus. Soviel ich weiß, nehmen die doch nur ausgesuchte Leute in ihre Einheit auf und seit einigen Jahren, sind die doch auch fest stationiert. Das hat der feine Oberstleutnant aus dieser komischen Schule, mal ausversehen vergessen, zu erwähnen", wütend schlug Sender auf den Tisch. Schon wieder, kam die kalte Wut in ihm hoch.

"Tut mir leid Rudi, darüber kann ich dir nichts sagen. Ich schau mal, ob ich etwas in den internen Unterlagen finde, von dieser Kahlyn. Wenn ich etwas finde informiere ich dich."

"Das brauchst du nicht, ich rede mit Kahlyn, wenn sie zurück kommt. Aber danke Inge. Dann mach es mal gut, ich muss zum Training mit den Jungs. Bis die Tage mal."

Sender legte er auf und lief zu seinem Spind, um sich umzuziehen. Rudi ging zum normalen Tagesablauf über. Alles andere würde auch nicht viel nutzen. Schlussendlich kam Kahlyn, wenn er jetzt verrücktspielte auch nicht eher zurück. Eins nahm er sich vor, er würde ihr, egal was John sagte, die Ohren lang ziehen. Das konnte sie nicht einfach machen. Er starb hier vor Sorge um sein kleines Mädchen, nur weil sie einfach so verschwand.

Die Zeit verflog wie im Fluge, da Rudi viel zu tun bekam. Kurz vor 23 Uhr allerdings wurde Rudi Sender langsam aber sicher nervös. Kahlyn war immer noch nicht zurück vom Einsatz. Über einen Tag war sie nun schon unterwegs. Hoffentlich, so ging es Rudi immer wieder durch den Kopf, war ihr nichts geschehen. Vorn im Bereitschaftsraum war eine Stimmung, wie das Wetter das draußen vor den Fenstern, seit heute Nachmittag herrschte, trübe und bedrückend.

Entschlossen klappte Sender die Ordner zu und fuhr sich gestresst durch die Haare. Der Major würde seine Männer jetzt lieber ins Bett schicken. Morgen Nachmittag, hatten sie einen harten Einsatz vor sich. Schade das Kahlyn immer noch nicht zurück war. Der Major hätte die Kleine gern dabei gehabt. Sie wäre bestimmt eine sehr gute Hilfe gewesen. So richtig, kam er mit der vorgeschlagenen Taktik nicht klar. Hier war irgendwo ein Fehler versteckt, aber er kam einfach nicht dahinter, was an dieser Taktik falsch sein sollte. Sender stand auf und lief vor zu seinen Leuten. Das Team von Serow hatte Rudi heute nach Hause geschickt, damit wenigstens eins der Teams wieder etwas zur Ruhe kam. Da Sender wusste, dass er bei diesem Einsatz mit einem anderen Team zusammenarbeiten musste. Der Major brauchte daher sein Bereitschaftsteam nicht und konnte seine eigenen Leute freigeben. Die hatte es bitter nötig. Die Ruhe würde den Jungs gut tun.

Den bevorstehenden Einsatz führte ein gewisser Cornelius Lange an. Wenn Rudi ehrlich war, dann war er auf diesen noch sehr jungen Teamleiter gespannt. Er hatte schon verdammt viel Gutes, über den Leiter des SEK 17 gehört. Er war mit nur knapp zweiundzwanzig Jahren, frisch von der Polizeischule in ein SEK Kommando gekommen. Keine Ahnung, wie er das zustande gebracht hatte. Normalerweise, wurde man da erst mit fünfundzwanzig Jahren in diese spezielle Ausbildung aufgenommen und trainiert. Jo hat ihm einiges über Lange erzählt. Der Polizeirat schwärmte regelrecht von dem jungen Kollegen. Behauptete, dass Lange ein überragender Taktiker wäre und einen spitzen Ausbilder gehabt hätte. Lange würde seit vier Jahren die komplette SEK-Teamleitung in Colbitz17 inne haben und hätte Erfolgsquoten, von denen andere Teams nur träumen könnten. Er freute sich darauf, diesen jungen Mann endlich einmal persönlich kennen zu lernen.

Sender sah sich im Bereitschaftsraum um und beobachtete einen Moment seine Teammitglieder. Alle sahen immer noch irgendwie geschafft aus. Deshalb setzte er sein Vorhaben sofort um und scheuchte seine Leute in die Kojen.

"So Leute, ab in die Betten. Morgen haben wir einen verdammt schweren Tag vor uns. Morgen früh fällt das Training aus und wir machen nur leichtes Lauftraining. Also meine Herren, Schluss für heute."

Ohne Diskussion und Murren erhoben sich die Männer und zogen sich in den Schlafraum zurück. John sah Sender an.

"Hast du noch einen Moment?"

Sender nickte.

Gemeinsam kehrten sie zurück ins Büro zurück.

"Was ist los John?"

Sender setzte sich auf die Tischkante seines Schreibtisches und griff gewohnheitsgemäß zu seiner Tasse.

"Rudi, mir lässt die Sache mit Kahlyn keine Ruhe. Bitte, wenn sie wieder da ist, dann schnauze sie nicht gleich an. Rede vernünftig mit ihr. Ich kenne dich, Rudi. Ich weiß wie sauer du bist."

Sender sah John an, so hatte der noch nie mit ihm gesprochen.

"John…"

Diesmal jedoch ließ ihn sein Sanitäter nicht zu Wort kommen und unterbrach ihn einfach.

"Nicht, John. Ich kenne dich schon lange genug Rudi. Ich weiß genau, wenn du am Kochen bist. Bei den Anderen würde ich nie etwas sagen, die halten das aus. Aber bei Kahlyn, bin ich mir da im Moment nicht so sicher. Du weißt, Kahlyn liegt mir besonders am Herz..."

Jetzt unterbrach ihn Sender. "Mir wohl nicht", wurde dieser sofort wieder wütend.

"Das habe ich nicht gesagt, Rudi. Aber ich habe Angst, dass du durch eine falsche Wortwahl oder einen unbedachten Satz, all das, was wir mit dem Mäuschen aufgebaut haben, wieder zunichtemachst. Kannst du das nicht verstehen?"

Sender konnte das sehr wohl verstehen. Vor allem das John einen Narren an der Kleinen gefressen hatte. Nur war Rudi der Meinung, dass auch eine Kahlyn lernen musste, mit solchen Situationen klar zu kommen. Rudi nahm sich vor, das einfach alles aus der Situation und spontan zu entscheiden.

"Ich versuche, etwas von ihr übrig zu lassen, John", scherzte Rudi deshalb, frech. Auch weil er einfach über das Thema nicht mehr reden wollte.

"Ja klar Rudi und hinterher tut es dir dann leid. Das meinst du jetzt nicht wirklich ernst oder Rudi?", wollte John, seinem Freund böse Blicke zuwerfend, diesen Satz nicht einfach so stehen lassen oder einfach so beiseitegeschoben haben. John machte sich wirklich Sorgen über seinen Freund und wollte das Thema geklärt, vom Tisch haben.

"John du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde versuchen meine Wut zu unterdrücken. Trotzdem ist es nicht normal, dass sie so einfach verschwindet. Was ist wenn ihr was geschieht? Kann sie sich nicht vorstellen, dass wir uns Sorgen machen", stellte er trocken fest.

"Rudi, genau das ist ja der Punkt. Kahlyn kann sich nicht vorstellen, dass wir durch ihr Verschwinden einmal quer durch die Hölle gehen, weil sie jetzt schon über einen Tag verschwunden ist. Erkläre mir bitte mal mein Freund, wie sie das verstehen soll. Bis vor einer Woche, bekam sie den Befehl, Sondereinsatz und musste gehen. Woher sollte sie also wissen, dass es hier anders läuft? Hast du ihr das gesagt? Hellsehen kann auch keine Kahlyn, Rudi. Wie also sollte sie das einschätzen können? Bis jetzt hat sich noch nie jemand, na gut vielleicht ihr Doko und ihre Dika, Sorgen um sie gemacht."

Rudi starrte John an. Sein Sanitäter, Stellvertreter und Freund, hatte wieder einmal genau den Nagel auf den Kopf getroffen.

"Rudi, ich denke, sie wird wenn sie zurückkommt, hier erscheinen und ordentlich Meldung machen ‚Sir, Einsatz erfolgreich abgeschlossen, Sir‘ dann geht sie duschen, fragt ob sie schlafen kann. Sie kennt es doch nicht anders. Verdammt noch mal, vergesse das doch nicht immer", vorwurfsvoll hatte John das, was ihm durch den Kopf ging, zum Ausdruck gebracht. Sender starrte nachdenklich in seine Tasse und rieb sich dann den Nacken. Blickte dann seinen besten Freund lange an und nickte.

"Du hast Recht John. Ich werde es beherzigen. Komm wir müssen schlafen gehen. Keine Ahnung, wie langer der Einsatz morgen dauern wird. Aber ich freue mich darauf."

Erstaunt blickte John seinen Vorgesetzten an.

"Wieso das denn? Du hast immer gesagt, der schönste Dienst ist der, wenn wir keine Einsätze haben. Du hasst es doch immer, wenn wir Einsätze haben. Weil einfach nie was Gutes dabei herauskommt."

Sender stimmte John zu und griente aber breit, versuchte es ihm zu erklären. "Du hast Recht. Ich freue mich ja auch eigentlich nicht auf den Einsatz. Aber ich freue mich darauf, diesen Cornelius Lange endlich einmal persönlich kennenzulernen. Wir, damit meine ich Jo und mich, haben schon so viel von ihm gehört. Lange soll einen verdammt guten Trainer gehabt haben, der ihm sehr gefördert hat und das Letzte von ihm gefordert haben muss. Er muss richtig gut sein. Jedes Team das mit ihm zu tun hatte, schwärmt von seinen Fähigkeiten und seiner guten Teamführung."

John war erstaunt. Er hatte Sender selten, von jemand so schwärmen hören. Da Rudi sehr vorsichtig ist und sich stets eine eigenen Meinung über Menschen macht. Dies scheint bei diesem Lange wohl etwas anders zu sein.

"Na da hat er in dir, ja einen richtigen Bewunderer gefunden. Sei dann bloß nicht enttäuscht, wenn er ganz anders ist, als du ihn dir vorstellst", gab John lachend von sich.

"Wir werden sehen", entschlossen standen beide auf und gingen ebenfalls schlafen.

 

Am nächsten Morgen war der erste Weg von John und auch von Sender, nach vorn in die Wache, um nachzufragen, ob die Kollegen schon etwas von Kahlyn gehört hätten. Auch die Wachstube, hatte noch keine neuen Informationen. Sie wussten ebenfalls noch nichts Neues von Kahlyn. Nicht nur die Beide machten sich langsam richtig schlimme Sorgen. Sender steigerte sich wieder in seine Wut hinein. Die ausgelöst wurde, durch die Angst die er um Kahlyn hatte.

Es ging schon langsam auf Mittag zu und Sender saß immer noch brütend, über seinen Unterlagen des heutigen Einsatzes. Er konnte den verdammten Fehler, in der Vorgehensweise, einfach nicht finden. Der Teamleiter wusste, dass irgendwo ein Fehler war, er spürte das einfach. Sender musste sich vor dem Einsatz unbedingt mit dem dortigen Einsatzleiter besprechen und ihm sagen, dass da etwas nicht stimmen konnte. Ihm schwante nichts Gutes und er hatte ein verdammt schlechtes Gefühl. Deshalb nahm er sich fest vor, den ganzen Einsatz mit Lange noch einmal Schritt für Schritt auseinander zu nehmen.

Besorgt sah er auf die Uhr die vor seinem Büro hing. Hoffentlich beruhigten sich seine Männer bald wieder. Den ganzen Tag war schon eine Stimmung, wie auf einer Beerdigung, vorn im Bereitschaftsraum. Allmählich machten sich alle große Sorgen um Kahlyn, die nun schon anderthalb Tage weg war, vor allem weil keiner wusste, wo sie steckte und wie es ihr ging.

Das Telefon klingelte, Sender nahm widerwillig ab.  

"Major Sender..." wollte er sich vorschriftsmäßig melden, als Ines Sören ihn unterbrach.

"Rudi, ich bin es Sören. Wir haben gerade per Funk die Anweisung bekommen, dass wir die Kreuzung absperren sollen. In zehn Minuten ist Kahlyn wieder da. Bitte schicke mir sechs deiner Leute vor in die Wachstube. Ich habe gerade keinen Toni frei, die sind alle im Einsatz."

Sender atmete erleichtert auf. "Danke Ines. Endlich, jetzt geht es mir besser. Ich komme gleich vor und schicke dir die Leute", sofort legte Rudi auf und eilte vor in den Bereitschaftsraum.

"Wolle, Andi, Tom, Sep, John ihr kommt sofort mit mir nach vorn in die Wachstube. Wir müssen die Kreuzung kurz absperren. Der Hubschrauber kommt."

"Endlich" sagte nun auch John erleichtert.

Alle anderen atmeten ebenfalls auf. Sofort eilten die Fünf ihrem Teamleiter hinterher. Der schon weiter nach vorn gelaufen war, um in die Wachstube zu gelangen. Dort begrüßte er seine Wachtmeisterin.

"Mahlzeit Ines. Sagt ihr den Piloten über Funk Bescheid, die sollen uns Bescheid geben, wenn sie über der Kreuzung sind. Wir sperren erst dann den Verkehr. Sonst haben wir einen Rückstau, bis in die Stadtmitte. Das Absperren dauert keine zwei Minuten."

Wachtmeister Schuster nickte und gab sofort Instruktionen an den Piloten des Hubschraubers weiter. Kurze Zeit später informierte der Funker Sender.

"Rudi, der Heli ist in drei Minuten über der Kreuzung."

Sender drehte sich um und teilte seine Männer ein.

"John, du und Wolle, ihr beiden sperrt die Straße des Friedens, in Richtung Krankenhaus ab. Andi, du und Tom, ihr beide in Richtung der Brücke zur Stadtmitte. Sep, du kommst mit mir, wir sperren die Wiesenstraße ab. Passt auf Euch auf, ich brauche euch in drei Stunden, alle in einem Stück und vor allem gesund."

Die Sechs verließen die Wache, innerhalb von zwei Minuten waren die drei Straßen für den Verkehr gesperrt. Hoffentlich brauchte der Pilot nicht all zu lange für die Landung, gerade um die Mittagszeit, war auf dieser Kreuzung immer die Hölle los, ging es Sender durch den Kopf. Den Blick nach oben gerichtet, beobachtete er den Himmel. Schon von weiten sah Sender den Hubschrauber kommen. Eigenartigerweise versuchte der Pilot gar keine Landung. ‚Komm Junge mache hin. Wir können hier nicht ewig sperren‘, ging es Sender durch den Kopf. Auf einmal traute er seinen Augen nicht. Es ließ sich eine schwarz gekleidete Person, von den Kufen des Hubschraubers hängen und fing an zu schaukeln. Urplötzlich aus der Bewegung heraus, ließ sie los und rollte sich zusammen. Am Boden angekommen, machte sie eine elegante Roll und stand sofort wieder auf den Füßen. Sie lief ein paar Schritte, drehte sich um und lief rückwärts weiter. Nahm die rechte Faust und legte sie auf ihr Herz, im Anschluss zog sie die Faust zu ihren Lippen und streckte sie zum Helikopter hinauf. Der wackelte kurz und flog ab. Das ganze hatte keine zwei Minuten gedauert. Damit drehte sich Kahlyn, um und lief auf die Wache zu.

 

Erst jetzt hatte Sender erkannt, dass es sich um Kahlyn handelte. Sie verschwand sofort in der Wache. Sender gab die Kreuzung, nach genau drei Minuten wieder frei. So dass die Ampeln, wieder den Verkehr regeln konnten. Auf dem schnellsten Wege, ging Sender ebenfalls zurück in die Wache. Lief nach hinter in den Bereitschaftsraum. Allerdings war Kahlyn dort nirgends zu sehen. Verwirrt sah er sich um. Wo war sie denn nun schon wieder hin, dachte er bei sich. In diesem Moment ging die Tür auf und Kahlyn betrat den Raum. Dreckig und blutverschmiert, kam sie auf Sender zu gelaufen und wollte sich gerade bei ihrem Major ordnungsgemäß zurück melden.

Sender allerdings, war dermaßen erschrocken, über das, was er gerade gesehen und erlebt hatte, dass er sofort lospulverte. Sein Herz schlug wie immer noch wie wild und er schlotterte am ganzen Körper, so hatte er sich gerade erschrocken. Verdammt nochmal, die Kleene hätte sich das Genick brechen können, ging es Rudi durch den Kopf. Ohne sich darüber wirklich bewusst zu sein, reagierte er völlig über. Immer noch lagen seine Nerven blank, von den Geschehnissen der letzten Woche. Der sonst eigentlich ausgeglichene, aber sehr temperamentvolle Sender, schoss komplett über sein Ziel hinaus.

"In mein Büro und zwar sofort Kahlyn", brüllte Rudi seinen Schützling an.

Kahlyn folgte ihm, ohne jegliche Reaktion. Am Büro angekommen, hielt Rudi ihr die Tür auf und betrat ebenfalls den Raum, zog die Tür hinter sich zu.

"Setz dich", donnert er sofort los.

Kahlyn blieb allerdings stehen, um erst einmal Meldung zu machen, so wie es sich gehörte. "Sir, Einsatz um 2 Uhr 17 erfolgreich beendet, Sir. Geisel wurde der Soko Tiranus um 3 Uhr 09 übergeben und gegen 3 Uhr 35 in ein Krankenhaus eingewiesen, Sir. Der Täter wurde den zuständigen Organen, von der Soko Tiranus gegen 4 Uhr 50 übergeben, Sir", meldete Kahlyn sich erst einmal ordentlich an und nahm dann erst Platz.

Die ganze angestaute Angst, um das Mädchen machte sich jetzt in einer unbeschreiblichen Wut, in Sender breit. Verdammt noch mal, merkte diese kleine Göre eigentlich nicht, was sie uns die letzten zwei Tage angetan hat?

"Sag mal Kahlyn, willst du dir das Genick brechen oder was sollte das jetzt eben werden? Hat der Pilot verlernt, dass man einen Heli auch landen kann", polterte Rudi los. "Weißt du eigentlich, dass wir hier zwei Tage lang gestorben sind, aus Angst um dich. Kannst du dich nicht, wie ein normaler Mensch abmelden? Vor allem, wenn du die Wache ohne Erlaubnis verlässt. Wieso nimmst du, in deinen regulären Dienstzeiten Aufträge, von anderen Abteilungen an? Verdammt noch mal, so geht das nicht", wütend haute Rudi mit der Faust auf dem Tisch.

Kahlyn saß da, wie ein begossener Pudel und wusste überhaupt nicht, was los war. Dachte bei sich, 'ich habe doch gar nichts falsch gemacht. Alles war geregelt, warum schreit er mich eigentlich so an?' Die Kleine verstand überhaupt nicht, was los war.

"Sir, ich war ordnungsgemäß abgemeldet. Das hat der Oberst doch gemacht und in meinen Unterlagen ist vermerkt, dass ich ab und zu für Sondereinsätze als Spurensucher geholt werde, Sir", erklärte sie Sender in einem ganz sachlichen Ton.

Diese störrische Ruhe Kahlyns brachte Sender noch mehr in Rage. "Sag mal Kahlyn, es ist dir wohl egal…" in dem Moment erschien John, in der Bürotür.

"Rudi, bitte höre auf Kahlyn so anzuschreien. Kahlyn, gehe bitte raus. Ich muss mal kurz mit Rudi reden."

Kahlyn stand auf, doch dann setzte sie sich wieder hin, Sender war der Ranghöhere Offizier. Verwirrt sah sie von John zu Sender und wieder zurück.

"Kahlyn bleibt hier. John und du gehst. Und zwar sofort", brüllte Sender nun auch noch John an. "Wenn ich mit ihr fertig bin, können wir uns unterhalten. Jetzt raus hier."

John sah Sender böse an. Er kannte seinen Freund. Hinterher tat es ihm dann leid. Aber, wenn John ehrlich war, konnte es Rudi nicht verdenken. Ihm ging es ähnlich. Er verstand, dass Rudi aufgebracht war. Auch Joch war gerade fast das Herz stehen geblieben, als er gesehen hatte, was Kahlyn da gerade gemacht hatte. Also ging er erst einmal hinaus. Sender wandte sich wieder seinem Sorgenkind zu.

"Verdammt nochmal, denkst du vielleicht meine Nerven halten alles aus. Erst verschwindest du nach einem Anfall, bei dem wir dachten du stirbst jeden Augenblick. Dann springst du aus acht Metern Höhe aus einem Heli. Es reicht langsam."

Kahlyn saß da, wie ein zerschlagener Hund und wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Also schwieg sie. Sah aber Sender in die Augen, fünf Minuten wartete Sender auf eine Reaktion, des Mädchens. Allerdings bekam er keine. Langsam riss ihm, der sowieso schon lange überspannte Geduldsfaden. Er gab sich ja alle Mühe, wieder ruhiger zu werden. Seine Atmung ging nicht mehr so stoßweise und wurde gleichmäßiger. Aber was zu viel war, war einfach zu viel. Da konnte auch der temperamentvolle Sender nichts mehr ausrichten.

"Dir ist es also egal, dass du uns hier den letzten Nerv raubst? Aber mein Fräulein uns es nicht egal. Du hast es nicht mal nötig, auf meine Fragen zu antworten. Du bist ein kleines verstocktes Kind. So etwas kann ich hier nicht gebrauchen. Entweder du redest jetzt mit mir oder aber du schwindest."

Kahlyn stand auf und verließ den Raum.

Sender war völlig perplex, vom Verhalten seiner neuen Kollegin und starrte ihr fassungslos hinter. Er begriff gar nichts mehr. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit, dass Kahlyn den Raum verlässt. Kaum hatte Kahlyn das Büro verlassen, stand auch John schon im Raum und ging mit aller Macht gegen Sender vor.

"Rudi, sag mal musste das jetzt wirklich sein? Bist du jetzt nicht ein wenig zu weit gegangen? Das, was du Kahlyn gerade an den Kopf geworfen hast, versteht sie doch gar nicht", wütend stützte sich John auf die Kante des Schreibtisches und sah Sender dabei bitterböse an. "Das Einzige, was Kahlyn von deinem herum Gebrülle begriffen hat, ist dass sie gehen muss. Du bist so ein verdammter Vollidiot. Machst innerhalb von nur wenigen Minuten, alles kaputt, was wir uns in einer Woche verdammt mühsam aufgebaut hatten. So, jetzt kannst du mich auch, aus deinem Büro schmeißen", warf John seinem Vorgesetzten, im ruhigen Ton an dem Kopf.

Bei den letzten Worten ließ sich John einfach auf den Stuhl fallen, auf dem vor kurzen Kahlyn gesessen hatte. Sender schnappte nach Luft, so angefahren hatte ihn John noch nie. Das hatte richtig gesessen und tat seine Wirkung. Sender wurde zum Nachdenken angeregt. War er wieder einmal, übers Ziel hinaus geschossen, ging es ihm durch den Kopf. Er sah John lange an. Der saß nur seinen Kopfschüttelnd ihm gegenüber.

"John, es kann doch nicht angehen…" begann Rudi zu erklären und führte ein sehr langes und intensives Gespräch mit seinem Freund. In er von John richtig die Meinung gesagt bekam.

 

Ich war wütend, so verdammt wütend. Natürlich war ich es gewohnt angebrüllt zu werden. Aber der Mann, der die ganze letzte Woche so getan hatte, als wäre er mein Freund und dass er nur mein Bestes wollte, war ungerecht. Dieser Mann hatte mir wieder einmal bewiesen, dass man niemand trauen sollte. Gerade eben, hatte er mir sein wahres Gesicht gezeigt. Major Sender war auch nicht viel besser als der Oberstleutnant Mayer. Na ja ganz so schlimmer war er nicht, immerhin hatte er mich nicht geschlagen. Aber er war mehr als nur ungerecht.

Ich hatte überhaupt nichts falsch gemacht. Langsam wusste ich gar nichts mehr, wie und was ich zu machen hatte. Machte ich eigentlich noch irgendetwas richtig? Ging es mir durch den Kopf. Es gab bestimmte Verhaltensregeln die wir gelernt hatten, für die Befehlsfolge und die hatte ich vorschriftsmäßig eingehalten. Was sollte ich denn sonst noch machen? Warum wurde ich eigentlich ständig von meinen unmittelbaren Vorgesetzten angebrüllt? Egal was ich tat, immer war ich schuld. Es war zum Verrückt werden. Wütend lief ich zu meinem Waffenschrank und holte meine Kisten für die Nahkampfwaffen und das Putzset heraus.

Bevor ich duschen ging, widmete ich mich immer erst der Waffenpflege. Das hielt ich seit fünfzehn Jahren so und das würde ich auch hier so handhaben, egal was die Männer dazu sagten. Das war ein eisernes Gesetz bei uns und daran ging nichts vorbei. Egal was kam, die Waffen mussten für den nächsten Einsatz bereit sein. Davon hing mein Leben ab. Lieber ging ich ungeduscht zum nächsten Einsatz, als mit ungepflegte Waffen. Ich nahm alles und ging nach vorn in den Gemeinschaftsraum. Zu dem großen Tisch, an dem wir immer alle aßen.

Meine Kollegen vom Alpha-Team, starrten mich alle so komisch an. Das regte mich noch mehr auf. Reichte es denn nicht, dass mich Rudi gerade so an gepulvert hatte? Mussten mich jetzt auch noch alle anderen anschauen, als wenn ich sonst etwas gemacht hätte? Verdammt nochmal, ich hatte gerade einen Scheiß Einsatz hinter mir und war völlig kaputt. Mir tat jeder Knochen weh und ich war hundemüde.

Aber statt nur einmal zu sagen, „Das haste gut gemacht Kahlyn“, wurde ich wie nur angemotzt. Es war wie immer und ich dachte gerade, es würde hier kein bisschen besser werden, als in der Schule. Ich war innerlich am Kochen und das bedeutete bei mir nichts Gutes. Heute war keine Rashida da, die mich beruhigen konnte und verhinderte, dass ich explodierte. Sie sollten lieber aufhören mich so anzustarren, sonst würde ich noch an die Decke gehen, Wut hatte genug ich in meinem Bauch.

Konnte ich nicht auch einmal, kurz nach einem harten Einsatz wie diesem, für kurze Zeit meine Ruhe haben? Hatte ich es mir das nicht auch einmal verdient, dass man mich lobte oder wenigstens erst einmal Luft holen ließ? Immer noch war ich hundemüde und mein Bein schmerzte wie die Hölle, nicht nur bei jeder kleinen Bewegung die ich machte.

Wutentbrannt wie ich gerade kam, knallte ich deshalb meine Kisten auf den Tisch, dass es nur so schepperte. Das war etwas, dass mir bisher nur ganz selten passierte war und ich bisher nur gemacht hatte, wenn ich alleine mit meinem Team war. Erschrocken schauten mich meine Kollegen an, weil mir keiner solch eine Reaktion zugetraut hatte. Sollten sie ruhig sehen und spüren, dass ich wütend war. Dann sprach mich wenigstens keiner an. Ich zog meinen Halfter aus, ebenfalls das Oberteil meines einteiligen Kampfanzuges und stand nur noch mit dem Bustier da. Mit meinem Messer schnitt ich einen Ärmel ab. Der Anzug war sowieso völlig kaputt und wurde weggeschmissen, da man die Anzüge nicht reparieren konnte. Dann ging ich in die Küche und machte den Ärmel nass.

"Fran, könntest du mir bitte einen Eimer mit Wasser geben. Ich muss meine Waffen reinigen, bitte", bat ich zu dem Koch, bemüht um einen freundlichen Tonfall.

Fran nickte und schaute mich komisch an. "Klar mache ich das Kahlyn. Willst du etwas essen oder trinken?", ach der liebe Fran, na wenigstens du schreist mich nicht an.

"Ein Kaffee wäre super nett, so wie ihn John trinkt. Ich bin völlig kaputt und todmüde. Das wäre wirklich total nett von dir", erklärte ich ihm, warum ich so mies drauf war.

Etwas ruhiger, ging ich humpelnd aus der Kochnische, nach draußen an den Tisch und öffnete das Putzset. Legte die Unterlage auf den Tisch und fing an meinen Gürtel auszuräumen. Fran stellte mir einen Eimer auf den Stuhl und einen großen Kaffee auf den Tisch.

"Danke Fran", sagte ich kurz angebunden und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Sofort fing ich an, die total verdreckten Waffen zu reinigen. Fast dreißig Minuten brauchte ich, bis ich alles wieder sauber hatte. Bittend wandte ich mich noch einmal an Fran, weil ich ja nicht wusste, wo ich hier Lappen herbekam. Ich musste mir später einmal von Fran zeigen lassen, wo sich hier in der Dienststelle alles befand. Da musste ich nicht ständig jemanden um Hilfe bitten, das wurde mit der Zeit nämlich lästig.

"Fran, sag mal, hast du für mich ein trockenes und vor allem weiches Tuch für mich? Mit dem ich die Waffen trocknen reiben kann, bitte."

Lächelnd reichte mir Fran zwei frische Geschirrtücher. Ich humpelte zurück und trocknete alles ab. Säuberte im Anschluss den Tisch und nahm mir das Putztuch aus meinem Set und ölte alles ein. Fertig damit, steckte alles zurück in die jeweilige Kiste. Danach reinigte ich noch die Halfter und den Gürtel. Verdammt die sahen aus, als wenn ich bei einer Schlammschlacht gewesen wäre. Auch wachste ich meine Gürtel und Halfter, nach dem Reinigen, mit einem speziellen Lederwachs ein. Im Laufe der Jahre hatte ich festgestellt, dass sich dadurch die Waffen viel leichter herausziehen ließen und im Kampf konnte ein Bruchteil einer Sekunde entscheidend sein. Ich war gerade dabei, das letzte Halfter zu reinigen, als Sender mit John in den Bereitschaftsraum erschien. Sender der sah, dass ich immer noch nicht geduscht war, flippte sofort wieder aus und brüllte mich wütend an.

"Wieso stehst du hier eigentlich immer noch so dreckig rum? Ab unter die Dusche", polterte er los.

Jetzt reicht es mir. Ich war mit meiner Geduld am Ende. Es war nicht das, was er sagte, sondern das wie, dass mich maßlos aufregte. Diese Art mit mir zu reden, brachte das Fass zum Überlaufen. Ich war todmüde, hatte schlimme Schmerzen und wurde jetzt das schon zweite Mal in nur eine halben Stunde, ohne Grund ungerecht behandelt und von der Seite angemacht. Ich sah aus wie ein Schwein und fühlte mich auch so. Viel zu oft hatte ich mir eine solche unsachliche und gemeine Behandlung, in den letzten Jahren gefallen lassen müssen. Wenn ich eins in den wenigen Tagen begriffen hatte, die ich auf meiner neuen Wache in Gera war, dann die Tatsache, dass ich mir nicht alles gefallen lassen musste. Etwas, dass keiner der im Raum Anwesenden vermutet hätte und vor allem was mir niemand zugetraut hätte, geschah in diesem Moment. Ich explodierte regelrecht, wie eine Tretmine auf die jemand ausversehen gelatscht war. Ich schmiss wütend das Halfter auf den Tisch und zwar so, dass es nur so krachte und ging wutentbrannt auf Sender zu.

"Genosse Major es reicht mir jetzt aber langsam. Es reicht mir jetzt wirklich, das Maß ist bis obenhin voll und sie haben meine Geduld mehr als nur ausgereizt. Erst schreien sie mich an, weil ich meine Arbeit mache", brüllte ich Sender meinerseits an und legte meine ganze Wut in die Stimme, damit er begriff, dass ich es ernst meinte. "Jetzt schreien sie mich auch noch an, weil ich meine Waffen pflege. Haben sie den letzten Schuss nicht gehört, oder was ist mit ihnen los? Ich weiß ja nicht, wie das bei ihnen, in ihrer Einheit üblich ist? Ich für mein Teil, habe es anders gelernt und handhabe es seit fünfzehn Jahren so. Egal was sie auch tun, das werden sie mir nicht abgewöhnen, denn es ist mein Leben, um was es hier geht. Ordentliche Waffen Genosse Major, können nicht nur, sondern sind lebensrettend", tief holte ich Luft und drosselte meine Stimme in eine normale Lautstärke.

Als Sender etwas sagen wollte, sah ich ihn mit einem Blick an, der ihn verstummen ließ.

"SIR, RUHE jetzt! SIE hören MIR jetzt einmal SEHR GENAU zu, SIR. Waffenpflege, Genosse Major, ist das A und O eines Kämpfers. Das zum Ersten und zum Zweiten. Ich habe seit fast zwei Tagen nicht geschlafen und habe einen Horroreinsatz hinter mir. In dem es mir nur knapp gelang eine Frau zu retten. Zum Dritten, weiß ich sehr genau, WAS ICH TUE. Ich springe ohne Vorbereitung, aus vierzig Metern Höhe von einer Brücke. OHNE mir etwas zu tun. Für mich sind die acht Meter, aus dem Heli ein Klacks. Wenn sie das nicht können, ist das ihr Problem und nicht das meinige, verdammt nochmal. Dass sie das nicht können, ist doch nicht meine Schuld. Zum Vierten, gehe ich IMMER erst dann DUSCHEN, wenn ich die wichtigen Dinge erledigt habe und zwar in einer von mir festgelegten REIHENFOLGE. Dazu gehören der Rapport, die Wundversorgung meines Teams, die Waffenpflege, das Duschen und an letzter Stelle, dann meine Wundversorgung. Wie sie das handhaben, ist mir mit Verlaub gesagt, Scheiß egal. Ich werde diese Reihenfolge immer einhalten, ob es ihnen passt oder nicht. Davon Genosse Major, hat mich nicht einmal der Oberstleutnant abhalten können. HABEN SIE DAS JETZT VERTANDEN, SIR?", tief atmete ich aus. "Alles im allem, gibt ihnen aber niemand das Recht, mich, weil ich meine Arbeit ordentlich mache, hier vor allen Teammitgliedern auf diese Art und Weise, anzubrüllen und herunterzuputzen. Ich habe nichts gemacht, was gegen irgendeine Vorschrift verstößt, SIR. Ich war ORDNUNGSGEMÄSS abgemeldet und habe einen Einsatz beendete, den andere nicht beenden konnten. Warum also, nehmen sie sich das Recht heraus mich ständig anzubrüllen? Wenn sie mich nicht haben wollen Major Sender, dann rufen sie Oberst Fleischer von der Soko Tiranus an, der freut sich, wenn ich in sein Team komme, SIR. Der weiß nämlich genau, was er an mir hat, im Gegenteil zu ihnen, SIR", zackig drehte ich mich um und humpelte zurück zum Tisch.

Nahm, ohne ein weiteres Wort zu sagen, mein Halfter wieder in die Hand, um es fertig zu säubern. Nahm im Anschluss daran das Wachs und wachste das Halfter ein, so wie ich es immer machte. Es war für einige Minuten totenstill im Raum. Keiner sagte etwas oder traute sich zu rühren. Man hätte ein Blatt Papier auf dem Boden aufschlagen hören, wie einen Donnerschlag, so ruhig war es auf einmal. Den Männern hatte es regelrecht die Sprache verschlagen und in einer Schockstarre gefangen. Aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Alles hätten sie von mir erwartet, aber nicht solch einen heftigen Ausbruch von Wut. Einen so völligen Ausbruch aus den, von mir sonst strikt eingehaltenen Verhaltensregeln, im Umgang mit Vorgesetzten, denen ich immer absoluten Respekt zollte.

Aus meinen Augenwinkeln heraus, ließ ich keinen der Männer unbeobachtet und behielt, vor allem Sender genau im Blick, um mich verteidigen zu können. Ich war darauf gefasst, dass mein jetziger Vorgesetzter jeden Moment zuschlagen würde. Ab dem heutigen Tag, würde ich mich nicht mehr ohne Gegenwehr schlagen lassen. Das hatte ich mir draußen auf dem Gelände der Soko geschworen. Die Zeiten, dass man mich ungestraft und ohne jeglichen Grund, demütigen und schlagen konnten, waren endgültig vorbei. Meine Kollegen kannten mich halt überhaupt nicht. Das war nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich so ausgerastet war, selbst in der Schule gab es regelmäßig solche Szenen. Einer der Gründe, warum mich der Oberstleutnant so gehasst hat.

Bei solchen Ausbrüchen, die ich auch bei Oberstleutnant Mayer in der Schule ab und zu einmal bekam, wenn er das Maß zu sehr überzog, hatte ich hinterher jedes Mal eine anständige Tracht Prügel bezogen. Aber das war mir die ganze Sache wert, wenigstens einen Augenblick fühlte ich mich dann gut und vor allem wusste ich dann einmal, warum ich Schmerzen bekam. Ich hatte dadurch die Gewissheit, dass ich mir nicht alles gefallen lassen brauchte.

Wieder einmal geschah etwas, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Sender schüttelte, nach dem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte, den Kopf und fing schallend an zu lachen. So wie er anfing, lachten alle anderen mit. Es war kein hämisches Lachen, sondern ein befreiendes, was mich noch mehr verwunderte. Als der Teamleiter des Alpha-Teams auf mich zu kam und mir beschwichtigend auf die Schulter klopfen wollte, interpretierten dessen Bewegungen völlig falsch, beziehungsweise Senders Vorhaben. Ich ging davon aus, dass der Major mich schlagen wollte. Deshalb machte ein Schritt zur Seite, um ihm auszuweichen. Es passierte, das, was in dem Fall immer passiert, er verlor das Gleichgewicht und stürzte fast zu Boden. Sender jedoch fing sich gekonnt mit einer Rolle ab. Statt mich wieder anzubrüllen, lachte Sender noch mehr und schüttelte ungläubig den Kopf.

"Verdammt nochmal, Kahlyn. Wann lerne ich nur, dass du gute Reflexe hast. Setzt dich Kleene. Komm, setzt dich. Bitte."

Sender ging zurück zum Tisch und nahm den Eimer vom Stuhl und setzte sich auf denselben. Ich war viel zu wütend, um mich zu setzen.

"Bitte Kahlyn, setze dich einen Augenblick, bitte Kleene. Ich weiß, dass du verdammt wütend bist. Vor allem hast du alles Recht dazu."

Völlig verwirrt folgte ich der Bitte und setzte ich mich auf den Stuhl. Verstand erst einmal gar nichts mehr, kämpfte umso mühsamer gegen die Wut an, die ich auf den Major hatte. Auch weil ich nicht wusste, was ich von der ganzen Reaktion des Majors und der Kollegen halten sollte.

"Kahlyn, du hast Recht mit dem was du mir gerade an den Kopf geschmissen hast. Und ich entschuldige mich für mein Verhalten bei dir. Lässt du mich wenigstens versuchen zu erklären, warum ich so wütend auf dich war? Und warum ich dich so angebrüllt habe?“, Sender musterte mich, immer noch mit einem Grinsen im Gesicht, wurde dann aber ernst.

Da ich nicht auf seine Frage reagierte, nicht einmal mit den Schultern zuckte oder mit dem Kopf nickte oder schüttelte, entschloss er sich dazu einfach weiter zu reden.

„Als ich gestern früh mitbekommen habe, dass du weg bist, Kleene, war ich total erschrocken und ja, ich war auch verdammt wütend. Weißt du ich mag es absolut nicht, wenn man ohne mein Wissen und meine Zustimmung, Leute aus einen meiner Teams abzieht. Viele meiner Leute, sind bei solchen Einsätzen verletzt und zum Teil sogar getötet wurden. Bei einem solchen Sondereinsatz, Kahlyn, wurde vor einiger Zeit Charly getötet und dein John wurde damals ebenfalls sehr schwer verletzt. Deshalb Kleene, möchte ich unbedingt wissen, mit wem meine Leute einen Einsatz machen und vor allem, wohin sie verschwinden und warum. Kahlyn, bitte, ich vergesse immer wieder, dass die Sache bei dir etwas anders liegt. Aber als ehemaliger Teamleiter, müsstest du mich verstehen. Herr Gott nochmal, dieses Umdenken ist für mich genauso schwer, wie für dich. Kannst du das nicht wenigstens ein kleines bisschen verstehen?"

Lange sah er mich an. Aber auch ich ihn. Dann nickte ich.

"Kahlyn, dann rede mit mir, bitte."

Was sollte ich dazu sagen? Fragte ich mich ernsthaft. Was wollte er von mir hören? Dass ich wütend auf ihn war, weil er mich ungerecht behandelt hatte. Ich war mir nicht sicher, dass er das wirklich hören wollte.

"Sir, ich bin kein kleines Kind mehr, auch wenn sie mich als solches sehen. Ich habe schon über hundert Einsätzen mit der Soko vom Oberst gemacht. Ich kann sehr wohl alleine auf mich aufpassen. Gosch, ist ein sehr guter Pilot. Er und ich sind seit elf Jahren ein eingespieltes Team. Außerdem passt Gosch immer auf mich auf, genauso wie ich auf ihn. Aber ich finde es nicht in Ordnung, Genosse Major, wie sie mich behandeln. Sie wissen genau, wie die Kollegen die ihr am Tisch sitzen, dass ich eine Scheißwoche hinter mir habe und das, nach vier Monaten im Dauereinsatz. Ich war von den letzten sieben Tagen nur ungefähr drei Tage wirklich Einsatzfähig. Und ich bin trotzdem es mir nicht gut ging, mir jeder Knochen und jede Muskelfaser in meinem Körper wehtat, zu einem verdammt haarigen Einsatz geflogen. Können sie sich vorstellen wie ich mich fühle? Ich bin nicht nur todmüde, sondern auch verletzt und ja, ich habe verdammt viel Schmerzen. Mein einziger Wunsch ist, ich will endlich aus diesen Drecksklamotten raus und etwas beschützt in meinem Bett schlafen. Ich war froh den Einsatz so schnell beenden zu können, nicht nur wegen der Geisel, sondern auch weil ich mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Suche nach der Geisel, war verdammt nochmal stressig und forderte meine ganze Konzentration. Ich habe in zwei Tagen das geschafft, was eine ganze Soko in einer Woche nicht hinbekommen hat, nämlich die Geisel gefunden. Ich war also froh, dass ich endlich nach Hause komme und statt, dass sie mir etwas Ruhe gönnen und mich meine Arbeit machen lassen, schreien sie mich ständig ohne jeglichen Grund an", ernst sah ich Senders an. Obwohl ich sehr darum bemüht war leise zu sprechen, merkte man meiner Stimme die ungeheure Wut an. "Statt dass ich einmal ein Lob bekomme, für eine nicht ganz schlechte Leistung, werde ich wieder einmal grundlos angebrüllt. Vor allem wegen Vorkommnissen, die so wie von ihnen dargestellt wurden, Genosse Major, gar nicht stimmen. Das Teammitglied Leutnant Kahlyn hatte sich nämlich ordentlich abgemeldet: Da sie den zuständigen Diensthabenden des Polizeireviers G61 persönlich über den Einsatz informiert hatte und ihn fragte ob, der zuständige Major, nämlich sie Genosse Sender, darüber informiert werden soll oder muss. Mehr hätte das Teammitglied gar nicht tun müssen. Da ich mich aber in allen Dingen, die ich tue an die Dienstvorschriften halte, Genosse Major, habe ich mich beim Genossen Jäger sogar darüber informieren lassen, ob Einsätze in den nächsten Tagen geplant wären. Der Genosse Jäger hat das verneint. Außerdem informierte er mich über den Befehlt, den sie persönlich gegeben hatten und von dem ich keine Kenntnis hatte: Im Falle eines Alarms, sollen nur diejenigen persönlich geweckt werden, die der Alarm betrifft. Was bitte hätte ich ihrer Meinung nach noch mehr machen sollen? Ihnen einen persönlichen Brief schreiben? Oberst Fleischer persönlich übernahm es, Oliver Jäger alle wichtigen Informationen zu geben, die er selber besaß. Wenn hier in der Wache G61, die Befehlslinien und der Informationsfluss nicht klappt, dafür bin ich nicht verantwortlich und der Oberst der Soko Tiranus genauso wenig. Über die Länge der Einsatzdauer, hätte ihnen, zu diesem Zeitpunkt, weder der Oberst noch ich etwas Genaueres sagen können. Dass der Einsatz so schnell zu einem guten Ende gekommen ist, war reines Glück oder Intuition. Sie können es nennen, wie sie wollen. Genosse Major, ich kämpfe bereits seit über dreizehn Jahren. Glauben sie nicht langsam, dass ich weiß, was ich tue. Sie reden immer davon, dass ich zu ihnen Vertrauen haben soll. Sie dagegen haben überhaupt kein bisschen Vertrauen zu mir. Sie behandeln mich, wie eine entmündigte und völlig unzurechnungsfähige Person. Aber Genosse Major, ich weiß sehr genau, was ich tue. Dieses Verhalten von ihnen, macht mich nicht nur verdammt wütend und sondern sie ist für mich außerdem sehr erniedrigend und außerdem ungerechtfertigt, Sir", mit jedem Wort was ich sagte, fiel es mir schwerer ruhig und leise zu sprechen.

Sender sah ernst und verlegen an, rieb sich ständig das Gesicht. "Autsch", war die erste Reaktion, die von ihm kam. Dann war eine ganze Weile Ruhe und die Spannung im Raum knisterte richtig. Nicht nur ich schaute den Dienststellenleiter an, sondern all Mitglieder des Alpha-Teams und einige der Wachtmeister die gerade in den Bereitschaftsraum gekommen waren. Lange musterte mein Vorgesetzter mein Gesicht. Und ich sah in seinem einige Gefühle, die ich nicht wirklich verstehen konnte. Ganz leise und man könnte meinen liebevoll sprach Sender nach einer langen Pause weiter. Tief holte er Luft und rieb sich über sein Gesicht.

"Jetzt hast du mir aber den Kopf gewaschen, Kahlyn, besser noch als John vor einer halben Stunde. Ich muss dir in allem, was du mir gesagt hast Recht, meine Kleene. Ich kann mich nur nochmals bei dir entschuldigen. Es war gemein, was ich mit dir abgezogen habe. Das hatte ich nach Johns Moralpredigt schon kapiert. Aber glaube mir eins, richtig begriffen habe ich erst jetzt, wie gemein ich wirklich zu dir war. Glaube mir, könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde es gern tun. Leider ist das nicht möglich. Aber ich möchte wenigstens versuchen dir mein Verhalten zu erklären, damit du mich auch, ein kleines bisschen besser verstehen lernst. Schau mal Kahlyn, du bist fast genauso alt wie mein Patenkind Jenny. Die hast du ja gestern kennen gelernt. Ich habe keine Ahnung ob du mein eigentliches Problem überhaupt verstehen kannst. Du warst wie ich Teamleiter und weißt welche Verantwortung wir zu tragen haben. Weißt du wie verdammt schwer es für mich ist, zu begreifen, dass du eigentlich genauso kampferfahren bist, wie jeder einzelne Kämpfer meines SEK Teams. Ich will ja gar nicht, dass mir jedes Mal wieder das Gleiche passiert, dass ich solch eine verfluchte Angst um dich habe. Dass ich in dir immer nur ein kleines Mädchen sehe. Aber glaube mir, das ist verdammt schwer. Stelle dir einmal vor, du müsstest an meiner Stelle Jenny in den Kampf schicken, hättest du da nicht auch Probleme? Weißt du, dieses kleine Mädchen, mit den wunderschönen orangenen Augen, mag ich nämlich sehr und ich möchte sie unter allen Umständen beschützen. Ist das wirklich so schlimm? Ist das wirklich ein Fehler? Ich weiß, dass mein Verhalten vollkommen irrational war und dass ich völlig überreagiert habe. Aber ich kann nicht so schnell etwas dagegen machen, Kahlyn, ich brauche dazu etwas mehr Zeit. Ich würde mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustößt. Ich hab schon immer Angst, dass irgendeinem meiner Teammitglieder etwas passiert. Du kannst das doch verstehen, Kahlyn, du warst auch Teamleiter. Als Charly damals starb, bin ich wieder du die Hölle gegangen. Was glaubst du wie ich mich fühlen würde, wenn dir etwas passiert? Es ist schon die Hölle wenn den Jungs hier etwas passiert, aber die sind wenigstens schon dreißig Jahre oder älter. Du bist so verdammt jung Kahlyn, da ist die Angst umso größer. Für mich bist du Jenny, die ich in einen Kampf schicken muss. Ach verdammt nochmal, das ist alles so kompliziert mit dir. Ich und ich glaube alle anderen hier im Raum, sind oft genauso überfordert, wie du. Sind wir wieder Freunde. Kahlyn, es tut mir wirklich von Herzen leid, dass ich dich so ungerecht behandelt habe", entschuldigte sich Sender für sein Verhalten und hielt mir die Hand hin.

Lange sah ich den Major in die Augen. Der Vergleich, den er mit Jenny vorgebracht hatte, öffnete mir die Augen für das eigentliche Problem, dass Sender mit mir hatte. Es lag nicht daran, dass er mir nicht vertraute, sondern daran, dass er mich mit Jenny verglich. Ich war dem Major dankbar für seine Offenheit, die er mir gezeigt hatte. Dieses Gespräch hier vor allen seinen Kollegen zu führen, war Sender bestimmt nicht leicht gefallen. Ich schielte zu John, der mir lächelnd zu nickte.

Ich war mir trotzallem nicht sicher, ob es richtig oder falsch war, Senders Hand zu nehmen. Zum wiederholten Male sah ich den Major ins Gesicht und vor allem in seine Augen. Darin konnte ich soviel ich auch suchte, keine Lüge erkennen.

Die Augen, hatte mir Dika einmal erklärt, sind die Seele eines Menschen. Seit vielen Jahren, nutzte ich den Blick in die Augen meines Gegenübers, um ihn besser einschätzen zu können. Warum sollte ich mich also auf diese Gefühl hier in Gera nicht auch verlassen können? Trotzdem ging ich, das, was Sender mir gerade gesagt hatte, noch einmal Schritt für Schritt durch. War es für ihn wirklich genau so schwer, wie für mich? Ich begann zu begreifen, dass es so war. Aber ich war viel zu müde, um über solche Dinge nachzudenken. Aber ich musste jetzt und hier eine Entscheidung treffen, deshalb sah ich meine Kollegen der Reihe nach nochmal an. Alle schienen sie Senders Worten glauben zu schenken. Sie kannten den Major länger als ich, wenn sie ihm vertrauten, konnte ich es auch versuchen.

Tief holte ich Luft und nahm seine Hand und damit auch die Entschuldigung an. Das Gespräch was wir geführt hatten, war für uns beide gut und wichtig gewesen. Denn wir konnten uns ein bisschen näher kennenlernen. Ich hoffte sehr, dass auch Sender bei diesem Gespräch etwas lernen konnte, weil ich es einfach satt hatte mich jedes Mal von neuen erklären zu müssen.

Der Major atmete erleichtert auf und ging zur Tagesordnung über, da er wie es schien unter enormen Zeitdruck stand. "Danke Kleene, dass du mir noch eine Chance gibst. Ich hoffe ich vermassel es nicht wieder. Wenn du hier fertig bist, gehst du bitte duschen. Damit du endlich aus diesen Dreckzeug rauskommst und wieder ein Mensch wirst. Kahlyn, eine Frage habe ich noch an dich, weil ich dich einfach nicht einschätzen kann. Wir müssen gleich zu einem Einsatz. Fühlst du dich in der Lage mitzukommen oder möchtest du dich lieber hierbleien und ausschlafen? Entschuldige, dass ich dich frage, aber bei dir weiß ich ehrlich gesagt nie genau, wann du Diensttauglich bist und wann nicht. Aber das lerne ich schon noch."

Ich stand auf. "Sir, natürlich komme ich zu dem Einsatz mit, Sir, wenn sie mich brauchen. Ich kann auch im Bus schlafen, Sir. Wann geht es los Sir? Ich würde gern eine Weile duschen, mir tun alle Knochen weh, Sir."

Sender konnte sich vorstellen, dass die Kleine fertig war. "In knapp drei Stunden, du kannst also, auch noch etwas in einem Bett schlafen. Also los. Ach wie sieht es aus, wann willst du etwas essen?" Setzte er noch eine Frage hinterher.

Ich schüttelte den Kopf. "Sir, ich brauche jetzt nichts zu essen, Sir. Der Oberst hat mich gemästet. Vielleicht, wenn es möglich ist, kurz vor dem Einsatz, Sir. Aber das muss nicht sein, Sir. Kann ich eventuell, den Doko bekommen, Sir. Ich glaube er sollte sich mein Bein mal ansehen. Die Salbe die ich sonst genommen habe, hat Doko Jacob immer extra angefertigt. Ich habe den Brand im Bein, sonst müsste ich Doko Jacob einmal anrufen, Sir, dass er mir die Salbe schnellstmöglich schickt, Sir."

Als ich Sender das sage, schüttelte er den Kopf. "Kahlyn, du kannst nicht mit einem kaputten Bein arbeiten, das…"

Tief Luft holend unterbrach ich den Major einfach. Ich hatte keine Lust mehr, auf solche sinnlosen Diskusionen.

"Sir, ich bin einsatzfähig. Ich sage es ihnen, wenn es nicht geht. Das handhabe ich mit dem Oberst auch so. Glauben sie mir, wenn ich nicht arbeiten kann, sage ich es ihnen. Außerdem, habe ich, dass John versprochen. Ich habe den Brand im Bein, na und? Es ist schmerzhaft, aber es behindert mich nicht, bei meiner Arbeit. Ich habe schon, in viel schlimmeren Zuständen gearbeitet. Haben sie nun Vertrauen zu mir oder nicht?"

Sender schloss einen Moment lang die Augen und holte tief Luft. Er kämpfte einen schweren Kampf mit sich. Dann entschied sich der Major dazu, mir endlich zu vertrauen. Ich war darüber mehr als froh.

"In Ordnung, dann ab mit dir in die Dusche. Der Doko ist hier, wenn du heraus kommst."

Ich atmete erleichtert aus. Endlich vertraute mir einmal jemand. "Sir, danke, fragen sie den Doko, ob er die Salbe gegen den Wundbrandt von Doko Jacob hat. Es ist eine rote Dose, Sir."

Sender schnaubte. "Sag mal Kahlyn, hatten wir uns nicht, auf das du und den Rudi geeinigt?"

Wieder nickte ich. "Geht klar, Rudi", sagte ich und nahm die Kisten und die Halfter, brachte sie zum Waffenschrank und räumte alles ein. Zurück in den Bereitschaftsraum gehend, sah ich wie Fran schon den Rest saubermachte.

"Danke Fran", rief ich ihm zu, drehte mich um und ging zurück zu meinem Spind.

 

Schnell zog ich mich fertig aus, nahm die Schere aus dem Medi-Koffer und schnitt den Verband auf. Warf alles Verbandsmaterial in den Papierkorb, inklusive den, zu nichts mehr zu gebrauchenden, Nahkampfanzug und lief weiter nach hinten und unter die Dusche. Ich stellte das Wasser nur auf heiß und ließ es über meine verspannten Muskeln laufen. Das tat so gut. Es war für, mich wie eine Woche erholsam schlafen. Nach einer reichlichen halben Stunde wusch ich mich und kehrte dann zu meinem Spind zurück und trockne mich ab. Da ich wie so oft vergaß mir ein Handtuch mitzunehmen. Zog mir eine Turnhose und ein Bustier an. Damit fertig, nahm ich den Medi-Koffer in der Hand und ging in Richtung Bereitschaftsraum. Dort saß wie versprochen Doko Karpo, dankbar sah ich zum Major hinüber.

"Na dann komme mal Kahlyn. Wir gehen in die Sanistube. Was hast du gemacht?"

Erschrocken sah Doko Karpo auf mein vollkommen entzündetes Bein, ich schaute Karpo dankbar an, weil er so schnell gekommen war.

"Es ist nichts weiter, Doko. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Mich hat gestern so ein Verrückter, auf einem Waldweg fast umgefahren, als das Unwetter war. Ich konnte gerade noch zur Seite springen und bin in einen spitzen Ast gesprungen, dort war vermutlich Harz dran. Ich konnte die Wunde, nur notdürftig auswaschen, erst nach drei Stunden richtig versorgen. Es war noch viel Schmutz in der Wunde gewesen. Die hat sich entzündet und jetzt ist der Brand drinnen. Ich brauche die rote Salbe, die der Doko Jacob immer für uns angefertigt hat. Haben sie die, Doko? Meine ist leider alle."

Karpo schüttelte den Kopf. "Tut mir sehr leid Kahlyn, leider hat mir Fritz die nicht da gelassen. Was steht auf den Dosen drauf? Was machen wir jetzt?"

Ich stöhnte auf, verdammt, mir blieb nichts erspart. Na es nutzte nichts, zu fluchen. "Doko, das ist eine rote Dose mit einem Totenkopf. Meistens schreibt die Dika nur das Datum drauf und klebt einen Totenkopf drauf, weil die für normale Menschen giftig ist."

Doko Karpo überlegte krampfhaft. Er hatte noch nicht alles ausgepackt, was Jacob ihm geschickt hatte. Aber eine rote Dose wäre ihm aufgefallen.

"Nein Kahlyn, so was hat mir dein Doko nicht geschickt. Aber ich habe noch nicht alles ausgepackt, was dein Doko mir geschickt hat. Ich muss erst noch Regale kaufen. Sorry ich bin einfach noch nicht dazu gekommen. Soll ich mal nach oben gehen und nachsehen?"

Mist ging es mir durch den Kopf. "Doko, das dauert zu lange. Wir müssen dann zu einem Einsatz und ich wollte gern noch etwas schlafen. Würden sie mir helfen die Wunde zu säubern? Alleine geht das schlecht. Wir sollten aber Doko Jacob anrufen, dass er mir die schnellstmöglich schickt. Von der Salbe sollten sie immer einige Dosen in Vorrat haben. Ich neige dazu, schnell einmal den Brand in eine Wunde zu bekommen. Mit der Salbe heilen Wunden bei mir einfach schneller und meine Dose ist schon seit Kuba alle. Keine Ahnung wieso Doko keine neue reingetan hat in den Koffer. Er weiß eigentlich, dass ich die ständig brauche. Um genau das zu verhindern, was wir jetzt machen müssen."

Karpo nickte. "Na dann komm", meinte er und ging in die Sanistube. Dort nahm ich den Beistelltisch, stellte ihn so, dass ich bequem von der Behandlungsliege alles heraus nehmen konnte und setzte mich drauf.

"Doko, sie brauche mir wieder nur zur Hand gehen."

Ich nahm den Spiegel aus dem Koffer und stellte ihn so hin, dass ich etwas sah. Diese Spiegel hatten einen Zoomeffekt, der nur für unsere Augen wahrnehmbar ist. Dadurch, konnte man einfach Äderchen die verletzt war, besser in Ordnung bringen.

"Doko, sie müssen versuchen, die Blutung zu stoppen, durch abdrücken der Beinarterie, schauen sie so."

Damit zeigte ich ihm einen Griff, der verhinderte, dass ich zu viel Blut verlor. Ich könnte das auch durch abbinden unterbinden, allerdings war es auf diese Weise einfach besser. Karpo stellte sich hinter mich und begann die Arterie abzudrücken. Ich nahm das Skalpell und schnitt die Wunde wieder auf. Es nutzte nichts, das entzündete Gewebe musste großflächig heraus geschält werden. Auch die tiefe Wunde säuberte ich dieses Mal durch ausschälen. Es war ziemlich heftig. Die Entzündung war schon sehr weit fortgeschritten. Dann nahm ich ein Vendurat heraus, dass sind hauchdünne Röhrchen die zum Schutz von verletzten Arterien verwendet wurden. Dieses Vendurat bestand aus einem sich im Körper langsam auflösenden Stoff. Die unterwegs zugebrannte Arterie schnitt ich wieder auf und schob die Vendurat in die Arterie hinein, es kam etwas Kleber darauf und wurde mit dem Brenner vorsichtig versiegelt. Ich bat Karpo, dass er vorsichtig locker lassen sollte. Dadurch konnte ich überprüfen, ob die Verbindung dicht war. Es blutet nicht mehr. Das war gut, dadurch war die Blutzirkulation wieder vollkommen hergestellt und die Heilung ging dadurch schneller vonstatten. Anschließend füllte ich Venruat, das wie das Vendurat aus sich auflösenden Mittel bestand, in das entstanden Loch. Es würde in wenigen Stunden, mit dem vorhandenen Gewebe eine Symbiose eingehen. So würde nach und nach, dass fehlende Haut und Muskelgewebe nachwachsen. Zum Schluss, brachte ich das Venruat noch auf die großflächige Wunde auf, um sie im Anschluss mit dem Brenner zu versiegeln.

Beides, das Vendurat und das Venruat, hatte Doko Jacob erfunden. Doko war einfach, der beste Arzt den ich kannte, ging es mir durch den Kopf. Genau wie das Venzarn, das ist ein Garn, dass wir zum Nähen von Wunden nutzen. Da wir normale Fäden, aus der Humanmedizin nicht vertrugen und wie so vieles für uns, extra hergestellt werden musste.

Bei der kleinen Operation, erklärte ich Karpo Schritt für Schritt, was ich warum und weshalb tat. Ich sah an seinem skeptischen Gesicht, dass er an der Wirksamkeit meiner Methode zweifelte. Allerdings blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich den Brand nicht in den Griff bekam, würde ich richtig Probleme bekommen. Der Wundbrandt fraß sich bei uns, schnell durch den ganzen Körper. Da, wie mir Doko Jacob einmal erklärte hatte, bei uns keine Antibiotika oder Penizillin angewandt werden konnte. Dem einzigen Mittel, das bei normalen Menschen, bis jetzt gegen den Wundbrandt half. Da wir auf Penizillin oder ähnliche Medikamente, allergisch reagierten, war der Brandt noch um einiges gefährlicher, als sonst irgendeine Krankheit.

Nach dem die Wunde versiegelt war, bereitete ich das vor, was immer am Schlimmsten war, bei dieser Art Wundbehandlung. Um das Ausbreiten vom Brand zu verhindern, musste ich unter das Venruat, Acidum hydrochloricum spritzen. Das ist eine Salzsäure, die zwar verdünnt wurde und nur eine Konzentration von zwanzig Prozent besaß, aber dennoch war die Prozedur barbarisch. Die Schmerzen die wir dabei durchleben mussten, waren fast unerträglich. Ich räumte meinen Koffer zusammen. Behielt mir nur einige Kanülen zwei Spritzen und den Ampullenkoffer auf der Liege. Den Medi-Koffer gab ihn Karpo, damit er ihn zur Seite stellen konnte.

"Doko, bitte ich brauch John und sie jetzt."

Karpo ging hinaus, um John zu holen. In der Zeit, in der Karpo John holte, hatte ich die siebzehn Kanülen schon in die Positionen gebracht, damit Karpo der das ja noch nie gemacht hatte, wusste, wohin er spritzen musste. So brauchte er nur noch von Kanüle zu Kanüle wechseln. Im Anschluss zog ich eine Spritze mit einer dreifachen Dosis B97 auf und legte diese in den Ampullenkoffer. Ebenfalls füllte ich eine große Spritze mit den Acidum hydrochloricum, die dann Karpo spritzen sollte. Dazu war ich leider selber nicht in der Lage. Als beide im Raum kamen, erklärte ich ihnen, was sie machen mussten. Beide starrten mich entsetzt an und zweifelten, so hatte ich den Eindruck, an meiner Zurechnungsfähigkeit.

"Seht mich nicht so an. Ich habe die Salbe nicht, wenn ich den Brand nicht in den Griff bekomme, bin ich in achtundvierzig Stunden tot. Das, was ich jetzt mache, ist zwar verdammt schmerzhaft, aber es hat sich schon tausend Mal bewährt. Ich weiß sehr wohl, was ich tue. Aber alleine schaffe ich das nicht. Früher hatte ich immer meine Freunde, die mir dabei geholfen haben. Jetzt habe ich nur euch. Wollt ihr mir helfen? Ja oder Nein?", forderte ich mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.

"Ja klar helfe ich dir", sagte John und Karpo nickte stumm, denn ihm war nicht wohl bei dieser Sache.

"Wollt ihr draußen Bescheid sagen. Ich werde bestimmt schreien. Ich habe zwar eine höhere Schmerzgrenze als ihr, aber manche Schmerzen, sind auch für mich kaum zum Ertragen. Ich kann das, wenn ich im Nirgendwo bin, nicht steuern, tut mir leid."

John schüttelte den Kopf. Dann nickte er und verließ nochmals den Raum. Karpo sah mich zweifelnd an.

"Kahlyn, gibt es wirklich keine Alternative, zu dieser bestialischen Behandlung?"

Ich schüttelte den Kopf. "Doko, keine die ich kenne. Denken sie Doko, ich würde mir das sonst freiwillig antun?"

John kam zurück und natürlich in Begleitung von Sender, der wie immer eine Diskussion anfangen wollte.

"Kahlyn, was ist los. John meinte…"

Ich unterbrach ihn einfach. Ich wollte die Prozedur einfach nur schnell hinter mich bringen. Es wurde nicht besser, von einer sinnlosen Diskussion.

"Rudi, bleibe hier und helfe John beim Festhalten, oder gehe raus. Ich will es hinter mich bringen. Es wird nicht besser, wenn ich noch eine Stunde mit dir diskutiere. Entweder ich tue das jetzt sofort oder du brauchst in achtundvierzig Stunden Ersatz für mich. Dann bin ich nämlich Tod."

Sender sah mich entsetzt an, dann blickte er zu Karpo. "Stimmt dass Jens."

Der nickte traurig. Ich hatte ihm gesagt wie groß die Wunde noch vor zwölf Stunden gewesen war. Er hatte den Ernst der Lage begriffen.

"In Ordnung, ich helfe John beim festhalten."

Ich legte mich hin. "Doko, falls ich das Bewusstsein verliere, spritze mir danach bitte B97, das ist ein Schmerzmittel mit einer Langzeitwirkung von drei Tagen. Es liegt schon aufgezogen im Ampullenkoffer. Ich habe es dir schon fertig gemacht. Dann lasst ihr mich eine Stunde schlafen. Dann bin ich wieder fit. Fang an Doko, ich will es endlich hinter mich bringen. Bitte spritze immer eine Einheit pro Kanüle und bitte hintereinander, immer wenn ich ausatme. Solange ich das schaffe. Wenn ich es nicht mehr schaffe im Atemrhythmus zu bleiben, einfach so schnell du kannst. Dann ist es sowieso egal, dann bekomme ich es nicht mehr mit. Umso schneller hört es auf. Lass mich erst richtig in den Rhythmus kommen. Ich nicke, wenn du anfangen kannst. John ich werde mich wehren. Fast so schlimm, wie bei dem Anfall. Ihr müsst also richtig festhalten."

Damit schloss ich die Augen und fing an mich einzuatmen. Konzentrierte mich auf die Atmung, ein-aus-ein-aus. Ich nickte, gab somit das Startzeichen, das Karpo beginnen konnte. Schon kam die erste Schmerzwelle. Konzentriere dich Kahlyn. Ein-aus, ein-aus ... bei der neunten konnte ich nicht mehr und fing an zu schreien. Verdammt noch mal, so schlimm wie diesmal war es noch nie. So oft hatte ich das schon gemacht, aber diesmal war es die Hölle. Dies Schmerzen sie sollen aufhören, bitte hört doch auf. Auf einmal war es vorbei, ein wollig warmes Gefühl, machte sich in meinem Körper breit und der Schmerz ließ etwas nach. Langsam kam ich wieder zu mir. Tief atmend öffnete ich die Augen. Sender, Karpo und John standen neben mir. Ich setzte mich vorsichtig auf.

"Danke, ich hoffe es war nicht zu schlimm", sagte ich leise.

John sah mich fragend an. "Willst du dich hinten hinlegen."

Ich nickte. Dann sah ich das Doko Karpo sich die Hand verätzt hatte.

"Moment. Doko, gebe mir bitte mal den Koffer. Ich verarzte deine Hand. Entschuldige, ich wollte dich nicht verletzen."

Karpo schüttelte den Kopf.

"Doko, ich würde gerne schlafen. Wenn wir hier erst wieder eine Stunde diskutieren, ist das meine Schlafenszeit die dahin geht. Los her mit der Hand. John, geb mir den Koffer rauf."

Schnell war die Handversorgt, etwas Venruat darauf, darüber B08 das ist ein örtliches Betäubungsmittel und fertig. Ein Verband darüber.

"Wenn du Schmerzen hast oder bekommst Doko, spritze das B23, das ist das Schmerzmittel mit Langzeitwirkung."

Ich zog die Kanülen heraus und verband mein Bein. Zusätzlich klebte ich längs den Verband mit Klebestreifen fest, fixierte ihn dadurch zusätzlich, um ein Verrutschen zu vermeiden. Es gab nichts Schlimmeres, als ein Verband der nicht richtig saß. Dann stand ich auf.

"Danke ihr Drei, für eure Hilfe. Ich weiß die Prozedur, ist für euch noch schlimmer als für mich. Doko, denkst du bitte daran, bei Doko Jacob wegen der Salbe anzurufen. Oft möchte ich das nicht machen müssen. Es ist jedes Mal die Hölle."

Karpo nickte verständnisvoll und sah auch nicht so aus, als ob er das noch öfter machen wollte und vor allem konnte.

"Klar mache ich. Noch einmal stehe ich das nicht durch."

Das glaubte ich ihm gerne. Ich habe das schon so oft, bei anderen gemacht. Ich wusste wie schlimm das war. Nicht nur wegen der Schmerzen.

"Danke, ihr seid wirklich gute Freunde. Doko, kannst du mir meinen Koffer gleich auffüllen und wieder hierher bringen lassen. Wir haben dann gleich einen Einsatz, da muss er voll sein", im gleichen Atemzug stand ich auf und ließ die anderen allein. Ich wollte nur noch ins Bett. An der Tür drehte ich mich noch mal um. "Weckt mich bitte ein halbe Stunde vor Abfahrt. Ich möchte wenigstens einen kurzen Blick ins Dossier werfen. Also bis gleich", gab ich Befehle, die mir eigentlich gar nicht zustanden.

Aber ich war es so gewohnt die Einsatzleitung zu übernehmen und schon in den Gedanken auf einen neuen Einsatz fokussiert, dass mir das gar nicht bewusst wurde. Ich öffnete die Tür und ging leicht humpelnd, ohne auf die anderen zu achten, nach hinter in den Schlafsaal, die Uhr vor Rudis Büro zeigt 12 Uhr 42. Mir blieb also noch eine reichliche Stunde, die ich schlafen konnte. Kaum dass ich im Bett lag, ich brauchte keine drei Atemzüge, war ich fest eingeschlafen. Ich war endlich zu Hause angekommen. Vor allem wusste ich jetzt genau, dass ich hierhergehörte. Auch wenn es bestimmt noch zu vielen Missverständnissen kam, zwischen Rudi und mir, würden wir uns bestimmt zusammen raufen. Das hatten mir diese drei Männer, zu denen ich am meisten Vertrauen hatte, gerade bewiesen. Denn keiner, der dich nicht wirklich von Herzen liebt, würde dir bei solch einer Prozedur helfen. Die war nämlich für die Anderen noch um einiges schlimmer, als für dich selber. Dein eigener Körper weigerte sich irgendwann, diese Schmerzen zu ertragen und schaltete einfach ab, die Anderen mussten obwohl du in diesem Moment völlig wehrlos bist, weiter machen mit dieser höllischen Prozedur. Es gehörte viel Überwindung und Mut dazu, an diesen Punkt weiter zu machen und einem Freund, dieses Schmerzen bis zum Schluss anzutun.

Der Brandt in meinem Bein, hatte also auch etwas Gutes gebracht. Es bewies mir, dass ich hier drei gute Freunde hatte. Freunde denen ich zu hundert Prozent vertrauen konnte. Dies sah man auch an meinem Schlaf. Ich konnte völlig abtauchen. Froh endlich wieder ein Zuhause zu haben, in dem ich mich sicher fühlen konnte und froh den Brandt in den Griff bekommen zu haben.

 

Von ganz weit entfernt hörte ich eine Stimme, die nach mir rief. "Kahlyn, du musst aufwachen. Mäuschen, wir müssen dann wirklich langsam los."

Ich öffnete die Augen und das Erste was ich sah, war mein John. "Ich komme sofort."

Ich stand vorsichtig auf und machte erst einmal einen Stehtest. Es kam immer einmal vor, dass einen die Beine nach einer solchen Prozedur nachgaben. Aber es war alles in Ordnung.

"Wann müssen wir los, John?"

Erkundigte ich immer noch völlig verschlafen und rieb mir müde das Gesicht.

"In zehn Minuten, Mäuschen. Entschuldige ich habe dich nicht eher munter bekommen. Du hast so fest geschlafen. Ich habe dich fast nicht munter bekommen."

Ich winkte ab und begriff, dass ich in einer ruhigen Minute, einmal mit John in Ruhe reden musste. Im Moment war dazu aber keine Zeit.

"Dann komm, John. Beeilen wir uns. Weißt du, was wir für Ausrüstung brauchen? Ich wollte eigentlich noch einmal kurz in das Dossier schauen. Damit ich Bescheid weiß, was ich an Ausrüstung mitnehmen muss."

John zuckte verlegen mit den Schultern. "Keine Ahnung, Mäuschen. Ich nehme immer nur Nahkampfausrüstung mit. Für den Rest, setzt mich Rudi sowieso nicht ein. Aber das Dossier, liegt bei Rudi im Büro. Da kannst du selber schnell einmal rein schauen. Ich denke zehn Minuten hast du bestimmt Zeit, wenn du nicht noch duschen gehen willst."

Ich nickte und lief im Laufschritt los. Der Einsatz würde hart werden. Das merkte ich schon bei den ersten Schritten. Mein Bein brannte wie Feuer. Doko Karpo hatte es etwas zu gut gemeint, mit der Dosierung. Allerdings war das um vieles besser, etwas mehr als zu wenig zu spritzen. Dies bedeutete zwar etwas mehr Schmerzen, aber dadurch wusste man, dass man den Brand in den Griff bekam. Da musste ich jetzt durch, was blieb mir anderes übrig.

Unschlüssig stand ich vor Rudis Büro, denn der war nicht anwesend. Ich schaute John fragend an. Gerade setzte ich zu der Frage an, ob ich überhaupt in das Dossier schauen durfte, als mir John schon die Antwort gab. Ich glaube er kannte mich schon ziemlich gut. Dankbar sah ich ihn an.

"Geh nur rein, Mäuschen. Das geht schon in Ordnung. Ich warte solange hier. Rudi schimpft nicht gleich wieder mit dir."

Ich ging also zum Schreibtisch und blätterte das Dossier durch. Grob und nicht ins Detail gehend, las ich mir den Ordner durch. Wir würden beides brauchen. Aber so wie ich das überblicken konnte, brauchte ich die Schwerter nicht. Aber irgendetwas stimmte dort nicht. Darüber musste ich im Bus noch einmal in Ruhe nachdenken.

"In Ordnung ich nehme beides mit", informierte ich John.

Sofort schloss ich das Dossier wieder und legte es wieder so hin, dass es nicht auffiel, dass ich daran war. Etwas, dass ich mir angewöhnt hatte, weil Mayer regelmäßig in die Luft ging, wenn wir an seinem Schreibtisch waren. Eilig lief ich zur Tür und ging auf John zu, der mich ganz verdutzt ansah. Das konnten wir alles im Bus regeln. Ich musste mich noch fertig anziehen. Deshalb lief ich weiter zu den Spinden und zog meine übliche Ausrüstung an. Diesmal zog ich auch meine Spezialschuhe an und legte meinen Nahkampfgürtel um. Ich rüstete ihn wieder aus. Auf die Schwerter, Tonfa und die Sai verzichtete ich allerdings, die würde ich nicht brauchen. Das alles dauerte keine vier Minuten, ich hatte halt einige Übung drin. Fertig ausgerüstet stand ich wartend an meinen Spind und sah John zu wie er sich fertig machte. Der schüttelte mit dem Kopf und war erstaunt, dass ich bereits fertig war.

"Na dann los, die anderen warten schon im Bus auf die Schlafmütze und ihren Wecker", rief uns Sender lachend zu.

Ich sah fragend zu John, der mich lachend ansah. Also war das keine Rüge, sondern ein Spaß, den sich der Major erlaubt hatte. Na ja sollte er nur lachen. Das würde ihm heute noch vergehen, ging es mir durch den Kopf. Sender hatte sich nur noch sein Dossier geholt, dass er im Büro hatte liegen lassen. Ich nahm meinen Medi-Koffer und folgte Beiden nach unten in den Hof. Wir bestiegen den Bus und ich setzte mich auf den gewohnten Platz, vorn in die erste Reihe, auf der rechten Seite, gleich neben den Einstig. Dies war ein guter Platz. Von dort aus konnte ich alles, was vor mir geschah, gut im Blick behalten. Was hinter mir passierte, interessierte mich nicht sonderlich, da saßen meine Freunde. Meine Freunde, ging es mir durch den Kopf. Ich wunderte mich über mich selber. Nie hätte ich mir das vorstellen können, in nur acht Tagen, so etwas wie eine Freundschaft aufbauen zu können. Trotzdem war es geschehen und ich war froh darüber. Dass ich eigentlich auf Senders Platz saß, war mir gar nicht bewusst. Ich hatte mich dort hingesetzt, weil es der einzige freie Platz war, als wir das erste Mal in das Einsatzfahrzeug stiegen. Mein Major hatte einfach akzeptiert, dass ich ihm seinen Platz gestibitzt hatte. Rudi konnte damit leben, er suchte sich einen anderen Platz. Mittlerweile wusste er nur zu genau, dass ich diesen Überblick immer brauchte, um alles genau beobachten zu können und so ein Gefühl von Sicherheit zu haben. Vor allem aber schnell agieren zu können. John setzte sich neben mich.

"Wie geht es dir Mäuschen?", erkundigte sich mein Freund besorgt.

"Es geht. Weißt du wie lange wir fahren? Ich hab nicht darauf geachtet, wo wir hinfahren. John bitte sage dem Major, in der Planung ist ein grober Fehler. Wenn wir so vorgehen, wie diese verdammten Theoretiker es da oben vorgeschlagen haben, werden viele verletzt oder müssen sogar sterben."

John sah mich verdutzt an. "Mäuschen, du hast keine drei Minuten in das Dossier geguckt. Woher weißt du das schon wieder? Rudi grübelt seit zwei Tagen und findet den Fehler nicht."

Müde sah ich John an. "John bitte, könnten wir das dann bereden. Ich würde gern noch etwas schlafen."

Der stand auf und ging vor zu Fran. Weil er ja auch noch nicht wusste, wo wir genau hinfuhren. Die Information, wo die Einsatzzentrale sein würde, bekam Rudi erst vor einer halben Stunde. Nach wenigen Augenblicken, kam er zurück.

"Du kannst in Ruhe schlafen Kahlyn, wir fahren fast zwei Stunden."

Dem Himmel sei Dank. Da konnte ich wirklich noch schlafen.

"John, ich würde euch allen empfehlen, noch etwas zu schlafen. Glaube mir, die Sache wird sich ziehen. Die ist nicht in zwei Stunden erledigt."

Wieder schaute mich John zweifelnd an. Ich winkte ab, ich hatte jetzt keine Lust zu reden. Ich fühlte mich wie gerädert und wollte noch etwas schlafen.

"Geht klar Mäuschen, ich sage es Rudi gleich."

John stand noch einmal auf und ging hinter zu Rudi. Ich rollte mich auf meinen Sitz zusammen. Aber es ging nicht. Mein Bein brannte wie Feuer, sobald ich es anwinkelte. John kam zurück und setzte sich wieder.

"John, darf ich mein Bein über deine Beine legen. Dann tut es nicht ganz so weh."

Besorgt sah mich unser Sanitäter an.

"John, es tut nun mal weh. Aber es ist nicht so schlimm. Nur wenn ich es anwinkle, dann brennt es wie Feuer. Es ist besser, wenn es etwas höher liegt, dann sind die Schmerzen nicht so schlimm."

"Na klar, mach nur Mäuschen. Aber verspreche mir eins, wenn es nicht geht, sagst du einfach Bescheid. Wir schaffen es auch ohne dich, versprochen Mäuschen?"

Ich nickte und lehnte mich an die Scheibe. Meine Beine legte ich über Johns Schoss. Drei Atemzüge später, schlief ich wieder tief und fest. Denn ich wusste mir konnte hier wirklich nichts geschehen. Nach anderthalb Stunden erwachte ich etwas erholter auf. John schlief noch. Ich schloss wieder die Augen und wandte eine Technik an, die wir schon sehr zeitig gelernt hatten. Kontrollierte auf diese Weise mein Bein. Ich hatte wieder einmal Glück gehabt, der Brand war aus der Wunde heraus. Das beruhigte mich sehr. Auch wenn mein Bein schmerzen würde, während des gesamten Einsatzes, die Gefahr war vorbei. Vorsichtig, um John nicht zu wecken, griff ich nach meinem Medi-Koffer, öffnete ihn und nahm den Ampullenkoffer heraus. Dann zog ich vierzig Einheiten B32 auf, das waren acht Spritzen, die ich in das Brillenfach meines Gürtels legte und dazu legte ich acht eingeschweißte Kanülen. Spritze mir gleich fünf Einheiten, so dass die Schmerzen nicht mehr so schlimm waren. Auf diese Weise, konnte ich unterwegs ohne großen Zeitaufwand, etwas gegen die Schmerzen unternehmen.

Der Vorteil der Schmerzmittel die wir verwendeten war, dass sie nicht wie Morphium abhängig machten. Die Wirkung war ähnlich stark, jedoch machten sie nicht deppert im Kopf. Man blieb ständig der Herr seiner Sinne, egal wie hoch man das Medikament dossierte. Man konnte sie im Notfall, also wenn es wie im Kampf, darauf ankam schmerzfrei zu sein, auch einmal sehr hochdosieren. Konnte sie am nächsten Tag sofort wieder absetzen, ohne, dass davon die Wirkung beeinflusst wurde oder man abhängig wurde. Ich würde bei dem Einsatz bestimmt auf fünfzig bis sechzig Spritzen kommen. Aber das war im Kampf oft so. Die maximale Dosierung, lag bei tausendfünfhundert Einheiten, also dreihundert Spritzen. Das hatten wir nur ganz selten gebraucht und noch seltener Überschritten. In den vielen Kämpfe die wir während unserer Schulzeit hinter uns gebracht hatten, waren wir oft auf zweihundert Spritzen pro Tag gekommen. Das Mittel, was ich mir heute Mittag gespritzt hatte, besaß zwar eine Langzeitwirkung und war viermal stärker als das B32, es würde aber nicht genügen. Bei einem Kampf, würde die Wirkung nicht in dem Maße die Schmerzen zu unterdrücken, wie wir es brauchten, um schmerzfrei zu sein. Im Kampf waren Schmerzen nur hinderlich. Wenn man Schmerzen hatte, konnte man sich nicht richtig konzentrieren und erst recht nicht frei bewegen, das war einfach nicht möglich.

Deshalb sorgte ich in während des Kampfes immer dafür, dass meine Teammitglieder keinerlei Schmerzen hatten. Auch ich konnte nicht kämpfen, wenn ich bei jeder Bewegung, gegen Schmerzwellen ankämpfen musste. Schmerzen lenkten einen nur von der eigentlichen Arbeit ab und Ablenkung im Kampf hieß nichts anderes, als eine höhere Verletzungsgefahr. Deshalb war es wichtig in einem Kampf schmerzfrei zu sein. Verdammt lange hatte es gedauert, bis Doko Jacob dieses Prinzip verstanden hatte und mir, zusammen mit Doktor Zolger den Chefwissenschaftler des Projektes half, ein solches Schmerzmittel zu entwickeln. Die Medikamentenreihe der Betäubungsmittel, also der B-Reihe, waren auf diesem Prinzip aufgebaut, genau, wie alle anderen Medikamente, die wir verwendeten. Je höher die Zahl hinter dem Buchstaben, umso höher war deren Wirkung.

Ich war froh, dass wir diese Mittel besaßen. Sonst hätten wir bei vielen der Kämpfe gar nichts mehr machen können. Sondern hätten uns vor Schmerzen zusammengekrümmt am Boden gesielt oder wären ständig völlig verwirrt oder wie besoffen, in der Gegend herumgelaufen.

Doko hatte am Anfang unsere Medikamente nicht bei anderen Projektbewohnern verwenden wollen und seine Patienten mit den handelsüblichen Medikamenten behandelt. Wir wunderten uns dann nur darüber, dass die Mitarbeiter teilweise über Wochen in den Betten der Krankenstation lagen und jammerten. Dass sich viel trotz der Medikamente kaum noch bewegen konnten oder wenn sie denn schmerzfrei waren, einen völlig verwirrten Eindruck auf uns machten. Doko erklärte mir, dass jedes Medikament, das er verwenden durfte, erst eine behördliche Genehmigung bräuchte und erst wenn er die hatte, durfte er sie an den Patienten anwenden.

Verwirrt von seiner Erklärung schlug ich ihm dann vor, frage doch einfach deine Patienten ob sie eure oder unsere Medikamente bekommen wollen. Es würde doch keiner etwas dagegen haben, wenn er zwar Rippenbrüche hatte, aber keine Schmerzen. Erst seit dem unser Doko anfing unsere Medikamente, auch bei seinen Patienten einzusetzen, soweit das möglich war und die das wollte, fiel keiner seiner Patienten mehr für so lange Zeit aus. Natürlich nur dann, wenn die Mitarbeiter es zuließen und ihm schriftlich die Genehmigung dazu gaben. Sogar Mayer schoss es mir durch den Kopf, ließ sich mit unseren Mitteln behandeln. Er meinte mal, dieser andere Medikamentenmist würde nichts taugen. Ja klar, vor allem vertrug es sich nicht mit seiner Sauferei.

Lachend räumte ich meinen Medi-Koffer wieder ein, während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen und stellte ihn unter den Sitz. Im Anschluss schloss ich noch einmal für kurze Zeit die Augen. Der Schlaf war nur noch sehr oberflächlich. Aber dafür umso entspannender. Zwanzig Minuten fuhren wir noch und kamen endlich in der Einsatzzentrale an.

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Lange Zeit hatte es gedauerte bis Kahlyn begriff, dass sie auf ihre neuen Kollegen vertrauen und sich immer auf deren Hilfe verlassen konnte. Endlich verstand sie, dass sie hier in der Wache Freunde besaß. Dass sie sagen konnte, was sie dachte, genau wie bei ihren Freunden in der Schule. Auch dass sie ihrem Vorgesetzten die Meinung sagen durfte, ohne dass sie Schläge zu erwarten hatte. Die Männer vom SEK61 in Gera, würden sie niemals wegen einer anderen Meinung schlagen oder verurteilen. Kahlyn wurde, obwohl sie noch so jung war, als vollwertiges Teammitglied anerkannt und vor allem zweifelte niemand mehr an ihren Fähigkeiten. Ein Gefühl der Geborgenheit hatte von ihr Besitz gegriffen, das sie noch nie in ihrem Leben vorfand. Immer noch verstand sie nicht alles, was die Kollegen von ihr wollten. Allerdings begriff das Mädchen langsam aber sicher, dass sie sich selber etwas mehr Zeit geben musste, um das Neue das sie umgab zu erlernen.

 

Der Stress und der Horror, um Kahlyn hörten einfach nicht auf. Wenn die Kollegen des SEK61 in Gera dachten, es würde jetzt endlich etwas ruhiger, um ihre so junge Kollegin werden, wurden sie enttäuscht. Auf der einen Seite, behielten sie zwar Recht, auf der anderen Seite irrten sie sich gewaltig. Zwar hörten endlich die Schreiattacken ihrer Kollegin auf, da sie erkannt hatte, dass sie ihre vergangenen Erfahrungen, von der Welt in der sie jetzt lebt, vollständig trennen musste. Kahlyn begriff langsam, dass das eine nichts mit dem anderen zu tun hatte und bekam sie ihre Anfälle fast vollständig in den Griff. Aber der Stress wurde deshalb nicht weniger.

 

Kahlyn, so schien es, zog schlimme Einsätze an wie ein Magnet das Metall. Allerdings brauchte es noch eine ganze Weile, bis Kahlyn in der Lage sein würde das zu erkennen und eine Möglichkeit finden konnte, dagegen vorzugehen. Für Kahlyn waren das alles normale und keineswegs schwere Einsätze. Ihre Kollegen allerdings machten diese Art von Einsätzen, langsam aber sicher systematisch kaputt. Die Kollegen des SEK61 fanden sich auf einmal in Einsätzen wieder, deren Gewaltigkeit sie nicht einmal erahnen konnten. Sie bekamen einen kleinen Einblick, in die Abgründe der Menschheit, von deren Existenz sie genauso wenige Ahnung hatten, wie einst Doktor Jacob. Sie begriffen erst mit der Zeit, welch ein Glück sie hatten, dass Kahlyn zu ihrer Einheit gestoßen war. Oder war dies eher ihr großes Pech?

Oft erklärte ihnen die neue Kollegin, dass das alles einfache und harmlose Einsätze wären. Diese Erlebnisse, holten ihre Kollegen sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Schreiattacken mit Kahlyn, würden den Männern der Sender Teams, bald wie ein leichter Ausrutscher vorkommen. Denn die Einsätze die auf einmal, auf die Teams zukamen, waren nichts anderes als der blanke Horror und es waren TODESKOMMANDOS. Durch die Anwesenheit Kahlyns in dem Geraer Team, wurden immer mehr undurchführbare Einsätze, an das Team weitergeleitet.

Allein der erste große Einsatz den das Team mit Kahlyn erlebte, brachte die schon erfahrenen Kämpfer an den Rand der Verzweiflung. Viele von ihnen glaubten, in ihren schlimmsten Alpträumen gefangen zu sein. Dieser Einsatz war in Kahlyns Augen, ein Einsatz zum Warmmachen und diente der Erholung. Dieser Einsatz war es nicht wert, dass man darüber sprach. Der Einsatz war zwar nicht schön, aber darüber zu reden lohnte nicht. Sie führte die Teams mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Einsätze, den die Teams trotz ihrer Erfahrung mit ihrem Leben bezahlt hätten. Vor allem ohne dass die Männer viel zu tun bekamen, die meiste Arbeit übernahm stets Kahlyn. Die Männer konnten trotzdem danach kaum mehr schlafen und waren tagelang kaum noch ansprechbar. Wenn die Teams allerdings dachten, es ginge nicht schlimmer, so irrten sie sich gewaltig. Es ging immer schlimmer, das wusste Kahlyn nur zu gut.

Immer wenn das SEK61 sich von einem Schock etwas erholt hatte, wurde dafür gesorgt, dass der nächste Kampf, die Grenze des Ertragbaren überschritt und es noch um einiges schlimmer für die Teams wurde. Nur gut, dass sie Kahlyn hatten, die die erwachsenen Männer auffing und ihnen zeigen konnte, wie sie mit diesem Wahnsinn klar kommen konnten.

 

Wie immer musste Kahlyn auch im SEK61 in Gera mehr arbeiten als ihre Kollegen. Auch während ihrer freien Tage, holte man sie gewohnter Weise zu Einsätzen.  

Die Runges mussten, genau wie Sender lernen, dass es nicht einfach werden würde, Kahlyn in ein normales Leben zu integrieren. Allerdings wurde es, mit jedem Schock den Kahlyn erlebe musste besser. Immer öfter begriff Kahlyn, dass man sie bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht ein einziges Mal als Mensch behandelt hatte. Der Zorn in ihr wurde immer schlimmer und es kostete sie immer mehr Mühe, ihren Zorn nicht an den neuen Freunden auszulassen.

Das Mädchen verstand sich selbst nicht mehr was mit ihr los war und zweifelte immer mehr an sich selber. Vor allem begriff die Ärztin in ihr nicht, wieso ihr das Fieber immer noch so schwer zu schaffen machte und sie einfach nicht zur Ruhe kommen ließ. Kahlyn suchte die Schuld für diese Tatsache, ständig bei sich. Denn keiner ahnte, was der wahre Grund für all ihre Beschwerden war...  

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Brief der Autorin

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meiner Kahlyn einem Mädchen aus einer Geschichte in das ich mich verliebt habe und allen die gern lesen.

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