Cover

Vorwort

 

 

Es ist dem Verfasser ein Anliegen, diesem Werk, wie es heute in dieser Form dem Leser erstmals vorgelegt werden kann, einige einleitende Worte vorauszuschicken.

 

Das Werk entstand im Laufe vieler Jahre in akribischer Kleinarbeit und aus den unterschiedlichsten Quellen, die uns bis heute erhalten geblieben sind. Diese Quellen künden von den generellen Zuständen und von einigen Einzelschicksalen gegen Ende des Unglaublichen Zeitalters von Untendruntererde. Es mag als Verdienst dieses Buches angesehen werden, dass die einflussreichsten persönlichen Schriften und die wichtigsten amtlichen Dokumente dieser Zeit nun zum ersten Mal in Gestalt eines historischen Romans dargestellt und so einer breiten Öffentlichkeit vermittelt werden können.

 

Der Verfasser spricht an dieser Stelle mehreren Behörden, Institutionen und Personen, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre, seinen besonderen und tief empfundenen Dank aus.

 

An erster Stelle und ganz besonders herzlich sei der gemeinnützigen Flöto-Säcklein-Stiftung gedankt, die die wertvollen Augenzeugenberichte, allen voran die zahlreichen Tagebücher Flöto Säckleins, welche die bedeutendste Grundlage dieses Werkes bilden, über die Zeitalter hinweg konserviert und dem Verfasser in vollem Umfang zugänglich gemacht hat.

 

Dank gebührt auch den Königlichen Archiven von Klondor zu Minus Arthritis, deren Bedienstete dem Verfasser Zugang zu den altehrwürdigen amtlichen Dokumenten dieser Zeit sowie zu den Königlichen Chroniken gewährt haben, welche die Einordnung der Berichte Flöto Säckleins und seiner Gefährten in einen größeren Zeit- und Ereignisrahmen erlauben.

 

Der Verfasser dankt ferner dem Königlich Klondorischen Patentamt, den Gewerbe-, Grundstück- und Einwohnerregistern von Rauchman, Klondor und Mordstor, der Stadtbibliothek Sackhausen und nicht zuletzt den zahlreichen namentlich nicht aufführbaren Helfern, die dem Verfasser bei seiner Arbeit jegliche Unterstützung zuteilwerden ließen.

 

Der Verfasser war bestrebt, dem Geist der originalen Handschriften sowohl bei Übersetzungen als auch bei der Übertragung in das moderne Vokabular möglichst treu zu bleiben. In Anbetracht der schier überwältigenden Größe seines Vorhabens sah er sich  jedoch zuweilen auch dazu genötigt, in diesem Werk gewisse Straffungen, Streichungen und Kürzungen der vorliegenden Urtexte vorzunehmen. Trotz dieser Eingriffe war es stets erklärtes Ziel des Verfassers, die oftmals deskriptiv-lyrische Diktion der Säcklein-Tagebücher so weit wie möglich zu erhalten.

 

Inwieweit es dem Autor gelungen ist, diese seine Ziele zu erreichen, möge der wohlwollende Leser selbst beurteilen.

 

Der Verfasser hat zudem bestimmte Passagen in den Manuskripten, die in unserer modernen Zeit unverständlich wären, oder die wissenschaftlich kontrovers diskutiert werden, mit eigenen Anmerkungen ergänzt, wenn ihm dies für das Verständnis des Lesers förderlich erschien.

 

Zur vollständigen Durchdringung der zahlreichen und vielschichtigen Ereignisse, die in diesem Werk nur kurz angerissen werden können, und die unter der Bezeichnung „Großer Ringelschwanz-Konflikt“ Eingang in die Annalen von Untendruntererde gefunden haben, befindet sich ein Anhang in Gestalt eines vierzigbändigen Nachschlagewerkes in Vorbereitung. Falls dieses Vorhaben jemals ein der Veröffentlichung würdiges Stadium erreichen sollte, darf der interessierte Leser versichert sein, dass in geeigneter Weise darauf aufmerksam gemacht werden wird.


 

Der Verfasser

 

Mark Janiczek

 

Prolog I

Vom Schlammland und von den Haubitzern

 

 

Vor langer Zeit herrschten Glück und Eintracht im Königreich Klondor von Untendruntererde.

 

Menschen, Zwerge und Elber lebten friedlich nebeneinander her, trieben miteinander Handel und andere angenehme Dinge und ließen einander überwiegend in Ruhe. Die Städte Klondors gediehen daher aufs Prächtigste. Musik, Malerei, Poesie und Schauspiel wurden immer weiter verfeinert, und die Kunst der doppelten Buchführung gelangte in dieser Zeit zu ihrer schönsten Blüte.

 

Ein kleiner Teil des Reiches, welcher weit im Nordwesten gelegen war, war jedoch nahezu unbewohnt, da es dort zumeist wie aus Eimern regnete. Zuhauf gab es da morastige Regionen, und überall lauerten tückische Sümpfe. In diesen Sümpfen gediehen riesige Mückenschwärme, die über unglückselige Wanderer herfielen und von diesen eine zuweilen letal verlaufende Blutspende einforderten. Häufig überflutete Trampelpfade wanden sich zertretenen Regenwürmern gleich durch das Land und verbanden die Weiler und Dörfer dieses Landstriches, der mit beeindruckender Regelmäßigkeit von großflächigen Überschwemmungen heimgesucht wurde. Das Schlammland wurde diese abgelegene und generell für nutzlos erachtete Region daher genannt.

 

Gegen Ende des Ersten Zeitalters von Untendruntererde gelangten die Haubitzer von irgendwo aus dem Halbwilden Westen des Kontinents nach Klondor. Es bleibt ein Geheimnis der Geschichte, woher sie ursprünglich kamen und was sie dazu veranlasst hatte, ihre bisherigen Wohnhöhlen und Vorratskammern zu verlassen und gen Osten zu ziehen. Schriftliche Aufzeichnungen führten die Haubitzer nicht, und ihre mündlichen Aussagen gegenüber den klondorischen Einwanderungsbehörden waren eher vager Natur. Uralten Aufzeichnungen klondorischer Geschichtsschreiber zufolge erzählten einige Haubitzer von einem Krieg in ihrer ehemaligen Heimat. Andere gaben zu Protokoll, eine Hungersnot hätte sie zur Auswanderung getrieben, und wiederum andere Haubitzer machten Drachen und ähnliche Ungeheuer für den Exodus ihres Volkes verantwortlich. Aus diesen so unterschiedlichen Schilderungen schlossen die Einwohner Klondors messerscharf, dass den Haubitzern ein gar garstiges Schicksal übel mitgespielt haben musste, wenn gleich mehrere verschiedene Katastrophen so geballt über sie hereingebrochen waren. Eine Welle von Mitgefühl schlug den Haubitzern in ihren provisorischen Zeltlagern vor der klondorischen Grenze entgegen.

 

Wie sich zudem alsbald herausstellte, liebten die Haubitzer den Regen und den Morast. Und weicher Schlamm, der zwischen den feisten Zehen ihrer unbeschuhten Plattfüße hervorquoll, bereitete ihnen eine besondere Art von Wohlgefühl, für das den Einwohnern Klondors jegliches Verständnis abging. Als daher der damalige klondorische König Anglophon I. den Haubitzern das Schlammland als künftigen Dauerwohnsitz anbot, nahmen diese hocherfreut das Angebot an und siedelten scharenweise in dieses nasse und schimmelpilzgeplagte Land um. Dies war den Bewohnern Klondors überaus angenehm, weil sich trotz aller Hochglanzprospekte der klondorischen Siedlungsbehörden kaum jemand dazu bereitgefunden hatte, sich dort niederzulassen.

 

Den frisch immigrierten Haubitzern wurde nun im Schnellverfahren die klondorische Staatsbürgerschaft verliehen. Die Einwanderer erkannten im Gegenzug den König von Klondor als ihren Herrscher an und schuldeten ihm damit auch jährlich den Zehnten. Den Einwohnermeldeämtern Klondors gaben die Haubitzer alten Gewohnheiten folgend jedoch zahlreiche Aliasnamen und falsche postalische Anschriften im Schlammland an, sodass die Neuankömmlinge selbst für die gewieften Agenten der klondorischen Steuerfahndung nahezu unauffindbar waren.

 

In Klondors Hauptstadt Minus Arthritis fielen die eingewanderten Haubitzer jedoch alsbald dem verdienten schleichenden Vergessen anheim. Und als nach ein paar Jahrzehnten die Steuerzahlungen aus dem Schlammland zunächst nachzulassen begannen und irgendwann schließlich gänzlich ausblieben, wurde kein einziger klondorischer Beamter in das Schlammland entsandt, um die fälligen Steuerschulden einzutreiben.

 

Die Haubitzer, welche wegen ihrer geringen Körpergröße gemeinhin auch „Halblange“ genannt wurden, verdienten ihren Lebensunterhalt hauptsächlich mit der Schweinezucht, denn das Schlammland bot die besten Voraussetzungen für die Aufzucht und die Mast von Borstenvieh. Der berüchtigte Landstrich war ganzjährig schlickig und morastig, und die Schweine suhlten sich daher mit Vergnügen in dem Dreck, den sie mit ihren Exkrementen freudig mehrten und anreicherten.

 

Landauf, landab gründeten die Haubitzer mit geradezu beängstigender Geschwindigkeit landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, die auf die Schweinezucht spezialisiert waren. Diese tief in den Haubitzern verwurzelte Vorliebe für Schweinevieh ging möglicherweise darauf zurück, dass diese Tiere ihre nächsten Verwandten im weitverzweigten Geäst des Stammbaumes aller Lebensformen von Untendruntererde darstellten. Als körperliche Belege für diese Theorie galten den Gelehrten von Untendruntererde die feisten Arme und die kurzen stämmigen Beine der Haubitzer, ihre kleinen, unter Speckfalten fast verschwindenden knopfähnlichen Schweinsäuglein, ihre stumpfen, Steckdosen gleichenden Nasen und ihre langen, wie trübsinnig herabhängenden Schlappohren.

 

Vielleicht war die unter den Haubitzern so beliebte Zucht von Schweinen aber auch nur der schier unersättlichen Fressgier der Halblangen geschuldet. In ihren unterirdischen Vorratskammern horteten die Halblangen stets riesige Mengen von fetten Schweinekoteletts, geräuchertem und gekochtem Schinken, gebrauchsfertig marinierten Riesenschnitzeln, raffiniert gewürzten Innereien und allerlei Wurstwaren. Ihrer schier unbezähmbaren Fresslust war es wahrscheinlich auch geschuldet, dass viele Haubitzer bereits in der Blüte ihrer Jahre auf Grund Kreislaufversagens und Herzverfettung für immer ihren geliebten Esslöffel abgaben.

 

Letztlich war es aber einerlei, aus welchen Gründen die Haubitzer die Schweinezucht pflegten, entscheidend war, dass es vorzüglich funktionierte. Schweine waren der, wenngleich auch der einzige Exportschlager des Sauenlandes, wie das Schlammland nun genannt wurde. Einige Haubitzer wandten sich indes von der Schweinezucht ab und verlegten sich auf die Futtermittelproduktion, um den stetig steigenden Bedarf an Schweinemastfutter befriedigen zu können. In einigen der nicht ständig überfluteten Abschnitte des Sauenlandes entstanden im Laufe der Zeit große Kolchosen, die den Anbau von Futterrüben, Luzerne, Kartoffeln und Mais betrieben.

 

Das Zusammenleben der Haubitzer mit den Vertretern anderer Völker gestaltete sich insgesamt unspektakulär.

 

Die wenigen Menschen, die sich in diesen Teil der Welt verirrt und nicht mehr hinausgefunden hatten, hielten jeden anderen, der wie die Haubitzer freiwillig in dieses Land zu ziehen bereit war, bereits von vornherein für reichlich minderbemittelt. Und selbst denjenigen Menschen mit äußerst schlichtem Gemüt erschienen die Haubitzer als ganz besonders rückständig, rüpelhaft und überhaupt kaum erträglich. Das Volk der Menschen hielt sich also von den Haubitzern so gut wie möglich fern. Die Haubitzer ihrerseits lebten mit den Großen Tollpatschen, wie sie die Menschen nannten, in dem von alters her überlieferten Zustand intensiven Desinteresses. Daher kam es zwischen Haubitzern und Menschen nur zu wenigen Kontakten. Und selbst diese wenigen Berührungen wurden von beiden Seiten möglichst auf das unumgängliche Maß beschränkt.

 

Was die Zwerge anging, so zeigten diese weder an dem chronisch feuchten Landstrich noch an dessen Bewohnern auch nur das geringste Interesse. Die Zwerge spielten viel lieber mit ihren Meißeln, Hämmern, Ambossen, Äxten und Schilden herum und ertränkten ihre in den unterirdischen Bergwerken und Wohnstätten gelegentlich aufflackernde Klaustrophobie in hochprozentigem Schnaps.

 

Ihrer empfindlichen Nasen wegen lebten keine Elber im schlickverseuchten Sauenland. Der grauenhafte Gestank des massenhaft anfallenden Schweinedungs, der von dem gesamten Landstrich ausging, hätte jeden Elber schon auf tausend Schritte Entfernung so sicher betäubt wie der auf ex gekippte Inhalt einer Literflasche Chloroform auf nüchternen Magen.

 

Die übrigen Völker von Untendruntererde waren entweder kognitiv zu beschränkt, um überhaupt etwas von der Anwesenheit der Haubitzer mitzukriegen oder baten den Verfasser unter Androhung von Schadenersatz-, Unterlassungs- und Verleumdungsklagen ausdrücklich darum, in diesem Werk unerwähnt zu bleiben. Somit kann zu den Beziehungen zwischen Haubitzern und anderen Völkern von Untendruntererde an dieser Stelle nicht mehr viel gesagt werden.

 

Die Schweine fraßen und wurden fett, und die Haubitzer schlachteten die Schweine und aßen sie. So lebten im Sauenland alle glücklich und zufrieden, wenn auch nach Schweinemist stinkend, von der Gicht geplagt und von Vitaminmangel gezeichnet.

 

Doch dieser glückliche Zustand tiefen Friedens sollte nicht lange andauern.

Prolog II

Vom ersten Aufstieg und Fall Saubarons

 

 

Einer der wenigen Menschen, die den bestialischen Gestank des Sauenlandes auszuhalten imstande waren, wollte die unbestreitbaren Erfolge der Haubitzer auf dem Gebiet der Schweinezucht noch übertreffen. Er neidete den Halblangen ihre Exporte und vor allem das viele Gold, welches die Haubitzer mit ihren Sauen scheffelten, während er seine eher unterdurchschnittlichen Schweine kaum noch an den Mann zu bringen vermochte.

 

Insgeheim legte er im größten Keller seines Zuchtbetriebs zur Verwirklichung seiner dunklen Absichten ein ausgedehntes geheimes Versuchslabor an. Mit der Hilfe seines Stallausmisters, eines Haubitzers namens Schmiergel, stellte er dort abscheuliche Experimente mit Zuchtschweinen an.

 

Er verfütterte illegal importierte Chilischoten an einige Tiere, um auszuprobieren, ob sich das Fleisch der Schweine bereits bei der Nahrungsaufnahme würzen ließ, sodass sich der Metzger das Einlegen und Marinieren der Bratenstücke ersparen konnte. Der Versuch zeigte jedoch, dass die scharfen Chilis den Schweinen Löcher in die Mägen brannten, woran die armen Säue jämmerlich verendeten.

 

Andere Tiere ließ er mit der in Fachkreisen berüchtigten, aber durchaus massentauglichen Musik der Zweimannkapelle „Neuzeitliches Sprechen“ beschallen, da er die Auswirkungen von Musik auf das Fressverhalten und das Wachstum seiner Schweine untersuchen wollte. Er stellte jedoch auch diese Versuche alsbald wieder ein, da die Tiere sich während der musikalischen Zwangsberieselung fortwährend erbrachen und daher abmagerten, anstatt fett und rund zu werden.

 

Er verfütterte ungesetzliche Potenzmittel an seine Zuchteber, um die Anzahl gedeckter Sauen pro Eber zu erhöhen, doch auch diese Maßnahme erwies sich als Irrweg. Er musste nämlich feststellen, dass die Eber sich nach Genuss der Droge eher für ihre Geschlechtsgenossen interessierten und sich lieber mit anderen Ebern vergnügten, anstatt bei den Zuchtsauen für Nachwuchs zu sorgen.

 

Ob dieser Fehlschläge begann sich der Geist dieses Menschen mehr und mehr zu verwirren, und er wandte sich der Veränderung der Schweine durch Zauberei zu. Er vertiefte sich in das Studium alter elberischer Magie, und in seiner zunehmend pathologischen Geistesverfassung ersann er eine wirkungslose magische Formel nach der anderen. Er war nahe daran zu verzweifeln, bis er schließlich in einem gewaltigen, einmaligen Geniestreich eine Formel hervorbrachte, durch die sich die Wachstumsrate der Ferkel drastisch erhöhte. Nach wenigen Wochen erreichten diese magiemanipulierten Ferkel bereits die Hälfte der Masse ihrer Elterntiere, und nach weiteren wenigen Wochen waren die Jungschweine bereits völlig ausgewachsen. Im Vergleich zu den Tieren seiner haubitzerischen Konkurrenten erreichten die magiemanipulierten Schweine außerdem fast das Eineinhalbfache an Körpergewicht und Größe. Vor allem aber besaßen sie zwei Rippen, und damit pro Tier zwei Koteletts, mehr.

 

Der Erfolg seines großen Werkes ließ den Menschen nahezu überschnappen vor Begeisterung.

 

Er sicherte sich für seine magische Formel als Erstes ein Patent. Beim königlichen Patentamt in der klondorischen Hauptstadt Minus Arthritis reichte er seine magische Formel ein. Diese hatte er mit einer speziell entwickelten Tinte auf einem eigens für diesen Zweck von ihm fabrizierten Papier notiert.

 

Den amtlichen Patentstempel wollte er ausschließlich auf diesem besonderen Dokument aufgeprägt haben. Dies verweigerte die Behörde zunächst. Nach einigen gezielten Indiskretionen, Erpressungen und Schmiergeldzahlungen bekam der Schweinezüchter aber zuletzt seinen Willen, und er hielt das wichtigste Papier seiner bisherigen geschäftlichen Karriere in Händen.

 

Und auch dieses Papier war etwas ganz Besonderes. Er hatte es durch Zauberei unzerstörbar gemacht. Außerdem hatte er seine Lebenskraft magisch an dieses Dokument gebunden, und solange dieses Papier existierte, sollte auch er existieren. Die spezielle Tinte, mit der er seine Formel auf dieses Dokument übertragen hatte, wurde bald nach Aufprägung des Patentstempels unsichtbar. Auf diese Weise wollte er das Geheimnis seines Erfolges auf ewige Zeit bewahren und vor fremden Augen schützen.

 

Viele Versuche hatte er benötigt, bis er die magischen Formeln für das unzerstörbare Papier und für die unsichtbare Tinte endlich herausgefunden hatte. Zahlreiche Papiere hatte er hergestellt und magisch verändert, und er hatte seine Schöpfungen ebenso zahlreichen Versuchen unterworfen, um sie zu zerstören. Mit Wasser, Feuer, Säuren, Laugen, sogar mit Blitzschlag und mit purer mechanischer Gewalt hatte er die Papiere malträtiert, um die Wirksamkeit seiner Zauber zu erproben. Nur den Papierzerkleinerer in seinem Büro hatte er jeweils von seinen Schutzzaubern ausgenommen, um die nutzlosen Versuchspapiere zerstören zu können, sollten sie seinen hohen Ansprüchen nicht in jeder Hinsicht genügen. Und so endeten alle mangelhaften magischen Papiere im Eingabeschlitz seines Aktenvernichters.

 

Als er sein Patent erhalten hatte, schloss er das besondere Dokument, welches nun bis auf den Patentstempel völlig blank und unbeschrieben zu sein schien, in seinen Tresor. Umgehend begann er damit, die magische Formel vom Versuchslabor auf die Intensivtierhaltung seines Zucht- und Mastbetriebs zu übertragen. Bald zeigten sich die erwarteten Erfolge, und endlich konnte er die lange ersehnte Rache an den Haubitzern vollziehen.

 

Seine Schweine erreichten bei Versteigerungen fortan Höchstpreise, die Haubitzerschweine dagegen gingen nur noch gleichsam im Dutzend billiger an die Großhändler. Die Haubitzer erfuhren nun am eigenen Leibe, wie es sich anfühlte, nur die Brosamen von einem gut gedeckten Tisch zugeworfen zu bekommen, an dem andere ausschweifend schmausten. Der Mensch konnte seinen Schweinezuchtbetrieb nun erweitern und kaufte das Land und die Betriebe seiner haubitzerischen Nachbarn auf, die in kürzester Zeit verarmten. Er suhlte sich in seinem Erfolg wie seine magiemanipulierten Schweine im Unrat, und sein über das ganze Sauenland dröhnende Hohngelächter vermischte sich mit dem Grunzen der Zuchteber und dem schrillen Quieken seiner Sauen zu einer schauderhaften Kakofonie. Er legte seinen menschlichen Namen ab, an den sich bald niemand mehr erinnerte, und nannte sich fortan „Saubaron“. Er verlegte den Sitz seines landwirtschaftlichen Unternehmens aus steuerlichen Gründen in das im Osten Klondors gelegene Reich Mordstor und leistete sich den Luxus eines Prokuristen namens Sermon, der für ihn im stinkenden Sauenland das operative Geschäft führte.

 

Saubaron diktierte nun aus Mordstor heraus die Schweinepreise, drückte die Importpreise für Futtermittel und zahlte seinen Angestellten nur einen Hungerlohn. Im Übrigen war er damit beschäftigt, sich das Schweinemonopol zunächst in Klondor und danach in ganz Untendruntererde zu verschaffen.

 

Zur Umsetzung seiner monopolistischen Bestrebungen begann Saubaron damit, in seinem Laboratorium spezielle Kreaturen zu züchten, die für ihn die Unterdrückungsarbeit erledigten. Saubaron nannte sie seine Oinks. Die Oinks waren magiemanipulierte Kampfschweine, ursprünglich hervorgegangen aus einer unaussprechlichen magischen Verschmelzung zwischen Wildschweinen und Elbern. Ihr Körperbau war schwierig zu beschreiben. Von den Wildschweinen hatten sie ihre dichte, borstige Körperbehaarung, die schweinischen Gesichtszüge und ihre riesigen Hauer geerbt. Der Rumpf und die Extremitäten dieser Wesen waren gerade noch als entfernt elberischen Ursprungs zu identifizieren. Vor allem besaßen die Oinks Füße mit Zehen und Hände mit Fingern anstelle von kurzen Schweinefüßen mit gespaltenen Klauen. Voluminöse Muskelstränge und dicke Sehnen verrieten die rohe, kaum zu zügelnde Kraft, die in diesen Körpern steckte. Die Oinks besaßen sogar eine eigene, raue Sprache, die mit vielen Grunz- und Quieklauten durchsetzt war, und die Oinko oder Schwarzkittelsprache genannt wurde. Die Geschöpfe Saubarons sprachen und verstanden jedoch auch einfache Sätze der Gemeinsprache. Mit seinen Oinks überschwemmte Saubaron zunächst Mordstor und danach die angrenzenden Länder von Untendruntererde. Mit der Hilfe dieser Kreaturen schien die monopolistische Position Saubarons nun völlig unangreifbar zu sein.

 

Als dem Schweinezüchter jedoch eines Tages anonyme Drohbriefe zuzugehen begannen, argwöhnte er zu Recht, dass sich Widerstand gegen ihn mobilisierte. Er engagierte daher umgehend eine Leibwache, die sich aus neun besonders groben menschlichen Schlägern rekrutierte, und die den örtlichen Ordnungshütern unter dem Bandennamen „Die Nasenpûls“ bekannt waren. Saubaron zeigte sich fortan nur noch in Begleitung der Nasenpûls in der Öffentlichkeit. Seine Auftritte im öffentlichen Leben wurden im Laufe der Zeit jedoch immer seltener, und irgendwann verschanzte er sich völlig in seinem zur Festung ausgebauten Unternehmenssitz in Mordstor.

 

Schließlich jedoch verklagte ihn ein Konkurrent, der sich weder mit Geld kaufen noch durch Drohungen der Nasenpûls einschüchtern ließ, wegen unlauteren Wettbewerbs vor dem klondorischen Gerichtshof. Weitere Schweinezüchter aus allen Teilen des Reiches traten als Nebenkläger auf, und schließlich wurde die Indizienlast so erdrückend, dass der Gerichtshof von Klondor nicht mehr anders konnte, als ein Verfahren zu eröffnen und Saubaron zur Verhandlung vorzuladen.

 

Als Saubaron die gerichtliche Vorladung in seiner Festung in Mordstor erhielt, erlitt er sogleich einen Tobsuchtsanfall. Saubarons Zorn entlud sich gegen mehrere in der Nähe weilende Bedienstete, die in diesem Zusammenhang eine irreversible außerordentliche Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses erfuhren. Nachdem er sich ein wenig abreagiert hatte, zerriss Saubaron das gerichtliche Schriftstück und nahm sich für den Rest des Tages frei. Um sich ein wenig zu entspannen, begab er sich in die untersten Kammern seiner Festung und wohnte der Folterung einiger kürzlich gefasster Industriespione bei. Aber selbst diese Zerstreuung vermochte ihn nicht wirklich aufzuheitern.

 

Saubaron war zu selbstsicher geworden, und so geschah schließlich etwas, womit er nicht gerechnet hatte: Als er trotz der schriftlichen Vorladung nicht im Gerichtssaal erschien, sandte das hohe Gericht in Klondor mehrere stämmige Gerichtsvollzieher gen Mordstor, die von einem Bataillon bis an die Zähne bewaffneter Soldaten unterstützt wurden. Der damalige König von Klondor, Eseltour I., ließ es sich nicht nehmen, den Zug dieses Heeres selbst anzuführen. So wurde Saubaron schließlich nach kurzem Handgemenge in seiner Festung festgenommen und vor das Gericht gezerrt.

 

Saubarons Unternehmen wurde nun von klondorischen Spezialisten systematisch mit konventionellen und magischen Methoden durchsucht. Dabei wurden unter anderem ein neues magisches Versuchslabor und der Tresor mit dem unsichtbaren Patent darin entdeckt. Stück für Stück kamen nun die Beweise für die illegalen magischen Manipulationen an den Zuchtschweinen ans Tageslicht. Saubarons Patent wurde vom Gericht für nichtig erklärt, seine Besitztümer wurden eingezogen, und sein Unternehmen wurde zerschlagen. Saubaron selbst wurde zu lebenslangem Exil auf einer schweinefreien Gefängnisinsel im hohen Norden von Untendruntererde verurteilt. Seine Untergebenen, allen voran sein Prokurist Sermon, sein Assistent Schmiergel und die neun Nasenpûls, wurden unter Berücksichtigung des Umstandes, dass sie nur die Anordnungen ihres Chefs ausgeführt hatten, jeweils zu Bewährungsstrafen verurteilt und unter der Aufsicht ihrer Bewährungshelfer umgehend auf freien Fuß gesetzt. Die Oinks wurden für vogelfrei erklärt, und damit war ihr Schicksal im Großen und Ganzen besiegelt.

 

Die Haubitzer und alle anderen Bewohner Klondors jubilierten ob dieses Sieges der Gerechtigkeit und feierten eine ganze Woche lang mit Schweineschnitzeln, Schinken und Zwiebelmett.

 

Doch alle hatten sich zu früh gefreut: Saubaron gelang dank der Unterstützung der Nasenpûls die Flucht aus dem Gefangenentransport. Obwohl die Kunde von seinem Entkommen rasch bis in das Sauenland gelangte, dessen Bewohner schnurstracks bei Gericht um sofortige Rechtshilfe ersuchten, gelang es Saubaron offenbar, seine Spuren gründlich zu verwischen. Ganze Armeen von Ordnungshütern, unterstützt durch Spürhunde und speziell abgerichtete Ultraleichtdrachen, durchkämmten das Gebiet, in dem Saubaron aus dem Gefangenentransport ausgebrochen war. Doch alle Anstrengungen waren vergebens: Saubaron blieb verschwunden. Unbehagen breitete sich in den Regionen Untendruntererdes aus, doch als sich noch nach Jahren keine Fußzehe Saubarons in Klondor, in Mordstor oder gar im Sauenland zeigte, begannen die Bewohner von Untendruntererde, Saubaron und sein schreckliches Schweinemonopol zu vergessen.

 

Natürlich zu Unrecht.

Kapitel 1

Ein denkwürdiges Fest

 

 

„Flöto!“

 

Drögo Säcklein, wie so viele Bewohner des Sauenlandes ein waschechter Haubitzer und respektabler Schweinezüchter, legte den bunten Einrichtungskatalog, in dem er geblättert hatte, zur Seite. Vor sich auf dem massigen Schreibtisch häufte sich eine größere Anzahl ähnlicher Prospekte und Broschüren. Drögo warf einen säuerlichen Blick auf die bunt bedruckten Seiten. Aus den Bildern sprangen ihm die Wirklichkeit gewordenen feuchten Träume der besten Innendekorateure und der strengsten Dominas von Untendruntererde entgegen. Müde setzte Drögo seine Nickelbrille ab.

 

Da auf seinen ersten Ruf keine Reaktion erfolgt war, rief er erneut und etwas lauter den Namen seines Neffen: „Flöto! Wo steckst du denn?“

 

Vom oberen Stockwerk der Haubitzerhöhle, welches bereits dicht unter der schlammigen Grasnarbe lag, drang aus Flötos Zimmer eine gedämpfte und ein wenig atemlose Stimme durch die geschlossene Tür: „Ich bin hier oben, Onkel Drögo! Was gibt es denn?“

 

„Ich brauche dich hier unten, Flöto!“, rief Drögo. „Du kannst mir dabei helfen, die letzten Dekorationen und Spielzeuge für meine große Pyjama-Party nächste Woche auszusuchen!“

 

Drögo rieb sich die Augen. Seine Sehkraft ließ in letzter Zeit nach, und trotz Brille strengte ihn das Lesen von Kleingedrucktem mehr und mehr an. Außerdem war er noch müde von der vergangenen Nacht, in der er mit einigen seiner intimeren Freunde bis in die frühen Morgenstunden durch die Kneipen und Lusthäuser von Sackhausen gezogen war. Er seufzte. Früher hatte er solche Touren leicht weggesteckt, aber heutzutage brauchte er mehr als zwei Caspirinhas und ein Glas Wasser, um wieder voll da zu sein. Ja ja, dachte er, das Alter …

 

Aus dem oberen Stockwerk erreichte die etwas erstickt klingende Frage sein Ohr: „Muss das gleich sein, Onkel? Ich ha ... haaaah ... habe hier noch etwas zu tu … u … uiiiii ... tun!“

 

Die Worte seines Neffen wurden von seltsamen Geräuschen begleitet, so als ob zwei große Kissen rhythmisch aneinanderschlügen. Drögo meinte auch sporadisch ein helles Juchzen vernehmen zu können, war sich aber nicht sicher, weil er wegen seiner nächtlichen Eskapaden noch unter Ohrensausen litt.

 

„Nein, Flöto! Das muss nicht gleich sein, sondern sofort! Ich bin mir nicht sicher, ob das Dunkelblau der nietenbeschlagenen Ledermütze aus dem Katalog zum Lindgrün meines Suspensoriums passt! Außerdem will ich zur Party endlich neue Seidenvorhänge an meinem Himmelbett haben. Die alten sind schon so speckig und abgegriffen, die halten keine weitere Orgie mehr aus. Die Samtüberzüge der Sofas und des Ohrensessels müssten ebenfalls erneuert werden, und ich habe noch keine Ahnung, ob ich dafür eher unifarbene oder gemusterte Stoffe nehmen soll. Von den Farben noch gar nicht zu sprechen! Was ist nun? Kommst du?“

 

Der stampfende Rhythmus im oberen Stockwerk hatte sich beschleunigt, wie Drögo feststellte. Flöto rief: „Ist gut, Onkel Drögo! Ich ko … ooh … oommmmme!“

 

Drögo vernahm nun auch eine weitere, unverkennbar weibliche Stimme, die mehrere schrille Schreie ausstieß, welche unangenehm gegen sein verkatertes Trommelfell prallten.

 

Der arme Junge, dachte Drögo bei sich, während er sich die schmerzenden Schläfen rieb. Verdient sich mühsam ein paar Kröten, indem er als nebenberuflicher Masseur irgendwelche alte Schachteln begrapscht, und jetzt nimmt er sich sogar noch Arbeit mit nach Hause ...

 

Drögos Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Der alte Haubitzer hatte seinen Neffen bereits vor vielen Jahren bei sich aufgenommen, als Flötos Eltern sich klammheimlich aus dem Staub gemacht hatten, um der Zwangsräumung ihrer Wohnhöhle wegen anhaltender Mietrückstände zuvorzukommen. Flöto hatten sie vorher bei Drögo abgegeben, damit dieser angeblich „nur einen Abend lang“ auf ihn aufpassen möge. Während Drögo mit seinem Neffen spielte, ihm Geschichten vorlas und ihn schließlich zu Bett brachte, waren Flötos Eltern mit Sack und Pack getürmt. Drögos spätere Nachforschungen ergaben, dass Flötos Eltern in jener Nacht mit der Fähre über den Glywein übergesetzt und in das Grenzstädtchen Priel geflüchtet waren. Ohne Rast zu machen, hatten sie sich von dort nach außerhalb des Sauenlandes in ein Land jenseits von Klondor begeben, mit dem es keine Auslieferungsvereinbarungen gab. Dort verlor sich ihre Spur, und weder er noch Flöto hatten je wieder etwas von ihnen gehört.

 

Gedankenverloren wischte Drögo mit einem Zipfel seines geschmacklos gemusterten Golfjacketts über die verschmierten Gläser seiner Brille. Er verstand seinen Neffen nicht. Es hatte nichts damit zu tun, dass Flöto auf Haubitzerfrauen stand, schließlich hatte auch Drögo erst in reiferem Alter seine homoerotischen Neigungen erkannt. Aber Flöto hätte ein angenehmeres Leben führen können. Drögo hatte seinen Neffen bei sich aufgenommen und hatte für ihn gesorgt, so gut er konnte. Flöto war ihm dankbar gewesen und hatte ihm auch als Einziger der buckligen Verwandtschaft Verständnis entgegen gebracht, als Drögo seine Homophilie offenbarte. Doch Flöto war auch stets darauf bedacht gewesen, sich nicht zu sehr von seinem Onkel verhätscheln zu lassen.

 

Auch wenn der Schweinezuchtbetrieb Drögos sehr gut lief, hatte Flöto doch immer schon eigenes Geld verdienen wollen, um seinem Onkel nicht ohne Not auf der Tasche zu liegen. Nicht zuletzt deswegen hatte Flöto vor einiger Zeit seinen derzeitigen Aushilfsjob in einem gut gehenden Massagestudio mit angeschlossenem Saunaklub angenommen. Beim Stammpersonal hatte es einige mysteriöse Ausfälle wegen chronischer Erschöpfungszustände gegeben, und Flötos bester Freund Schlamm Kauschien, der dort regelmäßig verkehrte, hatte ihm den Posten vermittelt.

 

Oben öffnete sich derweil die Tür zu Flötos Zimmer, und Drögo vernahm eine kurze getuschelte Unterhaltung. Gleich darauf stieg jemand die knarzende steile Treppe zur Falltür der Wohnhöhle hinauf. Quietschend öffnete sich die Luke, die nach draußen in den kühlen Nieselregen führte. Aus keinem für Außenstehende ersichtlichen oder auch nur entfernt nachvollziehbaren Grund bauten die Haubitzer ihre Wohnhöhlen allesamt unter der Erdoberfläche. Um sie betreten oder verlassen zu können, musste man unbequeme und unfallträchtige Falltüren und Leitern benutzen. Es war ganz einfach haubitzerische Tradition und damit basta.

 

Die Falltür der Wohnhöhle schloss sich wieder und wurde verriegelt. Gleich darauf kam Flöto ein Liedchen pfeifend die Treppe herunter getrabt, wobei er an seinem Hosenlatz herumnestelte.

 

„Na, Flöto?“, sprach Drögo mit spröder Stimme zu seinem Neffen. „Anstrengende Kundin gehabt?“

 

Flöto, dessen feiste Wangen noch etwas gerötet waren, strich sich das zerzauste Haar aus der fliehenden Stirn, setzte ein freches Grinsen auf und antwortete: „Anstrengend? Nun ja, wie man’s nimmt … es war aber kein geschäftlicher Termin, sondern eine private Verabredung.“

 

Flöto trat näher an den Schreibtisch heran, auf dem sich die Kataloge stapelten. Flöto warf dabei einen beiläufigen Blick auf die Angebote der unterschiedlichen Versandhäuser, bei denen sein Onkel regelmäßig Heimtextilien, Einrichtungsgegenstände und allerlei Zubehör für seine berüchtigten ausschweifenden Schwulenpartys bestellte.

 

„Wer war’s?“, wollte Drögo neugierig wissen. Wenn es auf ganz Untendruntererde überhaupt etwas gab, woran Drögo mehr interessiert war als an den schlüpfrigen Zeitvertreiben mit seinen Freunden, dann waren es ebenso schlüpfrige Details aus dem Leben der Bewohner Sackhausens.

 

Flöto antwortete nicht gleich, sondern griff nach einer Knackwurst, die zusammen mit einigen anderen sauenländischen Wurstspezialitäten in einem Korb auf Drögos Tisch lag. Der junge Haubitzer biss so herzhaft in die Knackwurst, dass das Fett spritzte, und kaute mit vollen Backen. Er genoss es, Drögo warten zu lassen, denn er kannte die Vorliebe seines Onkels für dörflichen Tratsch.

 

Flöto schluckte den zerkauten Bissen hinunter, hüpfte munter mit dem Gesäß auf den Tisch, ließ die kurzen Beine mit den feisten Zehen baumeln und biss ein weiteres Stück Wurst ab.

 

„Nun komm schon, Flöto“, meinte Drögo, der ungeduldig mit seinen Fingern auf der Tischplatte herumtrommelte. „Lass mich dir nicht die Würmer einzeln aus der Nase ziehen. Zeige etwas Respekt vor deinem lieben Onkel, der dich unter großen Entbehrungen großgezogen hat.“

 

Flöto lachte, denn er wusste, dass Drögo zwar unter einigen Dingen in seinem Leben gelitten hatte, aber definitiv nicht unter Entbehrungen.

 

„Also gut“, erwiderte er schmatzend. „Die Rossi hat mich besucht.“

 

„Die kleine dralle Rossi vom „Ferkel und Drachen“ in der Schlickschiebergasse?“

 

Drögo riss überrascht die Augen auf.

 

„Genau die“, antwortete Flöto und spuckte ein hartes Knorpelstück aus.

 

Drögo legte die familientypisch fliehende Stirn in nachdenkliche Speckfalten. „Das ist doch aber die Freundin von Schlamm, denke ich, oder etwa nicht?“

 

Flöto grinste anzüglich und warf einen übrig gebliebenen Wurstzipfel in den Papierkorb, der neben Drögos Schreibtisch stand.

 

„Das schon, aber der gute alte Schlamm hat zurzeit anscheinend ein wenig Ladehemmung in der Büchse, und da braucht die liebe Rossi eben jemanden, der sein Pulver trocken hält, und der noch ein paar Schüsse extra im Lauf hat.“

 

Drögo lachte brüllend auf vor Begeisterung und schlug mit der Handfläche auf den Tisch, dass die Würste im Korb hüpften.

 

„Das ist doch mal eine Neuigkeit! Haha! Die Rossi von Schlamm! Glänzend, mein Junge, einfach köstlich! Hahaha!“

 

Drögo wischte sich eine Lachträne aus dem geröteten Knopfauge. Das würde ein Spaß werden, wenn er seinen Freunden davon erzählte ...

 

 

*

 

 

Die Vorbereitungen zu Onkel Drögos großer Pyjama-Party aus Anlass der fünfundzwanzigsten Wiederkehr des Tages, an dem er sich als schwul geoutet hatte, liefen bereits seit Wochen auf Hochtouren. Diese Party sollte alle anderen Partys, die Drögo schon gegeben hatte, noch in den Schatten stellen.

 

Weit mehr Schweine als üblich waren bereits geschlachtet und zu allerlei Räucher- und Wurstwaren verarbeitet worden. Kühl- und Räucherkammern quollen schier über von den Leckereien aus Schweinefleisch. In den Lagerhallen Sackhausens hatte Drögo zusätzlichen Platz angemietet. Unzählige bauchige Fässer mit schäumendem dunklem Bier und zahlreiche Kisten mit hochprozentigen Schnäpsen mussten untergebracht werden, denn die Haubitzer waren mindestens ebenso trinkfest wie fressgierig.

 

Zu Drögos Anwesen gehörte ein weitläufiger, parkähnlich angelegter Garten. Dieser war wegen seiner etwas erhöhten Lage sowie aufgrund eines raffinierten Drainagesystems nicht ganz so nass und schlammig wie der Rest von Sackhausen. Im hinteren Bereich dieses Gartens war eine mobile Feldküche aufgebaut worden. Über einen befreundeten Offizier in der klondorischen Armee hatte Drögo die mobile Küche ausleihen können, deren Kapazität normalerweise ausreichte, um ein ganzes Bataillon klondorischer Krieger zu versorgen. Berge von Holzkohle lagerten unter wasserdichten Planen, um die Phalanx von Feuerstellen zu versorgen, an denen ganze Sauen gegrillt werden sollten.

 

Im Zentrum der Gartenanlage stand eine Art ovales Zirkuszelt. Drögo hatte dieses Zelt als überdimensionalen Lustpavillon selbst entworfen und bei dessen Realisierung offenbar weder Kosten noch Mühen gescheut. Ein kompliziertes Gewirr von Schnüren und Seilen, die über allerlei Umlenkrollen und Flaschenzüge liefen, durchzog kreuz und quer das riesige Zelt. Eine große Anzahl von Plastikstellwänden, bunte, halbtransparente Bahnen aus Seide sowie mit erotischen Motiven bemalte Fahnen aus blickdichtem Segeltuch konnten von der Zeltkuppel je nach Bedarf herabgelassen werden, um den Pavillon in unterschiedlich gestaltete intime Separees zu unterteilen. Unzählige bunte Kissen und weiche Matratzen bedeckten den beheizten Boden des regen- und winddichten Zeltes, und eine kleine Bar mit Wasserpfeifen-Lounge vervollständigte Drögos Entwurf.

 

Von einem Spezialversandhaus waren in riesigen Pappkartons zahllose erotische Spielzeuge in allen möglichen Farben, Materialien, Größen und Formen angeliefert worden. Ungezählte Dosen mit Vaseline, ganze Legionen von Fläschchen, die aromatisch duftende Massageöle enthielten, und große Bonbongläser, die bis an den Rand mit Potenzpillen gefüllt waren, standen in einem besonderen Zeltabschnitt bereit. Zudem lagerten dort mehrere Kisten, die erotische Magazine und einzeln verpackte Kondome enthielten. Diese erregenden Kleinigkeiten würden zu gegebener Zeit an strategischen Stellen des Zeltes ausgelegt werden, um die Besucher des Pavillons zu lustvollem Zeitvertreib zu animieren.

 

Drögos Wohnhöhle war von renommierten Innendekorateuren elberischer Schule bereits vor einigen Wochen runderneuert worden, um ein behagliches und zugleich erotisierendes Ambiente zu schaffen.

 

Der alte Haubitzer hatte massenhaft Einladungen an die Einwohner des halben Sauenlandes verschickt. Sogar über die Grenzen des Sauenlandes hinaus hatte der alte Haubitzer zahlreiche Freunde, Bekannte und Geschäftspartner zu diesem Fest geladen. Täglich trafen Postsäcke mit Teilnahmezusagen ein, und Flöto trug die Namen gewissenhaft in die immer länger werdende Gästeliste ein.

 

Vor zwei Tagen schließlich war Drögos alter Freund Gähndalf eingetroffen. Gähndalf und Drögo hatten sich vor vielen Jahren, sogar noch vor dem Gerichtsprozess gegen Saubaron, kennengelernt. Der Haubitzer war damals als einer der zahlreichen Nebenkläger gegen Saubaron aufgetreten. Gähndalf seinerseits hatte eine Zeit lang als Buchhalter in Saubarons Unternehmen gearbeitet, hatte aber irgendwann gekündigt, weil er die ständigen Nörgeleien seines Vorgesetzten, des Prokuristen Sermon, nicht ertrug. Nicht zuletzt wegen dieser frühzeitigen Kündigung war Gähndalf seinerzeit von dem Vorwurf der Beihilfe freigesprochen worden.

 

Gähndalf half bei der Organisation der Party und kümmerte sich vor allem um die Warenlieferungen und um die sonstige Logistik.

 

Doch kaum jemand ahnte, dass Drögo und den ehemaligen Buchhalter ein tiefes Geheimnis verband, von dem nicht einmal Flöto etwas wusste. Dieser sollte erst viel später davon erfahren.

 

Drögo hatte sich in sein Arbeitszimmer verkrochen und feilte am Ablauf der Feierlichkeiten und an seiner Willkommensrede, die er zu halten beabsichtigte. Er war total hippelig, und seine Nerven lagen blank. Auf Störungen reagierte er immer ungehaltener, sodass Flöto und Gähndalf schließlich beschlossen, die nötigen Entscheidungen selbst zu treffen, weil mit Drögo überhaupt nichts mehr anzufangen war.

 

Die ersten Gäste, die einen längeren Anfahrtsweg gehabt hatten, trafen bereits am Tag vor der Party ein und machten dem nervösen Drögo ihre Aufwartung. In Sackhausen und in den umliegenden Dörfern hatte Drögo bereits Zimmer reservieren lassen, um die zahlreichen Gäste in den Herbergen unterbringen zu können. Drögo war in seinen jungen Jahren viel herumgekommen, und dementsprechend besaß er auch heute noch allerlei Kontakte innerhalb wie außerhalb des Sauenlandes. Flötos Vettern Pellegrino Gluck und Geriatric Prellbock wurden dazu eingespannt, die Gäste in die ihnen zugedachten Herbergen zu geleiten und die zahlreichen Mitbringsel zu inventarisieren und auf einem ausladenden Gabentisch zu stapeln.

 

Schließlich war an Drögos Jahrestag der späte Nachmittag angebrochen, und die ersten Gäste trafen ein, getreu dem Motto der Party in Pyjamas und Nachthemden gekleidet. Unterschiedlichste Textilien, Farben und Stoffmuster waren zu sehen, sodass die Party in diesem frühen Stadium eher einer Schau für modische Schlafbekleidung ähnelte. Vereinzelt bemerkte Flöto auch Zipfelmützen und sogar Plüschpantoffeln, wobei Letztere in dem überall herrschenden Matsch aber schon bald hoffnungslos verschmutzt waren.

 

Drögo erkundigte sich bei Flöto und bei Gähndalf immer wieder, ob sie an diese oder jene Angelegenheit gedacht hatten, und wollte sich einfach nicht entspannen, auch wenn Flöto und Gähndalf immer wieder beteuerten, es stehe alles zum Besten, und es sei an alle und an alles gedacht worden.

 

Der Garten füllte sich immer mehr mit Haubitzern, die sich dieses Fest nicht entgehen lassen wollten. Etliche der Ankömmlinge hatten sich zwar selbst eingeladen, aber Drögo hatte selbstverständlich damit gerechnet, dass weit mehr Haubitzer kommen würden, als er Einladungen verschickt hatte. Er begrüßte jeden neuen Gast mit ein paar freundlichen Worten und drückte jedem ein Glas mit einer perlenden Flüssigkeit in die Hand.

 

„Hier muss ja das halbe Sauenland versammelt sein“, raunte Gähndalf Flöto zu, der neben dem Ex-Buchhalter stand und wie dieser das Treiben ringsum beobachtete. Der Meteoromant hatte sich eine monströse Zigarre in den Mundwinkel geschoben, und paffte mit sichtlichem Vergnügen daran. Er stützte sich auf einen eleganten Spazierstock aus schwarz glänzendem Ebenholz, der einen silbernen Knauf besaß, der wie ein Hundekopf gestaltet war. Der diplomierte Wetterzauberer trug ein bis zu den Knöcheln reichendes Nachthemd aus dickem grauem Flanell. Zahlreiche meteoromantische Symbole und verwirrende Muster aus bunten Seidenfäden zierten das Gewand. Quer über die Brust verlief ein in schreiendem Gelb gehaltener gestickter Schriftzug, der „Mistwetter!“ verkündete.

 

Flöto, der einen einfallslos gestreiften Pyjama trug, nippte an seinem Glas Champagner, verdrehte die Augen zum Himmel und nickte: „Onkel Drögo ist wie üblich ziemlich maßlos gewesen. Er scheint mir außerdem irgendetwas zu planen - er war in den letzten Wochen ziemlich seltsam.“

 

Gähndalf nahm die Zigarre aus dem Mund, sah Flöto in die Augen und erwiderte: „Seltsam? Ist dein Onkel nicht regelmäßig seltsamer als der Großteil seiner engstirnigen und beschränkten Artgenossen?“

 

Flöto leerte sein Glas Champagner und wandte sich zum Büfett hinter ihm um. Er stellte sein leeres Glas ab und nahm einen gefüllten Kelch von einem in der Nähe stehenden Tablett. „Ich meinte: noch seltsamer als sonst. Du kennst ihn doch wie kaum ein Zweiter. Du müsstest es doch auch bemerkt haben, Gähndalf. Oder etwa nicht?“

 

Gähndalf enthielt sich einer Antwort, aber paffte plötzlich sehr geschäftig an seiner rauchmanischen Import-Zigarre und schaute an Flöto vorbei auf die Gesellschaft, die sich im Garten tummelte.

 

Drögo hatte für die Party eine im Sauenland recht populäre Musikkapelle engagiert, die aus ein paar Zwergen in Lederkluft, einigen Haubitzerinnen in Latex-Catsuits und einem besonders kleinwüchsigen Troll bestand. In diesem Augenblick begann die Kapelle zu spielen. Der zwergische Sänger begann die erste Strophe eines sauenländischen Gassenhauers zu trällern:

 

„Ein Eber steht im Schlamme, so stramm er kann,

Und hat aus schwarzem Gummi ´nen Anzug an.

Sag, wen will der Eber frei’n, der da steht im Schlamm allein

Mit dem rabenschwarzen Anzüglein?“

 

Einige haubitzerische Gäste nahmen das Lied begeistert auf und sangen fröhlich mit, wobei sie im Takt in ihre fetten Hände klatschten. Flöto hörte kaum hin. Ihn beschäftigten Onkel Drögos seltsames Verhalten und Gähndalfs Schweigen. Er konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

 

Der Abend senkte sich auf das Sauenland, obwohl er sich alle Mühe gab, diese unangenehme Annäherung so lange wie möglich hinauszuzögern.

 

Zugleich mit der einsetzenden Abenddämmerung begann es zu nieseln.

 

Nun trat Gähndalf zum ersten Mal in seiner Eigenschaft als Wetterzauberer in Aktion. Er hatte nach Beendigung seiner kurzen Buchhalterkarriere eine Umschulung zum Meteoromanten begonnen und mit Diplom abgeschlossen. Der Zauberer verhängte daher rasch einen Bann über den Garten, der sich einer schützenden Kuppel gleich über das Anwesen spannte und den Nieselregen fernhielt.

 

Die geladenen Gäste waren inzwischen vollzählig eingetroffen, und die Party war in vollem Schwung. Überall lachten und schwatzten, aßen und tranken Haubitzer. Manche tanzten sogar ausgelassen. Die Kapelle spielte ununterbrochen auf, und die Musik war im Laufe des Abends noch um einige Grade stürmischer und mitreißender geworden. Getränke aller Art flossen in Strömen, und das Büfett bog sich vor Köstlichkeiten. Die Köche in der Feldküche schwitzten an ihren Feuern, Herden und Grillen, und waren dennoch kaum in der Lage, die anhaltende Gier der Schmausenden zu befriedigen. Presswürste, Schnitzel, Koteletts, Knackwürste, Braten, Rippchen, Schinken und Blutwürste wanderten in stetigem Fluss aus den Vorratskammern. Auch von den Bratpfannen und Grillspießen gelangten Schweinekeulen und sogar ganze Schweineköpfe auf die großen silbernen Servierplatten, von denen sich die inzwischen deutlich angeheiterten Gäste hemmungslos bedienten. Vor allem mit Rücksicht auf Gähndalf und einige andere Ausländer und Nicht-Haubitzer waren neben den riesigen Fleisch- und Wurstplatten auch ein paar kleine Behälter mit lieblos zerkochtem Gemüse und mit anderen fast ungenießbaren Beilagen bereitgestellt worden. Die Haubitzer vertraten traditionell die Auffassung, dass ein Schwein schon fast selbst als Gemüse gelten konnte, da es sich doch gänzlich von Feldfrüchten aller Art ernährte. Die Haubitzer verzichteten daher bei ihren Gelagen in der Regel auf zusätzliche vegetabilische Beikost.

 

Der Lustpavillon wurde inzwischen rege frequentiert, wie die zunehmende Anzahl derangiert und ausgepumpt wirkender Haubitzer und Haubitzerinnen in ihren mehr und mehr zerknitterten Schlafbekleidungen erkennen ließ. Immer wieder gaben sich einige Gäste den schwülen Lustbarkeiten dieses Etablissements hin, und selbst Flöto war inzwischen in der Stimmung, wenigstens einmal einen Blick in das Zelt zu werfen, sich vielleicht eine Wasserpfeife zu gönnen und dabei das eine oder andere schlüpfrige Heftchen durchzublättern. Er trat gerade auf das Zelt zu, als ihn plötzlich jemand von hinten packte und in den Schatten hinter dem Pavillon zerrte. Noch ehe Flöto um Hilfe rufen konnte, legte sich eine feiste, schwitzige Hand auf seinen Mund.

 

„Ruhig, Junge, ich bin es“, flüsterte Drögo. „Kein Grund zur Beunruhigung.“

 

Drögo löste seine Hand vom Mund seines Neffen.

 

„Was ist los, Onkel Drögo? Stimmt etwas nicht?“

 

Flöto befreite sich aus dem Klammergriff seines Onkels.

 

„Nein, nein, alles bestens, Flöto. Ich wollte dich nur noch einmal allein sprechen, bevor …“

 

„Bevor was, Onkel?“, fragte Flöto nun besorgt. Sein Onkel machte einen müden und abgeschlagenen Eindruck. Selbst seine langen Ohren hingen noch weiter nach unten als gewöhnlich.

 

„Nichts, Flöto. Ich wollte dir nur sagen, dass mit mir alles in Ordnung sein wird, was auch immer gleich geschehen mag. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen. Und du selbst wirst auch zurechtkommen - ich habe alles geregelt.“

 

Flöto verstand überhaupt nichts mehr. Die Andeutungen seines Onkels erschreckten ihn, ohne dass er sich erklären konnte, aus welchem Grund.

 

„Zurechtkommen? Geregelt? Wieso musst du etwas regeln, Onkel Drögo?“

 

Der alte Haubitzer antwortete nicht, sondern holte eine Taschenuhr aus der Cordweste, die er über seinem Pyjama trug, und nickte Flöto zu.

 

„Es wird Zeit für mich, Flöto. Meine Ansprache, weißt du? Mach’s gut, Junge.“

 

Drögo eilte davon und stürzte sich in das Gedränge am Büfett, bevor Flöto begriff, was vor sich ging. Er beobachtete seinen Onkel, wie dieser auf einen mit Fleischtöpfen reich beladenen Tisch kletterte und der Kapelle ein Zeichen gab. Die Musiker brachen das Musikstück ab, das sie gerade spielten, und intonierten einen Tusch, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf die nun folgende Darbietung zu lenken. Tatsächlich ließen viele Haubitzer kurzzeitig von ihrer Völlerei ab und wandten ihre Aufmerksamkeit dem auf dem Tisch stehenden Drögo zu. Die Kapelle stimmte nun ein Lied an, das Drögo in einem Anfall erotischer Poesie vor etlichen Jahren selbst geschrieben hatte.

 

Flöto kannte den Text auswendig, und er summte die Melodie mit, als sein Onkel mit ein wenig zittriger Stimme zu singen begann:

 

„Die Straße schreitet munter fort,

Doch stets führt sie mich auch zurück,

Von Nirgendwo und Anderort

Nach Hause, denn dort wohnt mein Glück.

 

Es naht mein Liebster schon, der Gute,

Und öffnet mir die Türe weiß.

Wir spielen heute „Wilde Stute“,

Vor Freude wird mir schon ganz heiß.

 

Er bittet mich zu einem Reigen,

Und eng umschlungen schweben wir.

Vom Himmel klingen tausend Geigen,

Und wohlig warm ums Herz wird mir.

 

Wir tanzen, ganz in Lust versunken,

Sein Kuss brennt in mir heiß wie Feuer!

Mein Herz, es schlägt mir wonnetrunken,

Geliebter mein, du bist mir teuer!“

 

Quäkend verklang der letzte Ton eines leicht verstimmten Dudelsacks. Nach kurzer ergriffener Pause applaudierte die versammelte Party-Gesellschaft, zumindest der Teil, der vom Alkohol noch nicht zu benebelt war, um in die Hände zu klatschen. Flöto bemerkte aber auch einige Partygäste, die sich beim Versuch zu applaudieren selbst bewusstlos schlugen und infolge dieses technischen Eigen-Knock-outs zum allergrößten Vergnügen der Umstehenden an Ort und Stelle zusammenklappten.

 

Als der begeisterte Beifall seiner Zuhörer hinreichend abgeebbt war, ergriff Drögo das Wort: „Meine lieben Haubitzer!“, rief der alte Halblange. „Meine lieben Säckleins, Glucks, Prellbocks, Pralleiers, Hängebacks, Strammriemens und Hartnippels!“

 

„Hartnippel!“, schrie eine deutlich angeheiterte Haubitzerdame korrigierend zurück, und entblößte unter allgemeinem Gelächter ihre beachtliche Oberweite, um den Familiennamen anschaulich zu machen. Drögo winkte genervt ab und fuhr mit seiner Rede fort: „Ich heiße euch alle bei dieser Pyjama-Party in meinem bescheidenen Heim von Herzen willkommen! Geht’s euch allen gut?“

 

Drögo legte mit ausladender, theatralischer Geste eine Hand ans Ohr, als die Menge nun begeistert johlte.

 

„Wie war das? Ich kann euch nicht hören! Geht’s euch allen gut?“

 

Nun schrie und grölte die Gesellschaft aus Leibeskräften und trampelte mit den Füßen, dass allerorten Matsch aufspritzte.

 

„Genug, genug, ich bin ja nicht taub“, schrie Drögo gegen den Lärm an, und presste demonstrativ die Handflächen gegen seine Schlappohren. Die Gäste brachen in Gelächter aus.

 

„Meine lieben Haubitzer!“, wiederholte Drögo. „Wie ihr alle wisst, hatte ich heute vor genau fünfundzwanzig Jahren den Mut, mir selbst und euch einzugestehen, dass ich schwul bin!“

 

Drögo reckte bei diesen Worten kämpferisch eine geballte Faust in die Höhe. Wieder brandete Applaus auf. Drögo machte eine beschwichtigende Geste.

 

Flöto beobachtete unterdessen, wie Gähndalf hinter den Lustpavillon schlich und sich dort an einigen Gasflaschen und einem seltsam anmutenden Stoffpaket zu schaffen machte. Drögo fuhr inzwischen mit seiner Rede fort:

 

„Und ihr erinnert euch bestimmt auch noch daran, was ihr daraufhin getan habt! Und auch ich weiß es noch! Und ich sage euch daher, dass ich bei weniger als der Hälfte von euch bis heute nicht mehr als die Hälfte von dem vergessen konnte, was ihr an Beleidigungen über mich ausgegossen habt, und dass ich mehr als der Hälfte von euch weniger als die Hälfte der Schmähungen vergeben werde, mit denen ihr mich überzogen habt!“

 

Die Zuhörerschaft war nun ganz still geworden, während sich Drögo in eine geradezu bemerkenswerte Rage geredet hatte. Nach einer kurzen Weile allgemeinen verständnislosen Gaffens erhob sich verärgertes Grummeln in der Gesellschaft, als den ersten Zuhörern trotz ihres alkoholisierten Zustands dämmerte, was Drögos Worte zu bedeuten hatten. Gähndalf füllte währenddessen mit dem Inhalt der Gasflaschen eine Art Ballon, der rasch die Gestalt einer aberwitzig riesigen Weißwurst annahm. Die Gäste waren von Drögos flammender Rede so perplex, dass sie den sich aufblähenden Ballon hinter dem Lustpavillon nicht bemerkten. Als der Weißwurstballon prall mit Gas gefüllt war, drehte Gähndalf die Ventilhähne zu und band den Einlauf des Ballons geschickt mit einer Kordel ab. Danach trennte der Wetterzauberer den Ballon vom Einfüllstutzen der Gasflaschen und steuerte die fliegende Riesenwurst mithilfe mehrerer Leinen und einer meteoromantisch beschworenen leichten Brise in den Luftraum über dem Büffet.

 

Das Grummeln in der Party-Gesellschaft hatte währenddessen zugenommen, und erste Schmährufe an Drögos Adresse wurden laut. Flötos Onkel, der mittlerweile wohl so richtig in Fahrt gekommen war, schrie seine Gäste nun unverblümt an: „Und seitdem sind fünfundzwanzig Jahre vergangen! Und dies ist eine verdammt lange Zeit, um zwischen euch unreifen, verklemmten, bigotten und sexuell verkümmerten Trotteln dahinzuvegetieren! Daher muss ich euch heute mitteilen, dass dies alles ein Ende haben muss, weil ich sonst an euch und an eurer miefigen Spießermoral ersticken würde! Ich gehe, und zwar sofort! Ich verschwinde von hier, und mögt ihr alle Pickel am Arsch kriegen!“

 

Drögo nickte Gähndalf in der geradezu geisterhaften Stille, die sich nun ausbreitete, zu. Der Wetterzauberer hatte die schwebende Riesenwurst inzwischen in ihrer Parkposition vertäut, und hielt nun, wie Flöto verwundert feststellte, einen Bogen mit aufgelegtem Brandpfeil in Händen. Drögo sprang unterdessen mit einer Behändigkeit, die Flöto seinem alten Onkel nicht im Traum zugetraut hätte, vom Tisch herab und rannte, was seine krummen kurzen Beine hergaben.

 

Gähndalf bemerkte, dass Flöto zu ihm herübersah, und rief: „Duck dich, Flöto!“. Im nächsten Augenblick ließ Gähndalf den Brandpfeil von der Bogensehne schnellen. Die Gesellschaft war von Drögos flammender Rede noch wie vor den Kopf geschlagen, und nur wenige Gäste nahmen den brennenden Pfeil wahr, der sich in einer ballistischen Kurve unaufhaltsam dem Riesenballon näherte. Flöto warf sich zu Boden, weil er ahnte, was nun geschehen würde. Trotz seiner fest zusammengekniffenen Augen gewahrte er einen Lichtblitz. Fast zeitgleich vernahm er einen Wahnsinnsknall, der seine Ohren klingeln ließ, und dann traf ihn auch schon eine heiße Druckwelle, die ihn kräftig durchschüttelte und dabei sein Bewusstsein ausknipste.

Kapitel 2

Allerlei Neuigkeiten

 

 

Flöto erwachte.

 

Sein Kopf dröhnte, und in seinen Ohren rauschte und sauste es. Er versuchte zu blinzeln und bereute es sofort, als helles Tageslicht in seine Pupillen fiel. Die grausame Helligkeit versuchte anscheinend, sein Gehirn zu rösten. Flöto fluchte lautlos und ließ seine Augen geschlossen. Er verspürte Durst. Der Haubitzer lag allem Anschein nach in seinem Bett, aber Flöto konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen war. Was war geschehen? Wo war Onkel Drögo? Flöto stöhnte leise und versuchte sich auf die Seite zu wälzen.

 

„Ah, Flöto, du bist wach. Das ist gut.“

 

Gähndalfs Stimme zu hören war vermutlich ein gutes Zeichen, wenn die Laute auch seltsam verzerrt und wie durch Wattebäusche hindurch an Flötos Gehörzentrum drangen.

 

„Klingeln deine Ohren noch?“

 

Flöto nickte vorsichtig und langsam.

 

„Hast du Durst?“

 

Flöto nickte erneut.

 

„Hier. Trink das.“

 

Flöto wagte es jetzt, seine Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Die Schmerzen setzten erneut ein, aber diesmal waren sie erträglich. Der junge Haubitzer ächzte. Gähndalf humpelte sich auf seinen Spazierstock stützend ans Bett und reichte Flöto ein Glas mit einer wässrigen Flüssigkeit, in der es munter sprudelte. Flöto bemerkte, dass der Meteoromant sein Flanellnachthemd gegen seinen üblichen grauen Zweireiher getauscht hatte.

 

„Was ist das?“, fragte Flöto, während er sich aufrichtete. Seine eigene Stimme klang ihm seltsam fremd.

 

„Etwas, was dir gegen die Schmerzen und das Ohrensausen helfen wird, mein neugieriger junger Halblanger. Trink.“

 

Flöto setzte das Glas an die Lippen und stürzte den Inhalt ohne nachzudenken hinunter. Es schmeckte widerlich, aber sein Kopf begann, sich zu klären. Das Hämmern im Inneren seines Schädels ließ nach.

 

„Danke, Gähndalf. Was ist mit Onkel Drögo? Wo ist er? Und was war das eigentlich für eine Explosion?“

 

Flöto reichte dem Meteoromanten das geleerte Glas zurück, der es auf dem Nachttisch neben Flötos Bett abstellte.

 

„Immer langsam voran“, lachte Gähndalf. „Alle deine Fragen werden beantwortet werden, Flöto. Zu gegebener Zeit.“

 

„Warum nicht jetzt?“, wollte der Halblange wissen.

 

„Weil das immer so ist“, sagte Gähndalf. „Anders wäre es nicht traditionell, nicht wahr?“

 

Flöto schüttelte den Kopf.

 

„Macht nichts“, tröstete Gähndalf. „Kannst du aufstehen? Wir haben viel zu besprechen.“

 

„Gib mir ein paar Minuten Zeit, Gähndalf“, meinte Flöto und gähnte herzhaft. „Ich brauche jetzt dringend erst einmal ein wenig Morgentoilette und danach ein paar Tassen kräftigen Malzkaffee.“

 

Gähndalf hielt die Wünsche Flötos wohl für gerechtfertigt, denn er nickte.

 

„Gut. Ich gehe nach unten und bereite das Frühstück zu. Sieh zu, dass du bald ansprechbar bist.“

 

„Ist schon gut, Gähndalf“, meinte der Haubitzer leicht gereizt. Gähndalf behandelt mich jetzt schon wie Onkel Drögo, dachte Flöto, während sich der Ex-Buchhalter leicht hinkend auf den Weg nach unten machte.

 

Flöto warf die Bettdecke zurück und stieg aus dem Bett. Aus seiner Wäschekommode suchte er sich frische Unterwäsche und neue halblange Beinkleider sowie ein weites, langärmeliges Leinenhemd aus.

 

Neben seinem Bett standen auf einem Waschtisch eine Porzellanschüssel mit blauem Zwiebelmuster und ein dazu passender Krug, der mit frischem Quellwasser gefüllt war. Er goss Wasser aus dem Krug in die Schüssel und tauchte die Hände hinein. Er spritzte sich etwas von dem kalten Wasser ins Gesicht, was ihn erfrischte und vollends munter werden ließ. Nach einer behelfsmäßigen Waschung kleidete Flöto sich an und begab sich dann hinunter zu Gähndalf, der bereits in der Küche rumorte.

 

„Ich kann mich an diese niedrigen Decken bei euch Haubitzern einfach nicht gewöhnen“, meinte Gähndalf und präsentierte Flöto eine prächtige Beule am Hinterkopf. „Der Kaffee ist fertig. Setz dich und iss etwas.“

 

Gähndalf schenkte Flöto aus einer gusseisernen Kanne duftenden Malzkaffee in eine irdene Tasse. Danach goss der Wetterzauberer für sich selbst eine Portion des Getränks in einen Keramikpott, dessen Henkel fehlte, und auf dem eine nur mit einem Lächeln bekleidete elberische Schönheitstänzerin abgebildet war.

 

Das fast schwarze Gebräu dampfte, und Flöto verbrannte sich prompt Lippen, Zunge und Gaumen, als er ungeduldig den ersten Schluck nahm. Der junge Haubitzer schnitt sich nun eine schmale Scheibe Brot ab und belegte diese dick mit Bierschinken.

 

„Wo ist Onkel Drögo, Gähndalf?“, fragte Flöto und biss herzhaft in das Brot. „Er hat mir gegenüber gestern Abend so seltsame Andeutungen gemacht.“

 

Gähndalf betrachtete gedankenverloren den Dampf, der von dem Malzkaffee aus seinem Pott aufstieg.

 

„Er ist gegangen, Flöto“, sagte er schließlich zu dem jungen Haubitzer.

 

„Gegangen? Wohin? Und warum?“, schmatzte Flöto undeutlich, während er kaute.

 

Gähndalf lehnte sich umständlich an die unbequeme Sitzbank, die nicht für seine Körpermaße gebaut war. Er benötigte mehrere Anläufe, um eine Position zu finden, die nicht allzu unbequem war. Erst dann sprach der Wetterzauberer: „Er hat es ja in seiner Ansprache schon angedeutet, die gleichzeitig seine Abschiedsrede sein sollte. Er kam mit der doppelten Moral seiner Artgenossen nicht zurecht, Flöto. Die Haubitzer hier in Sackhausen haben ihm in der ersten Zeit nach seinem Coming-out ziemlich übel mitgespielt. Das konnte und wollte er ihnen nicht vergessen. Du warst damals wohl noch zu klein, um davon etwas mitzubekommen. Nun hat er sich bei seiner Abschiedsvorstellung in gewisser Weise an ihnen gerächt.“

 

„Gerächt?“

 

Flöto blieb vor Schreck schier das Brot im Halse stecken.

 

„Du meinst, die Leute, die auf der Party waren, sind...“

 

Gähndalf winkte rasch ab.

 

„Keine Angst, Flöto, sie sind fast alle mit dem bloßen Schrecken davongekommen. Niemand wurde ernstlich oder gar dauerhaft verletzt. Dein Onkel Drögo ist ja trotz allem kein böswilliger Haubitzer. Er wollte ihnen nur einen gehörigen Schrecken einjagen, und das hat er ohne Zweifel geschafft. An diesen Abend werden viele Haubitzer noch viele Jahre lang mit Schaudern zurückdenken.“

 

Gähndalf lachte still in sich hinein, als er sich an den gestrigen Abend erinnerte.

 

„Aber wo ist Onkel Drögo jetzt, Gähndalf?“, fragte Flöto.

 

„Er ist auf dem Weg zu Arnold nach Rippenprell, mein Junge“, erwiderte der Diplom-Meteoromant. „Er will seinen Lebensabend bei den Elbern verbringen, die erheblich toleranter sind als ihr Haubitzer. Er hat dir alles überschrieben, Flöto. Das Haus, der Garten, der Schweinezuchtbetrieb, seine Sammlung erotischer Malerei, das gehört jetzt alles dir. Die notarielle Urkunde liegt in einem Umschlag auf dem Kaminsims der Bibliothek.“

 

Flöto legte den Kopf schief, als er den Ex-Buchhalter fragte: „Du wusstest es, Gähndalf, nicht wahr?“

 

Gähndalf zögerte kurz, bevor er antwortete: „Ja, Flöto, ich wusste es. Dein Onkel Drögo bestand darauf, dir nichts zu sagen. Er hatte wohl Angst, du könntest auf die Idee kommen, ihn zu begleiten. Das wollte er nicht.“

 

„Ich werde ihn aber besuchen können, was meinst du, Gähndalf?“

 

„Natürlich kannst du deinen Onkel besuchen gehen, Flöto. Aber lasse deinem Onkel nun erst einmal ein wenig Zeit, um sich zu sammeln und einen neuen Anfang zu machen.“

 

„Du hast sicher Recht, Gähndalf.“

 

Flöto sah den ehemaligen Buchhalter und jetzigen Diplom-Meteoromanten an und fragte dann: „Steht eigentlich der Pavillon noch? Ich wollte mir gestern noch eine Wasserpfeife reinziehen ...“

 

Und so kam es, dass Flöto Säcklein zum Eigentümer eines der florierendsten Schweinezuchtbetriebe des Sauenlandes wurde.

 

Und erneut gingen mehrere Jahre ins Land.

Kapitel 3

Von der Rückkehr Saubarons

 

 

„Sermon!“

 

Die kehlig gurgelnde und dabei doch dünne Stimme klang, als fehle ihr wichtiges Zubehör, wie etwa ein funktionstüchtiger Resonanzkörper.

 

„Ich bin hier, Herr.“

 

Unterwürfig kam Saubarons ehemaliger Prokurist vor den improvisierten Thron gebuckelt, der hastig aus ein paar wurmstichigen Sperrholzplatten zusammengenagelt und mit einer Pferdedecke notdürftig aufgepolstert worden war.

 

„Erzähle mir, was es Neues gibt in Klondor.“

 

Ein röchelndes Pfeifen folgte diesen Worten.

 

Sermon wagte es, sich ein wenig aufzurichten. Er zog ein zusammengefaltetes, eng beschriebenes Notizpapier aus einer Tasche seines blütenweißen Nadelstreifenanzugs und entfaltete es. Er richtete seinen Blick konzentriert auf den Bericht, denn nach Möglichkeit wollte er das, was da auf dem Sperrholzthron halb lag und halb saß, nicht ansehen müssen. Sein Magen revoltierte bei diesem Anblick noch immer.

 

Kurz nachdem Saubaron die Flucht aus dem Gefangenentransport geglückt war, hatte ihn ein Rudel wolfsartiger Würgs hinterlistig gestellt. Trotz der tatkräftigen Hilfe seiner Nasenpûls hatten die Würgs Saubaron zerrissen und aufgefressen. Die verschlungenen Einzelteile Saubarons hatten sie anschließend verdaut und an verschiedenen Stellen Untendruntererdes portionsweise wieder ausgeschieden. Dieses Erlebnis war keinesfalls belustigend gewesen, und Saubaron erinnerte sich nur höchst ungern daran, Unsterblichkeit hin oder her. Sein körperlicher Tod hatte jedoch nicht sein vollständiges Ende bedeutet. Er hatte seine Lebenskraft an das magische Patent gebunden, und dieses Schriftstück existierte nach wie vor. So lebte sein Geist fort, und unendlich langsam fanden dessen feinstoffliche Bruchstücke, die in alle Winde verweht worden waren, wieder zueinander. Bis zum heutigen Tage trudelten vereinzelte Splitter seines Geistes bei Saubaron ein und wurden in dessen Bewusstsein integriert. Mehrere Jahrzehnte lang hatte Saubaron ausschließlich als geistiges Wesen existiert. Erst nach dieser Zeitspanne hatte er quälend langsam die notwendigen magischen Kapazitäten wiedererlangt, um Stück für Stück auch seinen alten Körper zu regenerieren.

 

Der Drang nach körperlicher Einheit, ja nach körperlicher Vollkommenheit, war seitdem für den ehemals mächtigsten Schweinezüchter Untendruntererdes zu einer fixen Idee geworden. In jüngster Zeit, da er wieder über zumindest rudimentär brauchbare Arme und Hände verfügte, betrachtete er stundenlang gewisse Elbermagazine. Diese bestanden vorwiegend aus Abbildungen, auf denen sich junge Elberinnen mit formvollendetem Körperbau und ziemlich viel sichtbarer makelloser Alabasterhaut auf Bärenfellen und Plüschdecken in höchst einladenden Posen rekelten.

 

Saubaron glühte dann förmlich vor Begeisterung, Begierde und Neid. Allerdings reagierte der ehemalige Konzernchef auf körperliche Gebrechen oder Unvollkommenheiten seiner Untergebenen auch zunehmend gereizt.

 

Sermon hatte sich tags zuvor bei der Anfertigung des Behelfsthrons mit dem Hammer so kräftig auf den Daumen geschlagen, dass der Finger innerhalb kürzester Zeit zu einem großen Klumpen mutiert war. Nun begann der Finger in den absonderlichsten Farben zu schillern, und außerdem war der Daumennagel schwarz geworden und begann sich abzulösen. Sermon hatte den Daumen mit einer schmerzstillenden Salbe eingerieben und mit einer Mullbinde umwickelt. Nun hatte sein Chef Saubaron den Verband erspäht.

 

„Was hast du denn da am Finger?“, begehrte Saubaron zu wissen und reckte neugierig seinen unvollkommen regenerierten Kopf ruckartig in Sermons Richtung, wodurch ein einzelnes, frisch wiederhergestelltes Auge aus seiner Höhle hüpfte und am Sehnerv herabbaumelte. Ungehalten schob Saubaron das Auge an seinen angestammten Platz zurück.

 

Dem ehemaligen Prokuristen Saubarons trat kalter Schweiß auf die Stirn.

 

„Es ist nichts, Herr.“

 

Misstrauisch fragte Saubaron: „Du hast dich doch nicht etwa verletzt, Sermon, mein treuer Diener?“

 

„Nein, nein, Herr, natürlich nicht. Hahaha, ich mich verletzt, nein, wirklich köstlich, Euer Humor, Herr.“

 

Sermons Hirn arbeitete fieberhaft an einer einigermaßen plausiblen Erklärung für den Verband.

 

„Es ist nur ein Hilfsmittel, um mich an etwas zu erinnern, Herr.“

 

„Erinnern?“, röchelte Saubaron. Er schien nicht völlig überzeugt. „Erinnern woran?“

 

„Äh, diese Stoffschleife sollte mich daran erinnern, Euch daran zu erinnern, dass Ihr den heutigen Spionagebericht hören wolltet. Aber dies ist ja jetzt unnötig geworden, nicht wahr? Mit Eurer Erlaubnis möchte ich daher gleich beginnen, damit Ihr Eure Kräfte schonen könnt, Gebieter. Darf ich vortragen?“

 

Saubaron winkte auf Sermons Frage mit einem noch nicht völlig wiederhergestellten Arm, von dem in losen Streifen madenzerfressenes stinkendes Fleisch herabhing, und erteilte damit seinem ehemaligen Prokuristen die Erlaubnis. Sermon atmete unmerklich auf. Sein Arbeitgeber schien sich mit der dünnen Geschichte zufriedenzugeben. Offenbar erforderte Saubarons anhaltende magische Regeneration noch immer so große Quantitäten seiner Geisteskraft, dass ihm derartige kleine Notlügen ab und zu entgingen. Sermon fuhr fort: „Sowohl unsere fliegenden Einheiten aus Spion-Stockenten als auch unsere Späher-Maulwürfe berichten übereinstimmend, dass in Klondor noch immer eine Belohnung auf Eure Ergreifung ausgesetzt ist, Herr. Es gab keine Amnestie in letzter Zeit. Allerdings haben sich die Dinge insoweit geändert, als Klondor seit Eurer … öhöm …“

 

Sermon hüstelte, um Zeit zu gewinnen. Saubaron reagierte nämlich auch auf manche Vokabeln äußerst ungehalten. Vor allem „Gefangennahme“, „Verurteilung“, „Flucht“ und einige andere Wörter konnten bei ihm zu Wutausbrüchen führen, bei denen man am besten so weit wie möglich von ihm entfernt war. Sermon fand einen unverfänglichen Begriff und hüstelte erneut.

 

„… öhöm … zeitweiligen Abwesenheit keine reine Monarchie mehr darstellt. Der letzte König von Klondor, Eseltour I., war bekanntlich zeugungsunfähig und hinterließ daher keinen Erben. Der Königsthron in der Hauptstadt Minus Arthritis ist somit verwaist und Klondor nur noch dem Namen nach eine Monarchie. Seit Eseltours Tod wird das Reich vom ranghöchsten Hofbeamten verwaltet. Dies ist der Tuchnässer von Klondor, und in Anlehnung an die Königswürde ist das Amt inzwischen erblich geworden. Derzeitiger Amtsinhaber ist der Tuchnässer Genever, Sohn des vor elf Jahren verblichenen Tuchnässers Ouzo. Genevers Gattin Gintonica verstarb vor drei Jahren, vermutlich an Langeweile. Genever hat zwei Söhne: Faxebier und Bieromir. Bieromir ist der Liebling des Tuchnässers, und Genever hätschelt ihn bei jeder Gelegenheit. Er zieht ihn offenbar in allen Fragen der Staatspolitik zurate, und Bieromir vertritt den Tuchnässer auch bei höfischen Angelegenheiten, die nach der Zeremonienordnung des Reiches die Anwesenheit des Tuchnässers nicht unbedingt in eigener Person erfordern. Bieromir befehligt zudem ein Kavallerieregiment und wurde im vergangenen Jahr zum am besten frisierten Armeeangehörigen von Minus Arthritis gekürt.“

 

Sermon legte eine kleine Pause ein, um seinem Chef Gelegenheit zu geben, die Informationen zu verarbeiten, die er gerade verlesen hatte. Saubaron nickte mit dem immer noch halb skelettierten Kopf zum Zeichen, dass Sermon weiter vortragen solle.

 

Der Ex-Prokurist fuhr fort: „Faxebier ist der zweite Sohn Genevers. Genever macht um Faxebier einen großen Bogen, wann immer es möglich ist. Faxebier bekam schon als Kind nur die alten abgelegten Kleidungsstücke seines älteren Bruders zum Auftragen. Während der Tuchnässer Bieromir an dessen Geburtstagen stets mit Geschenken überschüttete, erinnerte er sich an Faxebiers Geburtstage erst gar nicht. Bieromir schlief in einem eigenen Palastzimmer mit sauberen Laken und weichen, warmen Decken, Faxebier bekam zum Schlafen einen abgeschossenen Teppich vor den Herd in die Küche gelegt. Faxebier bekam natürlich bald mit, dass Genever ständig seinen Bruder Bieromir bevorzugte. Seither versucht Faxebier mit allen Mitteln, die Anerkennung des Tuchnässers zu erringen. Faxebier hasst außerdem seinen Bruder von Herzen und gönnt ihm nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Es sind bereits mehrere erfolglose Attentate auf das Leben von Bieromir aktenkundig, aber man konnte Faxebier nie etwas nachweisen. Dies waren die Nachrichten aus Klondor. Nun zum Wetter: heute böig auffrischender Wind aus Nordost mit leichten Regenschauern gegen Nachmittag. Die weiteren Aussichten: zur Wochenmitte etwas trockener, aber für die Jahreszeit zu kühl.“

 

Sermon verneigte sich in Richtung des Sperrholzthrons und faltete seinen Bericht wieder zusammen. Saubaron wirkte nachdenklich, auch wenn Sermon sich in das Mienenspiel seines Chefs nicht zu sehr vertiefte, weil er das Mittagessen im Allgemeinen gerne bei sich behielt.

 

„Ein sehr interessanter Bericht war das, Sermon“, raspelte Saubarons Stimme anerkennend. „Vielleicht können wir die komplizierten Verhältnisse in Klondor zu unserem Vorteil ausnutzen. Ich werde darüber nachdenken. Nun aber sage mir noch eines, Sermon, mein Freund.“

 

Der stinkende Haufen aus bleichen Knochen und fauligem Fleisch, der einst Saubaron gewesen war, und der wieder zu Saubaron werden wollte, versuchte sich ein wenig mehr in die Vertikale zu heben. Er schaffte es jedoch nicht, weil die zuletzt gebildeten Muskelpartien die Belastung noch nicht vertrugen. Saubarons Körper sackte daher wieder ein wenig zusammen.

 

„Was begehrt Ihr zu wissen, Herr?“, fragte Sermon und verneigte sich noch tiefer. Dies vermittelte den Eindruck von Unterwürfigkeit, aber Sermon war sich sicher, dass er sich demnächst übergeben müsste, wenn er seinen Chef noch ein wenig länger anzusehen und zu riechen hätte.

 

Saubarons Stimme gurgelte: „Wo ist Schmiergel, mein alter Laborgehilfe und Stallausmister? Wo steckt diese treulose Tomate? Ich habe ihn seit ... rrgh … kch … kchchchhh …“

 

Saubaron kämpfte sowohl mit seiner Stimme als auch mit aufwallendem Zorn: „… damals ... rrgh … nicht mehr gesehen. Ich erinnere mich genau daran, dir aufgetragen zu haben, nach ihm zu suchen, pchchhh.“

 

Sermon wurde es abwechselnd heiß und kalt.

 

„Wir haben alle unsere ehemaligen fest angestellten Arbeitskräfte und sogar die freien Mitarbeiter reaktiviert, mein Gebieter. Dies war nicht in allen Fällen ganz einfach, weil in der Zwischenzeit doch auch einige bedauerliche Todesfälle zu beklagen waren, wie Ihr Euch gewiss entsinnen könnt.“

 

Sermon schüttelte sich unwillkürlich, als er an die Szenen zurückdachte, die sich vor wenigen Tagen am derzeitigen Unterschlupf Saubarons zugetragen hatten. Als sie den magischen Sammelruf ihres ehemaligen Arbeitgebers vernommen hatten, hatten sich an der Tropfsteinhöhle, die das derzeitige Schaltzentrum Saubarons bildete, uralte Haubitzer an Krücken und Rollatoren, ein paar Menschen in Rollstühlen und sogar mehrere Zombies und einige Skelette eingefunden. Saubaron hatte seiner geriatrischen und teilweise postmortalen Belegschaft den Auftrag erteilt, nach Schmiergel zu suchen, ihn nach Möglichkeit lebendig zu ergreifen und zu ihm zu bringen. Danach hatte er seine ehemaligen Bediensteten erschöpft wieder weggeschickt.

 

Sermons Stimme zitterte ein wenig, als er fortfuhr: „Leider haben wir noch kein definitiv positives Ermittlungsergebnis, Herr. Wir verfolgen derzeit aber bereits mehrere Spuren. Die Suche nach Schmiergel ist in vollem Gange. Es kann daher nur noch eine Frage der Zeit sein, bis wir seiner habhaft werden, Gebieter. Wir …“

 

Sermon wurde unterbrochen, als Saubaron einen seiner gefürchteten Anfälle bekam: „Ich will nicht länger warten, Sermon! Ich will Resultate! Ich will … rrchchch … psschchchhh … diesen Schmiergel! Ich will diese Null, diese Nulpe, diesen Nichtsnutz, diesen Tagedieb, diesen Verräter, diesen, diesen … harrrrrgh …“

 

Saubaron wurde vor Anstrengung und Zorn ohnmächtig.

 

Sermon betrachtete den auf dem Thron in sich zusammengesunkenen ekelhaften Haufen aus fauligem Fleisch, Blut, Eiter und Knochen, und wischte sich mit einem fleckigen Taschentuch den kalten Schweiß von der Stirn.

 

„Das kann ja noch heiter werden“, murmelte er und verließ eilends seinen ohnmächtigen Chef, um sich vor der Höhle kräftig und ausdauernd zu übergeben.

Kapitel 4

Schmiergel

 

 

Schmiergel erwachte mit einem Schrei.

 

Er zitterte am ganzen ausgemergelten Leib. Er hatte den RUF seines ehemaligen Brötchengebers bereits vor einigen Wochen deutlich vernommen. Nur mit äußerster Willensanstrengung hatte er damals dem Lockruf Saubarons widerstanden. Immer wieder hörte er seitdem den RUF in seinem Kopf, doch es gelang ihm gleichzeitig auch immer besser, dem geradezu hypnotischen Einfluss dieser Stimme zu widerstehen.

 

Schmiergel fühlte sich nicht besonders gut. Die zahlreichen magischen Experimente Saubarons hatten auch bei ihm, dem Laborassistenten, Spuren hinterlassen und ihn im Laufe der Jahre verändert. Sein vormals volles und dauergewelltes Haubitzerhaar hing heute in nur noch wenigen fettigen, dünnen Strähnen von seinem fast kahlen Kopf. Seine Augäpfel waren größer geworden und glichen im Dunklen zwei Pingpongbällen, die man mit fahlgrüner Leuchtfarbe überzogen hatte. Seine Nase war kürzer und flacher geworden, sodass sie eher zu einem Pekinesenhündchen als zu einem Haubitzer gepasst hätte. Die Extremitäten waren dünner und länger, als er es bei einem Haubitzer für angemessen erachtete, und seine Haut wies einen ungesunden weißlich-fleckigen Farbton auf, der unangenehm an Fliegenmaden erinnerte. Er litt unabhängig von der Jahreszeit unter ständigem Heuschnupfen und Sonnenlicht verursachte ihm juckende rötliche Hautausschläge.

 

Kurz und gut: Nur Weniges an seinem Äußeren erinnerte noch an den Haubitzer, der er vor vielen Jahren gewesen war. An seinen richtigen Namen erinnerte er sich kaum noch, weil er seit Saubarons körperlichem Verschwinden ausschließlich unter falschen Namen herumreiste. Wegen seiner Sonnenlichtallergie war er vorwiegend im Dunklen unterwegs, und gelegentlich jobbte er als Aushilfsnachtwächter. Er gab vor, Nachfahre von Einwanderern aus dem Mittelfernen Osten in der zweiten Generation zu sein, und nannte sich Göllüm. Außerdem gab er sich zuweilen als Schauspieler ohne Engagement aus, was ihm die Leute durchaus abkauften, weil Schmiergel auch nicht das geringste darstellerische Talent besaß.

 

Der mutierte Haubitzer wälzte sich von der speckigen Luftmatratze, die ihm als Lager diente. Er griff nach der Flasche mit billigem Zwergenaquavit, die er im Gemischtwarenladen des letzten Kuhkaffs, durch das er gezogen war, hatte mitgehen lassen. Schmiergel schraubte den Metallverschluss von der Flasche und nahm einen kräftigen Schluck.

 

Der widerliche Fusel brannte im Mund, in der Kehle und weiter bis in den Magen hinunter. Dort verwandelte sich der scharfe Schnaps in eine sich rasch ausbreitende wärmende Welle, die ihn von innen nach außen bis in die Spitzen seiner gichtigen krummen Zehen durchlief. Schmiergel schüttelte sich, schraubte den Verschluss wieder auf die Flasche und rülpste hingebungsvoll.

 

Er musste sich etwas einfallen lassen. Saubaron würde alles in seiner Macht stehende tun, um ihn in die fauligen Finger zu kriegen. Der ehemalige Laborgehilfe Saubarons kannte seinen Exchef gut genug, um zu wissen, dass Saubaron ihm seinen Fehler bis heute nicht vergeben hatte. Es war Schmiergels Schuld, dass das kostbare Patent, an dem der Lebensfaden Saubarons hing, verloren gegangen war.

 

Schmiergel hatte das Patent vor vielen Jahren an sich bringen können, als er als freier Haubitzer das Gerichtsgebäude in Minus Arthritis gerade verlassen wollte. Während er zufrieden in Richtung des Ausgangs schlenderte, schlurfte vor ihm zufälligerweise ein Gerichtsbote, der den altersschwachen Aktenkarren vor sich herschob, auf dem sich die Akten und die Asservate von Saubarons Prozess stapelten. Als der Karren just in diesem Moment ein Gummirad verlor, umkippte und seinen Inhalt großzügig auf den blank gescheuerten Marmorfußboden des Gerichtsgebäudes verstreute, eilte Schmiergel herbei und half dem fluchenden Justizbediensteten, die Beweisstücke und Aktenstapel wieder auf den reparaturbedürftigen Karren zu hieven. Rein zufällig fiel Schmiergels Blick dabei auf das für Saubaron lebenswichtige Dokument, und in einem unbeobachteten Moment verbarg er dieses kostbare Stück Papier in einer Tasche seiner Kniebundhose. Doch bereits kurze Zeit danach musste das Geheimdokument Schmiergel wieder abhandengekommen sein, denn als Schmiergel mit einem frisch erworbenen Kanister Landwein in seinem provisorischen Lager ankam und seine Hosentaschen durchforstete, konnte er das Papier nicht wiederfinden. Panisch suchte Schmiergel die gesamte Gegend nach dem kostbaren Dokument ab, doch all seine Bemühungen waren vergeblich. 

 

Als Saubaron kurz nach seiner Verurteilung mit Schmiergel magisch-telepathischen Kontakt aufnahm, um seine Flucht zu organisieren, berichtete Schmiergel vom erfolgreichen Diebstahl des magischen Dokuments. Allerdings beichtete der ehemalige Stallausmister auch den Verlust desselben. Saubaron geriet damals völlig außer sich. Er drohte Schmiergel eine exquisite Palette äußerst interessanter und langwieriger Arten zu Tode zu kommen an, sollte der Laborgehilfe nicht seinen haubitzerischen Allerwertesten in Bewegung setzen und das magische Papier wiederbeschaffen. Schmiergels diesbezügliche Motivation erhielt durch die überaus detaillierten Schilderungen Saubarons einen deutlichen Schub. Der Rest war Geschichte. Saubaron war nach den damaligen Berichten der Sensationspresse mithilfe seiner Schlägertruppe aus dem Gefangenentransport entkommen und war seitdem spurlos verschwunden. Und auch das unzerstörbare Papier mit der unsichtbaren magischen Formel und dem klondorischen Patentstempelaufdruck war verschollen. Schmiergel befand sich seit dieser Zeit auf einer geradezu beispiellosen Flucht vor Saubarons Zorn.

 

Schmiergel seufzte. Saubaron erholte sich von Tag zu Tag mehr, und seine Kräfte nahmen stetig zu - Schmiergel konnte es fühlen. Der ehemalige Stallausmister musste etwas unternehmen, denn die jahrzehntelange Flucht setzte ihm zu. Inzwischen wagte er es nicht mehr, sich für längere Zeit an einem Ort niederzulassen, denn in jeder Stadt, in jedem Dorf witterte er die Spione Saubarons.

 

Er fasste aus seiner Zwangslage heraus einen Entschluss, der den Lauf der Geschichte Untendruntererdes für immer verändern sollte: er würde sich vor Saubaron rehabilitieren. Er würde das verschollene Patent wiederbeschaffen, mochte es kosten, was es wollte. Es war die einzige Chance, die er sah, um der immer konkreter drohenden Rache Saubarons zu entkommen. All die Jahre hatte er sein Hirn malträtiert, um eine winzige Spur zu finden, die ihm weiterhelfen könnte, und erst kürzlich hatte er einen vagen Verdacht bekommen. Diesem Verdacht würde er nun nachgehen.

 

Schmiergel setzte ein widerwärtiges Grinsen auf, das seine gelben Stummelzähne zum Vorschein brachte. Er würde mit seiner Spurensuche dort beginnen, wo die ganze Misere ihren Anfang genommen hatte, und wo selbst Saubaron ihn am wenigsten vermuten würde: im Sauenland.

Kapitel 5

Stippvisite in Rippenprell

 

 

Gähndalf ließ seinen etwas myopischen Blick missmutig aus dem Mansardenfenster über die weitläufige Palastanlage schweifen. Die Gebäude und Prachtgärten der Anlage erstreckten sich weit in alle Richtungen. Am äußeren Rand der Palastgärten begann das riesige Waldgebiet, in dem der Palast von Rippenprell lag. Die sattgrünen Blätter der Büsche und Bäume besaßen nach dem langen Sommer bereits einen Stich ins Gelbliche, der die alljährliche herbstliche Farbenpracht im elberischen Fürstentum Rippenprell ankündigte.

 

Auf den Terrassen der Palastanlage, die durch Marmortreppen und sanft geschwungene Alabasterkieswege miteinander verbunden waren, war die vielköpfige Dienerschaft mit der alljährlichen Reinigung der berühmten Statuen beschäftigt, die von der Handwerkskunst elberischer Bildhauer kündeten. Alle Statuen zeigten überwiegend nackte oder nur spärlichst bekleidete Elberinnen und Elber in Lebensgröße, die allerlei Arten körperlicher Ertüchtigung nachgingen. Gähndalf war zwar der Meinung, dass bei einigen der marmornen Figuren die jeweils männlichen oder weiblichen Attribute etwas übergroß proportioniert waren, aber über den elberischen Geschmack ließ sich in diesen Dingen nicht streiten.

 

Während Gähndalf das Treiben der Dienerschaft draußen betrachtete, drang ein eigenartiges Konzert aus vielstimmigem Ächzen, Stöhnen und Keuchen an sein Ohr.

 

Gähndalf seufzte und wandte sich um. Der Raum war etwa dreißig Schritte lang und halb so breit, aber nicht sonderlich hoch. Die von außen zur Raummitte hin aufstrebend verlaufenden Pfetten, die sich hier, im obersten Stockwerk des höchsten Palastgebäudes von Rippenprell, befanden, waren mit schlichten Gipskartonplatten verkleidet und weiß übertüncht worden. In regelmäßigen Abständen ragten dunkel gebeizte senkrechte Holzpfeiler, welche den Dachfirst trugen, vom Boden bis durch die abgehängte Decke.

 

Das gesamte Dachgeschoss war zu einem Fitnessraum ausgebaut worden. An der nördlichen Kopfseite des Raumes waren Spiegel angebracht, vor denen mehrere Elberinnen und Elber in figurbetonenden Trainingstrikots mit Hanteln trainierten oder ihre muskelbepackten Körper beim Posing bewunderten. An der gegenüberliegenden Südseite des Raumes ließen großzügig dimensionierte bodentiefe Fenster helles Sonnenlicht in den Raum fallen. Zahlreiche Trainingsgeräte waren überall im Studio verteilt, an denen Elberinnen und Elber ihre täglichen rituellen Leibesübungen verrichteten. In einem Fitnessgerät eingespannt, nur wenige Schritte von Gähndalf entfernt, quälte sich Arnold, der elberische Herr von Rippenprell, gerade mit Beinpressen ab.

 

„Nein, Gähndalf“, keuchte der elberische Fürst gerade. „Ich kann deine Idee nicht gutheißen. Wir Elber von Rippenprell … ächz … haben immer viel Wert auf unsere … ngrrr … Neutralität gelegt.“

 

Arnold erledigte die letzte Beinpresse des aktuellen Satzes, keuchte noch einmal und griff nach einem Handtuch, um sich affektiert ein paar unsichtbare Schweißperlchen aus dem fein geschnittenen, hellhäutigen und überaus arrogant dreinblickenden Gesicht zu tupfen.

 

„Ihr Elber könntet doch ein einziges Mal eine winzige Ausnahme machen“, meinte Gähndalf mürrisch. Mit Elbern in geschäftliche Verhandlungen zu treten erforderte einen gewissen Hang zum Masochismus. Die Häupter der meisten Elber wirkten schmal und zierlich und vermittelten insgesamt den Eindruck, als könne die schwächste Windbö sie von ihrem Hals herunter wehen. Diese so empfindlich anmutenden Köpfe entpuppten sich jedoch zumeist als eisenharte Dickschädel, an denen man reihenweise Ziegelsteine zertrümmern konnte.

 

Gähndalf fuhr fort: „Ich meine, es geht doch auch euch Elber selbst etwas an! Ihr könntet doch wohl zumindest einen kleinen, gewissermaßen symbolischen, Beitrag leisten. Das wäre doch wahrlich nicht zu viel verlangt.“

 

Gähndalf redete nun bereits seit einer Stunde auf Arnold ein wie auf einen fußlahmen Gaul. Der Herr von Rippenprell schälte sich indes völlig unbeeindruckt von Gähndalfs bisherigen Bemühungen aus dem Beinpressengerät. Arnold wandte sich unverzüglich dem Trainingsapparat gegenüber zu, um seine Großen Rückenmuskeln zu kräftigen.

 

„Nein, genau das geht eben nicht, Gähndalf“, erklärte der Fürst. „Keine Ausnahmen, auch nicht symbolisch.“

 

Der Herr von Rippenprell ergriff seine persönliche Trinkflasche, in der sich eine isotonische Flüssigkeit befand, und nahm einen Schluck.

 

„Wir werden euch menschlichen Emporkömmlingen oder gar den lichtscheuen Zwergen nicht noch einmal gegen Saubaron unter die Arme greifen. Schon beim letzten Mal sind wir nur knapp einer Verleumdungsklage entkommen. Wäre die Sache damals schiefgegangen, hätten uns die gewieften Anwälte Saubarons bestimmt auf so viel an Schadensersatz verklagt, dass wir für die Hälfte unserer Niederlassungen Konkurs hätten anmelden müssen. Diesem Risiko wollen wir uns nicht noch einmal aussetzen. Wir müssen an unsere Investitionen und an unsere Anteilseigner denken, Gähndalf. Unsere Geldgeber wollen Renditen sehen. Wir müssen unsere Wirtschaft schützen, und wir müssen die Interessen unserer Aktionäre im Auge behalten. Das ist für uns kein Spiel, Gähndalf.“

 

Arnold ließ sich auf einer niedrigen Bank vor dem Gerät nieder. Er schloss beide Hände um eine Querstange über seinem Kopf. Die Stange war an einem Seil befestigt, das über eine Umlenkrolle lief. Am unteren Ende des Seilzuges befanden sich zahlreiche Gewichte. Arnold zog die Stange langsam hinter seinem dauergewellten Haupthaar in den Nacken und streckte seine Arme dann ebenso langsam wieder nach oben. Die Gewichte des Geräts hoben und senkten sich im Rhythmus von Arnolds Bewegungen.

 

„Ich weiß das doch alles, Arnold“, erwiderte Gähndalf, während der Fürst von Rippenprell sich weiter mit seinen Leibesübungen beschäftigte und dabei leise die Anzahl der Wiederholungen mitzählte. „Ich war damals ja auch dabei, und ich bin nur knapp freigesprochen worden. Ich kenne Saubaron, seine Helfershelfer, die Nasenpûls, und auch seinen Prokuristen Sermon nur zu gut aus eigener Erfahrung. Viele einfache Leute haben damals Saubaron als Mitläufer unterstützt, teils aus Unkenntnis, teils aus Berechnung. So etwas kann doch jederzeit wieder passieren, Arnold. Die Zeichen mehren sich, dass Saubaron wieder da ist. Es gibt Gerüchte über geheimnisvolle gemeinsame Kaffeefahrten von ehemaligen Angestellten Saubarons. Von Friedhöfen verschwinden Leichen und Skelette. Landwirte berichten über anonyme Bieter bei Viehauktionen, die seit einiger Zeit die besten Eber und Zuchtsauen zu Höchstpreisen aufkaufen. Die Nasenpûls haben sich neuerdings in Gruppen aufgeteilt und sind wieder im Land unterwegs. Du weißt, worauf das alles hindeutet, Arnold. Die freien Völker von Untendruntererde müssen sich erneut erheben und sich gemeinsam gegen diese drohende Gefahr stemmen. Wenn Saubaron nur sein Schweinemonopol in Klondor wieder aufbauen wollte, wäre das schon schlimm genug; aber wer sagt uns, dass ihm das genügen wird? Was wäre, wenn er sein Imperium diesmal auch auf geräucherte Rindswürste und auf Ochsenschwanzsuppe in Dosen ausdehnen wollte? Oder auf Nüsse, Früchte, Proteinriegel, isotonische Getränke und auf den Schwarzmarkt für Anabolika und Stier-Testosteron? Das hätte doch auch auf euch Elber Auswirkungen, die ihr nicht übersehen könntet, oder etwa nicht?“

 

Arnold hielt einen Augenblick lang in seiner Übung inne. Er dachte kurz nach, und fuhr dann mit seinem Training fort, während er Gähndalf antwortete: „In so einem Fall würde ich eine Beteiligung der Elber am Widerstand gegen Saubaron eventuell in Erwägung ziehen. Eine unmittelbare Bedrohung der elberischen Wirtschafts- und Körperkultur wäre für uns nicht akzeptabel. Aber es gibt für uns ja auch Alternativen, Gähndalf. Es geht für uns Elber diesmal nicht unbedingt um das berühmte Alles oder Nichts.“

 

Arnold beendete seinen aktuellen Satz von Wiederholungen an dem Gerät und gönnte sich noch einen Schluck aus der Trinkflasche.

 

„Was meinst du damit, Arnold?“, fragte Gähndalf. Der Meteoromant fröstelte plötzlich, obwohl die späte Nachmittagssonne noch Kraft genug besaß, um den Fitnessraum zu erwärmen.

 

„Wir wandern aus“, meinte Arnold lakonisch, während er seine Übungen wieder aufnahm. „Wir verlassen diese ungastlichen Landstriche, in denen es über kurz oder lang keinen Platz mehr für uns und unseren Lebensstil geben wird. Zwei ... pffff ... drei … pffff ...“

 

„Auswandern? Wohin denn? Und wann?“, fragte Gähndalf verdattert.

 

Arnold stellte entnervt seine Übungen ein und blickte dem Wetterzauberer fest in die Augen.

 

„Wir werden nach Arnieland zurückkehren“, antwortete Arnold. Er fuhr sodann mit einer sanften, fast verzückten Stimme fort, die so gar nicht zu seiner sonstigen Ausdrucksweise passen wollte: „Es ist das Land unserer Ahnen, Gähndalf. Die Vorbereitungen laufen bereits seit einiger Zeit. Wir Elber sehnen uns alle nach unserer alten Heimat. Nach der Heimat, die wir vor undenklichen Zeiten verließen, um hier zu missionieren und allen Völkern Untendruntererdes die Segnungen der elberischen Wirtschafts- und Körperkultur zu bringen. Das Land der Wahrlich Freien Wirtschaft, das Land der endlosen Trimm-dich-Parcours, das Land, in dem Proteingetränke und isotonische Mineraldrinks fließen, das Land ohne Doping-Kontrollen, Arnieland …“

 

Gähndalf versuchte sich ein solches Land vorzustellen, doch es schüttelte ihn bereits, bevor er noch ganz zu Ende imaginiert hatte.

 

„Das ist ja alles ganz gut und schön, Arnold. Aber frage dich auch, ob es Saubaron möglich sein könnte, seine Fühler auch nach eurem geliebten Heimatland auszustrecken.“

 

Einen Moment lang schrak Arnold sichtlich zusammen, doch sofort hatte er sich wieder in der Gewalt.

 

„Das darf niemals geschehen, Gähndalf. Wir haben dieses Szenario bisher nicht ernsthaft in Betracht gezogen, schließlich ist Arnieland von Untendruntererde durch die Übersee getrennt. Aber möglicherweise wirft dieses Argument ein neues Licht auf die Angelegenheit. Ich werde deine Bitte unter diesem Gesichtspunkt nochmals überdenken. Ich muss mich außerdem noch mit einigen anderen elberischen Niederlassungsleitern beraten. Mehr kann ich dir im Augenblick nicht versprechen.“

 

„Ich danke dir, Arnold“, erwiderte Gähndalf, der wusste, wann bei einem Elber die Grenze seiner Verhandlungsbereitschaft erreicht war. „Mehr konnte ich nicht erwarten. Schließlich habt ihr bereits das Risiko auf euch genommen und Saubarons Geheimpatent über so viele Jahre hinweg hier aufbewahrt.“

 

Über Arnolds edles Antlitz zog ein nachdenklicher Schatten. Er zögerte kurz mit seiner Entgegnung, als hätte etwas Unangenehmes den Pfad seiner Gedanken gekreuzt.

 

„Vielleicht solltest du auch noch Drögo aufsuchen, wenn du schon einmal hier bist, Gähndalf“, meinte Arnold kryptisch, und - wie es Gähndalf schien - ein wenig verlegen. „Ich bin sicher, ihr werdet euch viel zu erzählen haben. Ich vermute nämlich, du bist in dieser speziellen Sache nicht so ganz auf dem Laufenden …“

 

„Wie meinst du das, Arnold?“, fragte Gähndalf. Eine schreckliche Ahnung begann in seinem Geist zu keimen, die ihm Gänsehaut verursachte.

 

„Sprich mit Drögo darüber, Gähndalf. Schließlich war es ja im Grunde genommen seine Idee. Ich gehe jetzt duschen. Wir sehen uns sicher später noch, vielleicht bei einem kleinen Imbiss?“

 

Der Herrscher von Rippenprell drehte sich hastig um und tänzelte in seinem Trainingsanzug aus atmungsaktiver Baumwolle leichtfüßig in Richtung der Umkleiden und Sanitärräume davon.

 

Gähndalf flüchtete aus Arnolds Fitness-Studio und machte sich zu Drögos Privatsuite im Nachbargebäude auf, so schnell ihn seine altersschwachen Beine trugen. Der alte Haubitzer bewohnte dort mietfrei eine großzügige Zimmerflucht. Als Gähndalf vor ein paar Jahren zufällig erfahren hatte, dass Drögo in Rippenprell kostenlos logierte, war ihm dies reichlich seltsam erschienen, schließlich kannte der diplomierte Meteoromant den Geschäftssinn der Elber nur zu gut. Für pure Gefälligkeiten ohne Gegenleistung war in ihrem Weltbild ganz einfach kein Platz. Aber Gähndalf hatte die Sache auf sich beruhen lassen, weil sie ihm damals nicht wichtig genug erschienen war. Möglicherweise hatte er diesem Umstand aber zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies mochte sich nun bitter rächen. Gähndalf verließ das Hauptgebäude und überquerte einen kleinen Zwischenhof, der zum Nebengebäude führte. Im Inneren des Hauses stürmte der Meteoromant die Treppe zu Drögos Suite hinauf, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm. Sein leichter Klumpfuß, dessentwegen er sich den Spazierstock angeschafft hatte, der ihm außerdem als Zauberstab und als Hornhautraspel gute Dienste leistete, schien ihm bei dieser Anstrengung keinerlei Probleme zu bereiten.

 

Gähndalf erreichte schließlich schäumend vor Wut und Anstrengung das Hochparterre. Der Meteoromant eilte den breiten und mit Marmorfliesen ausgelegten Korridor zu Drögos Zimmerflucht entlang, vorbei an den auch innerhalb der Palastwände allgegenwärtigen Alabasterskulpturen. An Drögos Suite angekommen, riss der ehemalige Buchhalter ohne anzuklopfen die unverschlossene Tür zu Drögos Gemächern auf und stürzte auf direktem Wege ins Wohnzimmer.

 

Drögo schrak ob der plötzlichen Störung in seinem Korbsessel zusammen, in dem er lässig gelümmelt hatte. Er studierte gerade die neueste Ausgabe der „Tunten-Gazette“, des einschlägigen Fachblatts „für Homophile und alle, die es gerne wären“.

 

„Wo ist es, Drögo?“, rief Gähndalf anstelle einer Begrüßung und reichlich außer Atem.

 

Drögo erholte sich rasch wieder von seinem ersten Schrecken und wich der Frage Gähndalfs aus: „Auch dir einen guten Tag, Gähndalf. Was für eine unerwartete und gleichzeitig angenehme Überraschung, dich hier zu sehen“, erwiderte der alte Haubitzer nicht wirklich überzeugend. Er faltete das ausgeklappte Bild in der Mitte des Magazins zusammen, das er gerade intensiv betrachtet hatte.

 

„Wo ist das Geheimpatent Saubarons?“, wetterte Gähndalf. „Du hast mir damals versprochen, es hierher mitzunehmen, Drögo! Hier in Rippenprell wäre das Dokument sicher, die Elber sollten es in einen mit einem Fahrradschloss gesicherten Tresor sperren, und für alle Welt sollte es so aussehen, als sei dieses üble, unzerstörbare Machwerk für alle Zeiten unauffindbar verschollen. Wo ist es also, Drögo Säcklein?“

 

Der Ex-Buchhalter und Meteoromant hieb zur Bekräftigung mit seinem Spazierstock derart wuchtig auf den Fußboden, dass der fugenlos verlegte Marmor kleine Sprünge bekam.

 

„Es … es ist … es ist nicht hier, Gähndalf“, stotterte Drögo schließlich.

 

„Wo ist es dann, Drögo?“, rief der alte Wetterzauberer. „Hast du ein noch besseres Versteck gefunden als hier bei den Elbern? Wo könnte es noch sicherer aufgehoben sein als bei den unsterblichen, ewig jungen und kraftstrotzenden Beschützern der Alten und der Neuen Welt? Wo hast du hirnverbrannter alter Trottel das Patent abgeladen?“

 

Drögo sagte es ihm.

Kapitel 6

Die Oinks

 

 

Sermon spülte den Mund ein letztes Mal mit dem schmutzigen Wasser aus, das er in einer Steinzeugtasse unter ein paar Tropfsteinen aufgefangen hatte, um den ekelhaften Geschmack von Erbrochenem loszuwerden. Wenn das so weiterging, würde er bald nur noch Haut und Knochen sein. Sermon war bei Weitem nicht mehr der Jüngste, und das Alter machte sich auch so schon genug bemerkbar.

 

Er hatte sich im Laufe seines Rentnerdaseins an viel Ruhe, an mehrere ausgewogene Mahlzeiten am Tag und an ausreichend Schlaf gewöhnt. Seit Saubaron zurückgekehrt war und Sermon als einen der ersten seiner Diener zu sich gerufen hatte, bekam er von allen diesen Dingen zu wenig.

 

„Ich hätte mir Papi zum Vorbild nehmen sollen“, sprach Sermon zu sich selbst, während er sich mit einem schmutzigen Frotteetuch die Mundwinkel abtupfte. „Der hatte bis zu seiner Pensionierung ein ruhiges Leben im Staatsdienst, und nachher erst recht. Aber nein, ich wollte in die freie Wirtschaft, Karriere wollte ich machen, ich Trottel.“

 

Verbittert warf Sermon das Tuch in einen Winkel der kleinen Seitenhöhle, die er mithilfe eines mit Blümchenmotiven bedruckten Plastikvorhangs von der Haupthöhle abgetrennt hatte. Auf diese Weise verschaffte sich Sermon ein Mindestmaß an Privatsphäre. Ein paar blinde weißliche Würmer und eine bleiche Spinne fühlten sich durch das herabfallende Tuch gestört und zogen sich verärgert in schmale Felsritzen zurück.

 

Sermon warf einen abschätzigen Blick auf seinen privaten Bereich der riesigen Tropfsteinhöhle. Das schäbig wirkende Mobiliar bestand aus einer schlecht verleimten Tischlerplatte, die auf zwei wurmstichigen Holzböcken ruhte, und die ihm den Schreibtisch ersetzte. Ein futonähnliches niedriges Bett mit viel zu weicher Matratze, aus dem er morgens kaum aufstehen konnte, stand an einer Wand. Ein wackliger Klappstuhl aus einem Baumarkt, der ihm sowohl als Sitzgelegenheit als auch als Kleiderständer diente, vervollständigte seinen Wohnbereich. Eine eigene tragbare chemische Toilette war der einzige Luxus, den Sermon sich leistete.

 

Der Ex-Prokurist hatte seinen kleinen aber altersgerechten Bungalow mit Garten, den er sich von seinem Ersparten und von seiner schmalen Rente in einem kleinen Vorort von Minus Arthritis hatte errichten lassen, vor vielen Monaten verlassen, um zu Saubaron zurückzukehren. Er vermisste die eintönig langweiligen Tage, die er im Liegestuhl auf seiner kleinen Terrakotta-Terrasse verdöst hatte, während eine nette junge Dame, die gerade ihr Unfreiwilliges Soziales Jahr ableistete, für ihn Besorgungen machte und ihm den Haushalt führte.

 

Sein Ex-Chef hatte ihm bei ihrem ersten Kontakt geregelte Arbeitszeiten und mit Rücksicht auf sein Alter nur mäßig aufregende Tätigkeiten versprochen. Sermon hatte ihm geglaubt, zu Unrecht, wie er schon bald enttäuscht feststellen musste. An Saubarons ehemaligem Prokuristen blieb vielmehr all das hängen, was in irgendeiner Weise mit Logistik, Organisation oder Strategie zu tun hatte - und das war leider so ziemlich alles, was in dieser Zeit an Arbeit anfiel. Sermon konnte nun aber nicht mehr zurück. Saubaron hätte ihn ohne mit der Wimper zu zucken erledigt, wenn Sermon zum jetzigen Zeitpunkt einen Rückzieher gemacht hätte.

 

Saubaron hatte zuerst die Nasenpûls rekrutiert. Die alte Schlägertruppe hatte Saubaron in der Anfangszeit seiner magischen Regenerierung als Arme und Beine gedient, solange er noch nicht selbst über entsprechende Gliedmaßen verfügt hatte, und sie hatten ihm Augen und Ohren ersetzt. Doch auch an den Nasenpûls war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Zwar waren alle ehemaligen Leibwächter Saubarons noch am Leben, aber damit war die Liste positiver Eigenschaften der Truppe auch schon erschöpft. Grep und Bash waren äußerst schwerhörig, und man musste sie anbrüllen, damit sie überhaupt etwas mitbekamen. Awk hatte vor ein paar Jahren sein Raucherbein amputiert werden müssen, und er bewegte sich seitdem nur noch im Rollstuhl oder mit einem Holzbein vorwärts. Tar, Bunzip und Man waren extrem kurzsichtig, Cat hatte sich vor zwanzig Jahren beim Holzfällen versehentlich ein paar Finger abgehackt, und bei Diff und Yacc wurde Sermon den Verdacht nicht los, dass sie völlig verkalkt und außerdem inkontinent waren.

 

Sermon fragte sich daher, weshalb Saubaron an ihm und an den Nasenpûls festhielt. Im Fall der Nasenpûls lag es wohl an einer besonderen, magisch bedingten Affinität zwischen Saubaron und den Schlägern. In seinem eigenen Fall lag es wohl nur daran, dass Sermon einfach zu feige war, um sich aufzulehnen.

 

Der Ex-Prokurist versuchte sich zusammenzureißen. Es lag heute noch viel Arbeit vor ihm.

 

Ein Nasenpûl, der schwerhörige Grep, schob den an einer Wäscheleine aufgespannten Vorhang zu Sermons Privatbereich zur Seite, streckte den Kopf herein und brüllte: „SERMON! DER CHEF WILL, DASS DU JETZT DIE NEUEN TRUPPEN INSPIZIERST!“

 

Sermon verzog gequält das Gesicht, als die Echos von Greps heiserem Gebrüll von allen Wänden der Höhle widerhallten. Gesteinskrümel, Fledermauskot und Staub lösten sich von Wänden und Decke und rieselten auf Sermon herab. Er hegte den stillen Verdacht, dass Saubaron ihm absichtlich und aus purer Gehässigkeit stets die schwerhörigen Nasenpûls schickte, um seine Anordnungen zu überbringen. Saubaron musste schließlich weder selbst brüllen noch brüllen lassen, um seine Befehle zu kommunizieren. Er konnte direkt in ihren Köpfen zu ihnen sprechen.

 

Sermon seufzte: „Ich komme sofort, Grep.“

 

„WAS HAST DU GESAGT?“, schrie der fast taube Nasenpûl.

 

„ICH KOMME SOFORT!“, brüllte Sermon mit aller ihm zu Gebote stehenden Freundlichkeit zurück. Erneut rieselten Staub und Sandkörnchen von Decke und Wänden.

 

„ALLES KLAR!“, entgegnete Grep schreiend, und reckte grinsend einen Daumen hoch zum Zeichen, dass er diesmal verstanden hatte.

 

Sermon rüstete sich innerlich, bevor er sich anschickte, die Truppen Saubarons zu besichtigen. Der ehemals mächtigste Schweinezüchter von Untendruntererde hatte in den Jahrzehnten seiner körperlosen Existenz viel Zeit gehabt, um weitere Formeln zur magischen Manipulation von Tieren zu ersinnen und um bestehende Rezepturen zu verfeinern.

 

Ein Ergebnis dieser Bemühungen war eine Neuauflage seiner Oinks, die ausschließlich zu kriegerischen Zwecken gezüchtet wurden. Seit den ersten Tagen seiner monopolistischen Herrschaft hatte er diese Wesen immer weiter magisch verändert. Erste Versuche im Labor waren bereits recht vielversprechend verlaufen. Saubaron hatte seine magischen Formeln danach immer weiter verbessert, und vor wenigen Wochen waren die ersten rundum tauglichen Resultate hervorgebracht worden.

 

Die heutigen Oinks waren mit den ersten Ergebnissen von Saubarons perversen Experimenten nicht mehr vergleichbar, auch wenn sie sich äußerlich kaum von den Oinks der ersten Generation unterschieden. Diese neuen Oinks sollten die Speerspitze von Saubarons Rückkehr bilden. Sie waren das Rückgrat seiner Armeen, mit denen er die Völker Untendruntererdes wieder unterjochen und auf ewig seinen monopolistischen Bestrebungen untertan machen wollte. Die Oinks waren inzwischen so pervertierte Geschöpfe, dass sie nicht auf natürlichem Wege gezeugt und geboren werden konnten. Sie wurden vielmehr im alchemistischen Labor in speziellen Brutkolben angesetzt, in denen sich eine exotische Mischung von Inkubations- und Nährflüssigkeiten befand. Nach der alchemistischen Zeugung im Brutkolben wuchsen sie zuerst einige Tage lang in ihrer Nährflüssigkeit zu Bohnengröße heran. In diesem Stadium bildeten sie eine gallertige Fruchtblase um ihre Körper aus. War diese Entwicklungsphase erreicht, wurden sie in schlammiger Erde vergraben, wo sie weiter heranwuchsen.

 

Hatten sie das letzte Reifestadium erreicht, wurden sie gleichsam geerntet und wie riesige Knollengewächse aus der Erde ausgegraben, wonach sie sich unter heftigen Windungen und Zuckungen aus der sie umgebenden schlammigen Fruchtblase befreiten. Unmittelbar danach begannen die Einkleidung und die militärische Unterweisung der Oinks. In der ersten Generation hatte Sermon dies noch selbst übernommen. Aus den Oinks dieser Generation hatte Saubaron persönlich dann die fähigsten Kreaturen ausgewählt, die weiter unterrichtet wurden und als Ausbilder der nachfolgenden Generationen dienten. Ab diesem Zeitpunkt war die Sache fast zum Selbstläufer geworden. Über die durchschnittliche Lebensdauer der Oinks hatte sich Sermon noch keine abschließende Meinung bilden können. Die Oinks waren aber wohl nicht dazu angelegt, raffinierte Kämpfer zu werden oder lange zu leben. Sie sollten vielmehr jeden Feind schon im ersten Ansturm allein durch ihre Überzahl zermalmen. Hinreichende Mittel für das alchemistische Labor vorausgesetzt, konnten Saubaron und seine Gehilfen innerhalb weniger Monate ganze Armeen von Oinks im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Boden stampfen. Auf eine lange Lebensdauer des einzelnen Oinks kam es daher auch unter diesem Gesichtspunkt nicht an. Außerdem waren die Oinks untereinander extrem streitsüchtig, was zweifellos an der ihnen angezüchteten besonderen Kampfeslust lag. Schon mancher Oink hatte sein Leben unter dem Schlachterbeil eines Kameraden ausgequiekt, wie Sermon sich mit Schaudern erinnerte.

 

Die Höhle, welche das provisorische Hauptquartier Saubarons beherbergte, lag in einem östlichen Nebental der Popel-Berge, in der Nähe des Flusses Eisenhau. Mordstor, das einst den Firmensitz Saubarons beherbergt hatte, war von hier aus noch etliche Tagesmärsche entfernt. Die räumlichen Kapazitäten der Höhle würden in Anbetracht der Erntequoten bei den Oinks über kurz oder lang ausgereizt sein. Sermon erwartete daher irgendwann in den kommenden Wochen die Order Saubarons, dass sie sich nach Mordstor aufmachen sollten.

 

Doch Sermon schob das Künftige beiseite und widmete sich dem Naheliegenden. Er setzte eine ernste Miene auf und schnappte sich einen Notizblock sowie einen frisch gespitzten Bleistift vom Schreibtisch. Dann begab er sich vor die Höhle, wo eine Abteilung neuer Oinks auf einem improvisierten Exerziergelände mit hölzernen Nachbildungen von Schlachtermessern übte. Als der oinkische Drilloffizier Sermon kommen sah, schrie er:

 

„AAACH-TUNGGG! AUF-stellen zur IN-spek-TION!“

 

Beim letzten Wort bildete sich in Sermons Geist angesichts der genetischen Wurzeln der Oinks fast unwillkürlich das Wort „Inspecktion“.

 

Die in ausgeleierte Bikerkluft gekleideten Oinks, die vorher in Zweiergruppen die grundlegenden Begriffe des Schwertkampfes eingetrichtert bekommen hatten, rannten nun kreuz und quer über den Platz, um befehlsgemäß Aufstellung zu nehmen. Einige Oinks rannten dabei allerdings in ihre Kameraden hinein oder warfen diese im Eifer des Gefechts um.

 

„WAS SOLL DAS DARSTELLEN, ZUM HENKER?“, schrie der Ausbilder namens Gnatsch seine Rekruten wutentbrannt an. Seine Augen rollten und Geifer troff von seinen Hauern. „DAS IST KEINE AUFSTELLUNG, DAS IST EINE VORSTELLUNG, UND ZWAR EINE GANZ ERBÄRMLICHE, IHR ELENDEN FRISCHLINGE, RÖFF!“

 

In den Reihen der eingeschüchterten Rekruten kam schuldbewusstes und Bestrafung fürchtendes Schweigen auf. Es wäre nicht das erste Mal, dass Gnatsch in seinem militärischen Eifer einigen Rekruten mit seinem Schlachterbeil eine terminale Lektion im Gebrauch dieser Waffe erteilte. Das Wort „Kadavergehorsam“ erhielt bei solchen Gelegenheiten eine ganz spezielle Bedeutung für die überlebenden Rekruten.

 

Sermon trat zum Ausbilder und sprach ihn an: „Nun, wie ich sehe, habt Ihr Eure Rekruten fest im Griff, Gnatsch“.

 

Der Ausbilder verdrehte seine schwarzen knopfartigen Augen, in denen Bosheit und eine allgemeine Verachtung für die Welt funkelten. Er fauchte Sermon an, während er mit seinem frisch geschärften Schlachterbeil herumfuchtelte.

 

„Was wisst Ihr schon von militärischem Drill, Sermon? Einen Dreck wisst Ihr! Ich kann diese tuntigen Halbferkel nicht mehr sehen! Mir wird schon übel bei dem Gedanken, diese Frischlinge könnten eines Tages tatsächlich auf dem Schlachtfeld eingesetzt werden!“

 

„Ihr vergesst, mit wem Ihr redet, Gnatsch“, antwortete Sermon ruhig. „Ich bin die rechte Hand unseres Herrschers und der Inspekteur dieser mistigen Truppe. Ihr dagegen seid nur ein mieser kleiner Abklatsch eines militaristischen Erdferkels. Und damit Ihr es nicht wieder vergesst, werde ich Euch eine kleine Lehre erteilen.“

 

Sermon hob seinen Bleistift, mit dem er sich Notizen zu machen pflegte, und richtete ihn mit der Seite, an der das Radiergummi aufgebracht war, drohend auf Gnatsch. Der begann prompt zu quieken, als hätte ihm Sermon mit der sofortigen Notschlachtung gedroht.

 

„Herr, habt Erbarmen mit mir! Ich bin nur ein kleines Rädchen im Getriebe dieser Kriegsmaschinerie, röff-röff. Gnade! Ich hatte eine schwere Kindheit, und ich hatte nie Großeltern, die mir Märchen erzählt haben. Bitte rationalisiert mir keine Ausrüstung weg! Spart nicht noch mehr Teile meines Budgets ein, ronnff-ronnff! Der Krieg ist doch alles, was mir geblieben ist! Ich verzichte auch auf die neuen Stiefel, die ich schon im vergangenen Monat in dreifacher Ausfertigung beantragt habe! Doch drückt mir bitte keine weiteren Rationalisierungen aufs Auge, bitte kein zusätzliches Controlling, bitte nicht noch ein Qualitätssicherungsprogramm! Habt Erbarmen, Herr!“

 

Es hätte nicht viel gefehlt, und der eben noch so harte Rekrutenausbilder hätte sich vor Sermon in den aufgewühlten Schlamm des improvisierten Exerzierplatzes geworfen. Sermon verzog das Gesicht zu einer Grimasse äußersten Widerwillens. Er hasste und verabscheute diesen kriecherischen Drilloffizier aus tiefster Seele, doch seine persönlichen Empfindungen waren völlig unmaßgeblich.

 

„Nun gut, Gnatsch“, sprach Saubarons Prokurist. „Ich bin ja kein Unmensch, nicht wahr. Aber gebt künftig besser auf Eure Zunge Acht, wenn Ihr sie noch einige Zeit länger in Eurem Mund behalten wollt.“

 

Sermon steckte den Bleistift weg. Manchmal war die Feder eben doch mächtiger als das Schwert, dachte Sermon bei sich. Zufrieden mit sich und seinem gelungenen Auftritt ging Sermon nun daran, die Rekruten zu inspizieren.

 

Kapitel 7

Zurück ins Sauenland

 

 

„DU HAST WAS GETAN?“, schrie Gähndalf völlig außer sich, während er sich die Haare raufte.

 

„Nun ja, es war doch aber ein genialer Einfall, oder nicht?“, wimmerte Drögo hilflos und spielte nervös mit seinen Fingern. Der alte Haubitzer hatte Gähndalf noch nie so aufgebracht erlebt und fürchtete nun nicht ganz zu Unrecht, der Meteoromant könnte ihn vor Wut in eine Kröte oder in etwas Schlimmeres verwandeln.

 

„Gib zu, nicht einmal du wärst darauf gekommen, wenn Arnold vorhin keine Andeutung gemacht hätte“, meinte Drögo. „Arnold hat bis heute absolut dichtgehalten, denn es war ja für alle Beteiligten ein recht vorteilhafter Deal. Arnold versprach mir kostenloses Wohnen in seinem Palast bis an mein Lebensende, wenn ich ihm nur dieses Geheimdokument Saubarons vom Hals schaffen würde. Da konnte ich unmöglich widerstehen, Gähndalf. Weißt du überhaupt, was so eine Luxussuite hier sonst kostet?“

 

„Das macht es doch nicht besser, Drögo!“

 

Gähndalf war immer noch völlig fassungslos, aber er rannte wenigstens nicht mehr wie ein aufgescheuchtes Kaninchen von einer Seite des Zimmers auf die andere. Der alte Meteoromant stemmte aufgebracht die arthritischen Fäuste in die schmalen Hüften.

 

„Wir hatten eine Abmachung, Drögo! Du hast genau gewusst, wie es laufen sollte! Meine Güte, Drögo! Du hast diesen verdammten Wisch heimlich Flöto untergeschoben und dich dann einfach verdrückt! Du hast dich verhalten wie ein ... wie ein …“

 

Gähndalf warf die Arme in die Luft. „Verdammt, mir fällt überhaupt kein Ausdruck ein, der gemein genug dafür wäre! Wo genau hast du es eigentlich versteckt?“

 

Drögo antwortete kleinlaut: „Ich habe es heimlich in den Briefumschlag mit den Unterlagen vom Notar gesteckt. Ich dachte mir, da schaut sowieso niemand mehr nach, wenn alles vorbei ist. Aber Gähndalf“, meinte der alte Haubitzer nun, „ich verstehe ja, dass du sauer auf mich bist, aber es ist doch nichts passiert. Ich meine, es kam doch niemand zu Schaden deswegen. Du tust ja gerade so, als ginge demnächst die Welt unter! Ich mache dir erst einmal eine schöne Tasse heißen Melissentee, du beruhigst dich ein bisschen, und dann …“

 

„Es ist womöglich noch schlimmer als nur das Ende der Welt, Drögo“, unterbrach Gähndalf den Haubitzer streng. „Und gerade du weißt das ganz genau.“

 

Gähndalf hielt inne und schaute an Drögo vorbei auf die immer noch geöffnete Zimmertür.

 

„Ich muss schleunigst zu Flöto und ihn warnen. Ich darf keine Zeit verlieren. Vielleicht ist es auch schon zu spät, wer weiß …“

 

Der Meteoromant stürmte aus dem Zimmer und ließ Drögo, der wie ein Häufchen Elend in sich zusammensank, zurück.

 

Gähndalf begab sich eiligst in Richtung des Thronsaales, um mit Fürst Arnold zu sprechen, der inzwischen ausreichend Zeit zum Duschen und Umziehen gehabt hatte. Gähndalf fand den Thronsaal allerdings verwaist vor. Eine Palastwache wies Gähndalf sichtlich widerwillig zum Speisesaal, wo der Wetterzauberer den Herrscher von Rippenprell nach kurzer Suche schließlich aufspürte. Arnold ließ sich gerade von einer knackigen Elberin in Kellnerinnentracht einen fast ebenso knackigen Sprossensalat mit stillem Mineralwasser servieren. Auf dem Tisch stand außerdem eine zierliche silberne Etagere bereit, auf der sich mehrere bauchige kleine Glasfläschchen und Silbertiegel befanden, die mit unterschiedlichen Ölen und Essigen sowie

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Mark Janiczek
Bildmaterialien: Abbildung „Tor von Bohria“ © Copyright 2014 Mark Janiczek Alle Rechte vorbehalten Umschlagsillustrationen „pig-clipart-1.jpg“, „pig-clipart-2.jpg“ und „pig-clipart-3.jpg“ jeweils Public Domain, Bezugsquelle: http://karenswhimsy.com/
Tag der Veröffentlichung: 23.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5831-2

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Widmung:
All denen gewidmet, die es wagen, das Offensichtliche zu hinterfragen. Und all denen, die sich trauen, über das Erhabene zu lachen. Meiner Ehefrau, die meine Macken akzeptiert. Und allen Katzen.

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