Gottes Kleid ist Bunt
Wie ein schwuler Pfarrer die Kirche veränderte
Autobiography
Das bewegende Zeugnis eines beeindruckenden Lebens
Als ich anfing zu studieren, sagte uns der Studienleiter: „Sollte hier jemand homosexuell sein, kann er gleich wieder aufhören mit dem Theologiestudium!“ Ich habe nicht auf ihn gehört, schließlich war ich ja nicht homosexuell, obwohl ich seit meiner Pubertät ausschließlich sexuellen Kontakt mit Männern hatte.
Seitdem ich 13 Jahre alt war, kannte ich nur ein Ziel: Ich wollte Pfarrer werden! Als ich mit 20 Jahren die hessische Kleinstadt verließ, erwartete mich eine völlig neue, aufregende Welt. Gott blieb an meiner Seite, ganz egal wohin mein Weg mich führte: zum Studium nach Heidelberg, zum Vikariat nach Wiesbaden und Kairo oder aber zur Pfarrstelle nach Frankfurt. Immer wieder spürte ich dabei die göttliche Nähe, auch weil meine Seele irgendwann erkannt hatte, dass Gott mich wunderbar gemacht hat. Mich, einen schwulen Christen, einen Pfarrer mit Leib und Seele.
Mit seiner Autobiographie liefert Nulf Schade-James ein bewegendes Zeugnis seines Lebenswegs, der geprägt ist von dem Ringen um Akzeptanz als Schwuler innerhalb der evangelischen Kirche und der Gesellschaft. Er war einer der ersten Pfarrer, die Segnungen an homosexuellen Paaren durchführten, und leistete einen entscheidenden Beitrag, diese landesweit durchzusetzen. Sein mutiger Kampf für die Gleichberechtigung Homosexueller hat vieles in der Kirche verändert und soll anderen Menschen Kraft geben.
Zum Autor
Nulf A. Schade-James, geboren 1958 im hessischen Gedern, studierte in Frankfurt und Heidelberg, bevor er in Wiesbaden und Kairo als Vikar tätig war. Als Mitglied der Gruppe Homosexualität und Kirche tritt er seit den 1980er-Jahren für die Rechte von homosexuellen Glaubensbrüdern und -schwestern ein. Als Greta Gallus, Freifrau von Sodom ohne Gomorrha, war er jahrelang auf der Kabarettbühne zu bewundern - und plant eine Lesereise mit weiteren Auftritten für sein Buch.
Immer wieder griff die Presse Schade-James‘ Engagement auf, so der Spiegel und die FAZ. 2002 listete ihn das Schwulenmagazin hinnerk auf Platz 41 im Ranking TOP 100 SCHWULE, DIE DEUTSCHLAND BEWEGEN. Ein ausführliches Interview mit ihm erschien 2014 im Buch Stadtgespräche Frankfurt a.M. im Gmeiner Verlag.
Heute lebt und arbeitet Pfarrer Schade-James im Frankfurter Gallus, zusammen mit seinem Mann und seinem Ziehsohn. 2015 hat er seinen Mann in New York zum dritten Mal geheiratet und 2018 endlich auch in Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Zum Autor
Gott gab uns Atem, damit wir leben
Kindheit
Erster Kontakt zur Kirche
Frühe Jugend
Schulzeit
Kinderchorleitung
Letzte Schuljahre
Studium
Kirchentage
Politisches Engagement
Israel
Kairo
David
Kirchenpolitik
Kirchliche Segnung
Verpartnerung
Epilog
Anhang
Gedenkstunde
Rede vor der Synode im Herbst 2001
Gott gab uns Atem, damit wir leben
Nur zwei Jahre nach der Geburt meines Bruders erblickte ich im Frühling 1958 das Licht der Welt und Gott gab mir Atem. Mit diesem Lied aus dem evangelischen Gesangbuch beginne ich, denn ich bin davon überzeugt, dass Gott mir Atem gab und mich auf den Weg ins Leben schickte. Ich glaube, dass ich, genau wie die vielen anderen Frauen und Männer, die gleichgeschlechtlich leben und lieben, ein Teil jener wunderbaren Schöpfung Gottes bin, die bunt und manchmal auch schillernd geschaffen ist. Gott gab mir Atem, damit ich lebe.
Kindheit
Vier Monate später wurde ich im Sommer getauft, ohne Taufspruch, wie sich später herausstellte. Das war damals nicht so wichtig. Der Patenonkel vor Ort war wichtig und ich hatte den besten Paten der ganzen Welt. Einen „Taufspruch“ habe ich später von meiner Freundin Gloria zugesprochen bekommen. Sie sagte zu mir: „Rede und schweige nicht, denn Gott ist mit dir und keiner soll sich unterstehen dir zu schaden.“ (Apg.18)
Nicht schlecht und im Rückblick auf mein Leben sehr treffend. Denn bei allem, was ich tat, ahnte ich, dass ich geführt wurde. Das Gefühl, Gottes Kind zu sein, hat mich stark gemacht und oft auch ganz mutig. Dieses Gefühl hat mir Geborgenheit geschenkt, gerade in solchen Augenblicken, in denen ich das Gefühl hatte, von aller Welt verlassen zu sein.
Nach der Geburt meines Bruders kauften meine Eltern die Milch direkt vom Bauern. Als meine Mutter wieder in anderen Umständen war, sagte jener Bauer zu ihr: „Dieses Kind“, dabei deutete er auf den Bauch meiner Mutter, „braucht hier in Gedern einen Pädder. Ich mach den Pädder, wenn’s ein Junge wird.“ Wie Recht er behalten sollte. Ich brauchte wirklich einen Paten, der mich hielt, nicht nur über das Taufbecken, sondern besonders dann, als alle erfuhren, dass ich homosexuell bin. Ich glaube, dass die Entscheidung meiner Eltern für diesen Patenonkel eine der besten Entscheidungen nicht nur für mich, sondern für unsere ganze Familie war. Pädder Werner und seine Frau Gerda, standen uns Kindern zur Seite und machten zwischen meinem Bruder und mir keinen Unterschied. Ob Geburtstage oder an Ostern, zum Nikolaustag oder zu unseren Konfirmationen, Pädder Werner und Gothe Gerda versorgten und begleiteten unser aller Leben, auf liebevolle Art und Weise.
Ich wurde in eine bürgerliche Kleinfamilie hineingeboren. Mein Vater war gerade damit beschäftigt seine berufliche Karriere als Zahnarzt aufzubauen und dementsprechend nicht wirklich oft zuhause. Um sich quasi in unserem oberhessischen Heimatort bekannt zu machen, trat er allen möglichen Vereinen bei und engagierte sich politisch für die kleine Stadt. So wurde er Stadtverordneter für die SPD, Schiedsrichter beim Fußballverein und gründete einen Spielmanns- und Fanfarenzug der freiwilligen Feuerwehr. Wer ihn dann noch nicht kannte, konnte einmal im Monat gemeinsam mit ihm und meiner Mutter durch den Vogelsberg wandern, denn die Mitgliedschaft im Vogelsberger Höhenclub gehörte traditionell zu unserer Familie. Ja, mein Vater war ein Wandersmann, genau wie bereits mein Großvater Ewald.
Meiner armen Mutter, die eben noch in einer Großstadt als Postbeamtin lebte und arbeitete, blieb damals nichts anderes übrig, als ihren Beruf an den Nagel zu hängen, um sich mehr oder weniger alleine der Erziehung ihrer beiden Kinder zu widmen. Während sie sich mit uns Kindern beschäftigte, stand Vater fast jeden Sonntag auf irgendeinem Fußballplatz oder saß unter der Woche in irgendwelchen wichtigen Sitzungen. Zu guter Letzt engagierte er sich auch noch mit viel Erfolg beim Fasching und stieg als „erste Frau“ in die Bütt. Zu dieser Zeit gab es keine weiblichen Büttenrednerinnen, das schickte sich nicht. Es gab auch keine Pfarrerinnen. Die Welt der Narren und der Kirche waren damals ausschließlich in Männerhand.
Wenn ich ehrlich bin, habe ich meinen Vater damals gar nicht wirklich vermisst, denn die Fürsorge und die Liebe unserer Mutter machte die Abwesenheit des Vaters wieder wett. Sie war für uns da und fast immer verfügbar. Das war besonders in den ersten Lebensjahren ein großer Segen für meinen Bruder und mich. Später wünschte ich mir, dass sie öfter aus dem Haus ginge, aber bis dato war alles ganz wunderbar. Sie spielte mit uns, sang mit uns, erzählte uns spannende Geschichten und aufregende Märchen. Durch sie lernte ich fast jedes Kinderlied auswendig. Und ich liebte die Augenblicke, wenn sie zu uns ins Zimmer kam, sich kurz vor dem Schlafen an unser Bett setzte, um uns eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Besonders gerne mochte ich das Lied „Brüderchen, komm tanz mit mir“. Das wurde dann nämlich nicht nur gesungen, sondern auch noch gespielt. Dann reichte sie mir ihre beiden Hände und tanzte mit mir durch die kleine Küche hin und her. Fast täglich ging sie mit uns spazieren, zunächst mit dem Kinderwagen und später an der Hand. Der Kinderspielplatz beim alten Schloss in Gedern wurde für uns zum Paradiesgarten, in dem wir frei und ungezwungen spielen durften. Hier lernten wir weitere Freunde und Freundinnen kennen. Mutter saß dann immer auf der Bank, während wir die große Rutsche runterrutschten, oder uns gegenseitig dazu animierten, so hoch in die Luft zu schaukeln, bis es nicht mehr weiter ging.
Auch wenn meine Mutter sich später immer mal wieder darüber beschwerte, wie schwer für sie der Anfang in Gedern war, ein Gutes hatte die Vereinsmeierei meines Vaters doch. Wir wurden bekannt und gehörten schon nach wenigen Jahren zur Ortsgemeinschaft. Diese Gemeinschaft war für uns Kinder ganz wunderbar. Denn wann immer es möglich war, nahmen wir am Vereinsleben teil. Besonders gerne erinnere ich mich noch ans „Kartoffel-braten“. Damals zogen wir mit Decken und Picknickkörben hinaus auf irgendeine Wiese, es wurde ein Feuer entfacht, das die Männer schon am frühen Morgen hergerichtet hatten; später legten wir in die heiße Glut die köstlichen Kartoffeln. Zwischendurch wurde gespielt, gemeinsam mit den Erwachsenen, Zublinzeln oder „der Fuchs geht herum“, Völker- oder Fußball. Letzteres lieber als Zuschauer - ich mochte kein Fußball. Ich mochte nur die Männer sehen, die sich oft ihrer Hemden entledigten, um dann mit nacktem Oberkörper bei sommerlicher Wärme, den Rest des Tages „Oben ohne“ zu verbringen. Damals schon spürte ich bei diesem Anblick ein wohliges Gefühl.
Mein Bruder und ich wurden die ersten Jahre gemeinsam erzogen. Wir hatten eine Nachbarin, Tante Lemy, die uns sehr liebte und deren Friseurladen sich in nächster Nähe befand, ebenso wie die Evangelische Kirche und eine Bäckerei.
Ich hatte immer Kontakt zu älteren Frauen. Das hat sich durch mein ganzes Leben gezogen und es gab zu allen Zeiten Frauen, die mich begleitet haben. Die Mutter, die Ersatzmutter, die Bügelfrau, die Erzieherin, die Kindergottesdienstleiterin, die Klavierlehrerin und die Nachbarin.
Wir durften Tante Lemy zu ihr sagen, obwohl wir gar nicht miteinander verwandt waren. Natürlich war sie immer sehr gut frisiert und ihre Lippen leuchteten rot. Meine Mutter schminkte sich kaum, aber Tante Lemy, bedingt durch ihren Beruf als Frisörin, war immer ganz besonders adrett heraus-geputzt. Für mich war sie irgendwie besonders, weil sie so völlig anders als meine Mutter lebte. Sie war eben nicht nur Hausfrau und Mutter, sondern vor allem auch Geschäftsfrau. Wenn ich heute an sie zurückdenke, dann war sie für mich damals so was wie eine Dame von Welt. In ihrem Haus habe ich zum allerersten Mal ferngesehen, „Peterchens Mondfahrt“, und in ihrem Haus durfte man Nudeln mit Kirschen und Semmelbrösel essen, was bei uns zuhause völlig verpönt war. Nudeln aß man salzig oder später bestenfalls mit Ketschup.
Unsere kleine Familie stand in einer ganz besonderen Beziehung zu Tante Lemy und ihrem Mann, den wir selbstverständlich auch Onkel Lemy nannten. Sie waren nicht nur unsere Nachbarn, sondern auch die glücklichen Besitzer unseres kleinen Häuschens. Und weil der dazugehörige Garten nicht wirklich ein Garten war, sondern eher ein kleiner Hinterhof, durften wir ihren großen Garten hinterm Haus mit benutzen. Zwischen den beiden Häusern gab es ein kleines „Gängelchen", das zur Straße ein Eisentor hatte und sich nach hinten in den Garten öffnete. In diesem kleinen Gang spielten mein Bruder und ich oft und wurden von vielen Menschen angesprochen, die uns im Vorbeigehen sahen. Wir besaßen ein Kinderzimmer, das gleichzeitig Dusch- bzw. Badezimmer war. Das Zimmerchen war lang und schmal. Beim Eingang gab es einen Kohlenofen, gegenüber einen Kleiderschrank und dann folgten die Stockbetten. Ich lag unten, ich hatte Angst herunterzufallen. Mein Bruder Hartmut war der Mutigere von uns. Weiter gab es ein kleines Fenster zur Bäckerei und in den Garten von Tante Lemy. In der Wand gegenüber der Betten war der Einstieg in die Dusche. Es war nicht wirklich ein Kinderzimmer, schon gar nicht ein Spielzimmer, wozu auch, wir spielten sowieso die meiste Zeit draußen.
Unser Haus stand direkt an der Hauptstraße und wurde von dem Bäckerladen und dem Friseursalon eingerahmt. Gegenüber von unserem Haus befand sich die Alte Schule einschließlich Schulhof, die nicht mehr genutzt wurden. Ein Backhaus, Bauernhöfe, eine Schreinerei und ein großes altes Backsteinhaus, in dem viele Menschen gemeinsam unter einem Dach lebten. Zwischen der alten Schreinerei und dem Backsteinhaus befand sich die offene Lagerstätte eines Bauhofes. Berge von Sand und Kies, in die wir vom Dach eines alten Schuppens hineinsprangen. Holzverschläge, Baracken, darin ein altes Möbellager und ein alter Mann, der oben unter dem Dach hauste. All das war unser Spielplatz. Hier trafen wir uns mit den Freunden und Freundinnen. Wir waren eine richtige kleine Bande. Wenn wir alle zusammenkamen, um miteinander zu spielen, war ich am Abend immer völlig glücklich und ausgepowert.
Am liebsten spielte ich Versteck. Das große Gebiet gegenüber unseres kleinen Häuschens bot dazu die allerbesten Voraussetzungen. Ich kann mich noch an dieses aufregende Gefühl erinnern, irgendwo hinter einem Holzhaufen zu sitzen, geduckt, um ja nicht entdeckt zu werden, um dann, wenn die Luft rein war, unbemerkt ans verabredete Ziel zu gelangen. Von Wand zu Wand, von Tür zu Tür, immer darauf bedacht nicht gesehen zu werden. Wer als letzter entdeckt wurde musste anschließend suchen.
Es waren wirklich sorgenfreie und glückliche Kindheitsjahre, aufregende allzumal. Natürlich hatte ich auch einen besten Freund. Paul, der zweitjüngste aus der Familie mit neun Geschwistern, nur einen Monat älter als ich. Gemeinsam mit Robert, dem Jungen vom benachbarten Bauernhof, bildeten wir einen ganz eigenen Freundschaftsbund.
Diese beiden Jungs wurden natürlich auch zu meinen Geburtstagsfeiern eingeladen. Geburtstage wurden in meiner Familie immer mit viel Liebe vorbereitet und zelebriert. Dafür nahm sich sogar mein Vater Zeit und beendete seine Praxis früher, um dann gemeinsam meinen Gästen und mir Zeichentrickfilme vorzuführen. Er besaß nämlich schon ganz früh einen „Filmvorführapparat“, so nannten wir den Projektor. Das war für mich ein ganz besonderer Moment, etwas, das niemand von meinen Freunden zuhause hatte. Noch bevor der erste Fernseher in unser Haus einzog, zeigte uns mein Vater an unseren Geburtstagen diese lustigen Cartoons. Kleine, feine Geschichten von einer bösen Hexe, die Kinder zu Stein verwandelte und am Ende selber in den großen Kessel fiel. Von Donald Duck, der mit einem Liegestuhl kämpfte. Als letzter Film dann der Höhepunkt - Charlie Chaplin im Kaufhaus. In den ersten Jahren habe ich diesen Film gar nicht richtig verstanden, lachte aber immer über den komisch, aussehenden Kerl, der sich so merkwürdig bewegte und fürchtete mich schrecklich vor dem Kaufhausboss mit langen Bart. Am Abend war der Tisch reich gedeckt. Geburtstage waren wirkliche ganz besondere Tage in meinem jungen Leben.
Paul war meines Wissens nach der wirklich erste Junge, in den ich mich verliebte, ohne damals genau zu wissen, was „verliebt“ bedeutete. Sein Leben verlief so ganz anders als meins, sein Zuhause war völlig unterschiedlich zu meinem mehr oder weniger gutbürgerlichen Leben. Er wohnte in diesem großen Backsteinhaus, gemeinsam mit seinen neun Geschwistern, Vater und Mutter. Ich lebte in einem kleinen Häuschen, mit vier Zimmern und einer Toilette gleich neben der Küche, platziert in einen Wintergarten. Bei ihm zuhause gab es zwei Zimmer und die große Küche mit einem Keller, den man nur durch eine Falltür betreten konnte. Ich hatte immer Angst auf diese Holztür zu treten, die steile Treppe hinab in den Keller wäre ich im Leben nicht gegangen. Aber in seiner Küche fühlte ich mich sehr wohl. Es roch oft nach verbranntem Holz, denn der Küchenofen wurde noch mit Holz befeuert. Bei Paul war ich gerne, sodass ich meiner Mutter eines Tages mitteilte, dass ich in Zukunft lieber bei Paul und seiner Familie leben wollte. Sie packte mir tatsächlich den Koffer. An der Haustür aber kehrte ich um und ging zurück in ihre Arme. In Pauls Haus stand die Haustür vorne wie hinten immer offen.
Pauls Eltern mussten beide arbeiten und waren nicht immer zuhause wie meine Mutter. Wir konnten, sooft wir es wollten, Brot in der Pfanne rösten, mit Margarine. Bei uns zuhause gab es nur „gute“ Butter, nie im Leben hätten meine Eltern Margarine gekauft, mein Vater sagte immer sehr abfällig: „Margarine, das ist Affenfett“. Wenn das Brot dann die richtige dunkle Farbe hatte, legten wir es auf einen Teller und streuten Zucker drauf. War das ein Fest, Zuckerbrot essen, wo bei uns zuhause sogar Nutella verboten war.
Paul musste jeden Samstag zu einer bestimmten Uhrzeit nach Hause zum Baden. Da konnten wir in einem noch so schönen Spiel vertieft sein, wenn der Ruf über den Schulhof erschallte, verließ er uns und ich blieb alleine zurück. Meistens gingen dann alle nach Hause. Der sonst so frei erzogene Freund aus der Großfamilie, in der so vieles erlaubt war, was in meiner Familie verboten wurde, zum Baden gehorchte er und ging nach Hause. Sonst hätte er es auch mit dem Kochlöffel bekommen. Der Badeofen wurde eben nur am Samstag geheizt. Wir hatten schon einen Durchlauferhitzer, allerdings auch einen Kochlöffel.
Es war auch mein Freund Paul, mit dem ich im Alter von neun Jahren zum ersten Mal intim wurde. Wenn ich ehrlich bin, wurde ich auch durch Paul aufgeklärt. Ganz anders aufgeklärt als von meinen Eltern.
Paul war direkt und unverblümt. Er kannte auch die anderen Wörter, die man auf keinen Fall aussprechen durfte. Ich glaube, dass Paul, durch die Enge in seiner Familie schon früh von den sexuellen Dingen, die Erwachsene so machen, erfahren hatte. Auch durch die vielen älteren Geschwister, die mittlerweile schon selber Familie hatten.
In der Zwischenzeit hatten Pauls Eltern ebenfalls ein Haus gebaut und die Mitte der Kleinstadt verlassen. In seinem neuen Haus begegneten wir uns zum ersten Mal auf fremde und doch neugierige Weise. Wir waren alleine bei ihm. Wie es dazu kam, weiß ich heute nicht mehr genau, nur dass wir uns im Schlafzimmer der Eltern, verborgen neben dem Bett, vorsichtig berührten. In Erregung waren wir beide, und beide hatten wir das gleiche Verlangen nach der Berührung, aber die Angst, etwas Verbotenes zu tun und die Angst entdeckt zu werden, ließ uns ganz schnell die Hosen hochziehen. Und dann war es auch schon wieder vorbei. Wir sind uns nur dieses eine Mal auf solch eine Art und Weise begegnet. Wir haben nie wieder darüber gesprochen, es blieb unser Geheimnis. Wir taten so, als wäre es nie passiert.
Unsere Begegnungen wurden durch den Umzug immer seltener und der Schulwechsel kam noch hinzu. Er ging nach unserer gemeinsamen Grundschulzeit auf die Hauptschule und ich auf das Gymnasium, dadurch sahen wir uns nur noch sporadisch. Paul absolvierte eine Lehre als Einzelhandelskaufmann, war überall sehr beliebt und mein Vater war glücklich und froh, dass aus ihm so ein vorbildlicher junger Mann wurde. Das hat er uns oft am Tisch gesagt.
Irgendwann ging er weg aus unserer kleinen Stadt. Er müsse zur Weiterbildung nach Frankfurt, wurde erzählt. Als wir volljährig waren, trafen wir uns zufällig beim Kirchweihfest auf der Straße. Er stand vor mir in einem Pelzmantel, ein wenig verlegen und doch überglücklich: „Ja, es geht mir gut, ich habe geheiratet, habe ein Kind und wie du siehst, auch sonst viel Glück gehabt.“
Später erfuhr ich, dass er drogenabhängig geworden war und als Stricher in Frankfurt arbeitete. Er besaß weder Frau noch Kind, aber wohl Männer, die ihm genügend Geld zur Verfügung stellten, um sein Leben zu bestreiten. Wenige Tage vor seinem Tod, sie fanden ihn auf der Bahnhofstoilette mit einem goldenen Schuss in seinen Venen, besuchte ich ihn zu Hause. Seine Mutter bat mich vorbeizukommen. Wir sahen uns durch die Glasscheibe, aber er öffnete nicht die Haustür. Ich stand ihm völlig hilflos gegenüber. Vielleicht spürte er das und öffnete aus diesem Grund nicht die Tür. Was hätte ich auch tun können, außer mit ihm zu reden und ihn zu bitten, sein Leben zu ändern. Ausgerechnet ich, der selbst gerade dabei war, einen gangbaren Weg ins Leben zu finden. Ich stand kurz vor dem Abitur und war überhaupt nicht fähig, mit Paul und seiner Drogenabhängigkeit umzugehen. Das bisschen, das ich aus seinem „neuen“ Leben wusste, kannte ich nur durch die Erzählungen seiner Mutter. Unser beider Leben lag meilenweit auseinander. Was hatten seine Augen bis dahin nicht schon alles gesehen und seine Ohren gehört, welchen Gefahren und menschlichen Abgründen war er schon begegnet. Nein, ich hätte ihn nicht retten können. Aber für ihn beten, bis zum heutigen Tag.
Paul war homosexuell, aber er hatte keine Chance. Denn als Homosexueller, damals auf dem Land, musstest du weg. Nur die Großstadt bot einem genügend Anonymität, um als Schwuler einigermaßen leben zu können.
Die Großstadt war zunächst einmal die Befreiung von Verdächtigungen, die Befreiung vor der Angst entdeckt zu werden. Denn wenn du mit 18 Jahren noch immer keine „Freundin fürs Leben“ gefunden hattest, dann warst du irgendwie anders, eben verdächtig. In meiner Schule wurde oft gemunkelt, ich sei doch andersrum. Was ich dann immer wieder mit Freundinnen an meiner Seite widerlegen konnte. In der Großstadt brauchtest du keine Alibifreundinnen, solange du für dich lebtest, sie bot dir, was es auf dem Land so gut wie gar nicht gab, Sex in Hülle und Fülle, anonym und käuflich. Doch wer von uns Landschwulen war damals schon bereit und fähig, in einer Großstadt wie Frankfurt zu leben. Mein Freund Paul war es nicht. Sicherlich hatte er genau wie ich eine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung, nicht als Schwuler sondern als Mensch. Leider ist er dabei an Männer geraten, die ihn ausgenutzt und missbraucht haben. Diese Erkenntnis ist bitter, Drogen haben ihm diese Bitternis versüßt und ihn dabei getötet.
Ich werde ihn nie vergessen, bis wir uns wiedersehen.
Erster Kontakt zur Kirche
Durch Paul habe ich den Kindergottesdienst kennengelernt. Da gingen sonntags nämlich alle hin. Kindergottesdienst, das war Abwechslung vom Alltag. Das waren spannende Geschichten und Lieder, die mich ein Leben lang begleiten sollten. Am Ende sangen wir immer „Unsern Ausgang segne Gott“ - zur Orgel, versteht sich. Der Kindergottesdienst war ein Eintauchen in eine völlig neue Welt. Meine eigenen Eltern hatten mit Kirche nicht viel im Sinn, obwohl mein Vater aus einem evangelischen Elternhaus stammte und seine in England lebende Schwester mit einem anglikanischen Pfarrer verheiratet war. Meine Mutter kam aus einer Mischehe. Oma Elfriede war evangelisch, Opa Felix war ursprünglich katholisch, exkommuniziert und ausgetreten, und bis zuletzt ein großer Kritiker der katholischen Kirche und ihrer Lehren. Wir wurden christlich erzogen ohne wirkliche kirchliche Bindung. Zur christlichen Erziehung gehörte, dass wir jeden Abend miteinander beteten. Das war aber dann auch schon genug Gott im Leben meiner Eltern. Und natürlich stellte ich mir als Kind „den lieben Gott“ als gütigen alten Mann, mit weißem Haar und Bart vor, der alles sah und alles wusste und dem ich auch alles sagen durfte, ohne genau zu wissen, was er eigentlich von mir wollte.
Der Kindergottesdienst war aber auch die Möglichkeit, selbst an einem Sonntag die Freunde noch einmal zu treffen. Denn eigentlich gehörte der Sonntag der Familie. Wir durften an diesem Tag nicht zu anderen Leuten. Sonntags wurde entweder gewandert oder es wurden Verwandte in Würzburg und an der Mosel besucht. Eigentlich wäre ich viel lieber bei meinen Freunden geblieben, aber nach dem Gottesdienst stand ausschließlich Familienleben auf dem Programm.
Meistens ließ ich mich dazu überreden - meine Mutter konnte es überhaupt nicht leiden, wenn ich „Theater machte“, so jedenfalls nannte sie meine kläglichen Versuche nicht an den Wanderungen teilnehmen zu müssen. Manchmal lockten sie mich mit Bonbons und gutem Essen.
Wenn ich heute an diese Zeit der Wanderungen zurückdenke, dann empfinde ich Freude und Glück. Schließlich hat jeder Schritt, den ich damals ging, mir eigentlich sehr gut getan, nicht nur körperlich sondern auch geistig. Ich ging meistens von Hand zu Hand, wechselte mal von meiner Mutter zu meiner Tante Inge, oder zu einer Nachbarin, die mich dann immer ihr „Öfchen“ nannte, weil meine Hände ständig warm waren. Ich wechselte, um den Erwachsenen bei ihren Erzählungen zuzuhören, und natürlich auch mit der Hoffnung, die eine oder andere Süßigkeit zu ergattern. Damals erfuhr ich eine Menge über die Welt der Erwachsenen und die spannenden Geschichten, die das Leben für einen bereithält. Und ganz nebenbei lernte ich auch noch jeden Baum und jeden Busch, jede Blume und jedes Insekt kennen und es zu respektieren.
Es war die Dorfgemeinschaft, die mir ein gutes Gefühl von Geborgenheit schenkte und mich ganz nebenbei auch noch erzog, zusätzlich zu dem, was uns die Eltern lehrten. Selbstverständlich brachten die Tanten alles, was uns auf dem Weg begegnete, mit Gott in Verbindung. Denn Gott hatte die Blumen, Bienen und Bäume erschaffen, genauso wie mich. Dadurch war ich schon damals davon überzeugt: „Ich bin ein Kind Gottes“!
„Geh aus mein Herz und suche Freud“ blieb damit nicht nur ein Lied, sondern wurde ganz wirklich erfahrbar. Und wenn alle sangen, sang ich mit. Tugenden wie Höflichkeit, Dankbarkeit und Freundlichkeit, die Achtung vor dem Leben, der Respekt vor den Alten, waren für meine Eltern keine Fremdworte. Und doch gab es Unterschiede in der Erziehung gegenüber der dörflichen Gemeinschaft. So durfte ich mit Puppen spielen, während mein Bruder die elektrische Eisenbahn liebte. Selbstverständlich klärten uns unsere Eltern auf, der Sexualkundeatlas lag frei zugänglich herum. Nacktheit war kein Thema, wir gehörten zu den ersten, die im Gederner See nackt schwammen und kamen sogar einmal in die Schlagzeilen der lokalen Presse. „Amerikanische Soldaten blickten neidisch auf den kleinen Nackedei …“
Sorgen bereitete meiner Mutter manchmal meine sogenannte „Vorwitzigkeit“, also ungefragt zu antworten und immer alles zu kommentieren. Das brachte sie öfter in Erklärungsnot und mir manchmal eine ordentliche Tracht Prügel ein.
Für meine Eltern waren es damals sicherlich keine einfachen Zeiten. Sie versuchten mit besten Wissen und Gewissen, mich auf einen guten Lebensweg zu bringen.
Besonders schön war die Zeit der Kartoffelernte. Da fuhren wir mit Pädder Werner auf seinem Traktor zusammen aufs Feld. Das waren Tage voller Gemeinschaft, denn alle halfen mit, von der Großmutter bis zum Jüngsten. Selbstverständlich war meine Mutter auch mit dabei, und manchmal sogar mein Vater, wenn er gerade mal keine Patienten hatte. Später, als Erwachsener, konnte ich alte Filme meines Vaters wieder entdecken, denn er hatte eine Kamera, mit der er seit Beginn unseres Lebens wichtige Augenblicke festhielt. Man kann uns Kindern die Freude ansehen, die wir hatten, eingesammelte Kartoffeln wieder aus dem Korb zu holen. In den Pausen trafen sich dann alle im Schatten des Anhängers und ließen sich auf den mitgebrachten Decken nieder, aßen Brote und tranken Kaffee mit viel Milch aus dem Deckel einer Milchkanne.
Pädder und Gothe hatten ein offenes Haus, in dem jeder etwas zu Essen bekam. Und einmal im Jahr luden sie alle zum Schlachtfest ein. Das war für mich ein großes Ereignis. Miteinander zu arbeiten, Blut zu rühren, Wurst zu kochen, den Tisch zu decken, die Suppe zu verteilen, um dann gemeinsam zu essen und zu trinken, das war Gemeinschaft vom Feinsten. Später schickten sie uns Kinder zu den Nachbarinnen und Nachbarn die Wurstsuppe in Milchkannen zu verteilen. Mit herzlichen Grüßen vom Schlachtfest. Denn so ein Festessen durfte nicht nur dem eigenen Haus Segen spenden, sondern auch die Anderen, die Nächsten, sollten am Segen teilhaben dürfen. Mir waren diese Schlachtfeste immer so wichtig, dass ich einmal sogar mit angebrochenem Fuß von meiner Schule im alten Schloss bis zum Haus meines Pädders gelaufen bin. Ich unterdrückte die Schmerzen, tat halb so schlimm, damit die Schule ja nicht zuhause anrief und hinkte zum Fest. Erst als alle satt waren, ließ ich mich ins Krankenhaus fahren, wurde geröntgt und bekam einen Gips. Meine Mutter meinte später, ich hätte das einzig und allein wegen des Essens gemacht. Sicherlich nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist mein noch heute andauerndes Gefühl von Liebe, das ich beim Gedanken an meine Pateneltern empfinde. Ich war so gerne in ihrem Haus und Garten, im Schweinestall und im Hühnerhof, in der guten Stube, aber vollem in ihrer Küche.
Meine Eltern bemühten sich, so wie viele andere Eltern auch, in der Erziehung ihrer Kinder keine Unterschiede zu machen. Die Regeln, die sie dem einen setzten, galten auch für den anderen. Unsere Geschenke wurden immer gleich verteilt, was der eine bekam, bekam der andere an Gleichwertigem. Sogar äußerlich ähnelten wir uns wie Zwillinge. Wir hatten den gleichen Haarschnitt, die gleichen Lederhosen, die gleichen Hemden und Strickjacken. Wer uns von weitem sah, konnte uns nicht auseinanderhalten. So gleich wir äußerlich aussahen, so unterschiedlich waren wir doch in unserem Innersten. Wir gingen sehr verschieden mit dem Leben um, das uns geboten und gezeigt wurde. Mein Bruder Hartmut war der Ruhige, ich war der Mittelpunkt, er war der Bedächtige, ich der Spontane, er war der Techniker, der Gewandte, ich hatte zwei linke Hände, jedenfalls wenn es ums Werken oder Bauen ging. Dafür lernte ich schon früh Gitarre spielen und Kochen. Ich liebte es, mit Mutter Plätzchen zu backen oder ihr in der Küche zu helfen. Dabei sangen wir oder sie erzählte mir Geschichten. Es gab zwischen meiner Mutter und mir kein Geheimnis, jedenfalls noch nicht.
Während mein Bruder sämtliche Karl-May-Bücher las, stand ich vor dem Spiegel und spielte mit meinem Gegenüber die gehörten Märchen und Geschichten nach. Stundenlang stand ich vorm Spiegel, hatte Mutters goldenen Schal über den Kopf gelegt, darauf noch ihren Hut und schon verwandelte ich mich in die Prinzessin, die sehnsüchtig auf ihren Prinzen wartete, oder gerade von der bösen Stiefmutter zum Apfelessen verführt wurde. Mit zehn Jahren kannte ich sämtliche Schallplatten meiner Eltern auswendig. Ich wartete mit Lale Andersen am Kai von Piräus auf das Schiff, das kommen würde, oder zog mit Freddy Quinn in die weite, weite Welt. Als ich etwas älter wurde, entdeckte ich durch meinen Vater auch die ganz alten Schlager. Zarah Leander hing gleich neben einem überdimensionalen Christusbild in Öl. „Davon geht die Welt nicht unter“ und „Wer wird schon vor Liebe weinen?“
Genau wie die Geschichten nahm ich die Lieder in mein Leben auf und durchlebte sie zum Teil. Und so wie ich früher das Häschen in der Grube oder das Büblein am Weiher war, so träumte ich mich während meiner Pubertät in den „fremden Mann, der gleich gegenüber wohnte“ und den ich nie erreichen konnte. Ich fragte mit Chris Roberts „Warum ist das alles, ich will doch nur lieben“. Und ich weinte zu „Oh Haupt voll Blut und Wunden“, bis mir die Stimme versagte.
Mit all dem konnte mein Bruder nichts anfangen. Wahrscheinlich war es für ihn auch nicht einfach, mit einem so exaltierten Bruder zu leben. Aber Geschwister kann man sich, genau wie Eltern, nicht aussuchen. In unserer Kindheit waren wir uns sehr nahe, bedingt schon auch durch die Enge unseres kleinen Häuschens. Als wir älter wurden, haben wir uns oft gestritten. Heute schätzen und lieben wir uns, gerade wegen unserer Verschiedenheit.
Frühe Jugend
Im September 1966 zogen wir aus der „Stadtmitte“ weg. Wir verließen das kleine Häuschen, das kurz darauf abgerissen wurde. Tante Lemy brauchte Platz, um ihren Friseursalon zu erweitern. Wir zogen auf den Berg in ein Haus, das meine Eltern hatten bauen lassen. Und weil der Zahnarzt mittlerweile sehr gut in Gedern angekommen war, seine Praxis florierte, lebten wir fortan in einen Palast, wie unser Haus manchmal großspurig genannt wurde. Aber ein Gebäude mit zwölf Zimmern und vier Kellerräumen ist nicht weit von einem Palast entfernt.
Als wir ins Haus einzogen, bewohnten mein Bruder und ich zunächst ein gemeinsames Zimmer. Wir brauchten uns noch einen Moment, wollten nicht gleich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 17.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1285-7
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