Cover

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"There is a crack in everything, that's how the light gets in."

   - Leonard Cohen

Prolog

 

Ich schnaufte schwer unter der Last seines Körpers.

Mit jedem Schritt, den ich ging, spürte wie mich die Kraft verließ. Unnachgiebig riss ich seinen Arm weiter nach unten, den ich mir über die Schulter geworfen hatte.

Ein unerträglicher Schmerz in meiner Wade ließ mich beinahe aufgeben und ich zog die hohen Schuhe aus, lief barfuß weiter.

Die kleinen Steine auf dem feuchten Asphalt bohrten sich tief in meine Fußsohle.

Dicke Tropfen rannen mir übers Gesicht, mischten sich mit Schleim, der aus meiner Nase tropfte.

Ich weinte- lautlos- und keuchte vor Anstrengung.

Immer wenn ich ein wenig nachließ, spürte ich, wie er mir entglitt und ich zog nochmals kräftiger an seinen Arm.

Sein Körper hing beinahe auf mir, während ich ihn den unbeleuchteten Weg entlang zerrte.

Auf einmal fühlte ich etwas Warmes, das mir ins Dekolleté sickerte.

Ich hielt kurz, obwohl mir bewusst war, dass ich es nicht tun sollte. Sein Gewicht wurde ohne die Bewegung tonnenschwer.

Mein Atem war nicht mehr als ein ersticktes Quieken und alles was ich wollte, war aufgeben.

Langsam blickte ich in meinen Ausschnitt.

Im Schwachen Schein der ersten Wandleuchte, erkannte ich die dunkelrote Farbe.

Ein einsames Rinnsal floss zwischen meine Brüste.

Ängstlich folgte ich diesen und sah, dass es aus seiner Nase lief.

 Unaufhörlich schwoll es aus einem Nasenloch in seinem Gesicht, während sein Kopf leblos auf meiner Schulter baumelte.

Ich griff um ihn herum, packte seine Taille und zog ihn und mich weiter.

Seine Füße schleiften nur noch über den Boden, hatten jegliche Eigenständigkeit verloren.

Mit  Regen verschwamm die Sicht vor meinen Augen und er fiel mir  kühl in mein schweißgebadetes Gesicht, verfing sich in meinen Wimpern.

Mühselig blinzelte ich die Tropfen weg und erkannte die verwitterte Fassade.

„Endlich“, flüsterte ich kraftlos gegen den Regen.

Gerade als ich den letzten Schritt nahm, stürzten wir zu Boden.

Ich spürte, wie meine Knie brannten und sich Dreck in die frische Wunde grub, aber ich störte mich nicht daran.

  Hektisch kroch ich zu ihm, schlug ihm auf die Wange und hob sein Lid an.

Mit seinen dunkelbraunen Augen sah er stumpf gerade aus.

Das Leben dahinter glühte seicht.

Das Blut rann noch immer aus seiner Nase und vereinte sich mit dem schwarzen Asphalt, zog einen Striemen über seine Wange.

Ich schüttelte verzweifelt den Kopf und schluchzte, dann erhob ich mich.

Fest kniff ich die Augen zu, während ich seine Arme ergriff und ihn über den Boden schleifte.

Schmerzvoll spürte ich jeden Schnitt, jede Schürfwunde und jeden Kratzen, den ich ihm so zufügte.

Ich hielt erst an, als mit dem Rücken laut gegen das Metalltor knallte.

Erschrocken wich ich zurück, bis ich das Geräusch und das Gefühl deuten konnte und stolperte nach rechts.

Mit zittrigen Finger gab ich den Code ein und hörte durch ein störrische Piepen, das es sich um den Falschen handeln musste.

Wimmernd versuchte ich es erneut, aber es gelang mir erst beim dritten Mal.

Beinahe wäre es mir ,wie eine Erleichterung vorgekommen, aber das war es nicht.

Ich zog ihn in das dunkle Loch in der Wand und ließ das Metalltor wieder hinter uns runter.

Der Regen prasselte unnachgiebig gegen das Metall, wurde unendlich laut in meinem Kopf.

Ich bettete diesen in meinem Schoß und riss mit bebenden Händen den Saum meines Kleides ein und ab.

Vorsichtig strich ich ihm die kurzen, nassen Haare, welche ihm im Gesicht klebten, aus der Stirn und tupfte das Blut von seiner Wange.

Zart legte ich meine Hand an diese Stelle und spürte, wie das Leben aus ihm wich.

„Theo“, flüsterte ich scharf, ehe meine Stimme schwer von der Tränenlast wurde.

„Du darfst nicht sterben, Theo“, flüsterte ich erstickt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1- Nachhause

 

„Sienna!“ hörte ich eine störrische, tiefe Stimme im Wind verklingen.

Für einen Moment glaubte ich sogar, es wäre nur eine Einbildung gewesen und vergaß es.

Aber dann spürte ich, wie sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte und fest zu packte.

Erschreckt zuckte ich zusammen und blickte fragend nach hinten.

„Da bist du ja, Sienna.“

Die Stimme klang erleichtert und nicht mehr störrisch. Sie war nur noch rau.

Emil Holgersson lächelte mich zärtlich an.

Wenn man den Mann Ende zwanzig sah, glaubte man nicht, dass er so eine tiefe Stimme hatte.

Mit dem hellen blonden Schopf, den kornblumen-blauen Augen und den Grübchen wirkte er viel zu zart dafür.

Ich nickte und richtete mich wieder nach vorne.

 Fröstelnd verschränkte ich die Arme vor der Brust und vernahm seine Anwesenheit noch immer neben mir.

„Ich dachte schon“, hörte ich ihn sagen, „du wärst weggelaufen.“

Gerade wollte ich etwas sagen, aber plötzlich wurde die Welt ein wenig dunkler.

Eine dickbäuchige Wolke schob sich über die Sonne und ich blickte stattdessen zum Himmel.

Wohin sollte ich jetzt noch gehen?

„Du fliegst heute, oder?“

Ein leichtes Nicken kam über mich und ich betrachtete weiter die Natur.

Ich würde Norwegen vermissen, wenn ich auch ihn nicht vermissen würde.

Deshalb stand ich auch hier draußen und nicht dort drinnen.

 Ich wollte mich von dem Land und der atemberaubenden Landschaft verabschieden.

Einen letzten, sehnsüchtigen Blick warf  ich über den Atlantik, der im tiefen Blau zu meinen Füßen lag, den teils grün-bewucherten oder grau-geblieben Felswänden und den wolkenübersäten Himmel.

Emil legte seine Hand auf meinen Schultern ab, um in meine Einsamkeit einzudringen und die Aufmerksamkeit zu bekommen, die er so forderte.

Also gab ich nach und drehte mich um.

Ein breites Lächeln mit traurig-funkelnden Augen blitzte mir entgegen und ich rang mir selbst eines ab, ehe er mich leicht in die Richtung schob, aus der wir gekommen waren.

 

„Für eine Sechszehnjährige bist du ganz schön stark“, meinte er und spielte auf meine psychische Verfassung an, ehe er mich in seine Arme schloss.

Er roch ein wenig nach Wind. Das war der einzige Grund, wieso ich ein wenig länger in seinem Arm als nötig ausharrte.

Ich hatte nicht vor, mich von noch mehr unwichtigen Personen erdrücken zu lassen und verabschieden zu müssen.

 Deshalb waren nur er und ein weiterer Mann, der Fahrer, der uns zum Flughafen gebracht hatte, hier vor meinem Gate.

In mir spürte ich, dass ich noch etwas sagen, mich sogar bedanken sollte.

Aber meine Zunge wurde so schwer, wenn ich nur daran dachte.

„Danke“, presste ich schließlich hervor und griff nach meinem Handgepäck, welches gegen mein Schienbein lehnte, „ich sollte jetzt besser gehen, sonst verpasse ich noch den Flug.“

Den Flug in meine Freiheit.

Plötzlich hob er die Hand und wuschelte mir über die Haare. Unzählige rot-blonden Strähnen fielen mir über die Augen und ich strich sie zurück hinters Ohr.

„Mach es gut, Sienna. Und schreib mir mal.“

„Werde ich machen“, rief ich zurück, als ich mich in die Reihe der Sicherheitskontrolle ordnete.

Mit Sicherheit nicht.

Eine unfassbare Erleichterung erfasste mich, als ich durch die Schleuse trat.

Ein Piepsen ertönte und ich fuhr zusammen.

Bitte nicht, dachte ich panisch, bitte nicht.

Eine brünette Dame im mittleren Alter und gekleidet in Uniform stand vor mir.

Ich breitete die Arme auseinander und ließ ihre Kontrolle über mich ergehen, während  mein Körper vor Furcht erstarrte.

Sie murmelt etwas auf Norwegisch, was wohl bedeuten sollte, ich könne mich entspannen.

Um meinen Bauch wurde sie fündig.

Meine Gürtelschnalle hatte den Ausschlag auf ihren Geräten ausgelöst und seufzend raffte ich den rosafarbenen Sweater, den ich für den langen Flug trug, wieder darüber und nahm im Wartebereich Platz.

Das Boarding würde erst in zwei Stunden beginnen und ich steckte mir die Kopfhörer ins Ohr.

Seit einer Ewigkeit zückte ich mein Handy, nahm die SIM-Karte raus und schaltete es an.

Während es startete, spielte ich mit der Karte und wollte sie zerbrechen und wegwerfen, verbannte sie aber schließlich in den Tiefen des Handgepäcks.

17:00 – zeigte das Display an und zufrieden lehnte ich mich zurück, schloss die Augen und ließ die leisen Violinenklängen des Kanons von Pachelbel in D, in meinen Ohren erklingen.

Es half mir mich zu entspannen und ich mochte, wie sich die Streicher in einer sanften Harmonie vereinten.

Als ich es anderthalb Stunden in Dauerschleife gehört hatte und zwischendurch leicht weggedöst war, stand ich auf.

Während ich mich reckte, blickte ich mich im Wartebereich um und sah einen Shop.

Ich schulterte mein Handgepäck und ließ mich von kraftvollerem Alternativ-Rock weiter aufwecken.

Meds von Placebo spielte die letzte Müdigkeit aus meinem Kopf und meinen Gedanken.

Erst jetzt wurde mir klar, dass ich endlich gehen durfte.

Endlich wieder frei war.

Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht trat ich in den Shop und kaufte großzügig Süßigkeiten, sowie zuckrige Softdrinks für den überteuersten Preis, den ich jemals für so etwas bezahlt hatte, ein.

Allerdings störte mich das gänzlich wenig.

Den Großteil verstaute ich jedoch für den Flug in meiner Tasche und löste einen einzigen Schokoladenriegel aus der Verpackung.

Genussvoll ließ ich die Zartbitterschokolade auf meiner Zunge vergehen und unterdrückte das Stöhnen, dass mit dieser geschmacklichen Befriedigung einherging.

Das Boarding begann endlich, doch ich suchte zunächst die Toilette auf.

Wenn ich etwas hasste, waren es enge Flugzeugtoiletten.

Als ich erneut aus der orangen Kabinentür trat und mich selbst in der Spiegelfront erblickte, erkannte ich mich kaum selbst. Je näher ich kam, desto fremder wurde ich mir.

Erst als ich unmittelbar vor dem Spiegel kam, glaubte ich es.

Ich band meine dünnen, brustlangen Haare in einen unordentlichen Zopf und musterte ihn prüfend. Wirklich zufrieden war ich nicht, aber ich hielt mich nicht länger daran auf.

 

 

Nach neun Stunden Flug, grausigem Flugzeugfraß und einer mittelmäßigen Komödie auf dem Bildschirm der Rückenlehne meines Vordermanns, hatte ich die Hälfte der Zeit überbrückt.

Und auch nach dem ich meine Playlist komplett durchgehört hatte, fehlten noch immer sieben Stunden bis zur endgültigen Landung.

Mein Sitzplatz war im Mittelgang, sodass ich von einem massigen Herren, der meine Armlehne für sich beanspruchte, auf der einen und, von einer starkparfümierten Lady, auf der anderen Seiten eingeengt wurde.

Ich entschied mich, dass der Dicke, dass kleinere Übel war und wendete meinen Kopf zu ihm, ehe ich die Augen schloss.

 

„Hallo Mama“, ich umarmte sie überschwänglicher, als sie es wohl erwartet hatte.

Sie taumelte von meinem Schwung ein wenig zurück, ehe sie festen Stand fand und mit ihren blaugrünen Augen streng an mir auf- und abglitt.

Ich war ihr, wie aus dem Gesicht geschnitten und sie war mein Spiegel in die Zukunft.

Auch ihre Haare flossen glatt an der leicht ovalen Gesichtsform hinab, allerdings trug sie ihre in einem kurzen Bob und ohne Stufen.

Die rot-blonde Haarfarbe zog sie durch die gesamte Familie und so hatte auch Jonathan, mein kleiner Bruder, denselben Farbton mit kleinen Löckchen auf seinem Kopf.

Meine Mutter nahm mein Gesicht in die Hände und blickte mir tief in die Augen.

Ich hatte eine seltsame Augenfarbe, nicht sonderlich schön, aber auch nicht besonders häufig oder alltäglich. Es war eine komische Mischung aus einem ausgewaschenen Hellblau und einem zarten Flieder.

Doch das  Kennzeichen der Familie O’Shea waren die Sommersprossen.

 Meine Mutter hatte früher viele, doch mit dem Alter waren nur wenige geblieben. Jonathans Wangen und der Naserücken dagegen, waren übersät davon und ich selbst trug ein ausgeglichenes Verhältnis in meinem Gesicht.

Es waren nicht viele, aber sie waren, als solche zu erkennen und meist mit einem süß oder niedlich kommentiert.

Im Winter verblassten sie und fielen kaum, aufgrund meiner hellen Gesichtsfarbe, auf.

Deswegen wurde ich auch im Sommer und in der beinahe ständigen Sonnenbestrahlung von Helio nicht braun.

Neben meinen Freunden, die eine gesunde Sommerfarbe hatten, stach ich immer heraus.

Ich hasste das.

Und meine Nase. Meine Nase schien einfach nicht in mein Gesicht zu passen, sie wurde irgendwie… seltsam, wenn ich lächelte und zog sie sich auseinander.

Ich hasste meine Nase.

„Hattest du einen guten Flug?“ fragte sie, während wir nach draußen und an den vielen Leuten vorbeischritten.

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass mich einige erkannten.

Nickend wich ich den meisten, streifenden Blicken aus, welche mir begegneten und sah lieber meine Mutter an.

Sie kam gerade von der Arbeit, dass konnte ich deutlich an ihrem Aufzug erkennen.

Der schwarze Hosenanzug und die dunkle Sonnenbrille waren eine Standardkombination für ein Arbeitsoutfit. Sie sagte immer, dieser Hosenanzug sei die Uniform eines Anwaltes.

Außerdem sah ich, wie ihre Hand nervös zuckte und sie sich innerlich abhielt ihr Handy zu checken.

„Du kannst, Mama“, meinte ich und erlöste sie von dem Rückhaltedrang.

Sie lächelte mich dankend an, schob die Sonnenbrille in den Haaransatz und zückte sogleich ihr Handy.

Mit einem unterdrückten Seufzen blickte ich über den Strom der fahrenden Autos, aus denen immer wieder Menschen hechteten, um ihren Flug noch zu  erhaschen.

Diese Unruhe wühlte mich auf und ich wendete meinen Blick starr vor mich.

Genau in diesem Moment fuhr eine schwarze Mercedes-Limousine vor und die dunkel-getönte Scheibe wurde heruntergelassen.

Ein grauhaariger Fahrer grinste mich breit an und ich lächelte zurück.

„Iwan!“ begrüßte ich ihn laut.

Dies ließ meine Mutter aufblicken und unzufrieden die Stirn runzeln.

Während er aus dem Wagen stieg, um mein Gepäck in den Kofferraum liftete, hörte ich meine Mutter zetern: „Iwan. Wenn ich dreizehn Uhr sage, meine ich auch dreizehn Uhr. Nicht dreizehn Uhr dreißig.“

„Ja, Misses O’Shea. Bitte entschuldigen Sie“, meinte er mit starkem, russischen Akzent.

Ich lächelte ihm aufmunternd zu und er lüftete seinen Hut, ehe er sich mit dem Handrücken über die Stirn fuhr.

Auch auf meiner hatten sich feine Schweißperlen gebildet und ich spürte, wie warm mein ganzer Körper in der heißen Sonne wurde.

In Norwegen herrschte Anfang März etwa fünf Grad. In Sunport, Helio bereits einundzwanzig.

Es war eine enorme, klimatische Umstellung, aber ich war hier Zuhause.

Geboren und aufgewachsen in Sunport, überhalb des Berührungspunktes der Allee 13.

Gut behütet und reich versorgt.

„Steig ein, Schätzchen!“ hörte ich meine Mutter sagen und mich damit aus den Gedanken reißen.

Mittlerweile war ihre Willkommensfreude in der Stimme verschwunden und die altbekannte, leichtgenervte Befehlsform an ihren Platz getreten.

„Natürlich, Mutter.“

Plötzlich wünschte ich mir Emil zurück.

Kapitel 2- Fremder

Ich blickte durch das Fenster, während wir mit der Limousine unser Haus streiften.

Es war eine großflächige, schöne Wohnung am Beginn des Nobelviertels von Sunport. Die Fassade des Hauses war von einer großen Fensterfläche geprägt, in die jedoch nur einseitig einsichtig war.

Das Haus sah ein wenig aus, wie eines der vielen Bürogebäude in New York City, aber jeder wusste, dass hier die Oberschicht residierte.

Iwan fuhr in die Tiefgarage des Hauses und lud meinen Koffer aus.

Dann lüftete er erneut seinen Hut und wünschte uns einen schönen Tag.

Meine Mutter und ich stiegen in einen Aufzug am Ende der Garage.

Sie hatte ihr Gesicht auf ihr Handydisplay geschweißt und ihr langen, dünnen Finger rutschten hetzend über den Touchscreen.

Nur einen Atemzug lang waren wir in Bewegung, als auch schon die Türen erneut aufschwangen und wir im Foyer angekommen waren.

Hohe Decken, Marmorverkleidete Wände und Böden ließen den Reichtum der Einwohner erahnen.

Wir schritten an dem Portier vorbei.

 Diesem weiteten sich überrascht die Augen, als er mich sah.

Damit schien er nicht gerechnet zu haben.

Niemand schien überhaupt jemals mit meiner Rückkehr gerechnet zu haben.

Kopfschüttelnd lächelte ich leicht und hängte mich wieder an die Fersen meiner Mutter.

Sie überragte mich mit ihren hohen Schuhen beinahe einen halben Kopf und das bei meiner Körpergröße von etwa einem Meter dreiundsiebzig.

Ich selbst traute mich eher selten hohe Schuhe an zu ziehen- einfach mal so, war dies vollkommen ausgeschlossen für mich. Meine Freundinnen, um beinahe zehn Zentimeter während eines einfachen Kaffeetrinkens zu überragen, kam für mich nicht in Frage.

Erneut stiegen wir in einen Fahrstuhl und fuhren damit bis in den siebten Stock, wo meine Mutter dann einen Schlüssel ins Schloss steckte und sich die Fahrstuhltüre, direkt in unsere Wohnung, aufschwangen.

Auch hier war großzügig der polierte Marmorboden ausgelegt. Einige abstrakte Kunstwerke zierten die sonst schmucklosen, weißen Wände.

Ein vertrauter Geruch zog in meine Nase, als wir um die Ecke traten und im Wohnzimmer ankamen. Es roch nach Zuhause.

Ich fühlte alte Lasten von meiner Schulter fallen, während sich neue Bürden darauflegten.

Auf einmal spürte ich eine Beklommenheit in meiner Brust, die mir die Luft nahm und ein Keuchen aus meiner Lunge jagten.

Meine Mutter war bereits von meiner Seite gewichen, so dass es nicht einmal bemerkte. Ich sah, wie sich nach rechts, Richtung Küche, ausscherte und mich alleine zurück ließ.

Langsam ließ ich den Blick über die helle Ledercouchlandschaft streifen, welcher  einem, in der Wand eingelassenen, Großbildfernseher gegenüber stand.

Die gegenüberliegende Seite wurde als eine Leseecke genutzt, welche mit großen Regalflächen, die sich ab und an unter dem Gewicht der vielen Bücher mit einem Ächzen erleichterten, bestückt war. Zwei Ohrensessel standen einem modischen, offenen Kamin gegenüber.

Alles sah, wie immer aus.

Aber das war es nicht.

Kopfschüttelnd schlug ich, die entgegengesetzte Richtung zu meiner Mutter ein, nach links, in die Schlafzimmerbereiche ein.

Ein breiter, langer Flur mit unzähligen kreisrunden Lichtern an der Decke simulierten Tageslichteinfall. Auf jeder Seite ging immer wieder, im stetigen Wechsel, eine braune Holztür ab.

Nur die Türen am Ende des Ganges lagen sich rechts und links gegenüber.

Zunächst ging ich nach links, klopfte vorsichtig daran und öffnete sie.

„Jonathan?“ fragte ich in den Raum hinein und stellte fest, dass dieser ziemlich verlassen da lag.

Es herrschte das übliche Chaos eines Zehnjährigen und kopfschüttelnd wendete ich mich ab und ging zu der Tür rechts.

Ein Zittern umfing meinen gesamten Körper, als ich den Knauf in die Hand nahm.

Ich hörte mein Herz schlagen.

Laut und bis zum Hals.

Eine unbändige Angst schloss sich an und ich kniff die Augen zusammen, ehe ich die Tür aufstieß.

Der Druck um meine Brust nahm zu, mein Atem stoppte und ich brach ein.

 Mit einem kraftvollen Schwung stieß ich die Tür auf und blickte in den Raum.

Er war nicht so beängstigend, wie ich ihn erwartet hatte.

Aber dann sah ich auch, dass der Raum anders war.

Man hatte ihm jegliche Persönlichkeit genommen.

Ich trat weiter ein und warf meinen Blick nach links zu auf mein  weißes Bettgestell. Es war steril mit rosafarbener Bettwäsche bezogen und ohne jegliche weitere Verzierung durch die vielen Kissen, die sonst immer darauf geruht hatten. Auf dem Nachttisch daneben stand nur noch ein Wecker. Die Fotorahmen waren ebenfalls verschwunden.

Nur an der Wand, wo das Kopfende an diese stieß, hing ein Bild mit einem bunten Motiv.

Es zeigte unzählige bunte Luftballons in den Himmel steigen.

Der große, alte Kleiderschrank stand an der Wand, welche dem Bett gegenüber lag und daran reihten sich ein großer ovaler Standspiegel, sowie ein kleiner Schminktisch, eingedeckt mit vielen kleinen Döschen und Parfümflakons. Auch die Bilder, die einst zwischen Rahmen und Spiegel klemmten, waren verschwunden.

Dem einzigen, kleinen Fenster in meinem Zimmer, standen mein Schreibtisch gegenüber und daneben ein Bücherregal rechts.

Früher hatte neben diesem Regal eine große Pinnwand mit unglaublich vielen, auf Fotos festgehaltenen, Momente gehangen. Aber auch diese waren verschwunden, genauso wie die Momente vergangen waren.

Ich ließ mich auf die helle Stoffcouch fallen, die an derselben Wand wie der Schreibtisch entlang lief und seufzte schwerfällig aus.

Es war mein Zimmer gewesen, aber inzwischen war es nicht mehr mein Zimmer.

Es war das Zimmer einer Fremden, die ihr Leben neugestartet hatte.

Nicht das Zimmer eines Mädchens, das hier sechszehn Jahre lang darin gelebt hatte.

Aber das war gut so.

Schließlich war auch ich, nicht mehr ich selbst.

Ich war mir selbst eine Fremde und würde mich zunächst wieder finden müssen.

Es war eine Möglichkeit, jemand ohne all das zu werden.

Ohne auszupacken verließ ich mein Zimmer erneut und wandelte in die Küche.

„Sienna!“ erklang mein Name laut und erfreut.

Ich warf meinen Blick nach hinten und sah, Jonathan auf mich zu hechten. Er lief aus dem Wohnzimmer zu mir in den Gang, der in die Küche, führte und klammerte  mich mit dem Armen und warf sich um meine Mitte.

Lachend fuhr ich ihm durch den lockigen, rot-blonden Schopf.

„Jona“, lächelte ich sanftmütig, „ich hab dich vermisst.“

Fest drückte er mich erneut und erst jetzt merkte ich, wie sehr er mir gefehlt hatte.

„Und ich dich erst Sienna! Wo warst du denn die letzten drei Monate? Du musst mir unbedingt davon erzählen!“ meinte er aufgeregt, während wir die Küche betraten.

Auch hier hatte sich nichts geändert.

Die schwarz-glänzende Küchenfront erschlug den Betrachter zunächst und auch ich musste mich erst einmal erneut daran gewöhnen.

Meine Mutter stand an der Arbeitsplatte gelehnt und unterhielt sich grinsend mit einem jungen Mann, der sich an der Kochinsel abstützte.

Mit gerunzelter Stirn betrachtete ich ihn.

Er hatte ein breites Kreuz und schien trainierte Arme zu haben. Seine Haare waren dunkelbraun und ganz offensichtlich mit Gel nach oben gerichtet. Er trug ein dunkelblaues T-Shirt und neben ihm auf der Arbeitsfläche stieg tanzender Dampf aus einer Tasche.

Seine Haut war leicht gebräunt, wie die eines jeden Bewohner, der in Sunport lebte.

„Mama!“ rief Jona aufgeregt, „Sienna ist wieder da!“

Sie lächelte ihn gutmütig an, wenn ich auch den Ärger in ihren Augen glänzen sah, weil er ihr Gespräch unterbrochen hatte.

„Ja, ich weiß Schatz. Ich habe sie doch vom Flughafen abgeholt.“

„Ach stimmt“, lachte er und wendete sich wieder an mich.

„Wie war dein Flug?“  fragte er und bombardierte mich  daraufhin mit unzähligen weiteren Fragen.

Doch ich sah den Jungen an, der sich jetzt ebenfalls zu mir gedreht hatte.

In seinem Gesicht flaumte ein versuchter Dreitagebart und seine braunen Augen blickten erfreut auf mich nieder.

Fragend hob ich eine Augenbraue.

Das höfliche Grinsen in seinem Gesicht wirkte unfassbar gezwungen.

Er sah jemanden ähnlich.

Aber die einzige Person, die mir in den Sinn kam, riss mich in einen Abgrund. Also lenkte ich meine Aufmerksamkeit sofort wieder auf Jonathan.

„Wer ist das?“ fragte ich ihn und er grinste auf einmal spitzbübisch und hielt inne, mit seiner Fragerei und der Berichterstattung, was er die letzten drei Monate alles getan hatte.

Ich sah, wie sich der Gesichtsausdruck des Fremden ein wenig unzufrieden verzog. Wahrscheinlich, weil ich ihn nicht persönlich angesprochen hatte.

„Das ist Mamas neuster Streuner“, meinte er frech und lachte kess.

Ich grinste ihn an, aber sah zu, wie seines ihm aus dem Gesicht fiel.

„Jonathan!“ die Stimme meiner Mutter schnitt durch die erheiterte Stimme, „entschuldige dich sofort!“

„Ist schon okay“, meinte der Fremde.

„Nein! Jonathan!“

„Es tut mir leid“, murmelte Jona und verschwand.

Kopfschüttelnd wendete ich mich zu meiner Mutter zurück, als er aus meiner Sichtweite entwischt war.

„Das ist Max Sullivan. Er wird Ende des Sommers an der Universität in Burgh, Jura studieren.“

Irgendwie spürte ich, dass meine Mutter ihn allein, aufgrund dieser Tatsache, bereits mehr schätzte als mich.

„Er macht ein Praktikum in meiner Kanzlei und wohnt vorübergehend hier.“

Überrascht riss ich die Augen auf: „Wieso? Kann er sich keine Wohnung leisten? Oder zumindest ein Hotelzimmer?“

Entsetzt sah mich meine Mutter an, schürte ihre Lippen und wendete sich an Max: „Ich weiß nicht, du kennst ja Jonathan. Er ist normalerweise höflicher. Aber was in Sienna gefahren ist…“

Sie ist die Schande der Familie. Der hoffnungslose Fall. Also mach dir nichts draus.

Ich sah ihr diese unausgesprochenen Sätze über die Augen, wie ein Film über die Leinwand, flimmern.

„Max ist ein Freund der Familie. Weißt du noch, damals als wir in New Mour gelebt haben?

Die Harpers haben direkt neben uns gewohnt. Ihre Tochter Viola und ihr Sohn Jordan sind enge Freunde von Max. Sie haben uns gebeten ihm Obhut zu geben.“

Jordan Harper?

Ich spürte eine kurze Verbindung von Erinnerung in meinem Kopf, aber sie war zu schwach,  um mir ein reelles Bild zu liefern.

Also nickte ich einfach und zog mich mit der Information, dass ich jetzt erst einmal duschen wolle, aus der Affäre.

Wie konnte meine Mutter, nach all dem was wir, was ichm durchgemacht hatte, einen Fremden in unsere Privatsphäre eindringen lassen?

Ich hätte sie jetzt gebraucht- alle und vollkommen. Aber mit ihm entstand einen Kluft zwischen uns.

Wenn er da war, wie sollte ich mich erholen? Wie sollte ich heilen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3- Max

 

Ich wachte auf.

Es war noch mitten in der Nacht und für einen Augenblick wusste ich nicht, wo ich mich befand.

Die Konturen der Möbel, der Geruch und das Gefühl des Bettes waren mir fremd und ich schreckte hoch.

Exakt drei Minuten brauchte ich, um mir meiner Situation bewusst zu werden.

Mein Herz pulsierte in meinem Kopf, als ich meine Beine über den Bettrand baumeln ließ.

Mit dem Starren in die Dunkelheit begannen sich meine Augen an diese zu gewöhnen und ich stand auf und schlich mit vorsichtigen Schritten über die Dielen.

Prüfend reckte ich den Kopf durch den Türspalt und stellte fest, dass die gesamte Wohnung in Schweigen gehüllt war.

Leise glitt ich aus der Tür und wandelte über die Fliesen im Flur Richtung Küche.

Als ich im Wohnzimmer ankam, schreckte ich angsterfüllt zusammen.

Die Fahrstuhltüren schwangen auf und ich erfror in meiner Bewegung.

Mein Puls schoss mir in den Kopf und ich biss mir auf die dünne Unterlippe, um nicht aufzukreischen. Mit geschärften Blick kämpften meine Augen gegen das grelle Gegenlicht und erkannte eine Silhouette sich im Rahmen des Fahrstuhls bewegen.

Auf einmal zuckten die Ränder der Person und auch sie blieb abrupt stehen, doch schritt dann aus dem Fahrstuhl.

„Tut mir leid. Ich dachte nicht, dass noch einer wach ist.“

Die Stimme gehörte zu Niemandem, den ich kannte.

Sie klang ein wenig rau- wie die von Emil- aber war dagegen zu fließend in ihrem Klang.

Meine eigene suchte ich dagegen vergebens und brachte nur ein heiseres ‚Kein Problem‘ zustande.

„Wieso bist du noch wach?“ fragte sie schließlich und ich hörte, wie etwas dumpf auf dem Boden abgestellt wurde.

„Wieso bist du noch wach?“ fragte ich dagegen und ignorierte so seine gekonnt.

„Ich habe zuerst gefragt“, meinte er lachend und ich sah es zwar nicht, aber ich spürte, wie er näherkam.

Er stand mir gegenüber und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich wohne hier!“ meinte ich störrisch.

„Ich ebenfalls.“

„Das ist meine Familie“, zischte ich ärgerlich und spürte, wie mir die Müdigkeit aus dem Körper floss.

„Nun gut“, meinte er und ich sah schwach, wie sich seine Körperhaltung änderte. Fragend kniff ich die Augen zusammen, um zu erkennen, was er da denn genau tat und begriff, dass er eine hinweisende Geste Richtung Flur aufgefahren hatte.

Langsam schritt ich an ihm vorbei und gelangte in die Küche.

 Deutlich hörte ich, wie er mir folgte und fühlte eine unangenehme Gänsehaut aufkommen. Hastig fuhr ich über meine Arme und ließ mich auf einem Hocker, welcher vor der Kochinsel stand, nieder.

An seinen schlurfenden Schritten konnte ich hören, wie er zum Kühlschrank ging. Als das fahle Licht ihm ins Gesicht fiel, wirkte dieses unglaublich kantig und einschüchternd.

Mit einer routinierten Geste griff er die Wasserflasche im untersten Regal, förderte zwei Gläser aus dem Hängeschrank neben dem Dunstabzug zu Tage und betätigte das Licht an diesem.

Die Küche erstrahlte in einem schwachen, aber warmen Lichtschein, welcher sich um seinen Rücken schmiegte.

Aus unerfindlichen Gründen beunruhigte es mich, nicht seinen Gesichtsausdruck genau erkennen zu können.

Vorsorglich rückte ich umständlich mit dem Hocker etwa eine halbe Armlänge zurück und sah zu, wie er mir das Wasser akrobatisch in ein Glas füllte.

Als er sich ebenfalls eingeschenkt hatte, stützte er sich mit den Unterarmen auf der Arbeitsplatte ab und sah mich an.

Selbst durch die Finsternis, die zwischen uns lag, konnte ich deutlich die Neugierde in seinen Augen blitzen sehen.

„Ich war bis jetzt in der Kanzlei. Deine Mutter fordert viel. Aber eine Referenz von ihr aufzuweisen… das ist…“ er suchte nach den passenden Wörter, um sein Glück zu beschreiben und fiel dabei aus dem Rahmen des Realismus, „als würde man einen Freifahrtschein für jegliche spätere Jobangebote bekommen. Jemanden, der für Georgia O’Shea gearbeitet hat, der wird überall eingestellt.“

Ich nickte zustimmend, während ich an jedem seiner einzelnen Wörter zweifelte.

„Jetzt du“, meinte er und nahm einen Schluck des Wassers.

Mit einem erleichterten Seufzen setzte er diese wieder ab.

„Ich konnte nicht schlafen.“

„Natürlich“, meinte er amüsiert, „deswegen schleicht man auch nachts im Apartment umher.“

„Urteile nicht über mich. Du kennst mich nicht“, fauchte ich und merkte erst, als die Worte aus meinem Mund fielen, wie überzogen sie eigentlich waren.

„Dein Name ist Sienna Louise O’Shea. Meistens nennt man dich aber Sin- also Sünde. Ich glaube, das hat mit deinem früheren Leben zu tun, oder so. Ein Großteil der Stadt rätselt, wo du die letzten drei Monate gesteckt hast, aber vor allem was du gemacht hast. Dein Geburtstag ist am siebten April und du bist sechszehn Jahre alt“, listete er unbeeindruckt meine Eckdaten auf.

Überrascht sog ich Luft ein.

„Woher weißt du das?“ Skepsis und ein Hauch von Furcht durchsetzte meine Stimme.

„Ich wohne“, meinte er und nahm erneut einen Schluck von seinem Wasser. Ich selbst hatte meines noch nicht einmal angerührt, sondern umklammerte das kühle Glas mit starren Fingern.

„Ich wohne seit über zwei Monaten mit deiner Familie“, erklärte er sich und ich lachte über seine Antwort belustigt auf.

Fragend hob er eine Augenbraue an.

„In meiner Familie redet man nicht über mich. Daher frage ich, wer deine wirkliche Quelle ist.“

„Wer weiß“, meinte er achselzuckend, „ich habe meine Hausaufgaben eben immer gemacht.“

Sein Blick wurde stumpf und ein unangenehmer Schauer lief mir über den Rücken. Hastig stürzte ich das Wasser hinunter und erhob mich von dem Hocker, der unter der Erleichterung leicht aufstöhnte.

„Ich…ich“, stammelte ich unbeholfen und deutete nach hinten, „ich sollte nochmal schlafen.“

Ich sah, wie er leicht nickte, ehe er mit leiser Stimme meinte: „Gute Nacht, Sin.“

Abrupt blieb ich stehen und wandte mich halb nach hinten: „Sienna. Sin… so…so hat mich… so will ich nicht mehr genannt werden“, würgte ich hervor, als ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.

Der Kloß in meinem Hals ließ mich schwer Schlucken und ich eilte über die Fliesen, überbrückte hastig die Distanz und warf mich in den Schutz meines Bettes.

Eine befremdliche Kälte zog in jede Faser meines Körpers, legte für einen Augenblick mein Herz lahm und ließ meine Gedanken verkümmern.

Für diesen Moment war da nur noch gähnende Leere, die von einer verzehrenden Furcht gefüllt wurde.

Neben den Geräuschen der Finsternis hörte ich eine Tür schlagen, ziemlich nahe neben meiner Zimmer und ich fühlte erneut eine Beklommenheit.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4- Jordan Harper

 

„Die Farbe wird nicht halten, wenn du die alte nicht zuerst abmachst, Sienna!“ hörte ich ihn sagen und drehte mich mit schmollendem Gesicht um.

„Was weißt du schon?“

„Mehr als du“, meinte er, griff sich den anderen Pinsel aus dem Farbtopf und bestrich damit die Wand des alten Schuppens, „siehst du?“

Ärgerlich stellte ich fest, wie sich seine These bewahrheite und die Farbe, nach seinem Schlag gegen die Wand,  wieder abblätterte, „wenn sie trocken ist, wird es noch besser gehen.“

„Du bist so ein Klugscheißer, Jordan“, meinte ich beleidigt und schmiss meinen Pinsel zurück in den Eimer.

Die weiße Farbe verteilte sich in unzähligen Spritzern auf dem ausgedörrten Grasboden.

„Besser ein Klugscheißer, als so ein Dummbolzen wie du“, meinte er und fuhr mit seinem Pinsel an meinem Arm hinab, sodass sich ein breiter Streifen auf diesem absetzte.

„Jordan!“ kreischte ich auf und wollte ihn schubsen.

Er jedoch hielt meine Arme mühelos fest und malte mir einen weiteren Balken quer über die Wange.

„Jordan!“ brüllte ich erneut erbost und wollte mich losreißen.

„Was denn? Man sieht doch kaum einen Unterschied“, neckte er mich.

„Du bist so ein Blödmann“, meinte ich ärgerlich und wendete mich ab.

Ungeschickt wie ich war, übersah ich den Farbeimer und trat hinein. Die Tränen zurückkämpfend zog ich  meinen Fuß hektisch aus dem Eimer, sodass dieser kippte und die gesamte Farbe über die Wiese lief.

 

Konfus blinzelte ich mit den Wimpern, als ich erwachte.

Die Sonne stand bereits in meinem Zimmer und ich stützte mich auf meinen Unterarmen ab, während ich versuchte meine Gedanken zu ordnen.

Ich wusste wieder, wer dieser Jordan Harper war.

Gähnend räkelte ich mich im morgendlichen Licht, legte die Erinnerung beiseite und schwang mich aus dem Bett.

Mit tapsigen Schritten lief ich ins Wohnzimmer, als mir das Bücherregal auffiel.

Irgendwo dort gab es ein Fotoalbum aus unserer Zeit in New Mour.

Gerade als ich die Stimme für einen Ruf nach meiner Mutter erheben wollte, kam es mir, dass sie nicht da war.

Natürlich war sie bereits arbeiten.

Dies bedeutete allerdings, dass auch dieser Max, also auch Jonathan, welcher wohl in der Schule war, nicht Zuhause sein sollten.

Grinsend streckte ich mich nach einem Fotoregal in der obersten Reihe des Regals und schwankte gefährlich, als ich es herauszog.

Ich stieß ein zufriedenes Schnauben aus, während ich es in der Hand hielt und auf dem Weg zur Küche vom gröbsten Schmutz der Zeit erlöste.

Eine dünne Staubschicht hatte sich auf meiner Handfläche gebildet und ich wischte  sie gedankenlos an meiner karierten Pyjamahose ab, legte es auf der Kochinsel ab, während ich die Kaffeemaschine anschaltete und eine Tasse aus dem Schrank nahm.

Es war ungewohnt alleine zu sein.

Nicht nur auf die psychische Art und Weise, nein sondern wirklich alleine zu sein.

Ich hatte eigentlich geglaubt, dass es mir mehr ausmachen würde. Doch überrascht stellte ich fest, dass es sich beinahe befreiend anfühlte.

Offensichtlich gab es einen weitaus gravierenden Unterschied zwischen allein und einsam, als ich bisher angenommen hatte.

Während der Kaffee durch die Maschine lief, befüllte ich die Tasse mit einem großzügigen Schluck Milch und häufte einige Teelöffel Zucker hinein. „Oho“, hörte ich ihn sagen, „willst du auch noch Kaffee zu deinem Zucker?“

Erschreckt fuhr ich zusammen, ehe ich mich verwundert umdrehte und sah, wie Max aus dem Gang zu mir in die Küche schritt.

Ich schenkte ihm ein sarkastisches Lächeln, ehe ich ihn musterte.

Auch er schien erst aufgewacht zu sein, denn seine dunkelbraunen Haare lagen ihm wild zerzaust auf dem Kopf.

Unwillig musste ich zugeben, dass er durch diesen gerade-erst-aufgestanden-Look ziemlich attraktiv wirkte und auch das schmallippige Lächeln minderte diese Tatsache nicht.

Offensichtlich starrte ich ihn einen Augenblick zu lange an, denn er hob fragend die Augenbraue.

Irritiert fuhr ich mir durch die Haare und blinzelte hastig: „Willst du auch einen Kaffee?“

Er nickte und setzte sich auf einen der Hocker, zog das Buch zu sich und betrachtete den Einband.

„Was willst du damit?“ hörte ich ihn fragen, während ich ihm ebenfalls eine Tasse Kaffee durchlaufen ließ.

 Mit einem Teelöffel rührte ich in meiner und lehnte mich gegen die Kante der Arbeitsfläche, nahm einen Schluck, ehe ich fragte: „Wieso bist du nicht arbeiten?“

Er lachte heiser auf: „Beantwortest du eigentliche alle Fragen mit einer Gegenfrage?“

„So ziemlich“, meinte ich und nippte erneut an meinem Kaffee.

„Ich habe heute frei“, meinte amüsiert, „also wieso dieses Fotobuch?“

Max hielt es nach oben und ich betrachtete den abgewetzten, roten Einband. Langsam schritt ich auf ihn zu und nahm es ihm ab.

Mit Vorsicht klappte ich es auf und mir der stieg ein leicht-modriger Geruch in die Nase. Vergangene Erinnerung von selten-stattgefundenen Familienurlauben, tragödienreiche Geburtstagen und natürlich unseres Leben in New Mour.

„Ich hab heut Nacht von Jordan Harper geträumt“, meinte ich gedankenverloren, während ich darauf bedacht war, die brüchigen Seiten nur ganz vorsichtig umzublättern, damit sie mir nicht aus dem Einband rissen, „ich wollte mir nur ein paar Momente  von damals ansehen.“

„Du hast von Jordan Harper geträumt?“ etwas in seiner Stimme ließ mich aufblicken, aber er zuckte nur mit den Schultern, als ich seinen braunen Augen begegnete.

Ich nickte und senkte den Blick wieder auf die Bilder.

Bilder von Jonathan als Baby füllten mehrere Seiten des Buches und belächelte diese.

Als ich die nächste Seite umschlug, las ich ein Datum, dass mich Halt machen ließ:11.August 2003, New Mour- Siennas Versteck.

Neben dieser Beschriftung fand ich eine auffällige Fotografie.

Sie zeigte mich im Vordergrund eines Schuppens.

Meine Haare waren damals in zwei dünne Zöpfe geflochten, die mir auf beiden Seiten auf der Schulter lagen und ich trug ein blassgelbes Kleid, das meinen hellen Teint ungünstig betonte.

Was sich meine Mutter wohl dabei gedacht hatte?

In meiner Hand hielt ich einen Farbeimer und strahlte breit in die Kamera. An den Lichtspielen konnte ich erkennen, dass es wohl ein sonniger Tag gewesen war.

In meinem Rücken lag das betitelte ‚Versteck‘.

Der marode, alte Schuppen wiegte sich stark bereits nach rechts und das eingesetzte Fenster war Scheibenlos. Der Stiel eines Besens ragte durch dieses hindurch und auch die rotlackierte Tür hing nur noch spärlich in den Angeln, neigte sich eher gen Boden.

Aber dies war genau der Schuppen aus meinem Traum. Es hatte ihn also wirklich gegeben.

Ich ließ meinen Blick weiter über die Seite gleiten und stellte mit Missmut fest, dass viele Bilder zu fehlen schienen.

Nur ein weiteres Bild war auf dieser Seite.

Sienna, Viola und Jordan.

Nun war meine Aufmerksamkeit geweckt. In meiner Erinnerung hatte Jordan Harper kein richtiges Gesicht gehabt und endlich würde er eines bekommen.

Glaubte ich zumindest.

Als aber ich das Bild genauer betrachtete, sah ich, dass sein Gesicht vollkommen überbelichtet war.

Ein unbekanntes Mädchen stand neben mir, auf dessen Schulter sich sein Arm zog, während sie mit ihrer Hand meine hielt. Wir beide trugen einen Badeanzug und wieder grinste ich breit.

Das war eine furchtbare Angewohnheit von mir, die auch in gedankenlosen Momenten heute noch zum Vorschein kam.

 Wenn mich jemand fotografierte, drohte ich dazu, zu breit zu lächeln.

Kopfschüttelnd wendete ich wieder den Blick nach oben und sah, wie Max dieses Bild ebenfalls betrachtete.

Er war mir sehr nahe.

 Ich roch ihn sogar- und er roch ein wenig nach Schweiß und Meersalz.

Wahrscheinlich lag das an seinem Duschgel.

Durch die weiten Hals- und Ärmelausschnitte sah ich  hinein und erblickte einen hellen Strich auf der linken Brust. Es sah fast aus wie eine… Narbe.

„Daran erinnere ich mich“, sagte er und ich riss meinen Blick von seinem Körper und ich sah auf das Bild, auf welches er tippte.

Verwirrt runzelte ich die Stirn: „Wie du erinnerst dich daran?“

„Jordan hat mir den Schuppen gezeigt, bevor er abgerissen wurde“, meinte er achselzuckend und nahm einen Schluck aus seiner Tasse.

Plötzlich spürte ich Trauer aufkommen, als ich hörte, dass man ein Stück meiner Kindheit dem Erdboden gleichgemach hatte. Mit trockener Stimme meinte ich: „Man…man hat es abgerissen?“

„Natürlich“, lachte er und schüttelte den Kopf über meine Betroffenheit, „schau doch. Das Ding war schon damals eine Ruine.“

Ich seufzte schwer.

„Und?“ fragte er und deutete auf das andere Bild, „kennst du das Mädchen?“

Nun sah ich erneut auf das Foto und betrachtete das andere Mädchen genauer.

Sie trug ihre Haare in einem dunklen Pferdeschwanz, der schwer von Wasser troff, doch sie kam mir nicht bekannt vor.  Auch bei der Durchforstung meiner Gedanken wurde ich nicht fündig.

„Nein“, meinte ich kopfschüttelnd und richtete mich wieder auf. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie ich mich über das Album gebeugt hatte und hörte, wie mein Rücken knackste, als ich wieder aufrecht stand.

„Viola“, meinte er und sah plötzlich bedrückt aus.

„Geht es ihr nicht gut“? fragte ich besorgt.

Er lächelte schwach, „so kann man es auch sagen… Sie ist tot.“

Ein überraschtes ‚Oh‘ war alles was mir über die Lippen kam. Ich konnte mit solchen Nachrichten nicht gutumgehen, doch ich wusste, dass man kein Mitleid wollte.

Mitleid würde sie auch nicht zurückbringen und dann wurden meine Gedanken selbstständig, verliefen sich im Düsteren.

„Möchtest du ein Eis?“ fragte er, als ich drohte mich darin zu verlieren.

„Ein Eis?“ skeptisch zog ich die Augenbrauen an.

„Ja, Zucker sorgt für die Ausschüttung von Endorphinen-“

Ich unterbrach ihn: „Ich werde nicht glücklicher, wenn ich esse.“

„Aber auch nicht unglücklicher, oder?“ fragte er neumalklug und schritt bereits zum Eisfach.

Übertrumpft nahm ich seine Niederlage widerwillig hin und griff den Teelöffel, den er mir entgegenhielt.

Grinsend stellte er den Eisbecher mit Choclate-Chip- Geschmack vor mich und löffelte sich eine Portion heraus. Ich tat es ihm gleich, ließ den Löffel in meinem Mund und rutschte mit dem Blick zu dem Foto.

Er hatte Recht, es ging mir nicht schlechter, aber plötzlich mich das Gefühl, dass es ihm nun schlechter ginge. Aus dem Augenwinkel sah ich seinen düsteren Blick, dem ich sooft schon im Spiegel begegnet war und klappte das Buch zu.

„Du…“, meinte ich zögerlich und nahm den Löffel aus dem Mund, „du mochtest Viola sehr, oder?“

Überrascht sah er mich an und verpackte den Eisbecher wieder mit dem Deckel. In seinen braunen Augen lag ein Geheimnis.

Es blitzte mir auffordernd und spielerisch entgegen.

Max wendete den Blick von mir und trug das Eis weg, ehe er sprach: „Sie war wie eine Schwester für mich.“

„Wann ist sie gestorben?“

Erschreckt presste ich mir die Hand auf den Mund, damit nicht noch mehr unpassende Fragen ausbrechen konnten. Ich spürte, dass sich die Atmosphäre schlagartig änderte und ich über eine imaginäre Grenzschwelle getreten war.

„Vor einer Weile“, meinte er schließlich, hatte sich noch immer nicht umgedreht.

Es kostete mich viel Aufwand das ‚Tut mir leid‘ zurückzuhalten, aber ich hatte inzwischen zu viel gesagt.

Ich wollte schließlich mit ihm auch nicht über… über…

Schwer seufzte ich, als ich den Kloß in  meinem Hals und die Tränen in meine Augen spürte.

Es tat weh, wenn ich nur an ihn dachte.

Ein brennender Schmerz, der mich wahnsinnig machte, der mich vermissen ließ und nicht nur ihn allein.

Tief verkrallte ich meine Fingernägel in den Bucheinband, nachdem ich es aufgenommen hatte, um es wieder in das Regal zu stellen.

 

Nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf auf der Wohnzimmercouch, wurde ich ungestüm von lauten Stimmen geweckt. Sofort erkannte ich die Strenge in der Stimme, die zu meiner Mutter gehörte.

Laut hörte ich meinen Namen durch die Wohnung schallen und duckte mich noch tiefer hinter die Sofalehne.

Doch ich blieb nicht länger unentdeckt, als ich einen rot-blonden Schopf durch das Zimmer streifen sah.

„Mama!“ seine Stimme war durchdringend, „Sienna ist hier!“

Mit einem boshaften Grinsen ignorierte er meine stummen Beteuerungen, mich nicht zu verraten, und ich warf ihm finstere Blicke zu.

„Idiot“, flüsterte ich scharf, als ich bereits den forschen Gang meiner Mutter hörte. Langsam richtete ich mich auf und machte mich auf das Schlimmste gefasst.

„Wieso versteckst du dich?“ hörte ich meine Mutter ärgerlich fragen. Sie hatte ihre Hände wütend in die Hüften gestemmt und auf mich mit einem bitteren Blick nieder.

„Ich habe geschlafen“, entschuldigte ich mich und schauspielerte ein Gähnen, um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen.

„Na dann“, lächelte sie plötzlich zufrieden.

Oh Gott. Panik kroch in meinem Körper.

Dieser Gesichtsausdruck bedeutete Schreckliches, war schlimmer als das zornige Gesicht.

„Bist du ausgeschlafen?“

Nicht falsch antworten, mahnte ich  mich selbst und versuchte die richtige Lösung für diese Fangfrage zu finden. Oder zumindest die Antwort, die mich vor der herannährenden Katastrophe retten würde.

„Ein wenig schläfrig noch“, meinte ich und senkte die Lider auf Halbmast.

Ich sah in ihre blaugrünen Augen und wusste, dass ihr mein Laientheater gerade die beste Unterhaltung bescherte.

„Gut, dass du dann erst nächste Woche wieder in die Schule gehst, oder?“ sie klimperte mit ihren Wimpern und ich sah sie fassungslos an.

Das konnte… das musste ein schlechtgemeinter Scherz sein. Wollte…konnte… sie mich wirklich nach all dem in die Schule schicken?

Ich sah verzweifelt auf und schluckte die bittere Erkenntnis herunter. Sie wollte oder konnte es nicht nur, sondern sie würde.

„Ich dachte“, setzte ich zu einem letzten Rettungsversuch an, „ich würde Privatunterricht bekommen. Zunächst zumindest.“

Sie lachte amüsiert und schüttelte den Kopf abwegig.

Meine Mutter konnte wirklich ein richtiges Biest sein, ein Miststück- wenn man so wollte.

Nicht mal mehr eine Antwort gab sie mir, als sie sich mit einem Grinsen abwendete und Richtung Schlafbereich ging.

Seufzend ließ ich mich rücklings fallen.

Ich spürte das Unwohlsein überall auf meinem Körper, die Blicke, mit welchen sie mich durchbohren würden und  hörte das Getuschel, was sie hinter meinem Rücken tratschen würden.

Ein Zittern durchfuhr meinen Körper und ich hielt mir die Ohren zu, damit sie in meinem Kopf leiser wurden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5- Das alte Neue

 

Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut.

So unwohl wie seit einer ewiglangen Zeit nicht mehr.

Skeptisch blickte ich an mir herab, während ich mir allerdings noch fremder, als jemals zuvor vorkam.

Meine Beine steckten in einer dunklen Röhrenjeans und ich trug ein simples, weißes Shirt. Ich glaubte, dass ich so am wenigsten auffallen würde und zog die Wimpernbürste schmatzend aus dem Maskararöhrchen.

Mit leicht geöffnetem Mund beugte ich mich vor und begann die schwarze Farbe aufzutragen, als ich ihn in meiner Zimmertür lehnen sah.

„Schau sie nicht an“, meinte er und verschränkte die Arme vor der Brust, „und trag die Haare offen.“

Überrascht von seinen Worten, befolgte ich seinen zweiten Rat und öffnete den eben erst penibel-frisierten Pferdeschwanz, fuhr mir schüttelnd durch die Haare.

„Besser“, lächelte er und ich biss mir zweifelnd auf die Lippe, „und viel Glück.“

Glück, dachte ich verächtlich.

Glück war nicht, das was ich brauchte.

Feuer- so dass die Schule abfackelte,  eine Sinnflut oder eben etwas, das mehr in diese Richtung ging, aber ich brauchte kein Glück.

Vor allem da ich nicht mehr an die leeren Versprechungen eines erfüllten Lebens oder einer glücklichen Zukunft glaubte.

Denn das Glück schien so willkürlich verteilt zu werden- und ehrlich gesagt, hatte die Schnauze voll- mich auf auch nur ein weiteres, unsicheres Parameter, welches mein Leben bestimmen sollte, zu vertrauen.

Kopfschüttelnd griff ich mir meinen Rucksack und stieg in die schwarzen Chucks.

Einen letzten, prüfenden Blick warf ich in den Spiegel, ehe ich ihm den Rücken zu wendete und ging.

 

Die Blue-Sea-High School  lag einige Autominuten vom Zentrum Sunports entfernt.

Im eigentlichen Sinne war die Blue-Sea-High, keine richtige High School, aber das Schulsystem von Helio war nah am Amerikanischen angelehnt, wenn es sich auch mehr an dem europäischen System, hinsichtlich der Schwerpunkte auf Mathematik, Naturwissenschaften und Sprachen, orientierte.

Es war eine gutausgeglichene Mischung der Beiden bezüglich ihrer Vorzüge.

Wie in den USA war die Schule für die Oberstufen ausgelegt und bediente sich ähnlichen Bezeichnungen für die Klassenstufen:

So war der amerikanische Freshman, ein heliosischer Newbie; ein Sophomore entsprach dem Dexan; ein Junior war ein Vice und ein Senior- ein Allstar.

Unter jeden anderen Umständen hätte ich mir über den heutigen Tag nicht den Kopf zerbrechen müssen, denn ich als Dexan, war der breiten Schülerschaft egal.

Erst im zweiten Halbjahr als Vice wurde man interessant, wenn es sich entschied, welchen Platz man im Schülerranking einnahm.

Doch meine Situation war anders, erforderte besondere Beachtung unter den sonderbaren Umständen meiner Rolle in dieser.

Iwan fuhr auf den Parkplatz ein und ich blickte durch die getönten Scheiben in die Gesichter der anderen.

Manchen wunderten sich, aber wendeten sich wieder desinteressiert ab.

Ich war nicht die Einzige in Sunport, die in einer Limousine vorgefahren wurde- bei Weitem nicht.

Schließlich zählte Sunport zu den fünf reichsten Städten des Landes. Und dort, wo das Geld lagerte, dort stank es auch.

Nach Arroganz, Egoismus und teuren Parfums und Aftershaves.

„Aussteigen“, hörte ich Iwan sagen. Durch den Rückspiegel sah ich seinen mitleidigen Gesichtsausdruck. Um seiner grünen Augen hatten sich unzählige Fältchen gefächert und ein einfühlsames Lächeln hing auf seinen Lippen, „wir sind da.“

Unwohl rutschte ich auf dem Sitz hin und her.

„Glaubst du?“ setzte ich an und sah, wie er bereits niederschmetternd den Kopf schüttelte.

Seufzend verdrehte ich die Augen und öffnete die Tür.

Als ich draußen stand, rollte auch der Wagen sogleich weg und ich verlor mein schützendes Schild.

Eine leichte Meeresbrise wehte zu mir und ich erschrak, als ich sie in meinem Nacken fühlen konnte.

Es war so ungewohnt, die Wärme und auch das Meer, selbst wenn es nur leise säuselte über die lärmenden Schüler hinweg, klang es befremdlich.

Ich stand noch immer bewegungslos mit geschultertem Rucksack und blickte zum Eingang.

Unzählige Schüler strömten zu der großen Haupttreppe, die sich in drei Segmente gliederte.

Am westlichen Abschnitt standen die meisten Schüler. Einige rauchten ihre Morgenzigarette, unterhielten sich und lachten.

Ein plötzliches Beben beherrschte meinen Körper und  ich verkrampfte den Griff um den Schultergurt und unterdrückte das Keuchen, das in meinem Hals anschwellte.

Mühselig würgte ich es herunter und begann mit tauben Schritten mich der Schülerschaft zu nähern.

Keiner hatte mich bis jetzt wahrgenommen und ich hoffte, dass es so blieb.

Leider wurde ich herbe enttäuscht, als ich die erste Stufe nahm.

„Hey!“ hörte ich eine, an mich gerichtete, Begrüßung.

Nicht umdrehen, dachte ich mir, solange kein Name gesagt wurde, könntest du noch immer so tun, als wärst nicht du gemeint.

„Hey Sienna!“

Verdammt.

Ich blieb mitten auf der Treppe stehen und bemerkte die beiden sofortigen Tunnel, die sich rechts und links um mich wanden, ehe sie hinter mir wieder zu einem verschmolzen.

„Hier“, ich sah, eine Hand sich in der Luft hektisch hin und her bewegen.

Noch immer rührte ich mich nicht und wartete. Gerade als ich weitergehen wollte, zwängte sich ein bekanntes Gesicht zwischen den sich bewegenden Leiber hervor.

Es drang in meinen Tunnel und musterte mich von oben bis unten.

„Du siehst gut aus“, hörte ich ihre Stimme.

Sie klang enttäuscht. Offensichtlich war ihr das Kompliment nicht leichtfertig über die Lippen gekommen. Ich glaubte, sie wollte mich in einem erbärmlicheren Zustand vorfinden, als ich hier vor ihr stand.

Könnte sie doch nur in mein Inneres blicken. Es wäre ein Schlaraffenland, um sich an meinem Elend zu laben.

„Du auch“, meinte  iund schenkte ihr nur einem kurzweiligen Blick.

Sie sah noch genauso aus wie früher, war noch immer in ihre Cheerleader-Uniform gekleidet und trug noch immer ein wenig zu viel Rouge im Gesicht. Dadurch sah sie immer ein wenig hinter dem Atem aus.

Theo und ich hatten uns darüber immer gerne ausgelassen und amüsiert.

Und dann starb ich.

Alles stürzte auf mich ein. Gott, mir war gar nicht aufgefallen, wie sehr er mir gerade jetzt fehlte.

Hektisch sprang mein Blick umher, als ich seine Gestalt an jeder Ecke, in jedem fremden Gesicht erkannte.

Er war überall.

„Alles in Ordnung?“ hörte ich Clarissa fragen und sah den abschätzigen Ausdruck in ihren großen Rehaugen.

Ich nickte geistesabwesend, während ich ihn wieder versuchte zu suchen, versuchte ihn zu sehen, damit der pochende Schmerz in meinem Kopf und der Brennende in meinem Herzen nachließ.

Als ich begriff, was geschehen war, keuchte ich.

„Bist du dir sicher?“ hörte ich sie skeptisch fragen, „du siehst nämlich ziemlich blass aus. Ich meine noch blasser, als sonst…“ sie brach ab.

Ein entsetztes Schnaufen entzog sich meiner Kontrolle.

„Ich gehe wohl besser rein“, meinte ich und ging, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Hatte sie mich gerade wirklich beleidigt?

Kopfschüttelnd verlor ich mich in der Masse, als ich sie mir hinter rufen hörte: „Das war nicht so gemeint! Wir sehen uns beim Essen, ja?“

Unfassbar.

Ich schritt in den Gang mit den hohen Decken, den dunkelgrauen Schließfächern an meiner rechten Seite und nahm die Treppe in den ersten Stock.

Sie hatte mich tatsächlich beleidigt, aber es hatte geholfen.

Für einen Herzschlag hatte ich vergessen, dass er nicht da war, dass er nie wieder da sein würde.

Doch jetzt, wo ich alleine in der hintersten Reihe saß, war ich einsam.

Da war eine Leere in meinem Inneren, die ich nichts mit zu füllen wusste und die ich auch mit nichts füllen wollte.

Ich sah auf und erblickte einen schwarzen Schopf.

Mittlerweile allerdings war ich mir deutlich, vielleicht ein wenig zu deutlich bewusst, dass es nicht Theo war. Wie sehr ich es mir auch wünschte.

Aber nur irgendein Kerl mit ebenfalls schwarzen Haaren machte noch lange keinen Theo aus.

Da steckte noch so viel mehr dahinter und selbst, wenn es sich dabei lediglich, um äußere Merkmale handelte.

Merkmale, die ihn ausmachten. Die sein Gesicht zu Theos Gesicht machten.

Die blauen Augen, das Muttermal auf der linken Wange, das ein wie Schokoladespritzer aussah, die kurze Narbe unter seinem linke Auge, die er nach einem Streit zwischen uns davon getragen hatte.

Jedoch war da trotzdem noch mehr, damit er es sein könnte.

Ich fühlte mich so verdammt einsam und immer wenn ich mich so einsam fühlte, kam nicht nur die Trauer, sondern auch es zurück.

 

 

„Und?“ hörte ich meine Mutter fragen, als ich mich in den Türrahmen zu ihrem Arbeitszimmer lehnte.

Es war altmodisch eingerichtet.

Ein massiver Schreibtisch aus schwerem Mahagoniholz stand vor einer Wand aus Glas. Auf ihm thronte ein brandneuer Computer, auf dessen Bildschirm meine Mutter ab und zu einen Blick warf, allerdings hatte sie mich,  noch keines Blickes mich gewürdigt.

Meine Sicht auf sie wurde ebenfalls durch zwei große Ohrensessel eingeschränkt.

Die restlichen Wände des Zimmers, die sich um den Schreibtisch aufstellten, waren mit groben, hohen aus dunklem Holz gefertigten Regalen umkleidet.

Es könnte als Kunst gelten, einen so großen Raum, so klein wirken lassen.

Ich sah, wie sie ihren Kugelschreiber aus der Hand legte.

 Offensichtlich war die Zeit, in der ich ihr hätte antworten dürfen, vergangen und sie zog sie sich die Brille von der Nase, sah mich an.

Es dauerte einen Augenblick, ehe sie mich genau gemustert und realisiert hatte. Dann schien sie plötzlich erschreckt.

Sie riss ihre Augen weiter auf und ihre Pupillen weiteten sich.

„Er fehlt mir“, meinte ich und ließ den Rucksack von meiner Schulter gleiten.

„Was ist passiert?“ hörte ich sie atemlos fragen.

Ich wusste, warum sie sich Sorgen machte. Ich sah einfach schrecklich aus, eklig und sogar ein wenig widerlich. Meine Augen waren verquollen und die Haut, um meine seltsame Nase, herum war gerötet.

„Er ist gestorben“, meinte ich, als ich sah, dass sie Anstalten machte aufzustehen, „das ist passiert. Er ist gestorben.“

Nun hatte sie sich erhoben und starrte mich wortlos an.

Sie wusste sich nicht zu helfen, das konnte ich deutlich in ihrem Blick sehen, und sie fragte sich, wie sie so denn mir helfen sollte.

Konnte sie nicht.

Also schloss ich die Tür zu ihrem Arbeitszimmer, schleifte meinen Rucksack  hinter mir her und verbannte meine Trauer und mich, in mein Zimmer.

Kapitel 6- Oben sein.

 

 

Mit zitternden Fingern umfasste ich den Griff des Messers fester.

Vorsichtig, mahnte ich mich.  Ich sollte es nicht tun, meine Bewegungen waren so unkontrolliert.

Doch ich konnte nicht anders.

Erneut presste ich es mir  kräftiger in die schwitzige Handfläche.

Ich brauchte das jetzt.

Mit animalischen Aufschrei glitt mir die Klinge aus dem Blickfeld und hinunter.

Ein Keuchen entfleuchte meinen Lippen, während ich mit groben, kantigen Bewegungen weiter schlitzte

„Was zur Hölle?“ entsetzte Worte drangen taub an mein Ohr und  ich warf das Messer zu Boden.

Ich hörte, wie es laut scheppernd auf dem Parkett landete. Doch ich ließ mich nicht ablenken.

Wie besessen wühlte ich in dem Schnitt, förderte immer mehr Masse zu Tage und scharrte wie eine Wahnsinnige darin herum.

Plötzlich umklammerte etwas meine Hände und ich hyperventilierte, als ich sie nicht mehr bewegen konnte.

 Hatte ich sie mir abgetrennt?

Keuchend rang ich nach Luft, spürte wie ich an allen erdenklichen Stellen meines Körpers schwitzte und verrannte mich in meiner Panik, meine Hände verloren zu haben.

„Hey, hey, hey, hey“, hörte ich etwas säuseln und sah mit erschreckten, scheuen Augen auf.

Mein Atem ging stoßweise und verschwommen sah ich etwas vor mir.

Was war das?

„Ganz ruhig“, wies mich das Etwas an und ich gehorchte.

Als Erstes normalisierte sich mein Atem und als mein Gehirn erneut mit genügend Sauerstoff versorgt wurde, wurde mein Blick wieder klarer.

Ich blickte in braune Augen, die mich gutmütig ansahen.

Eine Hand legte sich an meine Wange und ich schmiegte mich hinein. Der Daumen liebkoste meine Wange sanft.

Ein Seufzen bahnte sich aus meiner Kehle und ich ließ mich fallen.

Unachtsam fiel ich mit dem Kopf voran, genau auf sein Schlüsselbein. Liebevoll tätschelte er meinen Rücken, als er mich plötzlich bei den Schultern packte und mich aufrichtete.

„Was ist los?“ fragte er und deutete auf das Massaker, das ich angerichtet hatte.

„Was meinst du?“ fragte ich unschuldig.

„Du hast dein Kissen massakriert?“

„Ach so, das meinst du“, lachte ich leicht- es klang ein wenig wahnsinnig.

Die Last auf meinem Kopf wurde unglaublich schwer und ich verlor den Halt über diesen, sodass er mir vorne überkippte.

 Meine feinen Haare legten sie wie ein rot-blonder Schleier über meine Augen.

„Ja“, sagte er starr und ich fühlte, wie er seine raue Hand an mein Kinn legte und es anhob, ehe er mit seiner rauen Stimme sprach: „also was sollte das?“

Ich grinste dümmlich.

„Ich könnte schwören“, sagte ich, „ich könnte schwören, dass mein Dope in dem Kissen war.“

„Dein Dope?“ fragte er.

„Ja“, ich verdrehte die Augen über seine Begrenztheit, „meine Drogen, mein Stoff.“

„Komm“, sagte er, erhob sie und zog mich mit sich.

„Nein, Theo“, meinte ich und blinzelte hastig, „ich will jetzt nicht irgendwohin gehen.“

Ich hörte ein Seufzen.

„Man könnte meinen, du wärst schon total drauf.“

„Schön wär’s“, lachte ich und umklammerte seinen Arm.

Ein erneutes Seufzen und wir setzten uns langsam in Bewegung.

 

Erst als wir in einem Taxi saßen, wurde ich wieder klar, wurde ich wieder vernünftig, kam ich wieder zu Sinnen.

Und mit der Erkenntnis, kam die Scham.

Ich rückte von ihm ab, als ich merkte, wie eng ich mich an Max klammerte.

Wieder roch er nach Meersalz.

„Tut mir leid“, murmelte ich kleinklaut und brachte noch mehr Distanz zwischen uns.

„Ist schon okay“, winkte er ab, sah mich  aber nicht an, sondern aus dem Fenster, „ich kenne das schon.“

Ich wollte ihn fragen, was er meinte, aber ich schluckte die Frage hinunter und ließ den Kopf beschämt zwischen meine Schultern fallen, krallte mich in den Sitz.

„Wo fahren wir hin?“ fragte ich unverständlich.

„Zu einer anderen Art und Weise“, sagte er kurzangebunden und ich hob meinen Kopf an.

Zitternd strich ich mir die Strähnen aus dem Gesicht und sah ihn an.

„Wie meinst du das?“

„Warte ab“, meinte er und drehte den Kopf zu mir, schenkte mir einen ausgiebigen Blick, dem ich nicht standhalten konnte.

Stattdessen floh ich mit meinem Blick aus dem Fenster, betrachtete die Landschaft, an der wir vorbeizogen.

Wir fuhren im Übergang.

So nannte man im Volksmund den Stadtrand, der vor allem von Sozialbauten und Industriegeländen geprägt war. Man kam selten, eigentlich nie hierher und es wurde auch nicht gern gesehen, wenn Leute aus anderen Ständen sich zwischen den Reihen der Einwohner bewegten.

Ich fühlte mich wie ein Eindringling.

 

Meine Skepsis wurde genährt, als wir vor einer alten Fabrik ausstiegen.

Das baufällige Gebäude war mit einem gewaltigen Maschendrahtzaun von der Zivilisation abgetrennt und auffällige Warnschilder sollten die Menschen vor dem Betreten des Grundstücks abhalten.

Entweder war Max Analphabet oder lebensmüde, denn er blickte sich absichernd zu beiden Seiten um, ehe er sich durch ein Loch im Zaun presste.

Missmutig beobachtete ich ihn dabei und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.

Ich hatte dem Tod schon zugesehen und ich wusste, er war kein angenehmer Zeitgenosse.

„Hast du Angst?“ fragte er auf einmal anstachelnd.

Aber nicht mir.

„Ja“, sagte ich und hob die Augenbrauen an, „davor lebendig begraben zu werden, wenn diese Ruine über meinem Kopf zusammenbricht.“

„Ach komm schon“, meinte er und grinste mich an, „du hast keine Angst vorm Sterben.“

„Eine Scheißangst“, korrigierte ich ihn und ging dennoch auf den Maschendrahtzaun zu.

„Das wäre nicht das erste Mal, dass du in einer Ruine spielst“, meinte er und schmunzelte. Er spielt auf ‚mein Versteck‘ an, „komm oder die Leute werden noch aufmerksam.“

„Na gut“, ergab ich mich schließlich und klemmte mich durch das Loch.

Max hielt mir die Hand hin, als ich gerade dabei war mich wieder aufzurichten. Schwungvoll zog er mich auf die Beine und hielt sie für einen Augenblick zu lange.

Ich sah auf unsere Hände und er ließ.

Kälte trat an diesen Platz.

„Gut, dass du freiwillig gegangen bist“, lachte er, während wir alten Bauschutt umgingen und auf das gewaltige, dunkle Loch in der Hallenwand zu hielten, „ich hätte als Nächstes gedroht, deiner Mutter von deinem Aussetzer zu berichten.“

Überrascht stieß ich die Luft aus und hielt an, „dass hättest du getan?“

„Ich hätte dir damit gedroht“, sagte und blickte zurück, „aber nein“, er schüttelte den Kopf, „ich hätte es nicht getan.“

Hastig zog ich nach, als er wieder weiterging.

„Wieso nicht?“

„Ein Geheimnis ist eine geladene Waffe.“

Die Kälte, die gerade nur meine Handfläche belagert hatte, glitt über meinen ganzen Körper und drang in mich ein.

Ich fröstelte- und schwieg.

 

Als wir durch das Loch in der Wand kletterten, stützte er mich an meinem Unterarm, aber dieses Mal ließ ihn nicht wiederlos- auch nicht als ich darauf blickte.

Und dann verstand ich.

Es war bis auf vereinzelte Lichtflecken, die von aus der Decke gesprengten Löcher fielen, ziemlich düster. Auch restliche Baufragmente und Geröll erkannte ich erst, als er mich sicher unmittelbar daran vorbeiführte.

Es entstand ein kurzweiliges, blindes Vertrauen zu ihm, dass er auf eine harte Probe stellte, als wir uns einer ächzenden Metalltreppe näherten, deren Stützpfeiler schon die besten Tage hinter sich hatten.

Nach einem widerspenstigen Wortgefecht, ergab ich mich und er führte mich die Treppe nach oben.

Mit jeder Stufe, die ich nahm und mit jedem Schritt, den ich ging, bangte ich, um mein Leben.

Als, als es mir plötzlich egal wurde.

Das sollte einem gesunden Menschenverstand nicht passieren.

Aber das war ich schon lange nicht mehr- gesund.

Theos Tod hatte sämtliche Sicherungen aus meinem Kopf geschlagen, die hätten zur Heilung beitragen könnten, aber jetzt war ich nur noch… ausgebrannt.

Max hatte Recht, ich  hatte keine Angst vorm Sterben.

Ich hörte den Wind, wie er  durch die Löcher jagte und gegen jeden Gegenstand stieß, der ihm im Weg stand und dann sah ich es.

Ich sah, was er meinte.

Mit ungläubigen Augen blickte zum Horizont, der so unschuldig vor mir lag.

Zu meinen Füßen lag Sunport im gelblichen Dämmerlicht, dass durch den wolkenübersäten Himmel drang und die die kantigen, starren Gebäude in etwas Lebendiges verwandelten.

Das Meer im Rücken der Stadt wurde zum Spiegel des Himmels, in dem ich ertrinken wollte, um für immer Teil dieses Spektakels zu sein.

Es war atemberaubend.

„Ein andere Art und Weise oben zu sein“,  meinte er und ich spürte, wie er neben mir stand.

Der Wind fegte mir unerlässlich die Strähnen vor meine fliederfarbene Augen und ich drehte mich zu ihm um.

Ich wusste nicht, was in mir fuhr, aber ich küsste ihn.

Nicht wild oder aufgeregt, sondern bestimmt und gerade als ich glaubte, er würde seine Hände an meine Wange legen und mich zurückküssen, ließ er den Wind zwischen uns treten.

„Ich bin nicht Theo, Sienna.“

 

 

 

 

Kapitel 7- Unten bleiben

 

Es war schwerer, als ich erwartet hatte, Max aus dem Weg zu gehen.

Mir blieb meist nur der Tag, an dem ich unbeschwert durch die Wohnung streifen konnte, dann wenn er arbeiten war. Meine Mutter hatte mich nach dem ersten Schultag gleich wieder der Schule entzogen und ich glaubte, dass dies das Beste war, was sie seit Langem getan hatte.

Sie musste begreifen, dass ich noch nicht so weit war, dass es mich selbst beinahe immer noch umbrachte, wenn ich an Theo dachte.

Die Trauer saß noch so tief in mir, das Verlangen ihn zu sehen, rann noch immer durch meine Venen.

Max verlor kein Wort über den Vorfall mit dem Kissen oder über den Kuss auf dem Dach. Vielleicht weil es ihn nicht kümmerte und mich eigentlich auch nicht.

„Ich bin nicht Theo, Sienna.“

Das hatte er zu  mir gesagt.

Pah, als ob ich das nicht wüsste.

Max war nicht Theo, könnte es niemals sein und würde es niemals werden.

Niemand konnte das, niemand konnte ihn ersetzen und niemand könnte Theo zurückbringen.

So gesehen schien mein Leben ziemlich hoffnungslos.

Ich war in den zwei Wochen, die ich nun wieder hier war, abgesehen von dem Schulbesuch und der Dachbesichtigung, nicht aus dem Haus gegangen. Hinter den schützenden, vertrauten Wänden suchte ich den Schutz vor der Welt, die draußen nach mir gierte.

Und doch wusste ich, dass ich die Wohnung verlassen würde und müsste.

Seufzend erhob ich mich von der Couch, schaltete den Fernseher aus und ging in mein Zimmer.

Auf dem Schreibtisch lagen verstreut die Süßigkeiten, die ich mir noch in Norwegen am Flughafen gekauft hatte und zwischen ihnen die entfernte SIM-Karte.

Es war gut, dass ich sie nicht zerbrochen hatte. Jetzt hätte ich es wohl bereut.

Mit zitternden Händen nahm sie vom Tisch und betrachtete sie eingängig zwischen meinen Fingern.

Wenn es zu viel für mich wäre, könnte ich sie immer noch zerbrechen.

Diese Tatsache beruhigte mich, sehr sogar.

Ich griff mein Handy und pflanzte sie wieder ein. Die Sekunden, die zwischen dem Neustarten des Handys vergingen und in denen ich mein Mut sammelte, verstrichen unglaublich langsam.

Doch dann, als alles hochgefahren und ich mich bereit fühlte, brach die Flut der Nachrichten über mir ein.

Meine Ruhe wurde plötzlich so laut.

Mein Kopf wurde überhäuft mit Fragen, auf die ich selbst nicht mal eine Antwort gefunden hatte und dann blieb mein Herz stehen.

Natürlich.

Natürlich waren auch Nachrichten von Theo darunter, darauf hatte ich mich bereits eingestellt, aber da war ein Anruf.

Ein Anruf mit einer Sprachnachricht.

Das heutige Zeitalter ließ die Menschen in gewisser Weise ewig leben, ließ einen Toten sprechen- das war irgendwie grotesk.

Ziemlich lange starrte ich verloren auf den Bildschirm. Dort prangte mir nur das vom Hersteller eingestellte Wallaper entgegen.

Man hatte mir mein Handy abgenommen, die SIM-Karte entfernt und die Speicherkarte zerbrochen- ich wollte das so. Aber sie sollten die Nachrichten und die Anrufe darauf lassen.

Mittlerweile glaubte ich, dass es ein Fehler war.

Mit dem Entfernen der gemeinsamen Fotos, der gemeinsamen Videos wollte ich einen glatten Schnitt durch mein Leben ziehen, aber dafür war ich wohl nicht konsequent genug gewesen.

Mit einem schwachen Grinsen legte ich das Handy zur Seite und schleppte mich in die Küche.

Ich war erschöpft von all dem, was ich auf mich niedergekommen war und befüllte ein Glas mit Wasser.

Während ich trank, blickte ich auf die Uhr.

Es war viertel nach fünf und ich fragte mich, wo sie alle blieben.

Jonathans Schule endete bereits um zwei, selbst wenn er irgendein Hobby pflegen würde, sollte er mittlerweile wieder Zuhause sein.

Meiner Mutter und Max kamen meist bereits um vier Uhr, für eine einstündige Erholung Nachhause, ehe sie sich wieder bis etwa um neun ins Büro verzogen.

Auch wenn ich in dieser Stunde und ab neun, mein Zimmer nur für die gröbsten Notfälle verließ, war ich mir seiner Anwesenheit immer deutlich bewusst.

 Ich wusste, wann er sich im Bad befand, wann in der Küche- sogar wann er sich im Gang befand.

Man konnte von einer kleinen Obsession sprechen.

Doch jetzt wusste ich nicht, wo er war und das beunruhigte mich.

Die Einsamkeit kroch verräterisch leise in meine Seele und belagerte sie, und zu dem denkbar schlechtesten Zeitpunkt fiel mir der Anruf von Theo wieder ein.

Gedankenverloren blickte ich in das Wasserglas und stellte mir vor, es wäre Gin oder Wodka.

Ich schmeckte den aggressiven Geschmack im Mund, der alles andere übertönte und schlug die Augen wieder auf.

In meinem Kopf hatte sich der Gedanke so klar heraus kristallisiert, sodass alle andere daneben nur noch trüb und unwirklich wirkten- und das war verdammt gut so.

Jeder andere Gedanke wurde somit unwichtig, bekam einen neuen Rang in meiner Ordnung und verschwand vor meinen Augen.

Mich trieb einzig allein dieser eine Gedanke an und ich hetzte durch die Wohnung.

Ich spürte, wie sich wieder die Vernunft in meinem Kopf löste und in von den gierigen Fängen der Einsamkeit zermalmt wurde.

Die Einsamkeit war so dominant, dass mein einziges Befangen es war, sie loszuwerden, ehe sie meinen Verstand erreichte und mich wieder wahnsinnig werden ließ.

Dieses Bedürfnis drängte ich mich  und ich rannte beinahe gegen die Tür des Arbeitszimmer meiner Mutter.

Es war verschlossen.

Ein befremdliches, störrisches Fauchen drang aus meinem Hals und es erschreckte mich, aber nicht lange genug, um mich von meinem Vorhaben abzulenken.

Ich hatte ein Problem, das wusste ich, ich hatte sogar tausend Probleme und jedes schien ein klein wenig schlimmer zu sein.

Doch ich wusste eine Lösung für alle- abgesehen auf eines, aber das war mehr das Problem der anderen, als mein Eigenes.

Das war das, was ich mir zumindest immer eingeredet hatte und dieser Gedankengang schien mir durchaus plausibel.

Aus dem Wohnzimmer hatte ich mir einen Ersatzschlüssel besorgt und endlich hörte ich das erlösende Klicken einer sich öffnenden Tür.

Der ganze Raum triefte nach meiner Mutter. Ihr Parfüm und ihre Anwesenheit hatten sich in die Holzmöbel gefressen, so dass sie da war, wenn sie es eigentlich nicht war.

Dort.

Endlich hatte ich die versteckte Bar meiner Mutter ausgemacht. Weit oben und aus der Greifhöhe eines normalgewachsenen Menschen.

Eilig hatte ich einen Stuhl davor platzierte und hangelte mich in die Höhe.

Die alten Regale knarrten, wann ich immer sie berührte und dieses Geräusch irritierte mich, denn hin und wieder, klang es nach Schritten.

Ich stand bereits auf den Zehenspitzen und dennoch konnte ich das kleine Schranktürchen nicht erreichen.

Ein letztes Mal streckte ich mich danach und schaffte es… als plötzlich der Stuhl unter meinen Füßen, mit lautem Ächzen und Donnern, entglitt und ich für einen Augenblick lang fliegen konnte.

Ehe ich auf dem harten Boden der Tatsache aufschlug- im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich sah, wie sich mein Blick trübte und die harten Kanten der Regalen sich in unzählige Punkte auflösten.

Mir war durchaus bewusst, wie ich aus der Welt glitt und das Bewusstsein verlor.

 

„Wo sind wir hier?“ fragte ich, während er seine Finger mit meinen verschränkte.

In diesem Moment hätte es mir egal sein können. Er hätte mich ans Ende der Welt führen können und ich wäre ihm lächelnd in den Abgrund gefolgt- ich war zum Idiot geworden und das, obwohl er mir nur die Hand gegeben hatte.

Von außen hatte es wie ein ganz normales Restaurant der Oberschicht gewirkt. Genauso wie die etlichen anderen in Sunport, in welche uns mein Vater immer dann führte, wenn er nach Hause kam. Somit zwei Mal im Jahr.

Ich hatte nie verstanden, warum meine Mutter sich nicht von ihm trennte, aber eigentlich war es mir klar.

Mein Vater bedeutete finanzielle Sicherheit.

 Meine Mutter hatte diesen beiden Wörter oft gesagt, aber ich hatte nie ein Zusammenhang dazu mit unserem Leben knüpfen wollen- bis ich es einmal getan hatte.

Und dieser Zusammenhang war ein eins-achtzig großer  Mann mit dunkelblonden Haaren, der seinen mittelalten Körper stets in einem Anzug verpackte und seine Firma von Atlanta und nicht von  Sunport aus leitete. Nicht von dort aus, wo seine Familie lebte, sondern ganz bewusst wo anders.

Mein Vater liebte uns nicht- weder Jonathan, noch mich und schon gar nicht meine Mutter.

Sie war nur das junge Ding gewesen, dass mit dreiundzwanzig ziemlich gut an seiner Seite ausgesehen hatte und die so bestrebt war, ein Leben in Reichtum zu führen, dass sie sich anheiraten ließ, ehe sie selbst verwirklichte.

Damals hatte niemand erwartet, dass  die junge Camilla O’Shea das wurde, was sie heute war- machtvoll.

Mein Vater konnte damit nicht umgehen, er verlor das hübsche Anhängsel an seinem Arm und gewann, sowie verlor, gegen den neuen machtvollen Partner an seiner Seite.

Somit flüchtete er aus dem Land, während die Bilderbuchfamilie, die in den Wirtschaftsmagazinen abgebildet  und mit Überschriften wie: ‚Mikael O’Shea vereint Familie und Job nathlos!‘ betitelt wurde und gutgläubig da saß.

Während er mit seinen Affären, die immerwährenden dreiundzwanzigjährigen Ahnungslosen, dass Leben lebte, was wir mit ihm immer gewollt hatten.

Cam O’Shea wusste es, sah es und verschloss dennoch die Augen davor- nichts ging einem O’Shea über seinen Ruf- da war meine Mutter ebenso skrupellos wie mein Vater.

„Etwas ganz Besonderes“, meinte er und kniff seine blauen Augen verschwörerisch zusammen.

„Wenn du etwas hättest essen wollen“, meinte ich und verlangsamte meinen Schritt, damit er gezwungen war seinen harschen Schritt zu mildern, „wären wir lieber ins Chez-moi gegangen.“

„Wer sagte“, meinte er und das Funkeln in seinen Augen blitzte mir unheilvoll entgegen, „dass wir etwas essen?“

 

Das Erste, was ich spürte, als ich wieder zu mir kam, war eine kalte Hand an meiner Wange.

Gefolgt von einem erschreckten Aufschrei meines Namens, der aus dem kindlichen Mund meines Bruders gefallen war.

Meine müden Augen sprangen orientierungslos umher, ehe ich das Rot seines Haars sehen konnte.

Er schritt ruhelos durch den Raum und ich spürte jeden so tiefbesorgten Blick, den er mir aus seinen grün-braunen Augen zu warf. 

Ich schmunzelte leicht über die Hingabe, mit der er mich bemitleidete, aber dann wurde mir bewusst, dass er nicht der einzige Anwesende im Raum war.

„Mach doch was!“ hörte ich Jona leicht ärgerlich und verängstigt sagen.

Er bekam keine Antwort, nur die Hand meiner Wange verschwand. Es war kalt ohne sie, obwohl sie selbst nicht gerade mit der Wärme des Lebens ausgestattet war.

Jemand hatte meine Beine auf einem Stuhl nach oben gelagert und ich spürte das Bewusstsein wieder in meinen Körper, in meine Gedanken sickern. Langsam und zähflüssig wie Sirup.

Doch es verband einzelne Sinneseindrücke, die zunächst keinen Sinn und dann vereint ein Bild ergaben, etwas Reelles.

So kehrte auch der betäubte Schmerz in meinen Kopf zurück. Wie ein Blitz zuckte er durch ihn hindurch, ließ mich zischen und keuchend die Luft ausstoßen.

„Was ist?“ hörte ich Jonathan aufgeregt aufhorchen. Wieder bekam er keine Antwort und es ärgerte mich, dass man ihn ignorierte. Niemand durfte Jonathan ignorieren.

„Ich“, presste ich hervor, ehe ich hörbar die Luft aus meinen Lungen gleiten ließ und meine Ellenbogen seitlich an meinem Körper anwinkelte, „bin wohl vom Stuhl gefallen.“

Ein leises Lachen: „Dann bist du aber ganz schön blöd, Sienna.“

„Das bin ich wohl“, gab ich zu und versuchte mich aufzurichten, als ich an der Schulter wieder hinuntergedrückt wurde.

„Lass das. Bleib lieber noch ein wenig unten liegen. Wenn du jetzt aufstehst, sackt dein Kreislauf vielleicht ab.“

Ich wendete leicht den Kopf, spürte den Schmerz süßlich-schmerzend durch meinen Kopf fahren und lächelte leicht: „Danke.“

Er nickte nur und fuhr sich durchs braune, kurze Haar, während er noch immer die Hand auf meiner Schulter liegen ließ und auf dem Boden saß.

„Hol bitte etwas zum Kühlen und ein Glas Wasser“, hörte ich ihn sagen- mit seiner rauen, klangvollen Stimme. Es klang irgendwie… heiß.

Ich musste mir den Kopf wirklich ziemlich hart angeschlagen haben.

Aus dem Augenwinkel heraus, konnte ich sehen, wie Jonathan nickte und dann verschwand.

Seine Schritten, ein wenig federnd und doch bestimmt, verklangen auf dem Fliesen, zunächst im Flur, dann im Wohnzimmer und als er in den Küchengang steuerte, hörte ich nicht mehr darauf.

„Bist du suizidgefährdet?“ hörte ich ihn plötzlich neben mir fragen und nahm den Blick von der Tür, legte ihn auf sein Gesicht.

„Nein…“, sagte ich und drehte den Kopf gen Decke, „nicht mehr.“

„Und warum machst du dann immer solche Sachen?“

Solche Sachen? Das ist alles mehr oder weniger ein Versehen.“

„Was wolltest du am Schrank?“ fragte er und deutete mit einem Kopfnicken nach oben.

„Ein Buch.“

„Welches Buch?“

„Das… irgendeins, ich muss mich vor dir nicht rechtfertigen.“

„Das ist wahr“, meinte er und klang auf einmal weit weg.

„Hey!“ rief ich scharf aus und zahlte sofort den Tribut dafür und die Währung war Schmerz.

Er blieb im Türrahmen stehen, verschränkte die Arme vor der Brust.

Das leicht-rosafarbene Hemd steht ihm nicht, hörte ich mich in Gedanken sagen und schüttelte den Kopf über diesen zweifellos sinnfreien Kommentar meines Verstandes.

Wieder zuckte die Höllenqual durch mich hindurch.

„Wieso bist du immer zuerst da? Wo ist meine Mutter?“

„Vielleicht sorge ich dafür“, meinte er achselzuckend, „vielleicht will ich immer zuerst da sein.“

„Was könnte dich daran reizen?“

„Munition“, meinte er achselzuckend und verschwand.

Ich fürchtete mich vor ihm. Genau in diesem Augenblick wurde mir das panisch bewusst. Ich fürchtete mich so sehr von ihm.

Kapitel 8- Recherche

 

Mit der Diagnose leichtes Schädel-Hirn-Trauma hatte man mich wieder entlassen.

Ich selbst hatte mich gegen den Arztbesuch geweigert, als ich mich  kurz nach der verspäteten Heimkehr meiner Mutter erbrochen hatte, war sie nicht mehr abzuhalten.

Sie drohte mir sogar, den Sanitär hierherzurufen, was bedeutete sie würde sich erneut dem Gespräch der Nachbarschaft aussetzen, was wiederum ein Zeichen war, dass sie es vollkommen ernst meinte.

Um jeder weiteren Konfrontation aus dem Weg zu gehen, hatte ich nachgegeben.

Die ersten Tage verbrachte ich in technischen Minimalismus.

Alle kommunikativen Medien wurden mir genommen- nicht einmal ein Buch hatten sie mir gelassen.

So dämmerte ich meist zwischen einem Stadium des Wach-Seins und des Schlafens.

Als man nach und nach wieder den Fortschritt wieder in mein Leben ließ, begann ich über Max Sullivan zu recherchieren.

Der Abend hatte Sunport bereits erreicht und die Finsternis war in mein Zimmer gedrungen. Allein mit dem kühlen, fahlen Licht des Laptopsbildschirm kämpfte ich dagegen an, während ich über die Tastatur wischte.

Die Suchmaschine war erpicht mit meiner Anfrage die Weiten des Internets zu durchforsten und spuckte mir höhnisch mehrere tausende Ergebnisse mit dem Namen Max Sullivan aus.

Ich verfeinerte meine Suche und gab noch die Ortsangabe hinzu.

 Zunächst versuchte ich es mit Sunport, aber bis auf einen Vermerk auf der Webseite der Kanzlei meiner Mutter, wurde ich nicht fündig.

Erst als ich New Mour hinter seinen Namen eintippte, stieß ich auf ein verwendbares Ergebnis.

Ich erhielt Einblick hinter den Menschen, als ich sein Facebook-Profil besuchte.

Informationen zu seinem Namen, seinem Alter, seinem Geburtstagdatum, dazu wer seine Freunde waren und welche Interesse er hatte.

So fand ich heraus, dass sein vollständiger Name Maximilian Jonas Sullivan lautete und

dass er am dritten Januar diesem Jahres,  neunzehn wurde.

 Offensichtlich war ein Fan des amerikanischen Baseballs, allen voran den San Francisco Giants .  Es gab ein Bild, auf welchem er in einem weißen Fantrikot der Giants auf einer Tribune jubelte. In seinem Arm hielt er Mädchen.

Sie trug ebenfalls ein Trikot und riss freudenstrahlend die Arme in die Luft, wirkte unglaublich überrascht. Ihre langen braunen Haare trug sie in einem Pferdeschwanz , welchen sie sich über die Schulter gelegt hatte.

Viola und die Riesen.

Das… das… war Viola? Das Bild war etwas mehr als ein Jahr alt.  Ich wusste nicht warum, aber irgendwie hatte ich geglaubt, sie wäre bereits länger tot.

Gedankenverloren klappte ich den Laptop zu und legte ihn unter mein Bett, ehe ich aufstand und Richtung Wohnzimmer ging.

Meine Mutter saß vor dem Kamin, in einem der großen Ohrensessel und betrachtete eingängig das Feuer.

 Es sah beinahe so aus, als hätte sie gerade etwas in die Flammen geworden und ich schritt leise bedacht auf sie zu.

Als ich näher kam, sah ich, wie sie mit einer Hand das große Kelchglas, welches befüllt mit einem Rotwein war, hielt  und sich Tränen in ihren Augen zu sammeln schienen.

„Mama?“ fragte ich vorsichtig, dennoch zuckte sie grausam zusammen. Langsam und wie gerädert wendete sie den Kopf zu mir und für einen Moment fürchtete ich mich davor, was ich zu sehen bekommen sollte.

Doch da war nichts, als ihr außer ihrem starren Gesicht und den weinenden Augen.

„Ich fliege morgen nach Atlanta“, kündigte sie mir an und starrte wieder in die Flammen, aber dann erhob sie sich und raffte den Morgenmantel enger um ihren kraftlosen Körper. Sie blickte mich wie gelähmt noch einmal vergewissernd an, ehe sie davonschritt.

Verwirrt sah ich ihr hinterher, bis mein Blick sie nicht mehr erfassen konnte.

Was war nur mit meiner Mutter los? Was war nur mit meiner Familie los? Waren wir in unseren vorherigen Leben solch schlechte Menschen, dass wir nichts Gutes in diesem hier verdienten?

Ich wendete den Kopf und sah zu dem Weinglas, das sie auf dem Boden neben den kunstvollverzierten Füßen des Sessels hatte stehen lassen.

Zu beiden Seiten blickend kontrollierte ich die Eingänge und griff nach dem Glas.

Vorsichtig setzte ich es an meine Lippen an und kippte es immer wieder ein wenig mehr. Aufgeregtes Kribbeln durchfloss meinen Körper und konzentrierte sich in meiner Magengegend und den Fingerspitzen, die zu Beben begannen.

Und dann leckte die rote Flüssigkeit so verführerisch an meinen Lippen, wollte  Einlass, um meine Sinne einzunehmen und um meine Gedanken ruhig zu stellen.

 Dann allerdings nahm ich das Glas von meinen Lippen und gab es den Flammen hin, die es verzehrend verschlangen und glückselig hoch züngelten.

Ich wendete mich ab und zuckte  erschreckt zusammen.

Mein Herz pulsierte in meinem Kopf, während ich mir krampfhaft an die Brust fasste, um meinen Herzschlag zu beruhigen.

„Bist du wahnsinnig?“ keuchte ich, da mir der Schreck die Luft zum Atmen geraubt hatte.

 Er tauchte immer auf- immer wenn ich es am wenigsten damit rechnete.

„Ein klein wenig vielleicht“, meinte er amüsiert und verließ seine Position. Er richtete sich auf, fuhr sich einmal hastig durch die Haare und trat aus dem Rahmen des Fahrstuhls heraus.

Wie ihm ein Spiegel gegenüber, wich ich zurück, je näher er trat.

Wieder hatte ich ihm ein Geheimnis verraten, wieder hatte ich ihm neue Munition geliefert.

 Ich verstand nicht, wieso er die Waffe entsicherte, ich verstand nicht, warum er Munition eingelegt hatte und am wenigsten verstand ich, warum der Lauf der Waffe auf mich zielte.

Das schien ihn wirklich unglaublich zu  unterhalten, denn das hämische Grinsen hing ihm schief im Gesicht. Es sah zu verspielt für den bemühten Dreitagebart um sein Kinn und seine Wangen aus.

„Komm nicht näher“, presste ich nun hervor, als ich in meinem Rücken die Lehne des Sessels spürte. Würde er noch näher kommen, könnte ich schließlich nicht ins Feuer springen. Wenn ich zugegeben, auch über die Option einen Moment spekuliert hatte.

„Hast du Angst?“ fragte er und sah mich gespielt überrascht an. Der Spott glänzte in seinen braunen Augen.

„Eine Scheißangst sogar“, korrigierte ich ihn, aber ich blieb stehen- selbst als er näher kam.

„Du hast dir deine geladene Waffe gerade selbst an den Kopf gehalten, aber du hast nicht abgedrückt. Wieso sollte ich es dann tun?“

„Keine Ahnung, Verrückte haben immer die außergewöhnlichste Motivation“, zischte ich und sah zu, wie er immer näher kam.

Die Luft um uns wurde immer stickiger, immer weniger und ich spürte meinen Herzschlag.

Laut und bis zum Hals.

 Mühselig pumpte mein Herz das Adrenalin durch meine Adern, aber es wollte nicht reagieren. Ich wurde nicht mutiger, aber ich wollte auch nicht fliehen.

Nicht ich wollte gehen, sondern er sollte es tun.

Mittlerweile hatte er die Distanz zwischen uns auf eine Armlänge reduziert und ich war mir sicher, er könne mein Herz hören.

Es kam mir so vor, als würde es schneller schlagen, als die vierhundert Male eines Kolibris Herzes.

Aber dem war nicht so.

Denn mein Herz.

Es war stehen geblieben. Es schlug nicht mehr.

Jedenfalls für den Augenblick, in welchem er die Restdistanz zwischen uns überwunden hatte.

Ich blickte auf, sah auf sein halbgeschlossen Lider, welche mich dennoch mit einer Aufmerksamkeit musterten, die mir den Atem verschlug und sein schmalen Lippen, die ein feines Lächeln trugen.

Leise ließ ich den angehaltenen Atem entgleiten und wartete.

Ich wartete darauf, dass etwas passierte.

Irgendwo unglaublich weit entfernt hörte ich ein Feuer in meinen Ohren knistern, warm und aufgeheizt. In der Stille hörte ich, wie es mich überredete, wie es mir zu flüsterte.

„Sienna“, säuselte er in das Gewirr der Lautlosigkeit und ich spürte seine Hand an meinem Kinn.

Endlich ließ mein Körper eine Reaktion ablaufen und ich spürte, wie sich eine süßliche Gänsehaut auf meine Haut ausbreitete.

Und dann warf mich eine Erinnerung Jahre zurück. Ein  kindliches Gesicht blitze in mir auf und verschwand.

„Du erinnerst mich an jemanden“, meinte ich und fuhr mit den Fingern über seine Lippen, die mir so nah waren, dass ich schien den Verstand zu verlieren.

„Ich bin nicht Theo“, erinnerte er mich erneut, aber das interessierte mich nicht. Ich spürte nur, wie sich seine Lippen unter meiner Finger bewegten- fließend und rau.

„Ich meine nicht, Theo“, hauchte ich und dann küsste er mich.

Ein wahnwitziger Kampf zwischen einnehmender, angenehmer Kälte und brennend, heißer Hitze tanzten auf unsere Lippen, während wir in perfekter Synchronität untergingen, darin verbrannten.

Ich spürte es in meinem ganzen Körper. Das Gefühl, als ich daran dachte.

Keuchend riss ich mich los, blickte in seinen braune Augen und wollte wieder brennen, aber der Verrat zerfraß mich und ich floh.

 

 

Zumindest wollte ich das.

Doch seine schlanken Finger hatten sich tief in meine Oberarme eingefahren und ließen mich nicht ausreißen.

Für einen Augenblick hörte ich wieder das Knistern des Kamins, fühlte den Herzschlag extremer an den Druckstellen seiner Finger pulsieren, als irgendwo sonst an meinem Körper und blickte ihn an.

Seine braunen Augen waren auf einmal dunkel. Nicht finster oder angsteinflößend, sondern einfach nur dunkel. Ein wenig wie eine sternenlose Nacht.

Ich wollte mich  in ihnen verlieren, aber dann floss das Blei zurück in meinen Magen und das schlechte Gewissen verankerte mich in der Realität.

„Er ist tot, Sienna“, flüsterte er, als ob er in meinen fliederfarbenen Augen lesen könnten, was  in den Wirrungen meines Verstandes vor sich ging.

„Ich weiß“, lächelte ich schwach, aber es wurde nicht mehr als ein groteskes Grinsen, „aber irgendwie fühle ich mich dennoch wie eine Verräterin.“

„Du liebst mich nicht, oder?“ fragte er mich auf einmal und plötzlich löste sich der Rauch, der so schwer über meinem Verstand hing, auf.

Ich schüttelte leicht den Kopf und wand mich aus seinem Griff, den er inzwischen gelockert hatte und fuhr mir durchs rot-blonde Haare.

„Nein“, antwortete ich und schüttelte den Kopf.

„Dann tust du nichts. Jedenfalls nichts Falsches“, meinte er achselzuckend und plötzlich klärte sich sein dunkler Blick.

Seine Augen bekamen diese braune Farbe mit einem Schimmer Karamell, welcher mir noch nie zuvor aufgefallen war, und dem verborgenen Geheimnis zurück.

Ein schiefes Lächeln zog sich in sein Gesicht und wieder wurde ich zu seinem Spiegelbild- ich lächelte ebenfalls.

Ohne ein weiteres Wort schritt er an mir vorbei in die Schlafbereiche.

Verwirrt sah ich ihm hinterher, als mir plötzlich einfiel, was er mir vor dem Kuss gesagt hatte: Du hast dir deine geladene Waffe gerade selbst an den Kopf gehalten.

Ich blickte zu dem Kelchglas, das ich auf der Sitzfläche des dunklen Ohrensessel gestellt und welches dort umgefallen war.

Ein Gedanken formte sich in meinem Kopf, aber es dauerte noch eine ganze Weile bis er zu etwas Realem wurde, etwas Begreifbarem.

Vorsichtig hob ich das Glas an und bemerkte, dass ich einen kleinen Schluck Rotwein nicht in das Feuer gegeben hatte.

Und dann schoss mir die Erleuchtung wie ein Pfeil durch den Kopf.

Ich hatte mir meine geladene Waffe nicht an den Kopf gehalten, genau genommen hatte ich sie mir an die Lippen gehalten.

Zischend blickte ich in die Dunkelheit des Ganges, indem er verschwunden war und mich beschlich ein ungutes Gefühl.

Ein ungutes Gefühl, das mit leiser Panik und dunkler Skepsis, vielleicht sogar ein wenig Beklommenheit daran glaubte, dass er mich aus der Finsternis herausbeobachtete.

Vielleicht tat er das sogar wirklich, wie sollte er sonst immer da sein?

Ich umfasste den Stil des Glases fester, als mir ein Schauer über den Rücken lief und ein Zittern meinen Körper erfasste.

Was zur Hölle wusste er?

 

 

Kapitel 9- Konfrontation

 

 

„Sienna?“ hörte ich ihn fragen und merkte, wie ich meinen Kopf in der Umdrehung einer Unendlichkeit zu ihm neigte.

Meine Hand fuhr noch immer über den kalten Boden, der sich so heiß unter ihr anfühlte und ich glaubte, sie würde verbrennen.

Die gesamte Welt war auf die untere Hälfte meiner Augen begrenzt und wirkte weich.

Wie in Watte gepackt, wie durch Wasser geschaut, wie durch Nebel geblickt.

Das Flieder meiner Iris war beinahe vollkommen eingenommen von dem Schwarz meiner Pupillen und durch die halbgeöffneten Augen sah ich sein schönes Gesicht.

Langsam, ganz langsam, streckte ich ihm meine andere Hand entgegen und spürte, wie er sie erfasste. Seine Hand war weich und warm, so wie der Rest der Welt und der Boden.

„Geht’s dir gut, Sin?“ fragte er.

Ich glaubte, er fragte das nun schon zum hunderttausendsten Male.

Benommen nickte ich, merkte wie sich die Haare aus meiner Frisur lösten und mir an meinem Gesicht herabfielen.

„Klar“, meinte ich und spürte, wie mein Mund sich aus dem Kiefer hängte, „Theo.“

Und dann hing er wieder drin- einfach so. Darüber musste ich so lachen, dass mir schlecht wurde, als ich den Kopf wieder nach oben zog.

Meine Hand lag noch immer in seiner und es fühlte sich… unglaublich an.

Es war, als wären meine Nerven aufgeladen mit Glück.

Sie spürten wie Funken, nur als ich mit dem Finger leicht über seinen Handrücken fuhr. Als würden Regenboden aus ihnen sprießen.

„Das ist fantastisch“, meinte ich und grinste ihn dümmlich an.

Ich fühlte, wie er zu mir auf den Boden kam und er näher zu mir rückte.

Der Boden war wirklich kalt.

Wir waren auch schließlich in einem dieser Mietlager. Diese mit einem Rolltor als Eingangstür ausgestattet und unbeheizt waren. Wir hatten uns eines im Übergang gemietet und ein Sofa, sowie einen batteriebetriebenen Minikühlschrank, einen tragbaren Fernseher und eine Lampe, die seichtes Licht an die engen Wänden strahlte, hinein gestellt.

„Theodor van Dam. Was tust mir hier an?“

Ich lachte über den Reim und hörte auch ein raues Lachen an meinem Ohr.

Es war so nah und sein heißer Atem spielte, kitzelte an meiner erregten Haut und knabberte an meinen überforderten Nerven, aber auch das fühlte sich einfach…sagenhaft an.

„Ich weiß nicht“, raunte er und für einen Augenblick wusste ich nicht, ob es das Ecstacy war, das wir genommen hatte oder ob er wirklich schon immer so eine verruchte Stimme hatte.

Geradezu schleppend drehte ich mein Gesicht zu ihm und merkte erst da, wie nah er mir eigentlich war.

Ich konnte seinen Atem auf meinen Lippen spüren, beinahe das Bier schmecken, das er getrunken hatte.

Und dann küsste er mich.

Es war geradezu ungezähmt.

Seine rauen Lippen schliffen über meine. Ein verlangendes Knurren drang aus seiner Kehle und ich gab nach, gab mich hin.

Wie Millionen kleiner Funken glitten sie über meinen Mund, über meinen Hals und jetzt floss pures Gold aus ihnen. Das Prickeln machte den Kuss unglaublich aufregt und einnehmend umgriff  er meine Wange, drückte mich näher an sich.

Ich bekam keine Luft, aber ich würde ersticken, wenn es erforderte, dass er nicht nachließ.

Doch dann machte er genau das.

Er ließ von mir ab und dann ging ich auf ihn los.

Nun war ich es die forderte, die seinen Mund beherrschte.

Ich war so machtvoll, so gierig, dass er sich mir ergab- bedingungslos.

 

Diese Erinnerung, die ich im Traum beschworen hatte, irritierte mich.

Es schien ein anderes Leben, als mein Körper und Geist sie tatsächlich erfahren hatte und sie schien mir noch weitere Leben her, als das ich wirklich diese Person gewesen war.

Müde rieb ich mir die Augen und blinzelte den Schlaf aus ihnen.

Die Nacht war kurz.

Zu kurz.

Ich hatte die halbe Nacht wachgelegen und mir über zweierlei Dinge den Kopf zerbrochen:

Da war einerseits die Sache, die offensichtlich von dem ausgereifteren Teil meines Gehirns bearbeitete wurde und die, die mein Teenagerverstand zermalmte.

Den Sachverhalt, der sich nicht mit Teenagerscheiß plagte, fühlte sich bedroht.

Bedroht von der Art, wie er mich mit den finsteren Augen angesehen hatte, wie er mich aus der Finsternis beobachtete und wie er immer das wusste zu sagen, was ich hören wollte. Dieser Teil fürchtete sich.

Dieser Teil bangte davor, welches Wissen er beherbergen könnte, mit wie viel Wissen seine Waffe wirklich geladen war.

Und dann gab es noch diesen anderen Teil.

Diesen Teil, für den ich mich schämte.

Es war der Teil, der sich daran erinnerte, wie der Kuss schmeckte.

Wie er irgendwie ein wenig kaputt schmeckte und wie sich seine Lippen auf meinen angefühlt hatten, wie eine Welle, die sich an der Klippe brach- beladen mit der ganzen Energie, die dabei einwirkte. Der sich daran erinnerte, wie die Gischt der gebrochenen Wellen in meinem Magen schäumte, sich hoch in mein Herz türmte und dann unterging und es mitnahm- in die Geheimnisse der stürmischen See.

Doch irgendwie hatte sich zwischen all diesen unterschiedlichen Empfindungen, die auf der Skala soweit auseinanderdrifteten, ein Gedanke durchgesetzt.

Der Gedanke, dass ich mit ihm reden musste, dass ich rausfinden musste, was er wusste.

 

Mit dem Vorhaben gewappnet, schwang ich mich aus dem Bett und betrachtete mich im Spiegel.

Der Traum hatte seine Spuren hinterlassen.

Meine Haut war blass- blasser als sonst- und meine Augen wirkten irgendwie eingefallen. Ärgerlich kniff ich mir in die Wange bis ein wenig Rot in mein Gesicht gewichen war und ich kämmte mir die Haare, ehe ich mein Schlafshirt straff zog und den Knoten der  karierten Pyjamahosenschnüre erneut band.

Zufriedener als ich es nach dem Blick in den Spiegel war, trat ich aus dem Zimmer.

Das altbekannte Bild der verlassenen Wohnung begrüßte mich erneut.

Seitdem ich das Haus nicht verließ, litt  ich unter dem Verlust des Zeitgefühls.

 Ich wusste nicht, ob heute Freitag oder schon Samstag war, aber ich tendierte zu Samstag.

Meine Mutter würde nicht über die Werktage nach Atlanta fliegen.

Ich tapste über die angewärmten Fliesen, unter denen die Fußbodenheizung schlummerte und bahnte mir den Weg Richtung Küche.

Jonathan saß auf einem der Hocker, welcher der Kochinsel gegenüberstand und löffelte sich Müsli in den Mund, während seine Augen abgelenkt auf seinem Handy lagen.

Er bemerkte mich erst, als ich zur Kaffeemaschine schritt.

„Seit wann trinkst du?“ hörte ich ihn fragen und zuckte innerlich zusammen.

„Was?“ fragte ich verwirrt und klemmte mir die Strähnen, die mir ins Gesicht gefallen waren, wieder hinter mein Ohr.

„Kaffee. Seit du zurück bist…A pros pros“, meinte er und ließ den Display seines

Handys erlöschen und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund, um die letzten Rest zu entfernen, „wo warst du eigentlich?“

„Nun ja“, grinste ich und drückte den Knopf der Maschine, ehe ich über deren Rauschen hinweg antwortete, „ich bin jetzt so gut wie erwachsen. Irgendwann muss ich auch anfangen Kaffee zu trinken.“

„Du bist blöd“, lächelte er schief, wollte sich gerade seinem Handy zu wenden und mich somit aus der Not befreien, als er mich mit durchdringendem Augen anblickte: „Wo warst du, Sienna?“

„Wo ist Mama?“

Nicht sonderlich geschickt, tadelte ich mich selbst über das miserable Manöver, das ich zur Ablenkung gestartet hatte und rührte den Zucker in die dunkle Brühe. Tanzender Dampf stieg aus der roten Tasse empor.

„Bei Dad“, meinte er und schüttelte den Kopf, „doch die wichtigere Frage ist, wo warst du?“

Er schob die Müslischale von sich weg, lehnte sich leicht zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Für einen Moment wich die Kindlichkeit aus seinem Gesicht und erwachsener Ernst nahm seine Miene ein.

Das Bild gefiel mir nicht.

Es ließ Jona unserem Vater zu ähnlich sehen.

„Ich war…“ und ich zögerte- das würde seine Skepsis nur nähren, „bei Dad.“

„Bei Dad?“ fragte argwöhnisch und hob zweifelnd die blonden Augenbrauen an.

Ich nickte, „eine Weile dort und dann bin ich weiter geflogen.“

„Wo hin?“

„Nach Norwegen“, meinte ich achselzuckend und gab die Milch hinzu.

„Was hast du in Norwegen gemacht?“ fragte er nun vollkommen mit Skepsis durchfressen. Wo war nur die naive Gutgläubigkeit hin?

„Warst du mal in Norwegen? Fantastische Natur.“

„Wieso lügst du mich an, Sienna?“ fragte er ernst und ich hörte die Enttäuschung durch seine Stimme sickern, die so hartnäckig versuchte die Tränen hinunterzuschlucken.

„Ich lüge nicht, Jonathan“, meinte ich ruhig und sah ihn an.

Plötzlich tippte er neben sich und erst jetzt erblickte ich den weißen Kuvert.

„Da steht Rehab-Center drauf“, meinte er und sah mich finster an.

„Das ist nicht sowas“, ich lachte schwach.

„Ich bin kein kleines Kind mehr“, sagte er verletzt und ich spürte, wie die Scham über seine Tränen versiegte und nur stille Wuttränen über seine sommersprossenbeladenen Wangen rannen. Doch es war nicht nur der Ärger der Lüge, ich sah auch wie seine Bewunderung und sein Respekt für mich, ihm entglitten.

Und dann brach ich ihn Tränen aus.

„Jonathan“, flüsterte ich mich gebrechlicher Stimme und wollte auf ihn zu gehen, aber er sprang auf und ging.

Gedämpft hörte ich, wie sich die Fahrstuhltüren schlossen und ihn fort von mir trugen. Weiter weg, als ich ihn von mir getrieben hatte.

Ich sah auf den leeren Platz, der noch immer von seiner Anwesenheit glühte und blickte auf den Brief.

Mit zornig-bebenden Händen griff ich danach.

Er war schneeweiß… schneeweiß, verziert mit einem hellgrünen Siegel, das Genesung, das Heilung versprach.

Ich riss ihn auf, riss ihn halb ein und starrte lange auf die nach links geneigten Buchstaben, ehe ich auch nur ein Wort lesen konnte:

 

„Hallo Sienna,

da ich von dir nichts gehört habe (und eigentlich habe ich damit auch nicht gerechnet), dachte ich, ich melde mich bei dir.

Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass du dich richtig gut machst. Schließlich bist du Sienna O’Shea, richtig?

Es ist ruhig hier. Die Leute vermissen dich und ich erst recht.

Keiner hat bis jetzt die Fjorde so begriffen, die Landschaft so genossen wie du.

Ich glaube, du hast daraus Kraft gezogen… vielleicht kommst du eines Tages mal nochmal her.

Ich weiß der Flug nach Norwegen von Helio ist lang, aber für diesen Ausblick sollte es sich allemal lohnen. Das hat der andere Patient nur bestätigen können.

Vielleicht könntest du auch Leuten von dir erzählen, weißt du?

Ihnen Hoffnung geben… so viel wie du durchgemacht hast in deinem jungen Leben. Ich glaube andere würden dich dafür bewundern, was für ein Glück du hattest.

Ich freue mich auf deine Antwort.

 

Liebe Grüße

Emil Holgersson“

 

Was für ein Glück ich doch hatte?

Das konnte doch nur ein Scherz sein.

Ungläubig fuhr ich mit meinen fliederfarbenen Augen wieder über die Zeilen und schüttelte den Kopf, ehe ich den Brief zerknüllte und fest in meine Faust presste.

Ein wohlbekanntes Gefühl rann mir durch die Adern und es war schön etwas Bekanntes zu fühlen zwischen all dem Chaos, welches sich in meinem Kopf anstaute.

Und Emil machte es einem leicht.

Emil machte es einem verdammt leicht wütend auf ihn zu sein.

Mein ganzer Körper schnellte auf Anschlag, als ich spürte, wie der Zorn jeden noch so versteckten Winkel meines Körpers erfasst hatte und ich genoss ihn in jeder Faser meines Körpers.

Meine Sinne waren in diesem Augenblick vollkommen scharf gestellt und ich hörte Schritte auf dem Fliesen im Küchengang verklingen. Sie waren ein klein wenig schleifend, ein klein wenig schwerfällig und erschöpft, aber sie waren auch bewusst gesetzt.

Ich stand mit dem Rücken zur Türöffnung und gab meine Haltung auf, als ich spürte, wie anstrengend es war diese zu halten, wenn der Körper nicht vor Zorn aufgeplustert war.Langsam drehte ich mich um, als ich ihn in der Öffnung erwartete.

In meiner geballten Faust lagerte noch immer der Brief und ich drückte sie noch fester zusammen.

"Was weißt du?" hauchte ich und verzog die Augen zu Schlitzen.

"Mehr als dir wohl lieb ist, Sin", meinte er amüsiert, trat weiter in die Küche und liftete die Einkäufe auf die Kochinsel. Mit wachsamen Blick folgte ich jeder seiner noch so kleinen Bewegungen.

"Was soll das heißen?" zischte ich vorsichtig und schritt ebenfalls näher.

Ignorant fuhr er sich durchs braune Haar und begann die Einkäufe auszuladen- ohne den Blick nochmal auf mich zu heben.

Ich stützte mich mit gestreckten Armen auf die kühle Arbeitsplatte und lehnte mich nach vorne.

"Was soll das heißen? Was weißt du?"

Wieder roch er nach Meersalz und für einen Herzschlag vergaß ich meine Intention, spürte den Kuss auf meinen Lippen, seine Hände auf meinen Wangen.

Er lachte leise gehässig und richtete die Orangen auf der Obstplatte an.

Ich starrte ihn fassungslos an.

Mein Blick floh zur Uhr, als mir die innere Unruhe aufkeimte, dass es zu früh für seine Anwesenheit war.

12:17.

Es war viel zu früh.

Sofort baute sich erneut Nervosistät auf, die sich mit einem neuen Gefühl des Spektrum aneinanderreihte... so etwas wie Nervenkitzel, aber auch das traf es nicht genau.

Ich konnte das Gefühl nicht benennen, aber ich fühlte die Panik grausigkühl sich in meine Glieder schleichen, als mir bewusst wurde, dass es einen bestimmten Grund gab, warum er hier schon hier war.

Auch hatte er keinen Anzug getragen, sondern war in legerem Jeans und T-Shirtoutfit aufgetreten.

Als ich meinen Blick wieder auf ihn lenkte, schreckte ich zusammen, sodass mein Herz beinahe stehenblieb.Sein Gesicht war mir plötzlich unglaublich nahe.

Ich teilte mit ihm die Luft, die sich in dem fingerbreiten Abstand, der uns trennte und durch welchen er mich mit seinen durchdringlichen braunen Augen, die erneut so finster wie die Nacht waren, verbrannte.

Ich biss mir unsicher auf die volle Unterlippe und blickte mit weiterschreckten Augen auf seine Nasenflügel, die sich beim Ausatmen entweiteten.

"Was weißt du?" brachte ich erneut mit stickiger Stimme hervor.

Sein heißer Atem schlug mir gegen die Lippen.Die Luft war wie aufgeheitzt, voller Elektrizität.

Ich spürte die Partikel auf meiner Haut tanzen und Stromschläge durch meine Adern jagern.

Eine teils angenehmene und teils unangenehme Gänsehaut zog sich über meinen gesamten Körper.

"Alles", hauchte er kühl.

Und dann übermannte mich die Panik, die sich in meinem Inneren aufgetürmt hatte und zerschlug mich.

Mit wackligen Beinen taumelte ich zurück, bis ich wieder Luft zum Atmen hatte und stürzte auf die nackten Fliesen, aber ich fühlte keine Schmerzen.

"Alles?" wiederholte ich geistlos und schloss die Augen, während mir der Kopf in den Nacken fiel.

Alles.

 

 

Ich spürte seinen abwertenden Blick auf und wie er wütend wurde.

Etwas in der Luft hatte sich verändert, war heiß und schwer geworden, aber nicht auf diese angenehme Art und Weise, sondern auf eine bedrückende.

„So geht das nicht“, hörte ich ihn gefährlich nah neben mir und öffnete vorsichtig die Augen.

Mit verschränkten Armen stand er über mir gebeugt und musterte mich abfällig.

„So geht das nicht“, wiederholte er und schüttelte den Kopf.

Langsam gleißend floss mir der Schmerz in den Kopf nd trübte meine Sicht, als er mir gdurch die Gedanken schnitt.

Gedanenverlore blinzelte ich einige Male bis sich sein Gesicht wieder scharf stellte.

Er hatte die Stirn gerunzelt und blickte mich abwartend an.

Aber ich... ich konnte mich nicht rühren.

Je mehr Klarheit mich wieder erreichte, desto deulicher wurde der Schmerz an meinen Hintern, auf den ich gefallen war.

„Steh auf!“, meinte er nun auf einmal streng.

Irritiert schüttelte ich leicht den Kopf, aber gehorchte dann.

Auf wackligen Beinen, die die Last meines Körper gerade so tragen konnten, blickte ich ihn abwartend an.

Ich erwartete einen weiteren Befehl, aber er wendete sich ab und den Einkäufen wieder zu.

„Du kannst nicht so reagieren“, hörte ich ihn sagen, während ich beobachtete, wie er, den Rücken mir zu gewandt, Wasser aufsetzte.

„Wie meinst du?“ fragte ich und strauchelte auf einen Hocker zu, um mich zu setzen.

„Ich weiß nicht, wie du es machst, aber du machst es. Dein Körper entgleitet deiner Seele, wenn du schwach wirst. Das geht so nicht. Du kannst nicht immer die Kontrolle verlieren, wenn du dich fürchtest.“

„Du bist ganz schön einschüchternd, Max“, meinte ich und sah, wie sein Körper zuckte, als ich seinen Namen gesagt hatte.

Ich verschränkte meine Fingern miteinander, legte die gefaltetenen Hände auf die Arbeitsfläche und vergrub meinen Blick darin.

„Du fällst, wenn du Angst hast. Normalerweise versteht man es als Methaper, aber du... du fällst wirklich. Irgendwann Sienna, irgendwann wird keiner sein, der dich auffängt“, sagte er distanziert und griff nach Tassen aus dem Regal.

„Dann solltest du entweder aufhören mir Angst einzujagen oder niemals mehr weggehen.“

Ich blickte auf und sah, wie er in der Bewegung eingefroren ausharrte. Seinen muskulösen Arm hielt er in der Höhe des Schrankes und als einige Herzschläge vorüber waren, nahm er ihn herunter, ehe er sich zögerlich umdrehte.

„Was weißt du? Was heißt für dich alles?“ fragte ich ihn atemlos und hielt nur mit Mühe den Blick, den ich auf ihn gerichtet hatte, aufrecht.

Seine braunen Augen lagen auf mir und er blickte mich mitleidig, beinahe gequält an.

„Erzähl es mir, dann weißt du, was ich weiß.“

 

 

 

 

 

Kapitel 10- Background Check

 

 

 

 

Wir saßen auf der Couch im Wohnzimmer, während die Mittagssonne zum großen Panorafenster hineinschien und auf dem polierten Marmorboden glänzte.

Ich seufzte und zog die Knie an, ehe ich begann zu erzählen:

„Theo und ich, wir lernten uns vor vier Jahren kennen. Er war ein guter Fußballer und trainierte als Juniorcoach freiwillig die Mannschaft von Jonathan. Das mochte ich.

In Sunport, besonders als Klientel unser Gesellschaftsschichte, war sowas nicht häufig zu sehen. Er wirkte wie der Junge von nebenan. Aber das war er nicht. Er führte mich in eine Welt, die ich nicht glaubte, jemals zu betreten oder sogar sie betreten zu wollen.

Alles begann mit diesem einen Restaurantbesuch...“

 

Wie?“ fragend zog ich die Augenbraue hoch und stoppte abrupt. Da seine Finger mit meinen verschlungen waren, wurde er harsch zurückgerissen.

Sienna“, meinte er hauchend, drehte sich zu mir und schritt langsam auf mich zu.

Er legte seine Hand an meine Wange und strich mit dem Daumen zart darüber, während er mir mit seinen blauen Augen tief in die Seele zu blicken schien.

Seine Lider waren halbgesenkt und irgendwie wirkte er so, unglaublich verschwörerisch und wahnsinnig verrucht.

In diesem Augenblick wusste ich, dass aus dem besten Freund, zu dem er geworden war, mehr wurde.

Ich ahnte es bereits früher, er ahnte es früher.

Aber genau in diesem Moment schienen wir es beide zu wissen.

Leicht lehnte er sich vor und strich mit seinen Lippen über meine.

Es war eigentlich eine Berührung, die man kaum spüren konnte, aber ich fühlte sie durch meinen ganzen Körper dringen und wie sie meinen Herzschlag beschleunigte.

Vertrau mir einfach, dass hier ist besser als Essen. Das hier ist besser als Alles.“

Ich nickte und ließ mich weiter durch den schwachbeleuchtenden Raum führen. Wir schritten auf einem rot-ausgelegtenTeppich und ließen die Gemälde, die an der dunklen Wand hingen, neben uns entlang laufen, ohne ein Blick auf sie zu werfen.

Skeptisch beäugte ich die Flügeltür, die sich plötzlich vor uns aufgebaut hatte.

Sie stand offen und ich konnte in den großen Saal sehen, in welchem sich eine Vielzahl von Menschen aufzuhalten schien.

Es war nur trüb beleuchtet in einem seichten, beinahe lasziv-wirkenden Rotton und eine Bühne zeigte eine Violinistin, die durch einer geraden, senkrechten Lichtsäule beleuchtet wurde, während der Rest der Umgebung in Finsternis unterging.

Kleine Nischen gingen in einem Halbkreis von der Bühne ab, um welche die Nebelschwaden am Boden zogen.

Ich packte Theos Hand fester, als er in den Raum trat und bestimmt auf eine Nische nahe der Eingangstür trat.

Eine kleine Zweisitzercouch stand an der Trennwand, welcher gegenüber ein Glastisch stand.

Was ist das hier?“ fragte ich missmütig und beinahe ein wenig ängstlich.

Ein Restaurant“, meinte er und deutete mir, Platz zu nehmen.

Nun verstand ich seine Bitte mich in ein schickes Kleid und hohe Schuhe zu kleiden, als ich die Sinnlichkeit und Extravaganz der Atmosphäre aufnahm.

Was für ein Restaurant?“ fragte ich und sah zu der Violinistin die wie ich erst jetzt feststellte, nur in Lingerie gekleidet war, „ein Bordell oder was?“

Nein“, lachte er leise amüsiert, „die Ware, die über die Theke geht ist besonders.“

Als er sich neben mir niederließ, legte er mir die Hand aufs Knie, ehe er einer leichtbekleideten Bedienung zu winkte.

Sie kam auf uns zu, während sie in ihrer Hand ein Silbertablett balancierte.

Mit einem Lächeln stellte sie dieses auf dem Glastisch ab und ging.

Es liegt“, meinte er als er meinen entsetzten und gleichzeitig so neugierigen Blick sah, „außerhalb der Gesetzes, aber im Rahmen der Toleranz.“

Ich nickte, „ein Restaurant, in dem man Drogen konsumieren kann. Illegale Drogen.“

Vom feinsten“, beteuerte er mir und lehnte sich vor.

Er griff die Rasierklinge und teilte den kleinen Haufen des weißen Pulvers in zwei Lines, ehe er mir das Röhrchen hinhielt..., welches ich zögerlich ergriff.

Willkommen im Ektase.“

 

Ich sah keine Reaktion in seinem Gesicht.

Während des Gesprächs hatte er nichts gesagt, sondern mich nur leer und benommen angestarrt.

Ich sah, wie sich seine schmalen Lippen langsam öffneten und taube Wörter aus seinem Mund fielen, ehe er den Ton unterlegte: „Kokain?“

„Zunächst“, meinte ich nachdenklich und spürte, seine Hand an meiner.

„Dann liefen die Besuche im Ekstase aus dem Ruder. Wir stiegen auf Crack um.“

„Du bist direkt mit Crack eingestiegen?“ fragte er mich überrascht und umfasste meine Hand fester. Es war keine tröstende Geste, sondern viel mehr eine Geste des Versprechens.

Ein Versprechen, dass er immer da sein würde.

Ich seufzte leicht, bevor ich antwortete: „Unsere ersten Erfahrungen hatten wir einem Mietlager seiner Eltern außerhalb der Stadt gemacht - dadurch sind wir überhaupt auf die Idee gekommen. Wir haben uns auch ein kleines Lager im Übergang gemietet, haben es mehr oder weniger eingerichtet, und haben experimentiert.“

Vorsichtig und langsam rückte ich näher und als ich nur noch eine Handbreite von ihm entfernt war, zog er mich in seine Arme. Hastig krallte ich mich in sein Shirt und hörte sein Herz pochen.

Laut und eindringlich ließ es mich entspannen, während ich meine Gedanken ordnete.

Ich hatte mit niemanden darüber geredet- bis jetzt.

Das Gefühl der Waffe in seiner Hand schwand mit jedem Geheimnis, welches ich ihm offenbarte.

„Irgendwie kam der Alkohol dazu. Gras war ständig mal dabei und mit einer Pille Ecstasy hatte alles begonnen“, flüsterte ich an seiner Brust, „aber das Crack... es hat mich am Ende fertiggemacht.“

Sein Meersalzgeruch vernebelte meinen Sinne, als ich ihn zum ersten Mal so nah an mir vernahm.

„Theo musste erst sterben, damit ich wieder leben wollte“, hörte ich mich monoton sagen und fühlte den Schmerz, wie ein Messer im Rücken, durch meinen Körper fahren und zuckte zusammen.

Sanft fuhr er mir über den Rücken und drückte mich fester an sich. Er schien die Tränen, die mir übers Gesicht rannen früher erkannt zu haben, als ich selbst.

„Willst du mir sagen, was passiert ist?“

Ich nickte leicht. Es musste einmal ausgesprochen werden.

„Es war die Nacht auf Neujahr...“

 

Crack- eine Darreichungsform von Kokain- hat das höchste psychische Abhängigkeitspotential.

Es wird geraucht und die Wirkung setzt nach wenigen Sekunden ein.

 

Theo und ich saßen gedankenverloren auf der Motorhaube seines Wagens, welchen wir auf dem Parkplatz des Clubs geparkt hatten.

Von diesem aus erhielten wir einen perfekten Blick auf betrunkene Partygäste, die sich in einer krummen Reihe vor dem Eingang aufstellte

Amüsiert lachte Theo leise und zog mich zu sich.

Die sind ja schon total betrunken“, säuselte in mein Ohr. Ich hatte meinen Kopf auf seiner Schulter gelegt und die nackten Beinen überschlagen, aber ich fröstelte.

Das schwarze Kleid war so kurz, das er nur einen kleinen Part meines Körper abdeckte und die dünne Jacke schütze mich ebenfalls nicht vor Kälte.

Wann wollen wir?“ fragte ich und spürte, wie meine Hände zu zittern begannen- nicht allein von der Kälte.

Gleich. Wir haben nur vier Dosen“, sagte er mit einem mahnenden Unterton und ich nickte, während mich das Frösteln mit kalten Rückenschauer immer wieder einholte.

Aber endlich rutschte er von der Haube und wir stiegen auf die Rückbank seines Wagens.

Um zwölf will ich in unser Lager“, sagte er, „ich will Silvester ganz allein mit dir verbringen, Sin.“

Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn, ehe er die Rocks in seiner Crackpfeife anzündete.

Okay“, stimmte ich zu und nahm einen tiefen Zug.

Meine ganze Welt schien sich in wenigen Sekunden aufgehellt zu haben und alles strahlte in einem breiten Licht. Jedes Unbehagen, das ich jemals spürte oder gespürt hatte, wurde taub und verschwand.

Voller Euphorie sprangen wir aus dem Beamer und begaben wir uns in den Club.

Der Türsteher sah es uns an- das wusste ich- aber er lenkte uns amüsiert durch. Wir hatten ihn ein paar Mal im Ektase getroffen, ehe wir dort nicht mehr hingingen.

Das Stroboskop zersprengte die tanzenden Menge, die wie zuckende Leiber im abgehakten Lichtschein wirkte und wir quetschen uns dazwischen, wurden ein Teil davon. Teil einer Bewegung.

Wir tanzten eng, immer wieder trafen unsere Münder hart und fordernd aufeinander und wir vergaßen zu atmen, bis unsere Lungen kapitulierten und wir uns keuchend für die Dauer eines Herzschlags voneinander lösen mussten. Der Abstand unserer Körper war so dicht zusammengedrängt, dass wir von der Hitze, die zwischen uns entstand beinahe in Flammen aufgingen und verschmolzen.

 

Die Dauer des Rauschzustandes beträgt meist fünf Minuten bis zu einer Viertelstunde. Danach verspürt man ein unbändiges Verlangen nach Nachschub.

Man fällt in eine Art Depression, bis eine nächste Dose eingenommen wird.

 

Ich verkrallte meine Finger an seinem Hemdkragen und zog ihn zu mir herunter.

Mein heißer Atem stieß stoßweise aus meinen Mund und mit zitternder Stimme flüsterte ich: „Ich will noch.“

Er lachte rau und wollte sich wieder aufrichten: „Noch nicht.“

Ärgerlich knirschte ich mit den Zähnen und hielt ihn so fest, dass er mit dem Ohr nicht von meinen Lippen weichen konnte: „Das war keine Bitte.“

Sienna“, meinte er kalt, „jetzt noch nicht.“

Keuchend drang mir ein Knurren aus der Kehle: „Ich brauche es, Theo...“

Und dann brachen mir die Tränen aus den Augen: „Was soll ich noch hier? Was soll ich überhaupt noch? Ich brauche noch eine Runde, Theodor.“

Gut.Wir fahren dann aber gleich ins Lager, dort ist noch mehr.“

Ich nickte, aber mir rannen die Tränen unaufhörlich über die Wangen.

Er zog mich nach draußen, wo wir erneut eine Pfeife rauchten, ehe wir in eines der Taxis einstiegen, die wie Raubtiere auf ihr Beute- betrunkene Partygäste-lauerten.

Der Fahrer war ein grimmiger, alter Mann, welcher uns kaum Beachtung schenkte und von unserer Begeisterung genervt schien, aber Theo und ich kümmerten uns nicht darum.

Viel mehr war ich bemüht seine Lippen noch enger auf meine zupressen und seinen Körper mit meinem zu vereinigen. Ich saß auf seinem Schoß und vergrub meine Hände in seinen zerzausten, schwarzen Haaren. Seine Hände fuhren an meinem Körper auf und ab, ehe sie auf meinem Hintern zu liegen blieben.

Unsere Küsse waren zügellos- hemmungs- und haltlos.

Hey“, drang eine Stimme an mein Ohr, die so gar nicht mit Theos übereinzustimmen schien.

Ich wendete meinen Kopf, sodass mir unzählige rot-blonde Strähnen über die fliederfarbenen Augen fielen.

Theo hauchte derweilen brennende Küsse an meinen Hals, sodass meine Haut in Flammen stand und ich leicht die Augen schloss.

Zieht eure Sexshow woanders ab“, blaffte er und ich spürte, wie der Wagen hielt, „raus aus meinem Wagen.“

Wie bitte?“ frage ich entsetzt und spürte das Kichern aus meinem Mund brechen.

Verpisst euch, verstanden?! Ich hab' die Schnauze voll von euch. Ist mir egal, wie und ob ihr ankommt, also raus aus meinem Taxi!“

Das können Sie doch nicht machen!“ demonstrierte ich standhaft.

Raus“, brüllte er nun schon fast und ich zog den Kopf ein.

Ungeschickt kletterte ich von Theo und aus dem Taxi.

Erneut ergriff mich ein Zittern und die Kälte flüsterte um meine Silhouette. Mit verschwommenen Blick begutachtete ich die Umgebung und erkannte, dass wir nur einen kurzen Fußmarsch von der Mietlagerzentrale entfernt waren.

Wir würden nur hinter dem letzten Block rechts aus dem Industriegebiet laufen müssen und dann nur noch einige Meter, ehe wir den Zaun passieren würden.

Hol deinen Gigolo aus dem Wagen“, keifte die tiefe Stimme des Taxifahrer und ich zuckte erschreckt zusammen.

Verwundert sah ich, wie Theo noch immer benommen auf dem Rücksitz saß und mich dümmlich angrinste, während sein Blick vollkommen verklärt war.

Komm Theo“, drängte ich und griff an seinem Arm.

Schwerfällig stieg er aus und taumelte ungeschickt.

Das Taxi fuhr in dem Moment los, als die Tür zufiel und ich sah die Rückleuchte in der Ferne verglühen.

Ein Donnern grollte in den Wolken und Unbehagen beschlich mich. Fest umklammernd hielt ich Theo am Arm und starrte in den dunklen Himmel, über welchen plötzlich ein heller Blitz zuckte.

Es sah aus, wie eine Ader, welche sich durch den Wolkenleib zog.

Wir müssen uns beeilen“, meinte ich, als ich losgehen wollte, aber plötzlich merkte, wie er nicht mitging.

Was ist mit dir?“ fragte ich ärgerlich und spürte eine tiefe Trauer mit dem Verlangen in mir aufkeimen.

Bevor wir“, meinte er auf einmal röchelnd, „los sind, habe ich mir eine Line gegönnt.“

Du hast was?“ fragte ich erschreckt.

Ne Line Koks“, meinte er und stützte sich an mir ab, als ich hektisch los eilen wollte.

Wir müssen ins Lager.“

Seine heiße Hand verbrannte meinen Körper und ich sah die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten.

Wir hatten die Hälfte des Weges geschafft und bogen gerade auf den Zaun zu, als die dickbäuchigen Regenwolken sich in einer letzten Aneinanderreihung von Donnern und Blitzen in einer Sinnflut entluden.

Der strömende Regen läutete seine Bewusstlosigkeit ein und er fiel auf mich.

Er hatte eine Überdosis, ich wusste es und spürte es mit jeder Faser meines Körpers.

Hastig zog und zerrte ich an seinem Körper, als mir bewusst wurde, dass ich nun gegen den Tod anlaufen müsste.

 

Wir lagen längs auf dem Sofa.

Sein Kinn lehnte an meiner Stirn und hatte meine Finger noch immer in sein graues Shirt gekrallt, während er mich beschwichtigend über die Haare und den Rücken strich.

Ich fühlte mich verloren und geborgen zu gleich.

Alles was zu hören war, war mein armseliges Schluchzen, das wie ein Echo von den Wänden hallten und meinen Kopf zum Explodieren brachte - und das Geräusch unser Herzschläge, die sich in einem fließenden Rhythmus vereint hatte.

 

Kapitel 11- Bruchteile

 

Am nächsten Morgen beschloss ich wieder in die Schule zu gehen.

Irgendwie hatte sich etwas mit gestern gelöst. Vielleicht war es die Angst, welche den Schmerz heraufbeschwören könnte, wenn jemand Theo erwähnte.

Der stechenden Schmerz pulsierte zwar noch immer durch meine Adern, aber er legte mich nicht mehr lahm.

Ich verfiel nicht mehr in eine Starre, die mich aus der Gesellschaft ausgrenzte und das sollte ich auch nicht länger tun.

Der Entzug hatte mich isoliert, hatte mich bis nach Norwegen abgeschottet.

Kopfschüttelnd strich ich mit der flachen Hand über den seidigen Stoff des Bettdeckenüberzugs.

Wenn man mit zwei Fingern einen kleinen Teil anhob, so erzeugte die statische Reibung kleine Elektroblitze, welche für den Bruchteil einer Sekunde im Laken tobte.

Es amüsierte mich dabei zuzusehen und ich tat es solange, bis der Wecker klingelte.

Überrascht zuckte ich zusammen und schlug neben mich auf die kleine Nachtkonsole.

Sofort verstummte der Wecker und ich blickte verwundert auf das graue Plastikgehäuse, welches mir digital die Zeit anzeigte.

6:30.

Ich fragte mich einen Augenblick, wie lange ich bereits wach war, ehe ich mich seufzend erhob und mich zur Decke streckte.

 

Nach einer ausgiebigen Dusche tapste ich mit nackten Füßen durch die Wohnung, die für die morgendliche Frühe in unheilvoller Stille lag.

Iwan hatte mich gestern Abend informiert, dass er Jonathan zu einem Freund gefahren habe und ihn übermorgen abholen würde - wenn meine Mutter wieder da war.

Aber das war es nicht.

Das Wohnzimmer lag in einer Leere da, die ich mir nicht erklären konnte.

Fragend blickte ich mich um, aber alles war so wie es sein sollte. Oder zumindest wie es schien, sein zu sollen.

Da stand links die große Couchlandschaft dem Fernseher gegenüber, rechts die dunklen schweren Bücherregale mit den Ohrensessel in der Front des Kamins.

Erst jetzt fiel mir auf, wie unpersönlich und emotionslos. hier alles war. Alles wirkte beinahe gestellt. Kein Familienbild zierte die hellgelben Wänden, sondern nur ein, zwei abstrakte, kalte Werke städtischer Künstler.

Ich wendete mich ab und folgte dem Gang in die Küche, als ich ein Scheppern von dort vernahm.

Ein Druck fiel von meinem Herzen ab, als ich begriff, dass ich nicht alleine war - nicht einsam sein musste.

„Na nu?“ hörte ich seine Stimme überrascht in die Höhe klettern und sah, wie er er die dichten braunen Augenbrauen in die Höhe zog, „wieso bist du schon wach?“

Ich zuckte mit den Schultern, lächelte leicht und hielt auf ihn zu.

Die nassen Haaren fielen mir in dicken Strähnen über die Schulter und vor die fliederfarbenen Augen, ehe er sie wegstrich.

Seine Hand lehnte noch immer an meiner Wange und mit seinen braunen Augen blickte er mich ergründend an. Er schien eine Antwort auf seine Frage zu finden, welche ich ihm nicht gegeben hatte.

Ein süßlicher Schauer glitt mir über den Rücken und ich verschränkte meine Arme in seinem Nacken, während ich weiter in seine schöne braunen Augen blickte.

Sie waren schön- ja- einfach nur schön und das ohne irgendwie besonders zu sein.

Sein Gesicht wirkte irgendwie... ausgeglichen mit dem markanten Kinn, den leicht fülligen Wangen und dem schmalen Lippen.

Es wirkte allerdings auch härter- seit dem er nicht mehr den Dreitagebart trug.

Ich konnte und wollte mir nicht erklären, was in mir vorging, wenn ich ihn anblickte.

Denn da war immer noch dieser bittere Beigeschmack, den ich in jedem Kuss bis jetzt geschmeckt hatte.

Alles was ich wusste und wissen wollte, war das Max mir gut tat.

Und etwas Gutes war schon lange nicht mehr in meinem Leben gewesen, also würde ich diesen Bruchteil des Glücks, wie egoistisch es auch scheinen mochte, auskosten.

Max blickte mich an und ich glaubte, er würde nur auf meine komische Nase starren, aber auch das war mir egal.

Mit ihm war mir alles andere egal - und auch das fühlte sich verdammt gut an.

Und dann lächelte.

Er lächelte irgendwie ein Grinsen, das sich immer ein wenig mehr in die linke Gesichtshälfte, als in die Rechte verzog.

Irgendwo hatte ich genauso ein Lächeln schon einmal gesehen, aber mir wollte nicht einfallen, wo.

Allerdings dachte ich auch nicht mehr großartig darüber nach, als seine Lippen sich leicht auf meine legten.

Seine Küsse waren immer wie ein kleiner Elektroschock.

Wie die Blitze, die ich mit meinem Bettlaken erzeugen konnte.

Kurz- aber intensiv.

 

 

Ich unterschätze die Tatsache wieder die Schule zu besuchen.

Die Erleichterung,die ich empfunden hatte, ließ mich übermütig werden und mit mulmigen Gefühl in der Magengegend fuhr mich Iwan vor.

Im Rückspiegel konnte ich erkennen, wie blass ich geworden war und eine schleichende Übelkeit überkam mich, als ich ausstieg.

„Das wird schon“, hörte ich Iwan beteuern und nickte leicht, ehe ich die Tür zuschlug.

Der Meereswind säuselte wieder um mich herum, während ich zur Treppe blickte.

Bereits aus der Ferne konnte ich die gelblichen Truppe der Cheerleader ausmachen und schüttelte den Kopf, ehe ich erneut fester um den Gurt meines Rucksacks griff.

Bemüht versuchte ich einen lockeren Schritt zu täuschen und ging auf den Eingang zu.

Das Klingeln der Schule ertönte und ich stoppte etwa auf halben Wege.

Routiniert wollte ich auf einer Strähne beißen, wie ich es immer tat, wenn ich nervös wurde, und griff ins Leere, als mir einfiel, dass ich einen Pferdeschwanz trug.

Dieses Mal hatte ich Max Rat nicht befolgt- ich wollte das es dieses Mal anders verlief.

Die meisten Schüler hatte sich inzwischen ins Innere des Gebäude begeben, nur Clarissa stand mit den Händen in den Hüften gestemmt einer Gruppe Mädchen gegenüber.

Anscheinend hielt sie wieder eine ihrer motivierenden Reden, den offensichtlich gab es heute ein wichtiges Spiel.

Ich versuchte dieses auszunutzen und schlich mich äußert rechts auf den hellen Stufen nach oben, doch gerade als ich die Tür aufzog, hörte ich meinen Namen durch die Stille schallen.

Überrascht drehte ich mich um und verbarg den Ärger, der sich auf meinem Gesicht absetzen wollte.

Clarissa kam mir entgegen und grinste mich ihrem rötlichen Gesicht. Ich lächelte leicht darüber, was sie aber offensichtlich als anlächeln aufnahm.

Sie zog ihr eigenes breiter und bliebe nun etwa drei Armlängen vor mir stehen. Skeptisch blickte ich auf die Distanz, die sie zwischen uns klaffen ließ und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Schön das du wieder da bist.“

Ich nickte leicht und sah zu, wie sie sich durch die schweren, braunen Haare fuhr.

Das waagerechte Pony ließ ihr Gesicht irgendwie gestaucht wirken und die brauen Augen wie Knöpfe in den Augenhöhlen.

„Ja“, antwortete ich noch auch verbal, während ich aus atmete, „ich dachte, es wäre mal wieder Zeit.“

„Du hättest ja ruhig sagen können, dass du einen besonderen Schüleraustausch in Norwegen gemacht hast!“, meinte sie ein wenig beleidigt.

Ich verstand nicht, woher diese rührte und auch nicht, wie sie glauben konnte, wie wären so was wie Freunde.

Mit Mädchen wie Clarissa war und wollte ich nicht befreundet sein, aber sie wollte es.

Aus dem einfachen Grund, dass ich bereits als Dexan einen Ruf genoss, der mich bekannt machte und da interessierte es nicht, ob es ein guter oder schlechter Ruf war.

Beinahe hätte ich verdattert dreingeblickt, als ich verstand, dass mich offensichtlich jemand gedeckt hatte.

„Es sollte eben nicht jeder wissen“, meinte ich und blickte vielsagend auf sie herab.

„Du hast...“, meinte und plötzlich stockte sie. In ihren Augen sah, wie sie die Moral gegen die Neugier abwägte, ehe es ihr dennoch dreist zwischen den schmalen Lippen herausfiel: „Du hast Theos Beerdigung verpasst.“

Erneut spürte ich ein Entsetzen, eine Angst, eine Trauer und auch das Verlangen, welches ich mit seinem Namen verband, in mir aufkeimen.

Aber es schlug mich nicht mehr aus der Bahn- genauso wie ich es gewollte hatte.

Ich wollte den Schmerz noch fühlen, aber ich wollte nicht mehr davon beherrscht werden.

„Was soll ich sagen, Claire?“ fragte ich und hielt das falsche Lächeln aufrecht, „wir können schließlich nicht alle so gut mit ihm befreundet gewesen sein wie du, richtig?“

Wie in Zeitlupe konnte ich sehen, wie ihr das Erstaunen ihr Gesicht wie eine Welle überrollte und ging.

Das war die Genugtuung, die ich brauchte, um den Tag zu überstehen.

Das war der Kampf, dessen Sieg ich davon trug.

Erleichtert stieß ich die Tür auf und verschwand im Gang der Schule.

 

Ich fehlte drei Monate lang in der Schule. Drei Monate.

Den stofflichen Verlust, den ich eingefahren hatte, ließ mich während des Unterrichts wie ein vollkommener Idiot fühlen.

Den Anschriften des Lehrers an der Tafel konnte ich keinerlei Zusammenhang abfinden und meist starrte ich ahnungslos auf das Chaos aus Zahlen und Variablen.

Meine Verständnislosigkeit gipfelte bei den Hausaufgaben.

Kopfschüttelnd radierte ich immer wieder über meine Aufzeichnungen und ließ letztendlich den Stift genervt fallen, ehe mir mein Ärger in Form eines seltsamen Knurrens entfleuchte.

Verzweifelt ließ in den Kopf in die Hände sinken, ehe ich aufgebend den Block von mir wegschob und nach der Tasse Kaffee griff.

„Was hast du da?“ hörte ich seine Stimme neben mir fragen und zuckte erschrocken zusammen, als diese aus dem Nichts erschien.

„Hausaufgaben“, murrte ich und blickte hilfesuchend zu ihm auf.

„Das ist doch kinderleicht“, meinte amüsiert und nahm den Stift auf. Er kritzelte einige Zahlen neben- und untereinander, ehe er mit einem triumphierenden und leicht überheblichen Lächeln den Stift niederlegte.

„Wenn du einen Entzug durchgemacht hättest“, meinte ich und blickte auf, „würdest du genauso hinterherhinken.“

„Andere haben es auch geschafft“, meinte er nun ärgerlich und nahm mir die Kaffeetasse aus der Hand, „mach die Aufgaben.“

Verwundert sah ich ihm nach, wie er zur Spüle ging und meinen Kaffee wegschüttete.

Was hatte er denn nur?

Aufmerksam folgte ich ihm mit dem Blick und beobachtete jede seiner Handlungen.

Er trug ein blaues Hemd, dessen Arme er nach oben gerafft hatte und eine schwarze Hose- offensichtlich würde er wieder ins Büro fahren, denn sonst zog er sich meistens um.

Dann trug er eine kurze Jogginghose und das Tanktop, das immer wieder diese geheimnisvolle Narbe zu Vorschein kommen ließ.

Zögerlich raffte ich die Sachen zusammen und ging, als das Unbehagen meine Seele erreichte und Kälte in meinen Körper zog und die Furcht wieder aufkeimte- die Furcht vor Max Sullivan.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 12- Kirschen

 

 

Ich war unglaublich froh, als die Schulklingel mich erlöste.

Hastig erhob ich mich von meinem Stuhl und verließ das Klassenzimmer.

In meinem Rücken konnte ich deutlich ihre Blicke fühlen, die Blicke aller, deren Frage ich offen gelassen hatte.

Clarissa schien mich zu ignorieren und ging mir weitergehend aus dem Weg, aber ich hörte ihr Gemurmel immer wieder wie Wind an mein Ohr säuseln.

Ich versuchte darüberzustehen.

Ich versuchte es wirklich, aber ich konnte nicht.

Schließlich war ich auch nur ein Teenager, aber ich tat mein Bestes über ihre tragischen Spekulationen hinweg zuhören, wenn es mir auch nicht immer gelang und das Unwohlsein mir dann schwer wie Blei in die Magengegend fiel.

Doch ich musste zugeben - ganz anders als ich es erwartet hatte - fehlte mir Theo nicht so sehr in der Schule, wie ich es befürchtet hatte, auch wenn sein Platz neben mir, egal ob an den Schulbänken oder während der Mittagspause, leer klaffte.

Erleichtert seufzend stieß ich die schwere Eingangspforte, als eine der ersten Schülerinnen auf und ließ mit dem Freitag die Schule hinter mir.

In diesem Moment konnte ich nicht glücklicher sein- schließlich müsste ich zwei volle Tage nicht wiederkommen. Zwei Tage lang hätte ich Ruhe von ihren Zusammendichtungen, dem Getuschel und den Blicken, von denen ich mich manchmal fragte, ob sie jemals aufhören würden.

Allerdings täuschte ich mich, als ich sagte, ich könnte allein aufgrund dieser Hinsicht nicht glücklicher sein, denn ich konnte es... als ich ihn sah.

Überrascht beschleunigte ich meinen Schritt und schlängelte mich zwischen den parkenden, bunten Kleinwagen hindurch, als ich ihn erkannte, wie er an den Firmenwagen meiner Mutter gelehnt stand und mich anblickte.

Ich konnte ihn kaum ansehen wegen dem Meer, das wie Millionen Diamanten in der Nachmittagssonne in seinem Rücken schimmerte und glitzerte und ich kniff die Augen zusammen.

Mit jedem Schritt, den ich ich ihm näher trat, spürte ich es mehr.

Die Gefühle hallten laut durch meinen Körper, durch meinen Kopf und wurden beinahe animalisch wild. Doch voller Selbstschutz hielt ich sie in eine Käfig in meinem Herzen gefangen.

Ich wusste, dass ich mich ihn in verliebte, aber ich könnte und würde sie nicht freilassen, damit sie meinen Körper übernahmen.

Davor fürchtete ich mich und der Wächter, der vor dem Gefängnis in meinem Herzen unruhig, wie ein Tiger im Käfig, patrouillierte teilte die Ansicht meines Verstandes.

Allerdings war es ihm nicht möglich, sie davon abzuhalten in meinem Inneren zu rumoren und meinen Herzschlag ansteigen zu lassen, wenn ich mich ihm näherte.

Mein Körper wurde von seinem angezogen, wie Magnete und ich wurde willenlos, übergab mich dieser physikalischen Macht.

Uns trennten nur noch wenige Meter und er richtete sich auf, bereitete sich auf meine Ankunft vor.

Gerade als ich erreicht hatte, spürte ich heiß ihre Blicke in meinem Rücken und versuchte sie mit einem Schulterrollen von mir zu schütteln.

„Hey“, hauchte er mir über die windige Luft zu, welche schwer beladen mit dem Geruch von Meersalz, von Freiheit und Frische war.

Ich trat noch näher und erwiderte seinen Begrüßung mit einem scheuen Lächeln.

Manchmal fühlte ich mich seiner Gegenwart unterlegen und ich konnte mir nicht erklären, woran das lag. Vielleicht, weil er jedes meiner Geheimnisse zu kennen schien und ich seine nicht lesen konnte.

Das beunruhigte mich, ließ mich hin- und wieder in warmen Augenblicken bitterlich kalt frösteln.

Er hob mein Kinn an und wie ein Stromschlag durchzuckte die Berührung eilig durch meinen Körper, sodass jede Faser meines Körpers hypersensibilisiert wurde.

Mein Lächeln wurde breiter und ich umfasste mit beiden Händen den Kragen seines Hemdes und zog ihn zu mir herunter.

Und dann für den Bruchteil einer Sekunde, den Moment eines Atemzugs küsste er mich.

Er küsste mich nicht lange, so... als würde er sich fürchten.

So als würde er mir mit einem leidenschaftlicheren, intensiveren Kuss, Dinge verraten, die ich nicht wissen sollte.

Deshalb war es mehr ein kurzer, prickelnder Druck auf meinen Lippen und dann wurde ich irgendwie irritiert und nicht vollendes zufriedengestellt in der Kälte zurückgelassen.

„Was machst du hier?“ fragte ich, während ich noch immer meine Hände in seinem Hemdkragen verkrallte.

„Ich komme dich abholen. Deine Mutter ist zurück und hat mir den Tag freigegeben.“

„Süß“, kommentierte ich und ließ von ihm ab, während er mich verwirrt anblickte und sich verwegen durchs braune Haar fuhr.

Er trug es meistens glatt gekämmt, wenn er zur Arbeit ging, aber inzwischen war es vollkommen zerzaust.

Ich lachte amüsiert über seinen dümmlichen Ausdruck und schritt um den schwarzen BMW herum. Es war ein Neuwagen, der noch immer nach Fabrik und Plastik roch. Ich hasste diesen Wagen.

Es war das Lieblingsmodell meines Vaters, samt braunen Ledersitzausstattung.

Vielleicht hasste ich auch meinen Vater, aber ich traute es mich nicht zu denken, also hasste ich das, was er am meisten liebte- seinen Wagen.

Max stieg ebenfalls ein und startete ihn, ehe er ihn mit einigen eleganten Bewegungen wendete und vom Schulgelände fuhr.

 

Meistens dauerte die Fahrt von der Blue High zu den Stadtgrenzen von Sunport etwa zehn Minuten, doch wir ließen sie innerhalb der halben Zeit hinter uns. Max hatte einen rasanten Fahrstil, der die Landschaft vor meinen Augen verschmieren und verwischen ließ. Allerdings hätte sich mein Blick auch an nichts klammern können.

Links von uns lag in den unendlichen Weiten blau und genügsam das Meer, während sich rechts im kompletten Gegensatz, eine beinahe verdorrte Steppe aus leeren, gähnendem Nichts lag.

Erst als die ersten Hochhäuser der Sozialblocks und die Industriebauten am Horizont kratzen, drosselte er sein Tempo.

Mir fiel erst auf, dass wir nicht miteinander sprachen, als er in die Auffahrt zum Übergang einfuhr.

Ich fragte mich, warum er diesen Weg wählte, anstatt die Direktverbindung in die Innenstadt.

Mein Herz sackte mir in die Hose, als wir die Mietlagerzentrale streiften und ich blickte in meinen Ausschnitt, als es sich anfühlte, als würde sein Blut dort wieder hinunterrinnen.

Ich hatte das Gefühl in auf dem dunklen Asphalt liegen zu sehen und keuchte leise auf, ehe ich zwanghaft den Blick nach vorne richtete und überraschenderweise nach einigen Abbiegungen die alte Fabrik erkannte, auf deren Dach mich Max damals geführt hatte.

Rückblickend betrachtet war die Situation einfach nur lächerlich gewesen, wenn auch durchaus effektiv.

Er hatte mich auf dieses Dach gebracht, um mir eine andere Art und Weise zu zeigen, wie man oben sein kann und damit sich die Doppeldeutigkeit zunutze gemacht. Es hatte mich abgelenkt und zugegeben wäre die Aussicht wirklich das Einzige gewesen, was mich damals abgelenkt hatte.

Ich musste etwas sehen, was mir deutlich machte, dass es nicht alles gewesen ist, nicht es alles gewesen sein kann und als ich von diesen Dächern geblickt hatte, war ich einfach nur frei.

Ich sah, dass es eine Welt abgesehen von meinem Zimmer und dem Verlangen gab.

In diesem Moment hatte ich mich gefühlt, wie an den Fjorden in Norwegen- ich hatte mich sicher gefühlt, ich hatte mich selbst wieder unter Kontrolle.

Und als ich ihn dann angesehen hatte, hatte ich mich wieder verloren.

Ich kannte Glück-Sein nur mit in Verbindung, Theo bedeutete für mich Glück-Sein.

Und in diesem Moment wurde Max zu Theo und ich wollte Theo so nah, wie nur möglich bei mir haben in diesem Moment. Ich wollte mit ihm das Glück-Sein teilen.

Aber damals... ja damals war es ein Fehler gewesen Max zu küssen.

Ein unglaublicher Fehler, weil ich ihn küsste, während ich Theos Lippen schmeckte.

„Sienna?“ undeutlich hörte ich meinen Namen verklingen und blickte ertappt auf.

Ich blickte zur Seite und sah auf seine schmalen Lippen, die sich leicht öffneten.

„Ja?“ fragte ich verzögert und lächelte starr.

„Wir sind da!“ meinte er argwöhnisch und hob die Augenbrauen an.

„Oh. Bin wohl Gedanken gewesen“, meinte ich und stieg aus dem Wagen.

„Sieht ganz so aus“, hörte ich ihn murmeln.

 

Im Fahrstuhl herrschte plötzlich ein betretenes Schweigen zwischen uns, dass ich nicht drohte zu brechen.

Ganz anders schien es in unserer Wohnung von statten zu gehen.

Überrascht hörte ich das laute Stimmengewirr aus der Küche schallen und blickte Max an, der nur mit den Schultern zuckte und einen unwissenden Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.

„Hier, Schätzchen“, kristallisierte sich die Stimme meiner Mutter aus den Lauten heraus und ich hörte, wie ein Teller klirrend auf die Arbeitsplatte gestellt wurde.

„Cami“, hörte ich eine tiefe Stimme sagen und blieb erstarrt im Türrahmen stehen, als ich sah, was sich mir dar bot.

Ich rieb mir irritiert die Augen und bemerkte zu spät, dass ich nun die gesamte Maskara verrieben hatte.

„Mein Pandabärchen“, hörte ich die tiefe Stimme wieder erklingen und unterdrückte das Zusammenzucken.

Ein großer, blonder Mann, etwa Mitte vierzig hielt mit offenen Armen auf mich zu und schloss mich in seine breiten Arme.

„P-p-papa?“ stotterte ich unglaubwürdig und roch den schweren Duft seines Aftershaves.

„Ja, Bärchen“, hörte ich ihn sagen und er fuhr mir über die Haare.

Wieso behandelte er mich wie ein Kind?Doch wieso zur Hölle war er überhaupt da?

„Was machst du hier?“ fragte ich distanziert und schob mich aus seinen Armen und stieß gegen Max.

„Max Sullivan“, begrüßte er meinen Vater und streckte ihm seine Hand entgegen.

„Der Freund von meinem Bärchen?“ fragte er höflich und lächelte sein Geschäftslächeln, sein falsch-erfreutes Lächeln.

Was sollte dieses Bärchen? So hatte er mich noch nie genannt.

„Nein“, meinte meine Mutter aus dem Hintergrund, „er ist ein Freund von Jordan Harper und arbeitet in meiner Kanzlei.“

„So ein gutaussehender Bursche arbeitet so nah bei meiner Frau und schläft in dem gleichen Apartment wie meine Tochter? Sollte ich mir Gedanken machen?“ fragte er ihn spielerisch ernst und schlug ihm amüsiert gegen den Arm, als er Max erschreckten Gesichtsausdruck sah und lauthals loslachte.

Skeptisch beäugte ich die Situation und hörte meine Mutter im Hintergrund heiter lachen.

Was für eine Ironie.

„Sienna-Schatz“, hörte ich meine Mutter lieblich süß sagen. Ihre Stimme klang wie mit Honig bestrichen und misstrauisch zog ich die Augenbrauen zusammen, als ich zu ihr sah.

Sie deckte die Kochinsel provisorisch als Esstisch ein, ehe sie sich dem Karton zuwand.

Ich trat näher herbei und erblickte in die finstere Miene von Jonathan. Ein kurzer Schauer rutschte über meinen Rücken und eilig sah neugierig in den Karton.

Ich hielt diesesn verachtetenden Blick von ihm nicht aus und beugte mich weiter über.

Ein Kirschkuchen?

Welche verdammte Show wurde hier zur Hölle gespielt?

„Auch ein Stück?“ fragte sie, während sie mir bereits eines auf einen Teller packte und mich mit einem Blick anwies, der so gar nicht zu ihrem weichen Stimme passte, mich zu setzen und ihn zu essen.

„Was soll das hier?“ fragte ich sie ärgerlich und blickte zu meinem Vater, der sich anregt mit Max unterhielt.

„Ein Kuchennachmittag im Rahmen der Familie“, meinte sie und goss mir eine Tasse Kaffee ein, ehe ich mich niederließ.

„Aha“, kommentierte ich tonlos.

Mein Vater und Max kamen ebenfalls näher.

Während Max sich neben mich stellte und einen Schluck aus meiner Kaffeetasse trank, stellte sich mein Vater neben meine Mutter und nahm sie in den Arm.

Was war das? Was sollte das?

Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Mutter ein Kleid trug und nicht ihre Uniform.

Wie absurder sollte dieses Situation noch werden?

„Für dich auch ein Stück American Cherrypie?“ hörte ich meine Mutter an Max gewandt fragen.

„Nein“, schüttelte Max den Kopf, „ich esse keine Kirschen, aber danke.“

„Keine Kirschen?“ fragte mein Vater überrascht.

Max schüttelte den Kopf, während er erneut hastig einen Schluck Kaffee trank, um nicht zu antworten. Ihm standen Schweißperlen auf der Stirn... war er wirklich nervös?

Darüber musste ich schmunzeln.

„Oh, sie lächelt“, hörte ich meinen Vater sagen und blickte ohne jegliche Emotion auf, „hast dich wohl an Jordan Harper erinnert, was?“

„Wieso?“ runzelte ich die Stirn.

„Was?“ fragte mein Vater überrascht und schob sich ein Stück Kirschkuchen in den Mund, ehe er mit vollem Mund sprach, „Max, das weißt du bestimmt.“

Vorsichtig nickte Max.

„Na“, sagte mein Vater nachdem er den Kuchen endlich geschluckt hatte, „Jordan liebte Kirschen als Kind- beinahe täglich hat er welche gegessen. Genauso wie das kleine Harper-Mädchen, wie hieß sie doch gleich...?“

„Niall“, hörte ich meine Mutter sagen, „nicht.“

„Viola genau! So hieß das Mädchen. Jordan, Viola und du... ihr habt jeden Tag Kirschen am See gegessen.“

Fragend blickte ich ihn an und dann schien er plötzlich erschreckt.

Hastig ruderte er zurück: „Ich meine...ähm... du warst noch klein, natürlich kannst du dich daran nicht erinnern.“

 

 

Ich wusste, dass sie etwas von mir verheimlichten, aber ich kannte auch meine Familie.

Sie war verschwiegen- vor allem wenn es um mich ging.

Einerseits war das ein Vorteil, da sie gegenüber anderen stillschweigend die Schande ertrugen, anderseits verstummten sie auch in meiner Gegenwart.

Und als ich hilfesuchend zu Max blickte, starrte ich wie gegen eine kalte Mauer.

Sein Gesicht war abweisend, seine Augen sprangen langsam umher, streiften jedoch niemals mich.

Kopfschüttelnd ließ ich diese Scharade über ich ergehen, beobachtete meinen Vater aufmerksam, der nun versuchte, jede seiner Handlung vor der Ausführung zu planen.

Auch er mied den Blickkontakt mit mir und konzentrierte sein Schauspiel auf den Rest der O'Shea-Familie und hin und wieder auf Max.

Langsam aber sicher erfuhr ich, dass mein Vater anstrebte einige Tage hierzubleiben, um sich der Familie wieder anzunähern und meine Mutter sich darüber überaus gekünstelt freute, während ich sah, wie sich Jonathan freute und kindliche Hoffnungen machte.

Ich hatte keine Erwartungen und würde somit auch keine großen Enttäuschungen erfahren.

Ziemlich früh hatte ich gelernt, dass meine Familie eine Gruppe meisterhafter Lügner war.

Das Kuchenessen löste sich nach etwa anderthalb Stunden auf und jeder ging seiner Wege.

Meiner führte ich mich in mein Schlafzimmer.

Eigentlich hatte ich nicht geplant zu schlafen, aber während ich mich auf meinem Bett tümmelte und versuche die Geschichtsereignisse vom 18. Jahrhundert in mein Kopf zu hämmern, schlief ich ein.

 

Ich hob meine Hand in Luft und schirmte ihr die Sonne ab, welche unnachgiebig in meine Augen schien.

Schau nicht in die Sonne“, meinte Jordan hinter mir und schlug mir sanft, aber unliebsam gegen den Hinterkopf.

Mach ich doch gar nicht“, protestierte ich und schloss zu ihm auf, während er nach vorne weiterlief- unbedacht ob ich ihm folgen könnte.

Als ich ihn eingeholt hatte, waren wir nur noch wenige Meter von dem See entfernt, an welchem wir den Großteil unseres Sommers verbracht hatten.

Die Leute aus unserem Viertel versammelten sich hier und wir trafen auf einige Nachbarn aus unserer Straße, die mich alle freundlich anlächelten.

Für sie war ich die kleine, liebenswerte Sienna O'Shea, die mit den vielen Sommersprossen im Gesicht und den rot-blonden, kurzen Haaren.

Diesen Sommer waren meine Haare mehr nass, als das sie trocken waren und färbten sich so dunkler, als sie es eigentlich waren, da wir viel Zeit im schummrigen Seewasser verbrachten.

Der See selbst war nicht groß,aber er war groß genug, um darin zu schwimmen und das reichte uns.

Wir kamen beinahe täglich hierher und legten uns an die Flanke eines großen, schweren Baumes, der mit seinen Ästen über das Wasser ragte.

Normalerweise waren wir zu dritt: Jordan, Viola und ich, aber nicht dieses Mal.

Dieses Mal waren Jordan und ich alleine und irgendwie freute ich mich darüber, während es mir gleichzeitig unwohl in der Magengegend wurde.

Auch wenn er mich ständig ärgerte, mochte ich Jordan sehr.

Aus dem Garten der alten Rossi klaute er immer die Kirschen von ihrem Baum und die regte sich dann immer furchtbar darüber auf, aber er tat es- sowie den Gang zum See- beinahe jeden Tag.

Und dann, selbst wenn er Ärger bekam, teilte er seine Beute mit mir.

Manchmal wusste ich nicht, was ich in seiner Nähe sagen sollte und eine Nervosität kribbelte überall in meinem Körper.

Über den Sommer hatte ich wirklich eine ziemlich starke Schwärmerei für Jordan Harper entwickelt und so war ich auch recht froh, dass seine Schwester einmal nicht dabei sein würde.

Ächzend ließ er sich auf dem sonnenverbrannten Boden nieder und öffnete seinen Rucksack.

Ein abgewetzer, alter und ausgebleichter Seesack, welchen er von seinem Vater, einem ehemaligen Matrosen, bekommen hatte und breitete ungeschickt die Decke unter sich aus, die er daraus gezogen hatte.

Ich wartete bis er fertig war, ehe ich mich neben ihn setzte und aufs Wasser sah.

Dort tobten, lachten und schrien die anderen Kinder aus der Nachbarschaft und auch einige Erwachsene zogen ihre Bahnen in dem runden Gewässer.

Ein rot-gesteifter Wasserball flog immer wieder in die Luft und landete auf dem glitzernden Wasser, wenn die Kinder ihn nicht schnell genug fangen und wieder nach oben werfen konnten.

Willst du nicht ins Wasser?“hörte ich Jordan fragen, als er meinem Blick folgte und sich auf der blauen Decke ausstreckte. Seine Füßen schabten auf dem ausgedörrten Gras und er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt, die Augen geschlossen.

Nein“, meinte ich und zog meine Beine in den Schneidersitz.

Ganz wie du willst, aber wenn du quengelst, dass dir heiß ist, beschwer' dich nicht bei mir.“

Mache ich ganz bestimmt nicht“, meinte ich verärgert und plusterte die Wangen auf.

In diesen Momenten war Jordan Harper ein richtiger Blödmann und dann konnte ich ihn wirklich so gar nicht leiden.

Er bewegte sie unruhig und richtete sich dann auf, griff in den Seesack und förderte eine handvoll Kirschen zu Tage.

Willst du?“ fragte er und hielt sie mir hin.

Ich nickte freudig- und beschloss ihn wieder zu mögen.

Du weißt aber“, sagte ich, während ich den Stiel abzog, „Signora Rossi wird dich irgendwann mit ihrem Gehstock versohlen, wenn sie dich kriegt.“

Dafür muss sie mich erst mal kriegen.“

Der Tag wird kommen, Jordan“, meinte ich überzeugt und spuckte den Kern über den Deckenrand hinweg.

Wirst du nicht mehr mitbekommen, Sienna“, meinte er und spuckte ebenfalls.

Sein Kern flog nicht so weit wie meiner und triumphierend grinste ich ihn an, ehe ich begriff, was er gesagt hatte.

Wie meinst du das?“

Ich habe ein Gespräch zwischen meiner und deiner Mutter mitbekommen... die haben gesagt, ihr zieht um.“

Was“, meinte ich und Tränen stiegen mir in die Augen. Das Flieder dahinter verschwamm in einem Flut aus salzigem Wasser, „das können die doch nicht machen. Ich will nicht weg von hier.“

Sh-sh“, versuchte er mich zu trösten und tätschelte mir die Schulter, nahm mich aber in den Arm, als er sah, wie die Tränen mich übermannten.

Ich-ich-ich“, schniefte ich unverständlich, „ich hab dich doch lieb, Jordan. Ich will nicht weg von dir.“

Ach, Sienna“, meinte er und hielt mir noch eine Kirsche hin, „wir sehen uns doch wieder. Du verschwindest nicht aus der Welt..“

Beleidigt, dass es ihn das so wenig zu kümmern schien, stopfte ich mir die Kirsche in den Mund und wollte den Kern ausspucken, als er mich plötzlich anhielt.

Warte. Nimm den Kern in die Hand. Na los.“

Ich leistete seiner Aufforderung Folge und sah skeptisch zu, wie er ein Loch neben den Baum buddelte.

Komm wirf den Kern hierein. Und wenn der Kirschbaum gewachsen ist... spätestens da sehen wir uns wieder.“

Versprochen?“ fragte ich, als ich in den Kern in die trockene Erde warf und Jordan ihn mit dieser verdeckte, ehe er zum See lief und seine Hände zu einer Kuhle formte, die er mit Wasser befüllte.

Versprochen“, nickte er.

 

 

 

Irritierte wacht ich auf und blickte mit verschlafenen Augen auf. Vor diesen hingen zerzauste Strähnen meiner rot-blonden Mähne und ich strich sie mir über den Kopf hinweg, nachdem ich mich zögerlich aufgerichtet hatte.

Ich blinzelte gegen die Müdigkeit an, während mein Verstand versuchte die Situation zu erfassen, in der ich mich befand, allerdings noch viel zu sehr diesem Traum nachhing.

„Sienna“, hörte ich meinen Namen gedämpft klingen und kehrte Stückchenweise in die Realität zurück. Ich erkannte, dass ich mich in meinem Zimmer befand.

Eher gesagt in einem Zimmer.

Dieses Zimmer hier, war nicht mein Zimmer. Es war kalt,leer und leblos, beinahe steril.

Ich vermisste die Bilder an der Wand, ich vermisste die Bilder von Theo und mir und ich vermisste das Gefühl, dass sich hier einfach nicht einstellen wollte- die Geborgenheit eines Zufluchtsorts, eines Zuhauses.

Die hellen Möbel sollten Reinheit erzeugen, aber sie ließen nur kühle Distanz zu und ich fühlte mich fremder als jemals zu vor.

Ich sah eine dunkle Gestalt im dem weißen Türrahmen lehnen.

Sie war in ein dunkles, enganliegendes Gewand gehüllt- was ihr wie angegossen an ihren Körper zu passen schien- und hielt den Türgriff in der Hand.

„Sienna?“hörte ich die liebliche Stimme fragen und beobachte, wie sich das Gewand um ihren Körper spannte, als sich die Gestalt bewegte und ich spürte, wie mir das gefiel.

Das es mir gefiel, wie die Person in diesem Gewand aussah, wie weich und rau, wie nah und distanziert gleichzeitig die Stimme klang, die so besorgt meinen Namen gesagt hatte und dann zog der Hauch Meersalz in meine Nase.

Ich lächelte leicht und zerfloss wieder in meinen Gedanken, löste mich darin auf, während ich die äußeren Erscheinungen nur wie durch Milchglas wahrnahm.

Langsam ließ ich mich tiefer gleiten, als ich merkte, dass ich nicht mehr als Freude fühlte und der ganze Schmerz, welcher mit Theos Verlust einherging, verstummte.

Lächelnd ließ ich den Arm einknicken, mit welchem ich mich abstützte und lag wieder geebnet auf dem Hand, meinen Kopf in seine Schoß.

„Alles in Ordnung?“ klang seine Stimme klar in meinem Kopf.

Erneut lächelte ich dümmlich und strich mit der Hand an seinem markanten Kinn entlang, fuhr seinen Hals entlang, während ich seinen aufgeregten Herzschlag unter meinen Fingerkuppen spürte konnte und tastete mich über den weichen Stoff des Hemdes, welches er trug, ehe ich meine Hand auf seiner linken Brust zu Ruhe kam und die Finger darüberspreizte.

Da, wo mein Zeigefinger lag, spürte ich die Narbe, die schon unzählige Mal zuvor gesehen hatte und nickte.

Ich verstand nun, ehe der Schmerz süßlich durch meinen Kopf zuckte und schwarze Punkte in meinen Blick hagelte.

„Wie du es mir versprochen hast“, meinte ich in meiner Schlaftrunkenheit, die sich einfach nicht klären wollte und blickte in seine braunen, zerfließenden Augen. Ich glaubte, sie würde auf mich tropfen und schloss meine eigenen. Dieses Flieder meiner Augen könnte er niemals anlügen, das wusste ich.

Er liebte es fast so sehr, wie er Kirschen liebte.

„Wie du es mir versprochen hast“, wiederholte ich, „Jordan.“

 

 

 

Kapitel 13- schmaler Grat

 

Als ich wach wurde, fühlte ich sie bereits in mich eindringen- die Einsamkeit.

Kühl strich sie mir über die Wange und benommen blinzelte ich gegen die Traumwelt an, um in die Realität zu gelangen.

Die Dämmerung stand bereits halb in meinem Zimmer und tauchte es in ein absurdes Orange.

Alles was weiß war, und somit so ziemlich die gesamte Einrichtung, lag wie flüssige Lava vor mir und ich hörte ein Knittern ziemlich nah an meinem Ohr.

Es dauerte noch einen Augenblick länger, als ich meine Situation begriff.

Langsam hob ich meinen Kopf von den Geschichtsblättern, welche ich vor meinem Einschlafen noch gelernt hatte, und fuhr mir durch die zerzausten Haare.

Ich fühlte, wie sich die rotblonden Strähnen zu vielen kleinen Knäulen gewunden hatten und ärgerlich zog ich an ihnen bis es schmerzte und sie sich gelöst hatten.

Seufzend setzte ich mich auf und blickte schweifend durch den Raum, ehe mein Blick an der Tür hängen blieb.

Hatte ich wirklich einen Traum im Traum gehabt? Und war sogar aufgewacht? Im Traum?

Das war krass.

Kopfschüttelnd erhob ich mich.

Wieso hatte Max bitte einen Anzug getragen?

Unschlüssig stand ich im Zimmer, während mir unzählige Fragen durch den Kopf schossen und ein plötzliches Hungergefühl mich antrieb in die Küche zu gehen.

Auf meinem Weg dorthin, hörte ich bereits im Flur ein undeutliches Gemurmel.

Ich stoppte und horchte, wartete darauf, dass es sich um ein Gespräch handelte, stellte dann aber mit Bedauern fest, dass es der Fernseher war, als ich Schüsse hörte.

Langsam bog ich um die Ecke und sah, dass Max auf der Couch vor dem Fernseher saß.

In seine Hand hielt er sein Handy und tippte unruhig auf dem Display. Er schien so abgelenkt, dass er gar nicht bemerkte wie ich mich näherte.

Erschrocken zuckte er zusammen als ich mich herunterbeugte und ihn von hinten umarmte.

Hektisch ließ er den erleuchteten Bildschirm erlöschen, was ich mit Argwohn registrierte.

„Hey. Genug geschlafen?“ fragte er rau und meine Sinne wurden von seinem Meersalzduft benebelt.

„Ziemlich“, meinte ich, während ich mir die Augen rieb und über die Lehne kletterte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass er keinen Anzug trug und verscheuchte somit die letzten Zweifel, die ich wegen meinem Traum hegte.

Max trug eine karierte Pyjamahose und das altbekannte Tanktop, als ich mich in seine Arme drückte.

„Wo ist meine Familie?“ fragte ich, als ich auf den Fernseher blickte und versuchte die Geschichte des Aktionsfilm zu entschlüsseln, um dem weiteren Verlauf folgen zu können.

Ich hasste es, wenn ich die Geschichte nicht kannte.

„Essen gegangen“, säuselte er in mein Haar, während er mir gedankenverloren den Arm entlang strich.

Ich wusste nicht, ob er sich bewusst war, was er mit dieser einfachen geradezu unbedachten Geste bei mir auslöste- nämlich Herzrasen.

Vorsichtig blickte ich zu ihm hoch und sah in seinem Gesicht, auf seinen schmalen Lippen ein wissendes Grinsen blitzen.

„Wieso bist du nicht mit?“

„Ich wollte lieber hier bleiben- bei dir“, hauchte er und glättete mit dem Daumen die Falten, die sich voller Skepsis auf meiner Stirn geschlagen hatten.

Und damit hatte er mich abgelenkt.

Mit diesem verruchten Bei dir hatte er meinen Verstand soweit lahmgelegt, dass es fast ein Verbrechen war.

Er legte seine Hand an meine Wange, fuhr mir über sanft über die Lippen und schürte brennendes Verlangen in mir.

Verlangen ihn zu küssen- und zwar wild und hemmungslos. Und nicht nur mit diesem gefühllosen Druck, mit dem er mich immer zurückließ.

So ein Verlangen hatte ich schon lange nicht mehr empfunden, jedenfalls nicht ein solches, dass sich auf eine Person und nicht auf eine Substanz bezog.

Meine Hand fand ihren Weg in seinem Nacken und vergrub sich in seinem dunkelbraunen Haar.

Sein Gesicht flackerte beinahe ein wenig grotesk in dem schnell wechselnden Licht des Fernsehers und zwischen diesen Abschnitten, sah ich in seinen Augen etwas aufblitzen,was mir bis dahin immer verborgen schien.

Dass er mich ebenso begehrte.

Während er mich anblickte, zerfloss ich, näherte mich seinem Gesicht.

Stürmisch ergriff er meine Wange und zog mich zu sich. Seine leicht-rauen Hände lösten ein wohliges Prickeln auf meiner Haut aus, welches sich, als seine Lippen so ungehalten auf meine trafen, in ein Inferno verwandelte.

Ich hörte mein Herzschlag laut in meinem Kopf hämmern, während dieser langsam verklang und ich nur noch die Hitze spürte, die sich zwischen unseren Lippen entfacht hatte.

Mit einem schnellen Ruck hatte ich mich auf seinen Schoß gesetzt und vergrub mein Hand in seinem Haar, während er geschmeidig brennend die Konturen meiner Taille nachzeichnete.

Wir teilten uns die Luft, die zwischen uns Mündern heiß und hektisch raus drang, aber wir ließen nicht voneinander ab.

Meine eine Hand löste sich aus dem Gewirr an seinem Hinterkopf und glitt zu seiner Wange. Unter meiner Fingern spürte ich die kurzen Barthaare und umfasste sein Kinn fester, als es mir vorkam, es herrsche noch immer zu viel Distanz zwischen uns.

Wir beide keuchten bereits leise, aber war gewollt, ineinander zu verschmelzen, wenn es sein musste, nur damit wir endlich dieses Verlangen, welches uns nun beide gepackt hatte.

Es war wie Tanz, den unsere Lippen vollführten und wie beinahe wie ein Kampf, welchen unsere Zungen ausfochten.

Ich wollte ihn noch näher.

Ich wollte jeden Zentimeter seiner Körpers an mir spüren und keuchte leise auf, als wir uns einen Millimeter trennten.

Seine warmen Hände fuhren unter mein Shirt und ich verkrallte die Finger in seinem Kragen.

Eine angenehme Gänsehaut zog sich über meinen Körper und er wurde von einem süßlichen Schauer erschüttert.

„Ich“, hauchte er leise an mein Ohr, während er mit dem brennenden Lippen explosive Küsse auf meinem Hals zündete, „liebe dich.“

Einen Moment versteinerte ich, senkte den Blick und sah in seine verlaufenen Augen, die in der Hitze des Gefechts vollkommen geschmolzen war.

Ich blinzelte einige Male überrascht und spürte die Kälte in neu geschaffene Distanz ziehen.

Und dann klafften die Fahrstuhltüren auseinander, ehe das Geräusch einer falschen Familie an mein Ohr drang.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 14- Kontaktaufnahme

 

 

Ich wachte am nächsten Tag erst gegen Nachmittag auf.

Es war ein geduldiger Samstag, weswegen mich keiner störte und ich fühlte mich dennoch nicht genügend ausgeruht.

Seine Worte, die er mir anvertraut hatte, halten durch meine Kopf, welcher leeren und weiten Gängen glich.

Ich liebe dich.

Diese Worte waren ziemlich mächtig und damit hatte er mir einen mächtigen Schrecken eingejagt.

Als ich dann noch die Anwesenheit meiner Familie, meines Vaters verarbeiten sollte, entschied ich mich zur Flucht.

Sein ich liebe dich raubte mir in der Nacht den Schlaf. Ich konnte an nichts anderes denken, während mein Gehirn unentwegt versuchte deren wirkliche Bedeutung zu begreifen.

Es war nicht fair.

Das wusste ich.

Ich hätte wenigstens irgendetwas antworten sollen, aber ich konnte nicht.

Da wäre nichts gewesen, was ihn zufriedengestellt hätte.

Mit eine schweren Seufzer erhob ich mich aus dem Bett, das leicht unter der Befreiung der Last aufstöhnte und spürte die Hoffnung in mir aufkeimen, dass mir keiner begegnen würde.

Weder Max, noch in die Fänge meiner Familie wollte ich geraten.

Nach einer schnellen, heißen Duschen, welche die Verrenkungen meiner Gedanken lösen konnte, begriff ich, was ich zu tun hatte.

Ich warf mir den pinken Sweater über, den ich bereits im Flugzeug getragen hatte, und schlüpfte in die kurze Hose, ehe ich hastig durch die Flure eilte und das Haus verließ.

Zum ersten Mal seit einer ewig-langen Zeit alleine.

 

Sunport hatte den Vorteil, dass man immer ein Taxi bekam, wenn man eines brauchte und ich nicht mal nach fünf Minuten saß ich in einem in Richtung Übergang.

Ich wollte dahin, wo ich Theo das letzte Mal gespürt hatte.

Mein Magen zog sich brennend zusammen, als wir das Mietlager streiften und ich spürte den Schmerz in meine Glieder und Gedanken ziehen.

Die Anstrengungen, die ich auf mich genommen hatte und die dennoch vergebens waren.

Doch mein Ziel war diese alte Fabrik.

 

Gedankenverloren hielt ich mich an dem rostigen Maschendrahtzaun fest und starrte auf den Quarder-förmigen Betonklotz, um dessen Silhouette sich das orange-rote Licht der untergehenden Sonne schmiegte.

Seufzend umfasste ich die braune Tasche enger und hielt sie vor meine Brust, ehe ich mich durch das kleine Loch zwängte und auf das Grundstück trat.

Je näher ich dem Gebäude kam, desto verlassener kam es mir vor.

Ich sah die kleinen und großen Löcher in der Fassade, die das zerstörte Innenleben zeigten und musste es unfreiwillig mit mir selbst vergleichen.

Ich war dieses verdammte Gebäude.

Ich war selbst von außen nicht mehr ganz, während ich innerlich auseinander zu brechen schien, aber dennoch blieb ich standhaft stehen.

Mit einem erschöpften Lächeln trat ich auf das Dach, nachdem ich mich durch den Leib des Gebäudes nach oben geschafft hatte.

Der Wind tanzte über den Boden des Daches und scheuchte mir vereinzelt die rotblonden Strähnen vor die Augen.

Ich schloss die Augen und genoss wie die untergehende Sonne über meine geschlossene Lider leckte, ehe ich mich schwerfällig zu Boden ließ, in den Schneidersitz glitt und die brustlangen Haare in einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammenfasste.

 

Als die Sonne untergegangen war, nur noch Seicht am Horizont kratzte, öffnete ich die braune Tasche zu meiner Seite und zog eine Flasche Wodka hervor.

Ich sah auf das durchsichtige Gefäß mit der unsichtbaren Flüssigkeit und blickte erneut zum Punkt, wo sich Himmel und Erde berührten.

„Hey Theo“, meinte ich und legte meine Hand an den Deckel der Flasche, ehe ich mich zurechtrückte und meine Beine bequemer positionierte.

Ich fühlte, wie sich kleine Steine, Dreck und Sand an meiner Haut festsetzten, aber ich störte nicht daran.

Und dann wartete ich.

Nur einen Herzschlag lange, bis es dunkel wurde.

Die ersten Lichter der Stadt leuchteten auf, schienen aber Kilometerweit entfernt.

Jetzt war es soweit.

Er war da.

Ein erneuter Windhauch spielte um meinen gesamten Körper, zog in meine Haut und sich mich schaudern, zog bis in mein Herz, ergriff meine Seele- Theo.

„Hi“, lächelte ich und verschloss die Flasche wieder und öffnete die Flasche, von einem Knistern begleitend, und hob sie hoch, ließ den Wodka auf den schmutzigen Boden, in einer waagerechten Linie vor mir auslaufen und sah zu, wie sich diese Stelle dunkel verfärbte.

Der beißende, beinahe aggressive Geruch des Wodkas ignorierte ich und lächelte.

„Ich hab dir deinen Lieblingswodka mitgebracht. Du hast nie gerne ohne einen Drink geredet“, meinte ich und verschloss die Flasche, verbannte den Gestank, hielt sie jeder umklammert.

„Wir haben eine Weile nicht geredet“, meinte ich und blickte zum Himmel, auf dem sich erste Sterne abzeichneten, „und eigentlich weiß ich gar nicht, wo ich hinschauen soll. Oben oder unten. Ich weiß es nicht.

Nicht, dass ich glaube, dass du in der Hölle bist, aber ich glaube auch nicht, dass du im Himmel bist. Ich habe den Glauben an das Göttliche verloren, als ich dich verloren habe.

Vielleicht bist du ja in irgendeiner Art Zwischenwelt- irgendwo im Horizont. Denn dass du für immer weg bist, will und kann ich nicht glauben, dass du zu weit und unerreichbar weg bist.

Dafür spüre ich dich viel zu sehr- jetzt und auch sonst immer.

Das mag nun vielleicht egoistisch klingen, aber ich will nicht, dass du glücklich bist.

Denn ich bin es nicht.

Ich bin es nicht mehr gewesen, seit du in dieser Nacht diese verdammte Line gezogen hast und du bist ein verdammtes Arschloch.

Ja, du bist ein verdammtes Arschloch, weil du diese Line gezogen hast. Du könntest jetzt noch hier sein.

Aber das ist nicht der Grund, warum ich nicht will, dass du glücklich bist.

Solltest du glücklich sein, Theo van Dam, dann bist du ein gottverdammter Lügner.

Dann kann das, was du mir gesagt hast, was du für mich empfindest nur eine Lüge gewesen sein.

Denn wenn du glücklich bist, dann hast du nicht gefühlt wie ich und du würdest nicht so sehr leiden wie ich.

Ich hoffe, dass du leidest, damit es nicht gelogen war.

Und ich weiß, es ist noch egoistischer, weswegen ich nun hier bin.“

Seufzend legte ich mich nach hinten und starrte in den immer dunkler werdenden Himmel.

„Wann wusstest du, dass du mich liebst? Dass du mich aufrichtig liebst? Dass du mich so verzehrend liebst, wie du es getan hast?Denn ich kann nicht anders geliebt werden.

Ich kann nicht anders geliebt werden, als du mich geliebt hast, wie du mich liebst.

Und glaubst du Max tut es? Ich meine, mich so lieben, wie du es tust?

Denn für alles andere wäre es nicht wert weiterzumachen.

Denn für alles andere wäre es einfach nicht wert.

Ich weiß, ich kann dich nicht ersetzen. Ich tue es auch nicht, aber ich glaube, ich liebe ihn.

Nicht so wie dich geliebt habe, aber ich glaube ich liebe ihn.

Aber ich habe Angst.

Ich habe Angst ihn zu lieben, weil ich dann nicht mehr leiden würde.

Und wenn ich nicht leide, habe ich Angst, du könntest glauben, dass was ich gesagt hätte, wäre eine Lüge gewesen.

Aber ich habe nicht gelogen.

Das wollte ich dir sagen, deswegen bin ich hier.

Selbst wenn ich aufhöre zu leiden, höre ich nicht auf dich zu lieben.

Und ich möchte nicht mehr leiden.

Es tut weh und ich habe die Schmerzen so lange getragen, wie ich konnte.

Ich kann nicht mehr, Theo.

Ich bin müde.

Wenn ich noch länger leide, werde ich zu dir kommen.

Das willst du nicht, ich weiß.

Also liebe ich ihn. Nicht so wie dich, aber ich tue es.

Und er heilt mich.

Ich könnte ihn aber nicht lieben, wenn ich wüsste, dass du dann leidest.

Daher musst du mir sagen, ob du leidest.“

Ich horchte in die Nacht und hörte die Stadtgeräusche an mein Ohr dringen.

Und dann schloss ich die Augen, hielt den Atem an und gab mich dem Wind hin.

Er flüsterte und säuselte um mein Ohr, liebkoste meine Wangen und strich um meine Lippen.

Und dann verklang er.

„Danke.“

Vorsichtig richtete ich mich auf, öffnete den Pferdeschwanz und fuhr mir durchs Haar, ehe ich mein Handy zuckte.

Ich wählte die Nummer und wartete die drei Rufzeichen, ehe ich eine Antwort bekam.

„Hey, ich bins. Kannst du mich abholen?“

 

 

Es dauerte eine schiere Ewigkeit bis er kam.

Beinahe war ich auf diesem Dach eingeschlafen, als ich leise Flüche an mein Ohr dringen hörte.

Der Wind, der um mich säuselte, schien zu verschwinden als ich Max endgültig durch das Loch im Dach treten hörte.

„In welch weit entfernte Galaxien verziehst du dich?“ hörte ich in die Nacht fragen.

Es war dunkel, aber nicht finster hier oben und ich sah, dass ein Lächeln sein Gesicht zierte.

„Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dich nie wieder zu sehen“, meinte er belustigt.

Ich hatte noch immer nichts gesagt, erhob mich nun aber langsam und sah ihn an.

„Ich scheine dich ja ganz schön erschreckt zu haben. Das war nicht meine Absicht“, entschuldigte er sich und ich schritt über die Distanz, die uns noch trennte.

Sofort wurde mein Körper warm, von ihm angezogen und ich spürte, wie mir heiß wurde.

„Ich wollte dich nicht überrumpeln, aber in dem Moment... ich weiß nicht. Kennst du es nicht, wenn es einfach über dich kommt... weil es so vertraut ist... weil es sich so vertrau-“, ich fiel einen Schritt vor und stoppte seine wirren Gedanken mit meinen Lippen.

Langsam legte ich meine Arme um seinen Hals, während er mich an der Taille näher zog.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich in einer keuchenden Atempause.

Für einen Herzschlag war die Welt gleißend hell.

Seine Augen zersprangen und dann sah ich die tausend Geheimnisse, die er dahinter verborg.

Ich sah sie, wenn ich sie auch nicht zu entschlüsseln wusste und ich vergaß darüber nachzudenken, als seine Lippen mit meinen verschmolzen.

Eins wurden und wir in Flammen aufgingen.

Und dann als ich mich hingab, an nichts mehr dachte, kam es mir.

Ich hatte genau das hier schon mal erlebt.

Im nächsten Augenblick wurde die Welt schwarz, als die Erinnerungen mich erschlugen.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 15- Erkenntnis

 

Dürfen wir hier überhaupt hoch?“ fragte ich skeptisch, als ich durch die Rauten des Maschendrahts blickte und die zerfallene Fabrik sah.

Vielleicht fürchtete ich mich sogar ein wenig von dem Verbotenen, aber dann spürte ich seine Hand, die meine suchte.

Gleißend heiß überfuhr mich ein gleichzeitig so kalter Schauer über den Rücken und ein wohliges Kribbeln stieg in meine Bauchgegend.

Natürlich. Das ist die ehemalige Firma meines Dads. Das Grundstück gehört immer noch der Familie Harper, Cherry.“

Ich sah, wie er durch das Loch im Zaun kletterte und mich dann auffordernd ansah.

Seine braunen Augen blitzten gefährlich und mein Herz machte einen Sprung.

Willenlos stieg ich ihm nach, ehe er meine Hände ergriff und mich mit einem kräftigen Schwung nah zu sich zog.

Unsere Nasenspitzen berührten sich, während er mir mit seinem Daumen über die Lippen fuhr und mir ein leichtes Wimmern entfloh, dass er mit seinen Lippen bestens zu verklingen lassen wusste.

Dieser kurze Kuss ergriff meinen ganzen Körper.

Leise lachend, wohl wissend was er bei mir ausgelöst hatte, entzog er sich mir und fuhr sich durchs braune, schon sowieso zerzauste Haar.

Gott, wie ich diese Geste liebte.

Komm. Ich war schon eine Ewigkeit nicht mehr dort drin und wenn wir uns nicht beide Beine brechen wollen, sollten wir da lieber hoch, solange noch Licht ist.“

Er lief vor, während ich zunächst meine Gedanken ordnen musste, um den Befehl für 'gehen' zu finden.

Hey Jordan!“ rief ich ihm hinterher, „warte doch!“

Er drehte sich um, das Blitzen zog erneut durch seine Augen und dann ging er weiter.

Hastig zog ich meinen Schritt an und hatte ihn eingeholt.

 

Umklammert hielt ich seinen Oberarm als er mich nach oben führte.

Uns gegenüber lag die City von Sunport, im schönsten Licht des Sonnenuntergangs umflutet.

Ich glaube, ich war noch nie soweit oben und habe so tief auf die Stadt herunter gesehen.“

Bist du dir da sicher?“ hörte ich fragen und spürte wie er mir eine Strähne aus dem Gesicht strich und mir zwei Joints unter die Nase hielt.

Du bist ein Traum Jordan Harper“, lachte ich und ließ mich auf den Boden nieder.

Ich bin dein Traum“, meinte er amüsiert und glitt neben mich, ehe er die Joints ansteckte und daran zog.

Das ist wohl wahr. Du bist mein Traum, seit du nicht mehr eklig gewesen bist“, sagte ich und küsste ihn, während er den Rauch in meinen Mund fließen ließ.

Das war dann letztes Jahr?“ fragte er stichelnd und legte den Arm um mich, sodass ich mich an seine Brust schmiegen konnte.

Nein, an dem Tag, als du diesen Baum für mich gepflanzt hast und an jeden anderem Tag, an dem du mir Kirschen gestohlen hast“, flüsterte ich und nahm einen tiefen Sog.

Ich verliebe mich mehr und mehr in dich“, hauchte er.

Ich sah auf und konnte sehen wie sich das warme Orangelicht in seinen braunen Augen spiegelte.

Das solltest du aber nicht“, widersprach ich leise.

Ich kenne Theo. Wir sind- glaube ich- so was wie Freunde. Du kannst Theo noch so wahnsinnig lieben und ja, er liebt dich auch, aber er kann sich nicht kontrollieren. Weder seinen Konsum von Drogen, noch seinen Konsum von Frauen.“

Ist es aber richtig, dass das hier mit dir tue?“fragte ich und küsste ihn kurz, erneut glitt Rauch in meinen Mund.

Nein, aber es ist Teil eures Deals. Und stell dir vor, wir hätten uns alljährliches Wiedersehen nicht-“

Ich würde zerbrechen, Jordan“, unterbrach ich ihn und blickte ihn an.

Theo ist nicht der Held, den du in ihm siehst. Theo hat Viola auf dem Gewissen und das weißt du.“

Viola“, meinte ich leise und wurde traurig.

Okay tut mir leid. Wir müssen den Scheiß nicht wieder durchnehmen, den wir vor einem Jahr hatten.“

Ich nahm einen kräftigen Zug an dem Joint und blies sich in sein Gesicht.

Es tut mir leid“, meinte ich, „hätte ich euch vor zwei Jahren nicht Theo vorgestellt, würde sie vielleicht noch leben. Theo hat mich in die Drogen geführt- in eine Welt voller bunter Sterne, in der mein Vater mich liebt, und ich habe dich mit in den Abgrund gezogen- ganz zu schweigen von Viola.“

Die Sonne war hinter den Wolkenkratzern verschwunden und leckte am Horizont.

Ich wusste, es würde nur noch wenige Minuten Tag bleiben und dann würde er wieder gehen- zurück nach Norwegen.

Und dann... dann hätte ich dich fast verloren, Jordan“, meinte ich und strich über die Narbe auf seiner Brust. Auch wenn ich sie eigentlich unter dem dicken Stoff seiner Weste nicht spüren konnte, fühlte ich genau, wie sie sich unter meinen Finger wölbte.

Bist du jetzt still?“ fuhr er mich grob an und drückte den Joint neben sich auf dem dreckigen Boden aus.

Du hast gerade so überlebt. Geradeso überl-.“

Ich liebe dich“, unterbrach er mich harsch und ich sah ihn erschreckt an.

Du tust was?“ fragte ich und spürte mein Herz im Hals schlagen.

Ich liebe dich“, wiederholte er nun ruhiger und ich rutschte von ihm ab, betrachtete ihm im Ganzen und dann stützte ich zurück zu ihm.

Ich liebe dich“, flüsterte ich und spürte, wie wir unsere Lippen quälend langsam aufeinander legten, jegliche Distanz, die zwischen uns lag, überbrückten.

Meine Hände verkeilten sich in seinen Haaren und er zog mein Gesicht noch näher zu.

Gott, ich liebte ihn so sehr.

 

 

 

„Sienna?“ hörte ich seine Stimme wie in Watte gepackt an mein Ohr dringen.

Ich spürte sein Gesicht noch immer an mir, spürte seine Hand an meiner Wange und sah den besorgten Blick in seinen Augen.

Aber alles war kalt.

In meinem Inneren tobte ein Chaos.

Ich wusste nicht einmal mehr, wie ich hieß.

Alles brach auf mich nieder, ich hörte, wie scharf mein Atem ging, wie wenig Luft in meine Lungen drang und wie ich drohte das Bewusstsein zu verloren.

Den Verstand hatte ich schon verloren.

In mir, kämpften hunderttausende Gefühle über die Oberhand.

„Bring mich Heim“, mit verschwommenen Blick sah ich ihn an, „bring mich einfach Heim.“

Er nickte.

Und dann verlor ich neben dem Verstand, dennoch mein Bewusstsein.

 

Kapitel 16- Irrgarten

 

 

Als ich wieder zu mir kam, war es noch immer dunkel, aber ich in meinem Bett.

Leer lief ich zu meiner Zimmertür, hinaus auf den Gang.

Ich fühlte mich verlorener, einsamer und ängstlicher als jemals zuvor.

Ich schien wieder zu wissen, wer ich war, oder wer ich gewesen sein soll.

Und erneut war ich eine Fremde in meiner eigenen Haut, die das Leben einer anderen Person lebte.

Aber dieses Mal wusste ich, dass ich es war, fühlte es mit jeder Faser meines Körpers.

Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, dass Erinnerungen wiederkamen, die ich gar nicht glaubte vergessen zu haben, oder in Panik verfallen sollte, weil sie mich an alles erinnerten.

Mein Kopf tat weh, fühlte sich an, als wäre explodiert und dennoch unendlich überfüllt.

Da waren Gefühle, starke Gefühle für eine Person, an welche ich glaubte, nur Erinnerungen zu haben, aber in Wirklichkeit, Leidenschaft geteilt hatte.

Und dann waren da Gefühle, die ich glaubte zu haben, die ich mir aber nur vorgemacht hatte.

Ich fühlte mich, als hätte ich mich die letzten Monate belogen und mein wahres Ich verborgen.

War ich ein so schlechter Mensch, dass mich selbst nicht mehr akzeptieren konnte, dass ich mich selbst verbannte, um mich zu retten? Dass ich mir fremd werden musste, da ich mich nicht mehr selbst ertragen konnte?

Tränen flossen mir seit dem Aufwachen still über die Wangen.

Dies schien das Einzige zu sein, wozu ich noch fähig war.

Alles in mir war taub, irgendwie abgestürzt.

Zu den eigentlich-kalten Fliesen spürte ich zu meiner Körpertemperatur keinen Unterschied.

Stillschweigend brach ich durch die Tür in das Zimmer meiner Eltern ein.

Ich sah, zwei Silhouetten im Bett auffahren, hörte Flüche leise an mein Ohr dringen und wurde geblendet von dem hellen Licht der Nachttischlampe.

„Du meine Güte!“ rief meine Mutter aus, „Sienna!“

Ich lehnte mich an den Türrahmen, als ich nicht mehr stehen konnte und grinste dümmlich, als ich meine Mutter sah.

Sie sah nicht gut. Ihre Haare lagen ihr zerzaust auf dem Kopf und unter ihren Augen glänzte eine Anti-Falten-Creme.

Mein Vater sah mich nur verstört an und schien, im Grunde genommen, desinteressiert.

Auch seine blonde Haare waren zerzaust, aber sonst sah er gut aus. Mein Vater war ein gutaussehender Mann.

Wie sollte er sonst die ganzen 23-jährigen Flittchen rumbekommen.

Erneut grinste ich, während mir die Tränen unentwegt über die Wangen liefen. Ich spürte, wie meine Nase zugezogen war und wie geschwollen meine Augen sich anfühlten.

„Sienna?“ hörte ich meine Mutter aus der Ferne fragen, „was ist los?“

„Mama“, meinte ich und klappte zusammen, fiel auf die Knie und spürte nicht einmal den Hauch von Schmerz.

„Oh Gott, Sienna!“ rief meine Mutter aus und ich sah auf dem Augenwinkel, wie sie sich den Morgenmantel umband und auf mich zu hechtete.

„Was ist passiert.“

„Sag du es mir, Mama“, flüsterte ich und begann zu schluchzen.

Lauthals und grausam zu schluchzen.

Ich verschluckte mich und hustete, begann wieder zu schluchzen.

Und dann spürte ich, wie sich meine Mutter zu mir auf den Boden legte und mich zu sich zog.

Mit ihren langen, dünnen Fingern strich sie mir lieblich die Strähnen aus dem Gesicht und ich fühlte mich meiner Mutter näher als jemals zuvor, geliebter als jemals zuvor.

Mein Körper wurde von einem erneuten Beben erschüttert und meine Mutter lag einfach nur da, streichelte mich und versuchte mich in ihrer Hilfslosigkeit zu trösten.

Sie lag da, bis das Schluchzen verklang und das Beben verebbte.

„Mama“, meinte ich, „was ist mit mir passiert?“

 

Vorsichtig half sie mir auf, blickte nach hinten und sah, dass mein Vater sich abgewendet hatte und versuchte zu schlafen.

Ich nahm es ihm nicht übel.

Er interessierte sich so sehr für mich, wie er noch immer getan hatte- nämlich gar nicht.

Es wäre falsch von ihm gewesen, wenn er aus der Rolle gefallen und ein guter Vater gewesen wäre.

Ich hätte ihm doch sowieso nicht geglaubt.

Sie stützte mich in die Küche, stellte mir ein Glas Wasser hin und fuhr mir mit übers Gesicht- versucht die Tränen aus meinem Gesicht zu wischen.

Ich hatte aufgehört zu weinen, weil ich mich irgendwie so leer fühlte.

Nicht mehr einsam- ich hatte meine Mutter- aber leer.

Langsam griff ich nach dem Glas, als ich wieder in die Realität zurückfand und mein Blick sich klärte.

Kühles Licht fiel gegen die schwarze Hochglanzfront der Küchenzeile und ich hatte meine Probleme, meine Mutter in dieser Landschaft zu finden.

Und dann sah ich sie.

Sie stand ausdruckslos gegen die Arbeitsplatte gelehnt und sah mich.

Ich seufzte, was sie als Startschuss verstand.

„Nach dem Tod von Theo, hatten wir dich bewusstlos in eurem Lager, neben seiner Leiche, gefunden“, ihre Stimme versagte und sie setzte erneut an, „wir brachten dich ins Krankenhaus, wo man Crack in deinem Blut fand. Nach ein paar Tagen, als du wieder gestärkt warst, besuchten wir und du... du... erkanntest uns nicht.“

Ein Schluchzer entfuhr ihrer Kontrolle und sie hielt sich die Hand vor den Mund, als müsse sie sich gleich übergeben, „aber es hielt nur wenige Sekunden an und wir waren erleichtert. Der Arzt diagnostizierte bei dir jedoch, retrograde- selektive Amnesie mit Symptomen des Korsakow-Syndroms.“

„Retrograde-selektive Amnesie?“ fragte ich tonlos.

„Ja, du hast nur ausgewählte Personen und damit verbundene Ereignisse vergessen.“

„Du meinst, Jordan und Viola Harper und unsere Zeit in New Mour?“

Sie nickte, „genau. Wir haben es herausgefunden, als wir dir Fotoalben zeigten. Du konntest dich an viel, fast alles erinnern, außer eben an Details aus New Mour und Jordan und Viola.“

„Wieso konnte ich mich an Theo erinnern und seinen Tod, der wohl Auslöser sein musste?“

„Ich weiß es nicht, Schatz“, meinte meine Mutter, „aber vielleicht ging die Beziehung zu diesen beiden tiefer. Obwohl ihr den Kontakt verloren habt, schon in New Mour.“

Sie schüttelte nachdenkend und zweifelnd den Kopf.

„Die Idee deines Vaters war es“, meinte sie, „dich nach New Mour zu schicken, um deine Erinnerungen zurückzubringen, aber ich habe mich geweigert. Ich hielt es für besser dich zunächst in Unwissen zu lassen, aber dann fragte Max mich wegen einem Praktikum an. Als er erwähnte, dass er Jordan und Viola kannte, sah ich das als Möglichkeit, dich vorsichtig wieder an diese Moment heranzuführen.

Offensichtlich hat es funktioniert.“

Ich starrte sie an, während alles wieder dunkel wurde und ich nicht wusste wohin, mit der Fülle an Informationen, die ich erhalten hatte.

„Danke Mama...ich muss jetzt... ich...muss....jetzt...irgendwie...ich...weiß...nicht. Ich gehe“, kündigte ich stammelnd an und huschte in den Gang.

Zwei Türen, welche zu Schlafzimmer führten, waren noch geschlossen.

Die von Jonathan und die von Max.

Ich entschied mich für seine.

 

Kapitel 17- Alter Ego

 

Ich empfand es als seltsam in seinem Zimmer zu stehen.

Nichts schien mich mehr zu irritieren, als diese Tatsache, also harrte ich im Türrahmen aus und starrte in das Zimmer.

Eigentlich war es unmöglich, dass er schlief.

Nicht nach dem Schluchzen, mit welchem ich die Wände hatte beben lassen.

Aber das Licht, welches von dem großen Panoramafenster fahl in sein Zimmer leuchtete, fiel auch auf sein Gesicht.

Er sah so friedlich aus, wie er schlief.

Mit leicht geöffneten Mund und federleicht geschlossen Augen lag er auf dem Rücken und hatte seinen Arm seltsam verkehrt unter diesen gedreht.

Ich seufzte und sog das Bild von ihm auf, bis in mein ganzer Kopf davon überfüllt war.

Nur mit seinen braunen Augen, mit seinem braunen Haar, seiner Art zu sprechen, mit einem Lächeln, das in seinem linken Mundwinkel immer ein wenig schief hing und mit der Art, wie er ich ansah, wenn er sagte, dass er mich liebte- immer und immer wieder.

Gott, ich hatte ihn vermisst- und ich hatte ja gar keine Ahnung wie sehr.

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass mein Herz zerbrechen würde und ich dann sterben müsste.

Nicht so wie Theo starb, sondern tausend Tode mehr und nach jedem würde ich auferstehen und erneut sterben- wie ein Kreislauf.

Mein Füße schmatzen auf den Fliesen, die langsam begannen wieder kalt unter meinen Fußsohlen zu werden und ich glitt an das Fußende seines Bettes.

Und dann war da wieder diese Anziehung, dieses unmenschliche Verlangen ihn zu berühren.

Ich kannte es nur aus einer vergessenen Erinnerung, wie es sich anfühlte, aber dann spürte ich wie sich meine Hände daran erinnerten.

Wie es sich anfühlte über seine leicht stoppelige Haut ums Kinn herum zu fahren und dann kam mir jede Berührung, welche die Nerven meiner Fingerspitzen je in Verbindung mit seiner Haut erfahren hatte und es übermannte mich.

Ich schnappte nach Luft, spürte wie mein Herz krampfte und sah mit panischen, fliederfarbenen Augen auf ihn in die Nacht- aber er schlief.

Erleichterung bröckelte wie Steine von meinem Herz und ich rückte auf.

Ich konnte die Wärme, die sein ruhender Körper aufstrahlte auf jedem Zentimeter meines Körpers spüren und spürte, wie sich mit die Haare zu Berge stellten und ein Schauer über mich rollte.

Langsam ebnete ich mich, glitt neben ihn und sah ihn an.

Im Profil erkannte ich sein markantes Kinn, seine gerade Nase und seine leicht eingerückte Stirn.

Ich fragte mich, wie ich all das vergessen konnte.

Wie ich etwas vergessen konnte, dass ich so sehr geliebt hatte? Das ich so sehr liebte?

Ich zog die Beine an und betrachtete seine schmalen Lippen, die leicht offen standen und erinnerte mich daran, wie er mich mit ihnen geküsst hatte.

Ein kurzer fester Druck, wenn er mich zum Schweigen bringen wollte. Ein sanftes Aufsetzen, wenn er mich begrüßte und ein langes, verschmelzendes Aufeinanderlegen, wenn er sich verabschiedete- immer und immer wieder.

Leise flüsterte ich in die Nacht: „Ich...“ und brach ab, schluckte schwer, „ich hasse dich.“

Und dann fuhr ich mir mit bebenden Fingern an die Lippen, ehe ich mich hastig auf den Bauch rollte, sodass ich ganz nah- ihn sogar anstieß- zu ihm gelang.

Ich stützte mich auf meinen Unterarmen ab und sah ihm dabei zu wie er aus seinem Traum, wie ich aus dem Leben gerissen wurde.

Hoffentlich hatte er gut geträumt, denn gleich würde sich sein Leben, wie meines ,in einen Alptraum verwandeln.

Irritiert flackerten er seine Lider und er sah mich mit seinen braunen Augen an, hinter denen ich noch immer ein Geheimnis vermutete.

„Max“, meinte ich und stupste ihn an, als er wieder die Augen schloss.

Erneut öffnete er sie, sah mich an und schien mich zu erkennen und lächelte leicht.

Hatte es ihm auch so viel Spaß gemacht mir dabei zu zu sehen, wie ich mich nicht an mich erinnern konnte?

„Hey“, meinte er mit verschlafener Stimme und ich spürte seine Hand, die an meiner Wange hinabglitt, „wie geht’s dir? Du hattest einen ganz schönen Kreislaufkollaps da oben auf dem Dach.“

Lügner.

Verdammter Lügner.

Ich versuchte nicht zu amüsiert auszusehen, als ich lächelte und in sein Laientheater mit einstieg: „Ja, ich hatte den ganzen Tag über nichts getrunken.“

„Und ich dachte schon, dass dich mein 'ich liebe dich' so aus der Bahn geworfen hätte“, meinte er und mich zu sich, sodass ich beinahe seinen Herzschlag hören konnte. Er klang um einiges aufrichtiger als seine Worte.

„Nein“, meinte ich gedankenverloren und richtete mich leicht auf, damit ich ihm in die Augen sehen konnte.

Max stürzte sich ebenfalls auf seine Unterarme und sah mich durch die Nacht, die sich zwischen uns gedrängt hatte, hinweg an.

„Alles in Ordnung?“ fragte er und runzelte die Stirn, zog seine Augenbrauen zusammen und ich nickte nur, war ziemlich unfähig zu sprechen.

Ich ließ mich nach vorne fallen und küsste ihn.

Für einen Augenblick lang schien er mit der Situation überfordert, aber dann umfasste er mit beiden Hände meine Hüfte und zog mich näher zu sich, begann mit seinen Händen an meiner Silhouette entlang zu fahren und seine Lippen mit meinen zu vereinigen.

Unsere Zungen fochten miteinander, als ich mein mich endgültig über ihn schwang und mich leicht keuchend von ihm riss und mich auf ihm nieder ließ.

Hastig hoben und schenkten sich meine Schultern und bekamen dennoch nicht genug Luft.

Mit dem Ohr ruht auf seiner Brust und konnte den Herzschlag eines geschädigten Herzens hören, während ich stoßweise die Luft aus meinen Lungen gleiten ließ.

Nun konnte ich auch verstehen, was er mit vertraut meinte.

Gott, es war nicht nur vertraut, es war Teil meiner DNA.

Ich war verdammt ihn zu lieben und zwar mit jeder Faser meines Körpers- und das jagte mir unglaubliche Angst ein.

Wir waren wie einziger Organismus.

Wie hatte ich es also geschafft nur einen Moment ohne ihn zu leben?

Und dann verstand ich, warum ich ihn vergessen hatte.

Ich hatte ihn zu sehr geliebt und ich liebte ihn zu sehr.

Ich musste ihn vergessen, um zu leben und um zu heilen.

„Was ist mit dir passiert, Sin?“ fragte er und strich behutsam mein Rückgrat entlang.

„Ich weiß es nicht“, meinte ich und fuhr über die Narbe auf seiner Brust, „aber es war nie meine Absicht dich beinahe zu töten.“

„Was meinst du?“ fragte er hörbar irritiert, versteifte aber unter mir und hielt die Luft an.

„Damals in New Mour“, meinte ich und schloss die Augen.

Er lachte- und es klang verkrampft, „ich habe keine Ahnung, was du meinst.“

„Ist es dir eigentlich schwer gefallen?“ fragte ich und robbte mich von ihm.

„Sienna?“ fragte er und setzte sich auf.

„Ob es dir schwergefallen ist, so zu tun, als würdest du mich nicht lieben?“ fragte ich und richtete mich ebenfalls auf, starrte ihn an.

Misstrauen glänzte in seinen wachsam geschärften Augen.

„Oder mir dabei zu zusehen, irgendjemand anderes zu werden?“

Ich grinste.

„Oder dabei, wie ich mich in einen anderen verliebte?“

Seine Miene verfinsterte sich und ich musste laut auflachen.

Wieso zur Hölle lachte ich nun?

„Aber ich habe dabei“, meinte ich und seufzte, „die ganze Zeit nur dich geliebt ,Jordan. Auch wenn ich nicht einmal wusste, wer du warst.“

Und dann fielen ihm die Lügen aus dem Gesicht, flossen aus seinen braunen Augen und tropften aufs Bett.

Aber ich wollte sie aus seinem Mund hören.

„Sienna“, meinte er tonlos.

 

 

Er war wütend, aber ich wusste-mindestens genauso gut wie er selbst- dass er es nicht sein durfte.

Und dennoch fühlte ich mich unendlich schlecht, während er mich mit zornigen Blick beobachtete und erneut wurde mein Körper von den angenehmen, aufregenden Schauer überrannt, der durch seine braunen, plötzlich so gefährlich-wirkenden Augen ausgelöst wurde.

Mit einem tiefen Seufzer beugte er sich in dem Sessel, in welchem er saß , vor und vergrub verzweifelt das Gesicht in den Händen.

Hastig wollte ich einen Schritt auf ihn zu treten, aber dann schoss sein Blick wieder auf mich, so dass ich in der Kälte seiner Augen erstarrte und stattdessen den Kopf senkte.

Ich hatte nichts getan, wofür ich diesen Blick verdient hatte.

Und als mir das bewusst wurde, verschränkte ich verärgert die Arme vor der Brust, traute mich aber nicht den Blick zu heben.

Wie heißt er?“ fragte er ohne jegliche Rührung in der Stimme, vielmehr triefte sie geradezu vor Abneigung.

Das ist nicht fair, Jordan“, meinte ich.

Ich will seinen Namen wissen“, schallte seine Stimme laut und prallte gegen die Wände und auf mich ein.

Du kennst ihn bereits“, flüsterte ich leise und sah Jordan an.

Wenn es Theo van Dam ist, schwöre ich dir Sienna, siehst du mich nie wieder.“

Ich schwieg und spürte, wie sich die Tränen in meinen Augen sammelten und wie das Schluchzen meinen Körper erschütterte.

Mit einer routinierten Bewegung klemmte ich mir eine rotblonde Strähne hinters Ohr und verkrallte meine Hände erneut in meinen Armbeugen, sodass sie die Haut um die Griffe rot von meinem blassen Teint abhob.

Theo van Dam“, wiederholte er leise, schloss die Augen und ich sah, wie er schwer ausatmete ehe er sich durchs dunkelbraune Haar raufte und fuchsteufelswild aufsprang.

Er trat fest gegen den Billigsessel aus beigen Kunstleder, sodass dieser gegen den spartanischen Holztisch knallte und ihn mit sich zu Boden riss.

Für einen Moment war alles unglaublich laut, aber dann wurde es still.

Viel zu still und ich hörte mein Blut in meinen Ohren pulsieren, meine Gedanken in meinem Kopf rasen.

Jordan hatte noch immer seine Hände in seinen Haaren verkeilt, hatte sich aber von mir abgewendet und starrte aus dem Fenster seines Hotelzimmer auf eine schäbige Aussicht auf die Bürogebäude von Sunport.

Langsam ließ er die Arme sinken und verschränkte diese vor der Brust, während ich nur still da stand und ihm dabei zu sah.

Ja, in diesem Augenblick kam ich mir verdammt dumm vor.

Liebst du ihn?“ fragte er leise und seine Stimme zitterte.

Nein“, meinte ich und runzelte die Stirn, „natürlich nicht.“

Er hat Viola auf dem Gewissen.“

Ich sagte, doch“, meinte ich störrisch, „ich liebe ihn nicht.“

Ist es dir egal?“ fragte er und ich hörte erneut die verebbten Zorn in seiner Stimme aufbäumen sah sich seine Armmuskel verspannten.

Viola hat sich selbst die OD verabreicht. Es war Selbstmord mit dem goldenen Schuss, Jordan. Es trägt keiner die Schuld“, meinte nun ich unterkühlt und blickte um mich, ehe ich meine Tasche unter dem Sessel erkennen konnte.

Das ist deine Ansicht der Dinge“, sagte er starr und sein ganzer Körper verkrampfte.

Ich sah, wie er auf Anschlag gespannt war.

Vorsichtig zog ich sie darunter hervor und seufzte, ehe ich mein Aussehen im Spiegel, der an der Wand über der zerstörten Tischgruppe hing, prüfte und erschrak.

Meine fliederfarbenen Augen waren rot verquollen, von den unbewussten Tränen, die sich in glänzenden Schlieren über meine Wangen zogen.

Ich liebe dich, Jordan“, meinte ich und wartete auf Erwiderung.

Das ist der Grund, wieso du Theo küsst.“

Soll ich im Zölibat leben?“ fuhr ich ihn an.

Das richtige Wort hier ist Monogamie.“

Er drehte sich herum und ich sah das amüsierte Blitzen in seinen braunen Augen, das so gar nicht zu der versteinerten Miene seines restlichen Gesichtsausdruck passen wollte.

Bist du in ihn verliebt?“ fragte er, als er bemerkte, dass ich ihm auf seinen Seitenhieb nicht antworten würde.

Vielleicht ein wenig“, gab ich zu und sah ihn an. Es fiel mir schwer seinem verurteilenden Blick standzuhalten.

Bist du in mich verliebt?“

Ich bin nicht einen Tag meines Leben nicht in dich verliebt gewesen“, meinte ich und lächelte leicht, „werde ich niemals nicht sein.“

 

Wir sahen uns schweigend in der Nacht an.

Sein schweres und doch so tonloses Aussprechen meines Namens hing zwischen uns und sog das Leben aus meiner geschundenen Seele.

Mit erblassten Augen blickte ich in seinen ehrlichen, braunen Augen. So ehrlich, wie ich sie seit einer ewiglangen Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Ich wartete darauf, dass irgendetwas passierte.

Und dann passierte er.

Jordan, oder Max oder wie auch immer ich ihn nun nennen sollte, stürzte sich auf mich.

Mit einer zweifellos-unangebrachten, aber völlig animalischen Begierde presste er seine Lippen auf meine. Mein Rücken gab nach, sodass wir geebnet auf dem Bett lagen, während wir in Flammen aufgingen.

Seine Hände berührten jede Stelle meines Körpers, mein Hals brannte von seinen, gehauchten Küssen und endlich fühlte ich mich nicht in der Kälte zurückgelassen.

Ich fühlte mich vollkommen, als ich begann mich mit ihm aufzulösen und Teil etwas Größeren zu werden.

Teil von etwas, dass es mit Worten allein nicht ausdrücken war.

Ich wollte am liebsten nie wieder atmen, wenn es nicht der Geruch von Meersalz und ihm war.

Während wir in der Unendlichkeit unserer Sekunden-andauernden Ewigkeit untergingen, stieß ich ihn auf einmal weg.

Ich stieß ihn in dem Moment weg, als die letzte Ecke meines verschollenen Ichs hervorlinste und das Entsetzen, das sie mir offenbarte, würde ich nicht verkraften können.

 

Dumpfe Bassklänge drangen an mein Ohr, während ich mit verklärten Blick aus dem Club stolperte.

Mir war schlecht und ich wusste, dass ich mich jede Sekunde übergeben würde.

Dankend stützte ich mich gegen die Wand und schleifte an ihr vorbei. Der Schmerz, der so an meinen nackten Armen entstand, spürte, aber bemerkte ich kaum.

Ich roch das Blut erst, als es an meinem Arm herablief und die Schürfwunden immer lauter in ihren Klageschreien wurde.

Mit Sicherheit sahen mir einige Partygäste hinterher, der Türsteher hatte mich nur argwöhnisch gemustert und mich dann weiterstolpern lassen- was ein Personal.

Meine Beine zitterten unter der Last meines Körpers und die Übelkeit drohte ich erneut zu übermannen.

Ich brauchte dringend Nachschub.

An meinen Hände spürte ich eine Ecke und schlug mich mit einem kräftigen Schritt um diese, ehe ich zu Boden stürzte.

Armselig und mühselig richtete ich mich auf, lehnte mich gegen die Wand und ergab mich.

Die rotblonden Haare fielen mir vor die Augen und mit einer schwachen Geste schob ich sie hinter die Ohren, ehe ich mich erneut übergab.

Der widerwärtige Geruch vom Erbrochenen zog in meine Nase und ich hörte ein amüsiertes Lachen.

Die Augen zu Schlitzen verzogen, sah ich nach oben und erkannte ein bekanntes Gesicht.

Erschöpft fiel mein Kopf, samt Haaren, wieder nach vorne und ich schloss diese als man mein Kinn vorsichtig anhob.

Wieso nur, Babe?“ fragte er mit belustigter Stimme.

Wegen dir“, meinte ich krächzend und sah, dass er in der Hocke vor mir saß.

Mit einem kräftigen Ruck zog er mich auf die Beine und drückte mir gleich daraufhin eine kleine Pille zwischen die Lippen, die ich bereitwillig annahm.

Eine Art Placeboeffekt setzte ein und ich fühlte mich allein durch die Tatsache, dass ich was genommen hatte besser.

Du bist mein Lebensretter, Theo“, meinte ich und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter.

Er umschlang mich mit seinen Armen.

Was würde ich nur ohne meine Sünde tun, hm?“ fragte er und küsste mein Haar.

Wo sind Viola und Jordan?“ erkundigte ich mich und musterte Theos Lippen, ehe ich begann sie mit dem Daumen nachzufahren.

Hättest du nicht gekotzt, würde ich dich jetzt küssen“, meinte er mit einem vielsagenden Unterton.

Ich lachte.

Nein, Theo. Du und ich sind nur Freunde. Ich liebe Jordan.“

Zum Küssen braucht es keine Liebe.“

Zum Küssen braucht es aber Jordan“, meinte ich lachend und nahm meine Finger von seinem Mund.

Wenn du meinst“, sagte er und umgriff meine Taille und führte mich zu einem Taxi, das dort stand- und ich hatte keine Ahnung wie lange schon.

 

Wir fuhren in das Hotel, in welchem Theo und ich eingecheckt hatten und begaben uns mit mäßiger Geschwindigkeit nach oben, als die Wirkung der Pille einsetzte.

Zumindest kam mir das alles so vor.

Ich hatte keine Ahnung, was er mir da gegeben hatte, aber die Welt fiel in eine Art Zeitlupe, in der nur ich mich unmenschlich schnell zu bewegen schien.

Die Lichter der Decke im Hotel waren plötzlich in ein absurdes Purpur umgeschlagen und die Zahlen an unserer Zimmertür schmolzen und tropften als glühend heiße Lava zu Boden.

Ich warf mich auf den Boden, als wir das Zimmer betraten und es in seinen Grundfesten erzitterte.

Und ich glaubte dann, eingeschlafen zu sein.

 

Als ich wieder zu mir kam, lag ich neben Jordan gekauert, der mir seufzend übers Haar strich.

Ich blickte auf und sah, dass seine Augen in einem unnatürlichen Rot strahlten.

Was hast du genommen?“ fragte ich entsetzt, als ich den glasigen Blick sah.

Er schwieg, fuhr sichs durchs braune Haar und drückte mir einen Kuss auf die Lippen.

Wir saßen auf dem weißen Flusenteppich, welcher vor dem Bett lag, in welchem Theo lag.

Er hatte die mit Rosen bedruckte Tagesdecke vollkommen verkotzt und schlief.

Irgendein Cocktail“, meinte Jordan endlich- nach einer scheinbar ewigdauernden Verzögerung.

Und dann kippte er um.

Einfach so.

Panik überfiel mich, während ich voller Panik.

Was dann passierte?

Eine Folge von Panikattacken, Angstschreien, Sierengeräusche und das Geräusch eines Defibrilators.

Erst als seinen Herzschlag wieder hören konnte, dämmerte meine Welt wieder und mit einem erleichterten Seufzer folgte ich dem Schritt des Sanitäters, der mich stützte, als ich einen anderen sagen hörte: „Ach du Scheiße! Dave, Andrew! Hier ist ein Mädchen....Wartet. Nein, sie ist tot.“

 

Kapitel 18- Der Tag, an dem Viola starb.

 

 

„Ich...ich...war dabei, als Viola starb“, stammelte ich fassungslos und raufte mir die Haare. Ich hätte geweint, wenn ich noch Tränen übrig gehabt hätte, hatte ich aber nicht- und so wurde mein Körper von einem trockenen Schluchzen übermannt und kalte Schauer liefen über meinen Rücken.

Mein ganzer zitternender Leib fuhr nach oben, als mich Jordan berührte und ich sah ihn an.

In seinen braunen Augen erkannte ich Viola.

 

Rock oder Hotpants?“ hörte ich ihre fragende Stimme durch die dünne Holzspanwand dringen, die unsere beiden Umkleidekabine trennten.

Warte...“, sagte ich schwer ausatmend als ich mich in die enge Hose zwängte und das bordeauxfarbe Oberteil mit der spitzenbesetzten Rückenpartie.

Ich stolperte beinahe aus der Kabine und sah zu wie Viola sich vor dem großen Spiegel positionierte und begann zu posieren.

Definitiv Hotpants“, meinte ich als ich ihren Hintern darin betrachtete und sie lachte.

Das Oberteil ist der Wahnsinn“, rief sie überrascht auf und musterte mich aufgeregt mit ihren hellblauen Augen.

Ich war neidisch auf sie.

Viola hatte so wunderschöne hellblaue Augen, die geradezu perfekt mit ihrer gebräunten und sommersprossenfreien Haut und den langen, dunkelbraunen Haaren harmonierten.

Ja, oder?“ fragte ich drehte mich so, dass ich meine Rücken bewundern konnte.

In meinem Gesicht leuchteten die Sommersprossen, die mir immer einen kindlichen Touch gaben, aber dieses extravagante Teil ließ genau das verschwinden.

Ich sah heiß aus.

Trägst du einen BH?“ fragte sie, als sie meinen nackten Rücken sah.

Nö“, meinte ich achselzuckend und grinste, „sieht man das?“ fragte ich stützte meine Brüste mit den Händen.

Ne“, lachte sie und wollte gerade etwas sagen, als ihre Stimme von einer rauen, tieferen und männlicheren unterbrochen wurde.

Kein BH, hm?“ fragte die Stimme und ich sah im Spiegel Jordan hinter mich treten und spürte sogleich, seine Hände an meiner Taille, die sich vor meinem Bauch verschränkten und mich an ihn drückte, ehe er seinen Kopf an meiner Schulter verbarg.

Ich konnte aus dieser Perspektive auch beobachten, wie ein großer Schwarzhaariger auf Viola zu hielt und sie mit einem ruckartigen Griff zu sich zog und sie küsste.

Theo und Viola.

Ein innerlich von Grund auf verschiedenes, aber äußerlich perfektes Paar.

Ich verlor das Interesse an ihnen, als ich Jordan Mund an meinem Hals spürte und drehte mich hastig um und versenkte meine gierigen Lippen auf seinen.

Ich hatte niemals genug von ihm.

Mit einem amüsierten Lachen ruinierte er meinen stürmischen Kuss und löste sich von mir, erinnerte mich damit, dass wir uns in der Öffentlichkeit befanden.

Ich liebe dich“, flüsterte ich.

Ich liebe dich“, erwiderte er und küsste meine Stirn.

Süß“, hörte ich Theo sagen, der locker den Arm um Violas Schultern gelegt hatte und uns mit ihr zusammen musterte.

Obwohl ihr seit schon immer zusammen seid, komme ich irgendwie noch nicht ganz damit klar, dabei zu zusehen“, sagte sie lachend und küsste Theo, ehe sie ihn mit sich in die Kabine zog.

Geht mir genauso“, meinte Jordan argwöhnisch und auch ich sah ihr ungläubig hinterher.

Sie würden doch nicht hier?

Mein Blick glitt zu Jordan und dieser schüttelte den Kopf,bevor er mir leise zu flüsterte:

Theo hat gerade erst.“

 

Das schien ihn allerdings nicht aufzuhalten, denn als ich mich umgezogen hatte und die Beiden aus der Kabine traten, waren sie voll drauf- vollkommen high.

Sie hätten doch warten können bis wir wieder im Hotelzimmer waren.

Ein wenig privater schätze ich es mehr, konnte es mehr genießen.

 

Für den Abend hatten wir geplant in einen kleinen Club im französischen Viertel von New Mour zu gehen, wo eine Band spielen sollte- The Lisbons oder ähnlich.

Theo und ich hatten uns eine Joint geteilt, während ich mich fertig gemacht hatte.

Ich zog mir den kurzen, dunkelgrünen Jumpsuit über und bestückte meine Arme mit goldenen Accessoires, ehe ich mich auf das Bett neben Theo fallen ließ.

Viola ist kaputt“, sagte er auf einmal und begann mir über die Wange, über die Lippen zu streichen.

Ich weiß. Musstest du ihr was in der Kabine geben?“

Sie hat gezittert, Sin. So was hast du nicht gesehen.“

Wie lange war sie nüchtern- so nüchtern wie sie sein kann?“

Keine zwei Stunden.“

Sie stirbt“, meinte er und zog mich zu sich.

Ich legte meinen Kopf auf seiner Brust ab und hörte seinen Herzschlag.

Und irgendwie fand ich es befremdlich. Ich hatte noch nie einen anderen Herzschlag außer den meiner Mutter und Jordans gehört.

Meine Mutter war ich gezwungen zu lieben und Jordan liebte ich freiwillig.

Es war seltsam Theos zu hören.

Wir waren in diesem einem Jahr die besten Freunde geworden,aber ich liebte ihn nicht.

Doch während ich so seinem Herzschlag lauschte, glaubte ich, dass ich es eines Tages tun würde.

Und dieses Tatsache fand ich noch befremdlicher.

Wie sollte das denn gehen?

Ich hatte und würde- und das wusste ich mit Sicherheit- Jordan mein ganzes Leben und Jahre darüber hinaus lieben.

Ich kannte nichts anderes.

Dass ich jemanden anderen, neben Jordan lieben könnte, war wohl das Befremdlichste überhaupt.

Aber genau das schien mir Theos Herzschlag zu zu flüstern.

Theo strich über meinen Rücken.

Du bist so schön, Sienna. Wieso nennen wir dich nicht die schöne Sienna?“

Weil ich schon Sommersprossen-Sienna bin.“

Ist es seltsam, dass ich jede einzelne in deinem Gesicht küssen will?“

Ein klein wenig vielleicht.“„Würdest du mich es tun lassen?“

Nicht in einer Millionen Jahre.“

Wieso nicht?“ fragte er und klang überrascht.

Ich liebe Jordan. Wie verrückt. So sehr das es manchmal beinahe wehtut. Und vollkommen grenzenlos.“

Und dann klackte das Türschloss, ehe ich auffuhr und mich wie ein Verräter fühlte.

Viola stürmte auf mich zu, kreischte laut und ich schloss sie in meine Arme.

Schon wieder?

 

Wir gingen in den Club, schmissen uns vorher noch etwas ein und begannen den Abend.

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann hielten mich meine Beine nicht mehr.

Die Farben meines Regenbogen verliefen und tropften auf dem Boden, sodass ich immer wieder darauf ausrutschte.

Eilig wühlte ich in meinen Taschen, aber ich hatte bereits alles eingeworfen.

Keuchend wand ich mich zwischen den Leiber hervor, die mich alle zu erdrücken schienen.Ich konnte nicht mehr atmen und nicht mehr denken.

Alles was ich wollte, war raus aus diesem gottverdammte Club.

Irgendwo wo dorthin, wo mein Herz frei wurde.

Und aufgrund welcher Tatsache ich es auch immer verdiente, traf ich auf den Teufel als meinen Schutzengel und dieser gab mir eine kleine Pille, die mich fliegen ließ.

 

Mein Körper war ebenso rastlos wie mein Geist- und ehe ich mich versah, befand ich mich wieder in meinem Hotelzimmer.

Und ich sah zu wie mein Herz starb und fühlte mich absolut nicht in der Verfassung auch nur eine Sache zu tun, damit es weiterlebte und dann befand ich mich in einer unglaublichen Klarheit.

Wenn mein Herz starb, würde ich mit ihm sterben.

Und dann waren auf einmal so viele Menschen um uns herum.

Ich sah, wie man mein Herz auf eine Trage schnallte und wegfuhr, spürte wie mir jemand etwas zu flüsterte und lächelte leicht über seine Unwissenheit.

Was hat er genommen?“

Ich weiß es nicht. Drogen nehme ich an.“

Wie ist sein Name?“ der Jemand klang schroff.

Es ist mein Herz, müssen sie wissen,“ sagte ich, „wenn es stirbt, sterbe auch ich.“

Was haben sie genommen?“

Das Geschenk des Teufels.Aber ich habe nicht meine Seele verkauft. Ich habe schon lange keine Seele mehr. Ich habe sie zerbrochen und über die ganze Welt verstreut. Das macht es schwerer für den Teufel sie zu bekommen. Aber wenn er mein Herz hat, werde ich alle Stücke zu suchen und sie gegen mein Herz eintauschen.“

Und dann verlor ich das Bewusstsein.

 

Als ich wieder wach wurde, war ich im Krankenhaus.

An meinem Arm hängten Schläuche, ein seltsames Geräusch verstärkte meinen Herzschlag und ich fühlte mich verlassen.

Von allen was ich jemals in mir getragen hatte.

Wo ist Jordan?“ krächzte ich und sah in wütende Augen.

In Norwegen, du kleines Miststück.“

Irritiert zog ich die Augenbrauen zusammen.

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, denn ich kannte die Person nicht, die an meinem kranken Bett stand.

Mein Blick war noch immer verklärt und wollte sich nicht schärfen.

Und Viola?“

Die Stimme stieß einen qualvollen Schmerzensschrei aus.

Bei Gott. Viola ist tot- und du Sienna O'Shea bist daran schuld.“

 

Kapitel 19- Ernüchterung

 

Kapitel 19- Ernüchterung

 

Ich starrte gedankenverloren auf das Fenster, durch welches das Mondlicht fiel und plötzlich alles so absurd erschienen ließ.

Meine Welt war vor wenigen Stunden vollkommen aus den Fugen gerissen und auf den Kopf gestellt worden, doch ich hätte niemals damit gerechnet, dass sie in Millionen Einzelteile zerbersten würde.

Geahnt, dass etwas Schlimmes passiert war, hatte ich ja- aber ich dachte niemals, dass ich einen Tod zu verantworteten

Dass ich den Tod meiner besten Freundin zu verantworteten hatte.

Irgendwie wollte ich Schmerz und all diese Gefühle spüren- Reue, Schuldbewusstsein, aber da war absolut nichts.

Viel mehr betrachtete ich alles mit einer geradezu schrecklichen Ernüchterung, mit einer herzbrechenden Neutralität und mit einer unendlich-langen Distanz.

Viola Harper.

Das Mädchen, das ich seit Kindesfüßen ankannte.

Die Schwester meiner großen Lebensliebe.

Die Freundin meines besten Freundes.

Die Tochter einer Mutter, die mich bis auf die Knochen hasste.

Sie war tot- und es war meine Schuld.

 

Ihre Mutter damals im Krankenhaut hatte recht.

Vorher mochte mich Gladys Harper, hatte mir mit ihren langen, schlangen Fingern immer über die Wangen gestrichen, wenn wir uns sahen, aber seit damals. Seit diesem schicksalhaften Tag sprühte purer Hass aus ihren karamellfarbenen Augen.

Sie hasste mich so sehr, dass ich mich selbst hassen wollte.

Ich hatte damals nur das Bewusstsein vor lauter Drogen verloren, aber sie ihre Tochter- und beinahe ihren Sohn.

Keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn es Jordan gewesen wäre.

Genau dessen Blick spürte ich auf mir ruhen und als meine fliederfarbenen Augen auf seinen braunen Augen landete, spürte ich plötzlich all den Schmerz.

Durchlebte jeden Abschied, den wir über uns ergehen lassen mussten- immer und immer wieder, noch einmal- und es raubte mir den Atem.

Keuchend fasste ich an meine Brust, als ich glaubte, ich würde ersticken.

Man hatte ihn weggeschickt.

Zwei Jahre lang hatte man ihn in einen Entzug nach Norwegen weggeschickt.

Er war der andere Patient, den Emil Holgerson in seinem Brief an mich erwähnt hatte.

Einer, der immer wiederkam, weil er immer wieder gehen musste.

Und die zwei Heimatsbesuche pro Jahr, die man ihm gestattet, ehe er vor drei Monaten endgültig zurückkam, hatte er bei mir verbracht- während er dabei war mir damit ganz langsam das Herz raus zu reißen.

Und dann verstand ich es nicht.

Warum zur Hölle war er hier?

Unser letztes Treffen, zwei Monate bevor ich mich verlor, war ein Disaster.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.10.2014

Alle Rechte vorbehalten

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