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Vorwort

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Ich sah ein, was ich vordem nicht wußte, daß das Spiel in der Maske viel spannender ist als das Zeigen des nackten Gesichts."

-Erhart Kästner

Prolog

 

Einundzwanzig Gramm.

Angeblich ist dies das Gewicht einer menschlichen Seele- wenn man einem amerikanischen Arzt aus dem 19. Jahrhundert Glauben schenken darf.

Einundzwanzig Gramm - das ist die Differenz zwischen Leben und Tod, die Differenz zwischen Mensch und Tier - das Gewicht einer Seele.

Aber was ist diese Seele überhaupt?

Eine genaue, einheitliche Definition ist schwer zu geben, aber allgemein versteht man unter ihr die Psyche mit all ihren Charaktereigenschaften.

Somit ist die Seele die Substanz des Mensch-Sein, ein positiver Ausdruck mit dem wir „Gut-Sein“ verbinden:

Eine treue Seele. Ich liebe dich mit Herz und Seele. Sie hat eine so gute Seele. Seelenverwandte.

Doch scheint die Seele nicht unser Leben abhängig zu machen.

Sie ist nicht zwangsläufig lebensnotwendig.

Allerdings schwindet mit ihr die Menschlichkeit.

Seelenlos - ist eine Art Synonym für kaltherzig und unnahbar.

Einundzwanzig Gramm liegen somit zwischen Gut und Böse.

 

Ich bin ein guter Mensch, der viel Böses getan hat.

Besitze ich nun eine Seele? Oder nicht?

 

Kapitel 1

Es war still, beinahe beklemmend.

Der sonst so menschenüberfüllte Gang lag in der Einsamkeit der Stille.

Nichts von all dem war in irgendeiner Weise von Bedeutung. Nichts.

Wie ein Geist wandelte die Trauer über die nun noch trister erscheinenden, hellgrauen Fliesen und schlich hinterlistig um die Ecken und lauerte gierig auf ihr nächstes Opfer.

Sie wich erst, als die Fliesen den aggressiven Schritten, die so hastig über sie eilten, einen Klang verliehen.

Die drei Personen liefen mit energischem Eifer über den Gang und schenkten nichts, auf ihrem Weg vor sich, Beachtung.

Eine Frau, flankiert von zwei Männer etablierte sich, trotz ihrer kurzen Beine und dem engen Knierock, erstaunlich geschickt in den forschen Gang der Männer.

Ihr fester Dutt und die Brille auf der Nase verhalfen ihrem schmalen und doch irgendwie unproportioniert wirkenden Erscheinungsbilds, zu einer ehrfürchtigen Strenge.

Der glatzköpfige Mann, der glatzköpfige Mann zu ihrer Linken erschien in seinem Verhalten und Aussehen legerer.

Mit der einfachen, hellblauen Hose und dem weißen Hemd, bei dem er die Ärmel nach oben gerafft hatte, wirkte er nicht so angespannt. Seine Körperhaltung, sowie seine Bewegungen waren nicht so hektisch und wirkten somit ruhiger.

Anders als der Mann, der sich zur Rechten der Dame befand.

Er schien geradezu… unbeständig.

Immer wieder stieß er ein schweres Seufzen aus oder fuhr sich nervös mit dem weißen Einstecktuch über die Stirn, ehe er es erneut, zur Hälfte, in seiner Jackettasche verbarg.

In der Hoffnung seine Aufregung mildern zu können hatte er begonnen, die Türen, die an ihnen vorbeigezogen waren, zu zählen.

Die Schritte wurden zaghafter und langsamer, als sie sich nach seiner Zählung, an der neunten Tür rechts befanden.

Die Frau faltete die Hände ineinander, als sie zum Stehen kamen, aber entwirrte sie, während sie sprach und mit einer hinweisenden Geste auf die Tür deutete: „Hier ist es.“

Etwas unschlüssig sahen sie einander an, wendeten aber den Blick ab, als sie sich eigentlich in die Augen sehen sollten. Besonders dem des jungen Mannes im Anzug wich sie übereilt aus.

„Nun denn…“ versuchte der kahlköpfige Mann ein wenig das Geschehen ins Rollen zu bringen und nahm den Türknauf in die Hand. Bereits zuvor hatte er einen kurzen Blick, durch das quadratische Türfenster, in das Zimmer erhaschen können.

Er war geschult für solche Augenblicke und drückte die Klinke herunter, setzte ein Lächeln auf und trat in den Raum.

Es war stickig darin, die Atmosphäre, die vor Langweile und Müdigkeit strotzte, hing über den Köpfen der lustlosen Schüler.

„Hallo alle zusammen!“ begrüßte er sie freundlich, doch die wenigsten erwiderten seine Begrüßung und auch sonst schien kaum einer seine Anwesenheit zu kümmern. Erst als die Frau, die als Rektorin fungierte, und der Mann im Anzug den Raum ebenfalls betraten, hoben sie die Blicke.

Ein paar rückten sich in ihren Stühlen zurecht, andere waren nun aufmerksam geworden und wiederum andere sahen erneut auf ihr bekritzeltes Blatt.

„Entschuldigen Sie, Miss Sullivan. Wir hatten uns ja bereits angekündigt“, erklärte sich die Rektorin.

Die junge Englischlehrerin, welche die heutige Nachsitzaufsicht führte, erhob ihren Blick von den zu korrigierenden Aufgaben und nickte verständnisvoll.

Nun trat der Mann, den die meisten als den Schulpsychologen identifizierten, wieder in den Vordergrund und suchte in seiner Hosentasche nach dem Zettel.

Der junge Anzugträger begutachtete ihn kritisch dabei und schüttelte den Kopf über den Mangel an Professionalität.

„Candice Fields, Beven und Jerry Smith, Elay Shawn, Erica Santiego und Chloe Anderson…“ las er die sechs Namen vor, zu denen die Personen überrascht aus ihrem Delirium schreckten und sich einander überrascht ansahen, „kommen Sie mit uns. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.“

Leises Gemurmel fuhr durch den, auf einmal belebten Klassensaal, während die genannten Schüler schabend ihre Stühle zurückschoben und ihre Taschen schulterten.

 

Als sie auf den Gang traten, sprachen sie nicht miteinander und sahen sich auch nicht an.

Stumm folgten sie den drei Autoritätspersonen, die an der Spitze der Traube schritten. In ihren Köpfen spielten sich die unterschiedlichsten Gedankengänge ab.

Während einige Überlegungen anstellten, einen Anwalt zu konsultieren, bangte die Minderheit wegen welchem Verstoß der Hausordnung man sie nun zur Rechenschaft ziehen würde.

Ihre still gestellten Fragen blieben unbeantwortet, selbst als sie vor dem Konferenzsaal der Schule standen. Es war der einzige Raum, dessen Tür kein Fenster zierte.

Eine Schülerin betrachtete missmutig die neun Stühle, die an der Wand vor dem Raum aufgereiht waren.

Drei davon waren bereits besetzt von Personen, die für die Schüler Fremde waren.

Ein Mädchen, etwa in ihrem Alter mit braunen, langen Haaren und Sommersprossen im Gesicht und ein Junge, den man womöglich nun doch auf den zweiten Blick kennen konnte - ein ehemaliger Schüler.

Eine letzte Person, ein Junge, der womöglich Student war, mit schwarzen, zerzausten kurzen Haaren.

Er sah, im Gegensatz zu dem Mädchen, welches die Schülerschaft vor sich anlächelte, nicht auf. Nicht einmal, als die Rektorin zu einer Erklärung ansetzte, die der Schulpsychologe vervollständigte.

Seufzend ließen sie sich auf den Stühlen nieder und ein leichtes Gespräch setzte ein.

„Candice Fields?“ die Stimme der Rektorin war fragend, so als würde sie zweifeln, zu welchem der fünf Mädchen der Name gehörte.

Ein Rotschopf sah mit unsicheren, bernsteinfarbenen Augen auf.

„Komm du bitte als Erstes mit uns“, sagte der Psychologe mit dem einstudierten Lächeln auf den Lippen, während er ihr die Tür aufhielt.

Hastig erhob sie sich und schritt durch diese.

Der schwarze Konferenztisch aus Holz mit der versiegelten Oberfläche lud sie zum Niederlassen ein.

Die drei Personen nahmen ihr gegenüber Platz.

Ihr unruhiger Blick sprang von ihnen auf das große Fenster, welches in ihren Rücken lag, zu dem weißen Aktenschrank zur ihrer Rechten. Ein Räuspern war zu hören und sie sah den Psychologen, der ihr genau gegenüber saß, fragend an.

„Wir würden gerne mit dir über die Schülerin Mary Sue sprechen.“

Irritiert legte sie die Stirn in Falten.

 

Kapitel 2: " Ich kenne Mary Sue nicht persönlich, aber für mein Verständnis, ist sie der Inbegriff von Perfektion"

Das neue Schuljahr hatte vor wenigen Tagen begonnen.

Die meisten waren noch immer träger und ausgelaugter von den Ferien, als sie es vor ihnen waren.

 Doch nicht ich.

 Ich verbrachte die Ferien bei meiner Cousine Emily in Montreal. Mich hatte dort die Kultur besonders fasziniert.

Eine Stadt, die zwei Sprachen spricht, reizte mich in vielerlei Hinsicht.

Einerseits gefiel mir der Gedanke meine, durchaus als miserabel zu bezeichnenden, Französischkenntnisse  aufzubessern, als auch die Kultur dieser bilingualen Region kennenzulernen.

Montreal war dabei jedoch eher frankophon geprägt, was auf die Lage in dem französischen Teil Kanadas zurückzuführen war, doch das störte mich gänzlich wenig.

Englisch konnte ich auch Zuhause sprechen in Paramour Hill, North Carolina- mein neue Heimat.

Ich besuchte dort, nun seit immerhin einer Woche, die  Paramour Hill Private High.

Es war eine Stadt, die nicht sonderlich außergewöhnlich war und ihren geringen Bekanntheitsgrad einem erloschen Stern der Schauspielerei und einem regionalbeliebten Wein verdankte.

Seufzend hatte ich auf den bordeauxroten Gebäudeklotz gestarrt, der wohl eine Hommage den Wein darstellen sollte, in dem ich gezwungen war die Mehrheit meiner Tageszeit zu verbringen. Mit mäßiger Begeisterung schritt ich über den Parkplatz.

 Die neugierigen Blicke, die ich am ersten Tag immer wieder wie Messerstiche in meinem Rücken spüren konnte, verblassten wie vage Erinnerungen an meine Kindheit.

 Ab und an fielen mir bestimmte Passagen wieder ein und mit diesem Phänomen waren die einzelnen, scheuen Blicke, die mich noch trafen, gleichzusetzen. 

Der Asphalt zeichnete mit Wasser benetzt, noch immer die Spuren des morgendlichen Regenschauers ab und auch die umliegende Vegetation, entledigte sich mithilfe des Windes hin und wieder den Wassermassen, welche durch die Kuhlen der Blätter sich sammelten.

Je näher ich trat, desto mehr türmte sich das Gebäude vor mir in der kargen Landschaft, die nur vereinzelt einen einsamen Baum aufwies, auf.

Die weißen Stufen, auf denen sich ein paar Schüler tummelten, ehe der Unterricht beginnen sollte, dienten mir als persönliche Hindernisse, die es galt zu umgehen.

 Mit zerknirschten Zähnen, aber mit freundlicher Miene kämpfte ich mich durch den menschlichen Slalom, ehe mich die große braune Eingangspforte, wie ein gieriger Schlund, sich einverleibte.

Das Bild, welches sich mir im Inneren bot, gab mir beinahe noch mehr Grund zur Ernüchterung als das karge Gefilde mit dem, als das, aus dem Boden gestampften, Schulgebäude.

Auch hier schienen es die Schüler angenehmer zu finden, vor den Klassensälen im Weg zu stehen, anstatt sich auf ihren Plätzen niederzulassen.

Starr richtete ich meinen Blick auf die hellgrauen, quadratischen Fliesen und presste mir die Bücher, die ich in der Hand trug, statt in meinem Rucksack, an die Brust.

Langsam und schleppend windete ich mich weiter durch die Masse, bevor ich meinen hellblauen Spint endlich erreicht hatte.

Erst jetzt, als ich mich an meinem Ziel angekommen fühlte, hielt ich es für richtig, die Stimmung auf mich wirken zu lassen. Mit dem Ablegen der Abneigung gegen Aufmerksamkeit, schienen meinen Sinne nun plötzlich aktiviert.

Erst jetzt stieg mir der stechende Geruch des Desinfektionsmittels, gepaart mit Schweiß und den unterschiedlichsten chemisch-erzeugten Körperdüften, unangenehm in die Nase.

Während ich meine Bücher in den Spint legte, kontrollierte ich meine eigene Geruchabsonderung.

Zufrieden und erleichtert zugleich stellte ich fest, dass ich nicht die Quelle des unangenehmen Schweißgeruches darstellte, sondern zur Luftverdickung mit meinem Parfüm beitrug.

Es klingelte und die Schüler begannen sich aus ihren Gruppierungen, in die einzelnen Kurssäle zu verstreuen.

Auf dem Gang wurde es übersichtlicher und ich sinnierte einen Augenblick in welcher Richtung der Saal für meine erste Unterrichtsstunde lag. Als ich mir deren sicherer war, setzte ich meinen Gang fort. Im Kopf ging ich die Französischvokabel durch, die ich womöglich besser beherrschten sollte, als ich es wirklich tat.

In Gedanken diesen nachhängend, nahm ich eine Person überraschend aufmerksam wahr. Sie schritt mit großen, doch nicht hastigen, geradezu provokativ überheblich Schritten an mir vorbei.

Während ich ihr mit dem Blick hinterherhinkte, schien sie nicht einmal meinen Anwesenheit zu bemerken. Mir wurde wieder einmal, ein wenig zu deutlich bewusst, welche Rolle ich in der Hierarchie dieser Schule hier einzunehmen hatte.

Weder hatte ich die Chance, noch sollte ich die Chance bekommen mich mit einer Persönlichkeit wie ihr zu messen.

 Sie war die erste Person, deren Name man kennen sollte- Mary Sue.

Ihre Körperhaltung und allein die Art, wie sie ging, war purer Ausdruck von Arroganz und Überlegenheit.

 Ihre hellblonden, langen Haare trug sie in einem hochgebundenen Pferdeschwanz, welcher im Takt ihrer eisernen Schritte hin und herschwenkte. Auf ihren hohen Schuhen, die wie eine Bühne ihren Idealkörper präsentierten, schien selbstsicher als manch ein Model zu laufen.

Ein vorbeiziehender, schweifender Blick ihrer glasigen, blau-grauen Augen reichte aus, dass sich in mir ein Gefühl der Minderwertigkeit einstellte.

Ihre Augen waren nicht schön.

 Sie waren nichts Besonderes, eben ein unspektakuläres Blau-Grau, das in einer gewissen Weise blass und verlebt wirkte und dennoch zwang mich ihre Aura, die nur so von Überlegenheit und Selbstbewusstsein strotzte, sie schön zu finden, obwohl ich es nicht tat.

Selbst als sie um die Ecke gebogen war, war sie noch immer präsent und ich merkte erst, als mein Lehrer, der geradewegs auf mich zusteuerte und mich von da an, in den Unterricht geleitete, wie lange ich auf die verlassene Stelle gestarrt hatte, von wo an sie verschwunden war.

Der blasse Neid  umspielte mich, während ich den französischen Singsang meines Lehrers  in meinen Ohren verklingen ließ.

 Unwillkürlich begann ich, und ich mir war durchaus bewusst, dass dies ein Fehler sein würde, mich mit ihr zu vergleichen.

Es war schwer, wenn ich darüber nachdachte, mein eigenes Gesicht objektiv zu betrachten.

Ich hatte immer diese leicht negative, unzufriedene Meinung über mein Äußeres, mit welcher jeder Mensch focht.

Es fiel mir einen Moment sogar beinahe schwer, mich an mein eigenes Gesicht zu erinnern. Doch dann fielen mir  meine bernsteinfarbenen Augen erneut ein.

 Diese geradezu extravagante Mischung aus braun und grün war das Einzige, mit dem ich mich in meinem rundlichen Gesicht anfreunden konnte.

 Und dies war wohl auch der einzige Punkt, in dem ich über Mary Sue siegen würde.

 Mit Sicherheit würde sie bei einer Umfrage wohl gewinnen, aber es schmälerte meinen Neid- zumindest ein wenig.

Seufzend fuhr ich mir mit meinen dürren, langen Fingern, die erste Hinweise auf meine zu dünne Figur gaben, durch das schulterlange, feuerrote Haar.

Ich war ein regelrechter Winzling, zumindest wenn der Maßstab, an welchem ich mich maß, Mary Sue war.

Würde ich wie sie, hohe Schuhe  tragen, wären meine Beine wohl nicht mehr als zwei feine Striche in der Landschaft zu deuten.

Menschen, die meine Gefühle achteten nannten mich zart, aber ich war nicht so sanft in meiner Selbstkritik.

Mit einer scharfen, französisch-akzentuierten Aussprache meines Namens riss der Lehrer mich aus meiner Gegenüberstellung und ich schluckte schwer.

„Candice, Ihre Gedanken scheinen wohl interessanter als mein Unterricht“, giftete der Mann mit dem krausen schwarzen Haar, der sich wohl mit schnellen Schritten seinen Vierzigern nähern dürfte.

Unsicher fuhr ich mir mit der Zunge über die Lippen und zweifelte in der nächsten Sekunde an meiner Reaktion. Mich selbsttadelnd schüttelte ich den Kopf.

Diese unbewusste Geste schien ihm als Entschuldigung zu genügen und er stolzierte mit geschwollener Brust zurück an sein Pult.

Die Ehre, mir eine Strafarbeit zu geben, ließ er sich dennoch nicht nehmen.

Murrend gab ich in dieser Art und Weise meinen einzigen Kommentar zu den Geschehnissen und  blickte, ab und an, zu ihm um ihm zu versichern, dass ich seinem Unterricht folgte.

 

Als er klingelte, verließ ich den Saal ohne auch nur um eine Vokabel in meinem mickrigen Wortschatz reicher zu sein.

 

„Tut mir leid“, hörte ich Beth keuchend sagen, während sie das Tablett mir gegenüber auf dem Plastiktisch abstellte, ehe sie sich schwerfällig auf den roten Stuhl fallen ließ.

„Kein Problem“, meinte ich gedankenverloren und stocherte lustlos in meinem gelblichen Milchreis herum.

Er sah alles andere als appetitlich aus, dennoch schob ich mir eine Gabel in den Mund, während ich meine Gedanken, sowie meinen Blick auf Beth schweifen ließ.

Sie war eine Naturschönheit, wie man sagen würde. Auch wenn sie wundervoll aussah, bezweifelte ich dennoch, dass sie mit Mary Sue konkurrieren könnte.

Nicht etwa weil sie weniger bildschön war, sondern weil man sie nicht wahrnahm.

Die meisten schienen sie mit dem Wort ‚seltsam‘ gebrandmarkt und abgehakt zu haben.

Selbst ich stand ihr anfangs skeptisch gegenüber, weil sie mir bereits an meinem ersten Tag, der eigentlich dem scheuen Analysieren diente, sich zu mir setzte.

„Und was gibt es bei dir so Neues?“ fragte sie, während sie sich einer ihrer braunen langen Strähnen aus dem Porzellangesicht strich und genüsslich in den geschmacklosen Burger biss.

„Nichts Besonderes“, meinte ich achselzuckend und fragte mich, wieso ich nicht freundlicher zu ihr war, also schob ich widerwillig die Gegenfrage hinterher: „Und bei dir?“

Sie hob den Blick überrascht und funkelte mich mit ihren großen grünen Augen an, ehe sie den Burger aus der Hand legte und sich die Hände mit der dünnen Papierserviette säuberte.

 Irritiert beobachtete ich sie  dabei und in solchen Augenblick, verstand ich die Skepsis der anderen ihr gegenüber.

Anstatt mir zu antworten nahm sie nun einen Schluck von ihrem Softgetränk und stieß ein befriedigtes Seufzen aus.

Hilfesuchend ließ ich meinen Blick durch die Cafeteria gleiten und blieb an einer Gruppe Mädchen hängen, die zur Tür hineinkamen.

Beth folgte meinen Blick, während ich wie gebannt auf das Zentrum der Gruppe sah.

Mary Sue.

Wieder wurde der Raum von ihrer Präsenz eingenommen und sofort sah ich, wie eine Gruppe vom Sportlertisch aufsprang und zu ihr eilte. Binnen weniger Sekunden hatte sich eine regelrechte Schar um sie gebildet und versperrte meine Sicht auf sie.

„Nicht die schon wieder“, murrte Beth unzufrieden und nahm einen erneuten Bissen, ehe sie ihr Prozedere mit Säubern und Trinken, ebenso das Seufzen, wiederholte.

„Du magst sie nicht?“ schlussfolgerte ich und sah nun wieder Beth an.

Diese schüttelte vehement den Kopf und stieß einen absurden Lacher aus, „nicht mögen ist noch untertreiben. Ich verabscheue Mary Sue.“

Dass sie nicht log, hörte man klar und deutlich in ihrer Stimme, die sich von ihrer Abneigung genährt hatte.

„Wieso das?“ hakte ich nach.

„Sag mal, bist du vom anderen Ufer?“ fragte sie und leckte sich unbekümmert weiter das Fett von den Fingerspitzen.

Etwas überrascht über ihre Frage und durchaus angewidert von der Tatsache, wie sie ihre Finger bearbeitete, verzog ich das Gesicht und antwortete mit noch immer schwingender Irritation in der Stimme: „Nein. Mein Freund, Joel…“ ich trieb für einen Moment in Gedanken,

„ wohnt noch immer in der Heimatsstadt meines Vaters. Ich bewundere sie nur für ihr Selbstbewusstsein.“

„Pff“, gab Beth nur unbeeindruckt von sich und trank einen weiteren Schluck

. Eigentlich dürfte sich in dem weißen Plastikbecher nichts mehr befinden, aber sie entlockte ihm noch einen letzten weiteren.

Ich stempelte ihre ablehnende Haltung Mary Sue gegenüber mit simplem Neid ab und dachte nicht mehr großartig darüber nach, vor allem nachdem es zur nächsten Unterrichtsstunde geklingelt hatte.

 

 

Unschlüssig stand ich vor meinem Wagen.

Wie andere auch, war ich erleichtert, diesen Schultag, dessen Unendlichkeit drohte mich zu verzehren, entfliehen zu können.

Wenig begeistert steckte in den Schlüssel in das rostige Schloss, als mir klar wurde, dass niemand Zuhause auf mich warten würde.

Wegen dem Job meiner Mutter waren wir umgezogen.

Sie arbeitete bei einer großen Casinokette, bei der sie in der Paramour Hill-Niederlassung die Leitung übernommen hatte.

Mit einem ähnlichen Seufzer, wie ich den Schulalltag begonnen hatte, beendete ich ihn schließlich und ließ mich hinter das Steuer meines reparaturbedürftigen Kleinwagens fallen.

Während ich mich anschallte, blickte ich in den Rückspiegel und sah Mary Sue hinter meinem Wagen vorbeistolzieren.

Heute Morgen mochte sie mir mit ihrem präsentierenden Gang vielleicht imponiert haben, aber nun war ich mir nicht sicher, wie ich darauf reagieren sollte.

Erst als sie vollkommen hinter einem anderen Wagen verschwunden war, riss ich den Blick ab und startete meinen Wagen.

Tuckernd kroch mein Wagen, die steilen Hänge hinauf, die mich zu meinem Zuhause geleiteten.

Der Blick auf die asphaltierte, graue Straße vor mir war öde, aber ich war eine zu vorsichtige Fahrerin, um mich auf die Umgebung, die mich umgab, zu konzentrieren.

Wahrscheinlich hätte ich auch nicht mehr, als ein paar Häuserreihen und die gothische Kirche, welche das Zentrum des strahlenförmigen Grundrisses der Stadt war, sehen können.

Diese Hinsicht auf eine ebenso trostlose Aussicht, tröste mich nicht und wieder entschlüpfte ein Seufzer meiner Kontrolle.

Was hast du nur für ein schweres Leben, spottete ich zynisch über mich selbst und lenkte den Wagen in die Garage, die ich per Funk bereits geöffnet hatte.

Als ich über die Verbindungstür in den Flur schritt und die Stufen erklommen hatte, stieg mir der Geruch von gebratenem Fett in die Nase und ich rümpfte sie.

Meinen Rucksack ließ ich mit einem Schulterrollen von meinem Rücken gleiten und in die Ecke neben mir fallen, bevor ich gähnend durch die offene Wohnzimmertür trat.

Das Weiß der Wände wirkte steril, vor allem in der Kombination mit der weißen Ledercouch und dem kantigen Fernseher.

 Geschickt kaschiert standen in einer verborgenen Ecke, die noch immer noch ungeöffneten Kartons und ich schüttelte den Kopf.

Weder ich noch meine Mutter konnten die nötige Motivation aufbringen, diese endlich auszuräumen.

Mit einem prüfenden Blick in den kirschroten Kühlschrank, bei dem sich schnell Ernüchterung einstellte, als ich merkte, dass nichts außer einem Naturjoghurt und einer Stange Lauch vorzufinden war, grunzte ich unbefriedigt auf und schloss ihn wieder.

 Die Pfanne auf der Herdplatte ignorierte ich stets gekonnt, wie ich es immer tat, wenn das Schmutzgeschirr des Frühstücks sich in der Spüle türmte.

Ich lehnte mich an die Küchenzeile und legte die Hände, rechts und links, neben meiner Hüfte auf der kühlen, dunklen Granitplatte ab.

Mein Blick traf auf den Küchentisch, der mit der Landhausoptiktischdecke mit ihrem rot-weiß-karierten Muster meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

 Gemächlich lief ich zum Tisch und ließ mich auf einen der beiden hellbraunen Holzstühle gleiten und zog den Laptop zu mir herüber.

Nachdem ich das Internetsymbol mehrfach mit Klicken penetriert hatte, öffnete sich das Fenster schleppend und bestrafte mich für meine Ungeduld. Als endlich die Suchzeile anzeigt wurde, huschten meine Finger über die Tastatur.

HighParamour.

Es war eine Art Schülercommunity und war vergleichbar mit sozialen Netzwerken wie Facebook nur im kleineren Stil.

In den meisten High Schools existierten solche Foren, aber sie wurden kaum beachtet. Anders als hier.

Jeder Schüler bekam seine Mitgliedsdaten, geradezu heimlich, in Form eines rot-blauen Briefes in sein Schließfach zugesteckt, denn die Internetseite sollte von keinem Lehrer besucht werden.

Ich erforschte diese gerade zum ersten Mal, da ich es zuvor für uninteressant sowie unnötig gehalten hatte, aber nun schlugen die Gespräche über die Popularität dieser Seite ihre Winde auch in meine Richtung.

Das rot-blaue Farbschema der Schule, erschlug mich beinahe auf der Seite. Sie war unübersichtlich und unprofessionell gestaltet, wie ich während des ewiglangen Suchens des Login-Bereiches feststellen durfte.

Dafür, dass ich geglaubt hatte niemals von den Zugangsdaten Gebrach zu machen, konnte ich sie erstaunlich perfekt auswendig.

Als ich mich endlich erfolgreich eingeloggt hatte, entdeckte ich in der Neuigkeitenleiste, die es jedem Schüler erlaubte einen Thread zu verfassen, dass es einen Beitrag mit dem Titel ‚Die Neue‘ gab.

Mit einem rechten Mausklick öffnete ich diese in einem neuen Tab und forschte weiter durch die Community.

Von Lehrerrankings bis zu geheim geplanten Partys auf dem Schulgelände, war alles aufzufinden.

Gerade als ich mich dem bereits geöffneten Beitrag widmen wollte, sah ich eine Seite, die am besten bewertet und am meisten besucht wurde.

Sie trug den schlichten Titel ‚Mary Sue‘.

 

Wie ich feststellen durfte, war es ein Steckbrief ihrer Person.

Bilder von ihr in den unterschiedlichsten Schulsituationen.

Sie beim Essen in der Cafeteria, beim Sport, beim Nachsitzen,…

Es waren mehr als zweihundertfünfzig Bilder und ich hegte keinen Zweifel daran, dass ich sie nicht alle ansehen wollte. Wenn auch der Grund, dass ich die Perfektion ihrer Person nicht länger ertrug, eine gewichtige Rolle in dieser Hinsicht, spielte.

Sogar eine Liste über ihre ‚DO‘S&DONT’S‘ existierte.

Kopfschüttelnd und leicht erschreckt bemerkte ich die regelrechte Obsession der Schule, die sich auf eine einzige Person konzentrierte.

Ärgerlich nahm ich zur Kenntnis, erst im Geschehen, wie ich die Liste durchlas.

Punkt 21- DONT’S: Starre sie niemals wie ein Geisteskranker an und folge ihr nicht mit dem Blick.

Einerseits war ich darüber erschreckt, dass ich in bereits einer Weise ‚straffällig‘ geworden war, anderseits, dass dies so häufig vorkam, dass es seinen Platz in der Liste fand.

Missmutig las ich die Kommentare, die geradezu jämmerlich nach ihrer Aufmerksamkeit lechzten und wollte dem ganzen Spuk ein Ende bereiten, als mir der Tab, den ich geöffnet hatte, ins Auge fiel.

 

 

Die Neue- Candice Fields, 09. September- verfasst von Jo.ck

 

Als ich heute den Gang entlang gegangen bin, sah ich das unscheinbare Etwas, welches unserer Schule seit heute beiwohnt.

Sie war mir nicht wegen ihrer blendenden Schönheit aufgefallen(rote Haare, als würden sie brennen…grünen Augen wie die einer Hexe), sondern einfach wegen der Tatsache, dass sie neu ist.

Naja Leute… ich kenne sie nicht und werde sie wahrscheinlich auch nicht kennenlernen, aber ich habe ein gutes Gefühl bei ihr.

Sie wird in der Menge untergehen und keine Probleme machen.

Allerdings warten wir dein Urteil ab, Mary Sue.

 

Paralysiert fand ich die Gewalt über meinen Körper, welche tief in jenem verklungen war wieder und klappte den Bildschirm auf die Tastatur.

 Das Ganze etwas zu energisch, weswegen er mit einem lauten Knall darauf landete, aber das interessierte mich nicht.

Der Beitrag wurde vorgestern verfasst.

Ein Urteil von Mary Sue?

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, als mir bewusst wurde, dass die Meinung einer einzelnen Person und deren Wirkung auf andere, meine restliche Schullaufbahn bestimmen würde.

Und dann war ich erzürnt.

Wie konnte sich jemand das Recht, wie konnte sich Mary Sue das Recht herausnehmen, über mich zu urteilen?!

Sie kannte mich nicht einmal und dennoch konnte sie mir das Leben zur Hölle mache.

Ich spürte, wie mein Körper sich stärkte um dann mit der Gewissheit, dass ich an dieser Tatsache nichts ändert konnte, wieder in sich zusammenfiel.

Marys Wort in Gottes Ohr.

Ihr Urteil war Gesetz und ich war mir gewiss, dass es keiner, nicht ein Einziger, anzweifeln oder Einspruch dagegen erheben würde.

 

Mit dem Wissen um diesen Sachverhalt ging ich mit einer geradezu miserablen Laune in die Schule.

 Meine Mutter hatte mich nur skeptisch beäugt, aber ihre Lippen geschürzt.

Gut so, denn alles, was ich an diesem Morgen zu Sprache gebracht hätte, wäre bissig und giftig gewesen.

Dabei traf meine Mutter nicht einmal Schuld. Sie würde nur in die Funktion des Ventils verfallen und das wollte ich nicht.

Eines aggressiven Schrittes hielt ich auf das Gebäude zu und ignorierte das Geflüster, welches der Wind in Form eines Säuselns an mein Ohr trug.

Ich imitierte sie.

Ich imitierte Mary Sue. Doch ich zweifelte, ob ich auch nur annährend so ignorant und arrogant wie sie, wirken konnte.

Mit jedem Schritt, den ich auf das Gebäude zu trat, verklang meine Energiequelle, welche das falsche Selbstbewusstsein aufrechterhielt und mit dem Überschreiten der Schwelle fiel ich zurück in die Figur der farblosen Unscheinbaren.

Ich sah auf mein Handy, während ich über den Gang schritt und sah, dass Joel mir geschrieben hatte.

Ich war glücklich darüber, aber meine Gedanken wurden von dem erwartenden Urteil blockiert und so steckte ich das Handy, die SMS unbeantwortet, wieder weg.

 

Der triste Ablauf des routinierten Schultags verstärkte sich in der Form des wiederholenden Schulmenüs und missmutig sah ich auf den noch gelblicheren Milchreis.

Natürlich hätte ich mir eines, der anderen drei Tagesgerichte nehmen können, aber trotz seiner abstoßenden Farbe, schien er mir die sicherste Variante nicht an einer Lebensvergiftung armselig zu Grunde zu gehen.

 Mein Blick verharrte und verrann sich in den Spuren meines geistlosen Rührens, den ich erst hob, als ich merkte, wie sich jemand an meinen Tisch gesellte.

Gerade wollte ich Beth fragen, ob sie nach der Schule etwas mit mir unternehmen wollte, nicht weil ich sie sonderlich mochte oder als Freundin schätzte, sondern aus Eigenschutz, mich nicht in meiner Panik oder den Gemeinheiten der Webseite zu verlieren.

Doch erstarrt hielt ich inne, als in zwei glasige blau-graue Augen sah.

Mein Mund klaffte noch immer offenen, in der Bewegung abgestürzt wie ein fehlerhafter Computer, mit den unausgesprochenen Worten hinterherhängend.

Schnell senkte ich den Blick und sah auf ihr Tablett.

Doch darauf war nichts zu sehen, was meinem langen ausgiebigen, vielleicht auch  ein wenig forschenden, Blick Halt bot.

Nur ein einfacher Kaffeebecher, den sie von beiden Seiten mit ihren Fingern umschlungen und überkreuzt festhielt.

Ein paar Köpfe hatten sich amüsiert zu uns umgedreht, das konnte ich deutlich in meinem, immer heißer werdenden Rücken spüren.

Langsam und abschätzig die Situation bewertend zwang ich mich meinen Blick zu heben und sah in ihrem Gesicht ein fades Lächeln hängen. Es schien weder echt zu sein, noch sich häufig auf ihre Miene zu verirren.

Ein kleines Kichern, begleitet mit einem raunenden Lachen, lieh der Cafeteria eine Stimme um mich zu demütigen.

Als sie meine Gefühlslage erstaunlich gut deuten konnte, verhärtete sich ihre Miene und mit einem scharfen Zischen durchbrach sie das Gelächter, das in der sonst verstummen Cafeteria herrschte: „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als mich zu belauschen?“

Sie ging nicht einmal davon aus, dass es von Nöten wäre mich ebenfalls zu erwähnen, schoss es mir durch die Gedanken und ich verschränkte unzufrieden die Arme vor der Brust.

Mein Leben war nicht minder unbedeutend als ihres.

Doch dann, als wieder leichte Konservationen einsetzte, zweifelte ich an meinem, zur These degradierten, Gedanken.

Selbst die Gruppe, welche sich so feige in meinem Rücken zu schützen versuchte, begann zwanghaft ein Gespräch, als sie ihren kühlen Blick sahen.

Ich war geradezu bodenlos beeindruckt.

Man gehorchte ihr aufs Wort und nun nahm meine Panik ein unermessliches Ausmaß an.

 Ich hatte ihre Macht und ihren Einfluss, der unbestreitbar war, so eindrucksvoll und demonstrativ zu Gesicht bekommen, dass mir das kommende Gespräch alles andere als behagte.

„Wollen wir vielleicht draußen reden? Ich zweifele nicht daran, dass du den Beitrag auf der Webseite noch nicht gesehen hast. Du benimmst dich anders, als die Tage zuvor, das stützt meine Theorie“, beantwortete sie meine Frage, ehe ich sie stellen konnte.

Sie stand auf und richtete die Lederjacke, sowie das rote enge Kleid, welches ich mich höchstens trauen würde auf einer Party zu tragen, und meinte nun wieder in erhobener Lautstärke: „Ich habe das Gefühl, wir haben noch immer ungebetene Zuhörer.“

Ihr Blick fiel erneut hinter meinen Rücken und dann traf er mich.

Er war auffordernd und mit einem schüchternen Nicken, stand ich unverzüglich auf.

Während wir über den Gang schritten, klingelte mehrmals ihr Handy und ohne meiner Stimme einen wirklichen Klang verleihen zu können, meinte ich:

„Du kannst ruhig rangehen.“

Kopfschüttelnd sah sie auf mich herab und erklärte mir: „Das wäre doch mehr als unhöflich. Schließlich habe ich dich um ein Gespräch gebeten.“

Das war der einzige Wortwechsel, welcher zu Stande kam, bevor wir den Parkplatz erreichten und den in Weinnuancen getauchten Gebäudeklotz den Rücken kehrten.

Sie lehnte sich gegen einen BMW und ich stellte mich ihr unschlüssig gegenüber.

„Also?“ fragte sie abwartend.

Ich wusste nicht, was sie von mir wollen könnte, also runzelte ich die Stirn, um ihr so meine Unklarheit zu vermitteln, da meine Stimme vor Aufregung noch immer versagte.

„Wo kommst du her?“ setzte sie erneut an, doch schien sich nicht wirklich dafür zu interessieren. Ihr Blick haftete nicht, wie der meine an ihr, sondern war beinahe sprunghaft im Erfassen der Landschaft.

„Buffalo, Minnesota.“

„Interessant“, gab sie trocken dazu.

„Wo kommst du her?“ fragte ich mit sicheren Stimme, als ich es selbst erwartet hatte.

Überrascht landete ihr Blick wieder auf mir und ich fühlte mich nun wieder unbehaglich.

Ich presste die verschränkten Arme noch näher an meine Brust, aber weigerte mich gegen den Willen meines Körpers den Kopf zu senken und meine Schuhe zu betrachten.

„Geboren und aufgewachsen in Paramour Hill“, ein schweres Seufzen entfuhr ihr.

Damit wusste ich nicht umzugehen und sie irritierte mich noch mehr, als sie ein weiteres, beinahe noch erbärmlicheres als das Erste aus ihrer Kehle drang.

„Weißt du Candice Fields?“ Sie wartete bis ich den Blick, der mir doch auf den Boden gerutscht war, hob.

„Ich werde etwas Gutes über dich schreiben. Meine Begierde am Zerstören von Leben ist gestillt. Ich habe meine Macht ausgekostet und ich habe hoch gesetzt, bin einen Moment geschwebt und werde zu Boden stürzen.

Ich bin am Zenit meines Einflusses und doch, habe nichts davon.“

Auch darauf wollte mir nicht die richtige Worte in den Sinn kommen und so antwortete ich, vollkommen falsch, wie ich bemerkte, als ihre Reaktion zu spüren bekam: „Du hast alles!“

Spöttisch lachte sie auf und schüttelte den Kopf: „Ich habe mich geirrt und gedacht du bist anders, aber du bist genauso verblendet.“

Ohne ein weiteres Wort schritt sie an mir vorbei.

 

Das war das einzige Gespräch, welches ich mit Mary Sue jemals geführt hatte.

Und doch ging ich voller Vorfreude und gutgestimmt Nachhause.

Meine Mutter blickte mich dennoch genauso skeptisch, wie zu Beginn des Tages, an.

Doch ich beachtete ihre Miene nicht, sondern eilte an den Laptop und auf die Seite.

 

‚Die Neue‘ wies ein weiteren Kommentar auf.

 

‚Ma.ue‘ schrieb:

 

Willkommen in Paramour.

- Bleibe blind, farblos bist du ja schließlich schon.

 

 

 

Ich schluckte schwer.

 

Rehabilitationphase- Candice Fields

„War das alles, was du uns, zu Mary Sue, sagen kannst?“ fragte der Schulpsychologe und starrte auf den Rotschopf.

Es beunruhigte ihn, wie sehr sie in eine Art Delirium, während ihrer Berichterstattung, gefallen war.

Sie nickte geistesabwesend.

„Dann kannst du wieder gehen“, sie hatte sich bereits erhoben und wollte zur Tür, aber das Wort der Direktorin  drang an ihr Ohr, „ nimmst du bitte im Raum nebenan Platz?“

Sie deutete auf die Tür, die Candice bis zu diesem Zeitpunkt verborgen geblieben war. Nickend machte sie kehrt.

Als sie durch die Tür schritt, erhob sich der Psychologe und marschierte um den Konferenztisch. Er schüttelte sich seine müden Glieder, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte. Der junge Mann tat es ihm gleich und lehnte sich tief  in seinem Stuhl zurück, stieß ein Seufzen aus.

Die Frau kritzelte eine letzte Notiz auf das Blatt vor sich, was sie in der Sitzung ebenfalls akribisch getan hatte und legte den Stift aus der Hand, ehe sie sich eine gelöste Strähne hinter ihr Ohr strich. Auch sie hob nun den Blick.

Darauf hatte der Psychologe gewartet und setzte an, aber wurde beinahe forsch, von dem anderen unterbrochen:

„Der Inbegriff von Perfektion also“, er versuchte nicht spöttisch zu klingen, aber es gelang ihm nicht, „das klingt nicht nach ihr. Dieses Gespräch war vollkommen unnötig.“

„Wir haben einen Eindruck von ihr bekommen“, rechtfertigte der Schulpsychologe das ellenlange Gespräch.

„Sie hat sie nicht einmal gekannt“, höhnte der andere und die Rektorin griff ein, ehe die aufblähende Debatte hätte ausbrechen können.

„Wir benötigen auch die Sichtweise einer objektiven Person oder hätten Sie ihre Schwester, als Inbegriff der Perfektion angesehen?“

Der Anzugträger schnaubte verstimmt und setzte zu einer Antwort an, wurde aber unterbrochen.

„Wir sollten das später klären und erst einmal die Gespräche zu Ende führen“, sagte der ältere Herr bereits mit dem Türgriff  in der Hand.

Schwungvoll riss er diese auf und stoppte das angeregte Gespräch der Schüler. Nur drei, der noch acht der wartenden Schüler, reagierten auf seine Ankunft nicht.

Die beiden Unbekannten und Jerry Smith.

Dieser lehnte sich geradezu widerlich anzüglich an die Unbekannte mit dem goldglänzenden Haar und positionierte seinen Arm auf ihrer Stuhllehne.

„Na, wie geht es dir so?“ raunte er ihr zu und sie wendete tief einatmend den Blick zur Seite.

„Bist wohl etwas schüchtern, was?“ setzte er erneut an, aber sie reagierte noch immer nicht.

Gerade als er einen weiteren Spruch auf die unschuldige Fremde loslassen wollte, mischte sich der junge Student ein.

„Smith“, zischte er gefährlich spitz und fletschte die Zähne, „wenn du nicht dein dämliches Maul hältst, schlag ich dir so eins in deine zum Erbrechen hässliche Visage, dass du dir vor Schmerz die Zunge abbeißt und verschluckst.“

Dem stillen Beobachter fiel auf, dass er während seiner Drohung nicht den Kopf, von den Händen, in welchen er sein Gesicht vergrub, hob.

Gerade als Jerry etwas erwidern wollte, pfiff der Psychologe ihn mit dem Aufrufen seines Namens zurück.

Erschrocken fuhr er zusammen und sorgte für einen genugtuenden Blick auf dem Gesicht des Studenten.

„Jerry Smith?“ hörte er die zögerliche Stimme des Mannes an sein Ohr dringen und schätzte einen Moment ab, wie schnell er diesen Idioten vor sich, krankenhausreif schlagen könnte.

„Jerry!“ vernahm er seinen Namen nun gereizter und riss sich von der Situation ab.

Je schneller er dort drin fertig war, desto schneller könnte er Nachhause.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3 :"Was soll ich sagen? Mary Sue ist eine Schlampe…ich liebe sie.“

Die High School war das, was ich solange erwartet hatte und somit war die Ernüchterung, die ich empfand, als ich zum ersten Mal den grau-blauen Flur mit den roten Farbakzenten, als Schüler betrat, umso größer.

Ich kannte das Gebäude, denn während Großveranstaltungen war es ein beliebter Ort um diese auszulegen. Zudem besuchte meine Schwester die Schule seit einer geraumen Zeit.

Sofort schoss mir die Eifersucht ins Gesicht und färbte es leicht purpurrot, genauso wie der Zorn, welcher in mir aufstieg, wenn ich darüber nachdachte.

Sie war meine Zwillingsschwester, meine zweieiige Zwillingsschwester- Gott sei Dank!- und machte mir damit deutlich bewusst, wo ich bereits sein könnte.

Sozusagen ein Spiegel in die Zukunft, in meine Zukunft.

Schließlich könnte ich in derselben Jahrgangsstufe sein, wenn ich mich in der Mittelschule mehr hinter den Lehrstoff geklemmt hätte.

Aber das hatte ich nicht und so trottete ich, geschlagene zwei Jahre, hinter ihr her.

Wütend warf ich die Zigarette auf den Boden und trat sie auf  einer, der weißen Stufe des Gebäudeeingangs, aus. Mit einem Achselzucken speiste ich die erregten Rufe eines Lehrers ab und schritt durch die Tür. Die Idioten von Mitschüler blockierten wie jeden Morgen den Durchgang, was mich dazu animierte ihn mehr oder weniger freundlich zu erkämpfen.

„Jerry“, hörte die mahnende Stimme meiner Schwester altbewährt aufklingen, als ich gerade dabei war, einen blonden Freshman aus meiner Bahn zu schubsen.

Gelangweilt ruhte mein Blick auf ihren braunen Augen, die meine eigenen widerspiegelten.

Sie bahnte sich zu mir und war dabei um einiges höflicher, doch davon war nichts mehr zu erahnen, als sie bei mir ankam. Ihr schwarzgefärbter Pixieschnitt ließ sie ab und an ein wenig maskulin wirken, aber ihre Figur und ihr Auftreten, verscheuchten diese Annahme schnell.

Wütend stemmte sie sich in die Hände in die Hüfte und blickte mich tadelnd an. Mit einem frechen Grinsen und einem Zucken meiner breiten Schulter versuchte ich entschuldigend auszusehen, drehte ihr erneut den Rücken zu und wollte weiterschreiten, als ich ihre Fingernägel, die sich mit dem immer stärker werdenden Griff weiter in meine Schulter bohrten, spürte.

„Sag mal, hast du sie noch alle?“ fuhr ich herum und schlug ihre Hand weg, ehe ich bemerkte, dass nicht meine Schwester gegen mich eingeschritten war.

Fest umklammert hielt ich das schmale Handgelenk einer Blondine.

„Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle beisammen“, spuckte sie wütend aus und entriss sich meinem Griff.

Ein amüsiertes Lächeln huschte über mein Gesicht, während ihre kalten, grau-blauen Augen erstarrten und sich ihre eigentlich vollen Lippen zu einem dünnen Strich verzogen. Abweisend verschränkte sie die Arme vor der Brust und blickte mich von oben herab ab. Doch ich merkte, dass sich ihrer Sache nicht so sicher war, wie sie es gerne wäre. Ich schraffte die Schultern und zischte:

„Was hast du gesagt?“

Meine direkte Art ließ sie zusammenzucken und ich durchschaute, dass ihr Gehabe mehr Schein als Sein war.

„Hör zu, Freshman“, giftete sie nun mit mehr Selbstbewusstsein, als ich ihr anfangs zugetraut hatte, „man schubst seine eigenen Leute nicht herum, es ist wie ein Verräterschuss.

Inzwischen hatten wir die Aufmerksamkeit der gesamten Schülerschaft auf uns gelenkt und ein abwartendes Schweigen erfüllte den Gang.

„Ein was?“ lachte ich und mir stiegen Tränen vor Lachen in die Augen. Ich vernahm die Anwesenheit meiner Freunde, die sie amüsiert belächelten.

„Dummheit tut weh, was Freshman? Vor allem, wenn bereits ein Junior sein könnte“; höhnte sie und schritt an mir vorbei, als ich darauf nichts erwidern konnte.

Sie hatte meine Schwachstelle angegriffen, aber vor allem hatte sie mich  bloß gestellt.

Dies war der Moment, in dem ich ihr Vergeltung schwor.

 

 

Mein nächstes Treffen mit ihr war kontrollierter- jedenfalls nach meinem Verständnis von Kontrolle.

Denn nach dieser Demütigung, die ich wegen ihr eingefahren hatte, brandmarkten mich meine Freunde, die allesamt, wie sie, Juniors waren mit dem neuen Rufnamen ‚Freshman‘.

Mit jedem Mal, dass sie dies als Ansprache für meinen Namen missbrauchten, wurde mein Impuls sie zu erniedrigen genährt.

Überspitzt stolzierte ich mit geschwollener Brust an den Tischgruppen vorbei, ehe ich an ihrer ankam. Sie teilte sie sich mit meiner Schwester und zwei Mädchen, die meine Aufmerksamkeit nicht verdienten.

Wieder einmal ruhten die Augen aller auf uns, auf mir.

Skeptisch blickte sie mich an, während meine Schwester drohte mich mit ihren Blicken in Flammen zu stecken. Ich schenkte ihr ein süßliches Lächeln und förderte den Gegenstand, den ich geschickt verdeckt hatte, zu Tage.

„Den hast du bei mir vergessen, Püppchen“, grinste ich und ließ den Träger des schwarz-rot Dessous-BH um meinen Zeigefinger baumeln.

Ein aufgeregtes Murmeln durchsetzte die Stille und ich sah, wie sie von den Personen ihrer Tischgruppe erschreckt angestarrt wurde. Mit leeren Mundbewegungen versuchte sie eine Erklärung zu stammeln, aber sie war zu fassungslos, um auch nur einen brauchbaren Laut von sich zu geben.

Ich blickte hinter mich, in den Leib der Cafeteria, und nahm das stumme Applaudieren meiner Freunde zufrieden wahr. In den Reihen meiner Ansicht war es ein Triumph mit ihr geschlafen zu haben, aber in den Augen ihrer Freundinnen, wirkte sie armselig und vielleicht hätte diese Tatsache allein der Erniedrigung zu Genüge getan, aber ich war bereit sie leiden zu sehen.

Als ich mich wieder nach vorne wandte, hatte sie sich vor mir aufgebaut und der Geniestreich, sozusagen das Sahnehäubchen meiner Demütigung, flackerte in mir auf.

Drohend hatte sie ihren Zeigefinger gegen meine Brust gestemmt und presste ihre Worte zischend hervor: „Als ob ich mit so einem überzogenen Arsch wie dir schlafen würde.“

Die Empörung in ihrer Stimme ließ mich den Kopf in den Nacken legen und ein lautes Lachen ausstoßen, ehe ich grinsend den Kopf schüttelte.

Schnell griff ich mit den Handflächen die Körbchen des BHs und hielt sie an ihre Brust, bevor ich mit einem abschätzigen Tonfall in der Stimme meinte: „Du hast recht. Das hier ist nicht dein BH. Deine Brüste sind zu klein, siehst du?“

Ein betörendes, schallendes Gelächter hallte in der gesamten Cafeteria und wurde wie ein Ball von den Wänden hin und her geworfen. Wir, im Zentrum des Geschehens, bekamen die volle Dröhnung, was zur Folge trug, dass ich eine Art Rauschzustand verfiel.

Genießerisch schloss ich die Augen und ließ mich und meine Tat auf Höchste bejubeln und feiern.

Nachdem ich die Augen wieder geöffnet hatte, blickte ich auf sie. Ihre Miene war ausdruckslos und vollkommen anders, als die, die ich berechnet hatte.

Doch dann stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie voller Zorn niederkämpfte, ehe sie sich abwand und die Cafeteria verließ. Ihr Gang war stolz und gleichzeitig so gebrochen.

Mein Blick folgte ihr, mein Gesicht benetzte ein triumphierendes Lächeln und mein Verstand bereute.

 

 

 

„Kaum zu glauben, dass du noch in einen Spiegel blicken kannst“, hörte ich meine Schwester fauchen, während ich mich hinter ihr aufstellte. In ihren Augen loderte tiefer, gieriger Zorn und ich wich einen Schritt zurück, als sie ihren Arm bewegte.

„Der Spiegel würde meine Schönheit vermissen, dass könnte ich ihm doch nicht antun“, sagte ich amüsiert und trat erneut näher. Beven öffnete die Kappe des Lippenstifts, drehte ihr hervor und begann ihn akurat auf ihre Lippen aufzutragen.

„Ihr geht ins Brady's“, schlussfolgerte ich daraus, als ich den Farbton des Lippenstifts erkannte. Es war eine dieser durchschaubaren Angewohnheiten meiner Schwester diesen Lippenstift aufzutragen, wenn sie in diese Bar gingen.

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht“, meinte sie bissig und nahm ihre Jacke vom Bett, ließ mich allerdings nur widerwillig für einen Moment aus den Augen, „lass Mary Sue in Ruhe! Hast du mich verstanden?“

Sie hob abwartend die Augenbrauen, ehe sie mit einer schnellen Blick auf ihre Uhr ohne ein weiteres Wort aus der Tür stürmte.

Zurückgelassen in ihrem Zimmer blickte ich mich um. Seit wir Kinder waren hatte sie mich nicht mehr alleine im Zimmer gelassen und so fiel mir ihr Laptop ins Auge. Hastig nahm ich an ihrem Schreibtisch Platz und zog ihn zu mir um dann festzustellen, dass sie ihn passwortgeschützt hatte.

Wütend schob ich ihn zurück an seinen Platz und wollte gerade aufstehen, als ich einen kleinen Zettel erblickte. Für einen Augenblick war ich selbst von dem diabolischen Grinsen verschreckt, welches sich auf meinen Gesichts abzeichnete.

 

Mühsam bahnte ich mir einen schmalen Weg zwischen den betrunkenen Minderjährige hindurch. Sie alle trugen die knappsten Kleider und hohe Schuhe, damit sie für einundzwanzig gehalten wurden. Missmutig beobachtete ich wie eine vor mir auf den Boden stürzte und mir ein dümmliches Grinsen schenkte. Kopfschüttelnd trat ich beiseite und zwängte mich weiter.

Brady interessierte es nicht, ob seine Kundschaft alt genug war um Alkohol zu trinken, denn solange sie es konnten, waren sie es in seinen Augen. Im Allgemeinen hielt er nicht sonderlich von Gesetzen und brach sie der Reihe nach. Daher ignorierte auch nur allzu gerne das Anti-Rauch-Gesetz.

Schnaubend klemmte ich mich in jeden freien Spalt in der überfüllten Bar auf dem Weg zur Theke.

Das spärliche, gelbliche Licht, das nicht einmal annährend genug den Weg vor mir beleuchetete und die Rauchschwaden, die verhängnisvoll in der Luft hingen, trübten zusätzlich meine Sicht.

„Was machen wir hier eigentlich? Im Brady's hängen nur die ganzen Kücken rum“, meinte Henry unzufrieden.

„Lieber junge Kücken, als alte Hennen oder?“ fragte ich und wendete den Kopf nach hinten.

Grinsend nickte er und auch mein anderer Begleiter, Joshua, verkniff sich das Grinsen nicht.

„Aber wir gehen danach noch auf die College-Party oder?“ hörte ich ihn fragen.

„Klar“, meinte Henry achselzuckend

„Wieso sind wir dann hier?“

„Jerry hat sich doch die Zähne an der kleinen Mary Sue ausgebissen, und die ist heute hier.“

„Halt die Fresse“, fuhr ich fauchend herum, als ich den anzüglichen Tonfall in seiner Stimme heraus hörte.

„Dieses Miststück hat noch eine Lektion zu lernen!“

Mit diesen Worten drehte ich mich wieder nach vorne.

Auf diese College-Party könnte ich heute unmöglich gehen und das allein wegen Mary Sue. Dank ihr hatte sich Freshman bis zu den Colleges rumgesprochen und mir die sichere Nummer mit Carrey versaut.

Werd erstmal erwachsen, Freshman.

Das waren die Worte mit denen sie mich abserviert hatte und dafür würde Mary Sue leiden müssen.

„So wie du dich aufregst, könnte man fast meinen, du stehst auf sie“, hörte ich Henry lachen.

Ich fuhr herum und packte ihn am Kragen: „Ich sag es nur noch einmal: Halt. Deine.Fresse.“

Der Zorn hatte mich nun vollkommen gepackt und ich ließ von ihm ab, wendete mich nach vorne.

Zielstrebig ging ich auf die kleine Nische zu, in der meine Schwester und ihre Freundinnen immer saßen. Doch bevor ich diese erreicht hatte, sah ich eine Schwarzhaarige, die sich laszessiv über die Theke hängte um dem blonden Barkeeper dahinter schöne Augen zu machen. Meine Schwester hatte seit langem etwas für Brady übrig,weswegen sie auch diesen Lippenstift trug, aber ich war mir nicht sicher, ob dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch wenn ich meine Schwester nicht mochte, wollte ich nicht das Brady mit ihr spielte. Als sie mich erkannte kniff sie die Augen zu warnenden Schlitzen zusammen, zog Brady über die Theke und küsste ihn, ehe sie sich zurück zu ihren Freundinnen gesellte.

Kopfschüttelnd lachte ich darüber und ließ mich auf einem freien Barhocker nieder. Sofort kam Brady zu mir und tauschte mit mir einen freundlichen Handschlag aus.

„Einen Single-Mall“, wies ich ihn an und er nickte, stellte allerdings drei Gläser auf die Bar als er meine Gefolgschaft hinter mir ausmachte.

Ich blickte zu der Gruppe von Mädchen, die sich lachend in der Nische amüsierten. Sie saßen dort wegen Beven, damit sie nahe an Brady sein konnte- dies war sicher. Sofort machte ich Mary Sue zwischen meiner Schwester und zwei Freundinnen aus.

Sie trug ihre Haare zusammen und ein enges,rotes Kleid, welches ihr wirklich ausgezeichnet stand- sie sah umwerfend aus. Überrascht stellte ich fest, dass sie nicht, wie ihre Freundinnen einen bunten, süßen Cocktail nippte, sondern ebenfalls ein Whiskeyglas in der Hand hielt.

Grinsend hob ich meines Hand und prostete ihr zu, sodass die bräunliche Spirituose darin beinahe überschwappte. Doch was mich noch mehr überraschte, dass sie ebenfalls ein Grinsen auflegte und mir zuprostete und den Inhalt in einem Zug herunterkippte.

Ich winkte Brady zu mir und fragte: „Was trinkt sie?“, während ich in ihre Richtung deutete.

Brady beugte sich zu ihr herüber, was ich mit überaus aufmerksamen Augen beobachtete und meinte, als er zurückkam: „Black Russian, Arschloch.“

Wütend kniff ich die Augen zusammen: „Was hast du gesagt?“

Er hob abwehrend die Arme und lachte: „Der gesamte Wortlaut kam vor ihr, Mann!“

Ich blickte noch einmal zu ihr herüber und sie hob herausfordernd ihre Augenbrauen.

„Gib ihr ihren Black Russian“, meinte ich ohne den Blick von ihr zu wenden.

 

Nach dem sie diesen und auch vier weitere in einem Zug geleert hatte, war die Zeit vorbei geeilt. Meine Schwester war mit Brady verschwunden und als die neue Barfrau kam, war mir bewusst, dass sie heute auch nicht mehr auftauchen würden. Auch Henry hatte sich mit einer ihrer Freundinnen davon gemacht.

Nach einem letzten finalen Drink sah man ihr die Spuren deutlich an. Sie stützte sich müde den Kopf in die Hände und einzelne Strähnen hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und hinge ihr im Gesicht. Die letzte Freundin, die den ganzen Abend wie ein Wachhund an ihrer Seite verweilt hatte, hatte sich nun erhoben und die Jacke angezogen. Sie redete eindringlich auf sie, aber sie schüttelte nur lachend den Kopf. Diese nickte dann ergebend und ging, während sie an mir vorbei schritt, warf sie mir einen mahnenden Blick zu. Als ich mir sicher war, dass sie nicht wiederkommen würde, schritt ich auf Mary Sue zu und setzte mich neben sie auf die rote Bank.

„Jerry Smith“, sie lallte hörbar und auch der penetrante Geruch von Alkohol hing in ihrem Atem, „ich hasse dich.“

„Ja,ja ich weiß“, meinte ich und dachte, du wirst mich noch viel mehr hassen.

Auf einmal schien mir dieser Gedanke unbehaglich.

„Komm wir gehen“, sagte ich schließlich und zog sie von der Bank.

„Nimm deine Finger von mir“, zischte sie und selbst durch den Alkohol konnte sie ihre Abneigung mir gegenübe nicht nur in Worte fassen, sondern auch unverkennbar mit ihrer Körpersprache verdeutlichen.

Immer wieder versuchte sie ihren Körper von meinem zu wenden, aber in den wenigsten Fällen gelang es ihr. Sie war vollkommen klapprig auf den Beinen, etwa wie ein junges Fohlen, und ein sanfter Stoß hätte wohl genügt, damit sie zu Boden fiel.

„Du schläfst bei Beven, richtig?“

Sie nickte verzögert und ich belächelte sie.

„Ich wohne zufällig in demselben Haus.“

Alles was sie tat, war die Augen verdrehen und sich in meinen Vorgarten zu übergeben, als wir endlich am Haus angekommen waren. Nachdem sie sauber war, legte ich sie in mein Bett und nahm mein Handy hervor. Langsam beugte ich mich zur ihr herunter und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, küsste sie. Plötzlich spürte ich wie sie eine Hand an meine Wange legte und meinen Kuss erwiderte. Hastig versteckte ich das Handy hinter meinem Rücken, als sie den Kuss beendete.

„Jerry?“

„Ja?“

„Ich spiele nur mit dir?“ sie lachte leise und schloss die Augen.

Als ich mich versichert hatte, dass sie schlief, zückte ich das Handy erneut.

Für einen Moment zögerte ich, harrte aus und hinterfragte meine Aktion. Doch mit jedem Klicken der Kamera wurde ich meiner sicherer und ergötzte mich an dem Leid, welches auf sie niederprasseln würde.

Nach jedem Foto zog ich ihr ein Kleidungsstück mehr aus, ehe ich sie anschließend wieder anzog- diesmal gehüllt in eines meiner Shirts. Auch davon machte ich ein Foto- allerdings nur für mich.Erst nun wurde mir bewusst, wie betrunken sie wirklich sein musste.

Seufzend ließ mich auf dem Bett nieder und zog sie zu mir und schloss die Augen.

Mary Sue war taff, wunderschön und konnte selbst mir die Stirn bieten. Mary Sue war perfekt.

Ich schlief ein- schneller und friedlicher als jemals zuvor.

 

 

Das nächste Mal begegneten wir uns in der Schule. Ich stand auf dem Flur, umringt von meinen Freunden, bildete das Zentrum des Kreises. Ich hatte sie eingeweiht in meine Aktion und hatte mir so ihren Respekt widererlangt. Die längste Zeit war ich Freshman gewesen. Als sie in den Anfang meines Blickfeldes trat, blickten auch die Augenpaare meine Freunde auf sie nieder.

Mit Absicht hatte ich den Flur als Ort unseres Wiedersehens gewählt. Ihre Niederlage sollte an demselben Ort sein, wie ihr Höhenflug. Sie sollte an dem Ort ihres Triumphes gedemütigt werden. So hatte man es schließlich auch damals in Versailles mit den Franzosen getan.

Ein plötzliches Lachen erfüllte meine Freunde.

Sie blickten sie undurchdringlich an, wie Raubtiere ihre Beute beobachteten und ich freute mich darauf zu sehen, wie sie sie zerrissen und dabei lachten, wie Hyänen es taten.

Als wir endlich gleicher Ebene waren, warf sie mir ihren überheblichsten und kältesten Blick zu, aber ich verzog nur mein Gesicht zu einem siegreichen Grinsen und drückte auf 'Senden'.

Es war nicht das erste Foto, welcher ich ihr gesendet hatte. Vorgestern hatte sie das erste Foto bekommen. Auf diesem trug sie noch ihr Kleid, während das nächste sie in Unterwäsche zeigte.

Und dieses, nun ja, auf diesem war Mary Sue splitterfasernackt.

Genüsslich sah ich zu, wie sie erblasste und ihr Arroganz, wie ein Spiegel ihrerselbst, zerbrach. Sie presste sich den Hand auf den Mund und rannte los, aber mir als auch ihr war es bewusst, dass sie es nicht mehr auf die Toilette schaffen würde.

Erneut fiel ich in einen Rauschzustandes des Triumphes und hörte gedämpft das Lachen meiner Freunde. Mary Sue hatte sich in eine Ecke gestürzt und erbrach sie. Ein paar reckten die Köpfe in ihre Richtung, andere wendeten sich geekelt ab und wiederrum andere filmten sie dabei. Einer, wahrscheinlich einer meiner Freunde, nahm das Handy auf, welches sie auf den Boden hat fallen lassen und drückte ebenfalls auf 'Senden'.

Ich konnte es mir nicht erklären, aber erneut spürte ich das schlechte Gewissen und begriff gerade erst, was ich der Frau angetan hatte, die ich liebte.

Es gab Gründe, warum ich ein Freshman war, der offensichtlichste war der Mangel an Wissen.

Es gab einen weiteren Krieg, indem die Deutschen verloren und die Franzosen sie ebenfalls zwangen ihre Niederlage in Versailles zu unterzeichnen.

Denn nach dieser Sache wurde ich der Schule verwiesen.

 

Rehabilitationsphase- Jerry Smith

as betretende Schweigen das von Seiten des Personals herrschte war unüblich. Die gesamte Zeit über hatten sie Jerry mehr sprechen lassen, als womöglich gut gewesen war.

Die angespannte Spannung war regelrecht greifbar. Vor allem links neben sich bemerkte da Psychologe eine Bewegung der Hand. Sein Nebenmann ballte gerade die Faust und dies war für ihn Ansporn genug das Wort zu ergreifen, allerdings kam ihm der Junge zuvor.

„Haben Sie noch irgendwelche Fragen?“ meinte er gelangweilt und die Arroganz in seiner Stimme löste erneute Unruhe aus.

„Ja, ich“, meinte er der Anzugträger und richtete sich im Stuhl auf, beugte sich über den Tisch und faltete die Hände ineinander, „wie hat man dir kleinem Bastard wieder erlaubt diese Schule besucht? Oder dich am Leben zu lassen?“

„Mister Sue!“ rief die Rektorin empört auf und blickte den jungen Mann im Anzug zornig an.

Seufzend lehnte sich dieser wieder zurück. Es war zu spüren, dass alle eine Entschuldigung erwarteten, aber er war nicht bereit ihnen diese zu geben.

„Mister Sue?“ lachte Jerry Smith plötzlich auf und hielt das dümmliche Grinsen in seinem Gesicht aufrecht.

Ehe die Situation wieder zu eskalieren drohte, mischte sich der Psychologe erneut in das Gespräch ein.

„Jerry, du hast öfters den Anschein erweckt, dass dir Mary Sue mehr bedeutet. Wieso hast du ihr das angetan?“

Es war nicht das erste Mal, dass er diese Frage gehört hatte. Oftmals hatte er sie sich selbst gestellt, selten eine Antwort daraufgefunden und sich mit Lügen darüber hinweg getröstet.

„Ich liebe Mary Sue. Sehr sogar, aber trotzdem hat sie es verdient. Man muss die Maßstäbe in einer Beziehung sofort regeln und während Mary über die Stränge geschlagen ist, musste ich ihr die Grenzen aufweisen.“

Zufrieden lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Es war eine gute Antwort, die beste seiner Meinung nach.

Die drei Personen sahen sich wortlos an und nickten dann.

„Nimm doch bitte im Nebenraum Platz“, sagte der Psychologe und deutete auf die Tür, in der Candice Field zuvor verschwunden war.

„Ich werde jetzt Nachhause gehen“, sträubte sich Jerry Smith und stand auf.

„Mister Smith“, meinte die Rektorin kraftlos, „Setzten Sie sich einfach in den Nebenraum.“

Einen Moment haderte er, ehe er sich ergab und den Anweisungen folgte.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, war die Empörung über ihn endlos.

Alle sahen sich schweigend an und schienen die Gedanken anderer zu lesen.„Er ist nicht in meine Schwester verliebt. Er ist in das Bild verliebt, welches sie mimte. Er ist ein bodenloser Idiot...“ er brach, ehe er noch ausfallender werden würde.

Die Rektorin sah nur zweifelnd auf ihre Notizen und war innerlich noch immer verstört von den Dingen, die Jerry gesagt hatte.

„Ich weiß, wenn ich ehrlich bin, auch nicht Recht, was ich dazu sagen soll. Er lebt in einer vollkommen verdrehten Welt. Vielleicht glaubt er Mary Sue hätten diese Spiele gefallen“,kopfschüttelnd stand er auf und ging zur Tür.

 

Erneut erloschen die Gespräche und die Köpfe wendeten sich ihm zu. Dieses Mal sah auch die fremde Brünette ihn mit einem Lächeln im Gesicht an. Der einzige, welcher noch immer kein Interesse zeigte, war der Student. Er hielt den Blick starr auf den Boden gerichtet.

„Beven Smith. Kommen Sie nun bitte mit.“

Eine hübsche Schwarzhaarige mit Kurzhaarschnitt erhob sich und folgte dem Mann stillschweigend.

 

 

 

Kapitel 4 :„Sie ist eine Künstlerin. Mary Sue ist wandelbar, in vielerei Hinsicht.“

 

Das laute, penetrante Piepsen drang an mein Ohr und riss mich nun vollkommen aus dem Schlaf. Ich hatte die Nächte zuvor bereits nicht sonderlich viel Ruhe gefunden und allmählich begann dies sich, in Form von Augenringen abzuzeichnen. Müde richtete ich mich auf und ließ einen trägen Blick durch mein Zimmer schweifen. Es war die typische Standardeinrichtung mit Bett, Schrank und Schreibtisch, die jeder besaß. Ein Bücherregal stand neben dem Schreibtisch und ein Fernseher meinem weißen Metallbett gegenüber. Doch etwas, dass definitiv nicht in den Raum gehörte, war mein Bruder. Jerry stand mit seinem widerlichen Grinsen im Türrahmen gelehnt und meinte selbstgefällig: „Du bist schon wieder zu spät.“

Gähnend fuhr ich mir durch die Haare und erschreckte beinahe nicht meine schwarze Mähne zu greifen. Erst als meine Gedanken wacher und klarer wurden, fiel mir mein gestriger Friseurbesuch wieder ein und zufriedenes Lächeln erschien auf meinem Gesicht. Ein Pixieschnitt stand nicht vielen, aber mir außerordentlich gut.

Schwerfällig ich schlug die massige Decke zur Seite und ließ meine Füße zu Boden baumeln, ehe ich mich mit einem kräftigen Schwung erhob und arrogant die Hand in die Hüfte stemmte.

„Wieso bist du überhaupt schon fertig? Die Mittelschule beginnt doch erst um halb zehn.“

Nun zierte mein Gesicht das süffisante Grinsen und lachend schritt ich an ihm vorbei ins Badezimmer. Jerry war das Paradebeispiel eines Versagers. Anstatt ein Sophomore- ein Schüler im zweiten Jahr der High School- hing er noch immer in der Middle School fest.

Ich hörte noch sein unzufriedenes Murmeln, ehe ich die Tür im Badezimmer hinter mir verschloss.

Seufzend ließ ich in die Kuhle, die ich mit meinen Händen formte, das kalte Wasser laufen und wusch mir mein Gesicht. Als ich den Blick nach oben in den Spiegel richtete, bestätigte ich nur meine Annahme und sah mürrisch auf die Augenringe nieder.

Wahrscheinlich war auch die Party letzte Nacht nicht sonderlich hilfreich im Kampf gegen diese und ich griff die Creme, die zu meiner Rechten stand und tupfte sie unter meine Augen.

Erschreckt begutachtete ich den dunkelroten Fleck an meinem Hals und suchte schnell die Salbe um den Knutschfleck zu behandeln. Vage schoss mir die Erinnerung in den Kopf, in der sich ein Typ an meinem Hals befand. Kopfschüttelnd beendete ich meine morgendlichen Waschungen und trat hinaus auf den Flur.

Im Haus war es verräterisch still und aufmerksam huschte ich zurück in mein Zimmer um mich anzukleiden.

„Egal, was du trägst. Es sieht billig aus“, hörte ich Jerry hinter mir wertend sagen und ich blickte entsetzt drein. Ich war mir sicher die Tür verschlossen zu haben und dann blickte ich an mir herab.

Sein Kommentar war vollkommen idiotisch, denn ich fand nichts an einer normalen Jeans und einem einfachen Shirt billig- vielleicht war der Ausschnitt ein wenig freizügig, aber dies hatte meinen Bruder wohl kaum zu interessieren.

„Geh in die Schule. Deine Freunde warten schon“, meinte ich während ich meine Tasche schulterte und ihm sanft die Wange tätschelte, ehe ich erneut an ihm vorbeischritt.

 

„Da bist du ja!“ hörte ich Maya seufzen, als ich aus meinem Wagen schritt und den Asphalt mit meinen High Heels berührte. Sie waren beinahe zu schade für die Schule.

„Hallo“, meinte ich lächelnd und griff nach der Tasche auf dem Beifahrersitz.

„Was hast du gemacht?“ kreischte Tamara ein wenig zu schrill für die frühe Zeit auf und ich verzog schmerzvoll das Gesicht.

„Das geht auch dreißig Dezibel leiser“, meinte ich und hielt mir zur Übertreibung noch das eine Ohr zu. Empört blickte sie mich an, hielt mir dann aber den Kaffeepappbecher entgegen.

„Zwei Stück Zucker, ein Schuss Milch.“

Dankbar nickte ich,nahm ihn entgegen und schlug die Autotür meines weißen S40 Volvo zu. Ich hatte ihn letzte Woche zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen. Ein Stückchen Metall anstatt ein Stückchen Liebe. Aber ich würde diesem Stückchen Metall einfach mein Stückchen Liebe schenken.

„Was meinst du eigentlich?“ fragte ich und nahm einen Schluck vom Kaffee und lehnte mich gegen den Wagen. Wir kamen immer zu spät- exakt drei Minuten.

„Dein Gesicht! Meine Großmutter hat wachere Haut.“

Genervt blickte ich sie an, blieb aber kommentarlos und ging an ihr vorbei. Sofort hörte ich das klappernde Geräusch ihrer Absätze hinter mir. Beide trugen sie ein Kleid und hohe Schuhe dazu und folgten mir ständig- ununterbrochen.

Plötzlich hielt ich inne und deutete auf das Mädchen vor uns. Sie hetzte gerade die Treppen hoch und blickte sich noch einmal nach hinten um, ehe sie die Haupttür aufriss und dahinter verschwand.

„Wer ist das?“

„Keine Ahnung, aber sollen wir es rausfinden?“

Sie waren wie meine Lakaien, dabei wollte ich nicht einmal welche. Ich wollte nicht, dass wir das klischeehafte Bild gaben, welches man in den Fernsehserien zu genüge sah.

„Nein“, sagte ich kopfschüttelnd und trat auf die erste Stufe, „erst wenn wir sie wieder sehen.“

Und ich war mir sicher, dass wir dieses blonde Mädchen nicht zum letzten Mal gesehen hatten.

 

Meine Vermutung war richtig und so sah ich sie auch die nächsten drei Tage ständig kurz vor uns in die Schule eilen. Inzwischen war mir auch bewusst geworden, dass der suchende Blick mir galt. Jeden Morgen suchte sie mich, ehe sie die Schule betrat.

Die erste Hälfte des Schultages war bereits vergangen, als wir uns zum Mittagessen in die Cafeteria begaben.

„Ihr Name ist Mary Sue“, teilte mir Tamara mit. Momentan war ich nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen. Ich sah, wie sie versuchte mich zu imitieren und ihre langen blonden Haare zu einem Bob geschnitten hatte. Sie wollte offensichtlich nicht sofort einen Kurzhaarschnitt wagen.

„Tamara hat mit ihr Geschichte“, fuhr Maya fort und ich sah auf das Mädchen mit dem südländischen Teint. Sie hatte brazilanische Wurzeln und ihre schwarzen Haare fielen in einer lockigen Mähne über ihre Schultern. Sie war die Einzige, die mir die Position als Gruppenführerin streitig machen könnte, aber dafür hatte sie nicht den Mumm.

„Sie ist ein unaufälliges Blondchen. Meist hat sie gut Noten, verhält sich im Unterricht aber so zurückhaltend, dass sie mir noch nie aufgefallen ist.“

Nickend nahm ich einen Biss meines Burgers. Er schmeckte scheußlich und ich legte ihn aus der Hand, ehe ich Tamara anfuhr: „Ich will nichts von ihren schulischen Leistungen hören. Ich will wissen, wer der Mensch Mary Sue ist.“

Zwischen Tamara und Maya fand ein unsicherer Blickwechsel statt und ich blickte in die Cafeteria. Die blau-roten Wänden, die das Farbschema der Schule widerspiegelten, brachten mich auf eine Idee.

„Was steht über sie auf der Website?“

„Nichts. Wie über jeden Schüler, der in der Masse untergeht nicht mehr als ein oder zwei Bemerkungen.“

„Dann brauchen wir eben Informationen aus erster Quelle“, meinte ich während ich sie bereits zu unserem Tisch winkte.

Es entstanden drei überraschte Gesichter: Tamara, Maya und Mary Sue.

In ihren grauen Augen lag schon ein scheuer Blick, beinahe so als hätte ich sie bei etwas ertappt. Einen Augenblick gönnte sie sich einen kurzen Schulterblick um sich sicher zu sein, dass ich sie meinte, ehe sie auf uns zukam. Mit jedem Schritt, mit dem sie sich der Tischgruppe näherte, schien sie sicherer und unsicherer zu gleich zu werden.

„Setz dich doch zu uns“, lächelte ich freundlich und rückte auf, sodass sie neben mir Platz nehmen konnte.

Meine Gefolgschaft schien noch immer ein wenig irritiert, hielt sich aber mit ihren Mutmaßungen zurück.

„Klar, warum nicht?“ sagte Mary Sue und ließ sich neben mir nieder.

Interessiert wendete ich den Kopf zu ihr und begann ihr alle Fragen zu stellen, die mich interessierten.

Ohne mir irgendwelche Skepsis entgegen zu bringen, erzählte sie munter darauf los.

Sie hatte einen Bruder, der inzwischen studierte und lebte mit ihrer Mutter alleine in einem Wohnblock in der Innenstadt.

Nach einer Zeit fiel mir auf, dass sie mir auch viel verschwieg und alles oberflächlich erzählte. Die anfängliche Beschränktheit, die ich ihr angemessen hatte, war nicht eingetreten und erst jetzt schien ich zu begreifen, dass sie mir sehr wohl mit Skepsis gegenüber stand. Sie hatte sie wunderbar getarnt und mich getäuscht.

Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich, als es klingelte.

„Die war ja zum Sterben langweilig“, zeterte Maya bereits gehässig und auch Tamara setzte in ihre Anklagen mit ein. Nur ich hielt mich zurück und blickte ihr hinterher, wie sie mit zwei Freundinnen, die uns während des gesamten Gespräches beobachtet hatten, aus der Cafeteria schritt.

„Sie war fantastisch und ich werde sie atemberaubend machen“, sagte ich, erhob mich und schritt, zum ersten Mal an diesem Tag, ohne mein Gefolge davon.

 

Prüfend warf ich einen letzten Blick in mein Zimmer und kontrollierte somit, dass die Alkoholflaschen nicht sicherbar waren. Auf meinem Schreibtisch türmten sich Cola-Flaschen und Knabberzeug, während sich die Kissen auf meinem Bett, wie Berge stapelten. Vor meinem Fernseher lagen reihenweise DVD's und ich zog gerade die geblümte Pyjamahose nach oben, als meine Mutter den Kopf durch den Türspalt steckte und meine Tarnung begutachtete.

„Schön“, meinte sie nickend, „wer kommt gleich nochmal?“

„Mary Sue. Ein Mädchen aus meiner Schule. Tamara und Maya vielleicht auch, wenn sie nach ihrem Volleyballtraining noch Kraft haben“, ich lachte und meine Mutter stimmte mit ein.

„Na gut. Jerry ist heute nicht Zuhause. Du weißt, er ist mit dem Fußballverein unterwegs. Wir sind dann auch weg“, lächelte sie und ich schritt zur ihr, damit sie mir einen Kuss auf die Wange pressen konnte. Intuitiv rieb ich mir den Lippenstift von dieser und schloss die Tür.

Unten hörte ich eine leise Unterhaltung und es war offentlich, dass Mary Sue eingetroffen war. Einen Augenblick horchte ich, wie sie die Stufen erklomm und an mein Zimmer klopfte.

Mit einem 'Herein' gewährte ich ihr Einlass und sie blickte sich staunend, als auch irritiert, um.

„Ich dachte“, meinte sie und stellte ihre Tasche neben der Tür zu Boden, „wir würden in eine Bar gehen?“

Ein Grinsen umspielte meine dünnen Lippen und ich nickte: „Tun wir auch. Aber ich kann das schlecht meinen Eltern sagen oder?“

Etwas gedankenverloren nickte sie und ließ sich unsicher auf dem Bett nieder.

„Gut“, meinte ich enthausiastisch und förderte eine Flasche des Alkohols nach der anderen zu Tage. Mary Sue sah ein wenig entsetzt aus, aber sofort fiel sie in den Rausch des Neuen.

„So, das macht dich, locker, offener und leider auch freizügiger“, lachte ich und goss ihr einen Becher klaren Wodka ein und reichte ihn ihr.

Zaghaft nahm sie ihn und roch vorsichtig daran, ehe sie das Gesicht verzog und die Nase rümpfte.

„Das ist widerlich!“ sagte sie entschieden und stellte den Becher zur Seite, „wo gehen wir denn hin?“

„Wir, Mary, wir gehen ins Brady's.“

Ich eilte zu meinem Kleiderschrank und öffnete die rechte Seite der Schwebetür. Glücklich seufzend nahm ich das schwarze Kleid mit Einschnitten an den richtigen Stellen hervor.

Das Kleid hatte ich extra für diesen Abend gekauft. Ich war mir sicher, Brady würde mich dieses Mal bemerken.

„Ich weiß gar nicht,was ich anziehen soll“, meinte sie und blickte hoffnungslos verloren an sich herab. Skeptisch nickte ich, als ich ihre simple schwarze Hose begutachtete. Auch das Oberteil war kein Blickfang. So würde sie nicht ins Brady's gelangen.

„Wenn du trinken willst, musst du aussehen wie einundzwanzig“, meinte ich nachdenklich und griff mir ans Kinn um meine Denkerpose zu unterstützen, „wir müssen etwas an deinen Haaren ändern. Ich zeige dir, wie man sich richtig schminkt und ich zeige dir, wie man lebt“, meinte ich zwinkernd und ein Lächeln, welches von Missmut durchsetzt war, blitzte mir entgegen. Sie fürchtete sich vor den Veränderungen, welche ich für sie geplant hatte.

„Aber kommen wir erstmal zu dem Kleiderproblem“, meinte ich, nahm ihren Drink und stürzte ihn herunter.

Ich reichte ihr immer wieder ein paar Oberteile, die sie immer wieder ablehnte.

 

„Die passen mir nicht“, sagte sie entmutigt und ließ sich auf mein Bett fallen.

„Daran werden wir auch was ändern. Ab Montag werden wir dich trainieren!“ sagte ich entschlossen und kramte ein Kleid vor, das mir etwas zu weit war.

Ein anzüglicher Pfiff war meine Bestätigung für sie, wie fabelhaft sie in diesem Kleid aussah. Verlegen drehte sie sich vor dem Spiegel hin und her, scheu ihre wahre Freude über das Kleid zu zeigen, und zog das Kleid ein wenig hinunter.

„Sieht das auch wirklich gut aus? Ich bin mir nicht sicher, ob das Rot zu meinen blonden Haaren passt“, meinte sie zweifelnd und nahm eine Strähne ihrer schulterlangen Haare zwischen zwei Finger.

Ihre blonden Haare sahen vielleicht wirklich nicht gerade ideal zu dem knalligen Rot des Kleides aus, aber dennoch stand es ihr ausgezeichnet.

„Es sieht super aus und jetzt keine Widerrede!“ mahnte ich sie streng und lachte dann, als ich den zügelnden Ausdruck auf ihrem Gesicht ablesen konnte.

Allerdings sah ich da noch etwas, etwas was sie mir nicht zeigen wollte und es dennoch tat- Erfüllung.

 

„Du siehst schrecklich aus...ich meine noch schlimmer als sonst“, flötete Jerry als er zur Tür hereinkam und mich mit arroganten Augen begutachtete. Ich hatte mich mit dem Gesicht zur Tischplatte gewandt und mich zwischen meinen Armen vergraben. Das laute Pochen meines Blutes schien mir noch den Verstand zu rauben. Mein Körper fühlte sich fremd an. Jede Bewegung löste irgendein Schwindel- oder Übelkeitsgefühl aus und mein Magen war verdreht.

Mit seinen kalten Fingern griff er mir in den Nacken, sodass er ich erschreckt hochfuhr und um mich schlug. Sofort glaubte ich mich nun hier und jetzt übergeben zu müssen und presste vorsichtshalber bereits meine Hände vor den Mund.

Ich schloss die Augen, zählte leise bis zehn und nahm sie wieder von meinem Mund.

„Wart ihr im Brady's?“ fragte er und hob amüsiert eine Augenbraue, während er die Kaffeetasse auf den Tisch donnerte.

Ein scharfes Zischen entfuhr mir und schmerzverzerrt hielt ich mir den Kopf.

„Ganz offensichtlich wart ihr dort“, stellte er belustigt fest und ich spürte den musternden Blick deutlich auf mir.

Während ich versuchte schwerfällig meinen Körper aufzurichten, kehrte der Schwindel sowie die brennenden Kopfschmerzen zurück. Langsam und vorsichtig robbte ich mich die Treppe nach oben, während ich auf der obersten Stufe erneut glaubte, meinen Mageninhalt entleeren zu müssen.

Als ich es endlich geschafft hatte mein Zimmer zu erreichen, drang der aggressive und durchaus widerwärtige Geruch von Alkohol in meine Nase.

Ausgelaugt und erschöpft von den Anstrengungen des Treppensteigen blieb ich an Ort und Stelle auf meinem Boden liegen. Seit einer ewiglangen Zeit hatte ich mich nicht mehr so miserabel gefühlt.

Doch wer hätte ahnen können das Mary Sue so viel vertrug? Mit einem angedeuteten Kopfschütteln präsentierte ich meinen Unglauben dem Boden und bereute diese unnütze Bewegung sofort.

Auch Brady hatte mich an diesem Abend nicht wahrgenommen- wieder einmal nicht. So langsam glaubte ich wirklich, dass er keinerlei Interesse für mich hegte.

Und dennoch war ich mir sicher, dass ich während dem nächsten Besuch in seinem Irish Pub versuchen würde, ihn weiter zu beeindrucken. Alles andere wäre auch gegen meine Natur und würde in mehr als nur einer Hinsicht mein Ego stark schädigen.

Allerdings könnte und würde ich diese Tatsache nicht auf mir sitzen lassen, schließlich war ich eine Smith und eine Smith gab nicht einfach so auf.

Es ging mir nun nicht mehr allein um die Gunst von Brady, sondern es ging um meine Ehre und die wusste ich mit allem, was ich besaß zu verteidigen.

„Wie spät ist es?“ hörte ich es aus meinem Bett grummeln und erst jetzt fiel mir ein, dass Mary Sue, die Nacht hierverbracht hatte.

„Irgendwann zwischen drei Uhr morgens und jetzt“, murmelte ich undeutlich und drehte mich auf den Rücken, da ich so langsam aber sicher das Empfinden verspürte zu ersticken.

„Danke für die Präszision“, fauchte sie und ich nahm abwesend Bewegungen zwischen den Kissenbergen wahr. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte sie sich aus meinem Bett gepellt und stand aktiver vor mir, als ich sie erwartet hatte.

Während ich mich hier mit dem Kater meines Lebens zu plagen schien, interessierte sie der anhaltende Alkoholpegel, der in ihrem Blutsystem noch zirkulieren musste , offensichtlich überhaupt nicht.

Dafür hatte ich zwei Erklärungen: Entweder sie war noch immer zum Maße hin betrunken oder sie hatte nichts getrunken. Da der zweite Fall ausgeschlossen war, grinste ich müde vor mich hin.

Dieses Bild würde sie wohl im Laufe des Tages einholen.

Der kosmischen Gerechtigkeit genüge getan zu haben, schlief ich ein, als die Welt stoppte ihre Kreise um mich herumzuziehen.

 

 

 

 

 

Der Montag kam schneller als mir lieb war und so trottete ich, erneut mit den Spuren des Wochenendes gekennzeichnet, in die Schule. Meine Gefolgschaft hatte mir bis auf weiteres den Dienst verweigert und realisierten dabei nicht einmal, dass sie mir damit einen Gefallen taten.

So schritt ich also in allmorgendlicher Ruhe die exakt drei Minuten Verspätung an und bemerkte erst jetzt wie befriedigend diese doch Stille war, wenn mir doch der fertige Kaffee fehlte.

Einen Augenblick hielt ich sogar Ausschau nach Mary Sue, aber begriff dann, dass ich sie wohl nie wieder hier antreffen würde. Sie hatte ihr Ziel erreicht. Sie hatte meine Bestätigung ihrer Existenz erlangt sowie meine Aufmerksamkeit.

In gewisser Weise wusste ich nicht, ob ich damit handeln konnte. Ich wusste nicht, ob ich wollte, dass sie selbstständig sein konnte, denn irgendwie, wie sehr ich auch die Ruhe schätze, die nun um mich herrschte, fehlte mir das Gefühl gebraucht zu werden.

Und plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel heraus wie eine Blondine auf den Eingang hechtete, ein letzter prüfender Blick nach hinten, eingefangen mit einem scheuen Lächeln, ehe sie verschwand.

Augenblicklich verlor ich meine Angst, als ich Mary Sue sah.

 

Der Mensch ist edel,der Mensch ist eitel.

Der Mensch ist gütig, der Mensch ist gierig.

Der Mensch ist alles, der Mensch ist nichts...“

Was ich nicht wusste, war die Tatsache, dass ich und Mary Sue Literatur ebenfalls zusammen beiwohnten. Ich hatte es erst erfahren, als wir eine Weile bekannt waren und nun waren wir befreundet.

Ich sah, wie sie sprach und dabei jede Silbe so nobel formte. Man sah ihr an, dass sie nicht daran glaubte, wovon sie sprach. Es war die Art, wie sie die Buchstaben betrachtete und auch die Arroganz in ihrer Stimme.

Es hatte mich Monate gekostet diesen süffisanten Unterton in ihre Stimme zu legen und nun konnte ich mir zurücklehnen und mich davon besingen lassen.

„Danke Mary“, meinte Mister Hamilton und wies sie an, wieder auf ihrem Platz zu nehmen.

Als sie sich an der Bank hinter mir niederließ, drang sofort die aufgeregte Frage an mein Ohr:

„Und wie war ich?“

„Großartig“, meinte ich trocken und richtete meinen Blick nach vorne.

„Danke“, hauchte sie selbstgefällig und ich warf ihr einen überraschten Schulterblick nach hinten, aber Mary Sue beachtete mich nicht mehr.

Gelangweilt blickte sie auf ihre manikürten Fingernägel, ehe ihr Blick in den Schoß auf ihr Handy rutschte.

Gerade als ich mich wieder nach vorne wenden wollte, sah ich das amüsierte Grinsen auf ihren Lippen aufflackern, ehe es erlosch.

Als das Klingeln und endlich aus dem schwerfälligen Schwadronieren des Lehrers befreite, eilte ich geradezu aus der Klasse und blieb abrupt stehen, als ich nicht das Geräusch klappender Absätze hinter mir wahrnahm. Überrascht wendete ich mich um und sah, dass Mary Sue ein angeregtes Gespräch mit Freddie Jackson, dem Kapitän der Basketballmannschaft führte.

Etwas stolz entfernte ich mich weitere Schritte bis zu dem Wasserspender, beugte mich vor und nahm einen großzügigen Schluck, während ich die beiden aufmerksam beobachtete.

Mary Sue schenkte ihm hin und wieder ein kurzlebiges Lächeln, während er eines dauerhaftes im Gesicht trug. Es war dieses Art von schiefem Grinsen, was man bei ihm häufig sah, wenn er Interesse an einem Mädchen hatte. Mir war nicht klar, ob Mary es ebenfalls so offensichtlich bemerkte, denn in einer gewissen Weise wirkte sie ihm gegenüber ablehnend.

Diese Theorie schien sich als falsch zu bestätigen als ich sah, wie sie seinen Arm berührte, als sie sich vor Lachen schüttelte. Langsam wurde mein Blick zu langwierig und seufzend wandte ich mich ab und begab mich in Richtung Cafeteria.

Es war seltsam keinem bekannten Gesicht zu begegnen als ich mich an einem Tisch niederließ.

Zum erstem Mal sah ich die Cafeteria wie ein Einzelgänger, ein Außenseiter es tat.

Unsere gesamte Schülerschaft amte die Klischees nach, welche man uns in Serien vorlebten. Ich sah eine Gruppe meiner 'Freunde'. Man begrüßte sich auf Partys, nahm vielleicht ein oder zwei Drinks zusammen und ging sich dennoch in den Schulfluren größtenteils aus dem Weg. Es war nicht so, dass man sich mochte, aber man war Bekannte der Nacht.

Viele von den Sportlern, die große Chancen auf ein Stipendium an einer renomierten Universität hatten, hatten mindestens ein ebenso großes Suchtpotential. Alle sie waren innerlich instabil. In einer gewissenweise erinnerten sie mich an Mary Sue.

Es schien mir, dass bei Mary Sue eine Säule einbrechen müsste und sie in den Tod stürzen würde. Nicht das ich mir das für sie wünschte, aber ich war mir sicher, dass ein kleiner Funken ein Inferno entfachen würde.

Seufzend nahm ich einen Schluck von dem brühheißen Kaffee und schluckte ihn krampfhaft herunter, während er begann meine Speiseröhre zu kochen. Stoßweise atmete ich aus, als ich ein heiseres Lachen nehmen mir hörte und aufschreckte. Mary Sue stand mit ihrem Tablett, auf dem nicht mehr zu finden war als ein winziger Apfel und ein Wasser, vor mir und lachte in sich hinein.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte ich gereizt und sie wich für einen Augenblick zurück, ließ sich dennoch mir gegenüber.

„Nein“, meinte sie mit gespitzten Lippen und ich sah die Bosheit auf ihnen liegen, „ich dir?“

Ein listiges Grinsen umspielte meine Lippen, als ich die Ironie in ihrer Frage heraus hörte.

„Und?“ fragte ich und stellte den Kaffeebecher geradezu lächerlich weit von mir weg, „Was wollte Freddie von dir?“

Ertappt sah sie nach oben, bevor sie achselzuckend in ihren Apfel biss und mir schmatzend antwortete: „Nichts besonderes. Er will mit mir ausgehen, meinst du ich soll es tun?“

„Natürlich!“ rief ich entsetzt auf, sodass ich ein paar neugierige Blicke auf mir wiederfand.

„Meinst du dafür bin ich schon bereit?“ der Selbstzweifel flatterte über ihre grauen Augen und sie schüttelte skeptisch den Kopf.

„Und ob du soweit bist!Ich-“ ich brach ab und begutachtete sie.

Ich habe dich soweit gemacht, brachte ich den Gedanken im Stillen zu Ende. Sie hatte sich verändert- ich hatte sie verändert. Mary Sue hatte abgenommen und besaß nun wirkliche eine unglaubliche Figur, wenn sie obenrum auch etwas Schwindel bedurfte. Ihre Haare lagen ihr nun auf der Brust und waren um mehrere Nuancen aufgehellt, sodass sie ein strahlendes Hellblond trug. Während ihre Haare heller wurden, wurden ihr Augen dunkler. Wo sie anfangs nur Wimperntusche aufgelegt hatte, griff sie nun auch zu Eyeliner.

Doch nicht nur äußerlich hatte ich sie verändert, nein, sie gab sich nun anders.

Erlangte mit jedem Tag mehr Selbstbewusstsein und eine stetige Arroganz in ihrer Haltung und Stimme schlich sich ein, Routine zu werden.

„Ich weiß das“, vollendete ich meinen Satz und sie lächelte erleichtert.

 

Sorgfältig zog ich den Lippenstift an meiner Unterlippe entlang. Sie war nicht so füllig, wie ich es mir wünschte und so hoffte ich, dass ich durch die kräftige Farbe zumindest die Illusion dafür erzeugen konnte.

Einen Farbton, den ich mir für Brady aufhob,- ein kräftiges Rot, dass mit einer Nuance Bordeaux abgeschwächt wurde-, der den wilden Namen 'Dare or die' trug. Also wagte ich mich ihn zu tragen, denn Sterben war für mich keine Option.

Mit einem letzten, kritischen Blick nickte ich mein Kunstwerk ab und blickte mich nach hinten um, als ich eine Gestalt aus dem Augenwinkel wahrnahm.

„Hey Mary“, meinte ich fröhlich und hielt mir ein schwarzes Kleid mit bodenlosen Ausschnitt vor den Körper.

„Hey Beven“, hörte ich eine tiefere und männlichere Stimme sagen, als ich sie von Mary gewohnt war. Mit einer bösen Vorahnung drehte mich um und blickte in das selbstgefällige Gesicht meines Bruders.

„Sieh mal auf den Boden“, wies er mich an.

Irritiert neigte ich meinen Kopf nach unten und begutachtete das helle Parkett, als ich nichts weiter darauf erkennen konnte.

„Dort liegt dein Niveau“, lachte er und mit zornig funkelnden Augen blickte ich wieder auf.

„Fahr zur Hölle, Jerry“zischte ich wütend und stieß ihn aus dem Türrahmen, ehe ich die Tür polternd in diesem versenkte.

„Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass diese ominöse Mary nicht kommt...“ meinte er durch die verschlossene Tür.

Ratlos riss ich die Tür auf: „Was?!“

„Sie kommt direkt ins Bradys“, meinte er achselzuckend und ließ mich zurück. Fassungslos blickte ich ihm hinterher, während ich über das nachdachte, was er sagte und dies mich nur noch mehr verwirrte.

Abgehetzt gelangte ich in die, wie immer überfüllte, Bar und hielt nach Mary Ausschau.

Die Rauchschwaden, die über den Köpfen hingen und die sparsame Beleuchtung erleichterten mir meine Suche nicht und seufzend ließ ich mich an der Bar nieder, als ich sie nach geschlagenen fünfzehn Minuten immer noch nicht gefunden hatte. Dabei war dieses Pub alles andere als weitläufig und häufig begegnete man sich öfters als nur zweimal.

So etwa war ich auf Chloe, eine Freundin Mary Sues, geschlagene dreimal getroffen, aber auch diese hatte sie noch nicht ausfindig machen können.

„Einen Cosmo“, wies ich Brady an und stützte kraftlos meinen Kopf, in die Handfläche während ich mich mit dem Ellenbogen auf der Bar abstützte. Die laute Folk-Musik, die einen hier stetig beschallte, ließ meine Bestellung im Meer der anderen erbärmlich untergehen und ich war nicht gerade in der Stimmung dagegen anzukämpfen.

Deswegen war ich umso überraschter, als mir den rötlichen Drink in einem Cocktailspitz servierte. Mit einem Lächeln im Gesicht kramte ich in meiner Tasche um ihn zu bezahlen, aber Brady winkte, ebenfalls lächelnd, ab: „Die Rechnung ist schon beglichen. Er geht aufs Haus!“

„Aufs Haus?“ fragte ich verblüfft und beendete die Durchsuchung in meiner Tasche und nahm einen kräftigen Schluck.

„Naja, mehr oder weniger...“ sagte er lachend und sein Blick flog für einen Moment in die Barnische an deren Ende, „Mary hat für dich bezahlt.“

Gerade als ich glaubte unserer Gespräch sei beendet, nachdem ich die ärgerlichen Rufe einer Gruppe Frauen aus entgegengesetzter Richtung hörte, förderte er einen Zettel zu Tage, auf dem ein paar Zahlen gekritzelt waren.

„Naja, sie hat mit deiner Handynummer bezahlt“, er grinste kess und auch in meinem Gesicht stellte sich ein vielsagendes Grinsen ein, ehe ich verwundert aufhorchte: „Moment, Mary? Woher kennst du ihren Namen?“

„Sie ist Stammkundin. Fast jedes Wochenende ist sie hier...“ ein paar weitere Zurufe störten unser Gespräch, welche er nun nicht länger ignorieren konnte, „ich melde mich!“

Ich lehnte mich ein wenig über die Bar und entdeckte Mary nun endlich. Sie saß flankiert zwischen zwei Typen, die von ihrem Aussehen her Freddie weit in den Schatten stellten. Es waren womöglich zwei Studenten, die sie freudig auf eine Runde Kurze nach der anderen einluden. Als mich hier Blick streifte, zwinkerte sie mir ambivalent zu und prostete mir mit ihrem Glas zu. Lachend ließ ich mich zurück auf den Barhocker gleiten und rührte gedankenverloren in meinem Cocktail herum. Sie hatte meine Nummer an Brady gebracht... ich war ihr dankbar.

Und plötzlich war ich bestürzt. Sie war Stammkundin hier? Selten waren sie und ich ein Wochenende im Brady's- in den letzten Monaten vielleicht drei oder vier Mal höchstens. Unsicher wie ich darüber denken sollte, stürzte ich mein Getränk hinunter und stand auf um mich zu ihr zu gesellen.

Es dauerte eine ganze Weile bis wir die beiden Kerle verabschieden konnten. Wie sich herausstellte, waren sie tatsächlich Studenten an der University of North Carolina at Chapel Hill und gerade auf Heimbesuch. Mir waren auch deutlich die neugierigen Blicke Bradys aufgefallen, als ich mich in deren Mitte begeben hatte.

„Weißt du...“ meinte sie bereits in angeheitertem Zustand und legte mir den Arm um die Schultern, „ich danke dir...du hast aus mir gemacht, was ich immer sein wollte.“

„Betrunken?“ fragte ich lachend und schob sie ein wenig von mir weg, denn sie roch wie eine gesamte Brennerei.

„Ein Jemand“, hauchte sie und presste mir einen Kuss auf die Wange.

 

Das Wochenende versagte erneut seinen Dienst und der Montag kam unerwartet schnell zurück. Einen Augenblick sinnierte ich, wie oft ich mich wohl noch fragen würde, wo die Zeit über das Wochenende geblieben war, als es klingelte und ich aus dem Wagen stieg.

Ich harrte einen Moment aus und wartete auf Mary Sue, welche ich noch immer jeden Morgen geradezu lächerlich pünktlich um die exaktgleiche Uhrzeit antraf. Und doch, dieses Mal kam sie nicht.

Wir sahen uns erst in der Cafeteria wieder, wo sie sich lachend auf die Bank fallen ließ. Einen Moment beobachtete ich sie, wie sie kurzweilig den Blick durch mich hindurch verweilen ließ, ehe sie mich anlächelte.

„Guten Morgen.“

„Hallo, ich habe draußen auf dich gewartet“, meinte ich nachdenklich und biss in das Sandwich. Kauend notierte ich immer wieder den fliegenden Blick, der an mir, wenn nicht sogar immer, durch mich hindurch schweifte.

„Ja...“ meinte sie geistesabwesend, „ich darf nicht mehr zu spät kommen.“

Ein verstohlenes Lächeln schlich auf ihr Gesicht, als sie ein letztes Mal an mir vorbei sah und einen gierigen Schluck aus ihrem Kaffeebecher nahm. Es war inzwischen der einzige Gegenstand auf ihrem Tablett, der ihre Diät überlebt hatte. Kopfschüttelnd wendete ich den Blick nach unten und erhob ihn erst wieder als ich eine befremdliche Stimme ertönen hörte.

Neugierig sah ich nach oben und erkannte die Gruppe Sportler, die sich vor uns aufgereiht hatte.

„Am Samstag“, setzte Freddie an, „sind meine Eltern nicht da. Ich schmeiß' 'ne Party. Seid ihr dabei?“

Sein Blick stieß sich zwischen Mary und mir hin und her, ehe ich mit einem Achselzucken und einem simplen 'Klar' meine Zusage gab.

Anders als Mary Sue: „Meint ihr echt, ich soll kommen?“

Nervös trommelte sie mit den Fingern gegen die Außenseite ihres Kaffeebechers. Ein paar Stimmen überschlugen sich, als sie ihr mitteilten, dass sie auf jeden Fall unter jeden Umständen kommen müsse.

„Natürlich“, stach Freddie mit seiner Aussage heraus, „ohne dich wird es schließlich keine richtige Party.“

Überrascht sahen Mary Sue und ich uns an, ehe ein Strahlen auf ihrem Gesicht erschien.

Ich konnte mir es nicht erklären, aber es war ein düsteres, unheilvolles Strahlen.

Das Klingeln zerrüttete die Gruppe vor uns und auch der Rest der Cafeteria begab sich mit lautem Scheppern, während sie die Tablette zurückstellen, aus der Cafeteria.

„Kommst du?“ hörte ich Mary fragen und nahm ein wenig abwesend war, wie sie aufstand.

Langsam schüttelte ich den Kopf und log: „Ich habe eine Freistunde.“

Irgendwann hörte ich ihre Schritte verklingen, schien ich endlich aus meinem Zustand aufzuschrecken und sammelte meine Sachen zusammen. Als ich die Tasche geschultert hatte, sah ich Tamara an der Tür lehnen.

Sie starrte mich unerlässlich an und mit bedachten Schritten wankte ich auf sie zu.

Meine Gedanken rasten in diesem Augenblick und umkreisten einen Besonderen erbarmungslos.

„Dr. Frankenstein“, begrüßte sie mich zynisch und hielt mir einen Kaffeebecher hin. Wortlos nahm ich ihn entgegen und stemmte meine Hände in die Hüfte, „du hast es geschafft. Sie ist atemberaubend... aber dein Monster wird dir den Rang ablaufen.“

Seufzend nahm ich einen großzügigen Schluck und ignorierte den Schmerz, während er mir die trockene Kehle hinunterrann.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rehabilitationsphase- Beven Smith

Es war eine unangenehme Stille.

Keiner der Anwesenden wusste, was er sonderlich Beruhigendes hätte sagen sollen. Die Stille, welche nun herrschte, war anders als die zu Zeiten ihres Bruders in ihr lagen keinerlei Anspannungen oder Verwirrung wie bei Candice Fields. Hier schien nun jedes weiter gesprochene Wort zu viel gesagt zu sein.

Sie alle waren in irgendeiner Art und Weise bedrückt, sogar der Psychologe schien einen Moment aus seiner Rolle als Stütze zu fallen und sah betroffen auf die Schülerin, welche sich ihrer Tränen erleichterte.

Sie gab kein Schluchzen von sich, kein Wimmern. Stillschweigend flossen ihr die Tränen, wenn sich auch keiner des Personals eine Antwort darauf reimen konnte.

Es hatte vor wenigen Minuten begonnen und sie rannen ihr unerlässlich die Wangen hinab. Keiner hatte etwas gesagt, was dies auslösen hätte können.

Die Rekotrin schreckte aus ihren Gedanken und reichte dem Mädchen ein Taschentuch, welches sie mit einem schwachen Lächeln entgegen nahm.

„Wissen Sie“, meinte sie plötzlich und überraschte damit alle, „Mary Sue wäre nicht so geworden, wenn ich sie nicht so gemacht. Manchmal schäme ich mich für die Person, die sie geworden ist.“

Misstrauen lag in dem Blick des Anzugträgers. Er hatte in Beven Smith immer eine Freundin seiner Schwester gesehen und nun glaubte er, dass sie daran Schuld war, dass Mary zur Eiskönigin geworden war.

Seufzend lehnte sich der Psychologe tiefer in seinen Stuhl und verschränkte die Hände ineinander.

„Mögen Sie Mary Sue nun nicht mehr?“ fragte er nachdem er sich entschieden hatte sich wieder aufzurichten. Es schien ihm unangemessen seine Erschöpfung, wenn sie ihn nun bereits deutlich eingeholt hatte, so offensichtlich zu präsentieren.

„Natürlich mag ich Mary Sue noch. Wir sind gute Freundinnen, aber Sie müssen wissen, dass ich mir oft die Frage stelle:' Was wäre wenn...'. Wenn ich Mary Sue nicht beliebt gemacht hätte. Wenn ich sie nicht so wandelbar gemacht hätte, wenn ich sie nicht zur Künstlerin der Arroganz gemacht hätte“, meinte sie gedankenverloren und blickte auf den Mann im Anzug.

Einen Moment sah sie die gewisse geschwisterliche Ähnlichkeit und erkannte Mary Sue in seinen Gesichtszügen, sich durchaus bewusst zu wissen, wer vor ihr saß, wenn sie ihn auch noch nie gesehen hatte.

„Hättest du lieber die normale Mary Sue zur Freundin?“ die Frage kam von der Rektorin, die Erste, welche sie gestellt hatte.

„Nein, ich hätte gerne Mary Sue, so wie sie jetzt ist zur Freundin und das habe ich schließlich auch.“

„Dann verstehen ich die Tränen nicht“, meinte der Anzugträger forsch und musterte sie starr mit seinen blauen Augen.

Plötzlich fühlte sie sich unwohl und rollte mit dem Schultern um dieses Gefühl zu vertreiben, ehe sie ansetzte zu antworten: „Ich weine um Mary Sues Suche. Um ihre ständige Suche nach Anerkennung und Bestätigung- sie suchte sie überall und vor allem suchte sie sie bei mir...“

„Du vermisst das Gefühl gebraucht zu werden? Sie ist jetzt unabhängig, braucht dich nicht, weil sie die Bestätigung nun auch ohne Nachfrage bekommt“, diagnostizierte der Anzugträger unbefangen und erntete wieder Tadel und Empörung, ignorierte sie aber geschickt.

Beven Smith sah sich unsicher um, die Tränen erloschen und nur noch leicht, im Licht, glitzernde Spuren wiesen darauf hin. Es war unbemerkt gestehen, dass sie stoppten- ab da, wo sie aufhörte zu lügen.

Wortlos stand sie auf, als sie sich nicht dazu äußern wollte und konnte. Gerade als sie zur Tür hinaustreten wollte, wies man sie an im Nebenraum Platz zu nehmen. Sie stellte keine Gegenfrage und ging schweigend der Aufforderung nach- um etwas zu erwidern schämte sie sich zu sehr vor der Wahrheit,die ausgesprochen wurde.

Abermals setzte das klärende Gespräch zwischen den Erwachsenen ein, als die Tür sich mit dem Rahmen vereinte.

„Das war simple Eifersucht“, schlussfolgerte der Psychologe, sich seiner selbstsicher und stand erneut auf.

„Pah“, meinte der Bruder schnaubend, „das war blasser Neid. Sie hat meine Schwester dazu gemacht und nicht mit dem umgehen können, was aus ihr geworden ist.“

Die Rektorin nickte zustimmend und seufzte schwer. Die Gespräche waren fürchterlich erdrückend.

Schwer und setzten sich sofort auf der Seele ab.

Die Gespräche im Korridor waren mühselig und zäh , beinahe vollständig erloschen als der Psychologe hinaustrat.

Erneut achtete er verstärkt auf die Reaktion der Fremden, aber das Mädchen schlief anscheinend an der Schulter des Studenten. Dieser sah darüber unglücklich aus. Sein Gesicht sah befremdlich geradezu angewidert auf sie herab und es schien so, als unterdrücke er den Zwang die Schulter und das Mädchen von sich zu rollen. Er nahm den Psychologen erst war, als er dessen stechenden Blick vernahm. Er schnaubte aufgebracht und das Mädchen fuhr hoch. Sie blickte sich perplex, irritiert von der Situation, in welcher sie sich befand, um und strich sich die Strähnen zurück hinter ihre Ohren.

Die anderen Personen waren neugierig, wer wohl als nächstes zum Gespräch gebeten werden würde und horchten atemlos auf die Worte des Mannes.

„Elay Shawn“, sagte er kühl und trat zurück in den Raum.

Elay erhob sich, verunsichert von der Reaktion.

 

Kapitel 5: "Mary Sue ist und war schon immer voller Selbstzweifel."

In gewisser Weise mochte ich Schnee, wenn ich auch die Kälte verabscheute. Der Parkplatz der Paramour Private High lag eingetaucht wie eine andere Welt zu meinen Füßen. Doch es war nicht der reine, geradezu jungfräuliche Schnee, der das Bild meiner Schule in der ersten Dezemberwoche so kontrastreich zu dem Schulgebäude erscheinen ließ, sondern eher der gräuliche Matsch der vergangen Tagen.

Fröstelnd lehnte ich an dem schwarzen Pick-up-Truck und wartete, dass Jennifer endlich kommen würde. Ich hatte genug ständig auf sie zu warten, vor allem wenn mein Atem sichtbar vor meinem Gesicht herumschwirrte.

Gerade als meine Finger drohten für immer in dem umgeschlungen Griff am Tragegurt meines Rucksackes zu verharren, stürmte sie aus dem Schulgebäude.

Dramatisch wedelte sie mir mit dem Blatt Papier in der Hand zu, was in dieser Gestik wie eine weiße Fahne wirkte und rannte auf mich zu.

Ich war mir sicher, dass ich mir unmöglich das Lachen verkneifen könnte, wenn sie in ihrem Sprint Bekanntschaft mit dem Boden machen würde, dachte ich in mich hineingrinsend als sie sich gerade noch einmal schlitternd auf den Beinen hielt.

„Hier“, meinte sie atemlos, als sie bei mir ankam und mir das Blatt entgegenhielt. Es war vollkommen verknittert und mühsam glättete ich es mit eingefrohren Fingern, ehe ich einen Blick darauf warf.

Es war die Liste für die Paare zum Winterball. Es gab keine freie Entscheidung mehr, sondern die Paare wurden konstelliert nach Zufallsprinzip- mit einer Ausnahme: Jerry Smith und Mary Sue würden nicht als Paar auf dem Foto lächeln müssen.

Dieser Einfall kam der Schulleitung, nachdem man den Schulverweis von Jerry Smith zurückgezogen hatte. Mir war es noch immer schleierhaft wie er nach dieser Aktion nicht vollkommen in den Boden gedemütigt, von mir aus auch geprügelt, wurde für das, was er Mary Sue angetan hatte. Aber noch überraschter war ich über den Anstieg ihrer Popularität nach dieser ganzen Sache. Ich glaubte, dass es daran lag, wie sie auf die ganze Situation reagiert hatte- nämlich gar nicht. Ihre Arroganz schien seit diesem Tag nur noch zugenommen zu haben und ihre Überheblichkeit schwebte nun wie eine Gewitterwolke als ständiger Begleiter über hier.

Dennoch hielt man es für besser, dass man die Partner zusammensetzte. Es sollte der Ausgrenzung entgegenwirken.

Diese Liste, die ich nun in meinen Händen hielt, war also für die Schüler der Paramour High eines der wichtigsten Schriftstücke. Jennifer arbeitete im Sekträtariat und erhielt somit alle begläubigten Informationen aus erster Hand.

Mein Blick glitt hastig herab als ich erkannte, dass die Namen alphabetisch sortiert waren. Bei ‚S‘ betrachtete ich die simplen, schwarzen Buchstaben, die doch so viel Aussagekraft hatten, vorsichtiger.

Elay Shawn. Mit dem Finger glitt ich in waagerechter Richtung nach rechts um meinen weiblichen Gegenpart zu finden und stockte.

Ungläubig kontrollierte ich die Zeile, meinen Namen, den anderen Namen.

Genervt stöhnend riss Jennifer mir die Liste aus den inzwischen tauben Händen.

„Was stell-,“ sie brach ebenfalls ab, als sie den Namen las, der meinem zugeordnet war.

„Elay Shawn...“ presste ich mühsam hervor.

„Und Mary Sue“, vollendete sie mein Wortgestammel.

 

Die neuen roten Stühle, welche man gegen die langen, starren Bänke in der Cafeteria ersetzt hatten, waren unbequemer als man es anfangs vermutete. Mein Rücken tat bereits nach wenigen Minuten höllisch weh und nervös änderte ich immer wieder meine Sitzposition.

Mary Sue hatte mich gebeten sie in einer Freistunde hier zu treffen.

Ich wusste nicht einmal,woher die plötzliche Aufregung kam, die mich so unliebsam umfangen hielt. Die Unruhe hielt mich fest im Griff und meine Finger begannen einen beliebigen Rhythmus gegen die Tischkante zu trommeln.

 

Seufzend ließ ich mich zurück in den Stuhl fallen und die Lehne knackte laut, als sie mein Gewicht spürte.

Mary Sue hatte mich gebeten, sie in der Cafeteria zu treffen. Und zwar kurz nachdem die Liste veröffentlicht wurde. Es war nicht einmal persönlich gewesen, sondern die Kommunikation hatte über die Schulwebseite stattgefunden: El.wn- triff mich Montag um zwei Uhr in der Cafeteria- Ma.ue

Warum sie das Treffen so öffentlich aufgerufen hatte, blieb mir ein Rätsel, aber vielleicht mochte sie Zuschauer eben bei allem was sie tat. Schnaubend blickte ich auf meinen Uhr und sah, dass sie bereits zehn Minute Verspätung hatte.

Als wäre ihr Auftreten allein nicht schon divenreich genug.

Gerade als ich diesen Gedanke beendet hatte,wurde die Tür zur Cafeteria geöffnet und eine aufgehellte Blondine trat ein. Nicht so pompös wie ich erwartet hatte, aber dennoch extravagant genug, stolzierte sie auf ihren schwarzen High Heels zu meinem Tisch und zog den verboten kurzen Minirock etwas herunter, ehe sie sich mir gegenüber ließ.

Skeptisch beobachtete ich sie und war ein wenig überrascht, dass sie das Gefolge, welches sie ständig umringte, Zuhause gelassen hatte.

„Tut mir leid“, keuchte sie leicht und erst jetzt realisierte ich, wie hastig sie ihre Schultern hoben und senkten und verstand, dass sie wohl gerannt war oder zumindest schnell gegangen war, „ich habe etwas vergessen.“

Ich antwortete nicht, sondern betrachtete sie weiter. Auch sie schien nicht weiter an einer verbalen Kommunikation interessiert, oder wenigstens so lange, ehe ich nicht etwas von mir gegeben hatte. Vorsichtig blickte ich in ihre grauen Augen- und was ich dort sah, überraschte mich. Hinter der kalten Wand, die sie darin aufgezogen hatte, konnte ich doch tatsächlich warme Reue schimmern sehen.

Unfreiwillig stahl sich ein leichtes, schiefes Lächeln auf meine Lippen und ich meinte: „Schon okay.“

Meine Stimme war weicher, als ich geplant hatte sie klingen zu lassen. Das schien sie ebenfalls zu überraschen, da sie offensichtlich ebenfalls mit mehr Härte und Ablehnung darin gerechnet hatte.

Sie lächelte mich, vielleicht ein wenig starr und eingeübt an, aber es war ein Lächeln im Gesicht der Eisprinzessin.

„Wie dem auch sei...“ meinte sie und wirkte jetzt beinahe unsicher, strich sich nervös eine Strähne hinters Ohr und kramte in der schwarzen Handtasche, die sie bei sich trug, „hier.“

Sie hatte ein Quadrat zu Tage gefördert, dass etwa Tellergröße hatte, womöglich ein wenig größer. Angesichts meiner Interessen hätte ich es wohl schneller erkennen können, aber ich war von der Tatsache abgelenkt, dass sie mir etwas mitgebracht hatte.

„Eine Schallplatte?“ meinte ich irritiert und nahm sie entgegen.

Sie nickte, „Ja. Ich habe gelesen, dass du was für Musik übrig hast und wir hatten diese irgendwo noch im Keller. Unser Schallplattenspieler ist kaputt und zum Verstauben ist die Platte als auch das Lied zu schade.“

„Danke“, sagte ich und die Irritation wollte einfach nicht aus meiner Stimme verschwinden.

„Das Lied zu schade“, wiederholte ich leise und betrachtete den Titel.

Come as you are- Nirvana.

„Ich hoffe, es gefällt dir“, meinte sie und lächelte aufrichtig, „ich war mir nicht sicher. Ich kenne mich mit Musik nicht aus. Ich kenne nur die Großen und Nirvana gehört für mich dazu.“

„Diese Ansicht teile ich mit dir“, grinste ich.

Plötzlich war ein Klingeln zu hören, dass ich im ersten Augenblick überhaupt nicht einordnen konnte. Erst als sie in ihre Tasche griff und auf dem Display ihres Handys herumdrückte, erkannte ich es.

Sie blickte nach ein paar Sekunden schreckhaft auf und meinte dann: „Entschuldige bitte, ich muss leider los, aber ich hoffe wir können das wiederholen? Schließlich gehen wir zusammen zum Winterball.“

Ich nickte und sie stand auf, wählte dabei die Nummer und während sie zur Tür schritt, kehrte langsam und zaghaft die Arroganz wieder in ihre Gestalt zurück. Als sie ihre Stimme erhob um den Anrufer zu antworten, hatte sie sich bereits wieder festgesetzt.

Für einen Augenblick sah ich noch auf die Stelle der Tür, von welcher sie verschwand, ehe ich mich dabei ertappte, was ich tat.

Ich begann Mary Sue zu mögen.

 

„Ich finde immer noch, dass du Glück hast mit Mary Sue“, meinte Jenny und lehnte sich neben mich an die Spinde, „ich meine, ich gehe mit Jerry Smith.“

Sie schüttelte ihren ganzen Körper und die Abscheu in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören.

„Anscheinend haben wir gerade die Beschädigten bekommen“, lachte ich und zog die Schallplatte zwischen den Bücher in meinem Spind hervor, „aber meine ist nicht irreparabel.“ Wieder drückte ich sie zurück.

„Das freut mich, dass ich kein hoffnungsloser Fall bin.“

Die Stimme war getränkt mit Kälte und dieser bodenloser Arroganz. Sie klang verbittert und verärgert... aber auch vollkommen teilnahmslos.

Überrascht sah ich zur Seite und blickte Jenny ins Gesicht. Ihr Blick sagte so etwas aus wie: Jetzt hast du's verkackt, Mann.

Ich schenkte ihr ein ironisches Grinsen und sie begann plötzlich Gestiken, die nach hinten zeigten aufzufahren, ehe sie stotternd hinzufügte: „Ich muss dann mal los...“

„Bis dann“, meinte ich trocken und schloss die Tür des Spindes, der somit den Blick auf Mary Sue freilegte.

Sie lehnte mit einem Arm an den hellblauen Spinden und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Sie war heute kleiner als sonst und ich blickte an ihr herab, bis ich sah, dass sie nur Boots anstatt den üblichen High Heels trug. Sie hatte den einen Fuß mit dem anderen überkreuzt und ihn auf der Fußspitze abgestellt.

„Ich wollte dich heute Abend, eigentlich ins Brady's einladen...“ meinte sie kühl und schenkte mir einen Blick, der mich wohl einfrieren sollte.

„E-e-e-s tut mir leid“, begann ich und sie stieß sich von den Spinden ab, sodass ein metallisches Klappern zu hören war.

„Ja, mir auch.“

Sie drehte sich um und schritt zu ihrem Trupp zurück, doch bevor sie ging, hörte ich sie noch flüstern: „Irreparabel, na vielen Dank.“

 

Ich war erst ein paar Mal im Brady's gewesen.

Meistens mit meinem Bruder Derek, aber dieser war nicht da und Jenny hatte Hausarest, was bedeutete, dass ich alleine in die Höhle des Löwen musste. Natürlich kannte ich die Geschichten über Mary Sue und das Brady's. Sie war Stammgast dort, meist jedes Wochenende anzutreffen. Ob ich das gutheißen oder verachten sollte, war ich mir noch nicht sicher und so entschied ich, später darüber zu urteilen.

Seit einer Weile beobachtete ich sie schon aus meiner dunklen Ecke und sah, wie sie auffällig mit dem Barmann flirtete. Etwas in mir war darüber mehr als unglücklich und es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass es sich dabei um Eifersucht handelte.

Sie beugte sich immer etwas zu weit über die Theke, der Barmann lachte nur kess und hielt sie an der Taille, dass sie nicht überkippen zu drohte. Mir gefiel die enge, schwarze Hose, welche sie trug und auch ein paar anderen Konkurrenten war diese Tatsache nicht entgegangen. Moment, hatte ich sie gerade wirklich Konkurrenten genannt? Kopfschüttelnd nahm ich einen Schluck aus dem Bierkrug, der seit einer halben Stunde ungerührt vor mir stand.

Der Schaum lagerte sich auf meiner Oberlippe ab und mit dem Handrücken strich ich ihn weg.

Auf einmal sah ich, wie eine Hand nach dem Glas griff und ich wollte gerade meine Stimme über die laute Folk-Musik erheben, als ich die schwarz-manikürten Fingernägeln und den Ring mit der Unendlichkeitsschleife erblickte.

Ich folgte der Hand, die das Glas erhoben zu schön-geschwungenen, vollen Lippen hatte und in einem Zug fast die Hälfte lehrte. Auch bildete sich bei ihr ein Schaumbart, den sie mit der Zunge wegstrich.

„Irreparabel“, meinte sie nun und stellte das Glas polternd wieder auf dem Tisch ab. So kräftig, dass etwas davon überschäumte und eine kleine Pfütze auf dem schmierigen, braunen Tisch bildete.

„So war das nicht gemeint“, sagte ich entschuldigt und blickte sie an. Ihre Lider waren ein klein wenig geschlossen und glasig. Entweder war sie schon angetrunken oder Drogen genommen. Sie legte ihre Unterarme auf dem versifften Tisch ab und verschlang die Finger in ineinander.

„Gott, ich weiß, ich bin nicht perfekt“, meinte sie und fügte jedem Wort einen willkürlichen und überflüssigen 'sch'-Laut hinzu, „aber ich versuche es zu sein. Egal, was ich mache. Es ist nicht genug.“

Überrascht sah ich sie an.

„Du bist schon das, was viele unter perfekt verstehen.“

Sie hob den Blick, den sie zwischen ihren Finger verloren hatte und sah mich nachdenklich an.

„Du aber nicht. Du bist nicht wie diese 'vielen'.

Plötzlich war dieses Lallen verschwunden, vielleicht war auch das davor nur gespielt und wenn, warum tat sie so etwas?

„Nein, da hast du recht.“

„Siehst du ich bin nie perfekt genug. Wenn ich nicht für andere perfekt bin, wie kann ich es für mich sein?“

Ihre Lider sprangen nach oben, sackten wieder ein und die Aufregung wurde aus ihr gespült. Sie lachte und umfasst meinen Arm mit ihrer Hand. Ihre Finger war kühl, aber meine Haut brannte, dort wie sie mich berührte.

Es war ein ungewohntes Gefühl, ein Gefühl, dass ich für vergessen empfunden hatte... zumindest seit Lissa.

„Ich werde dann mal zurückgehen“, meinte sie und deutete mit dem Daumen nach hinten. Ein paar ihrer Freundinnen beäugten mich ruhig, aber ich war mir sicher keine würde nachfragen, was wir besprochen haben.

„Ich habe gehört“, meinte ich vorsichtig, „das Brady und Beven was am Laufen haben. Du begibst dich da auf Glatteis mit deinen Aktionen.“

Ich wusste nicht, ob es klug war die Warnung auszusprechen, aber ich wollte nicht, dass man ihr schaden würde.

Ihre Augen blitzen, bekamen diesen trägen, beinahe verführerischen, verschwörerischen Blick und sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare: „Was glaubst du wohl, warum Brady und sie was am Laufen haben? Und nein, Beven war noch nie eine Gefahr für mich.“

Sie lachte und schritt zurück in ihre Gruppe.

Ich ging Nachhause nachdem Mary Sue ihren Tisch erreicht hatte. Weder hatte ich mich verabschiedet, noch ihr einen längeren Blick zu geworfen.

Ich stieß die Tür auf und die kalte Nacht schlug mir entgegen, während ich noch immer das Brennen auf meinem Arm spürte.

 

 

Am nächsten Morgen wachte ich auf und in meinem Kopf hatte sie ein einziger Gedanke festgesetzt- Mary Sue. Ich hatte in der Nacht von ihr geträumt. Nicht etwa, was sie tat, sondern von ihrem Aussehen. In diesem Traum hatte ich stundenlang ihr scheues Lächeln und ihre kalten Augen betrachtet. Nichts hatte mich in diesem Augenblick glücklicher gemacht.

Selbst als ich wacher wurde, die Welt so langsam realistischer wahrnahm, verschwand sie nicht vor meinem geistigen Auge. Mühsam schleppte ich mich aus meinem Zimmer um auf andere Gedanken zu kommen. Ich wollte sie nicht in meinem Kopf haben, aber ständig musste ich darüber nachdenken, welche Selbstzweifel sie wohl hegen musste und welche Anstrengungen sie verübte um so zu sein, wie sie war.

Das ständige Streben nach einer Perfektion nach Außen.

Kopfschüttelnd trat ich auf die kalten, schwarz-grauen Fliesen im Flur und blickte mich darin um. Die Zimmertür meines Bruders war noch immer verschlossen und auch sonst lag die Wohnung zu ruhig da.

Derek und ich wohnten allein in einer Wohnung im östlichen Stadtteil.

Es war nicht das Sozialgebiet im Süden, aber auch nicht gerade das wohlhabende Viertel im Norden oben auf dem Berghang. Eben eine Wohnung der Mittelschicht in einem Dreifamilienhaus.

Auf die Paramour-High gingen nur wenige Schüler aus den Outblocks- so nannte man bei uns die Plattenbauten mit unzähligen Wohnung im Süden der Stadt- und diese bekamen dann meist Stipendien.

Sie bildeten ihre eigene kleine Gruppe: saßen beim Mittag zusammen, hatten ähnliche Fächer gewählt und man sah ihnen die Armut meist an.

Ich schritt in die hellgrüne Küche, die strahlend durch das morgendliche Licht erhellt war. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Gähnend und streckend schritt ich auf diesen zu und nahm in die Hand. In unsauberer, hastiger Schrift hatte Derek mir eine Mitteilung hinterlassen.

Fahre übers Wochenende mit M Katy ans Meer. Seh dich dann Montag-Mittag, Lil' Bro.

Kopfschüttelnd und grinsend betrachtete ich den Zettel einen Moment und ließ ihn aus der Hand gegleiten. Das 'M' im Brief war durchgestrichen, so als wollte er zuerst 'Mandy' schreiben,hätte sich im letzten Moment dann aber doch für 'Katy' entschieden. Mein Bruder und seine Weibergeschichten.

Offensichtlich war es wohl bereits früh heute Morgen losgefahren, denn es waren kein Frühstücksreliquien zurückgelassen.

Seufzend machte ich mir ein Brot und ließ mich auf die helle Couch im Wohnzimmer fallen, schaltete den Fernseher auf ein beliebiges Programm ein und nahm mir den Laptop, welcher auf dem Couchtisch stand auf den Schoß.

Kauend meldete ich mich auf der Schulwebsite an. Außer die Preise für die Karten des Winterball war darauf nicht sonderlich viel Neues zu finden und ich ging auf die Seite von Mary Sue.

Es war nicht das erste Mal.

Als sie begann sich mit Beven anzufreunden, verfolgte ich es einfach aus Prinzip und purer Neugier, wie man sie plötzlich beachtete. Ich kannte ihre DO'S AND DONT'S und auch ihren Sitzplatz in der Cafeteria. Viele Fotos dienten als Beglaubigung der Informationen, die man hier über sie fand.

Und es war erschreckend.

Es gab so unheimlich viele Bilder über sie in den untschiedlichsten Situationen.

Hastig ging ich auf meine eigene Seite und betrachtete mich in den Augen der anderen. Auch von mir existierten Bilder. Unter anderen eins mit einer Gitarre auf dem Pausenhof, welches die größte Anerkennung fand. Ich war ein Schüler, den man kannte. Zwar nicht jeder aber genug, damit man, wenn mein Name fiel, wusste wer gemeint war.

Ich sah, dass mein Profil höhere Ausschläge von Besucherzahlen verzeichnete als noch vor ein paar Wochen und erklärte es mir durch die Veröffentlichung der Liste.

Plötzlich klingelte es und ich fuhr aus meinen Gedanken hoch, auch erschreckten mich auf einmal die lauten Stimmen im Fernseher, die ich vorhin nur als leises, unverständliches Gemurmel wahrgenommen hatte.

Mich besinnend stand ich auf und ging zur Haustür. Erneut und ungeduldig ertönte das Klingeln und ich sah durc den Spion.

„Öffne die Tür Shawn, ich sehe die Schatten deiner Füße durch den Türspalt.“

Die weibliche Stimme klang befehlend und für einen Moment verspürte ich die Hoffnung aufkeimen, es könnte Mary Sue sein. Aber sobald ich meinen Blick sich durch den Spion schärfte, sah ich eine Welle braune langer Haare an einem zierlichen, schmalen Gesicht entlang laufen.

Die herbe Enttäuschung verbergend, öffnete ich die Tür und unterdrückte das Seufzen als Jenny in der Tür stand. Nicht das ich mich nicht freute, dass sie da war, aber sie war nicht die Person, die ich mir gewünscht hatte.

„Freude sieht anders aus“, bemerkte sie spöttisch und versuchte nicht verletzt zu sein, wie ich am Klang ihrer Stimme hörte.

„Ähm...“murmelte ich verlegen und versuchte Müdigkeit in mein Gesicht zu treiben, erzeugte ein unechtes Gähnen und ließ meine Lider auf Halbmast senken, „ich bin nur noch müde...gerade erst aufgestanden.“

„Ja, ja“, murmelte sie leise zischend und schritt an mir vorbei.

 

 

Ich verschluckte eine Entschuldigung im Hals und trottete ihr hinterher.

„Ich bin eigentlich gekommen um dir eine Nachricht von Mary Sue zu bringen“, sie verdrehte die Augen, „warum ich Postbote für sie spiele weiß ich nicht. Ich meine hat sie kein Handy?“

Nervös verschränkte ich meine unruhigen Arme vor der Brust, die mit der aufkommenden Aufregungen sich verselbstständigten und versuchte gelassen zu wirken. Jenny durchschaute meine Maskerade sofort und musterte mich argwöhnisch mit angezogener Augenbraue.

„Hier“, meinte sie und hielt mir den Umschlag hin. Mit zitternden Fingern nahm ich diesen entgegen und ein enttäuschter Seufzer entfuhr Jenny.

Jetzt war ich derjenige, der sie überrascht musterte: „Was?“

„Ich dachte, du wärst stärker. Ich dachte, du wärst einer von den Guten, Elay. Aber anscheinend hat sie dich in ihren Bann gezogen. Keine Ahnung, wie die Hexe das geschafft hat, aber nun gut. Ich habe dich für so klug gehalten, dass sie dich nicht einlullt- man kann sich schließlich auch irren?“

Gerade als ich etwas erwidern wollte, hob sie die Hand um mir das Wort zu nehmen.

„Melde dich wieder, wenn du wieder normal bist.“

Mit diesen Worten drehte sie sich wieder auf dem Absatz herum und verließ meine Wohnung. Erst als die Tür ins Schloss fiel, hörte ich ein stotternden Laut aus meiner Kehle dringen. Viel zu spät um das zu kitten, was ich gerade hatte gehen lassen.

Aber ich verstand nicht, wieso sie so aufgebracht war? Einen Augenblick starrte ich gedankenverloren auf die dunkle Holztür, ehe ich den Blick auf den Umschlag richtete.

Ein hellblauer, beinahe grauer Umschlug in normalem Briefformat. Die Farbe erinnerte mich an ihre Augen und erneut schwang ich aus den Gedanken.

Durch ein Kopfschütteln versuchte ich wieder zu mir zu kommen und mich in dieser Welt zu verankern.

Ich öffnete den Brief und sah in den Umschlag hinein. Es war nur eine kleine Notiz, wie die meines Bruders, zurückgelassen: Ein achtloses Stückchen irgendwo in der Eile abgerissen und dann mit erstaunlich ruhiger Hand stand darauf: Heute um 8 Uhr, am Love-to-die. Grinsend öffnete ich ihn ein wenig mehr und ein Ticket sprang mir entgegen.

Love-to-die war ein inoffizieller Platz für Partys und Autokinos unter Jugendlichen. Der Name ging auf ein Ereignis zurück, die in den Achtzigern passiert war. Irgendein liebeskranker Trottel hatte erfahren, dass seine Freundin an einer bis dato unheilbaren Krankheit sterben sollte und hatte sie zu dem Platz gebeten, um ihr die Aussicht zu zeigen. Vorher war es ein alter Campingplatz, aber dieser ging irgendwann pleite. Die meisten wussten nicht mal von der Existenz und dieser Typ hatte ihn wohl auch nur durch Zufall entdeckt.

Wie der Name schon schließen ließ, hatte er sich und seine Freundin in dieser Nacht erschossen, damit sie für immer zusammen sein konnten und er sie nicht leiden sehen musste.

Es war vielleicht ein wenig grotesk, dass wir dort immer feierten, aber der Platz lag so weit oben auf dem Berghang, dass man über das ganze darunterliegende Tal blicken und die Musik so laut aufdrehen konnte ohne das es jemand mitbekam.

Allerdings verstand ich nicht, warum mich Mary Sue nicht einfach wieder über die Website darüber informiert hatte, ehe ich nicht das Ticket in der Hand hielt. Lovers only- stand in der verschnörkelter Schrift darauf und erst dann verstand ich, dass es eine „geschlossene“ Gesellschaft war. Auf der Rückseite fand ich außerdem eine Reihe von Zahlen, die zusammengenommen wohl ihre Nummer ergeben.

Ein wenig verdatterte blickte ich auf diese nieder und mir wurde bewusst, dass ich einer der wenigen war, dem dieses Privileg nun zustand. Ich wusste, wie viele mich deswegen beneiden würden und dann wurde mir klar, dass ich das alles gar nicht wollte.

Jenny hatte Recht. Aus mir wurde jemand, der es als Privileg ansieht eine Handynummer zu bekommen.

Erschreckt legte ich den Umschlug und dessen Inhalt auf die Kommode der Garderobe und begab mich zurück ins Wohnzimmer.

Ich würde wohl erst einmal gründlich darüber nachdenken müssen, ob ich mich wirklich darauf einlassen sollte.

Eigentlich war es keine große Überraschung, als ich viertel vor acht mich angezogen im Spiegel musterte und dann zufrieden die Ärmel des Jeanshemd noch oben raffte, ehe ich die Lederjacke darüber zog, und doch erstaunte es mich selbst.

Ich wand mich von mir selbst ab und schritt auf die Tür zu.

 

 

Die Vielzahl der Menschen, auf die am Love-to-die traf, verwunderte mich. Aber noch viel mehr die Tatsache, dass mir nicht ein bekanntes oder zumindest flüchtiges Gesicht begegnete.

Die lange Schlange, die sich am ehemaligen Eingang des Campingplatzes gebildet hatte, ging nur mühselig und zäh voran.

Plötzlich sah ich in der Abenddämmerung einen Schopf heller, blonder Haare aufblitzen und wollte schon die Stimme erheben, aber durch den hämmernden Lärm der anderen und der großen Boxen im Innenbereich, wäre dies nutzlos gewesen. So wartete ich brav und ließ meinen Blick ab und an auf das Display meines Handys wandern. Immer wieder war ich im Inbegriff Jenny zu schreiben, um mich bei ihr zu entschuldigen, entschied mich letztendlich und packte das Handy weg.

„Da bist du ja“, hörte ich erstmals eine bekannte Stimme ertönen und blickte hilflos suchend die Seiten neben mir ab. Etwas unerwartet tippte man mir auf die Schulter und ich wandte mich um.

„Hier“, lachte sie und umarmte mich. Ich roch hier Parfüm, dass etwas frisches, aber auch geheimnisvolles beherbergte und schlang mit minimaler Verzögerung ebenfalls die Arme um sie.

„Komm, ich bin etwa vier Mal die Schlange entlang gelaufen, ehe ich dich gefunden habe.“

Sie war gesprächig, etwas aufmupfiger als sonst, aber ansonsten augenscheinlich stocknüchtern. Vielleicht war sie ja immer so, wenn sie nicht gezwungen war ihre Queen-B-Rolle aufzuführen, jedoch war das Wort Zwang ein wenig dick aufgetragen. Ich war mir sicher, sie genoss diesen Status und natürlich genoss sie auch hier gewisse Privilegien.

Sie schleuste mich an der noch meterlangen Schlange hindurch auf das Gelände, auf dem sich scheinbar noch mehr Menschen tummelten. Man wurde in einer kreisrunden, großräumigen Fläche, deren Rände hohe Tannen bildeten eingepfercht. Vorne spielte eine Band irgendeinen alten Liebesrocksong.

Auffällig war, dass die Bühne ebenfalls kreisrund war und innen ausgehöhlt schien.

„Coole Bühne oder?“ fragte sie und ich sah, wie sie ein wenig im Takt des Liedes wippte und immer wieder mal eine stumme Zeile des Liedes sich auf ihre Lippen strich.

„Ja. Ist da ein Loch in der Mitte?“ fragte ich und blickte sie an. Sie trug einfache Sneakers, wahrscheinlich war diese Grasboden nicht wirklich ausgelegt um mit High Heels darüber zu stolzieren, und obwohl Minusgrade herrschten eine kurze Hotpants, so wie ein ausgeschnittenes, graues Oberteil kombiniert mit einem dunkelgrünen Winterparker, der ihr bis in die Kniekehlen reichte.

Zwischen all die Bäumen, an der frischen Luft und der aufkommenden Nacht wirkte sie nicht so arrogant- nein überhaupt nicht- sie wirkte geradezu normal.

„Warst du noch nie hier?“ fragte sie überrascht und schnappte nach Luft, als ihr bewusst wurde, dass es offensichtlich war. Man musste zum Love-to-die eingeladen werden, so wie ich heute Abend zum ersten Mal, „auf jeden Fall sind dort die Blutschatten, also die Linien, die zeigten wie und wo die Körper der beiden Liebenden lagen, mit Steinen eingesetzt verewigt. Es sieht ziemlich genial aus, aber niemand darf darauf treten und nichts darf darauf gestellt werden...Komm wir sehen es uns an.“

Sie hakte ihren Arm meinem unter und zog mich voran. Während wir die verschiedensten Menschengruppen passierten, erklärte sie mir, wer diese waren. Da gab es die Drogendealer, die Junkies (ironischer Weise standen sich diese beiden am nächsten), die Sportler, die Tänzer und so weiter.

Je näher wir der Bühne kamen desto lauter und intensiver wurden die Töne und Bassnoten, sowie meine Gedanken, die sich fragten, was mit der Person aus der Schule passiert war. Und wie ich Mary Sue nur jemals unsympathisch finden konnte.

Mary Sue führte mich zu einer Einkerbung in der Bühne, welche mit Glas ausgestattet war, die in einem orangen Licht den Boden beleuchtete. Ich fand es ein wenig... unangenehm, wie man den Sterbeort zweier Person so in Szene setzen konnte und betrachtete die steinernen Linie, die so etwas wie eine Umarmung andeuteten, mit einer gewissen, sicheren Distanz.

Anders als sie. Sie schien geradezu fasziniert und beeindruckt.

„Wie Romeo und Julia“, flüsterte sie leise und berührte die Glasscheibe mit den Fingerspitzen, „jedes Mal, wenn ich hier bin, bin ich aufs Neue von dieser Geschichte berührt“, meinte sie diesmal lauter und an mich gerichtet.

Ich schluckte die Wörter unter, die aus meinem Mund sprudeln wollte und nickte leicht.

„Willst du etwas trinken?“ fragte sie und die Tiefe, die Sehnsucht nach einer solchen Liebe erlosch in ihrer Stimme. Es erleichterte mich und diesmal war mein Nicken aufrichtig.

Nach dem dritten Becher spürte ich eine erste Wirkung, die darin bestand, dass ich lockerer wurde und Mary Sue ganz unverhohlen den Arm um die Taille schlang. Sie stellte mir ein paar Leute vor, die ich alle freundlichst begrüßte, aber in den nächsten Sekunden bereits vergessen hatte und dann begaben wir uns zur Bühne. Wild tanzten die Leute durcheinander, stießen aneinander und fielen sich in die Arme- viele küssten sich daraufhin und feierten anschließend weiter. Es wirkte ein wenig auf mich, wie eine organisierte Orgie, aber ich schwieg, denn es... gefiel mir. Immer wieder zog ich Mary Sue näher, legte meinen Kopf auf ihrer Schulter ab.

Und dann kam dieser eine Augenblick.

Sie wandte den Kopf zu mir, und im Nachhinein konnte ich nicht sagen, wer von uns begonnen hat, aber ich genoss es.

Genoss es wir unsere Lippen sich aufeinander anfühlten, wie unsere Körper noch enger, als ich jemals glaubte es würde möglich sein, zusammenrückten.

„Tut mir leid“, flüsterte sie leicht atemlos und ihr heißer Atem stieß gegen meinen Hals, „ich kann das nicht sonderlich gut.“

Ich hob ihr Kinn an und versuchte ihre Zweifel zu ersticken.

 

Es war eine seltsame Situation, in welcher wir uns nach dem Love-to-die wiederfanden. Alles was sie für mich übrig hatte, war dieses scheue Lächeln und ich war durchaus bereit mich damit zu Frieden zu geben. So vergingen die zwei Wochen zum Winterball erstaunlich rasant, während die Sekunden in denen ich Jenny begegnete nicht enden wollten.

Ich vermisste sie als meine Freundin, aber sie hatte sich gegen mich entschieden und ich hatte gelernt damit zu leben. Man konnte sagen, ich wäre nicht bereit zu kämpfen, aber ich wüsste nicht mit welchen Waffen.

Eine Entschuldigung würde ich nicht aussprechen können, da ich mich für nichts schuldig fühlte.

So schlichen wir stumm, mit sehnsüchtigen Blicken aneinander vorbei.

 

„Gut siehst du aus“, hörte ich meinen Bruder belustigt sagen, der auf mich einen Schritt zutrat und mir an der Fliege zupfte. Genervt schlug ich seine Hände von meinem Hals und richtete den Blick in den Spiegel.

Ich sah gut aus, da hatte er Recht. Der Anzug stand mir ausgezeichnet, aber das musste er auch. Schließlich würden heute die Augen der Schule auf mir liegen und das nur aus dem simplen Grund meiner Begleitung.

„Hey Elay...?“ ich sah wie sich die Gestalt meines Bruders hinter mir auftürmte und er sich nervös durch die dichten, braunen Haare strich, die auch ich hatte. Wir sahen uns ziemlich ähnlich, aber in seinen Zügen erkannte man deutlich die Reife der vier Jahre die uns trennten.

„Was ist?“ fragte ich und zog die Fliege stramm, ehe ich mich der Illusion des Spiegels abwandt und mich zu Derek umdrehte. In seinen Augen schien er mit sich zu ringen, dass auszusprechen was er sagen wollte.

„Spucks schon aus“, meinte ich animierend und mein Blick huschte auf die Uhr auf dem gegenüberliegenden Türrahmen. Noch etwa fünf Minuten, dann würde sie hierherkommen. In den letzten Tagen hatte die Zeit dafür vor allem genutzt, diese Wohnung hier vorzeigbar zu gestalten, indem ich einen gründlichen Putz durchgeführt hatte. Nur für den Fall, dass sie noch etwas hierbleiben wollte oder sogar nach dem Ball zurückkehren wollte.

„Du solltest aufpassen mit dieser Mary Sue...sie ist doch deine Begleitung?“ fragend hob er eine Augenbraue an und musterte mich eindringlich. Ein feixes Grinsen setzte sich auf meinem Gesicht ab.

„Ich kenne Mary Sue. Ich weiß, wie sie rüberkommt...im Gegensatz zu dir.“

„Sie kann auf einen ganz schön Eindruck machen. Ich weiß“, meinte er zögerlich und wich meinem Blick aus.

„Was willst du mir sagen, Derek?“

„Die Kleine spielt nur mit dir. Sie trifft sich eigentlich nicht mit Jungs aus der High School...Das sie es jetzt mit dir doch macht... ich mache mir doch nur Sorgen“, sprudelte es aus ihm heraus und überrascht sah ich ihn an.

Ehe ich etwas erwidern konnte, klingelte die Tür und ich zuckte erschreckt zusammen. Ich war noch nicht bereit sie zu sehen.Nervös fuhr ich mir mit den schwitzigen Händen die Hose entlang.

Derek schritt zur Tür und drückte die Klinke herunter, atmete tief ein und zog die Tür dann schwungvoll auf.

„Derek?“ hörte ich ihre Stimme überrascht einige Oktaven hochschnellen.

Ihr Anblick war mir durch die Tür versperrt, die noch zwischen uns stand und ich lief um meinen Bruder herum.

In der Tür stand Mary Sue und, oh wow, sie sah einfach atemberaubend aus.

Sie trug ein schwarzes, bodenlanges Kleid mit einem langem tiefen Ausschnitt, in welchen Spitze eingesetzt war und hatte die Haare nur dürftig nach oben gesteckt.

„Du siehst...fantastisch aus“, murmelte ich leise meine Bewunderung, aber sie würdigte mich keines Blickes.

„Ich hatte ja keine Ahnung...“, meinte sie gedankenverloren und folgte verschwommen ihrem.

Als ich sah, dass meinem Bruder dies zu kam, wurde mir es mir schlagartig klar. Verärgert drängte ich ihn mit der Schulter nach hinten um nun selbst Zentrum der Aufmerksamkeit zu werden und lächelte Mary Sue falsch an.

„Du siehst wunderbar aus“, lächelte sie zaghaft, als sie endlich mich anstelle meines Bruders musterte. Dennoch entglitt ihr der Blick und ruhte noch immer für einen minimalistischen Augenblick auf meinem Bruder, ehe sie sich blinzelnd an mich wendete.

„Können wir?“ fragte ich ein wenig zu scharf und bot ihr meinen Arm zum Unterhaken an. Sie nickte hastig und drehte sich zurück ins Treppenhaus.

„Bis dann“, sagte sie verzogen und begann die Treppe hinab zu schreiten. Ich folgte ihr, ohne ein weiteres Wort an meinen Bruder zu richten.

Das 'M' in dem Brief stand nicht etwa für Mandy, sondern für Mary Sue.

Kopfschüttelnd nahm ich die erste Stufe.

Meinen Gedanken immer noch nachhängend und mit den neuen Informationen vergangene Zeiten aufleben lassen, alte Rätsel lösen, öffnete ich für sie die Tür zur Turnhalle.

Laute Musik und undeutliches Stimmengewirr drang an mein Ohr, während wir stumm eintraten. Sofort wurde unsere Anwesenheit, so als hätte man nur darauf gewartet, bemerkt.

„Lass uns ein Foto machen“, schlug sie vor und deutete auf die Winterlandschaft, welche die Kunst-AG aufwendig gestaltet hatte. Ein Eisschloss glänzte hinter künstlichem Schnee und verschneiten Bäumen.

Ich nickte, fügte dann aber leise und fassungslos hinzu: „Du hast mit meinem Bruder geschlafen.“

Es klang anklagend, aber das sollte es nicht. Ich hatte geplant, es taktvoll anzusprechen, aber ich schien nicht gerade den richtigen Zeitpunkt dafür gefunden zu haben.

Drei Paare waren vor uns und erst als es sich auf eins reduziert hatte, meinte sie unterkühlt: „Ich habe nicht mit ihm geschlafen.Nie. Wir haben uns ab und an mal getroffen, das war's.“

„Du hast es mir nicht gesagt!“ auch das war anklagend, aber dieses Mal war es gewollt. Wieso hatte sie mir das verschwiegen. Sie und mein Bruder.

„Ich wäre dir der Wahrheit nicht schuldig gewesen“, meinte sie verärgert und die Arroganz, die sie normalerweise in meiner Gegenwart ablegte, schnitt scharf durch ihre Stimme. Es war als würde alles in mir erstarren als sie sprach.

„Du hast mich belogen!“ meinte ich aufgebracht, achtete aber auf einen leisen Ton, „du warst nicht ehrlich zu mir.“

Wieder schwieg sie und wir traten in die Winterlandschaft.

„Jetzt lächeln!“ meinte er verpickelter Kerl, der die Augen nur auf Mary Sue legte und breit grinste, sodass das gesamte Metall in seinem Mund sichtbar wurde.

Doch mir war nicht nach Lächeln zu Mute, ich fühlte mich hintergangen.

„Du wärst mit der Wahrheit nicht zurecht genommen“, fauchte sie leise, lächelte aber dann wieder als der Summer für das Foto ertönte, „lächel gefälligst.“

Und dann rang ich mir ein Lächeln ab und ließ sie allein in der Landschaft stehen.

Schnellen Schritt ging ich zur Bole herüber, die inzwischen mehr Alkohol als den eigentlichen blaugefärbten Fruchtsaft vorwies und genehmigte mir zwei Becher hintereinander.

Mary Sue war zu ihren Freundinnen gekehrt, stand dort und beobachtete, strafte mich mit einem Blick, den ich mein Leben lang nicht vergessen würde.

 

So hatte ich mir den Ball nicht vorgestellt. Angetrunken hing alleine ich auf einem Stuhl der hinteren Tische und fuhr geistesabwesend über den Rand meines Becher, als sich jemand zu mir setzte. Zum ersten Mal, seit einer langen Zeit, hoffte ich, es würde nicht Mary Sue sein.

Offensichtlich wollten sich meine Wünsche gegen mich stellen und erfüllten sich gegensätzlich.

Sie saß mir gegenüber. Eine gewisse Abneigung war deutlich in ihrem Blick abzulesen, aber es könnte inzwischen auch einfach wieder die Arroganz gewesen sein. Es war schwer zu unterscheiden, aber schließlich benötigtete man Abneigung für Arroganz.

„Ich weiß eigentlich nicht, was die Leute erwarten. Wollen sie Ehrlichkeit und doch Lügen? Vielleicht ist die Wahrheit ihnen schlichtweg zu grausam. Ich weiß einfach nicht, was sie hören oder sehen wollen.

Nein, das ist gelogen. Ich weiß ganz genau was sie wollen- Bestätigung. In jeglicher Hinsicht ein hübsches Äußeres, ein falsches Lächeln und liebevolle Worte. Keiner erwartet einen Rebellen. Wir erkennen sie nicht mal als solche, sondern sie sind ganz einfach Außenseiter und ich weiß, was es bedeutet einer zu sein- da passe ich mich lieber an, was mich aber noch lange nicht zu einem Internen macht. Nichts hat mir das deutlicher gemacht, als ich mich mit deinem Bruder getroffen habe“, sie sieht mich abwartend an, aber alles was ich zustande bringe ich ein überraschtes Starren.

„Er wollte nicht hören, wie es mir geht. Ihm reichte es, dass ich lächelte und ihm sagte, wie sehr ich die Zeit mit ihm genoss. Ich habe mich wie ein Außenseiter mit ihm gefühlt und ich war es, zu dieser Zeit, so leid einer zu sein, also habe ich mich angepasst.“

„Ist das die Wahrheit?“ fragte ich sie.

Sie lächelte verschwörerisch, die Arroganz in ihren Augen brach, „geflickt mit Lügen.“

Ich lächelte ebenfalls und beschloss die Sache damit ruhen zu lassen.

„Gehen wir?“fragte sie und stand bereits auf.

Gähnend stimmte ich zu und stützte mich schwerfällig am Tisch ab um aufzustehen. Erst jetzt wurde mir das volle Ausmaß meines Zustandes bewusst und geradezu mühselig hielt ich mich taumelnd auf den Beinen, während wir Richtung Ausgang schritten.

Wir streiften einen Spiegel und als ich weitergehen wollte, blieb sie stehen und musterte sich mit panisch geweiteten Augen.

„So...so...so“, stammelte sie und atmete hektisch ein und aus, „bin ich den ganzen Abend herumgelaufen?“

Ich trat hinter sie, wie schon mein Bruder an diesem Abend bei mir, und legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern, „ja, wunderschön.“

Vorsichtig, als wäre sie aus Glas, beugte ich mich zur ihr hinab und flüsterte ihr ins Ohr: „Perfekt.“

Anstatt den Kuss, welchen ich mir erhofft hatte, stieß sie mir ihren Ellenbogen in die Magengegend und faucht verächtlich mit Tränen in den Augen: „Perfekt. Wenn ich an meinem tiefsten Punkt stehe, bin ich perfekt? Du hast sie doch nicht mehr alle. Ich bin nicht perfekt.Egal, wie sehr ich es versuche. Ich schaffe es nicht mal einen Abend zu sein, ich bin nicht einmal für einen Abend genug.“

Ohne eine weitere Regung in ihrem Gesicht lief ihr die Träne über die Wange. Ich wartete, darauf dass eine weitere sich den Weg bahnen würde oder das sie gehen würde. Keiner der beiden Fälle trat ein und so nahm ich sie in die Arme.

Das Schluchzen, dass sie übermannte, erschreckte mich und ich hob erneut ihr Kinn an.

Wie am Love-to-die versuchte ich ihre Zweifel zu vertreiben, aber als ich das Salz schmeckte, wurde mir bewusst, dass ich dies niemals schaffen würde.

Nicht nur sie war sich nie genug,nein, ich war nie gut genug für sie und würde es auch niemals sein.

 

 

 

 

 

 

Rehabilitationsphase-Elay Shawn

Alle im Raum waren erschöpft.

Doch anders als bei Beven wussten sie, was sie nun tun sollten.

„Du meinst“, meinte der Psychologe und trocknete sich nervös die nassen Hände an seiner Jeans, ehe er aufblickte und seine Frage vervollständigte, „dass sie voller Selbstzweifel war und das obwohl sie, für alle die Perfektion in Person war?“

Während er sprach spürte er den nachdenklichen Blick des Anzugsträgers auf sich, anders als die Direktorin.

Diese war erneut verrannt im hektischen Schreiben von Notizen, dass sie erst kurz bevor Elay seine Stimme wiederfand, den Stift niederlegte.

„Ich glaube, dass ist es, was sie noch immer zweifeln lässt. Die Tatsache, dass sie ständig unter Beobachtung steht, für alle transparent ist und somit Gefahr läuft Fehler zu machen, die sie so nicht verschleiern kann...“ er verstummte, schüttelte verloren den Kopf.

Der Psychologe nickte zustimmend, während er innerlich über die Worte nachdachte, die Elay Shawn gerade in den Raum geworfen hatte. Sie waren weiser, als die welche er hätte aussprechen können.

„Ich verstehe es nicht“, meinte der Anzugträger an Elay gewendet, hob allerdings nicht den Blick, sondern starrte auf die Ärmel seines schwarzen Anzuges, während er davon die Flusen entfernte.

„Ich weiß auch nicht, was ich noch dazu sagen soll“, sagte Elay nun. Er wirkte gefasster als er es womöglich war. Auf diese Schwäche zielte der Psychologe nun genau ab.

Obwohl sie bei genauerem Betrachten wohl doch sehr offensichtlich war. Ständig verlor er den Blick im Raum, schien der Realität zu entgleiten.

„Wie ging es bei dir nach dem Winterball weiter? Hast du noch Kontakt zu Mary Sue?“

Elay zuckte kaum merklich zusammen, ehe sein Gesicht in sich fiel und die Form verlor.

„Nein. Wir hatten keinen Grund mehr einander zu begegnen und haben uns verloren. Keiner von uns strengte sich an, dass zu verhindern.“

„Wieso? Hattest du kein Interesse daran?“ fragte nun der Anzugträger, ein wenig zu scharf und blickte auf Elay nieder.

„Doch, aber ich weiß, wann ein Kampf sinnlos ist. Mary Sue spielte mit mir, wie mein Bruder gesagt hatte.“

Ein verärgertes Schnauben erfüllte den Raum und drückte die sowieso am Boden liegende Stimmung weiter hinunter.

„Nun denn...“ sagte zum ersten Mal die Direktorin an Elay angewandt, „du kannst gehen. Aber nimm in dem Raum ab.“ Sie deutete mit dem Stift in der Hand auf die Tür und sah wieder auf ihre Aufzeichnungen.

Stillschweigend erhob er sich. Unausgesprochene Worte hingen in der Luft, während er zu der Tür schritt und brachen mit das Schlagen der Tür aus: „Das wusste ich nicht.“

Der Anzugträger. „Ich wusste nicht, dass sie so sehr an sich selbst zweifelte.“

Er war niedergeschlagen, seine Stimme trug Höllenqualen, Schuldgefühle.

„Das hatte keiner geahnt. Machen Sie sich keine Gedanken“, sagte die Rektorin und der Psychologe erhob sich.

„Wir sind auf einem guten Weg“, meinte er nun mit einem überflüssigen Maß an Elan. Allerdings sprach niemand diesen Gedanken auf, der sich in jedem Kopf formte.

Der Psychologe schritt zur Tür, öffnete sie schwungvoll und grinste dümmlich.

Es saßen noch fünf weitere Personen dort draußen. Die Gespräche waren zäh, nicht mehr als ein leises Murmeln und auch schlafende Persönlichkeiten waren darunter zu finden.

Er räusperte sich und einige schreckten hoch. Nur der Student blickte ihn seit einer Ankunft mit einer blutgefrierenden Abneigung an, die ihm beinahe unangenehm war.

Seine braunen Augen schienen allein auf den Zweck aufgelegt den Psychologen hier und jetzt zum Explodieren zu bringen.

„Marc Barrymore.“

 

Kapitel 6 :"Mary Sue. Sie ist ständig auf der Suche, niemals angekommen und unglaublich rastlos.“

Siebzehn.

Ich war nun siebzehn. Vielleicht sollte ich mich nun anders fühlen, aber ich tat es nicht. Ich fühlte mich älter, aber das hatte nichts mit meinem Geburtstag zu tun, sondern viel mehr mit den Unmengen an Alkohol der noch immer meine Glieder und Wahrnehmung lahmlegte.

Für einen Augenblick war ich mir nicht einmal sicher, wo ich war und versuchte die Teilstücke meiner Erinnerung zu einem großen Ganzen zusammen zusetzen. Selbst der Geruch der Umgebung war mir fremd und auch die Konturen der Möbel, die langsam begannen Form anzunehmen, waren Teil eines unbekannten Bildes.

Langsam rührte ich meinen Arm und stieß gegen eine harte, scharfe Kante. Jetzt war ich mir noch unsicherer über meinen Aufenthaltsort. Erneut startete meine Hand einen Erkundungsversuch, diesmal allerdings zaghafter und vorsichtiger.

Mit der Handfläche strich ich über etwas, dass sich sehr nach einem Teppich an fühlte und erkannte somit, dass ich dem Boden lag.

Mein Kopf dröhnte, während ich mich auf die Seite rollte um mich zu erheben und ich merkte, dass ich bis auf meine Unterhose nackt war. Der grausige Geruch, der sich in meine Nase zog, entpuppte sich als Erbrochenes, nahe meines rechten Beines. Angewidert zog ich es an und stand auf.

Ich schwankte, schaffte es allerdings stehen zu bleiben und hielt mich an der Bettkante fest.

Durch die neue Perspektive verschaffte ich mir auch einen neuen Überblick und erkannte endlich, dass ich in Schlafzimmer meiner Schwester war. Ungeschickte stolperte ich zum Fenster und riss die Vorhänge zur Seite um mich besseren orientieren zu können.

Die rosane Wände erschlugen mich beinahe und ich blickte auf das Erbrochene, was zum Teil in dem vollkommem zerstörten Puppenhaus lag und musste grinsen. Ich hatte es schon immer gehasst mit ihr damit zu spielen. Ein paar Kuscheltiere hatten ebenfalls Spritzer abbekommen und unbeholfen stakste ich über die Hindernisse zu Tür.

Erschreckt musste ich feststellen, dass der Rest des Hauses nicht weniger beschädigt war.

Zerbrochene Vasen, zerstörte Bilder und auch hier hatte sich der säuerliche Geruch von Kotze überall festgesetzt.

Ich schritt, bedacht nicht auf irgendetwas zu treten als blanken Fußboden, in mein Zimmer. Als ich die Tür dazu öffnete, schlug mir der Gestank entgegen. Wie in einem Tiergehege stank es widerwärtig.

Nach Schweiß, Kotze und anderen Körperabsonderungen verschiedener Personen.

Auf meinem Boden lagen verteilt verschiedene, sichtbare Körperteile von denen man größtenteils nicht zu ordnen konnte zu wem sie gehörten.

Vier Personen lagen ineinander verschlungen auf meinem Fußboden und schliefen. Eine lag auf meinem Bett. Schlurfend schritt auf dieses zu und schlug der Person auf den nackten Rücken.

Mein Handabdruck setzte sich deutlich rot auf seiner leichtgebräunten Haut ab, sodass er vor Schmerz und Schreck nach oben fuhr.

„Sag mal, geht’s noch?“ fauchte er aggressiv.

„Tom. Steh auf komm.“

Einen Moment warf er mir einen Blick zu, der mich getötet hat, wenn er könnte, ehe er aufstand und mich grinsend betrachte. Mit einer brüderlichen Umarmung meinte er: „Alles Gute, Barrymore.“

„Danke, danke, aber das hast du mir letzte Nacht gefühlte einhundert Mal gesagt.“

„Das klingt, als wäre ich deine Schlampe“, meinte er empört und lachte.

„Du bist meine Schlampe“, grinste ich schief und trat aus der Tür hinaus.

Durch ein Schmatzen auf den Fliesen hörte ich, dass er mir folgte und so schritt ich die kühle Marmortreppe hinunter, ignorierte das Chaos im Wohnzimmer und steuerte in den Garten.

Mit einem leichten Anlauf sprang ich ab und landete in dem kühlen Nasse des Pools. Ein lautes Platschen ertönte als ich erneut auftauchte, ehe ich die Gestalt von Tom wieder zur Oberfläche schwimmen sah.

Eine kräftige Armbewegung setzte meinen Körper in Bewegung und ließ mich durchs Wasser gleiten, bevor ich am Poolschwimmer angekommen und mich auf diesen gehievt hatte. Als ich mich darin zurecht rückte, sah ich das Tom sich in den anderen platziert hatte und langsam auf mich zu trieb.

Ich kannte Tom seit Ewigkeiten. Er kam ziemlich nah an das dran, was ich mir unter einem Bruder vorstellte und war der Inbegriff des besten Freundes. Aber irgendwie schien ich nur wenig von ihm zu wissen. Er war, wenn es um ihn ging, nicht sonderlich gesprächig, aber ich hatte gelernt mich damit abzufinden.

„Wo warst du? Nach halb vier habe ich dich irgendwo verloren.“

Nervös fuhr ich mir durch die nassen, hellbraunen Haare und wendete den Kopf zum Eingang.

„Maria! Maria!“ meine Stimme wurde brüchig, als ich die Stimme hebte um die Haushaltshilfe zu rufen, aber deutlich genug, dass sie mich hörte.

Sie stand an der Glastür gelehnt und wartete auf meine Bitte: „Ein Konterbier...zwei“, meinte ich lachend und blickte verstohlen zu Tom. Er sah mich ein wenig verärgert an, hielt seine wahren Gedanken allerdings unter Verschluss.

„Mir war das alles zu laut, war im Zimmer von Jamie. Ich hab ihre Kuscheltiere vollgekotzt.“

Ich lachte und auch Tom stimmte mit ein. Seine verhagelte Stimmung war verschwunden.

„Oh man, sie wird dich töten. Deine kleine 8-jährige Schwester wird dir den Arsch aufreißen... also du bist mit einem Mädel verschwunden?“

„Dies Mal nicht“, sagte ich und zog die Augenbrauen vielsagend hoch, „es waren zwei.“

„Niemals“, lachte Tom und spritzte Wasser auf mich, „vielleicht eine. Mit viel Glück. Du hättest gestern niemals mehr zwei überreden können. Es war als wäre dein Unterkiefer ausgehängt gewesen.“

„Aber du warst besser?“ fragte ich und schleuderte ihm auch eine Ladung Wasser ins Gesicht.

„Natürlich“, meinte er und ein süffisantes Grinsen zierte sein Gesicht, „ich bin mit Jeanine auf Tuchfühlung gegangen.“

„C-Körbchen-Jeanine?Respekt“, ich lachte und ließ den Kopf nachhinten fallen, als die Schmerzen darin dröhnender wurden.

„Dein Bier“, hörte ich eine genervte Stimme neben mir klingen und drehte ich herum. Neben mir auf dem Trockenen stand Maria. Junge Fünfundzwanzig, unser Au-Pair-Mädchen. Den Augenringen nach, hatte sie wohl gestern kräftig mitgefeiert und schien nun alles andere als in Laune zu sein mich zu bedienen.

„Danke“, grinste ich nett und wollte einen weiteren Flirtversuch starten, als sie abwehrend die Hand hob, die langen schwarzen Haare hinter die Schulter warf und arrogant meinte: „Spars dir, Marc. Auch mit siebzehn, geht noch nichts.“

Tom neben mir brach in schallendem Gelächter aus.

„Immer diese Hausmädchen“, meinte ich genervt und sah, wie Maria mit dem Fuß eine gesamte Ladung Wasser auf mich richtete.

„Ich bin ein Au-Pair-Mädchen. Also hör auf mich wie ein Putze zu behandeln. Das ist eine Form des Missbrauchs.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging davon, hoffentlich aufräumen.

„Dann ist es wohl eine Form des Missbrauchs, dass du mich um mein Eigentum gebracht hast. Meinen Alkohol.“

Sie reckte nur ihren Mittelfinger in die Höhe und schlug die Tür zu.

Lachend trieb ich wieder vom Rand weg und blickte zu Tom, der nur kopfschüttelnd alles beobachtet hatte.

„Ich muss dann auch“, meinte er und sprang von dem Poolschwimmer und stemmte sich aus dem Wasser.

Unter seiner Achsel sah ich plötzlich ein paar schwarze Linien: Mary&Mom.

„Alter, du hast da ein Tattoo“, rief ich überrascht auf und er sah mich verschreckt an. Hatte ich ihn ertappt?

„Ja, das ist mir bewusst“, versuchte er es unsicher zu überspielen und fuhr sich durch die dunkelblonden Haare.

„Wer bitte ist Mary?“ fragte ich neugierig und glitt von dem Poolschwimmer an den Rand.

Er nahm sich ein Handtuch und begann sich abzutrocknen, während ich einen kräftigen Schluck aus meiner Bierflasche nahm, die Arme verschränkte und meinen Kopf darauf bettete.

„Ein Name?“ meinte er fragend und verschwand. Ich hörte die Gereiztheit in seiner Stimme und entschied es dabei zu belassen. Ich legte mich auf den Rücken und ließ mich durchs Wasser gleiten.

Ich würde schon herausfinden, wer diese geheimnisvolle Mary war.

 

Ein lauter Schrei, nahe an der Grenze, dass ein Mensch ihn nicht mehr wahrnehmen konnte, riss mich aus dem Schlaf. Ich konnte mir denken, wer ihn ausgestoßen hatte und glaubte beinahe nicht, dass die Woche, die meine Eltern und meine Schwester verreist waren, vorüber war.

Für den Bruchteil einer Sekunde schien es danach auszusehen, dass ich mich selbst überzeugen konnte, dass ich mir den Lärm nur einbildete, aber diese Illusion zerbrach spätestens als meine Schwester die Tür zu meinem Zimmer so wutentbrannt aufstieß, dass die Tür von der Wand wieder abknallte und auf sie zu hielt.

Mit weitausgestreckter Hand fing sie sie ab und trat näher in mein Zimmer.

„Ein Schritt weiter, Jamie. Und ich töte dich“, flüsterte ich tonlos, vielleicht auch nur schlaftrunken.

Doch sie ließ sich davon nicht beirren.

„Du warst in meinem Zimmer“, kreischte sie und rannte auf mein Bett zu.

Müde grinste ich und zog mir die Decke über den Kopf. Maria und ich hatten die letzten drei Tage größtenteils damit verbracht das Haus wieder in seinen Ursprungszustand zurückzusetzen.

Offensichtlich hatte ich Jamies Zimmer vergessen...

„Stimmt gar nicht“, meinte ich und schob mir vorsichtig die Decke von den Augen und linste über die Kante.

Vor meinem Bett stand sie, zornig die Lippen aufeinander gepresst, die Hände zu Fäusten geballt und verkrampft an ihren Körper gedrückt.

Wenn jemand Zorn darstellen müsste, könnte er sie zum Vorbild nehmen.

Es war als würde ich sehen, wie sie sich Millimeter für Millimeter auf das Ausrasten vorbereiten würde und dann riss sie den Kopf nach oben und stieß ein lautes, kratzendes, Kreischen aus.

Sie sprang auf mein Bett und begann auf mich einzuschlagen. Wie eine Verrückte, schrie und lechzte heulend, vollkommen außer Kontrolle nach Luft.

„Du bist so ein Blödmann, Marc! Ich hab dir gesagt, dass du nicht in mein Zimmer darfst! Du hast mein Puppenhaus kaputtgemacht...“ ein langes Schluchzen, die Schläge verstummten und ich nahm die Decke vom Kopf und betrachtete, wie sie sich wie ein Häufchen Elend am Fußende zusammengerollt hatte.

Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte mich und mühsam schluckte ich diese herunter, ehe ich teilnahmslos die Decke zur Seite schlug und zur Tür schritt.

Ich hörte sie etwas schluchzen, was wie 'Ich hasse dich, Marc' klang und ignorierte es und schritt in die Küche.

„Musste das sein?“ hörte ich meinen Vater fragen, der Kopf schüttelnd von seinem Handy aufsah und dann dennoch den Blick wieder nach unten richtete.

Mit einem Grinsen und Schulterzucken beantwortete ich seine Frage und lehnte mich gegen die graue Arbeitsplatte.

„Wie war's?“

Mein bereits ergrauter Vater legte das Handy aus der Hand, stand auf und breitete noch im Gehen die Umarmung aus, mit welcher er mich umfing, ehe er mir mit den Fingerknöchel über den Kopf rieb.

„Alles Gute nachträglich, mein Junge.“

Verärgert stieß ich ihn mit dem Ellenbogen zur Seite und blickte ernst drein, aber ein Grinsen schlich sich dennoch in mein Gesicht.

„Danke“, meinte ich und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Eine routinierte Geste, die sich mittlerweile in die Abfolge meiner natürlichen Bewegungen eingebrannt hatte, „wo ist Mom?“

Er sah mich lange an, schätze die Antwort und meine Reaktion darauf ab, ehe er sagte: „Nicht mehr da.“

Wütend schlug ich den Messerblock, der neben mir stand auf den Boden und sah wie die scharfen, metallischen Klingen auf dem Boden zitterten, ehe sie stillstanden.

Kein Wort rann über meine vor Zorn bebenden Lippen.

 

„Wie fühlt es sich an?“ hörte ich ihn fragen, während ich mich auf dem Fahrersitz zurechtrückte und beinahe liebevoll über das Lenkrad meines neuen Wagen strich.

„Neu“, flüsterte ich und tastete mit den Finger das Amaturenbrett ab und verlagerte meine Position erneut, ehe meine Finger zu dem Radio glitten.

„Das meine ich nicht“, lachte er und spielte an dem Fensteröffner herum. Immer wieder fuhr die Scheibe mit einem Summen ein wenig oben, ein wenig nach unten, „ich meine dein letzter Schultag als Junior. Ein Jahr noch und du kannst wie ich endlich auf die Uni, High School Boy.

Mit gespielten Ärger schlug ich ihm mit der Faust gegen die Schulter und schüttelte den Kopf über seine Stichelei. Er hatte Recht.

Heute war mein letzter Tag als Junior gewesen. Die Welt würde nur noch ein Jahr auf mich warten müssen und ich blickte aus dem Fenster.

Der rote Gebäudeklotz sah mir entgegen, während er schien als würde er in den Hitzewellen jeden Moment schmelzen. Aus seinem Schlund drangen noch immer die Massen von Schüler hinaus, die zu meiner Verwunderung nicht wie in den Filmen in einer riesigen Musicalnummer aus dem Bauwerk stürmten, sondern mehr oder weniger gesittet sich zu den Brühkästen, zu ihren Autos, bewegten.

High School Boy.

Ja, ich war ein Schuljunge, aber nicht mehr lange. Ich hatte den Großteil hinter mich gebracht und ich wusste nicht, was mir mehr Angst einjagte: Mich aus dem vertrauten Gefilde zu wagen, oder niemals in der großen, weiten Welt Fuß zu fassen.

Ein Bedürfnis meine Befürchtungen laut auszusprechen, hatte ich noch nie verspürt und würde es womöglich auch nicht. Es war eines der Geheimnisse, die ich vor Tom hatte.

Und doch, wäre es wohl klug mit ihm darüber zu sprechen- er hatte Erfahrungen aus erster Hand, es selbst erlebt, diese Angst selbst verspürt. Zwei Jahre vor mir. Schließlich war Tom bereits neunzehn und schien dennoch mehr Geheimnisse zu hüten, als eine Gemeinde Einwohner zählt.

„Mary“, sagte ich plötzlich geradeheraus und beobachtete genaustens seine Reaktion.

Mit der implizierten Heftigkeit, mit der er mir entgegenschlug hatte ich nicht gerechnet.

Sein gesamter Körper verspannte sich, er presste die Lippen zusammen, sein linkes Augen begann leicht nervös zu zucken und die Ader an seinem Hals trat hervor. Ich sah, wie er die Luft anhielt.

Er hob seine Hand und ich glaubte, er würde mir flach ins Gesicht schlagen, aber er fuhr sich nur unsicher durchs Haar und zwang sich zu einem Grinsen.

„Ist das deine neue, heiße Schnitte? Muss schon ein heißes Gerät sein, wenn du dir ihren Namen tättowierst“, überspielte ich spielerisch meine eigene, aufkommende Anspannung und drehte den Zündschlüssel herum. Es leises Schnurren, wie das eines Kätzchen setzte ein, und ich setzte den Wagen langsam in Bewegung.

„Nein“, meinte er nun lachend, zwanghaft lachend und fuhr sich wieder durchs Haar. Eine nervöse Geste.

„Wer ist sie dann?“ ich blieb eisern und presste die Frage zwischen meinen geschürzten Lippen hervor. Mir graute es vor seiner Antwort, aber die Neugier, welche in meinem Inneren türmte, überwog.

„Eine ziemlich wichtige Person in meinem Leben, die ich lie-“ er brach und wollte mich so zwingen das Gespräch abzuschließen.

Allerdings hatte ich diese Geheimniskrämerei satt. Es nervte mich, dass er mir nicht Rede und Antwort stand und dies wurde auch in meiner Körpersprache deutlich.

Ich verkrampfte den Griff um das Lenkrad und blickte starr gerade aus, während ich sprach.

„Ich hasse das“, sagte ich tonlos, „dass du mir nie etwas über dich erzählt. Ich kenne dich mein Leben lang. Du warst der Kerl, der aus mir was gemacht hat, der mir geholfen hat und trotzdem habe ich nicht den blassesten Schimmer, wer du über bist.“

„Sag so was nicht“, meinte er nun plötzlich vorwurfsvoll, „du weißt viele Dinge über mich, von dem anderen nichts wissen.“

„Ach ja?“ ich wendete den Blick von der Straße von welcher die Hitzewellen aufstiegen und sah ihn an. Erstarrt hielt er die rechte Hand am Türöffner, so als wäre er bereit, wenn ich nicht verstummte, aus dem fahrenden Wagen zu springen, „und wieso kenne ich diese ominöse, wichtige Person nicht?“

„Weil du sie nicht kennen musst,“ sagte er tonlos und zwang den Klang aus seiner Stimme, so als würde er ein Schreien unterdrücken, „halt hier an. Ich gehe zu Fuß.“

Eigentlich wollte ich ihn nicht gehen lassen, ihm weitere Fragen stellen, aber dann merkte ich wie ich die Geschwindigkeit drosselte und der Wagen langsam am Wegrand ausrollte, ehe er vollkommen ruhte.

Er schlug die Tür zu, sodass die Fenster klirrten.

 

 

 

Unschlüssig stand ich vor meinem schwarz-lasierten Kleiderschrank. Immer wieder öffnete ich die rechte Schranktür um ein anderes Shirt zu wählen. Nach dem gefühlten, hundertsten Kleiderwechsel stand ich in einem einfachen weißen Shirt da und eine etwa knielange,schwarze Jeans trug.

„Du siehst blöd aus“, hörte ich Jamie sagen und grinste dann.

„Nicht so blöd wie du.“

Während ich an ihr vorbei schritt, zerzauste ich ihr mit der Hand die schulterlangen, braunen Haare. Sie sah unserer Mutter schon mit acht Jahren unglaublich ähnlich, weswegen es mir zunehmend schwer fiel in ihr nur meine Schwester und nicht die Verräterin von Mutter zu sehen.

Jamie war nicht wütend auf mich gewesen, dass ich in ihrem Zimmer gewesen war, selbst die zerstörten Kuscheltiere interessierten sie nicht weiter. Nein, es war die Tatsache, dass ich das Puppenhaus demoliert hatte, mit welchem sie und meine Mutter immer gespielt hatten.

Schließlich war Jamie vor mir bewusst, dass sie nicht zurückkommen würde.

„Wo gehst du hin?“ fragte sie, als ich zur Haustür hinausging und mein Auto ansteuerte, dann allerdings doch den Weg zur Bushaltestelle einschlug.

„Zu Tom“, log ich und sie schloss die Tür.

 

Die Landschaft zog im Dämmerlicht mühsam an mir vorbei. Ausgedörrtes Gras und verwelkte Blumen dominierten die Vorgärten, an welchen ich vorbei schritt.

Erst als ich eine bessere Wohngegend anvisierte und die Outblocks links neben mir ließ, begann ein Hauch von Leben durch die Umgebung zu wehen.

Die Häuser schienen mit jedem Schritt, den ich trat größer zu werden.

Schließlich bog ich auf den Weg zu einem orange-gestrichenen Haus ein, dessen Vorgarten strahlend grün war und eine Sprinkleranlage das Wasser abgehakt über die Wiese warf.

Einen Moment haderte ich, ehe ich die Klingel des Einfamilienhauses betätigte und wartete, dass mir jemand öffnen würde. Es dauerte nicht lange, immerhin war mein Eintreffen bekannt, wenn nicht sogar geplant.

„Barrymore, schön das du es einrichten konntest“, lachte ein auf den ersten Blick dicklicher Junge, allerdings nur auf den ersten Blick. Wenn man ihn genau betrachtete, erkannte man etliche Muskeln, die sich über seinen gesamten Körper verteilten und ihn auf eine gewisse Art und Weise komprimierten.

„Greg“, meinte ich und schlug in die Hand ein, welche er mir hinhielt.

„Bereit für das C9?“ er grinste breit und rieb sich aufgeregt die Hände.

Ich nickte vorsichtig.

C9- Eine Abkürzung für 'Cloud Nine'- Wolke sieben. Jedenfalls für die Menschen außerhalb den Stadtgrenzen von Paramour Hill, denn in diesen ist C9 für die Jugendlichen der Stadt der Inbegriff für Eskalation. Ein Indie-Musikfestival, welches vor allem wegen seiner Drogeneskapaden den Jugendlichen bekannt war.

Die Eltern sahen darin, nur ein Name, der ihre Liebe zu Musik ausdrückt. Doch der eigentliche Namensgeber für das C9 ist, wie sollte es anders sein, eine Droge.

„Dann auf“, grinste er und griff sich sein Handy, bevor er die Tür hinter sich zu zog.

Ich kannte Greg aus der Schule. Er war Footballer, einer mit Chance auf ein Stipendium für eine Elite-Universität, aber er schien sich zu verlieben und ständig auf C9 zu schweben. Die Droge, nicht das Festival.

Damit es sich aus dem Blickfeld und dem Kontrollzwang der Erwachsenen löste, feierten wir auf dem Love-to-die.

Die Karten dafür waren geradezu lächerlich teuer gewesen, wenn man betrachtete, welche unbekannten No-Name-Bands spielten. Doch die Musik war hierbei nur nebensächlich. Es ging viel mehr um die Stimmung, die Atmosphäre, die Drogen.

Tom verachtete das C9, aber so war er eben- stets vernünftig, selbst in der Zeit als man es nicht sein musste.

Der Weg in die Wälder war mit Gregs Wagen schnell vorbeigezogen. Vielleicht ein wenig zu schnell und mit mulmigen Gefühl stieg ich aus dem Wagen und reihte mich in die Schlange.

„Ich bin aufgeregt“, hörte ich eine Blondine vor mir sagen. Sie klammerte sich mit ihren langen Fingernägeln in die T-Shirt-Ärmel ihrer Begleitung und ein Mädchen mit schwarzen Haaren drehte sich amüsiert herum. Ihre Augen funkelten vielsagend, ehe sie meinte: „Das wird legendär. Unser erstes C9. Eine richtige Ehre, denn nicht jeder bekommt die Chance überhaupt an einem teilzunehmen.“

„Wir sind Auserwählte“, lachte die Blondine und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Ich sah herab und bemerkte die knappe Jeans-Hot-Pants, welche sie trug und das semi-transparentes rotes Oberteil.

Sie sah gut aus und ich hoffte, sie erneut anzutreffen, denn jetzt war ich dafür bei weitem noch nicht in Stimmung.

„Und?“ fragte er und nickte in die Richtung des Mädchen, das nun im Eingang verschwand.

„Was?“ meinte ich und blickte zu Greg, der im Arm umschlungen eine gutgebaute Brünette hielt.

„Ach übrigens das ist Roxana.“

Er sprach den Namen verführerisch aus und sah ihr dabei tief in die Augen, obwohl er mit mir redete. Ich konnte es mir nicht erklären, aber ich glaubte, dass sie eine leichte Nummer sei. Mit Leichtigkeit würde ich sie ihm ausspannen können, vielleicht würde sie sogar freiwillig zu mir überlaufen.

Gedankenverloren schüttelte ich den Kopf und richtete meine Aufmerksamkeit wieder zu Greg, der nun wieder seinen Blick auf meinem Gesicht ruhen ließ. Daraus schloss ich,dass er mir wohl eine Frage gestellt hatte und zog fragend die Augenbraue hoch, in der Hoffnung, er würde seine Frage wiederholen.

„Kennst du sie nicht?“ fragte er mich und machte große Augen.

„Ihre Freundin...ich glaube sie heißt Beven“, meinte ich achselzuckend und hielt dem Schrank von Türsteher mein Ticket hin. Unliebsam riss er beinahe die gesamte Hälfte ab, ehe er mir den Rest zurückgab. Es hätte nur noch das Grunzen gefehlt, mit welchem er mich durchlenkte, aber dieses blieb aus.

„Ja, aber... Mensch. Marc? Wo zur Hölle warst du die letzten Monate? Das Mädchen ist in aller Munde.“

In aller Munde? Ich hatte nicht ein Wort von ihr gehört, was aber wahrscheinlich daran lag, dass ich eben genau diese letzten Monate geschwänzt hatte. Die College-Partys von Tom waren eben interessanter, als der Lernstoff der 11. Klasse.

„Ach ja? Ich habe meistens blau gemeint und diese letzten drei Monate will ich mich nicht unbedingt öfters als nötig dorthin begeben“, meinte ich lachend und sah zu, wie Greg in seiner Hosentasche fingerte und letztendlich einen Joint zu Tage fördert. Auffordernd hielt er ihn mir hin und ich nahm in die Hand.

„Ja, Mary Sue. Sie ist eine Sophomore gewesen, kommt jetzt in die Elfte. Die wird einmal eine ganz Große, ich würde drauf wetten. Spätestens in einem Jahr, wenn sie die Schule als Senior verlässt, wird man ihren Namen nicht vergessen und auf den Gängen hallen hören“, sagte er und drückte Roxana einen Kuss auf die Wange, als er ihren Blick vernahm.

„Mary Sue?“ wiederholte ich leise mit dem Joint zwischen den Lippen.

Mary? Mary? Mary Sue. Mir fiel der Joint zu Boden, während es mir dämmerte.

Dann machte es 'klick' und ich stürzte in die Menge, auf der Suche nach der Blondine in Rot.

 

 

 

Unzählige Mädchen, die ihr mehr oder weniger ähnlich sahen, riss ich nach der gefühlten tausendsten Niete nur noch grob an der Schulter herum. Ein paar warfen mir finstere Blicke zu, während ich sie wie blöd anstarrte.

Wenn ich mich recht entsinnte, hatte ich ihr Gesicht nicht gesehen und so hoffte ich, in ihren Gesichtszügen Ähnlichkeiten von Tom zu erblicken.

Erschöpft ging ich auf ein Mädchen zu, das wieder mein Blickfeld gekreuzt hatte. Ein hübsches Ding mit etwa brustlangen Haaren, die sich gerade den Becherinhalt in den Hals kippte. Als sie fertig war, wischte sie sich mit dem Handrücken über die rotgemalten Lippen, sodass eine Spur davon auf der blassen Haut zurückblieb.

Sie schien, obwohl es Sommer war, nicht richtig braun werden zu wollen.

Das ist die Letzte, sagte ich mir in Gedanken, während ich immer näher trat, egal, ob es die ist, die ich suche. Bei der bleibe ich jetzt. Schließlich willst du den Abend nicht alleine verbringen.

Plötzlich hob sie aufgeregt die Hand und winkte hektisch zu mir herüber. Da musste ich grinsen, ein wildes, verschwörerisches Grinsen und fuhr mir durch die Haare. Die Mädchen mochten das.

Bis ich begriff, dass dieses schnelle Herlocken nicht mir galt.

Laut lachend, selbst über die dröhnende Musik hinweg, rempelte mich eine weitere Blondine an.

Eine Blondine in Rot.

Atemlos hechtete ich ihr hinterher, während sie so gejagt an mir vorbei schritt. Wieso hatte sie es so eilig?

Ehe sie bei der Blonden ankam, die ihr so ähnlich sah, hatte ich geschafft sie einzuholen.

Ich wusste, dass es sich hierbei um Mary handelte. Ich wusste es einfach.

Vorsichtig schlang ich meinem langen Finger um ihren Oberarm, führte eine leichte Drehbewegung aus, der sie willig folgte.

Endlich stand sie mir dem Gesicht zu gewandt.

Sie war es. Und nun verstummten auch die letzten Zweifel in meinem Kopf, erstickten im Keim und ich widmete meine ganze Aufmerksamkeit des Betrachten ihres Gesichts.

Ich hatte ähnliche Züge erwartet, aber sie glichen sich beinahe schon unheimlich.

Sie trug die selben grauen Augen, wie auch Tom im Gesicht, aber ihre wirkten irgendwie... verlassen.

Etwas in mir sagte, dass sie ihre Seele aufgeben hatte und diese fortgegangen war.

Warum ich einen solchen Schwachsinn dachte, wusste ich allerdings nicht.

Für einen unendlichen Augenblick starrte ich sie einfach nur an, betrachtete ihre schmalen und doch schön geschwungenen Lippen, ehe ich mit meinem Blick wieder zu ihren Augen emporkletterte.

Sie sahen mich verloren an, strahlten Arroganz aus um die Einsamkeit dahinter zu verbergen, aber sie ruhten nicht. Immer wieder sprang ihr Blick auf meinem Gesicht umher, als würde sie sich jegliche Kleinigkeiten merken wollen, um mich ja nie wieder zu vergessen.

Auch das war Schwachsinn.

Langsam schüttelte ich den Kopf und begann meinen Lippen zu einem Lächeln zu verziehen.

„Hallo“, sagte ich, als mir auffiel, dass wir noch immer kein Wort miteinander gewechselt hatten.

Plötzlich lief sie rot an, ein schüchternes Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

Sie warf den Kopf nach hinten, sodass sie in die Gruppe Mädchen blicken konnten, die sie aufmerksam beobachten. Die Schwarzhaarige, die ich auch vorhin gesehen hatte, konnte ich nun auch ausmachen. Sie nickte Mary auffordernd zu.

Erst jetzt antwortete sie mir: „Hi.“

Kurz, aber subtil.

„Ich kenne dich nicht“, sagte ich und legte den Kopf schief. Sie tat es mir gleich, wenn sie auch die Augenbraue fragend noch oben zog.

„So?“ fragte sie und schwieg. Ich wartete darauf, dass sie noch etwas anschließen würde, aber sie tat es nicht.

„Doch ich habe das Gefühl, ich würde.“

„Hast du?“ fragte sie überheblich und verschränkte die Arme vor der Brust, „das ist aber die lahmste Anmache, die ich-.“

„Das ist keine Anmache“, unterbrach ich sie hastig. Ich würde doch nichts mit Toms, so gut gehüteten Geheimnis von Schwester etwas anfangen. Und doch, bahnte sich eine Vorstellung davon in meinem Kopf an.

Vor meinen inneren Augen sah ich, wie ich die Hand hob. Vorsichtig, weil sie schreckhaft und hektisch wirkte, damit sie nicht floh und legte sie an ihre Wange. Sie würde mir tief in die Augen blicken, versuchen in meinem Blick zu lesen. Mein Vorhaben langsam in ihre Bewusstsein lassen, aber ich würde mich längst zu ihr vorgebeugt haben. Immer noch keine wilden Bewegungen, ruhig und fließend – wie ein Fluss, ein stilles, tiefes Gewässer.

Der Wellengang würde über unsere Lippen fließen, vereinen und vereinheitlichen. Ich würde die Glückssekunde genießen.

„Nicht?“ fragte ich sie ein wenig zu empört, als sie es wohl sein wollte, „was willst du dann?“

„Ich möchte dich kennenlernen“, sagte ich und versuchte meine Gedanken in der Realität zu lassen.

„Wieso?“

Sie wirkte skeptisch, natürlich. Sie war schließlich auch Toms Schwester.

„Weil...“ ich log, bezüglich meiner Intention und ich sprach die Wahrheit, bezüglich meiner Aussage, „weil du ziemlich schön bist, Mary.“

Die schüchterne Röte glühte leicht unter ihrer Haut, aber in ihrem Blick fand ich nichts dergleichen.

Es war ihr Körper, der reagierte. Nicht die Seele.

Und für einen zerschmetternden Augenblick wusste ich nicht, ob ich entrüstet sein sollte.

Sie lächelte.

Sie lächelte, weil ich sie schön nannte. Schön war etwas anderes als hübsch. Schön ist stärker, ernster, wirklicher, reifer.

Und das wäre sie gewesen, wenn ich in ihrer Gegenwart nicht diese Unruhe gespürt hätte.

 

 

 

Wir waren dabei irgendeinem Lied, dessen Titel und Melodie, welche ich mit dem ersten Ton bereits vergessen hatte, zu hören, als mir bewusst wurde, was ich tat.

Wieder starrte ich sie an.

Und ich hatte es gemerkt, da mir die Luft fehlte. Ich starrte sie über den Zeitraum an, welchem ich die Luft anhalten konnte. Erst als ich wieder danach schnappte, ging mir das Licht auf.

Sie war ein wenig wie Pandora.

Auch wenn ich es mir nicht erklären konnte, kam es mir so vor, als wäre sie der Auslöser allen Übels.

Und in gewisser Weise war sie es auch.

Ich konnte mir schon jetzt bildhaft ausmalen, wie Tom reagieren wird, wenn er erfuhr, dass ich seiner Schwester nachstellte.

Doch eigentlich war es seine Schuld. Hätte er aus ihr nicht ein wandelndes Geheimnis gemacht, wäre es mir wohl egal gewesen, sie wäre seine Schwester und nichts weiter.

Aber nun, musste ich, ich musste, einfach erfahren, warum er sie verschwieg. Was stimmte mit ihr nicht? War sie ein gottverdammtes Genie, dass die ganze Welt rette konnte und er sie vor allem und jeden zu beschützen hatte oder war es einfach die Überfürsorge eines älteren Bruders.

Nach gründlichen Argumentieren, Abwägen von Pro und Kontra schien mir die zweite These wahrscheinlicher.

Plötzlich spürte ich wie sich Arme um meinen Hals schlangen, ein Körper sich mir entgegen strecken und hörte die Wörter, die sie aufgrund der äußeren Lautstärke geradezu an mein Ohr schrie: „Meld dich mal bei mir.“

Und dann spürte ich, wie sie einen Zettel in meine Hosentasche schob.

Ehe ich begriff, was gerade passiert war, stand ich allein in der jubelnden Menge, welche losging und die Welt mit ihrem tosenden Applaus, für den letzten Song des Abends, stieß.

Mir war kalt, denn die Sonne war seit Ewigkeiten untergegangen. Nur das heiße Gefühl, welches mit dem Stückchen Papier in meiner Hosentasche einherging, ließ mich nicht frösteln.

 

 

Tagelang schlich ich nervös um den Zettel Papier. Er war unsauber, eingerissen und eigentlich handelte es sich um eine Kaugummi-Verpackung. Abschätzend saß ich davor und betrachtete die Ziffern eingängig.

Ich würde mich auf gefährliches Terrain begeben, sollte ich die Nummer wirklich wählen und ich musste abschätzen, ob es mir wert war. Ich wüsste, ich setzte die Freundschaft mit Tom aufs Spiel.

Dann nahm ich den Zettel entschlossen in die Hand.

Er hatte mir nichts erzählt. Ich wusste für eine unendlich lange Zeit nicht einmal, dass eine Schwester hatte, also wie gut kannte ich diesen Menschen? Nicht gut genug, dass ich ihm Wissen unterordnen würde.

Da ich meiner Stimme nicht traute, beließ ich es bei einer SMS.

- Hey Mary, ich bin es, M.-

Ich sah lange auf die Zeichen hinab, ehe ich auf 'Senden' drückte und fand meine Worte dann unglaublich dämlich. Ich bin es.

Noch nicht einmal meinen Namen drunter zusetzen hatte ich mich getraut. Was war ich doch ein Feigling.

Doch wie sich entpuppte waren meine Wörter wohl nun doch nicht so schrecklich gewählt, wie ich befürchtet hatte.

Aus meiner ersten Nachrichten, hatte sich eine rege Konversation entwickelt.

So angeregt, dass ich mein Handy nur sehr selten aus der Hand legte.

Wir sprachen über die Welt.

Wir sprachen über mich.

Wir sprachen nie über sie.

Immer wenn ich versuchte das Thema auf sie zu richten, lenkte sie geschickt ab.

 

- Was machst du eigentlich sonst so, wenn du nicht die Welt in Frage stellst?-

hatte ich sie einmal gefragt und als Antwort erhalten:

- Versucht sie zu retten, vor dem, was ich in Frage stelle.-

 

Kopfschüttelnd nahm mir mein Vater daraufhin das Handy vor der Nase weg.

Für eine geschlagene Woche hielten wir keinen Kontakt, aber ich wäre wohl auch zu aufgeregt gewesen. Ich traf meine Mutter zufällig in der Innenstadt, in den Outblocks.

Eine Wohngegend die meine Mutter grundsätzlich mied. Sie konnte oder wollte, verschloss ganz einfach die Augen davor, die Armut nicht sehen. Vielleicht hielt sie sich auch für etwas Besseres.

Sie wurde mir fremd und ich pflegte schon immer die schlechte Angewohnheit über Fremde vourteilhaft zu urteilen.

Es war an einem Freitag.

Eigentlich wollte ich ins südliche Viertel, dort wo die Jugendlichen rumhingen, um mich Tom seit einer Weile zu treffen. Wir hatten uns nicht gesehen, da er die letzten Wochen, unbegründet, auf dem Campus verbracht hatte. So flanierte ich in den rechtwinkligen Straßen der Outblocks umher, während mein Schatten um mich herumtänzelte, ab und an vor, dann wieder hinter mir, je nachdem welche Biegung ich nahm.

Er lenkte mich ab, sodass ich den Großteil damit verbrachte ihn zu beobachten, als ich dennoch aufsah.

Ich sah sie aus einem der Hochhäuser heraustreten. Es war eines wie der tausend anderen, die ebenfalls hier standen. Alle ein dreckiges Beige, oftmals verziert oder versaut, je nachdem wie man dazu steht, mit irgendeinem Graffiti. Allerdings störte sich niemand daran. Die Bewohner der Outblocks waren vor allem junge Familien, die am Anfang ihres Lebens standen, ausgerissene Jugendliche, welche versuchten Fuß zu fassen oder Geschiedene, die die Wunden mit Alkohol zu desinfizieren, welche sie sich beim Auflesen der Scherben ihrer gescheiterten Ehe zugezogen hatten.

Menschen, die glaubten alles verloren zu haben, aber nicht hoffnungslos verloren waren. Die Outblocks waren oft das Sprungbrett für ein besseres Leben.

Ich glaubte nie einen meiner Elternteil auf diesem herumwandeln zu sehen, und ich glaubte es noch immer nicht, als ich sah, dass es meine Mutter war. In ihrem schicken graumelierten Kostüm wirkte sie einfach viel zu edel für die Umgebung. Sie schien wie ein Fisch im Vogelkäfig- schlichtweg unpassend und aus ihren eigentlichen Umgebung gerissen.

Sie lief über die schmale Straße , ehe sie sich in einen rostigen Wagen setzte und der Fahrer davonbrauste. Im Rückfenster sah ich wie ihr Kopf sich nach hinten wand, aber ich dachte nicht daran, dass sie mich gesehen haben könnte. Sie hatte schon viel zu lange keine Augen mehr für mich gehabt, wieso also nun?

Doch die verblüffendste Erscheinung, die an diesem Tag mein Sichtfeld kreuzte, war Mary Sue.

Hastig und in Eile hechtete sie über eine Bordsteinkante und verschwand in dem angrenzenden Haus. Es ging alles so schnell, dass ich einen Moment überlegen musste, ob es wirklich Mary war, die ich gesehen hatte.

Vor meinem inneren Auge erschien das Bild von dem Mädchen mit dem langen, blonden Pferdeschwanz, dass die schwere Kunststofftür aufdrückte. Und als ich den Umweg einschlug, der mich zum Eingangsbereich des Hochhauses führte, konnte ich es nicht verhindern, dass ich die Klingeln kontrollierte.

Sue stand an einer der zwanzig Klingeln geschrieben und ich schüttelte den Kopf.

Verärgert schnaubend, aber mit einem ironischen Grinsen ins Gesicht trat ich zu Tom in die Kneipe namens Brady's ein.

Am selben Abend beendete ich die Freundschaft.

Nun hatte er mir nichts verschwiegen, aber er hatte mich belogen.

Er hatte gesagt, er wohne im südlichen Stadtteil, über die Outblocks verlor er kein Wort.

Ich verzieh viel, aber keine Lüge.

Deswegen hasste ich meine Mutter auch. Sie hatte uns verlassen, aber sie hatte uns belogen und gesagt, sie wollte nicht, dass es dazu kommt.

 

 

 

 

 

Anderthalb Wochen darauf verabredeten wir uns.

„Kann ich mir dein Auto ausleihen?“ ich steckte den Kopf in das Arbeitszimmer meines Vaters. Die nassen Tropfen der Dusche perlten noch immer von meinen Haaren an meinen Wangen herab und tropften mir auf den T-Shirtkragen.

„Wo willst du denn hin?“ fragte er und drehte sich mit Stuhl zurück zu mir. Er sah ein wenig gedankenverloren aus und ich trat näher in das lichtdurchflutete Zimmer, ehe ich mich an den gläsernen Schreibtisch setzte.

„Ich wollte mit einer Freundin nach Oak Island.“

„Oak Island?“ fragte er und sah mich an, aber mein Blick schweifte auf dem Schreibtisch umher.

Auf diesem türmten sich Berge von Papierkram, daneben ein älterer Laptop, Bilder von Jamie und mir und eigentlich auch ein Bild von meiner Mutter. Ein wenig hektisch suchte ich dieses als, ich sah, wie es vor meinem Vater stand.

„Ja, wir wollten an den Strand und ich wollte deinen Oldtimer.“

Daneben ein Briefumschlag. Er wirkte sehr formell und auch das Firmenlogo, eine Waage, wirkte äußerst professionell. Erst als ich das Schreiben daneben erblickte, wurde es mir klar.

Scheidung. Meine Mutter hatte die Scheidung eingereicht.

Plötzlich schwoll der Zorn erneut in mir an, ich verkrampfte meine Finger ineinander und atmete schwer aus.

Mein Vater registrierte meine Unruhe und schob mir den Autoschlüssel entgegen.

„Viel Spaß“, meinte er, während er mit der Faust das Schreiben zusammenknüllte.

Schweigend stand ich auf, griff den Schlüssel und ging. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, denn ich wusste, dass nichts ihn trösten würde.

Die Mühe mir die Haare zu föhnen machte ich mir gar nicht erst. Der Fahrtwind und die brühende Hitze würden schon ihren Soll und erfüllen und somit war das Einzige, wobei ich meinem Styling selbst verhalf, ein schnelles Durchfahren.

Ich holte sie in der Innenstadt ab, nicht weit entfernt von den Outblocks, dennoch weit genug um sie als Unwissender nicht damit in Verbindung zu bringen.

Sie wartete am Gehweg irgendeiner Seitenstraße und lehnte gegen die Backsteinmauer des alten Hauses.

Um ihre Hüften gebunden, trug sie ein rot-kariertes Flanellhemd, welches ich sehr gut von Tom kannte. Ich besaß genau dasselbe. Ich schüttelte den Kopf, als ich auf den Bordstein auffuhr und herüberreichte u ihr die Tür zu öffnen.

Mit einem Lächeln stieg sie zu mir in den Wagen, verlor ihren Blick auf den massiven Armbanduhr an ihrem Handgelenk und klemmte sich die Strähne, welche sich aus der dürftigen Hochsteckfrisur gelöst hatte, hinters Ohr.

Eigentlich wunderte ich mich darüber, warum ich sie gerade hier abholen sollte, aber ich schwieg. Ganz offensichtlich wollte sie nicht, dass ich erfuhr, wo sie wohnte. Es würde nur ihrem Ruf schaden.

Denn die zukünftige Herrscherin der Paramour Private High würde es sich nicht leisten können, in den Outblocks zu leben.

„Und?“ fragte sie, „wo fahren wir hin?“

Ihre Stimme klang aufgeregt, sie schnallte sich an und blickte mich erwartungsvoll an.

„Ich dachte, wir machen einen kleinen Trip nach Oak Island.“

Sie biss sich auf die Lippe und ich war mir nicht sicher, ob es eine aufgeregte oder eine unsichere Geste sein sollte.

„Ich muss allerdings um acht wieder Zuhause sein“, sagte sie und es klang so, als würde sie sich schämen.

Ich vergaß, sie war fünfzehn.

„Oak liegt nur etwa zwei Stunden von hier. Das ist schon zu machen“, sagte ich beruhigend und war selbst überrascht von dem Klang einer Stimme. Es würde länger dauern, sie würde nicht rechtzeitig zurückkommen, aber ich wollte alles, dass sie blieb.

„Okay“, lächelte sie und kramte ihr Handy hervor, „ich habe einen Road-Trip-Mix erstellt.“

„Du weißt, dass es ein Oldtimer ist?“ fragte ich lachend und ihre leuchtete ein wenig die Röte ins Gesicht, erneut glühte die Scham auf ihren Wangen.

Aber dann beugte ich mich ein wenig ihr entgegen um das Handschuhfach zu öffnen. Als ich ihre Beine dabei streifte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Mein Vater hatte eine externe Musikstation eingebaut. Meine Mutter hasste Radio-Musik.

„Schließ an“, forderte ich sie auf und sah, wie sie zögerlich das Kabel ergriff und mit ihrem Handy verband.

Sie wartete bis wir raus auf den Highway fuhren, ehe sie auf 'Play' drückte.

We are young dröhnte aus den Lautsprecher, während wir die Straße Meile um Meile hinter uns ließen.

So set the World on fire“, sang sie lauthals mit.

Auf einmal wirkte sie auf mich lebendig. Zum ersten Mal. Nicht wie eine billige Kopie, die das Leben von ihr erstellt hatte, sondern sie war jung, aber vor allem war sie sie selbst. Es interessierte sie nicht, sie sang einfach und wenn sie auch keine Note traf.

Das Lied verstummte und ein mir unbekanntes mit leichten Gitarrenklängen umschwirrte uns wie die Luft, die an unseren Köpfen vorbei strich. Ich liebte das Cabrio meines Vaters.

Vielleicht hatte ich es auch genommen, weil man sich über den starken Fahrtwind nur schwer einer Konversation hingeben konnte. Mir gingen die harmlosen Fragen aus und in mir innerlich verlangte es, immer tiefer in ihrer Seelen, in ihrem Leben, in ihrem Kopf zu wühlen.

Ein Verlangen, das ich schleunigst unterdrücken sollte, aber plötzlich begann sie zu erzählen.

Sie erzählte, sie habe einen Bruder, verschwieg jedoch seinen Namen, erzählte das man sie desöfteren im Brady's antraf und das sie ganz gerne Gedichte verfasste, wenn sie auch nicht sonderlich gut waren. Außerdem sagte sie: „Ich halte die Welt nicht für einen grausamen Ort. Es gibt so viele Plätze, die mir das einfach nicht ermöglichen. Das Love-to-die zum Beispiel. Nirgendwo zuvor habe ich mich so unbeschwert gefühlt, wie über den Lichtern der Stadt. Ich wünschte, ich könnte dort für immer bleiben. Über den Lichtern der Stadt, weißt du? Da ist die Welt nicht so düster und dreckig, wie mein Kopf sie mir darstellt. Da gelingt es ihm nicht. Und dann gibt es Ort, wie das hier. Orte, an denen man nicht ewig bleiben kann, an dem man eigentlich vorbeirast und dennoch nie glücklicher irgendwo anders war.“

Wir erreichten den Strand nie.

Auf halben Weg stotterte er plötzlich wie Legastheniker beim Vorlesen, ehe er aufgab und liegen blieb.

Als ich versuchte das Dach zu schließen, funktionierte auch dies nicht und ich musste den teuren Oldtimer, das Herzstück meines Vaters, am Straßenrand irgendeiner staubigen Straße stehen lassen und in den nächsten Ort spazieren.

Mary folgte mir und beim Nebeneinander-Schlendern fanden unsere Hände irgendwann zusammen.

Gerade als wir das Stadtschild erreichten, blieb sie abrupt stehen.

Ich wurde geradezu wieder nach hinten geschleudert.

„Würdest du mich jetzt küssen?“ fragte sie und sah zu mir herauf. Ihre Augen ließen mich nicht ihre Gedanken lesen, zogen eine Mauer hinauf, um ihre wahre Intention zu verbergen.

Würde ich sie jetzt küssen?

„Wieso?“ fragte ich und drängte sie mehr auf das ausgedörrte Gras, vom Asphalt weg.

Ein Donner erschütterte die Welt für einen Atemzug um uns herum, aber sie blieb standhaft, zuckte nicht einmal mit der Wimper.

Dann legte sie mir entschlossen die Arme in den Nacken, streckte ihren Körper meinen entgegen und berührte mit einer niedlichen Schüchternheit sanft meine Lippen.

„Ich bin nicht in dich verliebt oder so“, sagte sie und blickte in meine dunklen Augen, gefärbt von einem bis dahin unbekannten Verlangen, „ich will nur meinen ersten Kuss hinter mich bringen. Und es ist endlich mal ein Ort, an dem ich mich glücklich fühle. Ein Ort, der mir nicht aus der Hand gleitet. Also würdest du mich bitte küssen?“

Der Himmel verdunkelte sich, Blitze zuckten über unsere Köpfe hinweg. Ein Donner folgte, daraufhin erneut ein weiterer Blitz und mit dessen Verschwinden, küsste ich sie.

Und noch bevor der erste Regentropfen auf dem heißen Asphalt aufschlug, lösten wir uns voneinander.

Wir schritten über die Stadtgrenze und setzten uns, nach ein paar Minuten Fußweg, auf eine Bank.

Weder sie, noch ich schienen ein Verlangen zu verspüren, uns erneut zu küssen.

Ich legte ihr den Arm um die Schulter und wir beobachteten, wie sich einige Passanten hektisch regelrecht unter überdachte Möglichkeiten stürzten, als der Schüttregen auf uns nieder prasselte.

Ich roch den Geruch von Sommerregen.

„Schau mal, wie sie eilen“, hörte ich sie flüstern, beinahe hauchen, „es scheint, als wollten sie nicht verweilen.“

Sie sprach nicht mit mir.

„Sie flüchten vor ihrem Leben“, meinte sie nun laut, an mich gerichtet und ich hörte, wie sie tief einatmete. Vielleicht aus Kummer, aber vielleicht auch, weil sie den wunderbaren Duft des kalten Regen auf dem heißen Asphalt aufsaugen wollte.

„Jeder Mensch tun das. Nur wir genießen gerade eine der wenigen Glückssekunde.“

Sie sah mich an, und dann war dieses Verlangen doch wieder da. Aber ich wusste, die Sekunde war verstrichen.

 

Ich hatte geahnt, dass sie danach den Kontakt zu mir abbrechen würde und ich glaube, es war auch besser so.

Denn dadurch fand ich den Weg zu meinem besten Freund zurück.

Ich beichtete Tom alles. All das, was ich in Erfahrung gebracht hatte.

Dann beendete er die Freundschaft – endgültig.

Und dann war ich nur noch siebzehnunderbares Jahr.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rehabilitationsphase – Marc Barrymore

Das Licht der, sich dem Horizont entgegeneigenden, Sonne tauchte das Zimmer in ein glühendes Orange. Deutlich war erneut eine Anspannung zu spüren. Doch keinem konnte man deswegen etwas vorwerfen. Es war die Situation, alle Nerven lagen blank.

Tom Sue, der Anzugträger, der Bruder, saß verkrampft in seinem Stuhl, starrte unerlässlich auf eine Stelle und wirkte abwesend.

Marc Barrymore allerdings suchte immer wieder, beinahe leidend, seinen Blickkontakt. Man sah ihm an, dass es gerne eine erneute Freundschaft wollte, sich geradezu danach sehnte.

Es war der glatzköpfige Schulpsychologe, der sich als Erstes aus seiner Starre befreite. Doch selbst er, blieb unnatürlich lange schweigsam, wenn man betrachtete, dass er in solchen Situation analytisch und bei der Sache bleiben sollte.

Ein Räuspern durchfuhr den Raum, der einzig durch das Geräusch der schlagenden Herzen belebt wurde.

Mit diesem beinahe widerlich lauten Geräusch, zerbrach die Illusion der Stille und seine eingerostete Stimme erhob sich über den Scherben:

„Sie haben also den Kontakt zu Mary Sue abgebrochen? Wieso genau? Wieso glauben sie, dass es besser so war?“

Der Psychologe beobachtete genaustens, wie sich Marc Barrymore vorsichtig bewegte, sich in seinem Stuhl aufgerichtet hatte und einen Blick zu Tom Sue warf.

Ein scheuer Blick, der mit einem biestigen, fast hasserfüllten Blick erwidert wurde.

„Ich glaube“, sagte Barrymore schwach, „sie ist sich selbst nicht wichtig genug. Das sorgt dafür, dass ihr nichts wichtig genug ist und sie auf der Suche ist, endlich etwas zu finden. Bis dahin lebt sie von Augenblick zu Augenblick, was sie recht rastlos erscheinen lässt.“

„Es scheint, als wollten sie nicht verweilen.“

Nachdem der Anzugträger diese Worte ausgesprochen hatte, kehrte die Stille zurück. Nun waren nicht einmal mehr die Herzen zu hören. Es war totenstill.

„Nun gut“, meinte die Rektorin, die vollkommen versunken schien, mit weicher Stimme, „das reicht erstmal. Nimm bitte im Nebenraum Platz.“

Er weigerte sich nicht, sondern stand auf und folgte der Aufforderung. Er würde wohl eine lange Zeit schweigen.

Ein letztes Mal warf er den Kopf zurück, den Blick mit Reue überlaufen.

Das Glas hinter den Augen des Anzugträgers brach, jedoch nicht genug.

„Ich weiß einfach nicht mehr weiter“, hörte man die Rektorin sagen. Sie klang verzweifelt, furchtbar verzweifelt.

„Es ist schwer“, meinte der Psychologe tröstend, fuhr sich nervös über den kahlen Kopf, ehe er ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter legte.

„Ich habe keine Lust mehr. Ich kann mir kein weiteres Gespräch mehr anhören, wie man das Leben meiner Schwester auseinander nimmt.“

Plötzlich war die Rektorin verärgert, vielleicht auch weil sie so verzweifelt war, und erschöpft: „Sie müssen nicht bleiben. Sie können jeder Zeit gehen.“

Er warf ihr einen wahnwitzigen Blick zu, setzte an etwas zu sagen und schwieg dann letztendlich.

„Sie ist rastlos“, flüsterte der Schulpsychologe und stand auf. Seine Beine fühlten sich irgendwie taub an, als hätte er zu lange gesessen und er hatte Kopfschmerzen. Er hatte zu viel gehört.

Vorsichtig zog er die Tür auf.

Der Gang war verlassen, rotes Licht ließ ihn absurd erleuchten und die Schatten der Menschen verzerrten sich zu grausigen Gestalten. Es jagte ihm beinahe einen Schrecken ein.

Doch nicht die Schatten, sondern der Blick des Studenten. Gebrochen, nicht mehr wütend. Und dabei hätte der Psychologe den Zorn so viel lieber gesehen, als den Schmerz in seinem Blick.

Die beiden Schulmädchen lagen über die Stuhlreihen hinweg nebeneinander und dösten. Auch die unbekannte Brünette hing mit dem Kopf vorne über und atmete gleichmäßig.

Er schritt zu einem der Mädchen. Zu dem Mädchen mit den karamellfarbenden, fließenden Haaren.

„Erica SanDiego?“ er stieß sie leicht ein. Verschlafen klapperte sich mit den Lidern, ehe sie begriff, wer vor ihr stand.

In einer panischen Sekunde hievte sie ihren Körper nach oben und strich sich durch die Haare.

„Kommen Sie bitte nun mit.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 7: "Alle haben immer geglaubt, Mary Sue fürchtet sich nicht. Vor nichts und niemanden, aber das ist gelogen. Eine ihrer größten Ängste ist es, ausgeschlossen zu sein."

 

 

Mit müden Augen blickte ich auf das Bild in meiner Hand. Es war abgegriffen und rissig. Ein großer, waagerechter Knick zog sich beinahe exakt auf mittiger Höhe durch das Foto, machte einige Gesichter unkenntlich. Manche die inzwischen auch nicht mehr gesehen werden wollten.

Mit dem Daumen strich ich es glatt und bemerkte unzufrieden, wie sich mein Nagellack auf dem Nagelbett abgeblättert hatte.

Es war beinahe anstrengend sie auf dem Foto zu suchen. Das musste man mittlerweile nicht mehr tun und so war dies meinen Augen schon fast fremd.

Aber dann hatte ich sie gefunden und sie lächelte mit einem fast zaghaften Lächeln in die Kamera, irgendwo im Hintergrund. Und dann fand ich auch mich – daneben. Daran hatte sich nichts geändert, obwohl sie damals neben mir und nicht ich neben ihr gestanden hatte.

Jetzt erkannte ich mein eigenes Gesicht beinahe nicht. Nicht weil ich mich schämte es zu sehen, sondern weil es anders wirkte. Vielleicht sogar ein wenig glücklicher. Vielleicht war ich einfach glücklicher, dass wir damals in den hinteren Reihen gestanden hatten. Wir waren keine Außenseiter, aber wir waren auch nicht vollkommen integriert. Eigentlich war es damals ziemlich perfekt.

Ich legte das Bild zurück auf meinen vermüllten Schreibtisch. Mein Vater hatte Recht, ich sollte hier dringend aufräumen, aber nicht heute.

Vorsichtig glitt ich mit den Fingern an dem Chiffonstoff der Bluse hinab und steckte ihn tiefer in den Rockbund. Einen scheuen Blick gönnte ich mir noch in den Spiegel, ehe ich in die hohen schwarzen Schuhe schlüpfte und mir meine Jacke überwarf.

Hastig hetzte ich über die schwarzen, polierten Marmorstufen, die meine Schritte laut wiedergaben und griff nach dem Schlüssel auf dem Küchentisch. Ich war zwar nicht spät dran, aber ich war aufgeregt.

Ein letzter prüfender Blick im Spiegel der Garderobe und ein Wegstreichen der bröckelnden Maskara unter den Augen, ehe die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Der Sommer hing in der Luft, wenn auch dessen Wärme letztlich noch nicht übergeschlagen war und so war ich doch froh, um meine Jacke.

Ich raffte sie mir enger um den Oberkörper, als ich die Richtung zu den Outblocks einschlug.

Hier war die Kriminalitätsrate so hoch, wie nirgendwo sonst in Paramour Hill. Obwohl Paramour Hill wirklich ein ruhiges Städchen war, gab es in dieser Nachbarschaft wirklich unzählige Einbrüche, aber die Mieten waren hier günstig.

Dies hatte sich auch Brady zu Gunsten gemacht und seine irische Bar eröffnet. Ich verstand nicht, wieso wir dort immer hingingen, aber Mary Sue mochte es dort. Und das was Mary Sue mochte, mochten auch wir anderen. Sie meinte, sie möge die Bar so, weil man dort jeglichen Alkohol bekommen konnte, den man wollte. Ein Alkohol-Schlaraffenland hatte sie es genannt, aber ich verstand es nicht. Man bekam beinahe in jeder Kneipe in PH Alkohol, wenn man sich nicht wie ein kleines Kind aufführte.

„Hey Kätzchen“, hörte ich jemanden rufen. Aber ich drehte mich nicht um. Hier in den Outblocks bekam man immer etwas hinterher gerufen, selten etwas jugendfreies. Deswegen riskierte ich dennoch einen schnellen Schulterblick, als ich die Information verarbeitete, dass es sich bei diesem Ruf nicht um etwas Schlüpfriges gehandelt hatte.

Ein Junge in einem Jeanshemd tauchte einige Schritte hinter mir auf und ich blieb stehen.

Drake Hastings. I

ch mochte Drake, er mochte mich. Das meinte jedenfalls mein Vater.

Er hatte gesagt: „Erica, Liebling, pass bloß bei diesem Drake auf. Der ist hinter dir her.“

Mein Vater war stets um meine Sicherheit bemüht und dies bedeutete auch, dass er versuchte mein Herz zu sichern. Nach dem Tod meiner Mutter fiel im das Leben schwer, denn seines war gebrochen worden.

Ich schüttelte den Gedanken ab und schenkte meine volle Aufmerksamkeit ganz allein Drake, und seinem hübschen Gesicht.

Er hatte markante Wangenknochen und schöne dunkelbraune Augen, die so gar nicht zu seinem hellen Haar passen wollten. Aber seine Augen passten zu meinem Haar. Wie Karamell und Schokolade, das war die Auffassung von Mary.

Sie hatte mich überhaupt erst auf ihn aufmerksam gemacht, gesagt, dass er mich beobachten würde während den Geschichtsstunden. Und dann hatte ich ihn einmal ertappt. Er war beinahe rot geworden, wäre er nicht als Sportler nicht zu cool dafür.

„Drake“, lächelte ich, „hey. Was machst du hier?“

„Ich wollte dich sehen.“

Seine Hand legte sich an meine Wange, streichelte mit seinem Daumen darüber.

Es war ein Moment des Schweigens. Ein Moment der stillen der Erkenntnis.

Wir waren nicht mehr als der Herzschlag, der uns in diesem Augenblick, am Leben. Nicht mehr als der Atemzug, der in meine Lungen drang und nicht mehr als der Augenblick selbst.

Für diese Sekunde war ich mir sicher, dass er mich jetzt und hier auf der Straße küssen würde, aber er nahm die Hand weg und meinte: „Außerdem hat mich Mary eingeladen.“

„Ach so.“

Ich war mir nicht sicher, ob sie es für mich getan hatte oder nicht. Mir war die Einschätzung über die Jahre entfallen. Wir waren mit siebzehn wesentlich undurchsichtiger als wir es noch mit fünfzehn waren. Und somit hatten wir auch einen wesentlichen Teil unser Transparenz mit dem Alter verloren.

Wir nahmen unseren Schritt wieder auf und gingen den restlichen Weg beinahe schweigend nebeneinander her. Die Erwähnung von Mary belastete uns - allerdings eher untergründig.

Das passierte in letzter Zeit häufig, wenn ihr Name fiel.

Endlich erreichten wir das Ziel bevor es wirklich unangenehm wurde. Mit einem erleichterten Seufzer nahm ich die Rauchschwaden auf und fühlte mich seltsamerweise heimisch. Wir waren sofort hier, dass wir alle Angestellten mehr oder weniger gut kannten. Möglicherweise lag das auch an der Beziehung, die Beven mit Brady führte.

Auch weil wir hier unseren Stammplatz, die Sitznische an der Theke, hatten fühlte ich mich erstaunlich wohl.

Allerdings würde das Brady's heute nur unsere erste Anlaufstelle sein. Schließlich wollten wir danach in einen Club oder vielleicht auch das Love-to-die. Wir, Mary, war noch unentschlossen.

Mühsam zwängte ich mich zwischen den Vierzehnjährigen hindurch und musste mich unweigerlich fragen, ob ich damals genauso lächerlich auf meinen hohen Schuhen wirkte wie sie.

Wahrscheinlich hatte man mich genauso überheblich betrachtet, wie ich die kleine Blonde, welche vor mir her stolperte. Zum Glück erreichten wir endlich die Bar und sofort blickte ich zu Mary.

Sie saß da mit einem hohen Pferdeschwanz und lachte. Beven neben ihr, halb auf der Theke, um ihren Blick notfalls auf Brady zu richten und natürlich eine angemessene Anzahl an männlichen Begleiter. Das übliche Bild, welches man immer zu sehen bekam, wenn man das Brady's gegen viertel vor zehn an einem Samstagabend betrat.

Ihr Blick landete auf mir und eine Spur Freude erschien auf ihren grauen Augen. Es überraschte mich. Einen solchen Blick hatte lange nicht mehr von ihr entgegen genommen.

„Erica!“ rief sie über die Musik hinweg und die Köpfe der Begleiter drehten sich zu mir. Es war seltsam, wie plötzlich ich das Zentrum der Aufmerksamkeit, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, war.

„Mary“, lächelte ich und ging langsam auf sie zu. Augenblicklich scheuchte sie einige ihre Begleiter von ihrer Seite und stand auf. Mit wackligen Schritt fiel sie mir um den Hals und hauchte mir mit eine strengen Fahnen einen Kuss auf die Wange.

„Wo ist Chloe?“ fragte ich als ich neben ihr Platz nahm und zusah, wie sie zwei weitere Drinks orderte. Drake unterhielt sich mit den Studenten, die sich zu uns gesellt hatten.

Ich begriff es nicht. Was fanden die Menschen alle nur an Mary Sue? Was hatte sie an sich, dass jeder sie begehrte? Ich war nicht eifersüchtig auf sie, nein, das war ich wirklich nicht. Mary wurde beobachtet, war ständig Zentrum der Aufmerksamkeit und jeder wusste, wer sie war. Jeder wartete auf ihren Fall, das wusste ich.

Aber solange die Bewunderer überwogen, würden die Neider sie nicht untergehen sehen.

„Sie ist bei Lewis“, sie wackelte mit ihren perfekt-gezupften Augenbrauen und sah mich mit glasigen Augen an, „wer weiß, ob sie überhaupt noch kommt.“

„Bist du drauf?“ fragte ich sie und legte den Kopf schief.

„Kann schon sein“, meinte sie achselzuckend und schob das Schnapsglas zu mir herüber.

„Du bist verrückt“, sagte ich kopfschüttelnd und stieß mir ihr an.

„Hey Mary“, hörte ich jemanden sagen, der sich dann über mich hinweg lehnte, „gehen wir mal raus?“

„Klar“, meinte sie lallend und kletterte über mich hinweg. Ehe die Lücke zwischen mir und ihr entstehen konnte, füllte ein anderer Körper für sie aus.

„Hübsches Ding, bist du“, sagte einer der Studenten. Er hatte eine seltsamen Haarschnitte und war mir vollkommen unsympathisch. Vor allem, da er seine Hand auf meinem Knie abstützte.

„Vergeben, bin ich“, log ich und drehte den Kopf zu Beven, in der Hoffnung, mein stiller Hilferuf würde sie erreichen. Aber Beven hing bereits halb unter der Theke und ich begriff, dass selbst, wenn sie mich sah, es vollkommen falsch deuten würde.

„Dann trägt man nicht einen solchen Rock“, hauchte er erschreckend nahe an meinem Hals.

„Lass das“, zischte ich und riss mein Bein weiter in den unbeweglichen Zwischenraum, von Bar und Sitzbank, und drückte sein Gesicht von meinem weg.

„Nicht sehr Gentleman-Like“, hörte ich eine bekanntere Stimme sagen und seufzte erleichtert auf, als Drake einschritt, „hau ab“, fauchte er nur.

Sekunden später spürte ich die Hände, die ich an mir spüren wollte. Seine Hand lag auf meiner Schulter, aber den Blick hatte ich ihm noch immer nicht zugewandt.„Danke fürs Retten“, lächelte ich und rutschte weiter nach außen.

„Willst du vielleicht ein bisschen Frischluft schnappen?“ fragte er und ein dunkles Funkeln glimmte in seinen braunen Augen. Ein Funkeln mit dem man mich noch nicht angesehen hatte.

Meine Stimme war auf einmal taub und ich hatte auch Angst sie zu benutzen, als ich den Kloß darin spürte. Ich war mir sicher, er würde ihn heraushören und noch mehr in meine Gefühle interpretieren, als ich es alleine schon tat. Mein Herz raste wie verrückt, als ich mich von der klebrigen Sitzbank löste und seine Hand ergriff.

Mir schwirrten tausende Gedanken durch den Kopf, während er mich in den kleinen Innenhof führte. Ich hatte mir wesentlich romantischere Orte für unseren Kuss ausdenken können, aber plötzlich empfand ich diese Mülleimer und leeren Pappkartons als perfekte Kulisse.

Vielleicht war auch es nur das Endorphin, was meinen Verstand vernebelte.

Hier draußen war es leise und womöglich auch kalt. Ich war mir nicht sicher, denn mein ganzer Körper schien zu glühen und ich hoffte, Drake würde es nicht bemerken.

Ich stand mit dem Rücken gelehnt gegen eine kühle,raue Wand und er erzählte mir etwas. Dankbar für die Kälte hätte ich am liebsten mein Gesicht in der Wand vergraben, aber stattdessen sah ich nur zu, wie sich seine Lippen öffneten und schlossen. Als er mich anlächelte, hatte ich jedes einzelne Wort vergessen, was er gesagt hatte und er schritt näher zu mir. Ich legte meine Arme auf seine Schultern ab und verschränkte sie in seinen Nacken. Wieder überwand er in einem Atemzug, beinahe eine ganze Armlänge an Distanz.

Mein Herz setzte aus und in meinem Kopf leuchteten hunderttausende Lichter auf, Millionen Gedanken prallten in meinem Kopf ineinander und versuchten das Richtige zu tun, das Richtige zu denken.

„Ich mag dich schon recht lange Santiego“, meinte er, ehe er mir eine karamellfarbene Strähne aus dem Gesicht strich und seine Hand noch immer an meiner Wange hielt.

Und plötzlich war da dieser Moment.

Alles fiel in Zeitlupe und ich vergaß, wo ich war. Das hätte auch keine Rolle gespielt, solange er noch immer bei mir war.

Erst jetzt wurde mir klar, was ich hier tat. Alles in meinem Kopf klärte sich und mein Herz setzte Schläge aus, immer und immer wieder. Es tat beinahe weh, diese Anspannung auszuhalten. Aber wenn es bedeuten würde, dass er mich gleich küsste, war ich bereit diesen bittersüßen Schmerz zu ertragen - auch immer und immer wieder.

Er hob meinen Kopf an und dann agierten wir einfach nur. Wir wurden innerhalb eines perfekt-synchronisierten Augenblicks, eins. Es wäre als seien unsere Körper einzig und allein für diesen Moment erschaffen. Ich lehnte mich ihm entgegen, er umschlang mich mit seinem Arm und ich nahm seine Geruch in mir auf, willig ihn nie wieder zu vergessen.

Unsere Lippen waren nur noch Millimeter von einander entfernt und ich spürte bereits die Funken des Feuers, dass zwischen uns in die Luft ging, auf meinen. Sein heißer Atem traf auf meine und dann überkam es mich, und ich küsste ihn.

Wie ein Fluss ruhig und langsam, vorsichtig und erkundend, ehe er wilder wurde. Er presste mich gegen die Wand und küsste meine Hals, während ich nach Luft keuchte. Hastig suchte ich seine Lippe, um das Feuer zu löschen.

 

 

 

 

„Ehrlich?“ fragte mich Chloe und blickte mich neugierig an. Sie strich sich eine ihrer schwarzen Strähnen hinters Ohr und nahm einen Schluck aus dem Frozen Coffee, der vor ihr stand.

„Ja“, grinste ich vielsagend und hielt mich davon ab, mir auf die Lippe zu beißen, „ich glaube, wir werden bald ein Paar.“

Sie lächelte mich nun an und schien sich ernsthaft für mich zu freuen: „Das ist großartig.“

„Ich weiß“, sagte ich und lachte, blickte auf mein Handy und quiekte erfreut.

In solchen Moment fühlte ich mich unheimlich kindisch, wenn mich eine simple Textnachricht so glücklich machen konnte. Aber ich war schon so lange nicht mehr richtig glücklich, dass ich glaubte, ich würde es verdienen und man könne mich für meine Überschwänglichkeit entschuldigen.

„Und bei dir und Lewis?“ fragte ich Chloe und griff jetzt ebenfalls nach meinem Getränk.

Sie schloss die Augen und verbarg damit ihre dunkelgrünen Augen.

Sie hatte so schöne Augen, dass ich manchmal wirklich neidisch auf sie war. Meine waren geradezu Standart- braun. Nicht schokoladenbraun, nicht haselnussbraun- sondern einfach nur braun.

Sie zuckte mit den Achseln, schien um die Antwort herumzugehen und schließlich doch zurückzukehren: „Er will studieren gehen.“

Vorsichtig setzte ich mein Getränk ab, zog die Augenbraue hoch und setzte sachte an: „Das ist doch gut, oder?“

Erneut zuckte sie mit den Achseln: „Eigentlich schon. Wenn es nur Chapell Hill wäre und nicht Frankreich.“

Überrascht rutschten mir die Augenbrauen hoch.

Es überraschte mich. Lewis und Chloe hatten schon vor Monaten ihre Zusage zur University of North Carolina enthalten und sich sogar bereits nach Wohnungen in der Umgebung umgesehen.

„Was ist mit dir?“ hörte ich sie mit dir fragen, „jetzt da es bei dir und Hinterhofküsser ernst wird, gehst du noch immer an die NU?“

„Natürlich“, sagte ich, „und er ist nicht Hinterhofküsser. Es ist Drake Hastings.“

„Na dann eben Loverboy“, sagte Chloe lachend und schmunzelte als sie sich wieder beruhigt hatte.

„Loverboy“, meinte ich und verdrehte die Augen.

Ein überraschtes ‚Hey‘ ertönte hinter mir und ich drehte mich um.

Eine leicht verwirrte Mary Sue mit einem Arm voll Taschen sah uns beide abwechselnd an.

Sie hatte ihre Haare geschnitten und reichten ihr nur noch etwa bis zum Schlüsselbein.

Erschrocken japste ich nach Luft, als ich begriff, wie sehr sich damit ihre Erscheinung änderte.

Sie wirkte damit, ich wusste es nicht wirklich zu beschreiben, aber noch distanzierter.

Ihre aufgehellten Haare waren nicht mehr so geschmeidig und nun wirkte sie nicht mehr so sanft.  Die grauen Augen sahen mich mit Misstrauen an und ich fühlte mich, als hätte ich einen Fehler begangen.

„Setz dich doch“,  hörte ich Chloe einladend sagen, „deine Haare. Sieht fantastisch aus.“

Mary Sue ließ sich auf dem Stuhl rechts neben mir nieder und wie aufs Stichwort erschien plötzlich ein Kellner. Normalerweise war der Service im Coffeeshop des Einkaufszentrums ein Disaster, aber wie immer schien Mary die Ausnahme dafür zu sein- was natürlich auch seine Vorteile hatte.

Als sie ihre Tasche neben sich abgestellt hatte, schaute sie beinahe schüchtern nach oben und bedankte sich bei Chloe, ehe sich wieder kalt wurde, als sie den Kellner bemerkte.

Wie einen Schalter war sie auf einmal wieder ganz normal.

Mit einer sicheren Distanz, einem seelenlosen Blick und einem verführerischen Lächeln orderte sie sich einen Kaffee.

„Ich wusste gar nicht, dass ihr hier seid“, schnitt sie plötzlich in die Stille und strich sich das ungewohnt kurze Haare hinter ein Ohr. Es legte ein weiteres Ohrloch frei, das sie sich vor einigen Tagen gestochen hatte.

Ich merkte, dass sie vermied, Chloe oder mich direkt anzusehen.

„Hatte es am Samstag erwähnt, aber ich glaube, du warst einfach zu betrunken“, lachte ich und sie schnellte den Blick hoch.

Erschrocken fuhr ich beinahe zusammen, aber sie sah mich nur nachdenklich an.

Ein falsches Lächeln lag auf ihren Lippen und sie antwortete: „Das kann schon sein.“

„Und ob das so war!“ hörte ich Chloe lachend sagen, „als ich kam, warst du schon am Ende.“

„Klappe“, zischte sie gespielt und nahm ihr Handy hervor, kontrollierte es.

Ich war mir sicher, dass sie eine Nachricht hatte. Sie hatte immer Nachrichten auf ihrem Handy, weil man sie immer beobachtete.

Aber sie tippte nichts, sondern legte es aus der Hand. In demselben Augenblick servierte man ihren Kaffee.

„Und?“ fragte sie und schien sich wohler zu fühlen, als noch vor einigen Sekunden, „was gibt’s Neues bei euch?“

Sie lehnte sich zurück, hielt den schwarzen Kaffee in ihrer Hand und überschlug die Beine.

„Lewis geht nach Frankreich“, murrte Chloe unzufrieden und sah Mary Sue an.

„Das hast du gar nicht erzählt.“

Mary klang beinahe vorwurfsvoll und erntete einen trügerischen Blick von Chloe.

„Tu ich ja jetzt“, knurrte sie und nahm einen Schluck vom Kaffee.

Mary zuckte nur mit den Achseln, während sie recht unbeeindruckt dreinblickte.

Ihr Blick landete auf mir und ich fröstelte geradezu unter ihren Augen.

„Drake. Du hattest Recht“, jetzt biss ich mir doch auf die Lippe, „ich glaube, wir werden ein Paar.“

„Oh“, entfuhr es ihr und sie sah ungläubig an, „wirklich?“

Ich nickte und verlor mich erneut in der Erinnerung. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht sah ich sie an, wartete auf ihre Glückwünsche oder sonstige Bekundigungen.

Sie nickte, nahm einen Schluck des Kaffees und verzog das Gesicht, als er ihr offensichtlich noch zu heiß war.

„Das ist wundervoll“, äußerte sie sich und die Lüge stand ihr in den Augen geschrieben, „ich freue mich für dich, aber wieso hast dus nicht schon Montag in der Schule erzählt oder gestern?“

Mary schien die Tatsache viel mehr zu interessieren, dass ich es ihr nicht erzählt hatte, als die eigentliche Neuigkeit.

 

 

 

Wir sahen uns eine Weile nicht.

Uns allen war die Begebenheit im Einkaufszentrum ein wenig konfus.

Noch am gleichen Abend allerdings hatte ich von Mary eine Nachricht erhalten, in der sie sich für ihr Verhalten entschuldigte.

Weswegen genau, traute sie sich nicht auszuschreiben, aber es klang in der Entschuldigung hinterher- und das genügte mir.

Vor allem, da ich wirklich andere Gedanken hatte, die sich nicht um Mary Sue drehten.

Zudem konnte jeder einmal einen schlechten Tag haben, davon war auch sie nicht ausgeschlossen.

Mary und ich waren nun schon seit mehr als vier Jahren befreundet und sie hatte mich die Zeit ebenso gut ertragen, wie ich sie.

Wenn auch sie die wohl größte Verwandlung durchlaufen hatte. Ab und an schien ich in dem Augenblick innezuhalten und zu begreifen, was alles geschehen war.

Und nicht alles war perfekt.

Ich machte mir manchmal Sorgen um sie, aber sie ließ es nicht zu. Sie ließ es nicht zu, dass man an sie einen Gedanken abtrat, jedenfalls nicht, wenn es darum ging in ihrem Inneren zu wühlen.

In einigen Momenten glaubte ich dann, einer Fremden zu begegnen.

Aber in solchen Sekunden schlug ihr Gemüt sofort wieder um und ich vergaß, welche eigentlichen Gedanken ich gehegt hatte.  Sie hatte diese Kunst des Ablenkens irgendwo gelernt, vielleicht war es ihr auch einfach in die Wiege gelegt worden.

Mit Mary hatte man immer Spaß, egal wohin man ging. Zwischen lauten Partybässen oder gähnenden Shot-Gläsern blieb weder Verständnis noch Verstand für sentimentale Gesprächen.

Allerdings einmal hatten wir einen solchen Augenblick.

Wir waren bei mir Zuhause, nachdem wir endlich eine Zusage fürs College hatten.

Mary Sue kam zu mir und hatte als Überraschungsgeschenk eine Flasche Wodka und ihre ungeöffneten Briefe des Colleges mitgebracht. Eigentlich wollte Chloe uns auch beiwohnen, aber sie war mit Lewis unterwegs.

So kam es das Mary Sue und ich seit einer Ewigkeiten wieder zusammen rumhingen.

Wir saßen auf dem Boden und wurden vom kühlen Licht des schweigenden Fernsehers angestrahlt, den ich auf stumm gestellt hatte.

Es war eine fast absurde Situation.

Sie trug ihre Haare noch lang, in einem Dutt gebändigt und ihre großzügig-aufgetragene Maskara war verschmiert, doch vor allem lachte sie aus vollem Halse.

Und zwar über einen wirklich miserablen Witz, den ich gerissen hatte, aber auch ich konnte mich nicht mehr halten.

Vor ihr lagen ihre Briefe, die sie fächerartig vor sich ausgebreitet hatte. Immer wenn wir mit einem neugefüllten Glas anstießen, landeten einige Spritzer darauf.

Meine eigenen vier Briefe ruhten odentlich gestapelt auf dem gläsernen Couchtisch, auf dem ich bereits im Sitzen halb abstützen musste.

„Wir sollten“, meinte sie, während einem Moment des Schweigens, „die Briefe öffnen, solange wir noch mehr oder weniger lesen können.“

Sie hickste und begann erneut zu kichern. Eigentlich kicherte sie nie.

„Einen noch“, meinte ich und schwenkte die zu Dreivierteln geleerte Flasche umher wie eine Fahne.

Sie hielt mir ihr Glas hin und ungeschickt schüttete ich ein. Der Großteil landete bereits auf den grauen Fliesen meines Wohnzimmerbodens.

Wir lachten beide laut, als uns plötzlich ein Augenblick  des Ernstes einholte.

Unheilvolles Schweigen legte sie über uns und wir wirkten beinahe nüchtern.

Vorsichtig griff jede ihren ersten Brief.

Ihrer war von der Duke, meiner von der NU.

Angenommen.

Auf diese freudige Tatsache beschloss ich  zunächst einen Champagner aus dem Familienreservoire zu köpfen und wir führten uns weiter in die Trunkenheit ein.

„Unglaublich“, hörte sie murmeln, während wir unsere nächsten Briefe in die Hand nahmen.

Columbia und Brown.

Sie wurde angenommen, ich wurde abgelehnt.

Daraufhin tranken wir eine Mischung aus Wodka und Champagner, um ihre Aufnahme zu feiern und meine Absage zu mildern.

Mit Spannung nahm sie ihren letzten und ich meinen vorletzten Brief in die Hand.

Wir beide hatten uns an der NYU beworben. Chloe hatte ihre Zusage bereits vor einige Tagen erhalten, dass wussten wir beide.

Es wäre definitiv lustig, wenn wir alle drei die NYU besuchen könnten. Vielleicht weil dann alles so bleiben würde, wie es war, abgesehen von der Popularität, die Mary Sue verfremdete.

„Eins…“zählten wir, spürten die Spannung den Alkohol vertreiben, „zwei…“ wir rissen beide die Umschläge auf, „drei.“

„Angenommen!“ rief ich laut auf, in demselben Moment, in dem sie „abgelehnt“ flüsterte.

Erneut stießen wir mit Wodpagne ein, wie wir unser Mischgetränk getauft hatten.

„Ich wäre“, sagte sie, während sie auf der Couch lag und ich noch immer auf dem Boden hockte, meine Briefe anstarrte und mir von ihr grausige Frisuren herrichten ließ, „am liebsten an der NYU angenommen worden.“

„Meinst du das ernst?“ fragte ich und konnte ihre Bedrücktheit nicht wirklich nachvollziehen. Sie wurde an zwei der besten Universitäten des Landes angenommen. Ihr stand das Leben offen.

„Ja“, sagte sie und probierte gerade eine Scheußlichkeit aus, die meine Kopfhaut überstrapazierte, „dann wäre ich mit euch zusammen.“

Ich reichte ihr die Wodkaflasche nach oben.

„Es ist doch noch gar nicht sicher, ob wir an die NYU gehen.“

„Und wenn“, sagte sie und löste ihre Finger aus meinen Haaren, die ich instinktiv wiederrichtete, „habe ich das Gefühl, dass wir uns verliere.“

Ich blickte sie verwundert an. Damit hatte ich nicht gerechnet.

„Dass ich das uns verliere. Dass ich euch verliere.“

Mary setzte die Flasche Wodka an, die noch drei-Finger-breit gefüllt war und stürzte den Inhalt herunter ohne ein einziges Mal abzusetzen, während sie geradezu grotesk vom Fernseher angestrahlt wurde.

 

 

 

Rehabilitationsphase- Erica SanDiego

 

 

Sie alle sahen sie an, schienen so langsam hinter die Fassade zu blicken und zu begreifen, was wirklich vor sich ging.

Das Mädchen, das vor ihnen saß, war wirklich hübsch anzusehen, obwohl ihre karamellfarbenen Haare vielleicht sehr zerzaust waren.

„Sie ist also an der Columbia und Duke angenommen?“ fragte der junge Mann im Anzug. Er hatte Erica mehrere Male gesehen, damals in der Schule und auch einige Male mit seiner Schwester zusammen, aber man sie einander nie vorgestellt.

Sie nickte und drückte dann ein tonloses ‚Ja‘ hinterher. Für einen Moment schien sie ihre Stimme verloren zu haben.

Mit erschöpftem  Blick sah sie in die ebenfalls ermüdeten Augen der Personen gegenüber.

Die Rektorin sah sie geistesabwesend an, der glatzköpfige Schulpsychologe fuhr sich immer wieder  über den kahlen Schädel und ließ seinen Blick geistlos auf ihr ruhen. Nur der Mann im schicken, schwarzen Anzug sah sie nicht an, sondern kritzelte auf deinem Block vor sich herum.

Die Wörter, die er schrieb schienen, Duke und Columbia zu sein.

Ein Räuspern zog sich aus ihrer Betrachtung und ließ ihren Blick nach oben schnellen. Für einen Moment fühlte sie sich beobachte.

Erica richtete sich in ihrem Stuhl aus und verschränkte die Arme vor der Brust, um die Kälte abzuwehren, die sich gerade erklomm.

Etwas in der Stimmung  des Raumes veränderte sich, als der Schulpsychologe die Stimme erhob. Mit dem rechten Zeigefinger rieb er eine Narbe über dem linken Augen und sprach erst, als er seine Hand wieder senkte.

„Glauben Sie also, dass sie sehr enttäuscht war, dass sie nicht an der NU angenommen wurde?“

Plötzlich schüttelte Erica heftig den Kopf. Die Leute, die ihr gegenübersaßen, schienen nicht zu verstehen, was sie ihnen gesagt hatte.

Beinahe mit einem kleinen, sarkastischen Lachen meinte sie: „Nein.“

„Nein?“ fragte der Psychologe leicht verärgert und runzelte die Stirn.

Sie schüttelte erneut den Kopf, dieses Mal langsamer.

„Was dann?“ fragte die Rektorin und schien als ihrem Delirium erwacht.

„Ich denke…“ meinte Erica vorsichtig und atmete tief ein und aus, „ich denke, dass Mary Sue nicht deswegen enttäuscht war.“

„Nein“, mischte sich auf einmal der Mann im Anzug an, „dass war es nicht, warum sie enttäuscht war.“

Erleichtert atmete Erica auf, wenigstens einer hatte sie begriffen. „Es ist eine ähnliche Situation wie im Kaufhaus“, schlussfolgerte und nun wurde sie stutzig, aber dann begriff sie.

„Ja“, sagte Erica erneut und stoppte. Sie ließ sich Zeit, suchte nach den richtigen Worten, schien aber nur die falschen zu finden und sprach letztendlich diese aus.

„Verstehen Sie denn nicht? Mary Sues Enttäuschung rührte nicht von ihrer Absage her, sondern von der Absage, die sie von mir und Chloe trennte. Begreifen Sie nun, dass sich Mary davor fürchtet, ausgeschlossen zu werden, wenn nicht sogar vergessen zu werden?“

Erst als sie die Wörter sagte, wurde sie ihr selbst bewusst und sie fing so langsam an, Mary Sue erst jetzt ein wenig mehr zu verstehen.

Die Erwachsen, die ihr gegenüber saßen, schwiegen und mieden ihren Blick.

Stattdessen bat man sie, den Raum zu verlassen durch eine Tür, die sich ihr schon beim Eintreten ins Auge gefallen war.

Ohne weitere Widerstände begab sie sich in den Raum, ohne nicht umzublicken.

„Sie fühlt sich ausgeschlossen“, wiederholte der Psychologe Ericas Worte sinngemäß.

„Von allem und jedem“, vollendete der Anzugträger den Gedankengang.

Die Wörter hallten im Zimmer von jeder Decke, stützten auf die Personen nieder, die sich darunter begraben fühlten.

Alle warten, warten darauf, dass jemand sie befreien würde, aber keiner wagte sich zu rühren.

Erst der Psychologe, nachdem er sich emotional versucht abzukapseln, erlöste sich aus der Starre und ging zur Tür hinaus.

Er wäre am liebsten einfach im bereits dunklen Flur verschwunden und nicht zurückgekehrt.

Drei Personen fanden noch ihrem Platz im Flur.

Drei, dachte er sich erleichtert und fühlte den Stein in seinem Inneren, der ihn auf dem Boden der Tatsachen zurückhielt.

Es war das erste Mal, dass er von dem Studenten keinen finsteren Blick erntete, denn zum ersten Mal schlief dieser.

Das fremde Mädchen wurde vom hellen Licht ihres Handydisplay bestrahlt und drehte sich lächelnd zur Seite, als sie den Psychologen vernahm.

Das zweite Mädchen, was noch da war, malte nachdenklich auf ihrem Block wahllose Muster, die sie neben eine unvollständige Matheaufgabe kritzelte.

„Chloe Anderson?“

Das Mädchen blickte auf und lächelte schwach, legte den Block aus der Hand und folgte ihm hinein ins Zimmer.

 

 

 

Kapitel 8: „Mary Sue versucht es. Sie versucht es wirklich, aber sie kann es nicht- glücklich sein. Viel mehr ist sie so was wie chronisch unglücklich.“

 

Wenn der Himmel sich klärt, bist du bereit all  deine Sünden zu beichten?

Mehrere Male überflog ich den Satz, den Mary Sue auf ihren Block schrieb und sah sie dabei zu, wie sie wahllose Schlangenlinie um die Wörter zog.

Sie tat dies bereits eine Weile, anstatt dem Unterricht  ihre Aufmerksamkeit zu schenken.

Ich allerdings auch nicht. Es standen nur noch die finalen Examen an und keiner interessierte sich noch großartig für das Geschwätz, welches der Lehrer mit deutlicher Betonung der Wichtigkeit schwadronierte. Die Schülerschaft war von der allgemeinen Mai-Müdigkeit eingenommen und wir hatten es satt.

Wir hatten es satt, in der Schule zu sein. Uns stand schon in einigen wenigen Wochen die Welt offen und wir würden uns verstreuen.

Mary entschied sich für die Duke  Erica für die NU und ich für die NYU.

Es verteilte uns alle in verschiedene Richtungen und ich glaubte,  dass es uns gut tun würde.

So könnten wir alle mit neuen Geschichten aus dem mittleren Westen, der Ostküste und aus unserer Heimat, den Südstaaten, zurückkommen.

 Ich sah darin großes Potential, wenn mir die beiden auch unendlich fehlen würden.

Allerdings blieb mir noch immer Lewis, der sich von der Idee nach Frankreich zum Glück verabschiedet hatte und wir zusammen die NYU besuchen konnten.

Wenn der Himmel sich klärt, bist du bereit all deine Sünden zu beichten?

Wieder verfing sich mein Blick in ihrer Malerei und ich beschloss sie darauf anzusprechen.

Mit meinem graulackierten Fingernagel tippte ich auf das Blatt.

„Was soll der Satz? Klingt ganz schön dramatisch, oder?“

Für einen Augenblick sah sie erschreckt auf und grinste dann breit.

„Ein wenig vielleicht, aber mir geht er nicht mehr aus dem Kopf, seit ich ihn einmal irgendwo gelesen habe.“

„Wo liest du dass denn? In der Bibel?“ fragte sie und lachte.

Sie schüttelte den Kopf: „Ich weiß es nicht mehr, aber egal.“

Hastig klappte sie ihren Block zu und ließ ihren Stift ins Federmäppchen gleiten und richtete ihren Blick nach vorne.

Allerdings sah ich ihr an, dass sie noch immer darüber nachdachte.

Und ich wusste nicht warum, doch dies bereitete mir Sorgen.

 

 

Mary und ich, waren seit einer langen Zeit nun beste Freundinnen.

Und doch fühlte ich mich manchmal so, als würde ich den Menschen, den ich so unglaublich gut kennen sollte, als Fremden empfand.

Ich hatte ziemlich früh akzeptiert, dass Mary introvertiert gewesen war.

Sie war recht schüchtern, wurde in der Gegenwart von Jungen immer wie betäubt und verlor sich in ihren Träumereien. Zumindest war sie so.

Mittlerweile  jedoch war sie zu einer Heiligen aufgestiegen.

Mich interessierte dieser ganze Dreck um sie herum nicht, sie dafür ein bisschen zu sehr.

Zumindest hatte es sie das.

Unsere Schülerschaft, und ich konnte es mir nicht erklären, vergötterte sie.

Natürlich, Mary war hübsch und liebenswert, ein Mensch mit gutem Gehör.

Mit mehr Gehör für andere, als für sich selbst, aber das war nicht die Kultfigur, die sie anbeteten.

Es war irgendeine düstere, finstere Version von ihr. So als wären ihre Ängste Mensch geworden und hätten ihren Platz in der Schule, in der Welt eingenommen.

Ich hielt mich aus dem ganzen Spektakel raus.

 Am Ende des Tages wusste ich, wer meine Freunde waren und solange Mary dasselbe tat, ließ ich sie ihren Wahnsinn treiben.

 

Die Schulklingel erlöste wohl nun eher unseren Lehrer, als die Schüler selbst. Seufzend legte er die Kreide aus der Hand, gab uns eine Hausaufgabe auf und ließ uns gehen.

Mary Sue schien davon nichts mitbekommen zu haben, sondern starrte noch immer geistesverloren auf ihren Block. Als könnte sie auf die Seite sehen, die sie die gesamte Zeit über mit ihrem Satz malträtiert hatte.

Ich stieß sie mit dem Ellenbogen leicht gegen den Kopf, während ich darauf wartete, dass sie aus ihrer Starre erwachte.

Sie zuckte zusammen, sah auf, als ob es sich um jemanden anderen gehandelt hatte und schlug mit spielerisch auf den Arm: „Idiot.“

„Selbst“, meinte ich und streckte ihr die Zunge raus. Sie erhob sich langsam und schulterte ihre Tasche, während ihr Blick augenverdrehend zur Tür floh.

Ich lief die Stufen des Saales, der sich wie ein Amphitheater in Ränge fächerte, hinab und trat zur Tür hinaus.

Die Blicke der anderen Schüler streifen allesamt im Vorbeigehen die Tür des Chemiesaales in der ich stand.

Unwohl fuhr ich mir durch die Haare, sodass meine rot-braunen Wellen unordentlich auf meine Brust und Schultern fielen.

Ich war verärgert.

Mittlerweile war mir diese permanente  Aufmerksamkeit zu wider.

Mary war endlich neben mich getreten und es schien schlimmer zu werden.

Plötzlich umfasste sie meinen Oberarm und zog mich hastig in die, schräg gegenüberliegenden, Toilette.

„Alles in Ordnung?“ fragte ich erschreckt, als ich sah, wie sie sich keuchend gegen das Waschbecken stemmte.

Sie nickte und grinste mich durch den Spiegel hinweg an.

Es war schwach und dümmlich, vollkommen unglaubwürdig. Und genau das ließ ich sie durch meinen Blick spüren.

Er war von Skepsis getränkt, dass diese sogar das helle Blau meiner Augen trübte.

Ihr Grinsen wurde breiter und sie meinte mit kühler Distanz in der Stimme: „Mir geht’s wirklich gut. Magst du einen Lolli?“

Sie zog plötzlich aus ihrer Handtasche zwei kugelrunde Lutscher hervor.

Überrascht von dieser Tatsache verlor meine Haltung an Strenge und ich griff zögernd nach dem Lutscher.

„Meine Mom hat mir verboten Süßes von Fremden auf der Toilette anzunehmen.“

„Nimm, das ist gut für dich mein Kind“, lachte sie und hielt mir den höher vor die Nase.

Erdbeerwodka-Geschmack las ich auf der rosa Verpackung und riss sie ab, zog dennoch fragend die Augenbraue nach oben. Marys Wange war bereits ausgebeult und sie grinste noch immer.

Unverständlich gab sie zum Besten: „Tom hat mir die aus…irgendwo her mitgebracht.“

Ich nickte und steckte mir ihn ebenfalls in die Mund, nachdem ich auf die große Toilettenkabine zugeschritten war.

Prüfend drückte ich gegen die Tür und sah, dass keiner darin war.

Mary folgte mir in die Behindertengerechte Kabine und verschloss die Tür hinter uns.

Wir ließen uns gegenüber auf den Boden nieder, dass taten wir immer.

Nur wirklich sehr selten ekelten wir uns vor dem lauernden Dreck der Böden.

Sie zog sogar die Absatzschuhe aus und setzte sich in einen Schneidersitz.

„Und?“ fragte ich, während wir  schweigend dasaßen.

„Und was?“ fragte sie und zog den Lolli aus ihrem Mund, drehte ihn ein paar Mal und steckte ihn wieder zurück.

„Freust du dich?“

„Sollte ich mich?“ fragte ich sie skeptisch und sammelte Flusen von ihrer Hose.

„Eigentlich schon!“ rief ich beinahe auf und lachte, „schließlich wird du in zwei Tagen endlich achtzehn.“

„Das lässt dich mich ja nicht vergessen“, lachte sie- falsch. Sie lachte falsch, ich hörte es ganz genau. Es klang zu… bemüht.

 

„Und du denkst“, schrie ich beinahe über die Musik und die grummelnden Gespräche hinweg, „wirklich, dass du das schaffst?“

Brady blickte mich ein wenig verbittert an.

Er hatte einen Willst-du-mich-eigentlich-verarschen-Blick aufgesetzt und grinste dennoch leicht.

Jemand stützte sich auf meine Schultern ab und verschränkte seine Arme vor meinem Hals.

„Über was redet ihr?“ hörte ich eine Stimme nah an meinem Ohr und sah Brady mahnend an.

Er nickte und grinste dann ein wenig zu vielsagend. Nichts gegen Brady oder Beven, schließlich war er ihr Ex-Freund, aber Brady war eine verdammt hohle Nuss.

„Oh, Daniel!“, meinte Mary, die sich nun von mir löste und ihre Aufmerksamkeit jemand anderen zukommen ließ.

„Idiot“, meinte ich nur kopfschüttelnd an Brady.

„Sie ist sowieso schon zu betrunken, um irgendetwas zu kapieren.“

„Dann sorg dafür, dass sie jetzt keinen Alkohol mehr bekommt. Sonst ist sie bis morgen fertig.“

„Du weißt, dass ist Mary Sue. Sie kommt seit nun beinahe zweieinhalb Jahren, jeden Freitag und jeden Samstag in mein Lokal.“

„Sie trinkt aber nicht immer!“ fuhr ich ihn an und wendete mich ab.

Seit Beven und er sich vor anderthalb Monaten getrennt hatten, mussten wir auch tatsächlich den ganzen Alkohol bezahlen, den wir tranken.

Einzig und allein war Mary die Ausnahme. Diese nahm die Getränke entgegen und verteilte sie an uns.

So hatten wir dieses Privileg nicht verloren, dank ihr.

Aber ich wusste nicht, wie sehr ihr das alles über den Kopf wuchs.

Erst an dem Abend an ihrem Geburtstag schien ich die Klarheit zu erhalten.

 

 

 

 

 Es war wirklich ein unglaublicher Aufwand, die Leute davon abzuhalten zu erfahren, wo wir Marys Geburtstag organisieren würden und beinahe noch schwieriger, dass Mary nichts davon erfuhr.

Und so schien es, dass wir  am Freitag, den dritten Mai, auffliegen würden.

Jemand hatte die Party auf der Schulwebseite verbreitet, aber ein befreundeter Hacker, Joshuel Landon, half uns das Übel zu entfernen.

Unruhig lief ich in Bradys Bar auf und ab.

Es war seltsam.

Dieser Ort wirkte so anders, wenn er leer war.

Man konnte sehen, wie klein und eng alles war. Das dunkle Mobiliar unterstrich diese Beklommenheit.

Ich fragte mich, wie so viele Menschen immer hier hineinpassen konnten und es so endlich weit wirkte.

Der Nebel der sonstigen Rauchschwaden schien den Raum in unbekannte Ferne ausweiten zu können.

Eine schäbige Happy Birthday-Girlande hängte der Eingangstür gegenüber und auf der Theke standen achtzehn Schnapsgläser in einer langen Reihe entlang.

Alle samt gefüllt mir mit Marys liebsten Alkohol: Wodka.

Sie sagte immer, dass sie damit die Welt klarer sehen würde. So wie sie wirklich sei.

Dass sagte sie dann meistens, wenn sie schon betrunken war.

Im Hintergrund stand ebenfalls eine Flasche Sekt kalt und ein paar Burger, die sie auch am liebsten aß, wenn sie trank, standen bereit.

Angespannt starrte ich auf die Eingangstür und wischte mir die schwitzigen Hände immer wieder an der schwarzen, eingerissenen Hose ab, die ich trug.

„Kommen die anderen bald?“ hörte ich Brady ungeduldig fragen, der sich mit genervter Miene in seinem Lokal aussah. Er war verärgert darüber, dass ein saugenialer, super wichtiger Tagesumsatz verloren ginge nur wegen einer High School- Schnitte.

Aber er hatte es trotzdem getan, es war schließlich Mary Sue.

Kopfschüttelnd fuhr ich mir durch die rot-braunen Haare, die mir heute glatt am Kopf hinunter rannen. Es war ungewohnt die sonst so fülligen Wellen nicht mehr zu greifen, aber es sah einfach besser zu diesem Look aus.

Kurz vor acht trafen endlich die anderen ein.

Zunächst Erica und ihr Freund, dessen Namen mir immer unerklärlicherweise entfiel, und Beven.

Mit ihr zog eisige Kälte in die Bar und für einen Moment bereute ich es beinahe, sie eingeladen zu haben. Denn die Blicke, die Brady empfing, konnte man nur als feindselig bezeichnen.

Freddie Jackson und einige andere Sportler, die ich vor allem der Fülle wegen eingeladen hatte, kamen als Nächstes.

Der Letzte der kam, war Lewis.

„Endlich“, seufzte ich erleichtert, als ich sah wie er zu Tür reinkam.

Es war nicht sicher, ob er es rechtzeitig schaffen würde.

Lewis besuchte seine Eltern regelmäßig, lebte aber allein. Vor einigen Jahren hatte man festgestellt, dass dies der beste Weg war die Familie zu erhalten.

Es war für mich schwer nachzuvollziehen. Ich kannte nur das Familienleben, mit Herz und Seele war ich Familienmensch.

Mein älterer Bruder und meine jüngere Schwester, als auch meine Eltern bedeuteten mir die Welt. An Sonntagen fuhren wir meistens nach Oak Island und spazierten am Strand.

Es war leicht mit ihnen zu reden, ich liebte sie einfach bedingungslos.

Und ich liebte Lewis.

Das wusste ich, aber ich traute es mich nicht ihm zu sagen.

Einige Male waren dadurch unglaublich offensichtliche Situationen entstanden.

Dieses ich liebe dich hatte mir bereits auf den Stirn und in den Augen geschrieben gestanden, aber ich brachte es nicht über die Lippen.

Lewis allerdings würde es mir nicht zuerst sagen.

In seiner Familie fürchtete man sich vor dem Wort, weswegen er es zunächst von mir hören müsse, um zu verstehen, dass es Sicherheit bedeutete.

Seine bernsteinfarbenen Augen sprangen nervös im Raum umher, ehe sich mich erblickten und ruhten.

Er entspannte sich, strich sich durch dunkle Haar und schlenderte zu mir.

Mit einer routinierten Bewegung schloss er mich in seine Arme, drückte mir einen Kuss auf die Haare und legte den Arm um mich.

Wir küssten uns eigentlich in der Öffentlichkeit, weswegen dass seine größte Liebesbekundung war und eigentlich genügte es mir.

Aufgeregt verschlang ich die Finger mit seinen, während ich noch immer gebannt auf die Tür blickte. Ich war meistens nervöser als die Zu-Überraschenden.

Hinter mir hatte sich die kleine Gruppe ebenfalls in Position gebracht und starrte zur Tür. Einige hielten Konfetti-Kanonen in der Hand und Brady hatte sich von seiner Folkmusik losgesagt und ließ die momentanen Charthits durch die Lautsprecher schallen.

Nur noch wenige Minuten blieben bis zu Marys Eintreffen und inzwischen hatte ich alle mit meiner Aufregung angesteckt.

Die Spannung hing schwer in der Luft und platzte mit einem Mal als die Tür sich öffnete.

„Überraschung!“ war in verschiedenen Tonlagen zu hören, ehe alles in zufriedenes Gekicher fiel.

Erstarrt stand Mary noch immer in der Tür.

Einige der Glitterfaser hingen ihr noch in den Haaren. Mit ihren grauen Augen blickte sie verzweifelt durch die Reihen der Gesichter und dann landete ihr Blick auf mir.

Sie schien wie ein verschrecktes Reh und eingefroren in ihrer Bewegung.

Ich wusste nicht, was dieser Blick aussagte, den ich in ihren Augen lesen konnte.

Ein paar blinzelte sie noch irritiert, als sich plötzlich breit lächelte.

Es war so gezwungen und mit Skepsis beobachtete ich, wie sie auch versuchte diese falsche Freude über die Überraschung zu platzieren.

Doch es gelang ihr nicht.

In den Augen trat die menschliche Seele in Erscheinung und diese Seele ließ Fröhlichkeit und das Glücklich- Sein zu.

Weder schien sie wahrhaftig glücklich, noch fröhlich und während ich diesen gezwungenen Blick in ihren Augen sah, fragte ich mich, ob sie überhaupt eine Seele besaß.

Einen tiefen Seufzer unterdrückend schritt ich auf sie zu und schloss sie in die Arme. Beinahe hätte sie unter dieser Umarmung gezuckt, ich spürte sogar, wie sich ihr Körper sträubte, aber sie ließ davon nichts nach außen dringen.

„Alles Gute“, flüsterte ich, ehe ich mich von ihr löste und sie der Masse übergab.

Ich kehrte zu Lewis zurück, der mich beinahe automatisch wieder in seine Arme schloss und seinen Kinn auf meinem Kopf.

„Das hast du gut gemacht“, sagte er, „sie nur wie sie sich freut. Sie scheint wirklich glücklich.“

Geistesabwesend beobachtete ich meine beste Freundin.

Sie strich sich durch die kurzen, blonden Haare,  wischte sich vorsichtig abgelagerte Schminke unter dem Auge weg, die sich mit den Tränen ablösten, weil sie so sehr lachen musste.

Und jede verdammte Lüge, jedes Augenblinzelns und selbst jeder Atemzug war gelogen.

Sie war so unglücklich.

Für einen Moment fragte ich mich,  ob ich die Einzige war, die das sah.

Denn wenn ich in die Blicke der anderen sah, mit denen Mary Sue sprach, sah ich in keinem auch nur die Spur von Skepsis.

 

Gegen Mitternacht liefen dennoch Schüler der Paramour Private High ein.

Sie stürmten den Laden, als hätte sie nichts von der Party gewüsst, taten jedenfalls so.

Es waren so unendlich viele, dass Brady sich keine Gedanken mehr, um seinen heißgeliebten Tagesumsatz machen müsste.

Dieser heutige Tag würde der Umsatzstärkste des ganzen Jahres sein.

Und ich hasste diese Leute.

Sie machten Mary Sue kaputt.

 Ich sah es, denn mit jeder Person, die kam, wurden ihre Augen ein klein wenig dunkler.

Ihr Herz ein klein wenig mehr vergiftet. Ich sah, wie sie unglücklicher wurde und fühlte mich unglaublich hilflos.

Und feige.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rehabilitationsphase- Chloe Anderson

 

Chloe Anderson sah nach oben.

 Während des Gesprächs war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sie den Kopf gesenkt hatte, aber sie hielt diesen Blick von Tom nicht aus.

Sie kannte ihn nicht gut, hatte ihn vielleicht zwei oder dreimal in ihrem Leben gesehen, aber sie wusste, wer er war.

Er war Mary Sues Bruder.

In seinem Gesicht sahen sie die selben, grauen Augen an. Wenn seine auch, etwas hatten, was sie in Mary nie sah- eine Seele.

Sein Gesicht schien zu etwas fähig, was Mary verwehrt blieb- Glück.

Ein Räuspern und sie sah zu dem kahlen Schulpsychologen.

Sie hatte von ihm gehört, aber das war das erste Mal, dass sie ihn tatsächlich sah. Eigentlich hatte sie sich ihn immer anders vorgestellt.

Nicht so ein Winzling mit Glatze und nervösen Blick.

Eigentlich hatte Chloe geglaubt, dass ein Psychologe seine wahren Gefühle verbergen könnte, aber dieser hier scheiterte kläglich daran. Vielleicht war das der Grund, wieso er ein unterbeschäftigter Schulseelenklempner in irgendeiner gesichtslosen Kleinstadt in North Carolina.

Sie hob fragend ihre Augenbraue und dann sprach er.

„Du siehst, wie traurig Mary Sue ist und unternimmst nichts?“

Er war anklagend, es war subjektiv.

Verärgerte runzelte Chloe die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wie lange arbeiten sie bereits hier?“

„Fünfeinhalb Jahre.“

Triumphierend grinste sie: „Dann haben sie den Aufstieg von Mary Sue mitbekommen. Mary Sue schaffte es nicht die Obsession einer gesamten Schülerschaft zu werden und es immer noch zu sein, weil sie so ehrlich ist.“

„Mary ist eine verdammt gute Lügnerin“, stimmte der Anzugträger ihr zu.

Sie hatte eigentlich nicht erwartet ihn reden hören und schon gar nicht hatte sie mit seiner Zustimmung gerechnet. Er sah nicht auf, sondern nickte nur verloren mit dem Kopf.

Ihm steht der Anzug wirklich gut, hörte Chloe ihre Gedanke und schüttelte nun ebenfalls den Kopf. Es war so überfüllt, dass er sich inzwischen versuchte mit belanglosen Dingen abzulenken.

„Wo denkst du, Chloe, liegen die Schwächen von Mary Sue?“ fragte auf einmal die Rektorin.

Bis zu diesem Augenblick hatte sie ihre Existenz nicht einmal wahrgenommen und überrascht lächelte sie zaghaft an, ehe sie sich der Ernst ihrer Frage bewusst wurde.

„Ich denke… dass es daran liegt, dass sie so unglücklich ist. Es hat beinahe etwas Chronisches. Sie ist irgendwie tatsächlich chronisch unglücklich.“

„Nimm doch bitte in dem Raum da drüben Platz. Es dauert auch nicht mehr lange.“

Damit riss die braunhaarige Rektorin, die so gut lächelte, abrupt den Gesprächsfaden ab und Schweigen legte sich in den Raum. Chloe Anderson fühlte sich unwohl und beschloss der Anweisung bedingungslos Folge zu leisten.

Mit dem Klacken der Tür brach auch das Schweigen.

„Ich bin wie diese gesichtslosen Massen. Diese Leute aus ihrer Schule. Ich bin wie Chloe Andersons Freund- ahnungslos, was wirklich in ihr vorgegangen ist. Und ich hasse mich, denn ich bin ihre Bruder. Ich müsste so etwas sehen!“

Ein einsamer Schluchzer drang aus seiner Kehle und er war so jämmerlich, dass er die Wände erschütterte.

Tom Sue hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben und schien die Luft auszuhalten.

Kräftig umpackte der Psychologe seine Schulter um ihn zu trösten.

„Kaum einer hat es gesehen, weil sie es nicht zuließ.“

„Das mindert nicht meine Schuld“, meinte dieser nun plötzlich kühl und nahm den Kopf wieder hoch, glättete die Ärmel und verschränkte die Arme vor der Brust, „Rosa Miller ist die Nächste oder?“

Der Psychologe nickte, fuhr sich über die kahle Stelle an seinem Kopf und erhob sich ächzend.

Vorsichtig wägte er den Türknauf in der Hand, ehe er damit die Tür öffnete.

Der junge Mann warf ihm wieder keine feindseligen, sondern vielmehr sehnsüchtige Blicke aus dem Fenster. Mit verschränkten Armen sah er in die beleuchtete Innenstadt von Paramour Hill.

Rosa Miller stand bereits. Sie wartete nur noch auf ein Zeichen von ihm.

Er nickte ihr zu und sie kam.

Nervös lächelte sie und faltete die Hände ineinander. Während sie ging fielen ihr lange, braune Haarsträhnen vor die nussbraunen Augen, die sie sich, bevor sie eintrat hinters Ohr klemmte.

  

Kapitel 9: "Mary Sue ist ein Scheidungskind. Viele scheinen nicht zu begreifen, was das bedeutet."

 

 

„Mary und ich waren im Kindergarten und der Grundschule richtig gute Freunde“, sagte sie und sah die drei Personen gegenüber an. Der Mann im Anzug, der mit den dunkelblonden, kurzen Haaren und stahlgrauen Augen, kam ihr unheimlich bekannt vor.

Aber das passiert Rosa Miller öfters. Sie sah Personen, die sie an jemanden erinnerte, weil sie diesen Menschen vermisste.

So war es auch ihr auch mit ihrer Mutter ergangen. Sie sah immer die brünette Schönheit mit den vollen Lippen, dem dunklen Teint und den eisblauen Augen.

Gott, ihre Mutter war wirklich wunderschön- und in jeder Person, die ebenfalls so schön  wie ihre Mutter war, erkannte Rosa sie darin.

„Wieso sind sie es heute nicht mehr“, fragte der glatzköpfige Mann in der Mitte.

Seine Stimme gehörte zu der Person, die sie angerufen hatte.

Ein wenig atemlos, erschöpft und rau.

Er hatte sie gebeten noch heute zur Paramour Private High zu kommen, es sei dringend und von übermäßiger Wichtigkeit.

Also war sie gegangen, obwohl sie eigentlich für eine Matheklausur lernen musste - nur um über eine alte Freundin zu sprechen.

„Wissen Sie“, seufzte Rosa und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Die Lehne bohrte sich hart in ihren Rücken und sie ließ sich wieder nach vorne, ehe sie weitersprach: „Man lebt sich ziemlich auseinander, wenn man erst einmal nicht mehr dieselbe Schule besucht.“

„Wie war Mary Sue so mit sieben Jahren?“ fragte die einzige weibliche Person der Runde.

Wie sie von den anderen erfahren hatte, war dies anscheinend die Rektorin.

Der Glatzkopf war der Psychologe, aber dieser Anzugträger… er schien einfach nicht ins Bild zu passen.

Rosa Miller wunderte sich über die Frage, die man ihr stellte.

Stirnrunzelnd antwortete sie: „Kindisch. Sie war ein Kind. Ziemlich lebensfroh, wenn ich mich recht erinnere. Wir spielten damals unglaublich oft mit unseren imaginären Haustieren. Es waren Tiger, die einer hingebungsvollen Pflege bedurften.“

Sie schmunzelte leicht, als sie daran dachte.

„Und mit acht?“

Diese Fragen waren ihr ein wenig suspekt, aber dennoch gab sie zu jeder einer Antwort, wenn auch zögerlich: „Immer noch fröhlich, glücklich. So wie ein Kind eben ist. Aber ich gebe zu…“ sie hielt inne und ging die Erinnerung durch, „einmal habe ich sie auf dem Spielplatz getroffen. Sie sagte, ihr Tiger habe sie verlassen und sie fühle sich allein. Und dann meinte sie, ein Falke würde über ihrem Kopf fliegen. Bis heute verstehe ich nicht, was sie damit gemeint hat, aber später habe ich erfahren, dass das der Tag war, an dem der Vater und die Mutter sich endgültig getrennt haben.“

„Mary Sue ist ein Scheidungskind?“ fragte der Psychologe, gepackt von unangebrachter Neugier.

Er schien es selbst zu bemerken und zügelte sich, ließ seine aufgerissenen Augen wieder kleiner werden.

Rosa nickte, sah zu dem Anzugträger, der plötzlich verbittert dreinblickte und anschließend zur Rektorin, die nickte, als hätte man ihre Annahme bestätigt.

„Viele begreifen nicht, was das für ein Kind bedeutet. Mary verlor an diesem Tag ihre Familie. So wie man sie sich jedenfalls wünscht. Die Familie zog in die Outblocks und seitdem, besuchte ich sie nur noch selten. Mit zehn Jahren verschwand auch mein Tiger und die Realität holte mich selbst ein. Mary hatte sie früher eingeholt und irgendwie war sie ab da nicht mehr so ganz… vollständig.“

Keiner ging auf ihre Aussage ein, dass wunderte sich, aber sie schwieg.

„Wann hast du Mary Sue das letzte Mal getroffen?“

Rosa Miller schämte sich beinahe, aber sie musste lange überlegen, ehe sie zugab: „Vor ein paar Jahren. Ziemlich seltsam war das. Da war dieses Mädchen und es wirkte so unfassbar distanziert, kalt und fremd. Sie sah so anders aus, irgendwie ungesund. Es war nichts mehr von dem hübschen, lieben Mädchen zu sehen, das ich gekannt hatte.

Sie war an mir vorbeigelaufen und uns beiden war klar, dass wir uns erkannte hatten, aber keiner hat was gesagt. Sekundenbruchteile später umringte man sie. Es war so, als wäre sie der Mittelpunkt des Universums geworden

Und auch dies biss sich mit der Vorstellung, die ich von ihr hatte.

Sie war immer dieses schüchterne Mädchen. Sie wurde rot, wenn zu viele Leute sie ansahen und erst Recht bei Jungen. Sie mochte es nicht, im Zentrum zu sein. Als sie einmal war, stotterte sie wie verrückt… aber das Mädchen jetzt, das war so unbeeindruckt von dem Ganzen, dass ich es beinahe nicht glauben konnte.

Eigentlich hätte ich glauben müssen, dass es nicht Mary sei, aber… es war noch immer dieses Mädchen über dessen Kopf ein Falke schwebte. Ich weiß auch nicht, man erkannte sie an der Art, wie sie war, auch wenn sie vollkommen anders war.“

Sie spürte die verwirrten Blicke der Erwachsenen auf ihr und schüttelte den Kopf, knüpfte allerdings noch ein Lächeln an.

Es war ihr bewusst, dass man sie nicht verstanden hatte, aber sie selbst, sie selbst hatte es nicht wirklich verstanden.

In ihren Blicken konnte sie lesen, dass sie ihren Teil erfüllt hatte. Sie hatte ihnen das gesagt, was sie wissen wollten und sie erhob sich.

Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und wollte gehen, als man sie scharf zurückpfiff.

„Nehmen Sie“, fauchte die Stimme des Anzugsträgers, „doch bitte im Nebenraum Platz.“

Sein Ärger in der Stimme flachte an, aber Rosa Miller war noch immer erschreckt.

Ihre Bewegung war starr und vorsichtig und sie war froh, als sie die Tür hinter sich schließen konnte.

„Ich wusste nicht, dass ihre Eltern geschieden sind“, sagte der Psychologe an den Anzugträger gewandt.

„Unser Vater ist der Atem nicht wert, den man damit verbrauchen würde.“

Der Psychologe schüttelte leicht den Kopf, während er aufstand und über die Folgen der Aussage von Tom Sue nachdachte.

Als er allerdings die Tür öffnete, brach die Gedanken in seinem Kopf zusammen.

Da war nur der Blick des jungen Mannes, der ihr durchbohrte, der ihn verachtete.

Seufzend sprach er mit schwacher Stimme: „Ryan O’Connar.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

"Her heart was a secret garden and the walls were very high."

- William Goldman, the Princessbride

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 10: "Mary Sue war selbst bis zu ihrem letzten Atemzug, unfähig zu lieben."

Ich war neu in Paramour Hill.

Weder kannte ich die Leute, noch kannte ich Orte, an denen sich Leute in meinem Alter aufhielten. Dass ich mich unwohl fühlte konnte ich nicht sagen, auch wenn ich einige Blicke spürte, die mir ein seltsames Gefühl gaben.

Ich wusste nicht, warum die Leute mich so ansahen, aber im Grunde genommen, war es mir egal.

Wenn ich nun sagen würde, ihre Blicke ließen mich kalt, würde ich dennoch lügen.

Ich fand mit der Zeit heraus, dass es wegen meiner Wohngegend war und hätte am liebsten aufgelacht. Mir wurden diese Blicke, aufgrund der Lage meiner Wohnung zugeworfen.

Sie nannten sie hier die Outblocks.

Die Leute, die hier wohnten, waren nicht sonderlich angesehen oder noch am Beginn ihrer Karriere. Vielleicht sollte ich mich gekränkt fühlen, dass sie glaubten, ich wäre nicht angesehen genug, sodass sie sich dem Offensichtlichen  verschlossen.

Denn ich stand am Beginn meiner Karriere.

Mein leiblicher Vater hatte vor etwa viereinhalb Jahren den Kontakt zu mir gesucht, gerade da, als ich es nicht gebrauchen konnte.

Im ersten High School-Jahr war ich sowieso mit dem gesamten Lernstoff überfordert und in diesem Chaos sollte mein vierzehnjähriges Pubertäres-Ich  das Ganze ordnen. Doch heute konnte ich darum froh sein.

Mit neunzehn Jahren hatte ich bereits einen Job in einer angesehen Werbeagentur, die ich sogar einmal übernehmen sollte. Natürlich lief das alles über Beziehungen, aber ich wieso sollte ich ablehnen?

Schließlich war er vierzehn Jahre lang von der Bildfläche verschwunden, da stimmte mich dieses Angebot recht versöhnlich.

Allerdings wollte ich nicht bei ihm leben. Er war ein Mensch, der sich der Prahlerei und dem Luxus versprochen hatte- ich nicht.

Und so lief ich durch die Straßen der Outblocks, als ich zwischen den verunstalteten Graffitti-Wänden plötzlich ein kleines Lokal entdeckte. Die Scheiben waren verdunkelt und ich schirmte meine Augen mit meinen Händen ab, als ich durch diese blickte.

„Ist noch geschlossen“, hörte ich eine Stimme ein wenig nuschelnd sagen.

Ich war zusammengezuckt und blickte neben mich.

Ein Kerl, etwa fünf Jahre älter als ich und mit blonden Schopf, dem eine Zigarette im Mundwinkel klemmte, hatte gesprochen.

„Wann macht’s auf?“ fragte ich und trat von der Scheibe weg, um den Laden genauer zu betrachten.

Er zuckte mit den Schultern, nahm die Zigarette zwischen die Finger und blies den Rauch aus seinem Mund, während er gerade dabei war einen Schlüssel in das Türschloss zu stecken:

„Wenn ich Lust habe.“

„Oh“, lachte ich, „das ist dein Laden.“

Er brummte etwas, das wohl eine Zustimmung sein sollte und dann war das Schnappen des Türschlosses zu hören. Er schmiss die abgebrannte Zigarette zu Boden und trat darauf rum, ehe er nach oben sah und mich musterte.

Er war ein wenig breiter als ich gebaut, wohl auch ein wenig muskulöser und trug seine blonden Haare länger, als ich meine dunkelbraunen.

Meine Mutter zwang mich sie zu schneiden, da sie sagte, ich könnte keinen Anzug mit einer Matte auf dem Kopf tragen.

„Du scheinst neu hier zu sein, wenn du nicht weißt, dass das meine Bar ist.“

„Ja, erst vor kurzem hergezogen. Meine Wohnung ist nur ein paar Straßen weiter.“ Ich deutete unbeholfen nach hinten.

„Oh, ein Outblocker“, sagte er und seine neutrale Miene schien freundlich zu werden, „hätte ich nicht erwartet. Brady Davis“, meinte er und hielt mir die Hand hin.

Mit einem festen Handdruck erwiderte ich seine Begrüßung, „Ryan O'Connar.“

Ich blickte nach oben und las nun auch die Schrifttafel: Brady’s Bar.

„Du solltest heute Abend vorbeikommen. Die High School-Girlies kommen gerade aus ihren Spring-Break- Ferien, deswegen ist heute Re-Spring-Break. Alle Shots nur einen Dollar.“

„Klingt verlockend, aber High School- Mädchen?“ fragte ich skeptisch, „nicht so mein Kaliber.“

Brady kratzte sich am Hinterkopf und lachte rau: „Einige Seniors sind ziemlich heiß. Allen voran meine Freundin, aber hey, College-Boy und College-Girl typische Lovestory“, er lacht sarkastisch, aber es klang nicht boshaft.

„Ich bin nicht auf dem College“, meinte ich und blickte ihn grinsend an.

„Ryan“, sagte er und schlug mir auf die Schulter, „Outblocker, Nicht-Student und trinkwillig. Du solltest kommen.“

„Ich werd‘s mir durch den Kopf gehen lassen“, meinte ich und ging zurück in die Richtung meines Apartments.

 

Auch wenn ich im Gespräch herausgehört hatte, dass Brady Alkohol an Schüler und somit an Minderjährige ausschenkte, war ich doch überrascht von der Dichte Kinder, die im seichten Barlicht herumstolperten.

Aufgrund dieser bewegenden Hindernissen, dem schwachbeleuchteten Helligkeitszustand und den Rauchschwaden, die die Luft rau machten, brauchte ich gefühlte Ewigkeiten, ehe ich an die Theke gelangte.

Sie war nicht groß, aber vollkommen überfüllt.

Ich quetschte mich in einen freien Zwischenraum und brauchte dringend Alkohol, sollte ich noch länger von diesen Teenie-Girls umlagert werden.

Endlich fiel ich in Bradys Blickfeld, der sich überaus lange einer Gruppe in der Barnische gewidmet hatte.

 Eine Gruppe bestehend aus Mädchen saß dort und ich hörte sie hysterisch lachen.

Ich versuchte die Augen nicht zu offensichtlich zu verdrehen. Es gab Gründe, wieso ich keine Highschool-Mädchen datete.

Die Letzte war an die Westküste gezogen und hatte mir damit mein Herz gebrochen, auch wenn ich es nur ungern zugab.

„Ryan“, rief er über die dröhnende Folkmusik hinweg und brachte zwei Flaschen Bier, um mit mir anzustoßen.

Ich nahm einen großzügigen Schluck und hoffte, dass es von nun an erträglicher wurde.

„Und?“ fragte er und deutete auf die Gruppe, während er den Thresenbereich vor mir abwischte. Immer wieder zerrissen ungeduldigen Bestellungen unserer Gesprächsanfänge, die Brady aber vollkommen zu ignorieren schien.

Er wackelte übertrieben mit seinen dichten Augenbrauen.

Fragend zog ich meine eigenen an und er wiederholte seine Frage, dieses Mal ausführlicher:

„Und? Sind High School-Mädchen noch immer nicht dein Kaliber?“

Ich blickte in die Nische, bei welcher er sich gerade noch aufgehalten hatte und begutachtete die Gruppe. Eine Schwarzhaarige mit einer Bobfrisur schaffte es nicht einmal, auch nur für eine Sekunde, den Blick von Brady zu lösen.

Daraus schloss ich, dass es sich dabei wohl um seine Freundin handeln musste.

Die beiden anderen Mädchen, fließende rot-braune Wellen und glattes Karamell, waren wirklich nicht schlecht, aber sie hingen nur an ihrem Handy.

Woraus ich wiederrum schloss, dass sich beide in Beziehungen befanden oder sozial vollkommen gestört waren- beides unüberbrückbare Differenzen.

Gerade als ich  Brady meine Meinung mitteilen wollte, schloss sich ein blondes Mädchen in die Gruppe ein. Die anderen beiden standen auf und ließen sie in der Mitte, neben der Schwarzhaarigen und dem Karamellmädchen Platz finden.

Ein Keuchen entfleuchte mir vor Überraschung und ich hörte Bradys Lachen schallern.

„Ja, ziemlich heiß die vier.“

„Die Blonde…“ meinte ich und löste nicht den Blick von dem Mädchen.

Ihre hellblonden Haare reichten ihr knapp über die Schultern und sie war unglaublich kräftig und dunkel geschminkt.

Eigentlich hasste ich es, wenn Mädchen so aussahen, aber es war ihre Art und ihr Aussehen, was auf eine verdrehte Weise zusammen passen zu schien, weswegen sie mich faszinierte.

Ich blickte wieder zu Brady, der ein schelmisches Grinsen auf seinen schmalen Lippen trug, ein vielsagendes Grinsen.

„Die Blonde“, setzte ich erneut an, „das ist kein High School-Mädchen.“

„Sie ist die Jüngste von denen“, lachte Brady und gönnte sich ebenfalls einen kurzen Schulterblick.

„Unmöglich“, platzte ich entrüstet.

„Das ist Mary Sue“, klärte er mich auf, „das Mädchen… ist eiskalt. Verdammt heiß, aber eiskalt. Die kann keiner erwärmen. Wenn sie betrunken genug ist und man den richtigen Moment abpasst, taut sie ein wenig auf.“

„Klingt, als würdest du aus Erfahrung sprechen“, sagte ich und nahm einen Schluck.

 Aus dem Augenwinkel vernahm ich, dass er sich plötzlich ertappt vorkam, aber ich achtete nicht auf ihn.

Ich sah, wie Mary leicht lächelte. Ziemlich schwach, bei genauerer Beobachtung.

 „Hey Mann“, sagte Brady nervös, „Ryan.“

Er wartete bis ich ihn ansah, nahm einen Schluck und sprach dann leiser, gerade laut genug, dass ich ihn über die Musik hörte, „ich hab es versucht.

Das Mädchen, Mary. Die hat mich ein halbes Jahr zappeln lassen und mich dann mit Beven verkuppelt. Das war ziemlich eindeutig. Klar, ich liebe Beven, keine Frage, aber Mary…“ er brach ab und ich sah Schuld und Scham in sein Gesicht treten, „vergolde deine Zeit nicht. Glaub mir“, er lachte erneut rau und gepresst, „such dir ne andere.“

Ich nickte geistesabwesend und er wandte sich ab.

Und dann versuchte ich es- mich von ihr abzulenken.

Mit zehn Dollar hatte ich mich soweit in Laune getrunken, dass ich mir ein Mädchen heraussuchte und sie küsste.

Mir war langweilig und vielleicht fühlte ich mich sogar ein wenig einsam.

Das Mädchen, was ich küsste, erinnerte mich an meine Ex-Freundin.

Sie war etwa so groß und hatte einen ähnlichen Körperbau, selbst die rötliche Haarfarbe stimmte, aber da war nicht dieses Gefühl.

Enttäuscht fand ich mich auf einem Hinterhof wieder und genoss die frische Luft,  als das dumpfe Geräusch einer laufenden Party hinter einer verschlossen Tür schlagartig laut, und dann sofort wieder leise wurde.

Ich blickte zu der schweren Metalltür und konnte mit verschwommen Blick eine Silhouette ausmachen. Als sie sich nicht bewegte, verbuchte ich sie und Einbildung und wendete mich wieder ab.

Doch dann bewegte sich der Schatten und mit aufmerksamen Augen beobachtete ich sie.

„Tut mir leid“, meinte die Stimme und trat näher auf mich zu.

Ich stand an eine Backsteinmauer gelehnt, an der ein altersschwaches Licht seltsam absurd flackerte.

An der Form ihres Körpers erkannte ich, dass es sich um ein Mädchen handelte.

„Aber hast du vielleicht Feuer?“ fragte sie mich und wirkte dabei beinahe schüchtern, wäre da nicht dieser Unterton gewesen.

Als sie nun vollkommen im Licht stand, erkannte ich dass es dieses Mädchen, Mary, war.

Überrascht kramte ich in meiner Hosentasche, ehe mir einzufallen schien, dass ich bereits seit einem halben Jahr Nicht-Raucher  war.

„Nicht mehr“, sagte ich und zuckte mit den Schultern.

Der Stoff meines Shirts knisterte leicht an der rauen Wand, als er daran vorbei rieb und für einen Moment war nur dieses Geräusch zu hören.

Irgendwas kam mir anders  an ihr vor.

 So als hätte sie ihre Aura verloren. Vielleicht brauchte sie eine Gruppe, um jemand zu sein.

„Okay“, sagte sie und wendete sich gerade zum Gehen.

„Du bist ziemlich hübsch“, hörte ich mich sagen und sah, selbst im schwachen Licht, wie sie überrascht die Augenbrauen hochzog.

Sie sah erstaunt aus, dabei war ich mir sicher, dass ich nicht der erste und nicht der letzte Kerl war, der das zu ihr sagte. Doch nun schien sie sich genauso zu verhalten- als wäre es das erste Mal.

Ich wusste nicht, wie viel davon der Alkohol es war, aber ich glaubte, sie wurde sogar leicht rot.

So als würde sie es nicht für möglich halten, dass sie als Empfänger dieses Kompliments adressiert war.

Sie drehte sich wieder weiter zu mir und verschränkte leicht fröstelnd die Arme vor der Brust.

Kein Wunder, schließlich wurde es langsam frisch und sie trug nur eine hauchdünne, transparente Bluse.

„Tu das nicht“, sagte ich und grinste.

„Was?“ fragte sie auf einmal entgleist, so als hätte sie sich verloren.

„Du verliebst dich gerade in mich.“

Auf einmal lachte sie: „Ach ja?“

„Ja“, meinte ich und stieß mich von der Wand, „Hals über Kopf sogar.“

„Das glaube ich kaum“, meinte sie und rückte ein wenig von mir ab, rückte wieder vor und konnte sich offensichtlich nicht entscheiden.

„Oh doch“, lächelte ich und fuhr mir durchs Haar, „schließlich bin ich in einer Band Gitarrist.“

„Das soll mich beeindrucken?“ fragte sie und lächelte leicht.

„Aber natürlich. Auf Musiker steht jede.“

„Ich nicht. Ich finde sie haben einen… so arroganten Touch.“

„Na gut“, sagte ich und hob abwehrend die Arme, „ich bin wohl doch kein Musiker, aber…“

„Dann bist du alles, was ich will, das du bist?“ fragte sie und klang gelangweilt.

Es war ein Spruch, der ihr wohl schon einige tausende Male um die Ohren gejagt wurde.

„Nein“, meinte ich und lächelte verschwörerisch, während ich den Kopf schüttelte, „ich bin noch so viel mehr.“

Sie blickte mich auf einmal mit einem Blick an, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.

Der Blick eines Menschen, dem das eiskalte Herz aufbrach und zum ersten Mal schlug.

Ein Aufblitzen der Seele hinter müden Augen, die das Sehen verlernt hatten.

Vielleicht war ich auch ganz einfach nur betrunken.

 

Und als ich morgens wieder mit einem widerlichen Kater aufwachte, schwor ich wohl, zum bereits tausensten Male, dem Alkohol endgültig ab.

Der irgendwie abgestandene Geschmack in meinem Mund war überaus unangenehm und mein Kopf fühlte sich wie mit einem Presslaufhammer bearbeitet.

Eben diesen schmerzverzerrt haltend, schritt ich auf die Balkontür meines Schlafzimmers zu und ließ die frische Morgenluft  meinen Verstand klären.

Der bloße Lufthauch schien nicht genug, also trat ich mit den nackten Füßen auf die noch immer kalten Fliesen des einen quadratmetergroßen Balkons.

Er war mit  einer robusten Betonwandfront umkleidet, die den sowieso schon vorhandenen, bulligen Charakter der Hausfassade noch unterstrich.

Der Balkon ging genau auf die Straße hinaus und mich überraschte die Stille, die mich hier empfing.

Okay, es war ein Sonntagmorgen, aber selbst dieser sollte belebter sein- angesichts der Bewohnerdichte dieser Gegend.

Gähnend räkelte ich mich gegen das aufkommende Sonnenlicht, als ich ein lautes Geräusch durch die Gänge der Gassen hallen hörte.

Neugierig lehnte ich mich über das Geländer hinweg und blickte meterweit in die Tiefe.

Meine Wohnung lag im dritten Stock eines sechsstöckigen Gebäudes.

Vorsichtig kniff ich die Augen zusammen, als ich etwas sich im Schatten der Häuser bewegen sah.

Das Geräusch war mit ziemlicher Sicherheit eine zugeschlagene Tür und nun identifizierte ich das Etwas  als Jogger.

In gleichmäßigen, gut eingeübten Rhythmus bewegte ich sich die Person in mein Blickfeld, in meine Richtung.

Noch immer hing ich über und beobachtete.

Es war ein Mädchen, dass erkannte ich an den zu federnden Schritten und den leichten Kurven in der Silhouette.

Plötzlich riss diese ihren Blick nach oben und ich fiel vor Schreck, vielleicht sogar ein wenig aus Scham,  zurück und verkroch mich wieder in meine Wohnung.

Gähnend stapfte ich durch das spartanisch eingerichtete Schlafzimmer mit  Standard IKEA-Einrichtung in den noch mager-bestückten Flur.

Ein einsames Bild hing dort an der Wand.

Ich selbst war der Künstler. Eigentlich war ich nicht wirklich talentiert, aber es half mir- damals so wie heute.

Dieses Bild war ein abstraktes Selbstporträt eingeflochten in eine Inudstrielandschaft.

 Es war von dunklen, vorwiegenden grauen Farbnuancen und einer aggressiver Pinselführung geprägt.

Ich war zu Entstehungszeiten nicht wirklich gut auf mich selbst zu sprechen.

Kopfschüttelnd schritt ich nur wenige Schritte weiter und bog nach rechts in die einsame Küche.

Ein altes, zweckentfremdetes Ölfass diente mir als Küchentisch, um welches herum, Hocker als Stühle fungierten.

Auf einer altersschwachen Spülkonsole mit zwei integrierten Herdplatten kochte ich mir das, wozu ich imstande war und die kleine freie Fläche war mit einer, wenn sie in Betrieb genommen wurde, röhrenden Filterkaffeemaschine zugestellt.

Wenn ich mich hier so umsah, fragte ich mich manchmal, warum ich doch nicht ein wenig Geld der Finanzspritze meines Vaters genommen hatte, aber dann hätte ich mich selbst betrogen.

Gähnend startete ich die Kaffeemaschine, die unter dem versprochenen Mordslärm und quälend langsam einen kalkigen, wässrigen Kaffee produzierte. Dennoch freute ich mich über jede Tasse, die sie ergab.

Mit der Tasse in der Hand strich ich, auf der Suche nach meinem Handy, durch die letzten beiden kleinen Zimmer meines Apartments

Vor der Matratze, die ich als Sofa ausgelegt hatte, ruhte es auf dem hellen Vinylparkett.

Langsam ließ ich mich auf diese gleiten und stellte die Tasse neben mir auf den Boden ab, ehe ich den Fernseher einschaltete und erst dann das Handy aufhob.

Eine mir unbekannte Nummer hatte mich dreimal in der Nacht angerufen.

Viel mehr interessierte mich allerdings die überraschende Nachricht einer gewissen Molli Springler.

Seit über acht Monaten hatte ich nichts mehr von ihr gehört.

 

 

Ryan.

 

Allein mit dem Ausschreiben meines Namens erkannte ich ihre Stimmung.

Sie war offensichtlich nicht gut auf mich zu sprechen.

Mit Vorsicht las ich weiter:

 

Es ist ja schön von dir nochmal zu hören. Vor allem, wenn man bedenkt, wie die Dinge zwischen uns geendet haben.

 

Abserviert. Das beschreibt es ganz gut, wie sie diese „Dinge“ zwischen uns beendet hat.

 

Aber…

Ich weiß nicht, mir tut es noch weh.

 

Stirnrunzelnd überflog ich die Zeile erneut.

Damals hörte sich das anders an.

Die Worte ‚Ich gehe nach Standfort, was du machst, ist mir ziemlich egal. Das zwischen uns hat doch einfach nicht gepasst‘ haben nicht den Platz für die Vermutung von Schmerz gelassen.

 

Besonders, wenn man mitten in der Nacht angerufen wird und dein Exfreund mit seiner neuen Schnalle dir berichtet, wie heiß diese ist, wie wunderschön und wie viel mehr glücklicher du mit ihr bist. Vor allem wenn diese Schnalle dabei leise im Hintergrund lacht.

Also…

Fick dich, Ryan.

 

Beinahe hätte ich darüber gelacht, und dann tat ich es wirklich.

Es war eine lustige, zwar durchaus zu bereuende Situation, aber lustige.

In meinen schwammigen Gedanken suchte ich nach dem Mädchen, das zu diesem Zeitpunkt bei mir gewesen sein musste.

Erst zuletzt kam mir der Gedanke, dass es sich dabei womöglich um die mehrfach angerufene Nummer handeln könnte.

Nachdenklich wählte ich diese und nach dem dritten Ton hob man am anderen Ende ab.

„Hallo?“ die Stimme befremdlich.

Und doch erkannte ich sie.

Wie ein Blitz schoss mir das Gesicht dieser und die Situation vor Augen:

 

Wir saßen an dieser kalten Backsteinmauer gelehnt.

Sie trug das Flanellhemd, welches ich einem Kerl zuvor geklaut hatte -einfach nur aus Spaß- und beugte sich über vor Lachen.

Sie hielt sich den Bauch und nahm mir dann die Flasche Wodka, die ich in der Hand gehalten hatte, ab.

Die Flüssigkeit war nur noch zu einem Drittel vorhanden und sie sprang auf, baute sich schwankend vor mir auf und hielt die Flasche hoch.

„Wie viel?“ fragte sie und stolperte im Stehen, „glaubst du?“

Ich streckte ihr eine Hand entgegen, die sie dankend annahm und wir unsere Finger ineinander verschränkten, damit sie einen stabileren Halt  bekam.

Ein Teil ihres Ringfingers war kälter als der Rest und vorsichtig befühlte ich diesen genauer. Sie trug einen Ring- wie ich feststellte - und ließ sich auf einmal, völlig überraschend, in die Hocke fallen.

Lässig legte sie ihre verschränkten Armen, in der einen Hand noch immer den Wodka festumschlungen haltend, auf meinen Knien ab.

Das schwache Licht ließ ihre Augen so unglaublich trüb wirken, aber mir war bewusst, dass es auch an der Menge Alkohol liegen könnte, welche in meinem eigenen Kreislaufsystem zirkulierte.

Plötzlich fiel sie auf ihre eigenen Knie und lachte.

„Ich wette, ich kann es leer trinken.“

„Niemals“, meinte ich kopfschüttelnd und sah, wie sich die Konturen von Müllcontainern und leeren Kartons versetzten und nur langsam in Ruhe zurückkehrte, „dann rufe ich meine Ex an und erzähle ihr von dir. Sie hätte so was niemals gemacht.“

„Deal“, meinte sie und setzte an, stürzte und stürzte den Inhalt hinunter, ehe sie das Gesicht verzog.

Hektisch presste sie den Handrücken gegen ihre Lippen und schloss die Augen.

Dann setzte sie wieder an und nahm sie nicht ab, ehe sie triumphierend die Flasche umdrehte, um ihren Erfolg zu beweisen.

„Du bist wahnsinnig.“

„Oh ja“, lachte sie und streckte auffordernd die Hand aus. Ich legte meine in ihre, aber sie entzog sich mir wieder.

„Dein Handy.“

Verschmitzt grinsend zog ich es hervor, wählte die Nummer von Molli, die noch immer in meinem Gehirn eingebrannt war und rief sie an.

Wir lachten laut, erzählten ihr von Mary und dann legten wir auf.

Beide kicherten wir wie Schulkindern und auf einmal kippte sie nach vorne um, wie ein Stein fiel sie auf meine Brust.

Für einen Augenblick hatte ich Angst, sie wäre gestorben, aber dann bemerkte ich, wie sie sich ihre Schultern hoben und senkten.

Schwerfällig schob ich ihren Körper rechts neben mich und bettete ihren Kopf vorsichtig in meinem Schoß, während ich ihr gedankenverloren  Muster auf die Wange malte und ihr übers Haar strich.

Beinahe wäre ich selbst eingeschlafen, doch daraus wurde nichts, als  die Tür plötzlich aufgerissen wurde und jemand laut etwas irgendwo reinwarf.

Ich konnte das Geräusch nicht zu ordnen.

Auf einmal stand eine massige Gestalt vor uns und ich glaubte, sein Gesichtsausdruck war entsetzt.

„Ryan?“

Ich nickte schwächelnd.

„Ist das Mary?“

Wieder nickte ich und schüttelte gleich daraufhin den Kopf.

„Das ist Mary Sue! Aber was macht ihr hier?!“

„Wir haben ein bisschen getrunken“, meinte ich und hörte selbst, wie ich lallte.

„Alter, die Bar ist seit anderthalb Stunden fast stillgelegt.“

„Wieso schließt du sie schon um zwölf?“ fragte ich und zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

„Es ist drei Uhr. Die meisten sind gegangen. Nur noch ein paar sind hier.“

„Na dann“, sagte ich und tätschelte Mary leicht gegen ihre Wange.

Ihre Lider flatterten auf und sie schmatzte, drängte sich enger an mich.

„Ich bring sie schon Heim“, sagte Brady und wollte sie anfassen, als ich, und es überraschte mich wohl mehr als ihn, zischte: „Finger weg!“

„Du kennst das Mädel nicht. Ich schon. Sie kommt schon… seit immer in meine Bar.“

Etwas in seiner Stimme gefiel mir nicht.

Es schien wie der Erfolg, den er niemals verbuchen konnte und nun versuchte so zu erreichen.

Ich war zwar betrunken, aber kein Idiot.

Dennoch hob er sie aus meinen  Armen.

 

„Hallo?“ Skepsis tränkte die erneute Nachfrage und ich riss mich aus der Erinnerung.

„Hey.“

„Was gibt’s?“ die Stimme klang teilnahmslos und irgendwie unbeeindruckt.

„Ich wollte…“, ich stockte und suchte sorgfältig die Wörter zusammen, „wissen, ob du es Nachhause geschafft hast.“

Ein raues Lachen drang an mein Ohr.

„Ich komme immer nach Hause.“

„Okay. Geht es dir gut?“

Eine lange Pause setzte ein, ehe ich ein Seufzen hörte: „Hör mal. Was auch immer zwischen mir und dir gelaufen sein sollte oder was du dir denkst, dass da war oder sein könnte… ich will dich nicht enttäuschen, aber, ich habe keine Erinnerung und somit keine Bedeutung dafür. Wenn ich ehrlich bin, kenne ich nicht einmal deinen Namen.“

„Ich habe das Gefühl, ich sollte gekränkt sein.“

Wieder ein Schweigen.

Mit leicht erwärmter Stimme meinte sie: „Ja, zumindest so etwas in der Art, Ryan.“

„Ah“, sagte ich grinsend, „du kennst ihn also doch.“

„Er stand auf dem Display als du angerufen hast, also keine falschen Hoffnungen.“

Kalt, eiskalt.

„Hätte ich mir nie gemacht, Mary.“

Wieder schwieg sie.

 Es lag daran, dass ich ihren Namen gesagt hatte. Ich fragte mich, was das bei ihr auslöste, dass es ihr die Sprache verschlug.

„Übrigens“, meinte sie und ein Knistern war in der Leitung zu hören, ihre Stimme  klang ein wenig entfernt. Sie musste wohl den Lautsprecher eingeschaltet haben.

 Ein Klingeln von Schlüssel, ein dumpfes Geräusch, welches ich erneut nicht zu ordnen konnte, „es ist wirklich gruselig, wie du die Leute beim Laufen beobachtest.“

Die Verbindung wurde unterbrochen.

 Wenn man es auch nicht glauben mochte, bei der Alkoholmenge, die sie getrunken hatte, war ich mir sicher, sie erinnerte sich.

 

Ich brauchte drei Tage  mir andere Gedanken in den Kopf zu setzen.

Mein neuer Job schien eine gewisse Hilfestellung zu geben.

Durch meinen egozentrischen Vater war ich ziemlich beschäftigt gewesen.

Jedenfalls bis zu dem Tag, als sie in meinem Büro erschien.

Als Junior-Kontakt diente ich, als eine Art Weiche zwischen Agentur und Kunde, somit wurde ich zu ihrer Anlaufstelle.

Mein Büro lag in einem der unteren Stockwerke, dessen Fensterspalt den engen Raum nur mit wenig Tageslicht ausfüllte.

Ich wollte keinen Luxus und so, bekam ich auch nicht einmal einen Hauch davon.

Ein stämmiger Schreibtisch und ein sperriger Aktenschrank waren das einzige Mobiliar, was ich abgesehen, von meinem Schreibtisch- und einem Besucherstuhl, vorzuweisen hatte.

An mich übermittelte man ausschließlich unwichtige Kunden, genauer definiert- Menschen ohne Potential der finanziellen Ausbeutung.

So waren meine Klienten meist ortsansässig und wollten einfache, exakt personalisierte Kampagnen für ihre Familienunternehmen.

Mit einem ähnlichem Belangen kam auch sie zu mir.

Sie klopfte nicht, sondern trat durch die offenstehende Tür ein.

Einen Moment wirkte sie beschämt über den Faux-Pax, den sie sich geleistet hatte, aber dann erkannte sie mich.

Ihr Blick war abschätzig und dann nahm sie dennoch vor mir Platz.

Ich sah überrascht hoch und fuhr mir instinktiv durchs dunkelbraune, kurze Haar und strich an der blauen Krawatte entlang, die ich trug.

Sie selbst hatte ihre Haare in einen dünnen Pferdeschwanz gefasst, die Augen noch immer so düster geschminkt und trug ein schmalgeschnittenes Trägertop mit zerrissenen Jeans, darüber eine Lederjacke.

„Guten Tag“, meinte ich, stand auf und deutete mit einer einladenden Geste auf den, mit blauen Stoff bezogenen, Stuhl und schloss die Tür.

Als ich mich wieder auf meinem Stuhl niederließ, sah ich wie sie mit zweifelndem Blick mein Namensschild begutachtete.

„O’Connar“, flüsterte sie leise und blickte auf.

„Stimmt“, pflichtete ich ihr bei, „warum bist du hier?“

Sie verdrehte die Augen: „Wegen meiner Schule. Ich bin so eine Art Schulsprecherin, obwohl ich nie offiziell zu etwas angetreten bin. Ich wurde gebeten mich zu informieren, wie man das Image der Schule auch außerhalb der Kleinstadt verbessern könnte.“

Während ich zusammenhangslose Buchstaben auf der Tastatur des Laptops eingab, brannte mir die Frage auf der Zunge, die ich stellen wollte: „Du weißt noch alles, oder?“

„Natürlich“, sagte sie und hob das Namensschild hoch, strich über die eingestanzten Buchstaben, die meinen Namen ergaben.

„Wieso lügst du dann?“

Mittlerweile hatte ich es zustande gebracht den Namen ihrer Schule in die Suchmaschine einzugeben.

Überraschenderweise erschien als erstes Ergebnis nicht die offizielle Schulseite, sondern eines von Schülern erschaffenes Forum.

Weiterer Zugang wurde mir ohne Passwort verwehrt.

Seufzend klickte ich auf die richtige Seite und wartete wie rote und blaue Balken, gegeneinander liefen, um den Status des Ladens anzeigten.

„Ich küsse viele Jungs“, sagte sie auf einmal und blickte von dem Bildschirm in ihre grauen Augen, aber sie sahen nicht mich an, „und noch mehr Jungs küssen mich.“

Ich schwieg, sah sie nur weiter an.

„Es bedeutet mir nichts, aber den Jungen. Auch wenn sie es nicht zugeben wollen.“

„Ich habe dich nicht geküsst.“

Sie lächelte schwach auf und sah mich an, nickte geistesabwesend.

„Darum.“

„Darum?“ fragte ich irritiert.

 „Darum habe ich gelogen, weil du mich nicht geküsst hast. Weißt du, wenn die Jungs mich küssen, weiß ich was sie wollen. Wenn ich die Jungs küsse, weiß ich, was ich will. .. aber ich weiß nicht, was du willst.“

Ein amüsiertes Grinsen legte sich auf meine Lippen.

„Ich wollte dich schon küssen.“

„Aber?“ fragte sie und legte endlich mein Namensschild aus der Hand, „war ich dir nicht gut genug?“

Angst war in ihrer Stimme zu hören, das glaubte ich zumindest.

„Nein“, meinte ich kopfschüttelnd und klappte den Laptop zu, „ich konnte nicht.“

Verwirrt legte sie die Stirn in Falten. Ihr schien es nicht zu gefallen, nicht Herr der Situation zu sein.

Sie brauchte das.

„Ich kenne Mädchen wie dich“, sagte ich auf einmal und lockerte die stramme Krawatte um meinen Hals, „oder Mädchen, die dir ähnlich sein könnten, aber diese Mädchen leugnen nicht die Wahrheit.“

„Wolltest du mich deswegen nicht küssen?“ fragte sie und stand ebenfalls auf, als sie sah, wie ich mich zum Gehen bereitete.

„Nein“, lachte ich und nahm die Umhängetasche und schritt zur Tür, „du könntest ja zu mir kommen und verstehen.“

In ihren grauen Augen las ich neben den beständigen Zweifel, Neue.

 Aber dann wurde mir klar, dass sie diese anspornten und sie in diese und jegliche andere, mögliche Gefahren trieb.

Bei Kontrollverlust schien ihr jedes Mittel recht wieder darüber zu verfügen.

 

„Ich bleibe“, kündigte sie an und ließ sich grinsend auf der Matratze im Wohnzimmer nieder, „für immer.“

Wir hatten die Dämmerung überschritten und ragten mit der Zeit beinahe tief in den Spätabend.

Sachte ließ ich mich an den Rand der Matratze nieder und schloss die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, zupfte sie an offenen Nähten herum, die die alte Matratze aufwies.

Sie sah irgendwie anders aus.

Ihre Haare hatten sich größtenteils aus dem Pferdeschwanz gelöst, sie hatte sich aus der engen Jeanshose geschält, trug stattdessen eine alte Sporthose von mir und lächelte.

Ich glaubte, dass es an dem Lächeln lag.

Es war simpel und unbedacht- zum ersten Mal sah ich sie so.

Plötzlich spürte ich ihre Fingern an meinem Arm und sie umpackte mein Handgelenk.

Ich kam ihrer stummen Bitte nach und rückte auf. Sie begann meinen Arm hinaufzufahren, als ich ihre Hand hielt und sie stoppte.

Ihr Blick wurde undurchlässig und aktivierte eine bis dahin unbekannte Kälte. Mir fuhr beinahe ein Schauer über den Rücken.

„Ich küsse dich nicht, nicht heute.“

„Und Morgen?“ fragte sie.

„Auch nicht morgen.“

„Bist du schwul?“

„Nein, ich glaube nicht. Nein“, meinte ich.

„Was ist, wenn ich dich jetzt küsse?“

„Es wäre falsch.“

„Ich mache keine Fehler“, sagte sie ernst.

„Das wäre mit Sicherheit einer“, beteuerte ich und hob die Augenbrauen an.

Um meinen Hals hatte ich noch immer nur die lose Krawatte, an der sie mich nun, vollkommen klischeehaft einem Film entnommen, zu sich zog.

„Belass es dabei und halte deine Null-Fehler-Rate.“

Sie nickte und ließ mich los.

Es sollte nicht so schwer sein, oder?

Das war der Gedanke, welcher mir durch den Kopf schoss.

Nein, es sollte nicht so schwer sein, ihr zu widerstehen.

 

Drei Wochen vergingen und mit dem beginnenden April konnte ich es nicht mehr leugnen.

Ich fiel für sie, verfiel  und verlor mich mit ihr.

In der letzten Märzwoche küsste ich sie zum ersten Mal und es war seltsam.

Es hinterließ ein taubes Gefühl auf meinen Lippen und ich glaubte nicht, dass es sich so anfühlen sollte. Aber ich wurde süchtig danach.

Am letzten Märztag küsste sie mich zum ersten Mal und die Taubheit schwand, die Sucht nahm zu.

Denn mit dem Verschwinden der Gefühlslosigkeit entflammte ein verzehrendes Feuer. Ein Feuer, nach dem ich zu dürsten schien.

 

Einmal lagen wir in meinem Bett.

Sie hatte ihre Stirn an meine Brust gelehnt und ihre Hand in meinem Shirt verkrallt, als sie meinte: „Weißt du, vor was ich mir fürchte?“

Ich schüttelte den Kopf, fühlte mich schläfrig und doch schärfte sich mein Gehör aufmerksam für ihre Worte.

„Falken.“

„Falken?“ fragte ich argwöhnisch und presste ihre einen Kuss aufs Haar.

„Ja, seit ich klein bin. Ich weiß nicht, wieso.“

„Du solltest ein Gedicht darüberschreiben“, meinte ich und lächelte leicht.

„Nein“, sagte sie kopfschüttelnd, „ich schreibe keine Gedicht über meine Ängste.“

„Ängste?“ fragte ich hellhörig.

„Singular“, korrigierte sie sich starr, verkrampfte sogar ein wenig.

 

Sie war so sehr versessen darauf keinen Fehler zu machen, dass sie sich niemals fallen ließ.

Ziemlich lange beherrschte mich darauf eine Furcht, die ich  versuchte in meinem Inneren zu begraben.

Ich glaubte, dass sie sich niemals für mich verfiel und eigentlich war ich nicht der Typ Mensch, der sich deswegen verrückt machte, aber eine unerklärliche Besorgnis keimte ununterbrochen in mir auf, verbunden mit einer weiteren Angst.

Mary Sue für mich zu verlieren und nicht nur mich in ihr.

Doch ich fand, nach dem sie an diesem Tag der Falkengeschichte gegangen war, eine beschriftete Serviette, auf der sich während meiner grotesken Kochkunstvorführungen gedankenverloren gemalt hatte.

Durch die schnörkligen Muster, die sich neben den Worten fanden, kam es mir zunächst unbedeutend vor, ehe ich die Wörter in eine Reihe brachte.

Es wurde  zu einem Gedicht.

Zu einem unbewusst, an mich adressierten Gedicht:

 

Im April die ersten Tage,

ich dacht‘ mein Herze,

es würde versag’n

denn es tropft‘ so vor lauter Blut,

es dauert‘ eine ganz gewisse Zeit,

bis mir bewusst, dass es nur die Glut der Lieb‘

welch ich empfind,

lieblich schmerzlich,

durch die Adern rinnt.

in unser gemeinsam‘ Zweisamkeit.

 

 

Ich liebte Mary Sue lange bevor sie oder ich es überhaupt ahnten.

 

Eine Woche vor ihrem achtzehnten Geburtstag fuhren wir ein Wochenende nach Oak Island.

Mein Vater schickte mich, obwohl ich ihn um das Gegenteil bat, auf eine Geschäftsreise nach Kalifornien. Ich sollte die möglichen Werbeslogans für eine Erdbeerfarm mit einem hochrangigen Kunden besprechen.

Dies war wirklich eine Ehre für mich und ich mir war die Wichtigkeit dieses Geschäftsabschlusses bewusst, dennoch wäre ich lieber in Paramour Hill geblieben.

Gegen all meine Erwartungen schien Mary Sue nicht enttäuscht von dieser Situationslage, viel mehr wirkte sie… erleichtert.

Das beunruhigte mich und vielleicht wäre ich verstimmt oder wütend gewesen, wäre eben nicht dieses Wochenende in Oak Island vorausgegangen.

Von PH zum Meer brauchten wir etwa sechs Stunden, sodass wir gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang eintrafen.

Während ich einen Kaffee an einem kleinen Kiosk besorgte, lief Mary bereits den langen Steg entlang und ließ sich nieder, die Beine über die Kante baumelnd.

Frei.

Das war das Wort, welches mir durch den Kopf schoss, als ich zu ihr blickte.

Sie sah unglaublich frei aus.

Als die Wellen heftiger gegen die runden Holzpfeiler brach und die Gischt beinahe hoch bis zur ihr trieben, zog sie die Knie an und umklammerte sie mit den Armen, ehe sie ihren Kopf darauf bettete.

Als ich ihr nachging, sah ich wie sie im kalten Meereswind fröstelte und ließ mich hinter sie gleiten und zog sie nah zu mir.

Während ich saß spürte ich alles: Das Eigenleben des Stegs, die Kraft des Meeres und die Freiheit, mit der sich mein Körper und Geist füllte.

„Was denkst du gerade?“ säuselte ich an ihr Ohr.

„Ich versuche das Flüstern des Windes zu verstehen“, sagte sie und lehnte den Kopf zurück an meine Schulter.

„Und?“ fragte ich, „was sagt er?“

„Ich weiß nicht“, lachte sie leise, „ich kann ihn nicht verstehen, wenn du nicht die Klappe hältst.“

Nun stimmte ich auch in ihr leises, raues Lachen ein.

Und dann setzte Schweigen ein.

Quälend langes Schweigen, in dem nichts mehr zu hören war, als unsere beiden Herzen im gleichen Takt gegen die stürmischen Böen schlagen.

Da wurde es mir klar.

In diesem Herzschlagaugenblick wurde mir klar, dass ich sie liebte.

„Ich liebe dich“, flüsterte ich leise in den Wind hinein, in der Hoffnung sie würde es hören.

Sie verkrampfte und deutlich spürte ich das aufkommende Unbehagen, die vergessenen Wörter und die verstummten Antworten in der Luft belasteten uns.

„Ich kann nicht lieben- nicht mehr“, sagte sie und blickte mich wehleidig an.

Ich lachte auf: „Lieben ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nicht.“

„Ja, aber was“, ihre Stimme wurde brüchig, „was ist, wenn ich es nie gelernt habe.“

„Ich bringe es dir gerne bei“, beruhigte ich sie und spürte, wie sie sich fallen ließ.

Sie liebte mich zwar noch nicht, aber sie verfiel mir.

 

 

Dennoch war nach meiner Rückkehr und ihrem Geburtstag etwas anders.

Ich verstand, dass Mary ein anderer Mensch war, als die meisten. Mit größeren Ängsten, die niemand jemals sehen sollte- nicht einmal ich- und einem ständigen Druck der eigenen Definition von Perfektion gerecht zu werden.

Und wenn ich diesen Druck von ihr lösen wollte, stritten wir.

Wir stritten so verdammt oft.

Wir stritten mehr, als dass wir normal sprachen.

Unsere Frieden währten meist nur Augenblicke lang, was dem Zeitintervall eines Sommergewitters entsprach.

In diesem Jahr war der Juni bereits unerträglich heiß, sodass es häufig zu Heißluftstauden und somit zu vermehrten Sommergewittern kam.

Leider war die Zeitdauer eines Sommergewitters begrenzt und vor allem kurzlebig.

Den schlimmsten Streit, den wir gehabt hatten, war während eines Sommergewitters.

Wir hätten mit den Donnern weiteifern können.

„Ich liebe dich“, meinte ich erneut, ehe ich sie wieder küsste und ließ eine Pause für Erwiderung.

Das spürte sie.

„Hör auf“, meinte sie und erhob sich von der Matratze.

„Womit?“ fragte ich unschuldig, obwohl ich mir ihres Anklagepunkts mehr als bewusst war und erhob mich ebenfalls

„Du weißt genau, was ich meine“, sagte sie tonlos und verschränkte die Arme vor der Brust.

Ich sah ihr in die grauen Augen.

Wenn diese dunkler werden würden, würde es hässlich werden.

„Dass ich meiner Freundin sage, dass ich sie liebe?“ fragte ich und richtete mich ebenfalls auf.

Ein Donner krachte in der Ferne.

„Sag das nicht!“ fauchte sie und hielt sich schmerzverzerrt den Kopf, „vor allem nicht in meiner Glückssekunde- dem Sommerregen.“

„Was?“ schürte ich das Feuer, „du musst dich präzisieren: ‚Freundin‘ oder ‚ich liebe dich‘.

„Du weißt“, brodelte sie, „dass wir das niemals offiziell gemacht haben!“

„Ich weiß!“ platzte es knurrend aus mir heraus, „ich kenne weder deine Freunde, noch deine Familie. Dass du einen Bruder hast, hab ich durch Zufall erfahren! Ich war noch nie in deinem Zuhause. Was ist überhaupt mit deinem Vater? Lebt er noch, ist er tot? Du verlierst nicht ein Sterbenswort über ihn, nur über deine Mutter! Wer bist du überhaupt?!“ brüllte ich nun.

Sie zuckte zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und krallte ihre Fingernägel in ihre Armbeugen.

Mary Sue weinte nicht.

Niemals, das würde eine Schwäche bedeuten- dessen konnte ich mir im Gegensatz zu allem anderen sicher sein.

Ich sah, wie ihr Körper bebte.

„Du verdammtes Arschloch! Du hast keine Ahnung!“

„Eben!“ schnaufte ich wutgeladen, „ich habe keine Ahnung, von nichts aus deinem Leben!“

Ein erneuter Donner begleitete unseren Streit.

Plötzlich hechtete sie auf mich zu: „Du bist ein Idiot. Ich hasse dich. Ich hasse dich, dass du all das willst, genau das, was ich dir nicht geben kann. Akzeptier mich- so, genauso, wie ich bin. Verstehst du denn nicht, dass ich es nicht kann!“ sie versuchte mich zu schubsen, während sie zwanghaft gegen die Tränen ankämpfte, nachdem sich vereinzelte Schluchzer aus ihrer Kehle gestohlen hatten, „du willst zu viel! Viel zu viel. Du willst, dass ich dir all das gebe, was ich nicht mal für mich selbst übrig habe! Vertrauen, Liebe, Akzeptanz, Verständnis! Du verdammtes Arschloch!“

Das Schluchzen übermannte sie, dennoch schlug sie weiter auf mich ein.

Während der Zorn über meine blauen Augen leckte, an meiner Oberfläche auszubrechen drohte, wehrte ich sie ab und hoffte sie würde sich beruhigen.

Der Regen ergoss sich, prasselte gegen die Scheibe und für den Bruchteil einer Sekunde war es das einzige Geräusch neben ihrem schnaufenden Atem.

Sie weinte nicht.

Aber sie gab auf.

Erschöpft sie ließ sie fallen, nicht für mich, sondern zu Boden.

Dort wo sie brach.

 

Exakt fünf Stunden, siebenundzwanzig Minuten und vierunddreißig Sekunden saß sie an der Stelle, ehe sie zu mir kam und sich zu mir ins Bett legte.

Regungslos hatte sie die Zeit über gesessen, ebenso regungslos lag sie nun eine Armlänge von mir entfernt.

Mir war klar, was das alles bedeutete.

Ihre Worte hallten wie ein Echo in meinem Kopf.

Aus dem stummen, passiven Hilfeschrei ihrer Erscheinung wurde etwas Greifbares und ich war überfordert- ich schämte mich.

Für sie war es eine unmenschliche Überwindung.

Ich wusste, was es für sie hieß, dass sie nicht ging, sondern blieb, dass sie zu mir kam und nicht anders herum.

Ich zog sie zu mir, ganz nah, sodass ich ihren Herzschlag auf meiner Haut und durch meinen Körper schlagen spürte.

„Ich liebe dich“, hauchte ich.

„Ich weiß“, sie umgriff fester meine Hand, die ich vor ihrem Bauch verschränkt hatte, „und glaub mir, ich würde es so gerne zu dir sagen. Aber da ist dieser minimalistische Abstand. Dieser Abstand von einem Millimeter.

 Ich liebe dich so, wie man einen Menschen mit einem Millimeter Abstand lieben kann, aber ich weiß, dass ist nicht genug. Und ich weiß, dass es niemals genug sein wird. Das ist die Bürde meines Lebens“, lachte sie ironisch, ehe sie wieder ernst wurde, „du verdienst jemanden, der dich ganz liebt, vollkommen und bedingungslos. Mit seinem ganzen Herzen und seiner ganzen Seele- und selbst da bin ich mir nicht sicher, ob ich diese besitze. So jemanden verdienst du.

Du brauchst jemanden, der dich niemals enttäuscht.

Nicht so wie mein Vater mich, meine Mutter, ja meine ganze Familie enttäuschte. Wir leben in den Outblocks, weil er nicht zahlt.

Er hat Geld, aber er teilt es nicht mit uns, dass ist der Grund, wieso ich niemanden zu uns einlade- und ich weiß, vor dir sollte das nicht zählen- aber es ist so, als wäre es in meine DNA übergegangen- dieses Verstecken, dieses Schützen.

Er hat mein Vertrauen sooft auf die Probe gestellt und es mich mit jedem Male mehr verlieren lassen, sodass ich heute niemanden mehr trauen kann.

Es tut mir so leid, aber es ist so.

Damals ist viel in mir kaputt gegangen.

 Er schenkte mir nicht die Aufmerksamkeit, die ich mir wünschte, war nicht da, wenn ich ihn brauchte und hatte im Grunde genommen keinerlei Interesse an mir. Es ist schwer einen Fremden zu lieben, auch wenn in ihm das selbe Blut fließt.

Also habe ich einfach damit aufgehört und irgendwie wurde es leichter.

Siehst du, und ich will dich nicht damit reinziehen. Vielleicht sollte ich es, aber ich will nicht.

Und bitte verstehe das.

Vergiss nicht, dass ich dich mit diesem Millimeterabstand liebe, ja?“

„Ja“, meinte ich tonlos.

Sie drehte sich zu mir um, küsste mich, schleppend, quälend-langsam, zögerlich und dann brennend heiß. Ihre Lippen wurden wieder zum Heroin für mich- und ich vergaß mich.

„Du bist ein Mensch wie ein Sommergewitter. Du bist meine ganz persönliche Glückssekunde.“

Der Abhängige, der ich wegen und von ihr wurde, schnitt ihr, mit dem Kuss, das Wort und sie ließ es zu.

 

 

Und das.

Dieser Moment.

Dieser Augenblick.

Diese verdammte, kurze Glückssekunde war es.

Da wo sie vollkommen Mensch und nicht Eiskönigin, nicht Herrscherin der Schule, nicht Mary Sue, sondern einfach nur Mensch war, war ihr Abschied von mir.

In diesem Streit gestand sie sich zum ersten Mal, alle ihre Defizite ein, in ihrem Abschied war sie vollkommen ehrlich, absolut aufrichtig.

Und in diesen fünf Stunden, siebenundzwanzig Minuten und vierunddreißig Sekunden beschloss und plante sie es.

Am 19. Juli erschoss sich dann meine Mary Sue.

 

Am 22. Juli wurde ich in ihre Schule bestellt, um über sie zu sprechen, um ihren Tod zu erklären, den ich selbst nicht verstand und es doch irgendwie tat.

 

 

 

 

Kapitel 11: "Ich bin Mary Sue"

 

Ich frage mich, ob es seltsam wird.

Also es zu lesen, weil ich meine, ich werde dann wohl so was wie tot sein.

Aber es wird nur für euch seltsam sein, also kann ich wohl damit leben.

Haha, Wortspiel.

Ich schätze dafür wird es in eurem Trauerstadium noch zu früh sein.

Somit entschuldige ich mich, aber wohl die wenigsten von euch haben wohl geglaubt, ich könne auch humorvoll oder lustig sein.

Es muss wirklich amateurhaft wirken, was ich hier fabriziere, aber ich habe auch noch nie zuvor einen Abschiedsbrief geschrieben.

Dennoch werde ich jetzt ernst:

 

Der menschliche Verstand ist oftmals zu simpel angelegt, um das Chaos zu erkennen, dass er mit seiner Leichtsinnigkeit anrichtet.

 

Und genau hier liegt das Problem der Gesellschaft.

Es ist leicht Menschen zu brandmarken, einfach sie in Kategorien zu unterteilen und sich nicht dem Individuum zu widmen, weswegen es gerade mühelos ist, sie der Kontrolle zu unterwerfen.

Ein Eingeteilter bewegt sich selten aus dem Rahmen seiner Bedingungen, dringt selten auf fremdes Terrain und setzt sich noch viel seltener in der neuen Umgebung ab- Integration mal außen vorgelassen.

Genau aus diesem Grund frage ich mich manchmal, wie es dann zu all dem kommen konnte.

Als Freshman war ich unbekannt- ein Außenseiter-, als Sophomore wurde ich interessant- ein Initiant-, als Junior war ich drin- ein Insider- und spätestens als Senior war ich der personifizierte Mittelpunkt– die Queen B-.

Ich habe meine eigentliche Brandmarke abgelegt, sie gegen neue eingetauscht.

Dass gelingt nicht jeden, und ich es war auch beinahe unerträglich.

Es ist schwer, glaubt es mir.

Es ist schwer der Außenseiter zu sein, es ist schwer der Initiant zu, der Insider und es unglaublich schwer die Queen B zu sein.

Allerdings habe ich begriffen, dass ich ein Nichts sein muss, um Alles zu werden.

Ich erinnere mich dunkel an eine Sophomore-Hausarbeit, wegen welcher ich ein Gedicht verfassen sollte.

Die letzte Zeile lautet ziemlich genauso: Der Mensch ist alles, der Mensch ist nichts.

Nur wer nichts ist, kann alles und jeder sein.

Wenn du erst einmal jemand bist, ist es schwer dieses Brandmark loszuwerden, weil du nicht mehr nichts bist. Kein unbeschriebenes Blatt mehr.

Meine Motivation damals war es alles zu sein.

Nichts war ich schließlich schon.

Oft bin ich davon überrascht, dass es so ausgeartet ist.

Ich glaube,  allerdings dies liegt vor allem an euch.

Es war nicht alleine meine Schuld.

 Ich habe die Entscheidung getroffen, Alles zu werden, aber ihr habt mich dazu gemacht.

Ich denke nicht, dass es daran lag, dass ich ein so wunderbarer Mensch, so eine atemberaubende Schönheit oder so eine weise Beraterin war, dass ich ihr mich so vergöttert habt.

Ich glaube, ich war für euch viel mehr ein Erfolgssymbol.

Als Freshman kannte mich niemand, als Senior würde  mich niemand mehr vergessen.

Ich denke, das hat euch Hoffnung gegeben.

Hoffnung, dass es jeder schaffen kann.

Jeder, der bereit ist alles zu geben.

Doch mittlerweile habe ich gelernt, dass Alles ein verdammt hoher Preis ist.

Ich habe ihn bezahlt und ich habe über Macht verfügt.

Macht, die ich ausgenutzt habe und deren Missbrauch ich heute bedauere.

Ich weiß, ich habe viel ruiniert mit den wenigen Worten, die ich tatsächlich gesprochen habe.

Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung, denn unter diesem viel  fasse ich auch Leben auf, ganze Schullaufenbahnen, weil ich die Menschen gebrandmarkt habe.

Und ihr seid meinem Urteil blindlings gefolgt.

Zu spät habe ich das begriffen und eine Chance als ein Vorbild zu agieren gesehen, aber das wolltet ihr auch nicht.

Ihr wollte jemand, der euch bestimmte, jemand der euch kategorisierte, jemand, den ihr hassen konntet, jemanden, den ihr lieben konntet- jemand der das Alles war.

Und ich habe mich blenden lassen, mich in der von mir eigens erschaffenen Illusion verloren, die ihr gefüttert habt.

Es ist leicht jemand zu sein, den man sich vorstellt, aber es verdammt hart jemand zu sein, der es wirklich ist.

Ich habe in dieser Entwicklung, dieser Entwicklung in die Finsternis, Menschen kennengelernt, die einerseits Sein anderseits nur Schein waren:

 

Candice Fields- zeigte mir, wie blauäugig ein Mensch in dieser bunten Welt eigentlich sein kann.    

 

Jerry Smith-    wenn ich an ihn denke, wird mir heute noch schlecht.

Ich habe nie geglaubt, dass man einen Menschen so abgrundtief hassen könnte.

Ich hasse Jerry Smith  allerdings nicht allein dafür, dass er mir diese grausame Sache angetan hat, sondern, dass er mich vergötterte.

Dabei liebte er mich nicht, sondern liebte die Illusion von sich selbst, die durch mich Gestalt annahm.

Ich hasse ihn dafür, dass er versuchte in mir, sich selbst zu suchen.

 Er ist ein Egoist- der womöglich Größte, der auf Erden wandelt.

Und doch muss ich ihm wohl dankbar sein, denn auch er machte mich schlussendlich zu dem, was ich wurde.

 

Beven Smith-   ist mir in vielerlei Hinsicht ein Freund, in vielerlei allerdings auch ein Feind.

Sie machte aus mir das, was sie unter Perfektion verstand.

Leider war es nicht die Imperfektion, die ich sein wollte, sondern die nackte Arroganz.

 Und in diesen Zeiten war sie mein Freund.

Aber in den Zeiten, in welchen sie sich unbeobachtet fühlte und ihren Gesichtsausdruck verlor, wurde sie mein Feind.

Nie ein offensichtlicher, der die Hand gegen mich erhob, sondern immer ein versteckter, der sich nicht traute anzugreifen.

Sie fürchtete sich immer von der Macht, die ich gewann, denn ich stahl sie von ihr.

Auf etwas, das ich nicht gerade stolz bin, aber ein Charakterzug wurde, den sie mir lehrte und der sich verselbstständigte.

Frankensteins Monster oder, Beven?

 

Elay Shawn- in ihn verliebte ich mich.

Überall flogen Schmetterlinge herum, mir wurde schlecht, heiß und kalt gleichzeitig, wenn ich ihn sah.

Ein wunderbares Gefühl, das sich wohlig warm in meinem Körper ausbreitete.

Elay ist ein Mensch, den man kennen sollte.

Jeder sollte einen Menschen wie Elay getroffen haben.

Er blickte einem in die Seele, wenn er auch nicht darin zu lesen wusste.

Aber ich wusste, für Elay, war ich nicht mehr ein Anlaufpunkt seiner verwirrten Gefühle, die den Weg nicht fanden- ein Wegweiser.

Vielleicht einer mit einer kleinen Bank, an der man sich eine Rast gönnte.

 

Marc Barrymore- lehrte mich, wie man das Glück im Augenblick fand und dieses Sekunden-Glücklich-Sein genoss.

 Ich kannte ihn nicht gut.

Die zwei Male, in denen wir uns begegneten, waren allerdings übersät mit Glückssekunden.

 Er küsste mich, ich küsste ihn, wir wussten nicht mehr, wer begonnen hat- und als ich das nicht mehr wusste, war ich glücklich.

Seit ihm verbinde ich jedes Sommergewitter mit Glücksgefühlen.

 Für einen Moment fühle ich mich  frei, wenn ich den Regen auf dem heißen Asphalt rieche, die Wärme auf meiner Haut spüre, das sanfte Nass.

 Und dann doch, ist es sofort wieder vorbei.

Dann bin ich nicht mehr ruhig, sondern in der Bewegung- auf der Suche nach neuen Sommergewittern, neuen Glückssekunden.

 

Erica Santiego- der wohl glückseligste Mensch der Welt.

 Ein Mensch mit einem Strahlen im Gesicht.

Durch Erica lernte ich die Welt in einem anderen Licht zu sehen, wenn es mir auch nur selten gelang.

 Sie gab mir das Gefühl, dass alles gut werde.

Doch hin und wieder, fürchtete ich mich auch einen Augenblick vor ihr.

Mit ihrem Eintreten in mein Leben gab es atemlose Momente, in denen ich glaubte, mit ihr, würde ich nutzlos werden.

Unbegründete und doch unablässige Gedanken.

Ein menschlicher Sonnenschein.

Auf das sie immer strahlen wird!

 

Anderson-  die wunderbare Chloe Anderson.

Ein Mensch, der weiß, wer er ist, auch wenn er ab und an nicht weiß, wer er sein will.

Ein Mensch mit einem vorlauten Mundwerk, ein Mensch der nur unter Freunden lustig ist- da wo er sich wohl fühlt.

Sie sah es immer, jedes Mal in meinen Blick, in meiner Erscheinung, selbst in meinem Atemzug- mein Unglück.

Ein Mensch, der sich immer durch sich selbst und nie durch andere definierte.

 

Ryan O’Connar- über ihn könnte ich Bücher schreiben und Balladen verfassen.

Ich habe ihm alles gesagt, was er wissen muss und ich hoffe, dass er sich genauso jemanden findet, der so wundervoll ist wie er selbst.

Ryan verdient das.

 Ryan verdient Alles auf der Welt.

Und nicht so ein Alles, wie ich war.

 Sondern ein Alles mit allen guten Eigenschaften des Mensch-Sein. Einen Mensch mit einer Seele.

Ryan O’Connar, du weißt, wie ich für dich empfinde.

Du warst das hellste Licht in meiner Finsternis.

Was ist schon ein Millimeter in den Weiten der Unendlichkeit?

 

 

Ich bin ziemlich früh im Leben kaputt gegangen.

 Wie in Fehlstart zündete ich ins Leben, ohne mir über meine Reserven klar zu sein, meine Funktionsfähigkeit zu prüfen.

Ich weiß, dass ich viele andere belogen habe, aber niemanden habe ich so sehr belogen, wie mich selbst.

Immer tat ich so, als würde ich meine eigenen Fehler nicht sehen, während ich gerade dabei war genau diese abzudecken. Du kannst etwas nur verstecken, wenn du ganz genau weißt, was es ist.

Ziemlich lange habe ich versucht mir einzureden, dass ich stark sei.

Das ist genau so sei, wie ich sein sollte.

Rückblickend betrachtete war das die größte Lüge, die ich mir selbst erzählte.

Mir wurde klar, dass ich der formbarste Charakter dieser Personen war.

Ich glitt durch die Hände der Gesellschaft und passte mich jeder Begebenheit an.

Und als ich sie mir eingestand, all meine Fehler, meine Defizite, meine Lügen, meine grausamen Taten, starb ich unter dieser Last.

Ich konnte sie nicht mehr auf meinen Schultern tragen und war noch immer zu stolz, um Hilfe zu erbitten, weil ich mich noch immer fürchtete.

Als ich mir überlegte, wer ich einmal sein wollte und wer ich wirklich geworden war, wurde mir eine elementare Sache bewusst: Ich war nicht mehr ich selbst.

Und somit wurde alles, was ich tat, fühlte und dachte zu Gedanken einer Fremden, deren Gesicht im Spiegel ich nicht zu erkennen wusste.

Es war nicht allein die ständige Aufmerksamkeit, die mich in den Wahnsinn trieb, nicht die Angst ungenügend zu sein, nicht einmal allein die Vernachlässigung meines Vaters, die das Fass zum Überlaufen brachte, sondern die Tatsache, dass ich, als ich aufhörte mich zu fühlen, aufhörte zu leben.

Ich war tage-, wochen- womöglich jahrelang als leere Hülle gelaufen, die sich bereits verloren hatte.

Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem ich Ryan traf.

Er brachte, den Millimeter in meinem Körper, der mich noch ausmachte, wieder zum Vorschein.

Und so konnte ich für einen gewissen, kurzweiligen Zeitraum wieder ich selbst werden.

Aber man kann schließlich nicht ewig mit einem Millimeter leben, oder?

Ich kann es jedenfalls nicht- nicht mehr.

Es nimmt mir die Luft zu atmen und ich will nicht leben, ohne lieben zu können.

Schließlich dachte John Lennon, es wäre die Liebe, die uns alle rettete.

Wenn ich nicht lieben kann, wäre ich dann nicht sowieso hoffnungslos verloren?

Mit meinem Tod will ich  euch eine Chance geben, wenn es auch grotesk klingt.

Ich will euch, und vor allem dir, Ryan,  alles ermöglichen, was du verdienst und du mit mir nie bekommen hättest.

Du bist so viel mehr

und deswegen verdienst du auch so viel mehr.

Ich habe mich über das Sterben erkundigt, natürlich.

Dabei bin ich auf das System der Trauerbewältigung gestoßen.

1)           Schock

2)           Kontrolle der Emotionen

3)           Auseinandersetzung mit der Trauer

4)           Anpassung: zurück ins echte Leben, Fähigkeit zum Eingehen neuer Beziehungen

 

Ihr solltet euch darauf einstellen, dass eurer Leben weitergeht.

Ich glaube, viele haben ihr Leben sowieso zu sehr auf meines ausgestützt.

Wenn ich gehe, habe ich nicht das Gefühl, als würde ich verschwinden, sondern viel mehr, dass zu etwas Glücklicherem werden, als ich es jetzt bin.

Vielleicht werde ich jeder Sommerregen sein, den ihr auf der Haut spürt.

Vielleicht werde ich in jeder Glückssekunde aufleben.

Dies sollte meine Form der Reinkarnation werden, sollte ich über den Besitz einer Seele verfügen.

Ich kann mir denken, dass viele Menschen nicht verstehen und mich womöglich nicht verstehen wollen.

Einige werden glauben, wenn sie es auch nicht zu geben, dass ich es tue, um nicht vergessen zu werden.

Dass ich mich für den ewig und immer währenden Ruhm, welcher mich bestimmt und mich zum Ende führte, aus dem Leben nahm.

Aber nein, ich tue es nicht wegen Ruhm, nicht wegen dem Vergessen werden, nicht weil einige mich so sehen wollen, sondern auch viel mehr auch, um ein Mahnmal zu sein.

Es ist nicht mein Wunsch, für immer in den Gedanken zu bleiben…wenn ich es auch vielleicht bin, aber ich will euch zeigen, was passiert, wenn man sich selbst auf- und somit anderen übergibt.

Dass man daran auseinander bricht, wenn jeder einen anders sehen will, während man versucht für alle perfekt zu werden.

Ich weiß, dass einige trauern werden und womöglich sich die Schuld geben, aber das müssen sie nicht.

Ich bin es, die ganz allein und ausschließlich ich, die meinen Tod verschuldet und den Abzug drückt.

Ryan- mein süßer, liebster Ryan.

Ich weiß du hast es gesehen, du es gehört und du hast sogar in den Küssen geschmeckt- wie sehr ich dir verfallen war, wie bedingungslos ich mich in dich verliebte, wie ich dir langsam entglitt.

Ich würde gerne sagen, dass es anders ist, dass die Liebe zwischen uns, mich hätte retten können, aber… es ging nicht.

Ich, ich ging nicht.

Ich war das Zahnrad unserer Zweisamkeit, das sich in die falsche Richtung drehte...

Eigentlich habe ich nicht gedacht, dass sich Sterben so anfühlen würde.

Gerade in diesem Moment schließe ich das letzte Stadium- Akzeptanz- ab, doch ist bereits davor klar geworden:

Ich bin mein Leben lang gestorben.

Eine Weile danach, als dies in meinem Bewusstsein verarbeitet wurde, überlegte ich mich, wie ich nun endgültig sterben könnte.

Es war seltsam, seltsam befreiend, seltsam, dass es doch ein wenig beängstigend war, wenn ich daran dachte.

Ich werde mich erschießen.

Es erfordert Mut für den Abzug, und oh Gott, bitte sagt nicht, ich wäre mutig, weil ich mich umbrächte- ich bin sogar verdammt feige.

Aber eine Kugel im Kopf würde alle Gedanken auslöschen, alles was ich jemals gewesen und nicht gewesen bin, nichtig machen.

Mit der Wucht würde vielleicht endlich meine Maske zersprengen, die ich so ewiglange in meinem Gesicht trug.

Vielleicht würde es sogar einmal ein aufrichtiges Funkeln hinter meinen seelenlosen Augen geben.

Ich werde mich vollends zerstören- und frei sein.

Und ich will dort sterben, wo niemand außer mir jemals gewesen ist.

 

Jetzt- nun ja- jetzt

Werde ich mich verabschieden.

 

Ich wünsche euch ein Leben, indem ihr euch selbst bestimmt.

 

-Mary Sue.

Epilog.

 

Ryan O’Connar saß den drei anderen bewegungslos gegenüber.

Seine Miene war ausdruckslos und dennoch lag ein wütender Schimmer hinter seinen Augen verborgen.

Die drei Personen ihm gegenüber, fühlten ausschließlich Trauer.

Niemand sagte etwas, aber wie mit einem unsichtbaren Zeichen signalisiert, erhoben sie sich.

Die Rektorin schwankte, der Psychologe stalkste und der Anzugträger schritt- gedankenverloren und die Welt vergessend.

Nur Ryan blieb und starrte aus dem Fenster.

Seine Wunde war zu frisch und wenn sie wieder bluten würde, würde er sie womöglich nicht mehr stillen wollen.

Also blieb er zurück.

Sein Blick floh ihm auf den Zettel, welcher vor ihm lag. Die geschwungene Handschrift enthielt die letzten Tropfen Leben seiner Liebe- Mary.

Hastig richtete er seinen Blick wieder aus dem Fenster. Starr und schwach.

Er wusste, wo dieser Ort war, an dem sich Mary Sue erschoss und aus diesem Fenster, konnte er ihn in der Ferne erahnen.

Sie hatte ihm einmal davon erzählt, als er sie von der Schule abholte.

 

Sie sah wirklich gut aus, wie sie auf mich zu trat.

 Mit großen Schritten in dem kurzen Kleid.

Aber viel mehr war es das schüchterne Lächeln, das sie mir zu warf, was sie so schön machte.

„Hey“, ich schloss sie in die Arme, in welche sie sich warf.

„Es war langweilig heute“, berichtete sie mir und löste sich, „wir hatten heute ein Gedicht über einen geheimen Ort.“

„Ich weiß gar nicht, was du hast“, lachte ich, „ ein geheimer Ort klingt doch wunderbar.“

Plötzlich wendete sie den Kopf und sah in meine Richtung, hoch in den Hang.

„Ja, ich habe auch einen geheimen Ort.“

„Verrätst du mir wo dieser sein soll?“

Sie nickte, schüttelte aber auch gleich daraufhin den Kopf: „Du kann ihn von hier aus beinahe sehen, aber du darfst  nicht dorthin gehen.“

„Wenn du anfängst in Reimen zu sprechen, sollte ich mich wirklich hüten oder?“

„Idiot. Dort hinten ist eine Lichtung im Waldstück, es liegt auf gleicher Höhe wie das Love-to-die, und liegt diesem genau gegenüber,  aber auf dem anderen Hang der  Stadt..

 Es ist der einzige Ort, wo es wirklich hell ist, wo es immer hell zu sein scheint, selbst wenn der Rest in Finsternis untergeht.“

 

Ryan O’Connar wendete den Blick, als er hörte wie man die Tür öffnet

Ein kleiner Raum mit winzigem Fenster, durch dass das seicht-rote Abendlicht floss und ihn verfärbte, beherbergte einen Sitzkreis aus teils schlafenden Schülern. Die wachenden Personen sprachen kein Wort miteinander, sondern hingen allen ihren Gedanken hinterher.

Ihnen war bewusst, dass etwas geschehen war.

Vielleicht hatte Mary Sue einen Unfall, den einer von ihnen verschuldete..

Der glatzköpfige Psychologe räusperte und strich sich nervös über den Kopf, ehe er sprach:

„Ihr habt euch mit Sicherheit gewundert, warum ihr alle hier seid.“

Er sah nickende Köpfe.

„Wir haben mit euch allen über Mary Sue gesprochen. Und dafür gibt es einen Grund.“

„Vor einigen Tagen“, sprach nun die Rektorin gebrechlich, „hat mich ein Brief erreicht.“

Der Anzugträger zückte einen hellblauen Umschlug, war allerdings sonst vollkommen unbeteiligt.

„Dabei…“ der Psychologe stockte, „handelt es sich um den Abschiedsbrief von Mary Sue.“

„Was?!“ Chloe Anderson platzte entsetzt aus, ehe sie sich in ihren Tränen verlor.

Ihr Schluchzen ließ den Raum in seinen Grundfesten erzittern.

„Mary Sue, 18 Jahre, hat sich am 19. Juli erschossen. Sie starb sofort.“

Die Erwachsenen zogen sich zurück, vielleicht, weil sie selbst diese Trauer nicht vollständig erfassen konnten und gingen.

Ryan O’Connar nahm den Blick aus dem Fenster und hörte, wie der Raum neben ihm in Schluchzen, Tränen und wütender Nichtakzeptanz versank.

Er fühlte nichts als er an ihm vorbeischritt.

Sein Kopf war noch immer leer, sein Herz und Verstand taub- für jeglichen Schmerz, für alle Mitleidsbekundungen.

Als er allerdings aus dem Schulgebäude trat, sah er sie.

Sie lächelte ihn an und er sah in ihren Augen warmen Glanz scheinen.

Er lächelte ihr ebenfalls zurück, spürte wie sein Herz wieder zu schlagen begann.

Während er die Augen schloss, verstand er.

Und für den Bruchteil einer Sekunde, einer Glückssekunde, war er glücklich und spürte sie.

 

 

Nachwort

 

Der geheime Ort

 

Es ist dort,

lautlos an meinem Ort,

Da ist niemand und nichts,

kein Geräusch

in Hör und Sicht.

 

Man sagte mir,

es wär ein Raum,

mit Wänden vier.

Ich schütt‘ den Kopf,

seh und hör,

wie jemand pocht.

 

Ganz klamm und heimlich,

scheinbar unvermeidlich,

dringt er ein.

 

Jetzt kann mein Ort,

oh weh,

kein Geheimnis sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zusatzinformationen&Widmung

Definition Mary Sue:

 

(Für die Idee zu dieser Geschichte bin ich überhaupt erst gekommen, weil jemand in einer meiner Geschichte gesagt habe, meine Protagonistin wäre zu mary-sueig. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete und jagte ‚mary-sueig‘ durch Google, wodurch ich  auf Mary Sue gestoßen war.)

 

Mary Sue ist also oftmals eine überzogene, perfektionierte Version einer Autorin selbst.

Sie verfügt über alle Vorzüge des Lebens im Übermaß: fantastisches Aussehen, Geld, Macht und einen großen Bekanntenkreis.

Sie ist zentraler Mittelpunkt der Geschichte, als auch im Leben der Figuren, welche sich ihr alle unterordnen.

Sie ist zudem allen Personen in jeglicher Hinsicht überlegen, sei es Wissen oder Fähigkeiten.

 

Wie man sieht, habe ich versucht möglichst  häufig dieses Klischee aufzugreifen und Mary Sue in den Augen der anderen auszustatten.

Natürlich versuche ich vor allem diese Vorstellung einer wandelnden Personifikation auf die Schippe zu nehmen und lasse unter diesem ganzen Schein nur eine Mary-Sue-Hülle um meine Protagonistin entstehen.

 

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die zeitliche Einordnung der Geschichte nicht sonderlich einfach nachzuvollziehen ist, also habe ich sie hier noch einmal aufgelistet:

 

Kapitel 2( Candice Fields): zu Beginn des Senior-Jahres( 12. Klasse), 17 Jahre.

Kapitel 3( Jerry Smith): zu Beginn des Junior-Jahres (11.Klasse) 16 Jahre.

Kapitel 4 (Beven Smith): zu Beginn des Sophomore-Jahres (10. Klasse) 15 Jahre

Kapitel 5( Elay Shawn): Winter des Junior-Jahres( etwa 2 Monate nach Jerry Smith), 16 Jahre

Kapitel 6 (Marc Barrymore): Ende des Sophomore-Jahres (nach Beven): 15 Jahre

Kapitel 7 (Erica Santiego): Frühjahr Senior (etwa Januar/Februar/März): 17 Jahre

Kapitel 8 (Chloe Anderson): eher zu Ende des Senior Jahres (Mai): 17->18 Jahre

Kapitel 9( Rosa Miller): Flashback in Kindheit

Kapitel 10 (Ryan O’Connar): Februar/März- Juli ( Senior): 17/18 Jahre

 

Zu Marys Todesdatum ist auch noch zu sagen, dass die Original-Mary-Sue aus einer Comic-Ausgabe entstammt und unter tragischen Umständen den Tod findet.

Diese Ausgabe erschien 1974-> 19. 7 ->19. Juli

Ich kann jetzt eigentlich an dieser Stellt nur noch sagen, wie sehr ich mich freue, dass ich du mein Buch bis hierher gelesen hast!

Ich hoffe wirklich es hat dir gefallen und ich würde  mich sehr über einen Kommentar freuen.

Ich widme diese Buch eigentlich allen Leser und meiner Familie und Freunde, deren Charakter lose (in einige Fällen) sehr sehr lose auf dem wirklichen Charakter meiner Freunde basieren.

Manche Situationen und Ängste Mary Sue basieren ebenfalls sehr lose auf persönlichen Erfahrungen.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen allein bei der Autorin( Annie Nymous) und eine Weiterverwendung bedarf es der schriftlichen Genehmigung durch die Autorin
Tag der Veröffentlichung: 10.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

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