Prolog – Die Katastrophe von Xihuitzin
-Das Jahr 155 der Herrschaft des Hauses Belfare
Grégoire Bernardet, kaiserlicher Abgesandter und Botschafter seiner Majestät Kaiser Domenicus Belfare für die Xihuitzin-Expedition kroch durch den Schlamm. Wären die Umstände anders gewesen, er hätte Lauch geflucht wie er es sich auf den langen Monaten der Expedition zu Eigen gemacht hatte. Über das Klima, über die verdammten Insekten, über den Dschungel über die Echsen und Spinnen und was es hier sonst noch gab... Jetzt jedoch hätte er einiges dafür gegeben, wenn sein größtes Problem wenn sein größtes Problem eine neugierige Riesenspinne auf seinem Rücken gewesen wäre. Schwer atmend richtete er sich wieder auf, stolperte einige Schritte und fiel erneut hin. Einer seiner Männer, einer der wenigen, die ihm verblieben waren, fiel direkt neben ihm… einen dünnen Blasrohrpfeil im Hals. Er würde nicht wieder aufstehen. Grégoire jedoch kroch, stolperte und hinkte weiter, so gut es der schlammige und von Wurzeln überwucherte Boden erlaubte. Die Regenfälle der letzten Tage hatten den Boden aufgeweicht und fast ungangbar gemacht. Die Pferde hatten sie schon vor Stunde zurück lassen müssen. Das Blätterdach über ihm lies nur wenig Sonnenlicht bis zum Boden gelangen und die Schatten schienen vor seinen Augen zu tanzen. Ein weiterer Mann fiel neben ihm, die blau-goldene Livree des Kaiserreichs Blutdurchtränkt, als ihn etwas in der Brust traf. Wie viele hatte er gehabt, als sie in die Wälder geflohen waren? Fort von den lebenden Steinen? Ein Musketenschuss ertönte gefolgt vom stumpfen Geräusch eines Pfeils, der sich in Fleisch bohrte. Es konnten nicht mehr viele übrig sein, so viel stand fest und Grégoire vermied es sich umzusehen. Nur raus aus dem Wald…raus aus dem Zwielicht und weg von den Kreaturen aus lebenden Stein und der unmöglichen Stadt und…
Etwas traf ihn. Unverhofft und hart du er landete erneut im Matsch, versuchte hoch zu kommen,
stellte jedoch fest, dass seine Glieder ihm nicht gehorchten. Die Schatten, die um ihn getanzt hatten, lösten sich auf, als erst einer, dann zwei, dann immer mehr Gestalten aus dem Dschungel auftauchten. Der Schmuck aus Federn und Steinen, den sie an ihren fein gewebten Kleidern trugen ließ sie fast eins mit der undurchsichtigen Vegetation werden, genauso wie die dunklen Farben auf ihren Gesichtern. Aber es waren Menschen. Grégoire war beinahe erleichtert. Wenigstens würde er durch die Hand von Menschen sterben, nicht von Dämonen mit glühenden, gelben Katzenaugen, wie er sie in den Höhlenartigen Pyramiden gesehen hatte. Er hätte gelacht, wäre er dazu in der Lage gewesen. Was hatte dieses Land nur aus ihm gemacht, das er dankbar für den eigenen Tod war? Er, der in den Hallen der fliegenden Stadt gestanden und mit den mächtigen Gespeist hatte… das schien jetzt so lange her, beinahe unwirklich. Der Mann der jetzt hier im Schlamm lag, wäre an den Tischen der Adeligen Cantons so fehl am Platz gewesen, wie diese in ihren farbigen Roben und goldenem Schmuck hier inmitten des Urwalds. Der Drang zu Lachen jedoch, verging ihm, als einer seiner Fänger sich zu ihm herunter beugte und irgendjemand außerhalb seines Sichtbereichs zunickte. Grégoire schloss die Augen, wartete auf den scharfen Schnitt einer Obsidianklinge, der nie kam. Und als der Grund bebte und Grégoire Bernardet von den Füßen gehoben wurde, schrie er. Er würde nicht hier sterben. Und das hieß er würde zurück gebracht werden. Zurück in die Höhlenartigen Kammern der großen Pyramiden. Zurück zu den Dämonen, die gerade vermutlich das Blut seiner letzten Leibwächter tranken.
Das Jahr 228 der Herrschaft des Hauses Belfare
Cyrus schreckte hoch, als etwas die gesamte Stützkonstruktion des Zelts zum Beben brachte. Klirrend löste sich eine der ausgebrannten Glaslaternen, die von der Decke herab hängen und zersprang am Boden. Er musste nicht fragen, wer sie angriff, während er sich aufrichtete und seine Waffen suchte.
Der Schein von Feuern drang durch den dünnen Stoff der Zeltbahnen, die wenig daran taten, die Feuchtigkeit oder die Hitze des Tages abzuhalten. Die einzige Lichtquellen waren die Flammen draußen und eine fast heruntergebrannte Kerze, die glücklicherweise stehen geblieben war. Der Boden des Zelts war mit Stroh und verstreuten Habseligkeiten übersäht und er brauchte einen Moment um sich im Halbdunkel zu Recht zu finden.
„Ein weiterer Ausfall?“, fragte einer der anderen Männer im Zelt. Sie waren zu siebt. Nur zwei von ihnen kannte er beim Namen. Die übrigen fünf waren erst seit wenigen Tagen hier. Ersatz für die Gefallenen. Cyrus hatte es schon vor einer Weile aufgegeben sich die Namen seiner Kameraden einzuprägen. Keiner von ihnen war so lange hier wie er. Und die wenigsten überlebten lange genug um zu merken, dass er kaum wusste, wie sie hießen. „Verdammt, die Bastarde geben sich nicht leicht geschlagen, das muss man ihnen lassen. Gestern haben sie den Flügel der sechzehnten angegriffen. Sieht so aus als wären heute wir dran.“
„Und geschlagen sind sie noch lange nicht. Also raus da.“ Cyrus fand endlich sein Schwert und die Muskete, die er am Abend zuvor an einem der Pfosten der Hängematte gelehnt hatte. Die Erschütterung hatte das ganze verdammte Ding zusammenbrechen lassen und das allgemeine Chaos in dem viel zu kleinen Zelt noch verstärkt. Während die anderen noch Stiefle zuschnürten und Uniformen knöpften, stolperte der Wolf bereits ins Freie. Die Kleiderordnung der kaiserlichen Garde in den Kasernen und Festungen in Canton mochte streng sein doch hier, auf dem Schlachtfeld, galt vor allem das Überleben. Er riskierte lieber einem mies gelaunten Offizier in die Arme zu laufen als unter einem zusammengebrochenen Zelt begraben zu sein, während die Xihuitzin angriffen.
Die Waffen in der Hand stolperte er ins Freie. Die kühle, schwere Nachtluft schlug ihm entgegen. Es roch nach Teer, aufgeweichter Erde, Blumen die den nahen Dschungel überwucherten und…. Blut.
Cyrus sah sofort, was für die Erschütterung verantwortlich gewesen war.
Die Steinsoldaten. kamen. In langen Reihen, die sich vor der in der Finsternis nur als Silhouette erkennenden Pyramidenstadt aufreihten. Jeder ihrer Schritte erfolgte mit mechanischer Gleichartigkeit und brachte die Erde zum Beben, grub sich tief in den Schlamm des Lagers und zermalmte Palisaden und Zelte unter sich. Und Knochen.
Die Überreste ihrer Nachtwache lief im Schein den Fackeln vor den Kreaturen davon. Ab und an wandte sich einer von ihnen um und feuerte Blind in die Nacht. Musketenkugeln prallten von den steinernen Körpern ihrer Gegner ab, ohne viel mehr als eine Kerbe zu schlagen. Die kleinsten waren nur so groß wie ein durchschnittlicher Erwachsener aber immer noch fast doppelt so breit. Im Dunkeln konnte man nur das sanfte glühen der in ihre Felsenkörper eingelassenen Kristalle sehen. Wie Adern, die jedoch kein Blut transportierten, denn diese Kreaturen lebten nicht, sondern reine, ungebändigte Magie. Die Essenz von Macht. Eine Macht, die der Kaiser wahrgenommen hatte. Und die seine Soldaten zu spüren bekamen.
Cyrus und die übrigen Männer, die einer nach dem anderen aus ihren Zelten gestolpert kamen, eröffneten das Feuer auf die Felsenkrieger. Eine Kugel mochte nicht viel ausrichten, aber einhundert brachten die leuchtenden Kristalle auf den Körpern dieser Kreaturen zum Erlöschen. Die Bewegungen der ersten Reihe der Steinkrieger wurden stockender, je mehr Juwelen zerbarsten und schließlich erstarrten sie ganz, nur um von den hinter ihnen folgenden Monstern zermalmt und zur Seite gestoßen zu werden.
Cyrus begann langsam zurück zu weichen, während andere versuchten ihre Waffen nachzuladen.
Nicht gerade ehrenhaft, aber so überlebte man hier, dachte er. Mit seinen siebzehn Jahren hatte er in den letzten Monaten zu viele Menschen sterben sehen, weil sie versuchten den Helden zu spielen oder ihre Offiziere zu beeindrucken. Die Adeligen, die sich beweisen wollten, waren besonders schlimm. Idioten, die glaubte ihr Blut mache sie irgendwie unempfänglich für eine Kugel zwischen die Augen oder einen Steinfaust die ihnen die Beine brach und sie langsam verblutend im Gras zurück ließ.
Ein Heldenhafter Sturmangriff auf eine feindliche Stellung mochte in die Geschichtsbücher eingehen… aber der Grund dafür war nun einmal, das die meisten solcher Aktionen damit endeten, das die armen Narren in einem flachen Grab im Dschungel landeten.
Einem Mann viel der Ladestock aus den zitternden Händen, als ihn der erste Steinsoldat erreichte und wie eine Fliege bei Seite fegte. Bloß dass eine Fliege nicht dieses widerliche Geräusch von brechenden Knochen und Organen an sich hatte, dachte Cyrus, der die Übelkeit nur schwer unterdrücken konnte. Er ließ die nutzlose Muskete fallen und zog das Schwert und das Messer aus seinem Stiefel. Er hätte auch einen Stock nehmen können, dachte der Wolf aber das Gewicht der Waffe hatte etwas Beruhigendes. Er war nicht ganz hilflos. Gegen die größeren Konstrukte der Xihuitzin konnten selbst die imperialen Kanonen kaum etwas ausrichten, aber von denen hatte er bisher keine gesehen. Dafür jedoch die huschenden Schatten, die ab und an im Licht der magischen Kristalle ihrer Golems sichtbar wurden. Etwas jagte knapp an seinem Gesicht vorbei und blieb zitternd in einer Zeltstange stecken. Ein dünner, gefiederter Pfeil. Cyrus reagierte sofort und schleuderte das Messer in die Richtung aus der der Pfeil gekommen sein musste. Ein Schrei folgte aus der Dunkelheit, dann Flüche und mehr Rufe in einer Sprache die Cyrus nach wie vor nur Bruchstückhaft verstand.
Er machte sich nicht die Mühe nachzusehen ob sein Gegner wieder aufstehen würde. Die schatten haften Jäger Xihuitzins waren selten alleine unterwegs. Stattdessen wich er noch weiter in das Innere des Lager zurück, vorbei an irritiert oder verängstigt dreinschauenden Gesichtern. Viel zu jungen Gesichtern und den steinernen Mienen der Veteranen. Irgendwo schrien eine Handvoll Offiziere Befehle, versuchten die überraschten Männer zu organisieren, während die Felsenkrieger Zelte niederrissen, Pferde aufscheuchten und Menschen durch die Luft schleuderten oder zermalmten.
Wo blieben die Magier? Oder die Artillerie? Ihr Teil des Lagers lag an einem Hang und wenn Cyrus nicht alles täuschte müsste sich eine Anzahl Kanonen auf dem Gipfel des selbigen befinden. Das plötzliche aufflackern von Feuer beantwortete zumindest eine seiner Fragen. Einen kurzen Moment lang war das ganze Lager taghell erleuchtet, als ein Feuerball über die Köpfe der Kämpfenden und Fliehenden hinweg raste und eines der größeren Steinkonstrukte traf. Normale Flammen konnten einem lebenden Fels freilich wenig anhaben, doch magisches Feuer verhielt sich nicht wie gewöhnliche Flammen. Das grünliche Feuer sickerte wie Flüssigkeit in die Ritzen zwischen den quaderförmigen Steinblöcken der Kreatur und sprengte es von innen nach außen. Der entstehende Schrapnellregen zwang Cyrus, sich hinter eines der Zelte in Sicherheit zu bringen. Im nächsten Moment war er auch schon dankbar dafür, als ein Pferd nur wenige Zentimeter an der Stelle vorbei preschte, an der er eben noch gestanden hatte. Aber irgendetwas stimmte damit nicht… Der Wolf rappelte sich wieder auf und sah verdutzt dem Mann auf dem Pferd hinterher, der scheinbar direkt auf die Reihen aus Steinkriegern zuhielt. Auch eine Möglichkeit Selbstmord zu begehen, dachte Cyrus bei sich, als ein weiteres dutzend Reiter aus dem Halbdunkel auftauchten und dem ersten Mann folgten. Ein jeder der Männer führte eine Lanze, an der ein im Dunkeln nicht erkennbares Banner wehte. Cyrus schüttelte den Kopf und fragte sich, welcher übereifrige Offizier diese armen Teufel in den Tod schickte. Was sollte ein Kavallerie-Angriff bitte gegen Wesen ausrichten, die weder Furcht kannten noch ein Schwert fürchten mussten? Die Steinkreaturen waren mächtige Kriegsmaschinen, aber eben nur dies. Maschinen. Sie verfügten nicht über die Intelligenz eines Menschen oder Gejarn. Es waren Zauber, die eine simple Aufgabe verrichteten, entweder bis diese erfüllt oder sie zerstört waren.
Der erste der Reiter, der der Cyrus beinahe erwischt hätte, hatte nun die Felsenkrieger erreicht. Cyrus machte sich bereits auf das Übelkeit erregende Geräusch gefasst, wenn eine der Steinfäuste den Soldaten zwangsweise aus dem Sattel beförderte und seine Knochen brach. Stattdessen zog der Reiter das Schwert. Die auf der Klinge und am Heft eingelassenen Runen schienen wie von selbst zu glühen. Die Schneide zerteilte den Fels wie Butter und trennte die Faust ab, die eben noch drauf und dran gewesen war, den Reiter zu töten. Lichtfunken stiegen von der glühenden Wunde auf und folgten der Flugbahn des Säbels der sich nun mitten in die Brust und das kristallenen Herz des Monsters bohrte. Der Reiter wurde nicht einmal langsamer, sondern riss sofort die Klinge zurück und wendete sich seinem nächsten Ziel zu. Dabei konnte Cyrus zum ersten Mal einen Blick auf sein Gesicht erhaschen. Oder das, was er stattdessen der Welt präsentierte. Eine goldene Totenmaske, die mit seiner übrigen Ausrüstung zu verschmelzen schien. Der goldene Mantel und die Rüstung schienen genauso alt und seltsam… unpassend. Sie gehörten nicht hierher, nicht auf ein Schlachtfeld voll Schießpulver und Kanonen. Das Metall schien fast fanatisch gut gepflegt, vor allem wenn man bedachte, dass sie sich inmitten von Dschungel und aufgewühltem Schlamm befanden.
Mittlerweile hatten auch die übrigen Reiter die Steinkrieger erreicht. Jeder trug den gleichen gold-gelben Mantel wie ihr Anführer nur ohne schwere Rüstung oder Masken und sie fegten hinweg, was die magische Klinge nicht bereits gefällt hatte.
Cyrus hatte natürlich von verzauberten Waffen gehört, so wie die meisten. Und wie die meisten, hatte er noch nie gesehen, welche Macht sie entfesseln können. Magie alleine war bereits fast unbezahlbar doch diese dauerhaft an einen Gegenstand zu binden erforderte Ressourcen und Methoden, die der Wolf sich nicht einmal vorzustellen wollte. Die wenigen magischen Artefakte in Canton, die sich nicht ohnehin in den Händen des Magierordens befanden, wurden meist von den alten Adelsfamilien verwahrt und hatten vermutlich seit der Zeit des ersten Kaisers kein Schlachtfeld mehr gesehen. Nein, die Fürsten Cantons spielten sich lieber damit als Offiziere auf und nahmen an Paraden weit ab der Grenzen teil, statt ihre Erbstücke einmal zu etwas nützlichem einzusetzen. Außer hier.
Cyrus fand es schwer, den Blick von dem Lichterspiel abzuwenden, das aufstieg, wann immer die Klinge des ersten Reiters eine der Steinkreaturen fällte und fragte sich wer diese Männer waren. Gesehen hatte er sie bisher noch nicht, also waren sie vermutlich erst seit kurzem hier. Vielleicht der übermutige Sohn irgendeines Fürsten, der sich beweisen wollte. Nun, Cyrus musste ihm lassen, das er ihnen heute Nacht vermutlich das Leben gerettet hatte, denn was von den steinernen Kriegern übrig war, wendete sich nun gemächlich um und versuchte, in Richtung der fernen Pyramidenstadt zu entkommen.
Die Reiterfolgten ihnen noch ein Stück und machten dann kehrt. Cyrus sah ihnen entgegen, während die Sonne langsam aufging und die Banner an ihren Lanzen enthüllte. Nicht der goldene Adler und der silberne Löwe Cantons, wie er erwartet hatte. Nicht das Doppelemblem der Kaiser. Es war ein Drache, ein schwarzes Monster das sich auf den Flaggen abzeichnete und ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Er kannte es. Aus Erzählungen, den auf den Schlachtfeldern Cantons wehte es seit Jahrhunderten nicht mehr. Oder fast. Cyrus suchte in der Gruppe von Reitern nach dem Mann mit der goldenen Totenmaske. Den Herrn der goldenen Garde. Den Lord Macon.
Der Teil des Lagers vor ihm lag in Ruinen. Einschlagskrater hatten Zelte verschluckt, Trümmer lagen überall verteilt und an einigen Stellen brannten außer Kontrolle geratene Feuer in den Überresten. Eine Mondlandschaft. Alles war so schnell vorbei gewesen, dass es ihm jetzt, in der einsetzenden Stille, beinahe unwirtlich vorkam.
Stille, die jedoch nicht lange anhielt. Die Rufe der Sterbenden und Verletzten klangen selbst über das dröhnen in seinen Ohren, das die Geschütze hinterlassen hatten. Er vermied es, sich nach ihnen umzusehen. Die Wunden die Kanonen und Steinfäuste hinterließen waren furchtbar und er hatte schnell gelernt, dass es ihm half, sich nicht zu sehr damit zu beschäftigen. Wie viele dieser Männer die heute unter ihren eigenen Waffen gestorben waren, waren Freiwillige gewesen? Menschen und Gejarn, die geglaubt hatten, hier in der Fremde ihrem Kaiser zu dienen, vielleicht ein paar Abenteuer zu erleben und dann mit Gold in den Taschen in die Heimat zurück zu kehren. Die Wahrheit sah freilich anders aus. Immerhin da hatte er sich nie Illusionen gemacht. Im Gegensatz zu ihnen. Er würde hier sterben. Dessen war er sich gewiss. Irgendwo im Ringen um die Pyramidenstadt, die jetzt im Licht der aufgehenden Sonne Blutrot leuchtete. Oder auf dem nächsten Schlachtfeld. Oder dem übernächsten. Einen Ausweg gab es für ihn nicht. Aber immerhin würde er nicht sterben, wie die armen Männer, die man heute nicht unter den toten oder verwundeten finden würde. Es gab immer welche. Welche die die Steinmänner mitnahmen. Und hinter den Mauern von Xihuitzin gab es schlimmere Schickale als den Tod.
Damotes versuchte die Schreie zu ignorieren, während er die Zeltstadt beobachtete, die sich um die Mauern der Stadt erstreckte. Rauch kräuselte sich über dem Lager, stieg von den Feuerstellen der kaiserlichen Armee auf. Der Angriff der letzten Nacht hatte nicht einmal eine sichtbare Bresche in das Gewirr aus Planen, Leinen und kleinen Versorgungsgebäuden geschlagen, die in den letzten Monaten und Wochen um die Stadt herum entstanden waren. Die Farmen und kleineren Siedlungen, die die großen Pyramiden einst umgeben hatten, waren längst Teil des Belagerungsrings geworden und dienten nun ebenfalls als Unterkunft für die Soldaten Konstantins oder waren bis auf die Grundmauern nieder gebrannt, wo ihre Bewohner wiederstand leisteten und nicht hinter die sicheren Mauern geflohen waren.
Aber es war nicht das Lager, das seine Aufmerksamkeit an diesem Morgen auf sich gezogen hatte. Und auch nicht die sich endlos in alle Richtungen erstreckenden Baumwipfel, die sich sanft im Wind hin und her wiegten und deren Rauschen unachtsame Reisende oft für Stimmen hielten. Stimmen, die im nirgendwo verhallten und sie von den wenigen, sicheren Pfaden unter ihrem Blätterdach lockten. Hinein in das undurchdringliche Dickicht, das sich selbst hinter den gewaltigen Versorgungslinien der kaiserlichen Armee wieder schloss und mehr als eine ihrer Karawanen verschlungen hatte.
Es war etwas anderes. Etwas, das mit dem Horizont zu tun hatte. Damotes konnte noch nicht sagen was, aber mittlerweile war er sich sicher, dass es sich nicht um eine Sinnestäuschung oder eine ungewöhnliche Wolkenformation handelte. Am Horizont, jenseits der grünen Wipfel, war ein Schatten. Und er bewegte sich. Nicht mit dem rhythmischen aufstäuben eines großen Vogelschwarms oder der schwebenden Eleganz eines Raumvogels, sondern gleitend, langsam… und unverkennbar näher kommend.
Damotes ließ das Fernglas sinken. Ein Geschenk der Archonten an ihn, vergoldetes Metall, in das eine Vielzahl feiner Runen geätzt waren… und das den Makel der Magie mit sich brachte. Zweifelsohne ein Stück aus den gewaltigen Archiven, die sich unter dem Sitz der Archonten und bis in das Grundgestein auf dem Helike stand erstreckten. Er mochte es nicht. Doch der Nutzen überwog seine persönliche Abscheu. Er mochte ohnehin nichts in dieser Stadt.
Damotes sah zu wie die magischen Fackeln unten in den Straßen mit Einbruch des Tages erloschen. Eine nach der anderen, während das Licht der aufgehenden Sonne sich seinen Weg die monumentalen Stufen der großen Pyramidenstadt hinauf suchte, bis hin zu ihrer Spitze, wo der Wind so schneidend Kalt war, das die drückende Hitze, die unten in den Straßen herrschte, nur eine ferne Erinnerung war.
Wenn er nach oben sah, zum Schlussstein von Xihuitzin war ihm als könnte er die Hand ausstrecken und die Wolken berühren.
Die Stadt war gewaltig, größer und auslandender selbst als Helikes innere Stadt und der große Obsidianturm der Archonten, gebaut aus Steinen, die aus Bergen gehauen schienen, welche die einzelnen Terrassen von Xihuitzin formten, die immer weiter in die Höhe stiegen, jede einzelne begrenzt von ihren eigenen, zyklopischen Mauern und den Rampen, die zur nächsten höheren Ebene führten. Ganz unten auf der breiten Plateauebene drängten sich die Gebäude, hohe Steinbauten, deren Architektur der Schwerkraft zu trotzen schien mit Strohdächern und leeren Fensterhöhlen hinter denen das rußige Licht von Kerzen brannte. Die einfache Bevölkerung lebte hier, die Bauern die die auslandenden Felder vor den Mauern der Stadt bestellten, bevor diese unter den Stiefeln der kaiserlichen Armee zertrampelt worden waren, Diener, halbfreie Sklaven und jene, die keine Beschäftigung fanden. Und so schwindelerregend und verwinkelt die Unterkünfte und Türme auch waren in denen sie Unterschlupf fanden, keiner reichte bis an die nächste Ebene heran. Als wollte man verhindern, dass die unteren einen Blick in das Leben derer erhielten, die über ihnen standen. Und über allem thronten die Priester und die Kammer der zwölf, direkt unter dem Schlussstein der Stadt.
Xihuitzin ließ sich nur mit einem Wort beschreiben. Monolithisch. Und er sollte all das verteidigen… Womit? Nicht einmal mit blindem Glauben und Hoffnung. Er kämpfte für nichts an diesem Ort, genau so wenig wie einer seiner Männer, wie ihm immer wieder schmerzhaft bewusst wurde. Was Helike hatte überdauern lassen, waren nicht bloße Nummern. Nicht bloßer geformter Stahl. Es waren die Männer die ihn führten, angefangen von Laos bis hin zu den heutigen Schwertmeistern. Überzeugung. Disziplin. Und schiere Willenskraft. Xihuitzin spiegelte nichts davon wieder.
Und was war ein Paladin der ohne Überzeugung kämpfte? Ein Schwert und eine Rüstung. Nichts mehr. Genauso gut hätte er eines der steinernen Konstrukte sein können, die die Mauern der Stadt anstelle ihrer Bewohner patrouillierten. Hätte Damotes die Wahl gehabt sich von diesen… Kreaturen oder einer Bande Söldner unterstützen zu lassen… Letztere konnte man immerhin mit genug Gold inspirieren. Sie waren nicht einfach nur leere Hüllen, egal wie mächtig sie erscheinen mochten. Auch Drachen waren mächtig, schienen für das ungeübte Auge sogar unbezwingbar. Schwerter glitten an ihren Schuppen ab wie an Stein und selbst Mytrhil bot nur unzureichend Schutz vor den Klauen eines solchen Monsters. Und keinen vor ihrem Feuer. Und doch hatte er mehr als eine der gewaltigen Echsen vom Himmel stürzen und unter den Klingen und Speeren der Paladine ausbluten sehen. Doch die letzte große Schlacht gegen ihre alten Erzfeinde war nun Jahrzehnte her. Damotes Haar war grau geworden und jene lebenden Helden von damals die Legenden der heutigen Generation.
Und der Kaiser war eine ganz andere Art von Bestie. Eine mit tausenden Köpfen und Erscheinungen. Und sie alle brandeten nun gegen die Mauern der großen Pyramidenstadt. Nur eine noch nicht…
Damotes wollte erneut das Fernglas heben, wurde jedoch mitten in der Bewegung unterbrochen, als eine Stimme hinter ihm, seine Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Lord Damotes….“ Er hätte die Kreatur, die aus einem dunklen Winkel der Mauern auftauchte, fast aus Reflex geköpft. Nur zwei Dinge retteten das Leben der in eine zerlumpte Robe gehüllten Gestalt. Erstens, es war klein. Ein guter Kopf kürzer als selbst die kleinsten Menschen und Damotes Klinge hätte nur Luft getroffen, selbst wenn er die Waffe nicht in der Drehung abgefangen hätte. Zweitens… Er kannte die Stimme. Kratzig und doch dünn, unangenehm und irgendwie nicht richtig. Natürlich kannte er keine Namen. Niemand in dieser Stadt machte sich die Mühe, sich an den Namen eines Kobolds zu erinnern.
Das Wesen, das vor Damotes stand ging ihm gerade einmal bis zur Brust. Was vom Gesicht unter einer grell bemalten Porzellanmaske sichtbar war, die die gesamte untere Gesichtshälfte bedeckte, wurde von zwei großen, gelblichen Augen beherrscht, die auf nichts Bestimmtes gerichtet schienen. Ein Amulett mit einem bläulich schimmernden Stein hing an einer Kette um den Hals des Wesens, das Licht darin schien langsam zu pulsieren. Dünne Finger, die in mit Metall beschlagenen Handschuhen steckten, fischten eine versiegelte Papyrusrolle unter dem weiten Mantel hervor, den der Kobold trug. Damotes nahm sie ohne ein Wort entgegen, achtete dabei jedoch peinlichst darauf, dass seine Finger nicht die der Kreatur berührten. Kobolde riefen das gleiche, unangenehme Kribbeln in seinem Körper wach, wie die Golem-Konstrukte, die die Stadt verteidigten und er musste dem Drang wiederstehen, den nächsten Brunnen zu suchen, um sich die Hände zu waschen. Es war nicht ihr Aussehen, das ihn abstieß. Ohnehin hatte er außer Augen und grünlicher Haut, die von dünnem, roten Haar oder Fell bewachsen war, noch nicht viel von den geheimen Boten Xihuitzin gesehen. Und Zähne, dachte er. Scharfe Zähne. Der Rest verschwand unter bunt bemalten Porzellan-Masken und weiten Roben, die viel Raum für Briefe, kleine Päckchen und geschickte Finger boten. Für die Einwohner der großen Pyramidenstadt waren Kobole so alltäglich, wie anderswo Brieftauben. Und manchmal genauso störend, wie Schwärme der selbigen. Sie bewegten sich in den niedrigen Gängen und Korridoren, welche die Mauern durchzogen und Straßen wie Kanäle untertunnelten und in die sich nur die mutigsten der Kinder Xihuitzin verirrten. Und man konnte sicher sein, dass alles, was nachts auf den Straßen zurück blieb, am nächsten Morgen in den Tunneln verschwunden sein würde. Es war eine Stadt unter und in der Stadt, die jeden Winkel, jede Straße durchdrang. Und da nur die wenigsten Leute es nötig sahen, Kobolde für ihre Botengänge zu entlohnen, nutzen jene jede Gelegenheit sich an tatsächlichen oder vermeintlich herrenlosen Gütern zu bereichern.
Damotes wendete der Kreatur den Rücken zu und brach das Siegel an der Schriftrolle. Sein Gesicht verfinsterte sich und einen Moment überlegte er, die Nachricht einfach zu ignorieren. Es war so typisch für die Priester, ihm lieber eine Nachricht zu schicken, anstatt das sich einer von ihnen auf den Weg die Stufen der Pyramide hinab machte um mit ihm zu sprechen. Von den zwölf, die auf der Spitze von Xihuitzin thronten ganz zu schweigen.
Er ließ das Pergament fallen und drehte sich zu dem Kobold um.“ Ich nehme an, mein Sohn ist bereits vor Ort?“ Natürlich erhielt er keine Antwort. Wenn diese Kreaturen eines konnten, dann geheimnisse bewahren. Sie sammelten sie, wie eine Ratte Flöhe ansammeln mochte. Es war ihre Lebensgrundlage in dieser Stadt. Damotes machte eine wegwerfende Handbewegung und der Kobold verschwand in der gleichen Nische aus der er aufgetaucht war, irgendwo in den Schatten. Wüsste Damotes nicht, das es einen Durchgang geben mochte, er hätte nicht einmal eine Ahnung, wo er anfangen sollte zu suchen. Immerhin, sollte die Stadt fallen, würde dies auch den Untergang der Stadt unter der Stadt bedeuten. Das war etwas.
Langsam machte er sich auf den Weg, die steilen Treppen hinauf zur Spitze der Pyramide, hinauf durch ausladende Gärten und vorbei an Wasserspielen, in denen sich das Licht der Morgensonne brach und kleine Regenbögen entstehen ließ. Unten jedoch, in der Tiefe, rannten weiterhin die Armeen des Kaisers gegen die Mauern an. Mit dem beginnen des neuen Tages begann auch die Belagerung erneut. Erste Kanonenschüsse hallten heran und Kugeln schlugen in die Mauern oder in die dicht an dicht stehenden Häuser des untersten Bezirks ein. Magische Flammen erloschen in den Straßen und ließen nur den Morgennebel zurück, der jedoch nicht einmal die Hälfte der Pyramide erreichte. Damotes stand jetzt bereits der Schweiß auf der Stirn. Dennoch machte er keine Anstalten, langsamer zu werden. Helike war heiß, dachte er. Die nahe Wüste brachte oft Sandstürme mit sich und mehr als ein leichtsinniger Rekrut verlor in voller Rüstung das Bewusstsein, wenn die Sonne das Metall aufheizte. Doch die Hitze hier war anders. Selbst die weiten, roten Mäntel der Paladine boten davor keinen Schutz und die Luft wirkte schwer, beinahe zähflüssig. Trotzdem hatte Damotes darauf verzichtet, einen Teil seiner Rüstung los zu werden. Wenn es eines gab, das man ihm von Kindesbeinen an eingebläut hatte, seit dem Tag an dem er den langen Weg der 100 Prüfungen beschritten hatte, dann war das, dass es so etwas wie Sicherheit in einem Krieg nicht gab. Ein Paladin lebte für einen Zweck. Sich den Feinden der Archonten in den Weg zu stellen. Durch einen Querschläger oder Schrapnell zu sterben, weil es bequemer war die Rüstung abzulegen war das genaue Gegenteil davon. Es war eine Verschwendung. Und es gab einen feinen Unterscheid dazwischen, zu erwarten das Männer für einen starben… und sie zu verschwenden, weil man ihrer Bequemlichkeit nachgab.
Das Mythril glänzte in der Sonne und die Schatten der hoch aufragenden Steinbauten griffen wie Klauen nach den unteren Ebenen, beinahe wie die Finger einer gewaltigen Hand. Als er den Namen Xihuitzin das erste Mal gehört hatte, hatte er gelacht. Gelacht über die Beschreibungen und die Verehrung mit dem die Abgesandten von ihrer Heimat sprachen, als sie in der inneren Stadt Helikes standen. Und noch mehr gelacht, als sie ihm sagten, was der Name bedeutete. Inzwischen lachte er nicht mehr. Nicht mehr seit er die Stadt das erste Mal gesehen hatte und die Pyramidenspitze in der Ferne in den Wolken verschwand. Jedes rechteckige Segment der großen Anlage erhob sich so hoch wie die Stadtmauern von Helike und jedes einzelne hätte Platz für einen Bezirk oder ein Viertel der Unterstadt geboten. Grünliche Flammen, die scheinbar aus dem nichts aufstiegen, erhellten Nachts die Straßen und erloschen jeden Tag pünktlich mit dem Tageslicht. Und mit dem Tageslicht kehrten auch die Jäger von ihrem Ausfall zurück. Zusammen mit ihrer Beute. Die Schreie, die Damotes bisher so sorgsam ausgeblendet hatte, wurden lauter, je weiter er sich der Spitze der Pyramide näherte. Er wusste, was ihn erwartete.
Xihuitzin war die Stadt der Götter und Wunder. Und die Götter brauchten Blut.
„Ich bin Eisen.“ Er wiederholte die Worte wie ein Mantra, während er zusah, wie man den Mann ins Licht brachte. Ein kümmerliches Licht, trotz seiner Herrlichkeit. Ein einzelner Strahl, der durch ein Gitter am Schlussstein der Pyramide einfiel, durch ein dutzend Prismen aus poliertem Kristall, die ihn bündelten, bis eine beinahe… fest erscheinende Säule entstand, die den Rest des Raumes nur umso düsterer erscheinen ließ. Die Kammer der Hohepriester war gewaltig, mehr eine Höhle als ein Gebäude so schien es. Die Decke der Kammer war hoch genug, das ein dutzend gigantische Steinerne Wächter mühelos unter ihr Platz fanden, jeweils sechs am Nord und Südende der Halle. Sie waren reglos, die Kristalle in ihren Augen und Herzen dunkel, doch ein jeder hätte wohl mühelos über die äußeren Mauern von Xihuitzin geragt. Zwölf Throne ragten um den Kreis aus Licht herum auf, drei in einem inneren Ring angeordnet und neun weitere weiter außen. Von den Gestalten auf den neun äußeren Thronen waren nur Schatten zu erkennen und Priam wusste, das selbst aus der Nähe nicht mehr zu sehen gewesen wäre. Die blauen Roben, nicht unähnlich jener, die er selber trug verbargen Gesichter und Körper und ein Teil von ihm war froh darum. Er wollte nicht wissen wie diese Menschen aussahen… wenn sie den Menschen waren. Sie bewegten sich wie welche und Sprachen auch so aber was er von ihnen spürte… Priam schüttelte den Kopf. Macht. Bedrohung. Eine Kälte und das beständige Gefühl das seine Gliedmaßen einschliefen, wenn er sich ihr länger aussetzte. Er hatte gelernt sich der innersten Kammer der Pyramidenstadt nur vorbereitet, doch selbst mit den Abschirmungen zehrte dieser Ort an seinen Nerven… und rief die Stimmen herbei. Undeutliches Flüstern, Worte in einer Sprache die er nicht verstand, wenn es denn eine war und nicht nur das Nebenprodukt seines langsam zerfallenen Verstands. Nein, Priam wollte nicht wissen, was sich unter den fließenden, blau silbernen Roben der Hohepriester verbarg. Und was die Gestalten auf den inneren drei Thronen anbelangte… Priam sprach mit niemanden darüber, hatte nicht einmal Damotes davon erzählt, aber ein Teil von hm war sich sicher, sollte einer der drei ihn auch nur berühren, er würde den Verstand verlieren.
Die drei trugen nicht die schlichten Roben der restlichen Hohepriester, sondern Panzerungen, die wie aus grünem Glas gefertigt wirkten. Metall-Gelenke verbanden die einzelnen Platten zu einem weiten Umhang der bei jeder noch so leichten Bewegung seines Trägers, jedem Windhauch leise klirrte. Weite Kronen, die aus demselben, glasartigen Material gefertigt waren ragten über ihren Köpfen auf und Mosaiksplitter formten einen weiten Heiligenschein, in dem sich jedoch kein Licht zu fangen schien. Alle drei Hohepriester saßen regungslos da, starrten in das Licht und warteten. Priam wusste aus Erfahrung, dass die Säule einen blendete und die unbedeckten Gesichter der drei verbarg. Nur einmal hatte er geglaubt einen kurzen Moment so etwas wie ein Gesicht zu sehen, vor Monaten, als er und die übrigen Abgesandten aus Helike die Stadt das erste Mal betreten hatten. Und was er gesehen hatte, war definitiv nicht menschlich gewesen. Oder zumindest… nicht völlig. Das Gesicht hatte zu ätherisch gewirkt, die Züge feiner als was er für möglich gehalten hätte und in ihrer Perfektion umso beunruhigender. Perfekt, bis auf die blasse Haut, die dünn wie Pergament und uralt wirkte und Adern durchschimmern lies und das leichte zittern, das ständig jeden Nerv zu durchlaufen schien. Es erinnerte ihn an das Zittern eines Tieres, das langsam ausblutete… starb. Und doch war das Gefühl der Macht das von diesen Wesen ausging überwältigend. Wie konnte etwas so mächtig sein… und doch den Anschein erwecken das es im Sterben lag? Konnten die zwölf überhaupt ihre Throne verlassen oder würden sie schlicht zu Staub zerfallen, nach all den Jahren und Jahrzehnten die sie hier in der Finsternis gewartet hatten. Aber wie kam er auf die Idee dass sie auf etwas warteten?
„Sie warten auf den richtigen Moment sich wieder zu erheben. Warten auf andere.“ Priam hätte beinahe laut aufgeschrien. Die Stimme kam von niemand im Raum, sie war in seinem Kopf, in seinen Knochen. Einen Augenblick lang hatte er sich ablenken lassen, hatte nicht auf seine mentalen Barrieren geachtet. Die innere Halle von Xihuitzin war voller Stimmen und Flüstern. Er hatte es schon früher gehört. An anderen Orten, aber selten so stark, als würden sich die Geister von Millionen in dieser kleinen Kammer konzentrieren. Lauern, genau wie die Zwölf auf ihren Obsidiansitzen. Worauf? Er schob die Frage als unwichtig beiseite, während er wieder begann seine leise Litanei herunter zu beten. „Ich bin Eisen. Außen aus Schmiedefeuer, Innen aus Willen.“ Er war kein Krieger, kein geweihter Paladin oder gar Schwertmeister wie sein Vater. Aber er war ein Archivar. Er war die Stimme von Laos Gesetz und er würde sich nicht entehren, in dem er sich von ein paar Geistern einschüchtern ließ. Trotzdem bereute er es, als Damotes Vertretung hier zu sein. Sein Vater hatte keine Geduld für die Riten dieser Stadt, geschweige denn Verständnis. Helike kannte Geister und Magie und die Zerstörung die sie mit sich brachten. Und sie hatten sie überwunden. Und er war ein Teil Helikes. Priam zwang seine Aufmerksamkeit ins hier und jetzt zurück, zurück zu dem Schauspiel, das sich in dem Kreis aus Licht vor den Thronen abspielte.
Der letzte Gefangene war anders als die anderen. Die anderen waren Offiziere gewesen, manche auch einfache Soldaten, die man während der nächtlichen Ausfälle auf die Lager der kaiserlichen Armee gefangen genommen hatte. Männer und Frauen in den gelb-blauen Uniformen des Kaiserreichs. Insgesamt zwanzig waren es diesmal gewesen, die man vor den Stufen des inneren Tempels geopfert hatte. Priam hatte dabei zugesehen, zugesehen, wie die niederen Priester ihre Kehlen öffneten und Blut auf Altäre und schwere, bronzene Opferschalen fließen ließen. Blut, das durch eine Unzahl dünner Kanäle und Kapillaren ins Innere des Bauwerks strömte und sich einem Becken im Zentrum der Lichtsäule sammelte, wo einige der niederen Priester es auffingen und unter Gesängen und dem Geruch von Weihrauch nach draußen trugen. Vermutlich um den Blutgestank zu überdecken, während sie ihre Rituale abhielten. Rituale… Das war etwas, an das er sich in dieser Stadt hatte gewöhnen müssen. Statt der klaren Regeln Helikes war schien hier alles mit einem Nebel aus Mystik und Anbetung überzogen. Selbst die kleinsten Handlungen, wie der Verkauf oder die Zubereitung von Lebensmitteln wurden von ritualistischen Grußformeln oder Gesten begleitet. Und doch konnte Priam nie den Eindruck abschütteln, dass das alles falsch war. Nicht weil es nicht den lehren von Laos entsprach. Nein, es wirkte zu… künstlich, zu aufgesetzt als ob die Rituale die sie vollzogen nicht zu diesem Volk gehörten. Und je länger er in der Gegenwart der Hohepriester war, desto stärker wurde diese Überzeugung. Wesen die durch ihre bloße Anwesenheit Schrecken auslösen konnten, brauchten keine Götter besänftigen um Macht auszuüben. Diese Stadt war auf eine Art voller Wunder und selbst wenn Laos Lehren dies leugnen mochten, Priam konnte anerkennen, dass sie etwas Schönes waren. Und doch stand im Herzen von allem, dieser Schrecken hier.
Was nun jedoch geschah schien diesen Nebel zum ersten Mal seit Priams Ankunft vollkommen zu zerstreuen. Denn dieser Mann war anders. Genauso geschlagen und abgekämpft wie seine Vorgänger aber älter wie es schien. Lange grau melierte braune Haare, die so gar nicht der strikten Kleiderordnung der kaiserlichen Garde entsprechen wollten, ein Gesicht das von Sorgenfalten und wettergegerbter Haut gezeichnet wurde… und Augen. Priam wusste nicht was, aber irgendetwas daran bescherte ihm eine Gänsehaut, als der Blick des Mannes einen Herzschlag lang auf ihm lag. Als ob diese eisblauen Augen alles in ihm gesehen hätten. Seine Gedanken, seine Motivation, selbst die Dinge die er sich selbst nicht über sein Wesen eingestehen wollte. Der Eindruck währte jedoch nur einen Augenblick lang, dann war da nur wieder der alte Mann, der von zwei in weite, grüne Roben gehüllten Gestalten hereingeleitet wurde. Die anderen Männer hatte man geschleift. Manche hatten nicht gehen können, entweder weil sie während der Schlacht verwundet worden waren oder sich so lange wehrten bis einer ihrer Entführer ihnen die Beine brach. Für die Götter Xihuitzins zählte der Zustand des Körpers nichts. Nur ihr Blut. Der Neuankömmling jedoch ging aufrecht und auch wenn ihm Abscheu und Angst ins Gesicht geschrieben standen, wurde er nicht langsamer und ging seinen Bewachern sogar ein Stück voraus. Er trug ein Gewand das aus grob gearbeiteten pelzen und Häuten gefertigt schien und geradezu einen barbarisch Anmutenden Kontrast zu den sauber gearbeiteten Uniformen der kaiserlichen Garde bildete.
Trotz der Angst auf seinem Gesicht war die Stimme des Mannes erstaunlich ruhig, beinahe sogar gelangweilt, als er schließlich im Zentrum der Lichtsäule stehen blieb, nur einen Schritt vor dem Blutbecken.
„Was wollt ihr?“ Sein Blick wanderte kurz über jede der zwölf Gestalten, bevor er erneut an Priam hängen blieb und schließlich dort hängen blieb, wo sich das Gesicht eines der drei innersten Hohepriester befinden mochte. Priam ging davon aus, das der Mann nicht mehr sah als er selbst. Blendendes Licht, das alle Züge verschwimmen ließ und schmerzte, wenn man zu lange auf eine Stelle blickte.
Einer seiner zwei Bewacher trat ihm in die Kniekehlen und zwang ihn damit zu Boden. „Ihr werdet die Hohepriester mit dem gebührenden Respekt ansprechen, Kreatur.“
Der Fremde gab etwas von sich, das wie ein Schmerzensschrei und ein unterdrücktes Lachen gleichzeitig klang.
„Ich bin die Kreatur hier, ja?“ Er machte keine Anstalten sich wieder zu erheben, sondern blieb auf den Knien und sah erneut zu den zwölf Gestalten auf ihren Thronen. Wenn er auf eine Antwort gehofft hatte, so erhielt er keine. Zumindest nicht von einem der Hohepriester.
„So wird es gelehrt. Die Priester haben uns vor eurer Art und euren Lügen gewarnt.“ Wieder einer der Wächter. Priam runzelte die Stirn. Was geschah hier gerade? Der kniende Mann sah nicht aus als gehöre er zur kaiserlichen Garde oder den Einwohnern Xihuitzin. Und aus Helike stammte er ganz sicher nicht. Erneut musterte er den fremden und konzentrierte sich diesmal auf die feinen Details, die Felle aus denen seine Kleidung bestand, die seltsamen Ketten und Talismanen um seinen Hals… Er hatte so etwas schon einmal gesehen. In Helikes Archiven, irgendwo in den langsam zerfallenden Schriftrollen und Folianten unter dem schwarzen Turm der Archonten. Angeblich lag hinter dem Kaiserreich nichts als eine endlose Einöde aus Eis und Schnee, so wie sich hinter Helike scheinbar nur noch die Wüste erstreckte. Und doch gab es jene, die in diesen Einöden überleben konnten. Die Whaid in den endlosen Sanddünen. Und in der Tundra Cantons… Dieser Mann war ein Eisnomade! Allerdings beantwortete das weder die Frage wie jemand wie er hierher kam, noch wieso er die Hohepriester scheinbar… kannte? Und verachtete.
„Ihr seid Scharlatane.“ , spie der Eisnomade. „ Das einzige was ich nicht verstehe ist, wieso ihr euch versteckt. Vor was, das ist mir allerdings klar. Also noch einmal. Was wollt ihr?“ Ein dünnes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Möchtet ihr erfahren, wie ihr sterben werdet?“ Und bei diesen Worten wanderte sein Blick erneut zu Priam. „Ich weiß es. Ich weiß auch wie mein Ende aussehen wird.“
„Wo ist der Kaiser?“ Die Frage schien von keinem der zwölf Hohepriester direkt zu kommen. Die Stimme war dünn, schneidend wie eine Klinge aber gleichzeitig kräftiger als Priam vermutet hätte. Es war das erste Mal, das sich einer der Hohepriester dazu herab lies, direkt in seiner Gegenwart zu sprechen, statt über Diener oder Boten zu kommunizieren. Normalerweise schienen sich die zwölf nur flüsternd mit ihren engsten Vertrauten zu unterhalten oder genauso leise untereinander, selbst in Damotes Gegenwart hatten sie kaum ein Wort mit ihren verbündeten gewechselt. Und nun schaffte ein Fremder Barbar es, dieses seltsame Ritual mit seiner bloßen Anwesenheit zu durchbrechen. Und dann die Frage…
Der Eisnomade schien beinahe amüsiert. „Ein interessanter Plan, den ihr da habt.“ , meinte er. „Ich glaube ich verstehe. Darum geht es euch also. Vielleicht sage ich euch sogar was ihr wissen wollte, wenn ihr mir zuerst eine Frage beantwortet. Wie ist es so, zum ersten Mal seit Jahrhunderten wirklich Angst zu spüren? Ihr wisst, dass ihr die letzten seid und dass er euch finden würde. Und jetzt ist es fast zu spät. Aber es wird nicht der Kaiser sein, der euch zerstört. Der Kaiser mit auf dem Weg hierher. Und er wird hier fallen.“
Kapitel 4
Mit einem Ruck löste Cyrus das Messer aus der Brust des gefallenen Mannes. Wenn man das Wesen vor ihm denn einen Mann nennen konnte. Cyrus nahm sich Zeit den Toten zu betrachten. Zumindest war er sich ziemlich sicher, dass er tot war. Das Messer war ein Glückstreffer gewesen und es zu werfen ein Risiko. Aber nun… er hatte wieder einmal Glück gehabt wie es aussah. Manchmal musste man eben darauf vertrauen dass alles gut wurde. Etwas anderes blieb einem auch nicht übrig, wenn man an diesem Ort nicht verrückt werden wollte. Er trat das Wesen vor ihm in die Seite. Es bewegte sich nicht. Seine Haut war Schwarz, aber nicht in dem Sinne wie es die Haut der Bewohner von Lasanta war, jener Hafenstadt von der aus sie sich ursprünglich Eingeschifft hatten um den langen Weg nach Süden anzutreten. Er konnte sich noch gut an die fremden Eindrücke erinnern, den Geruch von Gewürzen, die bunten, leichten Gewänder, die gigantischen Lagerhäuser am Hafen, die der rege Handel hervorgebracht hatte und die endlosen Reihen aus Schiffsmasten,… Nichts im Vergleich zu den mit schlamm verschmierten, grauen Zelten und endlosen Reihen aus Barrikaden und Sandsäcken, die sich um ihn herum erstreckten. Trotz der wichtigen Stellung, die ihre Provinz im Kaiserreich einnahm, blieben die dunkelhäutigen Einwohner Lasantas meist in ihrer großen Stadt am Meer und überließen es ihren weitreichenden Händlergilden die Geschäfte vor Ort zu übernehmen. Dieser Mann hier vor ihm, gehörte nicht zu ihnen. Seine Haut schien das Licht komplett zu schlucken, bis auf wenige Stellen, wo sie es irisierend in allen Farben des Regenbogens brach. Es war keine Farbe, sondern eine Art schuppiger Belag, der nicht natürlichen Ursprungs sein konnte. Und wie Cyrus wusste, seine Farbe wechseln konnte, bis der Krieger, der sie trug beinahe unsichtbar wurde, besonders bei Nacht oder im dichten Blätterwerk des Dschungels. Die Schuppen waren hart und fühlten sich beinahe wie Stein an, als wäre der Träger nur ein weiterer Golem, eine weitere Felskreatur. Die Schattengarde… die Kriegerelite von Xihuitzin, so hieß es. Auserwählt und irgendwie… verändert von den Hohepriestern deren Tempel sich in der Ferne abzeichneten. Neben seiner Schuppenhaut trug der Mann nur einen simplen Lendenschurz um seine Tarnung nicht zu gefährden. Und eine Axt, die neben ihm zu Boden gefallen war. Cyrus hob die Waffe vorsichtig auf und musterte sie kurz. Der Griff war aus dunklem Holz gefertigt und mit Leder umwickelt. Der Kopf schien aus einer Art Glas zu bestehen. Schwarz, wie die künstliche Haut seines Besitzers und Messerscharf. Cyrus wagte es nicht einmal die Schneide zu prüfen. Er wusste, zu was die Obsidianklinge eines Schattenkriegers in der Lage war. Doch wo das vulkanische Glas sonst schnell stumpf geworden wäre, blieben diese Schneiden scheinbar scharf und brachen selbst dann nicht, wenn sie auf cantonschen Stahl trafen. Ohne lange nachzudenken, hakte der Wolf die Axt unter seinen Gürtel, neben das zurückerlangte Messer, und stand auf.
Das Chaos der letzten Nacht war noch nicht ganz beseitigt. Einige Zelte hatten Feuer gefangen und in den unteren Rängen es Lagers waren noch immer Männer damit beschäftigt, Glutnester auszutreten oder vereinzelte Flammen mit nassen Decken zu löschen. Andere hatten sich in der morgendlichen Kühle, die mit dem Nebel aus dem Dschungel aufstieg um die Kochfeuer gesammelt. Cyrus konnte Kaffee riechen. Die Männer hatten sich den Prozess die Bohnen zu rösten, die hier Wild wuchsen, von den Einwohnern des Landes abgeschaut und schnell zu schätzen gelernt. Besonders nach einer durchwachten Nacht mit wenig Schlaf. Cyrus schüttelte sich bei dem Gedanken. Es roch gut. Aber das Gebräu daraus schmeckte bitter und im Gegensatz zu vielen der Männer hatte er keinen Geschmack dafür entwickelt. Eigentlich, so dachte er, hatte er noch keinen Gejarn davon trinken sehen.
Langsam machte er sich auf den Weg zurück zu den Zelten seiner Kompanie, vorbei an weiteren Kochfeuern und verschlafenen Gesichtern. Renner und Boten liefen umher und tauschten Nachrichten aus anderen Bereichen des Lagers oder die neuesten Befehle aus. Offenbar hatte es auch noch Angriffe auf der anderen Seite gegeben, aber sie hatten diese Nacht die Hauptwucht des Ausfalls abbekommen. Einige Männer standen Wache, doch nicht viele. Bisher waren sie noch nie Tagsüber nagegriffen worden und so waren die Posten nur ein Vorwand. Ein Vorwand, damit sich die Männer sicher fühlten, dachte Cyrus. Aber es gab hier keine Sicherheit. Tote und Verletzte der letzten Nacht waren längst fortgebracht worden, an die verhältnismäßig ruhigen Ränder des Lagers oder den provisorischen Friedhof. So nannte es die Offiziere zumindest, dachte Cyrus. In Wahrheit war es einfach eine Grube, die man Abseits des Lagers im Dschungel angelegt hatte, entlang einer der provisorischen Versorgungsstraßen, die die Garde bei ihrer Ankunft hier geschlagen hatte. Davon jedoch, erzählten die Offiziere nicht. Auf dem Papier könnte man glauben sich bei der Garde zu verpflichten sei beinahe… risikolos. Dass das Kaiserreich sich um seine Männer kümmern würde. Das man in einer Grube im Dschungel langsam verrotten würde, nur von einer Handvoll Erde bedeckt, davon erzählten sie den Rekruten natürlich nichts.
Cyrus fühlte die altbekannte Wut in sich aufsteigen. Nicht auf die Männer um ihn herum. Sie waren genauso gefangen hier wie er. Und er selber… Er war nicht hier, weil er eine Wahl gehabt hatte, es sei denn die zu sterben. Lügen… falsche Tatsachen und Geschichten von Ruhm. Wie viele der Männer, die gestern gestorben waren, hatten geglaubt sie würden mit Gold und fremden Schätzen beladen nach Hause zurückkehren? Die Wahrheit sah freilich anders aus. Kalte, feuchte Erde und mehr nicht. Hier war kein Kaiser, der sie beschützte.
Um ihn herum herrschte reges Treiben. Einige Gardisten führten eine Gruppe von Pferden durch das Gewirr aus Leinen und Seilen, welche die Zeltreihen der Gardisten aufrecht erhielten, kleine Schlangen bildeten sich vor den feuern, die zum Kochen verwendet wurden und in einer Ecke ließ sich ein Mann in der Uniform eines Offiziers die Haare schneiden und beschwerte sich derweil lautstark: „Heinrich, wo ist mein anderer persönlicher Barbier? Brutus soll das Rosenöl mitbringen, mein Haar ist so trocken, so kann ich nicht in die Schlacht ziehen!" Er machte eine Handbewegung, die wohl „Beeilung“ bedeuten sollte, während er sich etwas auf seinem Stuhl zurück lehnte.
Der als Heinrich angesprochene Friseur zuckte lediglich mit den Schultern, während er sich hilfesuchend nach dem Gesuchten umsah. Der Mann trug ebenfalls die Kleidung eines Gardisten, aber Cyrus bezweifelte, das er tatsächlich je das Schlachtfeld sehen würde. Viele der höherrangigen Kommandanten brachten ihre eigene Dienerschaft mit, besonders die Adeligen. Und da es nicht einmal der Kaiser gerne sah, wenn Mittel verschwendet wurden um den gesamten Haushalt eines Fürstensohns, der sich als Soldat versuchen wollte zu transportieren, hatten sie angefangen ihre persönlichen Diener in die Uniformen der Garde zu zwängen.
„Hier, mein Lord.“ Ein Mann tauchte aus dem Eingang eines größeren Zelts auf, eine kleine Flasche in der Hand. Der Geruch des Inhalts stach Cyrus in der Nase, als der Barbier sich an ihn vorbei drängte. Er beschloss, dass er nicht in der Nähe sein wollte, wenn der Barbier das Zeug öffnete und tauchte zwischen einigen Boten hindurch, die sich um den Offizier herum aufgestellt hatten und auf ihn einredeten. Stattdessen machte er sich auf den Weg zum nächsten der großen Kochfeuer, die man vor einer Reihe großer Zelte entfacht hatte. Über den Flammen köchelten ein dutzend verschiedene Gerichte, deren Duft sich miteinander vermischte und in Cyrus leichte Übelkeit hervorrief. Frisches Fleisch und Gemüse brieten neben Dingen, die er wohl kaum als essbar bezeichnet hätte. Haferbrei, der mehr Wasser als Getreide enthielt und in dem etwas Schwamm, das vor Monaten einmal gutes Dörrfleisch gewesen sein mochte, nun jedoch oftmals von Schimmel zerfressen war. Und das was noch genießbar war, war zäh Leder und einige der Männer scherzten darüber, dass ein Streifen davon eine Kugel abfangen konnte.
Die Temperatur und die schwüle Luft hier machte jede Gewohnte Vorratshaltung zunichte. Trotzdem standen ein gutes dutzend anderer Männer um die einzelnen Feuer, aßen und unterhielten sich.
„Das Essen wird auch nicht besser.“, meinte einer davon.
„Besorg mir frische Vorräte und ich koch dir ein Festmahl.“ erwiderte ein anderer Mann, der eine schmutzige, weiße Schürze über seiner Uniform trug. Vermutlich der Koch. Und vermutlich hatte er diesen Spruch heute schon oft genug gehört giftig. „Die Hälfte unserer Versorgungskarawanen verschwindet entweder oder wird angegriffen. Wir können froh sein, das wir überhaupt noch frische Vorräte bekommen.“
„Es stirbt sich schlecht mit leerem Magen.“, warf einer der anderen Gardisten ein, die sich in der Nähe niedergelassen hatten um zu essen.
„Und was ist Moral wert, wenn es das Kaiserreich ruiniert?“ Ein in der Nähe stehender Offizier, der gerade im Begriff war sich einen zweiten Teller der besseren Rationen zu holen. „Ihr seid hier um zu kämpfen, nicht um euch wohl zu fühlen.“
Irgendetwas an dem Mann war seltsam, dachte Cyrus. Zum einen trug er nicht die gewohnte blaue Uniform der Garde und auch keine der Farben für ihre Paradeuniformen. Stattdessen trug er einen vergoldeten Harnisch der die Sonne wiederspiegelte, zusammen mit einem schreiend Gelben Wams, Stiefeln und einem goldbesetzten Umhang. Gehörte der Mann überhaupt zum Militär oder war er einer jener Adeligen, die sich als Soldaten versuchen wollten?
„Der Kaiser wird auch nicht begeistert sein, wenn ihm die Hälfte seiner Männer desertieren, weil sie nicht mal mehr Frühstück bekommen, Kazimier.“ , warf der Koch ein, der nun Cyrus erspäht hatte. „Rang und Abteilung?“
„ Dreizehntes Herzland-Regiment. Infanterist.“ , erwiderte Cyrus nur und der Koch nickte und verschwand um ihm seine Ration zu holen.
„Ich glaubs nicht von euch sind nach gestern noch welche übrig?“ Einer der Gardisten in der Nähe wendete sich dem Wolf zu.
„Nicht viele.“ , erwiderte der Offizier , den der Koch als , Kazimier angesprochen hatte und sich Cyrus nun ebenfalls besah. „Wir werden die Reste wohl einer neuen Einheit zuteilen müssen. Ich schätze unser Oberst kann ein paar neue Leute gebrauchen…“
Nein danke, dachte Cyrus, während er dem Koch seine Portion abnahm. Es hatte seinen Grund aus dem er bis jetzt nicht gewusst hatte, wie schlimm die Verluste seiner Einheit eigentlich waren. Es war einfacher wenn man ihre Namen nicht kannte. Cyrus machte Anstalten sich einfach umzudrehen, in der Hoffnung dass der Mann das Thema fallen lassen würde. Je länger es dauerte bis man ihm einer neuen Truppe zuwies… und auch diese nur sterben sah, desto besser.
„Hey ich rede mit dir, Flohsack.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter noch ehe er mehr als zehn Schritte gemacht hatte. „Du kommst mit und hilft mir den Rest deines Regiments zu find…“
Cyrus schüttelte die Hand ab und drehte sich ruckartig zu dem Mann um. Noch in der Bewegung zog er eine Steinschlosspistole aus seinem Gürtel und richtete sie auf sein gegenüber.
„Nein.“
„Soll das eine Meuterei werden?“ Ein dünnes Lächeln legte sich über das Gesicht des Mannes. „Männer!“ Der Offizier machte eine Handbewegung zu den übrigen Männern am Feuer, von denen jedoch keiner Anstalten machte, ihm zur Hilfe zu kommen.
„Also ich weiß nicht wie es meine Kameraden hier sehen, aber ich diene dem Kaiser. Nicht irgendeinem Kommandanten einer Abteilung der nicht einmal vernünftige Uniform trägt.“ , meinte einer der Gardisten grinsend. „Und ich glaube unser Freund Wolf hier sieht das ähnlich. Ihr könnt natürlich gerne den Hochgeneral damit belästigend, das ihr einen und ich zitiere „Flohsack“ in euer Regiment aufnehmen wollt aber solange ist das euer Problem.“
Kazimirs eigenes Lächeln erlosch und Cyrus ging langsam davon, auf der Suche nach einem ruhigen Platz zum Essen. Ein Funken Dankbarkeit regte sich in ihm, als er an die übrigen Gardisten dachte. Es war besser, dachte er, sich nicht zu sehr mir anderen zu beschäftigen. Anfangs hatte er diesen Fehler noch gemacht. Gesichter und Namen, die lange verschwunden waren. Es brachte wenig mit seinem Schicksal zu hadern. Das hatte er hier gelernt. Und immerhin… es konnte wenigstens nicht mehr schlimmer werden. Er hatte gerade schon einen Offizier bedroht. Und warum? Weil er seine Ruhe gewollt hatte… nur für einen Tag wenigstens… Und was konnte schon passieren? Er würde an diesem Ort sterben. Damit hatte er sich lange abgefunden. Die Frage war nur wie viel von seiner Seele noch übrig war, wenn das geschah.
Vor ihm öffneten sich die Zeltreihen des Lagers zu einer kleinen Lichtung, auf der ein dutzend Pferde an dem grasten, was tausende Stiefel an Grün übrig gelassen hatten. Zwei Männer kümmerten sich um sie, lösten Rüstungen und scheuerten sie mit Stroh ab, während eine größere Gruppe sich auf einer Reihe trockener Felsen niedergelassen hatte. Ein Feuer prasselte zwischen ihnen und ihre Rüstungen lehnten in ordentlichen Haufen um ihre Waffen angeordnet in der Nähe. Golden glitzerte der Stahl in der Sonne. Und darüber wehte ein Banner, das Cyrus bereits verwirrt hatte, als er es das erste Mal gesehen hatte. Ein weißer Drache. Der Wolf runzelte die Stirn, während er an das Gefecht der letzten Nacht zurück dachte. Die goldenen Rüstungen, die Gestalten auf ihren Pferden, die beinahe gewirkt hatten, als hätten sie Flügel… Jetzt konnte er sehen, dass dieser Eindruck gar nicht so verkehrt gewesen war. Die Rüstungen im zertrampelten Gras verfügten über Rückenstangen, an denen dünne, metallische Federn befestigt waren, genauso golden wie der Rest der Panzerung. Bis auf das Wappen. Der Drache. Der Drache war verkehrt. Wer waren diese Männer?
Cyrus ließ sich seinerseits auf einem Stein in der Nähe nieder und beobachtete die kleine Gruppe genauer, während er aß. Es schmeckte nach nicht viel, aber eine langweilige warme Mahlzeit war besser als gar keine.
Einer der Ritter lehnte sich mit einer Tonpfeife im Gras zurück und rauchte. Die roten Stoppeln auf seinem Kopf waren auf einer Seite komplett geschoren und bildeten so das Abbild eines Drachen. Schon wieder. Warum dieses Wappen? Der Mann schien der einzige der Gruppe zu sein, der seine Rüstung nicht abgelegt hatte, lediglich der dazugehörige Helm hing an einem Lederriemen von seinem Gürtel, zusammen mit einem Reitersäbel und einem kleinen Faustschild. Während Cyrus die Gruppe weiter beobachtete, näherte sich eine weitere Gestalt über die Koppel. Der Neuankömmling hätte sich nicht weiter von den Rittern unterscheiden können. Er war groß, Cyrus war sich sicher, dass er mit dem Mann auf Augenhöhe gewesen wäre, wenn dieser ihn nicht sogar überragte, aber das war auch schon das einzig Eindrucksvolle an ihm. Seine Kleidung verriet ihn. Bunt wie ein Pfau dachte Cyrus. Ein Hemd, das nach der neusten Mode des Imperiums in zwei Farben gefärbt worden war und ein plumper Hut an dem eine gewaltige Pfauenfeder hing. Die Stiefel die er trug schienen auch weniger für den aufgeweichten Boden des Lagers und mehr für irgendeinen Ballsaal gemacht. Der Schlamm stand ihm bis zu den Knöcheln und hatte die einstmals sicher vergoldeten Schnallen seiner Schuhe verkrustet und er bewegte sich dementsprechend staksend. Wie ein Storch. Grazil aber irgendwie… lächerlich. Das einzige an ihm, was auch nur irgendwie in diese Umgebung zu passen schien, war der Degen den er trug, aber auch die Waffe wirkte wie alles an ihm mehr wie Zierrat. Und der Mantel. Der Mantel, den er trug war schlicht aber es war seine Farbe, die Cyrus hatte aufmerksam werden lassen. Türkis mit einem goldenen Emblem auf der Schulter, das er auf die Entfernung kaum ausmachen konnte. Das war auch nicht nötig. Jeder Soldat der kaiserlichen Armee kannte die Zeichen. Sein Leben konnte davon abhängen, das er sie kannte. Ein Magier? Cyrus hatte die Männer des Sanguis-Orden bisher selten im Lager gesehen. Sie hatten ihre eigenen Zelte, abseits der normalen Gardisten und ließen sich abseits des Schlachtfelds nur selten sehen. Und das mit gutem Grund, dachte Cyrus. Allerdings wirkte der hier nicht wie die üblichen Gestalten, die er mit dem Orden in Verbindung brachte. Zum ersten wirkte er jung und zum zweiten… nicht wirklich bedrohlich, dachte der Gejarn. Wäre es nicht für den Mantel gewesen, der ihn klar als einen Mann des Ordens auswies, Cyrus hätte ihn vermutlich nicht weiter beachtete. So jedoch warf der Neuankömmling nur mehr Fragen auf. Vor allem weil er anscheinend einen Bogen um die Gruppe goldener Reiter machte und stattdessen auf ihn zukam. Wenigstens konnte es nicht mehr schlimmer werden, dachte er.
Das letzte was er heute gebrauchen konnte, war sich mit dem Orden auseinander zu setzen. Den Mann im Auge behaltend, legte er seine leere Schale beiseite und machte Anstalten aufzustehen. Bevor er jedoch dazu kam, mehr als einen Schritt zu machen, hob der Fremde eine Hand um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Cyrus überlegte kurz, einfach zu verschwinden So wie der Mann aussah, könnte er kaum zu ihm aufholen, wenn er jetzt einfach zwischen den Zelten verschwand. Auf der anderen Seite… Der Umhang des Zaubrers war jetzt deutlich zu erkennen, genauso wie das goldene Abzeichen eines Blutstropfens darauf. Er hatte sich also auch nicht getäuscht. Der Mann gehörte auf jeden Fall zum Orden. Vor einem Magier davon zu rennen und wenn er aussah, als wäre er in einen Eimer Farbe gefallen, war keine gute Idee. Und selbst wenn er davon kam, würde das Fragen aufwerfen. Das ganze Lager war angespannt, durch die ständigen Angriffe. Cyrus seufzte. Dem Mann zu entkommen, war es dann doch nicht wert, sich eine Kugel einzufangen. Aber nur fast, dachte er und ließ sich auf den Stein zurück fallen, während der Mann über die Wiese auf ihn zu stakste und stolperte. Als er Cyrus schließlich erreichte, war der Schlamm von seinen Stiefeln schon über seine Hosenbeine hinauf gewandert.
„Verzeiht…“ Der Fremde stützte die Arme auf den Knien ab und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Er war jung, wie Cyrus feststellte, das Gesicht unter dem breiten Hut mit der Pfauenfeder wirkte weich und das paar blauer Augen wach und intelligent. Einige Strähnen hellen Haares ragten unter der Kappe hervor und die Enden eines langen Schnurrbarts fielen ihm bis fast zum Kinn. „ Ihr gehört nicht zufällig zur Goldenen Garde?“ Die Stimme des Mannes klang dünn und hoch. Cyrus erinnerte es ein wenig an das Piepsen einer Maus.
Der Wolf wusste nicht, was er erwartet hatte, aber die Frage sicher nicht. „Goldene Garde?“ Er sah zu der Gruppe Ritter, die nach wie vor in der Sonne saßen. Lediglich der Mann mit dem Drachensymbol im Haar sah einmal zu ihnen herüber, der Rest schien sie hingegen bisher nicht einmal bemerkt zu haben.
„Sind das die Männer dort im Feld? Dann fürchte ich, ist die Antwort nein.“ Cyrus musterte sein gegenüber nun etwas genauer. Der Mann wirkte wirklich nicht wie einer der typischen Magier des Ordens. Jung und in keiner Weise bedrohlich… Gehörte er wirklich zum Orden?
„Zu schade. Ich hatte wirklich gehofft, mit einem von ihnen alleine reden zu können. Ja doch, es wäre wirklich wichtig für… nun, meinen Bericht.“ Er zog eine kleine Schreibfeder mit metallener Spitze aus seinem Gürtel und tippte sich damit gegen die Stirn. Und zu Cyrus erstaunen manifestierte sich ein Tintenfässchen direkt vor ihm in der Luft. Die Umgebung schien einen Moment wie statisch aufgeladen. Cyrus Füße kribbelten als wären sie eingeschlafen und das Fell an seinen Armen stellte sich auf. Also doch ein Magier… „Ich bin übrigens Anselm von Ansim. Sehr erfreut.“
Er nahm einen der schweren Lederhandschuhe ab, die er trug und streckte Cyrus eine Hand hin. Was soll man davon halten? fragte dieser sich stumm. Nach wie vor hatte er keine Ahnung, wie er den Mann einschätzen sollte. Eine Bedrohung war er jedenfalls nicht. Oder doch? Immerhin war er ein Magier. Nun er konnte schlicht den ganzen Tag hier herumstehen und darauf warten, das er es herausfand. Cyrus gab sich einen Ruck und nahm die Angebotene Hand.
„Cyrus.“ , erwiderte er knapp. „Und warum geht ihr nicht einfach zu ihnen herüber wenn ihr mit ihnen reden wollt?“ Und euch so schnell wieder loswerden? fügte er in Gedanken hinzu.
„Nun… ähm. Ich muss doch zugeben das… Also ich bin vielleicht ein wenig…“ Er sah einen Moment zu der Gruppe hinüber. „Eingeschüchtert.“
Cyrus lachte. Er konnte sich nicht helfen und einen Moment war er sich fast sicher, dass Anselm das als Beleidigung auffassen musste. „ Ihr seid ein Magier.“, erwiderte er schließlich, als er sich wieder gefangen hatte.“ Wovor bitte habt ihr Angst? Einer von euch ist für die Offiziere so viel Wert wie eine ganze verdammte Kompanie. Wenn diese Männer auch nur daran denken Hand an euch zu legen lässt der Kaiser sie vermutlich Hängen und Vierteilen. Also, wer bitte sind diese Leute, das sie euch Angst machen?“
Einen Moment lang erwiderte Anselm nichts. „Also…“ r räusperte sich. „ Erst einmal, bin ich kein vollwertiger Zauberer. Nun das stimmt vielleicht nicht ganz aber… Meine Schule ist äußerst…speziell. Und vom Kaiser persönlich abgesegnet.“
„Was ihr lasst Tintenfässer aus Luft entstehe?“
Er kratzte sich einen Moment am Kopf. „Teils. Ich... Ich demonstriere es euch. Wartet einen Augenblick.“ Anselm schien sich wieder zu fangen und begann in einer Gürteltasche zu kramen, bis er schließlich einen großen Bogen Pergament zu Tage förderte. Einen Moment drehte er das Blatt Papier zwischen den Händen, als versuche er es auszurichten, dann schien er schließlich den gewünschten Winkel gefunden zu haben. „ Bewegt euch einen Augenblick nicht.“ , wies er Cyrus an und bevor dieser auch nur dazu kam zu fragen, was vor sich ging, löste sich ein Lichtblitz aus den Fingerspitzen des Zauberers. Es war grell genug um ihn einen Augenblick zu blenden, dann war es auch schon vorbei.
Cyrus blinzelte. „Was war das?“
„Nun also der Orden nennt es Luxomantie und ich habe auch noch ganz andere Namen dafür gehört, beispielsweise die nutzloseste magische Schule, aber…“ Er drehte das Pergamentblatt um und hielt es Cyrus hin. „Ich habe darauf nie viel gegeben.“ Anselm lächelte zum ersten Mal, während der Wolf sich das Pergament besah. Es war nicht etwa leer sondern zeigte in genaustem Detail ein Bild von ihm selbst, so wie er noch vor wenigen Augenblicken dagestanden hatte, zusammen mit seiner Umgebung und den Zelten im Hintergrund. Selbst ein Teil er Schüssel, die er auf einem Felsen zurück gelassen hatte, war zu erkennen. Und es war nicht nur ein bloßes Bild, wie ihm klar wurde. Es war absolut perfekt, bis ins kleinste Detail. Die feinen, schwarzen Linien auf dem Papier wirkten nicht wie Tinte, sondern wie Kohlepulver, als hätte sie etwas in das Material eingebrannt. Es war… beeindruckend, dachte Cyrus bei sich. Schön. Beeindruckende Dinge gab es hier ohne Ende… aber nur wenig Schönes.
„Nettes Kunststück.“ , meinte er, bevor er Anselm das Blatt zurück gab, aber die Faszination in seinen Augen war dem Magier wohl nicht entgangen.
„Es ist nicht bloß ein Kunststück. Es ist meine Arbeit.“ , erwiderte dieser mit sichtlichem Stolz. „Ich bin hier um diese Kampagne für den Kaiser und die Menschen des Reichs zu dokumentieren.“
Cyrus zog eine Augenbraue hoch. „Ich würde sagen, dann hätte der Kaiser jemanden schicken sollen, der keine Angst vor seinen Männern hat.“
„Es sind nicht seine Männer, die mir Unbehagen bereiten, Sir.“, erwiderte Anselm und sah ihn dabei herausfordernd an, wie um seinen Punkt zu unterstreichen.
„Nicht?“ Cyrus grinste und ließ dabei ein paar scharfer Zähne sehen. Falls das den Schreiberling beunruhigte so musste er ihm zugestehen, dass er es sich zumindest nicht anmerken ließ. „Aber die goldene Garde tut es?“
„Die goldene Garde gehört auch nicht dem Kaiser. Oder… nun ja, sie tut es schon nur nicht offiziell. Es ist… kompliziert.“
„Dachte ich mir.“ Das Drachenwappen, dachte Cyrus. Das Wappen war nach wie vor falsch. „ Tragen sie deshalb das Wappen der alten Kaiser?“
„Ich hätte nicht gedacht, dass ihr euch mit Geschichte auskennt.“
„Nun ich stecke voller Überraschungen. Also, was ist los mit dieser… goldenen Garde?“
„Wie gesagt, das ist eine komplizierte Geschichte.“ Anselm räusperte sich. „ Euch ist ja bereits aufgefallen, dass sie das Wappen der Ordeal-Kaiser tragen. Ist euch der Name Macon Ordeal geläufig?“
„Sollte er?“ Der Name klang auf eine Weise vertraut, dachte Cyrus. Trotzdem schien er sich nicht erinnern zu können.“ Irgendetwas mit Pferden…“
Nun war es an Anselm zu lachen. „Das dürfte die größte Untertreibung sein, die ich je gehört habe. Macon Ordeal war der Begründer dessen, was heute die goldene Garde ist. Ursprünglich die Überreste eines Kavallerie-Regiments, das sich mit ihm gegen seinen Vater stellte, zusammen mit einigen Kosaken aus Hasparen. Diese Männer führten die ersten Rebellion gegen die Ordeal-Kaiser. Später nahm Macon den Thron natürlich für sich in Anspruch aber seine Männer blieben und vermischten sich mit den Reiterstämmen Hasparens. Die Ordeal-Kaiser nach Macon rekrutierten ihre Elite-Kavallerie aus diesen Stämmen und diese Tradition blieb bestehen bis zu Simon Belfares großer Rebellion und dem Fall der Ordeal-Dynastie. Danach wurden die ehemaligen Regimenter der Ordeal-Kaiser aufgelöst, zusammen mit der Prätorianer-Garde und später zur kaiserlichen Garde umgeformt. Oder zumindest fast alle. Die goldene Garde bekämpfte Simon Belfare noch ein Jahrzehnt nachdem er den ´bernsteinthron für sich gesichert hatte und als man sie schließlich stellte… nun Simon Belfare war kein gnädiger Mann. Er stellte der goldenen Garde ein Ultimatum. Entweder sie würden sich ergeben und genau wie die restlichen Loyalisten entwaffnen lassen oder sterben. Die Antwort der Garde war… eindeutig.“
„Ich vermute einmal sie haben sich nicht ergeben.“
Anselm sah einen Moment ein wenig verlegen drein. „Sie haben ihn wissen lassen, sie würden darüber nachdenken, wenn er die Hintern ihrer Pferde küsst. Er ließ sie wissen, dass er ihre Pferde schlachten und ihnen vorsetzen würde. Am Ende der Schlacht waren nur noch etwa vierzig von ihnen am Leben. Allerdings hatte es den Kaiser fast alle seine Männer in Hasparen gekostet und die goldene Garde hatte mehr als nur ein paar Verbündete unter den Reiterstämmen und Pferdezüchtern der Provinz. Er hatte einen Sieg errungen der drohte ihm die gesamte Region zu kosten.“
„Er hat sie also begnadigt.“
„Richtig.“ Anselm nickte und zuckte mit den Schultern. „Auch wenn er nicht wirklich eine Wahl hatte und die Überlebenden der goldenen Garde wussten das. Also konnten sie die Bedingungen zu einem gewissen Grad diktieren. Sie würden sich dem Kaiser unterordnen, aber nicht ihre Waffen ablegen. Stattdessen würden sie ihre Rolle weiterhin ausführen und unter dem neuen Herrscher als Kavallerie-Einheit dienen. Sie haben ihn allerdings nie wirklich als Kaiser anerkannt und ziehen bis heute unter dem Banner der Ordeal-Kaiser in die Schlacht. Offenbar war es keinem von Simons Nachfolgern die Mühe wert, ihnen das auszutreiben und dabei zu riskieren, ganz Hasparen in einen kostspieligen Bürgerkrieg zu stürzen… wegen eines Stücks Stoffs. Man kann von den Belfare sagen was man will, aber sie sind Pragmatiker.“
„Und was? Ihr traut euch nicht zu ihnen zu gehen weil ihr ihnen nicht mit der Autorität des Kaisers drohen könnt?“
Der Magier, oder was er sonst sein mochte, sah einen Augenblick verlegen drein, antwortete jedoch nicht. Cyrus seufzte. Er hatte nur seine Ruhe gewollt. Einen Moment überlegte er erneut, sich einfach davon zu stehlen. Anselm konnte wenig tun um ihn aufzuhalten, wenn er ihm sagte, dass das wirklich nicht sein Problem war. Aber irgendwie… Er hatte wirklich keine Lust für den Mann den Aufpasser zu spielen. Die Sache war nur…der Mann war ihm sympathisch. Vielleicht weil er ihn ein wenig zu sehr an ihn selbst erinnerte. Nicht verbraucht oder resigniert wie zu viele andere hier. Und scheinbar fasziniert aber auch eingeschüchtert von allem hier. Er atmete tief durch. War es ihm nicht ähnlich gegangen? Die erste Gelegenheit aus den Kasernen heraus zu kommen. Wieder das offene Land vor sich zu haben, statt vergitterter Fenster und schwerer Eichentore. Kaum zu glauben, dass das erst wenige Monate her war. Er fühlte sich alt, dachte Cyrus, dabei war Anselm an Jahren gemessen vielleicht sogar der Ältere von ihnen. Aber nicht an Erfahrung.
„Und wenn ich mit euch hingehe?“ Er versuchte freundlich zu klingen. Es gelang ihm scheinbar nicht ganz und einen Moment war er sich sicher, dass Anselm ablehnen würde.
„Das würdet ihr tun?“
„Ich sage es mal so. Es ist euer Begräbnis. Entweder ihr geht hin oder ich schleife euch.“ Wenn er schon nichts dagegen tun konnte, den Mann zu mögen, würde er jetzt garantiert nicht zulassen, dass er einen Rückzieher machte. „Eure Entscheidung. Aber wenn ihr vor ein paar Männern in Rüstung Angst habt…“
Anselm lächelte lediglich einen Moment. „Ich hatte eigentlich gedacht, ich störe euch, wisst ihr.“
„Oh, glaubt mir, ihr wisst nicht wie ich mit Leuten umgehe, die mir wirklich missfallen. Der letzte hat ein Messer in die Brust bekommen.“
DasLächeln des Magiers verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Nach einem letzten Moment des Zögerns setzte er sich schließlich in Bewegung, Cyrus vorausgehend über das Feld und zu der kleinen Gruppe aus Männern der goldenen Garde.
Anselm blieb stehen. Der Mann hatte erneut die Feder gezückt und hielt das Tintenfass und einen Bogen Pergament in einer Hand. Cyrus konnte die dünne, feine Handschrift des Magiers auf dem Blatt erkennen. Offenbar hatte er sich einige Fragen aufgeschrieben, die er den Männern stellen wollte. Das hieß, wenn sie den je dazu kamen. Eines der Pferde in ihrer Nähe schnaubte, als wollte es Cyrus missfallen Ausdruck verleihen. Die morgendliche Kühle begann allmählich sich zu verflüchtigen und die Sonne brannte auf das Stück ungeschützter Erde hinab. Cyrus sah zurück zu den Zelten, die wenigstens etwas Schatten boten und dem äußeren Ende der Koppel. Er hätte einfach dort sitzen bleiben sollen, dachte er. Es gab wirklich bessere Orte um stecken zu bleiben. Der Boden war vom Morgentau aufgeweicht und zog bei jedem Schritt an seinen Stiefeln und das Gras war rutschig. Vor ihnen lagerten die Mitglieder der goldenen Garde. Rauch stieg von einem kleinen Feuer auf über dem in einem Topf etwas vor sich hin kochte. Zwei Männer in goldenen Umhängen waren damit beschäftigt, eine Gruppe Pferde zu striegeln, andere saßen im Gras, eine Gruppe schien in ein Kartenspiel verwickelt. Ein Mann, der neben dem goldenen Mantel die schwarze Weste eines Schmied trug, besah sich Rüstungen, Speere und Schwerter, die man in seiner Nähe zu ordentlichen Stapeln angehäuft hatte. Seltsamerweise konnte Cyrus unter all der Ausrüstung nur eine Handvoll Feuerwaffen entdecken, meistens abgenutzte Radschlosspistolen und nur einige wenige kurzläufige Gewehre mit einem modernen Steinschloss. Der einzige der Männer, der keiner besonderen Tätigkeit nachzugehen schien, war der Tonpfeifenraucher, der nach wie vor auf einem Stein saß und die übrigen Soldaten beobachtete. In seinen Händen drehte er etwas, das in der Sonne golden glitzerte.
„Und ihr bleibt wirklich da?“ , wollte Anselm wissen. Sie standen kaum zehn Schritte entfernt von der Stelle an der sich die Männer der goldenen Garde niedergelassen hatten aber der Schreiberling weigerte sich, einen weiteren Schritt zu tun. Das war ein Fehler gewesen, dachte er. Er war wirklich nicht in der Laune dem Mann den ganzen Tag gut zuzureden. Er könnte einfach verschwinden.
„Ihr seid ein Feigling.“ , knurrte er verächtlich und gab dem Mann einen Schubs, der etwas stärker ausfiel als gedacht. Was werde ich?, dachte er einen Moment, während er dem stolperndem Anselm nach sah. Der Mann war bloß eingeschüchtert. Das war er auch gewesen. Anfangs. Vorsichtig. Cyrus schüttelte den Kopf. Und war er das nicht noch immer? Viel zu vorsichtig. Er wollte Anselm nicht mögen. Ich habe zu viele sterben sehen, dachte er. Ich habe meinen Vater sterben sehen. Auf einem Feld, das diesem hier gar nicht so unähnlich ist. Einen Augenblick überlegte er sich zu entschuldigen, aber Anselm stolperte bereits zwischen die nach wie vor im Gras sitzenden Gardisten. Cyrus Schubs war tatsächlich viel zu Grob ausgefallen und der Mann stolperte in den ersten Reiter hinein, der es gerade noch schaffte, sich zu ihm umzudrehen. Klirrend zerbrach irgendetwas und Cyrus sah, wie sich ein größer werdender, blauer Fleck auf der Uniform des Gardisten ausbreitete. Das Tintenfass!
Der Mann stolperte sichtlich erschrocken zurück, während Anselm, nun haltlos, ins Gras stürzte und der Länge nach hinschlug.
„Soll das ein Scherz sein?“ Der nun tintenbefleckte Gardist packte Anselm an den Schultern und zog ihn scheinbar mühelos auf die Füße… und in die Luft. Seine Augen blitzten gefährlich und Cyrus erkannte in ihm den Offizier, der ihn bei den Kochzelten konfrontiert hatte. Nun das erklärte immerhin seine seltsame Uniform. Das war nicht gut…
„Verzeihung.“ , murmelte Anselm, dessen Füße wehrlos in die Luft traten. Cyrus legte derweil eine Hand an den griff der Axt. Mit einem „Verzeihung“ war das hier nicht getan, fürchtete er. Der Mann war auf ärger aus. Die ständigen Angriffe, ohne selber mehr tun zu können, als abzuwarten, wann die Mauern fallen würden, hatte die Leute nervös gemacht. Aggressiv. Und Anselm hatte bedauerlicherweise das Pech gerade einen von ihnen eine Möglichkeit zu geben, diese Aggression auch auszuleben.
„Ich würde ihn wirklich los lassen.“ , warnte Cyrus den Mann. Langsam besah er sich seinen potentiellen Gegner von Kopf bis Fuß. Der Mann war groß, dachte er bei sich. Mit geschorenem Kopf und einem dünnen Bart in dem einige graue Haare glitzerten. Die Uniform die er trug ähnelte Cyrus eigener, wurde jedoch durch den goldfarbenen Mantel ergänzt, der ihm schon zuvor aufgefallen war. Vermutlich das Erkennungszeichen der goldenen Garde. Normalerweise duldeten die Offiziere der kaiserlichen Armee nicht viel Variation in der Ausrüstung einzelner Regimenter, aber wenn stimmte, was Anselm ihm über diese Leute erzählt hatte, sahen sich die Ritter Hasparens auch nicht wirklich als der Garde angehörig.
Die Gefährten des Mannes erhoben sich nun ebenfalls einer nach dem anderen und sahen sich verwirrt nach dem Tumult in ihrer Mitte um. Alle, bis auf den Gardisten, der Cyrus schon zuvor aufgefallen war. Der, der nach wie vor seine Rüstung trug. Er warf lediglich einen kurzen Blick in ihre Richtung, bevor er sich desinteressiert wieder seiner Tonpfeife zuwendete. Augen, die beinahe wie flüssiges Gold wirkten. Katzenhaft. Der Drache, der auf seine Schädelseite rasiert war, fing das Licht ein. Cyrus wusste nicht wieso, doch der kurze Moment genügte ihm um ein mulmiges Gefühl zu bekommen. Mehr, als es der Riese vor ihm tat. Mit dem wurde er fertig, da war er sich ziemlich sicher. Aber der andere Mann… Irgendetwas an ihm ließ das bisschen Angst, dass er sich nach Monaten hier behalten hatte wieder zum Vorschein treten.
„Ärger Kazimier?“ , fragte einer.
„Ich glaube der Wolf hier hat einen Freund.“ Der als Kazimier angesprochene Mann sah Cyrus mit schief gelegten Kopf an. „ Und wenn ich ihn nicht los lasse?“ Der Spott in seiner Stimme entging Cyrus keineswegs, aber wenn er erwartete, dass der Wolf darauf ansprang, hatte er sich getäuscht.
„Wollt ihr wirklich einen offiziellen Abgesandten des Kaisers verletzen?“
„Des Kaisers, ja?“ Der Mann sah zu Anselm, der sich nach wie vor in seinem Griff wand.
„Ich… ja. Ich bin als Beobachter hier, Herr. Ich soll zusammenfassen was hier vorgeht, damit man im Kaiserreich von euren Taten weiß. Offenbar gibt es die letzten Monate eine gewisse… Einbuße an Rekruten und…“
„Verschont mich.“ Der Gardist setzte Anselm ab und Cyrus atmete durch. „Ihr könnt eurem Kaiser berichten, dass er mir eine neue Jacke schuldet. Und jetzt zieht Leine, Schreiberling.“ Er gab dem Magier einen erneuten Schubs. Diesmal jedoch war Anselm vorbereitet und der Schlag brachte ihn nur dazu, einige Schritte nach vorne zu stolpern. Wo er erstarrte.
„Tun wir was er sagt.“, meinte Cyrus und bedeutete Anselm ihm zu folgen. „Das war ein kurzes Abenteuer und ich schätze ihr…“
„Nein.“ Die plötzliche Schärfe in der Stimme des Mannes ließ ihn einen Schritt zurück weichen und selbst der Gardist, der ihn eben noch geschüttelt hatte, verengte die Augen zu schlitzen. Das einzige Geräusch, das die einsetzende Stille durchbrach war ein leises Kichern, das möglicherweise nur Cyrus auffiel. Ein Kichern, das von der Gestalt des in Gold gerüsteten Ritters kam. Der Mann hatte nach wie vor keine Anstalten gemacht aufzustehen, sah aber nun mit deutlichem Interesse zu ihnen herüber. Die Tonpfeife war verschwunden, dafür jedoch hatte er nun etwas aufgesetzt, das für Cyrus wie eine goldene Totenmaske aussah. Nur seine Augen waren zu erkennen.
„Ich würde vorschlagen, dass ihr euch nicht mit Kazimier anlegt, Kleiner.“ Die Stimme des Ritters war leise aber ernst, während er in Richtung des Gardisten nickte. Kazimier lächelte unterdessen nur überlegen.
„Anselm?“ Der Wolf legte den Kopf schief und besah sich den jungen Mann erneut. Anselm hatte den Kopf gesengt und eine Hand am Schwertgriff. „Wir sollten wirklich verschwinden.“
Statt zu antworten, wirbelte der Schreiber herum und schlug Kazimier mit aller Kraft ins Gesicht. Cyrus konnte Knochen knirschen hören, während der Gardist mit einem Aufschrei Rückwärts stolperte und sich die Wange hielt. Anselm hingegen schüttelte lediglich die Schmerzende Hand und ließ Kazimier dabei nicht aus den Augen.
„Mein Name ist Anselm von Ansim. Meine Väter kontrollieren die Hälfte der Ländereien um Risara. Ich bin ein Magier des Sanguis-Ordens. Ich habe unter Tyrus Lightsson studiert und ich bin kein Feigling.“ Cyrus fühlte, das diese letzten Worte vor allem an ihn gerichtet waren. Mit einer fließenden Bewegung zog Anselm den Degen und richtete die Waffe auf den Gardisten. „Und ich verlange Genugtuung.“
„Anselm…“ Cyrus trat rasch zwischen den Schreiber und den Gardisten. „Ich hatte ihn gerade so weit, dass er nicht mehr versuchen wollte, euch umzubringen.“
Anselm lächelte nur. „Wisst ihr, Cyrus. Risara ist für zwei Dinge bekannt. Die erste ist Wein.“ Mit diesen Worten trat er an dem Wolf vorbei. Cyrus schüttelte lediglich den Kopf. Das konnte nicht gut gehen.
Kazimier lachte lediglich, während er einem der anderen Gardisten bedeutete ihm ein Schwert zu geben. Die Klinge, die ihm der Mann zuwarf, war ein Reitersäbel. Schwer genug um einen Schädel durch einen bloßen Knaufschlag zu spalten und scharf...
„Bis zum ersten Blut.“ , stellte er lächelnd fest, während er sich einen Helm reichen ließ und begann, seine Rüstung anzulegen. Das Metall schimmerte golden in der Morgensonne. Deutliche Kratzer spiegelten sich auf dem Metall wieder und bewiesen deutlich, dass dieser Mann bereits mehr als eine Schlacht hier gesehen hatte… und überlebt. Anselm hingegen hatte nicht einmal passendes Schuhwerk für diesen Untergrund, dachte Cyrus. Geschweige denn mehr Schutz als ihm seine simple Kleidung bieten mochte. Er machte Anstalten, erneut dazwischen zu treten, aber Anselm reagierte schneller als er und hielt ihm mit einer Hand zurück.
„Ich werde das klären.“ , erklärte er grimmig. „Nicht ihr. Ich bin kein Feigling.“
„Das wird ihn,“ und dabei nickte er in Richtung Kazimier, „ Nicht davon abhalten euren Kopf einzuschlagen. Schaut her, ich weiß ihr fühlt euch gekränkt und es tut mir leid was ich gesagt habe, aber bringt euch deshalb nicht um. Ich kann das für euch übernehmen. Ich bin mir… relativ sicher, dass ich ihn erledigen kann.“ Auch wenn er sich dessen nicht völlig sicher war. Unbewaffnet in einem Kampf Mann gegen Mann hatte er vielleicht einen Vorteil. Aber jetzt waren Waffen im Spiel.
„Nein.“
„Ich will euch wirklich nicht auf dem Gewissen haben.“
Anselm machte sich nicht die Mühe, erneut zu antworten, sondern drehte ihm lediglich den Rücken zu.
„Ist ja euer Leben.“ , meinte Kazimier, bevor er die Waffe hob und sich auf den Magier stürzte. Anselm wich zurück durch die Reihen der rasch beiseite springenden Männer der goldenen Garde. Schlamm spritzte auf und verfärbte seine bunte Kleidung, während Kazimier ihm mit einem Sprung nachsetzte. Stahl blitzte erneut auf, als der Gardist den Säbel kreisen ließ und Anselm nur um Haaresbreite verfehlte. Dieser duckte sich unter dem Hieb durch und kam in Kazimiers Seite wieder nach Oben… die Klinge auf seine Kehle gerichtet.
Cyrus konnte hören wie ein kurzes Raunen durch die Menge ging. Der einzige, der den Kampf scheinbar genauso stumm verfolgte, wie er selbst, war der seltsame Anführer der goldenen Garde selbst. Die goldenen Augen schienen jeder Bewegung der beiden Männer voraus zu gehen… als ob er sie erahnen würde. Und der unleserliche Ausdruck auf dem Gesicht des Mannes wandelte sich langsam in ein dünnes Lächeln.
„Wisst ihr eigentlich wer Tyrus Ligthsson ist?“ , fragte Anselm.Die Degenklinge hielt er dabei locker vor sich, nach wie vor auf den Hals seines Gegners gerichtet. Cyrus runzelte die Stirn. Der Mann klang mit einem mal… sicher, dachte er. Gar nicht mehr wie der eingeschüchterte Schreiberling für den er ihn gehalten hatte. War das nur eine Maskerade oder echte Selbstsicherheit? Risara war für zwei Dinge bekannt, dachte er. Das erste war Wein. Und was war bitte das zweite?
„Irgendeiner eurer Magierlords, nehme ich an. Ich hoffe er ist tot, dann lernt ihr ihn kennen.“ Kazimier schlug die Waffe mit einer geübten Bewegung zur Seite und drang erneut auf Anselm ein.
Dieser bewegte sich fast gar nicht. Cyrus nahm lediglich war, wie er die Hand drehte. Metall blitzte und der Magier parierte den Angriff, fast mühelos, wie es schien, obwohl Kazimier deutlich stärker sein musste. Oder?
„Ordensmeister für euch.“ Ein dutzend rasche Stiche, die Kazimier dazu zwangen zurück zu weichen. Und nicht nur das, dachte Cyrus. Keiner der Schläge schien wirklich auf seinen Körper zu zielen. Anselm versuchte gar nicht, seinen Gegner zu treffen. Spielte er nur mit ihm? Das schien mehr zu irgendeinem dieser adeligen Narren zu passen, die so viel auf ihre großartige Ausbildung und Ehre gaben, das sie darüber vergaßen, das ihr Gegner sie nur töten brauchte um das alles nutzlos werden zu lassen. In einem öffentlichen Duell galt es als unschicklich seinen Gegner gezielt zu töten, statt nur zu versuchen, ihn zu verletzen und damit kampfunfähig zu machen. Aber das hier war ein Schlachtfeld. Und Kazimier ein Krieger, kein neidischer Adeliger. Oder steckte etwas anderes dahinter? Kazimier seinerseits, ließ jedenfalls keinen Zweifel daran, dass er vorhatte, Anselm den Schädel einzuschlagen, sollte dieser ihm eine Gelegenheit dazu geben. Jeder Angriff war geeignet, dem deutlich kleineren Mann sauber in zwei Hälften zu teilen und auch wenn Anselm die Hiebe noch so oft parierte oder auswich, mehr als einige Minuten konnte er das nicht durchhalten. Dafür fehlte ihm schlicht die Ausdauer, über die der erfahrenere Mann verfügte.
„Ich möchte euch wirklich nicht wehtun.“
„Zu Schade.“ , erwiderte Kazimier und zwang Anselm, erneut einem Angriff auszuweichen. Der Magier kam ins straucheln und schaffte es gerade noch zu verhindern, der Länge nach hin zu schlagen. Der Boden war rutschig und uneben. Anselm mochte schneller als sein Gegner sein, aber wenn er das Gleichgewicht verlor wäre der Kampf so gut wie entschieden. Erneut tastete Cyrus nach dem Axtgriff an seiner Hüfte. Allerdings… wenn er Kazimier die Axt in den Rücken rammte, würde sich vermutlich die ganze Garde auf sie stürzen. Nun… wäre nicht das erste Mal, dachte er. Mehr als ihn zur schwarzen Garde zu stecken konnten sie nicht tun.
Anselm hatte es unterdessen geschafft, sich wieder zu fangen. Ein Hieb des Mannes zertrennte das Kinnband von Kazimiers Helm. Ein weiterer schleuderte ihn von dessen Kopf. Cyrus stieß einen ließen Pfiff aus. Aber wenn Anselm nicht bald aufhörte, Treffer zu verschenken, würde Kazimier ihn durch simple Erschöpfung besiegen. Dann jedoch geschah es. Anselm stolperte, ein Bein knickte unter ihm ein und Kazimier sah seine Chance gekommen. Anselm trat ihn mit aller Kraft gegen das Schienbein und der Gardist knickte mit einem Aufschrei ein. Anselm nutzte den Moment und brachte seinen Gegner endgültig zu Fall. Kazimier fuchtelte wild mit dem Säbel durch die Luft, in der Hoffnung seinen Gegner irgendwie zu treffen, dann schlug er neben Anselm in den Schlamm. Der Gardist erholte sich allerdings schneller, als Anselm gehofft zu haben schien. Mit einem Aufschrei warf der Mann sich herum und schwang erneut das Schwert nach dem liegenden Magier... Und traf nur Erde, als Anselm sich blitzschnell zur Seite rollte. Dreck und Schlamm verschmierten seine bunte Kleidung, während er die Klinge nach oben stieß, direkt in Kazimiers ungeschützte Seite. Der Gardist erstarrte. Keiner der umstehenden rührte sich, während Anselm langsam aufstand und die Klinge mit einem Ruck zurückzog. Die dünne Spitze der Waffe war blutgetränkt. Aber nicht mehr. Kazimier starrte ungläubig zwischen der oberflächlichen Wunde und dem Magier hin und her, während Anselm wortlos zu Cyrus trat und sich den Dreck aus dem Gesicht wischte.
„Die zweite Sache für die Risara bekannt ist, mein Freund: Wo viel getrunken wird, gibt es zu viele Narren, die meinen einen Kampf anfangen zu müssen. Mein erstes Duell habe ich mit vierzehn ausgetragen.“ Er klopfte dem verdutzt dreinsehenden Wolf auf die Schultern. „Davor habe ich keine Angst.“
Nein, dachte Cyrus. Aber er hatte sein verdammtes Leben riskiert, nur um den Mann möglichst wenig zu verletzen. In einem Kampf, den er selbst begonnen hatte. Warum?
„Ihr hättet ihn töten können.“ Der Mann mit den roten Haaren und der goldenen Rüstung löste sich aus der Menge der umstehenden Männer. Er klang seltsam… amüsiert, dachte Cyrus. Und das beunruhigende Gefühl, das er schon zuvor gehabt hatte, ließ ihn nach wie vor nicht los. Irgendetwas an der Ausstrahlung dieses Mannes war seltsam. War er der Anführer dieser Männer? Vermutlich. Aber das erklärte nicht, wieso er Cyrus so unruhig machte. Es waren seine Augen. Er kannte diese Augen. Hatte sie an viel zu vielen Orten gesehen und doch… Und seine Stimme…
Langsam trat er vor und hob Kazimiers verlorenen Helm auf. Das einstmals makellose, goldene Metall wies nun eine deutliche Beule auf, dort wo Anselm es getroffen hatte. Dieser ließ sich schwer atmend auf ein Knie sinken. Schlamm tropfte aus seinen Haaren und von seiner Kleidung, während er die Klinge mit einem Stück seines Mantels säuberte.
„Sir Kazimier. Ihr seid besiegt.“ Immer noch klang der Anführer der goldenen Garde geradezu amüsiert. Betont langsam drehte er sich zu Anselm um. Kazimiers Gesicht hingegen zeigte nur eines. Und Cyrus wusste, dass er vorsichtig sein musste. Nicht hier im Lager, nein. Aber wenn er dieses gesicht auf dem Schlachtfeld sehen würde… „Und was euch angeht… Schreiberling. Ihr habt einen meiner besten Ritter zuerst gekrängt und dann geschlagen. Was meint ihr, sollte ich deshalb mit euch machen?“
Anselm fühlte sich unwohl. Ich wollte doch nur mit ihnen reden, dachte er. Nun, das hatte nicht wirklich funktioniert wie gehofft. Stattdessen stand er jetzt schlammverschmiert vor dem Anführer der goldenen Garde selbst und hatte sich mit einem seiner Ritter geschlagen. Nicht, das es ihm darum leid tat. Zumindest noch nicht. Goldene Augen bohrten sich direkt in seine. Er fürchtete allerdings noch Gelegenheit dazu zu bekommen. Einen Moment sah er sich hilfesuchend nach Cyrus um, der jedoch genauso wenig zu verstehen schien, was hier vor sich ging. Er hätte sich nicht hinreißen lassen dürften, dachte Anselm. Aber die Vorwürfe des Wolfes hatten irgendwie getroffen. Nicht, das er solche Aussagen nicht gewohnt wäre… Es gab schon beim Orden genug, die seine Spezialisierung als eine Spielerei ansehen. Und wenn seine Familie wüsste, das sich ihr an den Orden verlorener Sohn nicht als imperialer Kampfmagier bewies… Anselm verbannte diese Gedanken für den Moment. Fest stand, er hatte sich hinreißen lassen. Und warum? Weil so seltsam es schien, die Worte des Gejarn mehr trafen, als die seiner Kollegen. Er mochte Cyrus und trotz dessen schroffer Art hatte er versucht, ihn zu beschützen. Nun… das hatte auch schon mal besser funktioniert…
Der Anführer der goldenen Garde schien nach wie vor auf eine Antwort zu warten. Oder vielleicht genoss der Mann es auch einfach, sein Umfeld nervös zu machen. Irgendetwas an dieser Gestalt war… beunruhigend. Die goldene Rüstung, die sie trug schien beinahe zu schwer um bequem zu sein, trotzdem bewegte der Mann sich mit ungewohnter Leichtigkeit, als ob er das Gewicht nicht einmal spürte. Dabei war er von der Statur her nicht größer als Anselm selbst und Kazimier überragte ihn leicht um einen Kopf. Und trotzdem hätte er sich lieber mit drei wie Kazimier geschlagen, als mit diesem Mann. Was sollte das heißen, was er mit ihm machen sollte?
„Hetman Macon.“ Kazimier, der Mann den er soeben überwunden hatte, trat vor ihn und zum ersten Mal war er ziemlich froh über die Gegenwart des Mannes. Zumindest unterbrach es kurz den Blick dieser seltsam goldfarbenen Augen. „Ihr könnt nicht…“
„Ich tue, was ich für richtig halte. Ihr wurdet fair und ehrlich besiegt. Akzeptiert das und entehrt euch nicht weiter, indem ihr meine Befehle in Frage stellt.“ Die Stimme des Anführers war leise aber duldete keinen Wiederspruch. „Und jetzt zurück in die Reihe mit euch. Das gilt für jeden hier.
Kazimier senkte respektvoll den Kopf und zog sich zurück. Hetman Macon nickte zufrieden.
Und was euch angeht…“ Er tippte Anselm mit der Pfeife gegen den Brustkorb. „ Das hier gehört jetzt euch.“
Zu Anselms Überraschung drückte ihm der von Kazimier als Hetman Macon angesprochene Hetman den verlorenen Helm des Mannes in die Hand. Dutzende fragen schossen ihm durch den Kopf. Macon? Wie in Macon Ordeal? Aber der Mann war seit fast einem halben Jahrtausend tot. Vielleicht eine Art Ehrentitel für ihren Anführer?
Langsam nahm der Mann die goldene Maske ab und befestigte sie an einem Haken an seinem Gürtel.
Zum ersten Mal konnte Anselm sich diesen Hetman Macon genauer zu besehen. Die roten Stoppeln auf seinem Kopf verstärkten noch die eher groben Züge des Mannes, auch wenn die hohen Wangenknochen ihm etwas Aristokratisches verliehen. Dunkle brauen standen im Gegensatz zu diesen seltsamen, goldfarbenen Augen, deren Ton genau dem der Rüstung zu entsprechen schien. Schwere Stahlplatten, die selbst einen stärkeren Mann eigentlich fast in die Knie zwingen mussten. Von den mit goldenen Metallfedern gespickten Schwingen, die sich auf dem Rücken befanden, einmal ganz abgesehen. Feine, mit Kristallen ausgelegte, Runen waren in das Metall geätzt und bildeten ein dünnes, ineinander verwobenes Geflecht. Und sie waren nicht nur Dekoration, dachte Anselm. Er konnte das leichte Kribbeln in seinen Füßen fühlen, wenn er sie sich zu lange besah. Magie. Starke Magie, mächtiger als alles, was der Orden hier bisher eingesetzt hatte. Zwischen den Runen waren in Gold gefasste Wappen und Symbole eingelassen. Drachen, Pferde… Symbolik der alten Kaiser und speziell von Macon Ordeal. Nicht zu verwunderlich, dachte er, aber konnte es sein, das dieser Mann tatsächlich die alte Rüstung des Kaisers trug? Wenn ja, erklärte dass vielleicht warum ihn seine Männer als Hetman Macon ansprachen. Sein Blick wanderte zurück zum Gesicht des Hetmanen.
„Ihr seid eine Frau…“
„Nein.“ Und das war scheinbar auch alles, was Hetman Macon dazu sagen würde. Zumindest legte etwas in der Stimme des Mannes ihm nahe, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Nun… er hatte gerade ohnehin genug Fragen. Und trotzdem… Hatte er sich etwa geirrt? Oder war die Antwort etwas ganz anderes? Er hatte darüber gelesen, aber traf es auf Macon zu? Anselm beschloss, sich die Reaktion zu merken. Wenn er eines wusste, dann das er vorsichtig sein musste. Er bewegte sich auf sehr gefährlichem Gebiet, so oder so.
„Ich… schätze einmal… Danke?“ Er drehte den Helm in den Händen. Einer nach dem anderen verschwanden die übrigen Männer der goldenen Garde und wendeten sich wieder ihren Aufgaben zu, bis schließlich nur noch er, Cyrus und Hetman Macon zurück blieben.
„Ihr glaubt, das sei mein Dank?“ Der Hetman lächelte kalt. „Ihr seid also auf Wunsch des Kaisers hier. Irgendein verzogener Adeliger, der sich für den Militärdienst zu fein ist, selbst wenn das nur heißt, mit einem Degen herum zu fuchteln und von anderen zu verlangen, dass sie in ihren Tod laufen. Schön.“
„Tatsächlich… Sir, habe ich keinen Zugriff auf das Geld meiner Familie. Das letzte mal Kontakt mit ihnen hatte ich als ich fünf war.“ Oder zumindest, den letzten erfreuliche. „Ich… gehöre zum Orden.“
„So viel dachte ich mir, aber wenn ihr wirklich einer der Magier währt, hättet ihr Kazimier in Staub verwandelt und die Sache erledigt. Oder?“
Etwas an dieser Frage irritierte ihn. Es ging hier nicht darum, zu wissen ob er wirklich ein Magier war, dachte Anselm. Aber um was dann? Ob er hätte töten können. Und wieso wollte er das wissen? Es spielte keine Rolle, dachte er. Es spielte keine Rolle, was dieser Hetman Macon plante, solange er dazu stand, was er war. Der Grund, aus dem der Orden ihn nicht hatte benutzen können.
„Nein.“, erklärte er schlicht. „Nicht solange ich eine andere Möglichkeit habe. Ich hätte ihn töten können. Mit oder ohne Magie ich… ich habe mich schlicht dagegen entschieden.“ Und er würde sich immer dagegen entscheiden. Das war die schlichte Wahrheit.
Die Antwort schien Macon das erste Mal aus dem Konzept zu bringen. „Wie dem auch sei. Ihr habt Kazimier besiegt. Es erscheint mir nur angemessen, das ich euch daher seinen Platz anbiete.“
,,Also…“ Anselm sah sich erneut hilfesuchend nach Cyrus um. „Ich danke euch, wirklich, aber…“
„Ich würde annehmen, wenn ich ihr wäre. Lady Macon wäre sicher… gekränkt.“ Und er glaubt nicht, das ich bei ihr so viel glück hätte, wie bei Kazimier.“
„Es heißt Hetman Macon. Und nein, ich habe nicht gesagt, dass er Ablehnen kann.“
„Wisst ihr, ich versuche eigentlich wirklich dafür zu sorgen, dass er sich nicht umbringen lässt. Wenn ihr ihn für eure Garde rekrutieren wollt würde es das doch erheblich schwerer machen.“ ,warf Cyrus ein.
„Ich würde behaupten, das ist euer Problem, Gardist.“
„Es heißt Cyrus.“ , gab der Wolf spöttisch zurück.
„Wie dem auch sei, ich nehme an , der Kaiser wäre sicher sehr betrügt, wenn sein neuestes Spielzeug kaputt geht und keine Berichte mehr mit den Schatzkarren nach Canton zurück kehren. Ich hindere euch jedoch sicher nicht daran, auf ihn acht zu geben. Wir können einen Magier gebrauchen aber ich werde sicher nicht auf ihn aufpassen. Und was den Orden angeht, tue ich ihm anscheinend einen gefallen.“
„Hat sie damit recht, Anselm? Der Orden wird doch sicher ein Wort mitreden wollen, bevor euch jemand… Zwangsverpflichtet?“
„Ich fürchte tatsächlich nicht. Oder zumindest…“Der junge Magier kratzte sich am Kopf. „Sie werden such vermutlich Zeit lassen, irgendetwas deswegen zu unternehmen, Der Orden… sagen wir einfach es hat seinen Grund warum ich hier bin.“
Cyrus grinste breit. „Großartig. Hört ihr das? Er ist wertlos für euch.“
„Ich glaube nicht, das ihr das beurteilen könnt.“
„Darf ich vielleicht auch noch was dazu sagen?“ Anselm sah einen Moment unsicher zwischen den beiden Männern hin und her.
„Nein.“ Sowohl Cyrus als auch Macon sprachen fast gleichzeitig.
„Warum ich…“ , murmelte Cyrus. „Wie kommt ihr darauf, dass ich ihn nicht einfach sterben lasse und verschwinde? Ihr gewinnt nichts dadurch.“
„Oh, sagen wir einfach, ich verlasse mich darauf, das ich euch richtig einschätze.“
„Ihr könntet enttäuscht werden. Das haben schon ganz andere versucht… mein Hetman.“ Cyrus grinsen tat nicht wirklich viel dazu bei, Anselm zu beruhigen. Der Wolf konnte nicht wirklich darüber nachdenken, ihn bei der goldenen Garde allein zu lassen. Wo war er hier eigentlich rein geraten…“
„Ich schätze… er meint das nicht so?“ , fragte er mit dünner Stimme.
„Oh, er meint das genau so.“ , erwiderte Macon. „Aber er wird es nicht tun. Nicht weil es hn wirklich sören würde, wenn unter den Karren mit Schätzen und Kunstwerken ausgerechnet eure Berichte fehlen würden. Ihr seid hier um zu sehen. Und das werdet ihr, glaubt mir.“
„Ihr setzt ziemlich viel Vertrauen in mich. Und warum bitte wollt ihr Anselm haben, wenn er nicht für euch kämpfen wird?“
„Ich habe meine Gründe einen Magier in der Nähe haben zu wollen. Belassen wir es dabei.
Aber wofür?, dachte Anselm. Es schien keinen Sinn zu machen. Der Orden hatte dutzende seiner Mitglieder hier, wieso glaubte der Hetman der goldenen Garde ausgerechnet ihn zu brauchen? Ein Magier konnte eine Schlacht entscheiden, aber er gehörte nicht zu dieser Art von Magiern und das hatte er mehr als deutlich gemacht. Also um was ging es hier? Was gab es hier an Magie bei der er Hilfreich sein könnte. Die Antwort schien seltsam einfach.
„Es geht um die Rüstung.“ , stellte er fest.
Zum zweiten Mal zeigte die selbstsichere Maske des Hetmanen Risse. „Ihr seid Aufgewecker als ich gedacht habe. Ein weiterer Grund euch nicht gehen zu lassen. Ich schulde euch allerdings keine Rechenschaf, Oder Antworten. Wir werden das besprechen, wenn es so weit ist.“ Der Hetman wendete sich wieder Cyrus zu. „ Und wenn ihr auf ihn aufpassen wollt… nun ihr werdet genauso wie er meinen Befehlen folgen.“
„Auch das haben schon ganz andere versucht.“
„Dann geht. So wie ich es sehe, bekomme ich entweder einen Magier. Oder einen Magier und seinen Aufpasser dazu. Was ihr davon haltet, interessiert mich nicht.“
Cyrus seufzte. „Wir werden darüber noch reden. Aber für den Moment gehe ich nirgendwo hin.“
„Danke.“ , bemerkte Anselm.
„Was? Dafür das ich euch nicht sterben sehen will? Ich dachte, das häten wir schon geklärt. Tut mir nur einen gefallen und versucht euch nicht wieder mit irgendjemanden anzulegen.“
„Nicht solange ihr mich nicht schubst.“
„Immerhin kann es kaum schlimmer werden.“
„Ich fürchte, da habt ihr unrecht.“ Anselm tippte ihn locker auf die Schulter und al Cyrus sich zu ihm umdrehte, sah er, dass der junge Magier bleich geworden war. Seine Augen waren geweitet und starrten… worauf? Nicht auf die Stadt wie Cyrus vermuet hätte. Nicht auf die zyklopischen Wälle von denen jeder Zeit ein neuer Ausfall stattfinden könnte. Anselms Blick ging über das Lager und den Dschungel hinweg zum Horizont. Oder dort, wo der Horizont gewesen wäre. Die Wolken teilten sich wie ein Vorhang, vor dem, was nun aus ihnen auftauchte. Ein Schatten, so gewaltig, dass er die aufgehende Sonne verdeckte und das Lager in Schatten tauchte. Langsam, fast so als würden sie sich aus dem Nebel formen, tauchten Türme, Figuren und Gebäude aus den Wolken auf. Paläste aus Marmor und Gold, die das Licht der verdeckten Sonne wiederspiegelten und von innen aus zu leuchten schienen. Schwebende Inseln, eine jede groß genug um eine eigene Stadt zu bilden, verbunden über Brücken aus reinem Silber. Ewige Wasserfälle stürzten in die Tiefe und fielen als menschengemachter Regen auf das Lager nieder. Männer schrien, andere wendeten sich ab und bedeckten die Augen, andere fielen auf die Knie. Cyrus hingegen konnte nur wortlos starren, als die Wolken endgültig zerrissen und das, was dort inmitten der weißen Nebel hing völlig enthüllte. Es war eine Stadt, so gewaltig, das sie den gesamten nördlichen Horizont einnahm und wie ein himmlisches Gegenbild zu den dunklen Granitmauern von Xihuitzin stand. Er hatte Geschichten darüber gehört, natürlich. Jeder hatte das. Und viele hier hatten sie gesehen und versucht zu beschreiben. Nichts davon hatte ihn auf das hier vorbereitet. Es war ein Wunder, geboren aus Magie und dem Willen eines einzelnen Menschen alles zu beherrschen. Ein Palast aus Gold Und Marmor und eine Erinnerung an das, wofür diese Männer kämpften. Die fliegende Stadt des Kaisers war hier…
Siebzig Jahre nach ihrem Verschwinden, war die Rache für die Bernardet-Expedition gekommen. Und zum ersten Mal seit Monaten wirkte Xihuitzin nicht länger unbezwingbar.
Stille. Und Furcht Priam konnte die Angst der Hohepriester spüren. Die Verwirrung. Keine der zwölf gestalten hatte sich gerührt, seitdem der Mann gesprochen hatte. Lediglich die Handvoll Schattengardisten regten sich in den dunklen Winkeln der Kammer, fast unsichtbar mit ihrer sich ewig verändernden Haut Aber wovor fürchteten sie sich? Vor den Worten jenes seltsamen Mannes, den sie selbst in ihre Mitte gebracht hatten? Des Eisnomaden, wenn Priam mit seinen Vermutungen richtig lag.
„Was soll das heißen?“ Die Frage wurde mit einer Stimme gestellt, die kaum etwas Menschliches hatte. Dünn und doch gefährlich wie das zwischen einer Schlange. Falls der Eisnomade sich bedroht fühlte, zeigte er es jedenfalls nicht. Nach wie vor behielt der Mann eine Haltung, die wenn man bedachte, wo er sich befand, fast beunruhigender war, als die Gegenwart der Priester. Aber nur fast, dachte Priam. Warum hatten sie darauf bestanden, dass er hier war? Nichts hiervon ergab einen Sinn für ihn. Aber die At wie der Seher ihn angesehen hatte, hatte ihn beunruhigt Mehr noch, es hatte ihm Angst gemacht, Mantra hin oder her. Es war nur Spekulation aber… was wenn er gar nicht auf Wunsch der Hohepriester hier war… Es würde bedeuten, dass dieser Mann über die Macht verfügte, den Hohepriestern Bedingungen zu stellen. Und diesem Gedanken schloss sich ein weiterer an, einer der vielleicht noch wichtiger war. Damotes hätte ebenfalls längst hier sein sollen. Auch seine Anwesenheit die der Zeremonie war gewünscht worden. Ich glaube, das ist das erste mal, das ich ganz froh bin mit diesen… Kreaturen alleine zu sein, dachte er. Was immer heute hier noch geschehen sollte, es machte ihn unruhig. Immerhin wäre sein Vater so nicht gefährdet.
„Es bedeutet, das mir das Ende jetzt klar ist.“ So wenig Sinn die Worte des Mannes für Priam machten, keiner der Hohepriester schien seine Verwunderung zu teilen. Wobei… schwer zu sagen ohne ihre Gesichter zu sehen, dachte er.
„Dann sprecht. Was hat er vor? Ihr seid nicht noch am Leben um uns zu drohen, Seher. Wir kennen eure Art. Versucht nicht, uns zum Narren zu halten. Euer Leben ist so bedeutungslos, wie das eures Volkes. Eure Prophezeiungen sind so ungenau und leer, wie eure eigene Zukunft.“
„Ach ist es das? Nun, ich fürchte, dann müsst ihr etwas deutlicher werden. Wer hat was vor? Ich bin immerhin nur ein einfacher Sterblicher.“
„Der Falamir. Der den ihr euren Kaiser nennt. Konstantin Belfare.“
Falamir? Was war das für ein Wort? Priam runzelte die Stirn. Er kannte die Sprache dieser Stadt aber dieses Wort… es klang mehr wie ein Name, doch der Hohepriester hatte es wie einen Titel verwendet. Und er kannte ihn. Irgendwo hatte er diesen Namen bereits einmal gesehen. Irgendwo in den Archiven… Etwas in Verbindung mit einem tiefblauen Juwel, das er einst in den Gewölben gefunden und katalogisiert hatte. Es war ein Name, der etwas mit Magie zu tun hatte. Und das alleine reichte, um misstrauisch zu sein.
„So nennt ihr ihn also? Ich schätze, er würde sich geehrt fühlen, selbst wenn ihr es nicht so meint. Und was seine Pläne angeht… Welche Pläne hatte Falamir? Euch aufzuhalten. Der Kaiser jedoch wird nicht so gnädig sein, euer Leben zu schonen. Er hat etwas… Radikaleres im Sinn.“
„Ihr habt es selbst gesagt, Seher. Er wird uns nicht überwinden. Nichts kann das.“
Der Eisnomade lächelte dünn. „Ich wäre mir dessen nicht so sicher. Eure Zeit ist lange vorüber. Und eure Existenz wird nicht ewig geduldet werden.“
„Verspottet uns nicht.“ Die Gestalt des ersten Hohepriesters schoss in die Höhe. Glass klirrte und eine ausgemergelte, skeletthafte Hand schoss in die Höhe. Graue Haut spannte sich über Finger, deren Nägel sich zu langen Krallen krümmten. Der Seher wurde von den Füßen gerissen, seine Beine traten in die Luft, die sich mit einem mal verdichtet zu haben schien. Priam konnte die plötzliche Ladung in der Luft spüren, als stünde ein Gewitter bevor. Der Seher schrie auf, als seine Knochen durch eine unsichtbare Kraft gequetscht wurden, die Kleidung wurde ihm an den Leib gepresst. Und doch blieb sein Lächeln, so verzerrt es war und auch wen Priam das Gesicht der Hohepriester nicht erkennen konnte, er konnte sich den Gleichgültigen Ausdruck darauf vorstellen. Die vollkommen Gelassenen Art, wie sie mit dem Leben anderer umsprangen. Der Druck verschwand und der Mann fiel wie eine Puppe mit durchgeschnittenen Fäden zu Boden. Hustend richtete er sich auf. Die blauen Augen blitzten.
„Wenn ihr glaubt, das ihr mir Schmerzen zufügen könnt, seid ihr närrischer als ich dachte. Ich kenne de Augenblick und die Umstände meines Todes. Ich habe sie tausende Male erlebt.“ Blut tropfte aus seinem Mundwinkel hinab auf die Steinfließen und floss hinab zu den Sammelkanälen die den Boden der Kammer durchzogen.
„Und was würde uns daran hindern euch jetzt und hier zu töten und jede Prophezeihung Lügen zu strafen?“
Die Luft im Raum schien mit einem mal kälter zu werden. Der Seher erwiderte nichts, sondern sah seine zwölf Kerkermeister nur herausfordernd an. Priam war überzeugt, das der Mann nun sterben würd. Während dieser ganzen seltsamen Unterhaltung hatte er nichts getan, als die Hohepriester zu provozieren. Sie hatten gar keine andere Wahl, selbst wenn sie nicht geplant hätten ihn zu töten. Nicht, wenn sie ihre Überlegenheit beweisen wollten. Selbst die Schattengarde schien sich etwas weiter in die Dunkelheit zurück zu ziehen. Der Seher würde sterben… und vielleicht war das das beste. Es würde diesen verwirrenden Alptraum beenden und er alles hier vergessen können. Alles was hier geschah, warf zu viele Fragen auf. Fragen zu den Dingen die er in Helikes Archiven gesehen hatte… und die aus gutem Grund unter dem Stein der inneren Stadt begraben lagen. Magie stand gegen Helikes Gesetze. Es war nicht gut, sich damit zu beschäftigen, davor hatte Damotes ihn zu oft warnen müssen. Priam atmete tief ein, wartete darauf, dass einer der Hohepriester erneut die Hand hob und den Eisnomaden nieder streckte.
Mit einem gewaltigen Schlag flogen die Türen des Tempels auf. Licht flutete herein und vertrieb die Schatten aus den tiefen Winkeln der Kammer. Priam atmete aus. Frische Luft… und Wärme, die ein Gefühl von Heimat mit sich brachte. Die Hitze des Dschungels war nicht vergleichbar mit dem läuternden Feuer der Wüste, aber im Augenblick war sie Priam genau so willkommen.
Die Schattengarde, die sich eben noch verborgen gehalten hatte, reagierte sofort und sprang vor. Messer fuhren aus Scheiden, ihre Klingen so dunkel wie die Haut ihrer Träger. Obsidian. Blasrohre und Pfeile richteten sich auf den Eingang.
Der Mann, der dort stand maß die Männer mit langsamem Blick. Den roten Umhang der Paladine, hatte er sich über einen Arm gelegt, die andere Hand lag locker am Schwertgriff. Die grauen Haare wurden von einem schlichten Ring aus geschwärzten Metall gekrönt, das Symbol, das den Neuankömmling als einen Schwertmeister Helikes auswies. Die schwere Rüstung die er trug, schien er kaum zu spüren. Zwanzig weitere Gestalten in ähnlicher Kleidung folgten ihm, bewaffnet mit Speeren, die sie im Gegensatz zur Schattengarde in Habachtstellung hielten.
Damotes beachtete die auf ihn gerichteten Waffen gar nicht, als er weiter in die Halle trat. Die dunklen Phantome waren die persönliche Leibgarde der Hohepriester, doch für Damotes hätten sie auch Kinder sein können, die sich ihm in den weg stellten. Priam wusste, was er dachte. Das gleiche wie er. Diese Männer waren keine Krieger. Sie versteckten sich in den Schatten, zu kleinen Einheiten aufgeteilt in den Dschungeln, die die Stadt umringten um die Versorgungswege der Garde zu überfallen. Aber was wäre das Wert, wenn die Mauern fielen und der Kampf in den Taghellen Straßen der Stadt stattfand. Nichts. Wie sollte man aus diesen Dieben und Meuchelmördern Soldaten machen, wenn es nötig würde?
Mit einem Blick erfasste er die zwölf Gestalten auf ihren steinernen Thronen, den am Boden knienden Seher und das Blutbecken. Die Abscheu stand ihm ins Gesicht geschrieben. Einer der Männer der Schattengarde trat vor um sich ihn in den Weg zu stellen. Der erste Fehler, dachte Priam. Der zweite war, die Waffe auf Damotes zu richten. Priam wusste, was geschehen würde, noch bevor sich jemand rührte. Damotes Geduld war mehr als erschöpft. Mit einer einzigen, fließenden bewegung, glitt das Schwert aus der Scheide und durchtrennte den Arm des Schattens. Blut spritzte hoch, als der Mann mit einem Aufschrei zurück stolperte. Die übrigen Schatten stürzten einige Schritte vor… erstarrten jedoch als sie den Ausdruck auf Damotes Gesicht sahen.
„Gebt mir einen Grund.“ Damotes Gesicht glich einer Totenmaske. Blass, gespannt und irgendwie… dünn.
Die Schatten wichen zurück. Zwei von ihnen halfen dem Verletzten auf die Füße und brachten ihn in eine Nische. Er schrie noch immer. Schreie… wie viele davon hatte er hier schon gehört, dachte Priam.
Seltsamerweise konnte er die Stimmen der Hohepriester selbst über das allgemeine Chaos hinweg hören. So als ob ihre Worte als einzige von der Höhlenartigen Kammer verstärkt würden. Panische Fragen. Angst.
„Was reden sie da?“ , verlangte Damotes zu wissen.
„Sie wollen wissen, was du glaubst hier zu tun.“ , übersetzte Priam rasch. Zumindest, war das das was die meisten zu Wissen verlangten. Wenn sie nur nicht alle durcheinander reden würden. Das Flüstern in diesem Raum war schlimm genug.
„Dieser Ort macht mir Kopfschmerzen.“ Damotes rieb sich die Schläfen und schob das Schwert zurück in die Scheide. „Was bei allen Heiligen geht hier eigentlich vor? Wissen sie überhaupt was da draußen los ist?“
Priam übersetzte die Frage, formulierte sie allerdings deutlich höflicher. Die Spannung im Raum war ohnehin schon greifbar genug, ohne das Damotes die Hohepriester noch weiter beleidigte. Die Antwort fiel ziemlich kurz aus.
„Nein.“
Damotes seufzte schwer und gab seinen Männern ein Zeichen, sich zurück zu ziehen. Einer nach dem anderen verschwanden die Paladine und ließen ihn, Priam und die Hohepriester alleine zurück. Die Schattengarde tat das gleiche und zog sich wieder in die dunklen Winkel der Halle zurück, wo sie so gut wie Unsichtbar wurden. Zum ersten Mal wirkte sein Vater wirklich… alt, dachte Priam. Erschöpft von all dem hier. Und doch hatte er sich freiwillig gemeldet, als es hieß, dass man eine Expedition gegen den Kaiser entsenden wollte. Es hätte genug jüngere Schwertmeister gegeben, die die Aufgabe hätten übernehmen können. Und doch hatte er darauf bestanden. Priam fürchtete, zu wissen wieso.
Damotes gab sich Mühe, wieder gerader zu stehen, aber der müde Ausdruck aus seinen Augen verschwand nicht ganz. Und war da nicht ein momentaner, grüner Schimmer gewesen? Priam wusste es nicht zu sagen.
„Die fliegende Stadt ist hier.“ , erklärte Damotes ruhig. „Der Kaiser selbst ist angekommen.“
„Endlich.“ Einen Augenblick war Priam sich sicher, sich verhört zu haben. „Wie es vorherzusehen war.“ Er konnte nicht sicher sagen, wer der zwölf gesprochen hatte, aber einen Moment zögerte er die Worte zu übersetzen. Genug, für seinen Vater erneut die Geduld zu verlieren. Er mochte nicht verstehen, was die Priester sagten, aber der Tonfall war eindeutig. Ruhig. Geradezu unbesorgt.
„Eure Stadt wird fallen. Der Kaiser selbst ist hier und wenn wir die Mauern verlieren, wird er diesen Ort schlicht überrennen. Die Zeit in der wir uns verstecken und aus dem Dunkeln zuschlagen konnten ist vorbei. Ich bin hier um euch zu unterstützen aber wir müssen jetzt handeln. Ich kann eure Männer führen und versuchen die Wälle zu sichern. Gegen die fliegende Stadt werden wir sie nicht auf Dauer halten können, aber wir können uns genug Zeit erkaufen um die äußere Pyramidenebene zu evakuieren und den nächsten Ring zu besetzen.“
Und es war in diesem Augenblick, dass der Seher, der bisher nur stumm zugesehen hatte, begann zu lachen. Der Ton wurde von der seltsamen Akustik des Raumes noch verstärkt, wurde hoch und heulend, so das Priam sich die Nackenhaare aufstellten.
„Unterschätzt unsere Macht nicht. Wir haben die Werkzeuge hier um uns um den Kaiser zu kümmern. Es wird keinen Rückzug geben.“ Erneut hob der erste der Hohepriester die Hand und gab ein Zeichen. Ein einzelner Schattengardist trat aus der Finsternis heraus, ein Messer in der Hand. Und auf den Seher zu. Priam wusste, was geschehen würde. Er wusste nicht, was genau die Hohepriester planen mochten, aber er wusste, was sie brauchten. Blut. Mehr Blut. Das eines Sehers. Jetzt war also der Augenblick den Priam bereits kommen gesehen hatte. Irgendwie tat es ihm um den alten Mann leid. Er warf so viele Fragen auf… Vielleicht hätte eine Unterhaltung mit ihm, ihm mehr über die Pläne der Hohepriester verraten. Das Messer blitzte auf…
Damotes reagierte schnell. Stahl prallte auf Stahl, als er sein eigenes Messer zog und die Obsidianklinge des Schattengardisten abwehrte. Der Stein schnitt eine tiefe kerbe in das Metall, durchtrennte es aber nicht ganz. Funken sprühten auf, versengten sein Gesicht, bevor er es schützen konnte, dann stieß er den Mann mit Gewalt zurück. Die mit unnatürlichen Schuppen überwucherte Haut des Schattens verhärtete sich bei dem Schlag, riss seine Haut selbst durch die schweren Handschuhe auf, die er trug. Aber es konnte wenig daran ändern, das er zurück geworfen wurde und mit Wucht auf dem Boden aufschlug. Sofort begann sich die Haut des Mannes zu verändern und er wurde eins mit seiner Umgebung, verschwand…
„Nein.“ Damotes drehte sich zu den Hohepriestern um. Dabei streifte sein Blick den des Fremden den sie hatten Opfern wollen. Ein Wilder, ganz ohne Frage, in zerlumpte Felle gekleidet und mit verfilzten, grauen Haaren. Der Mann schien sich seiner Lage gar nicht bewusst, den ein dünnes Lächeln spielte über seine Züge. Fast so als amüsiere ihn das Schauspiel das sich ihm hier bot königlich. „Es ist genug.“ Seine eigenen Worte überraschten ihn. Die Müdigkeit darin… „Es wird heute noch genug Blut fließen. Wenn ihr wirklich glaubt weitere Opfer bringen zu müssen, bitte. Aber erwartet nicht, das ich dieser Barbarei weiter zusehe oder ich nehme meine Männer und verlasse diese Stadt.“
Eine leere Drohung. Er konnte diese Stadt genau so wenig verlassen, wie die Hohepriester. Dafür hatte er nicht genug Männer. Ein Ausfall würde bloß den Tod aller bedeuten und das wussten sie. Er war mit eintausend Mann in die Stadt gekommen, aber darunter befanden sich nicht einmal zweihundert vollwertige Paladine. Der Rest waren Hilfstruppen. Männer die den Weg der hundert Prüfungen zum Teil beschritten hatten ohne ihn je zu Ende zu gehen und ohne die Erfahrung oder die Ausrüstung eines jener legendären Drachenjäger. Auch wenn es hier an Drachen mangelte, dachte er. Das war immerhin etwas. Stille hatte sich über die Halle gesenkt. Er sah zu Priam. Der Junge wirkte erschöpft, dachte er. Die hellblaue Robe des Archivars, die er über seiner leichten Mthrilrüstung trug, ließ ihn blass wirken und die Spiegelung der einzigen Lichtquelle tat ihr Übriges. Vielleicht war es falsch gewesen ihn mit zu nehmen, dachte Damotes. Der Junge war kein Krieger wie er, das hatte er bewiesen. Seine Talente lagen für Laos in anderen Bereichen. Und genau deshalb brauchte er ihn hier.
„Priam, frag sie ob sie es darauf ankommen lassen, ob ich mir lieber einen Weg durch die Belagerung Schlage oder weiter euch ertrage?“
Priam nickte und übersetzte seine Drohung. Vermutlich schönte er seine Worte ein wenig, aber das kümmerte Damotes nicht. Sein Junge mochte kein Krieger sein aber in einer Sache war er ihm definitiv überlegen. Er konnte reden. Vielleicht hätten andere Schwertmeister das als Enttäuschung empfunden. Damotes hingegen empfand einen warmen Stolz dabei. Hatte nicht Laos selbst die Leute zuerst mit Worten für sich gewonnen, bevor er zum Schwert griff. Worte waren genauso eine Waffe, wie Stahl. Wie Rituale. Das brachte ihn zurück in die Gegenwart. Nach wie vor hatte sich niemand gerührt. Schließlich jedoch gab einer der Hohepriester ein Zeichen und erneut tauchte einer der Schatten aus der Dunkelheit auf. Diesmal ohne Messer. Zum zweiten Mal an diesem Tag ließ Damotes das Schwert zurück in die Scheide wandern. Er schwor sich, dass es kein drittes Mal geben würde. Alles hier machte ihn nervös.
Einer der Hohepriester sagte etwas und Priam übersetze für ihn. „Er wird leben.“ , erklärte der Junge. „Aber sie brauchen sein Blut.“
Mit diesen Worten packte der Schatten den Seher am Handgelenk. Der Mann verzog das Gesicht, sagte jedoch nichts, sondern sah seelenruhig dabei zu, wie sein gegenüber ein Messer zog und ihn damit übers Handgelenk Schnitt. Die Wunde war nicht tief, aber sie blutete. Stark. Einige Tropfen fielen zu Boden, bildeten ein kleines Rinnsal das zum Zentrum der Kammer floss. Ein weiteres Zeichen und weitere Schatten packten den Seher und führten ihn aus der Kammer.
Damotes sah ihnen nicht nach. Sein Blick hing an der dünnen, roten Spur die der Eisnomade auf seinem Weg aus der Kammer hinterließ.
Das Blut, dachte er, war nur eine Maske. Ein Vorwand. Er wusste nicht viel über Zauberei, aber die Macht dahinter brauchte keine Opfer. Damotes fragte sich nur, für wen diese Maske war. Ein weiterer Teil dessen, was die gesichtslosen Priester verbergen mochten? Es war ein Schauspiel für ihr Volk, das sie als Götter ansah. Eine Zuschaustellung davon, wer in dieser Stadt die Macht über Leben und Tod hatte. Einst war es in Helike nicht anders gewesen. Angebliche Götter hatten über Sterbliche geherrscht und sie mit Leib und Seele für sich beansprucht. Mit Blut. Hier die Hohepriester und dort die Drachen. Und doch verteidigten sie diesen Ort. Der Gedanke machte ihn jedes Mal Unruhig. Aber die Archonten hatten den Befehl gegeben. Vielleicht war die Sicherheit Helikes aus ihrer Sicht ein paar Prinzipien wert. Er würde darauf vertrauen müssen, dass sie Recht hatten. Und seine Pflicht tun. Allerdings ah er dem was nun geschehen würde, keinesfalls entgegen. Die Rituale mochten Maskerade sein. Doch die Magie darunter war echt. Damotes konnte spüren, wie sich die Luft im Raum zu verdichten schien, wie sich die feinen Haare auf seinen armen aufstellten, während die Hohepriester zu singen begannen. Worte, die er nicht verstand, aber den Stein der Halle zum Zittern brachten. Und ihr Gesang wurde beantwortet. Die Magie war echt und sie brachte seine Knochen zum Schmerzen und rief die Flüsternden Stimmen wach, die sich mit dem Chor der Ältesten vermischten.
Flüstern, das aus der Dunkelheit kam, nicht von der wartenden Schattengarde, sondern aus der Luft selbst und an seinen Nerven zehrte. Stimmen, die ihm zuriefen und schrien und… verstummten. Von einem Augenblick auf den anderen war es Totenstill. Der Hohepriester, der ganz am rechten Ende des Bogens aus steinernen thronen saß, bewegte sich. Völlig geräuschlos stand er auf, das weite, schwarze Gewand zeichnete einen Augenblick lang die Silhouette eines uralten, knochigen Körpers ab. Seine Schritte erzeugten keinerlei Laut, waren nicht wahrnehmbar, so dass es wirkte, als würde er schweben. Drei Stufen trennten ihn vom Boden der Kammer, dann war er auf Augenhöhe mit ihnen. Zum ersten Mal konnte Damotes ohne geblendet zu werden erkennen, was sich unter den dunklen Kapuzen dieser Wesen verbarg. Augen die ihn mehr an die einer Katze erinnerten sahen ihn einen Augenblick an. Gelb mit vertikalen Pupillen. Fast wie bei einem Gejarn. Augen, die tief in feine, alabasterartige Haut eingesunken waren. Weiß, fast durchscheinend, so das sich blaue Adern darunter abzeichneten. Und trotz des offensichtlichen, unvorstellbaren Alters war die Haut glatt, sah beinahe unnatürlich aus. Es war weder ein Gejarn, noch glaubte er, das ein Mensch so aussehen konnte. Selbst die gequälten Magier des Sangius-Ordens wirkten immerhin nach wie vor wie Lebewesen. Verdreht und vor ihrer Zeit gealtert, ihrer Kraft und Jugend beraubt aber am Leben. Dieses… Ding wirkte mehr, als sei es eine Puppe, wäre es nicht für diese Augen gewesen. Augen, die durchaus leben in sich hatten. Und grünes Feuer.
Mit wenigen Schritten trat der Hohepriester an das Becken im Zentrum der Kammer heran und schlug die Kapuze zurück. Nein, dieses Ding war kein Mensch, dachte Damotes. Die Züge wirkten zu fein, wie aus Porzellan, was erklärte, wieso es ihn an eine Puppe hatte denken lassen. Die Augen brannten mit einem inneren Licht, das ihn an die Sumpffeuer denken ließ, die in den ausladenden Sumpfdeltern der westlichen Küste Helikes auftauchten. Vollkommen erbleichte Haare und Ohren, die nicht Rund zuliefen, sondern Spitz. Der Priester vollführte eine Handbewegung über dem Becken. Das Blut ging in einer Säule aus gleißendem, grünen Licht auf, die sich bis zur Kuppel des tempelinneren Schlängelte und dann… zerbrach. Als würde die Realität selbst nachgeben. Wie konnte Licht zerbrechen? Ein Geräusch wie von berstenden Stein erfüllte den gesamten Saal, während Scherben aus Licht um Damotes herum niedergingen und einen Moment wie Flüssigkeit über den Boden liefen, zurück zu dem Becken, dessen Inhalt sich ebenfalls in einen See aus Helligkeit verwandelt hatte. Erneut wurde das Licht nach oben geschleudert, bis es zerbrach. Es war wie Regen. Regen aus Glas das Leuchtete… Es war Wahnsinn. Was hatten die Hohepriester entfesselt?
Der Schwertmeister wich zurück, tunlichst darauf achtend, keines der Lichter zu berühren. Sein eigenes Spiegelbild zeichnete sich verschwommen darin ab. Mit grünen, brennenden Augen… Stimmen flüsterten um ihn herum, lauter, dann wieder leiser. Und diesmal schien es, verstand er manche der Worte.
„Können sie das nicht wenigstens Still machen.“ Er rieb sich die Schläfen, schloss die Augen und blendete die seltsame Vision im Licht damit aus. Bei Laos, was würde er darum geben, einfach nie hier her gekommen zu sein.
„Was meinst du?“ Priam sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. Hörte er etwa nichts hiervon?
Schemen stiegen aus den leuchtenden Wassern auf, wanderten durch die Halle und durch den Priester hindurch, der nach wie vor mit erhabenen armen an dem Becken stand. Erstarrt und regungslos. Seine Porzellanhaut wirkte noch lebloser als zuvor, das Feuer in seinen Augen war verschwunden. Damotes war sich nicht einmal sicher, ob er noch atmete. Vor ihm, direkt über dem Becken schwebte etwas im Licht. Formgewordener Nebel, der scheinbar ein Spiegelbild des Mannes war, der ihn heraufbeschworen hatte. Aber… schöner, dachte Damotes irritiert. Das Nebelabbild verfügte über die gleichen, feinen Züge, doch wirkten sie hier nicht falsch, sondern Edel, die Haut nicht unnatürlich sondern scheinend hell. Das Wesen trat einen Schritt nach vorne, berührte das Blut im Teich mit den Füßen und erzeugte Wellen darin.
Der Schwertmeister legte die Hand an den Schwertgriff. Die Nebelgestalt schien alle Wärme aus der Umgebung zu ziehen. Grünes Feuer tanzte um ihre Füße. Es hatte keine feste Gestalt, kein Gesicht, das Emotionen hätte Form geben können, trotzdem konnte er den Hass spüren, der von diesem Ding ausging. Es war kein zielgerichteter Zorn, kein bewusster Akt… es war einfach blinde Zerstörungswut. Chaotisch, ungerichtet… und Wahnsinnig. Und es flüsterte, dachte Damotes. Es sprang nach vorne, die aus Nebel geformten Arme ausgestreckt , dann hob der erste der Hohepriester die Hand. Talismanne aus grünem Glas klirrten, als er sich bewegte und einen Augenblick war Damotes, als könne er sehen, wie das Geräusch Wellen in der Luft erzeugte, sich ausbreitete… Die Wellen, die den Blutteich kräuselten, wechselten mit einem mal die Richtung, als sei eine Sturmböe aufgekommen und die Nebelgestalt wurde wie von einer unsichtbaren kraft zurück geschoben. Einen Augenblick noch schien sie sich dagegen zu stemmen… dann zerstreute sich ihre Form, sie verlor den Halt… und verschwand in der Dunkelheit.
Die Lichtsäule fiel langsam in sich zusammen und ließ nur das lauter werdende Geräusch von berstendem Stein zurück. Noch immer verharrte der Priester mit ausgebreiteten Armen am Rand des Blutbeckens.
Dunkelheit umfing die gesamte Halle. Die Deckenöffnung war mit einem mal Finster geworden. Versiegelt, dachte Damotes. Als ob man vor dem Himmel geheim halten wollte, was hier geschah. Und dann wurde ihm langsam klar, woher das Geräusch kam. Grünes Licht flackerte in einer Nische ihm gegenüber auf. Dutzende Augen aus gehämmerten Kristall, ein jedes so groß wie sein Kopf in denen das gleiche Feuer brannte. Weitere Augen öffneten sich, Stein verschob sich und erwachte zum Leben. Einer nach dem anderen schoben sich die Steinkonstrukte ins Licht, lösten sich scheinbar aus dem Fels des Tempels selbst. Es waren hunderte, dachte er. Wesen aus Fels und Kristall, die sich langsam vorwärts schoben, deren jeder Schritt Stein knirschen ließ. Doch diese Wesen hier waren anders, als die üblichen Golem-Wächter, die er bisher gesehen hatte. Es waren Giganten, dachte er. Ein jeder groß genug, das er voll aufgerichtet wohl die Decke der Halle durchbrochen hätte. Und während er die Fels-Wächter von Xihuitzin nicht unbedingt mit wohlwollen betrachtete, hatte er sich nie von ihnen bedroht Gefühlt. Diese Wesen jedoch… Damotes hob den Kopf und sah er ersten Gestalt, die an das Becken heran trat direkt in die Augen. Hass brannte darin. Der gleiche, von grünem Feuer genährte Hass, den die Nebelgestalt ausstrahlte. Was bei Laos hatten die Hohepriester getan?
„Der Kaiser wird hier sterben.“ , übersetzte Priam ihre Worte. Das leichte zittern in seiner Stimme zeigte, das auch ihm nicht gefiel, was sich hier abspielte. Damotes atmete tief durch, verbannte die flüsternden Stimmen wieder in den hintersten Winkel seines Verstandes.
„Dann heißen wir ihn besser willkommen.“
Tausende Zelte bedeckten die Ebene um die Stadt. Wolken hatten die Sonne halb verdeckt und warfen sich ständig änderndes Muster aus Licht und Schatten. Der Wind hatte aufgefrischt und trieb sie nun vor sich her, als wären selbst sie auf der Flucht vor dem, was kommen würde. Das wenige Gras das tausende Füße zurück gelassen hatten, wurde zu Boden gedrückt, Banner und Fahnen flatterten knatternd im Wind, einige schlecht verankerte Zelte rissen sich los und tanzten durch die Luft. Niemand unternahm den Versuch, sie wieder zu befestigen oder kümmerte sich auch nur darum. Alle Blicke lagen auf dem was sich aus den vom Wind zerrissenen Wolken heraus schälte, wie die Überbleibsel eines Traumes, der irgendwie in die Realität über gewechselt war. Die Stadt hing bewegungslos zwischen Himmel und Erde, ein Wunderwerk aus gleißend weißem Marmor von dem die Banner des Canton-Imperiums hingen. Adler und Löwe, der eine aus Gold, der andere aus Silber, ineinander verstrickt. In Xihuitzin sammelten sich die Verteidiger auf den Wällen und starrten nach oben, tausende Männer, die durcheinander redeten und auf die Zitadelle im Himmel deuteten. Jemand schoss einen Pfeil nach oben, doch das Projektil konnte nicht einmal die Hälfte der Entfernung überbrücken und trudelte harmlos zurück zum Erdboden. Eine Weile lang, geschah gar nichts. Sowohl die Soldaten der Garde, als auch die Verteidiger der Stadt, begannen langsam, ihre Verwunderung zu überwinden. Boten wurden ausgeschickt um Informationen einzuholen, Offiziere brachten ihre Einheiten befehle rufend in Ordnung. Auf den Mauern Xihuitzin tauchten neue Männer auf, zusammen mit steinernen Golems, die mit leeren Augen den Belagerungsring überblickten. Nach wie vor fühlten sie sich sicher hinter ihren zyklopischen Mauern, die aus Granitblöcken so hoch wie Häuser gefügt waren. Immerhin hatten sie bisher alles abgehalten, was Canton gegen sie geworfen hatte. Und doch konnte nichts die zunehmende Nervosität auf beiden Seiten zerstreuen. Alle wussten, das etwas geschehen würde. Über ihren Köpfen befand sich der Mann, der sich selbst mals Herrscher der Welt sah. Etwas würde geschehen. Die Gardisten der kaiserlichen Garde warteten genauso wie ihre Gegner. Metall klirrte, wo Rüstungen angelegt wurden. Männer sammelten sich in Reihen vor ihren Offizieren, vereinzelt konnte man kurze, geflüsterte Gebete vernehmen. Die Spannung in der Luft war greifbar, als würde jeden Moment ein Gewitter los brechen, trotz des blauen Himmels, der sich in den Lücken in den Wolken abzeichnete. Minuten vergingen in vollkommener Stille .Bis auf den Wind, der nach wie vor durch die Straßen der Stadt und die Wege des Lagers peitschte, war es nun beinahe totenstill geworden.
Ein einzelner Lichtblitz, hell genug um die Männer für einen Moment zu blenden, stieß von der fliegenden Stadt herab und schlug direkt vor der Stadt ein. Der Teleportzauber fächerte aus, formte ein Feld aus goldenem Licht, das die Welt in seinem inneren zu verschlucken schien. Dann trat die erste Gestalt aus dem leuchtenden Nebel heraus.
Die persönliche Leibgarde des Kaisers unterschied sich so sehr von den oftmals zusammengewürfelten Regimentern der normalen Garde, wie es nur möglich war. Reihe um ordentliche Reihe erschien aus dem Licht. Jeweils vierzig Mann waren zu einer Reihe zusammen gefasst, bewaffnet mit Musketen, deren Holz auf Hochglanz poliert war. Jede der Waffen stammte aus den besten Feuerschmieden des Imperiums, nicht aus den Massenmanufakturen, die man in jeder größeren Stadt finden konnte und die Feuerwaffen für Jäger, Adelige und gewöhnliche Soldaten fertigten. Diese hier stammten aus den persönlichen Schmieden des Kaisers, deren Produkte und Pläne nur den Herrscher selbst und seinen direkten Agenten zugänglich waren. Die für Wind und Wetter anfälligen Mechanismen waren mit metallenen Abdeckungen versehen, die sie so gut wie unempfindlich gegen Wasser machten und die gezogenen Läufe waren von einer Genauigkeit und Zuverlässigkeit, die selbst die Prunkwaffen, die der Adel führte billig und nutzlos erscheinen ließen. Jeweils ein Offizier, bewaffnet mit einem mit dem Doppelwappen der Belfare verzierten Säbel, ging jeder der Reihen voraus voraus, begleitet von zwei Bannerträgern. In vergoldeten Fäden gestickt, waren die Fahnen so schwer, das der Wind sie nicht ganz entfalten konnte, eine jede gekrönt von der stilisierten Darstellung eines Adlers. Im Gegensatz zu der sonstigen Ausrüstung wirkten diese Flaggen alt, die Farben von Pulverdampf und Sonne ausgebleicht oder verdunkelt. Löcher zeigten, wo Kugeln das Material bereits früher durchschlagen hatten. Die kaiserliche Leibgarde trug die Zeichen ihrer vergangenen Schlachten mit Stolz vor sich,
Blaue, mit Goldknöpfen abgesetzte Uniformen waren mit eingenähten Stahlplatten verstärkt , die die Männer breiter und bulliger wirken ließen ohne unelegant zu wirken. Ohne, das ein gesprochener Befehl nötig gewesen wäre, Fächerten die Männer aus, sobald sie das Teleportationsfeld verließen und stellten ihre Gewehre bei Fuß um ihr Bajonett zu befestigen. Jede Bewegung erfolgte genau Abgestimmt, wie ein Uhrwerk. Keiner zögerte, oder wurde langsamer beim Anblick der zyklopischen Mauern. Manche von ihnen waren Gejarn, die meisten Menschen. Es machte keinen Unterschied. Diese Männer gehörten zu keinem Regiment oder Provinz und nicht einmal zu einer Spezies, aber sie repräsentierten das Beste, was das Kaiserreich jemals an Soldaten hervor gebracht hatte, persönlich ausgesucht, entweder vom Kaiser selbst oder seinem Hochgeneral um die fliegende Stadt und ihren Herrscher zu schützen.
Ihnen folgten schließlich ein dutzend Gestalten in den auffälligen, türkisfarbenen Roben des Ordens. Jeder der Magier, die den Teleportzauber aufrechterhielten, trug einen schweren, mit rötlichen Kristallen besetzen Stab vor sich. Dünne Bänder aus Energie verbanden ihre Spitzen miteinander und leiteten sie zurück in den goldenen Nebel um den Zauber zu nähren. Es war eine Zuschaustellung an Macht und magischer Energie, die man möglicherweise zuletzt bei Simon Belfares großem Feldzug gesehen haben mochte. Zu einer Zeit, als die gesamte Macht des Reichs sich gegen sich selbst gerichtet hatten. Goldene Lichtbögen tanzten über das Gras und um die wartenden Männer herum, blendeten all jene, die z lange hinsahen und hielten die Schützen auf den Mauern davon ab, ihnen gefährlich zu werden. Falls diese in ihrer Verwunderung überhaupt daran dachten, anzugreifen.
Und als letztes folgten drei weitere Männer der Prozession aus Soldaten und Zauberern. Die erst war Golden, und trug die Rüstung eines Gottes. Vergoldeter Stahl, der die Sonne wiederspiegelte. Eingelassene Kristalle leuchteten in einem unheilvollem Licht und ließen die Luft um die Gestalt herum knistern und seltsam verzerrt wirken. Ein weißer Umhang lag über einer Schulter und verbarg zum Teil die Klinge des Schwerts, das er an seiner Seite führte, ein großes, im Zeitalter von Degen und Musketen seltsam archaisch anmutendes Breitschwert, auf dessen Klinge flammende Runen eingelassen waren. Magisches Feuer loderte daran entlang, ohne jedoch den Stoff, der es bedeckte zu verbrennen. Die Parierstange war genauso zweigeteilt, wie das Wappen des Kaiserreichs, eine Seite endete im scharfen Schnabel eines Adlers, die andere im Kopf eines Löwen. Der Mann, der diese Waffen führte, war groß, hoch gewachsen und mittleren Alters. Grünblaue Augen, die selbst auf die Entfernung mit innerem Feuer zu leuchten schienen, musterten die nahen Wälle Xihuitzin. Der grimmige Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich nicht, während er sich langsam zu seinen Männern umdrehte. Kurze, dunkelblonde Haare, in denen sich erste Spuren von grau zeigten wurden von einem simplen Ring aus Gold eingefasst. Ein einziger, wasserklarer Diamant glitzerte darin. Die Krone Cantons war vielleicht das älteste Artefakt die das Ornat des Kaisers ausmachten. Alt genug um sie bis zum ersten Kaiser zurück zu verfolgen, der sie einst hatte von seinem Stamm Schmieden lassen. Der Rest jedoch, war deutlich jüngeren Datums, wenn auch bereits seit Jahrhunderten im Besitz der Herrscherfamilie. Die Rüstung und die Waffen, die Simon Belfare selbst mit Magie durchdrungen und auf seinem Feldzug gegen die Ordeal-Kaiser geführt hatte. Konstantin Belfare, Kaiser Cantons, Lord der imperialen Garde und Hammer des Südens.
Cyrus blinzelte die Nachbilder weg und ließ das Fernrohr sinken, das Lord Macon ihm gereicht hatte. Anselm schien keine Hilfe zu brauchen, um zu wissen, was dort draußen vor sich ging. Der junge Magier hatte angefangen zu zittern, während er die Magie beobachtete, die sich auf der Ebene entlud.
„Ich dachte ihr seid so etwas gewöhnt?“ , fragte Cyrus. Er konnte durchaus verstehen, wieso Anselm nicht wohl bei der Sache war. Er konnte die Magie bis hierhin spüren und er war ein Gejarn. Sein Volk sollte Magie gar nicht wahrnehmen können und doch kribbelte sein ganzer Körper als würde ihn ein Heer von Ameisen beißen. Es war eine reine Zuschaustellung von Macht. Warum sonst hätten sich die Männer vor die Stadtmauer teleportiert, statt durch sie hindurch?
„Daran gewöhnt man sich nicht.“ , gab Anselm mit düsterer Stimme zurück. „Niemals. Das da… Es ist falsch, Magie derart zu verwenden.“ Er schüttelte den Kopf und Cyrus entschied sich, das Thema fürs erste fallen zu lassen. Erneut hob er das Fernrohr.
Gleißende Blitze tanzten um die goldene Form, die aus der Lichtsäule hervortrat und die Nachwirkungen des Teleportzaubers abschüttelte. Ein langer weißer Umhang bestickt mit dem Doppelwappen Cantons wehte hinter ihm und das Nachbrennen des Zaubers spiegelte sich auf der Rüstung des Neuankömmlings. Die Entfernung machte es schwierig, aber der Wolf wusste, mit wem er es zu tun hatte. Hätte es daran noch Zweifel gegeben so wurden diese spätestens von den weiteren Gestalten ausgeräumt, die aus dem Portal auf das Schlachtfeld traten. Drei Zauberer des Ordens, die den Kaiser sofort flankierten, begleitet von einer vierten Gestalt in den auffällig türkisfarbenen Roben der Zauberer. Eine Kugel jagte an ihm vorbei, verpuffte jedoch wirkungslos an dem magischen Schild, den der Mann aufgebaut hatte. Tyrus Lightsson unterschied sich nur in seinem Auftreten von den übrigen Mitgliedern seiner Zunft doch das reichte um ihn zu erkennen. Waren die übrigen Magier des Ordens oft verkümmerte und ausgelaugte Wesen, die sich in die Schatten duckten, so war ihr Großmeister das genaue Gegenteil, trotz des bereits fortgeschrittenen Alters breitschultrig und ungebeugt, die grauen Haare lose zu einem Zopf gebunden. Hinter dem Herrn des Sanguis-Ordens folgten die Männer der kaiserlichen Leibgarde, in ihren Uniformen, deren vergoldete Knöpfe und Ziernähte im Licht der Sonne funkelten, während die Überreste des Teleportzaubers langsam verloschen. Und in ihrer Mitte stand ein Riese, dieser nicht aus Gold, wie der Kaiser selbst, sondern Silber mit einem Kriegshammer über der Schulter, der fähig schien die Mauern der fernen Stadt einzureißen sollte es nötig sein. Trotzdem führte er die Waffe, als wäre sie leicht wie eine Feder. Der Mann wirkte, wie aus einem Stück Eisen geschmiedet, mit stahlgrauen Haaren und Augen. Seine Rüstung surrte bei jedem Schritt, als zahllose winzige Zahnräder ineinander griffen und seine Bewegungen durch die unbezahlbare Maschinerie unterstützten. Zwergenarbeit. Jahrhunderte alt und obwohl es keinen Schmied gab der das verlorene Volk ersetzen konnte, nach wie vor in tadellosem Zustand. Es gab nur noch einen vollständigen Satz solcher Ausrüstung und jeder Gardist wusste, wem diese zustand. Der Hochgeneral Cantons trat neben seinem Kaiser. Erneut vergingen Augenblicke vollkommener Stille, während die letzten Reste des Teleportationszaubers in sich zusammen fielen. Kaiser und Hochgeneral sahen sich einen Augenblick lang an. Dann nickte die Gestalt in Gold.
Cyrus sah ungläubig zu, wie der Hochgeneral wortlos an seinem Herrscher und den wartenden Soldaten vorbei trat. Auf die Mauern zu. Das war offenbar der Moment, in dem auch die Erstarrung von den Männern auf den Wällen abfiel. Befehle wurden geschrien, Gewehre, die die Krieger der Stadt von Versorgungskarawanen der Garde gestohlen hatten, angelegt, Bögen gespannt. Die Leibgarde machte nicht einmal Anstalten, sich Deckung zu suchen, als die erste Salve abgegeben wurde. Pfeife und Kugeln regneten auf sie herab, fanden ihre Ziele und durchbohrten Körper. Männer fielen schreiend zu Boden, eine der Fahnen der Garde wurde von einem Pfeil durchschlagen, der einen der Träger fällte. Ruhig und ohne Eile trat einer der Gardisten aus seiner Reihe und hob das Banner wieder auf. Geschosse gingen um ihn herum nieder, denen er jedoch keinerlei Beachtung schenkte. Kugeln zerplatzten an der Rüstung des Kaisers, oder kurz davor, wo die uralten Zauber, die in den Stahl gewirkt waren, sie abfingen. Das war Wahnsinn, dachte Cyrus. Diese Männer standen einfach nur im Geschosshagel und… rührten sich einfach nicht. Nur wo ein Mann fiel, wurden die Reihen mit knappen, präzisen Gesten wieder neu organisiert und geschlossen. Warum erwiderten sie das Feuer nicht?
Nur der Mann in der Silberrüstung, bei dem es sich um den Hochgeneral handeln musste, hatte nun den Fuß der Mauer erreicht. Auch um ihn zerplatzten Kugeln oder prallten mit einem lauten heulen von seiner Panzerung ab, wo die Zauber sie nicht aufhalten konnten. Seine Schritte wirkten leicht, trotz des Gewichts seiner Rüstung und der Waffe, die er trug. Die surrende Maschinerie tat ihre Arbeit, als er den Hammer hob…. Und ihn mit aller Kraft gegen die Mauern schmetterte.
Cyrus hatte gesehen, was magisch Waffen anrichten konnten. Er hatte gesehen, wie Klingen Rüstungen zum Schmelzen brachten, wie ein einzelner Mann in verzauberter Plattenrüstung einen Kavallerieangriff stand hielt… Doch solche ungebändigte Macht noch nie.
Der Hammer berührte die Mauer nur ein einziges Mal, doch die Druckwelle die folgte, konnte Cyrus selbst auf die Entfernung spüren. Steine wurden aus ihrer Verankerung gerissen und einfach Pulverisiert, Mörtel löste sich in nutzlosen Staub, der von der Druckwelle in die Straßen der Stadt getragen wurde. Massiver Felsen, zermalmt zu Sand, der Gebäude unter sich begrub. Während Männer hilflos in die Tiefe stürzten, als das, was ihnen einst halt gegeben hatte, verschwand.
Ziegelsteine wurden zu roten Wolken, Granit zu grauen und mittendrin heulte der Wind und das Geschrei von tausenden Männern, deren Trommelfell unter dem Druck einfach geplatzt war.
Cyrus eigene Ohren klangen und der Staub rieselte selbst über dem Lager noch in einem feinen Nebel herab. Geister… Monate der Belagerung, beendet in einer einzigen Zuschaustellung kaiserlicher Macht.
Jetzt erst, wo der Weg frei war, senkten die Männer der Leibgarde ihre eigenen Waffen und setzten sich in Bewegung. Mit der Präzision eines Uhrwerks begannen sie vorzurücken. Drei Schritte. Stehenbleiben. Feuern. Nachladen, zurückweichen und die nächste Reihe vor lassen. Drei Schritte… Feuern. Pulverdampf hüllte ein, was nicht von der Staubwolke bedeckt wurde.
Und jetzt brandete auch im Lager der Befehl auf, auf den sie gewartet hatten. Und den Cyrus befürchtet hatte. Lord Macon hingegen begann seine eigenen Männer anzuweisen.
„Folgt eurem Kaiser. Auf, wollt ihr ewig Leben. Euer Herr beobachtet euch heute. Also macht ihm keine Schande. Zu mir!“
Und damit meinte er wohl auch ihn, dachte Cyrus. Er hatte selten darüber nachgedacht einfach weg zu laufen. Jetzt jedoch erschien ihm das, wie eine sehr gute Idee. Wäre da nicht Anselm…
„Was machen wir jetzt?“ , fragte der Magier mit dünner Stimme.
„Jetzt? Jetzt kommt der Teil den ihr sehen wolltet. Bleibt einfach in meiner Nähe, wenn ihr Überleben wollt.“
„Ihr! Hierher!“ Cyrus war sich sicher noch nie so froh gewesen zu sein, ein Gesicht zu sein. Nun, wenn man es den ein Gesicht nennen konnte. Lord Macon trug erneut die goldene Totenmaske, die ihm bereits zuvor aufgefallen war, nun jedoch konnte er sie zum ersten Mal genauer betrachten. Er bezweifelte, dass es sich bei dem Material wirklich um Gold handelte, aber wo er und Anselm Dreckverkrustet waren, war die Panzerung des Anführers der goldenen Garde nach wie vor makellos. Allerdings wohl nicht, weil er sich zurück gehalten hatte. Einige weitere Mitglieder der goldenen Garde kauerten in einer Mulde im Pflaster, vermutlich das Überbleibsel einer Artilleriegranate. Und um sie herum lagen mindestens drei Dutzend tote Verteidiger der Stadt. Cyrus konnte mehrere erkennen, welche die aus schwarzen Schuppen bestehende Haut der Schattengarde hatten. Macon selbst zog gerade die Klinge aus einem gefallenen Körper, während er ihnen bedeutete, sich zu beeilen. Und Grund zur Eile hatten sie definitiv.
Cyrus und Anselm waren den verworrenen Straßen bis zu diesem offenen Platz gefolgt. An einem Ende hatte sich die kaiserliche Garde eingegraben, zusammen mit Macons Männern. Am anderen… ragte etwas auf, das Cyrus selbst nach all der Zeit, die er im Kampf mit den Steinkriegern Xihuitzins verbracht hatte, das Blut in den Adern gefrieren ließ. Der Platz war groß genug um tausenden Menschen Platz zu bieten und bildete wohl einen der Hauptknotenpunkte der Stadt. Cyrus konnte überall Abzweigungen sehen aus denen Straßen hinaus auf die Freifläche führten. Die Gebäude, die den Platz begrenzten waren zumeist aus besseren Materialen, Stein und Ziegeln, als die sich weiter außen am Wall befindenden Lehmhütten. Cyrus nahm das als ein Zeichen dafür, dass sie immerhin Fortschritte machten. Die Stadt schien sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken. Am den hastig aufgeschichteten Barrikaden, eigentlich nur Schuttberge, die man umfunktioniert hatte, der kaiserlichen Garde gegenüberliegenden Ende des Platzes schließlich, stand der Riese. Cyrus wusste nicht, wie er die Kreatur anders beschreiben sollte. Jeder der Steinquader, die seinen Körper formten war leicht so groß wie ein Mann und doppelt so breit. Der Golem überragte die umgebenden Gebäude leicht um das doppelte und seine gewaltigen Pranken rissen ohne jedes Anzeichen von Mühe Stücke aus den Häusern um sie nach den Männern der kaiserlichen Garde zu werfen.
Cyrus schaffte es gerade noch, sich in den Kratzer zu werfen und Anselm mit sich zu ziehen, bevor eines der improvisierten Projektile direkt vor ihnen zerschellte und das Pflaster des Platzes aufriss. Erde spritzte hoch und regnete auf sie nieder und einen Moment sah Cyrus sich schon lebendig begraben. Trümmerstücke, die jedes für sich tödlich waren, schlugen um sie ein, brachten Barrikaden zum Zusammenbrechen und schleuderten Männer meterweit durch die Luft. Einige Gardisten ergriffen die Flucht, Stimmen schrien durcheinander. Cyrus, halb begraben von Erde, schaffte es sich zu befreien und sich neben Macon zu rollen. Der Anführer der goldenen Garde hatte sich während des ganzen Vorfalls nicht von der Stelle bewegt, sondern war einfach an seinem Platz am Rand des Kraters stehen geblieben. Es war ein Wunder das er noch lebte.
„Irgendeine Idee wie wir da dran vorbei kommen sollen?“ , fragte er. Eine Gruppe Soldaten mit Handkanonen nahmen den Riesen unter Beschuss, doch die Kugeln hätten genauso gut aus Stroh sein können, so wenig wie sie ausrichteten. Der Rest der goldenen Garde hatte sich um sie herum in Stellung gebracht. Von ihren Pferden war nichts zu sehen. Vermutlich waren selbst diese Männer nicht verrückt genug ihre Tiere in eine umkämpfte Stadt mit engen Straßen und Gassen zu führen.
„Kann der Magier sich um das Ding kümmern?“
„Anselm?“
„Ich habe sie gehört.“ , erwiderte der Zauberer.
„Ihn.“ , korrigierte Macon trocken.
Anselm antwortet nicht, sondern spähte einen Moment über den Rand des Kraters. Der Gigant machte immerhin keine Anstalten sich zu nähern, dachte Cyrus erleichtert. Dafür jedoch hatte er bereits das nächste Stück Haus in den Pranken und holte aus.
„Etwas an diesem Ding ist nicht richtig.“
„Ich würde sagen die Größe.“ , gab Cyrus zurück. „Ich habe hier schon so einiges gesehen, aber das da… Dieser Golem ist praktisch eine wandelnde Festung. Inklusive Kanonen.“
„Das ist nicht was ich meine.“
„Dann was meint ihr?“ Lord Macon sah den jungen Magier an und Cyrus konnte nicht sagen, ob er wütend oder tatsächlich interessiert war. Die Maske verbarg jegliche Emotionen und die Stimme des Mannes war eiskalt und beherrscht. Als ob er sich nicht mitten auf einem Schlachtfeld befinden würde, dachte der Wolf. Eine Gruppe Schattengardisten strömte über den offenen Platz auf die Krater zu, wo die Gardisten Schutz gesucht hatten. Das Donnern von Gewehren übertönte einen Moment das Geräusch von berstendem Stein. Männer fielen, stolperten übereinander, nur eine Handvoll überlebten die erste Salve. Mit einer fließenden Bewegung stand Macon auf, eine Steinschlosspistole in der Hand. Er zielte, feuerte und einer der Schattengardisten, der ihrem Versteck zu nahe gekommen war, brach im Laufen zusammen.
„Hört zu, die Golems, die ich bisher hier gesehen habe, waren alle durch Magie belebt. Man kann es spüren. Wie… Nadelstiche oder als ob einem die Füße einschlafen würde. Nicht sehr angenehm. Aber dieses Ding da vorne… Nichts.“
„Soll das heißen es ist nicht magisch?“
„Nein, das soll heißen, das es mir Angst macht, Cyrus. Jedes Lebewesen besitzt zumindest einen Funken Magie. Nennt es eine Seele wenn ihr wollt. Und es fühlt sich anders an als reine, durch einen Zauberer gelenkte Magie. Und das ist genau das was das da vorne ist. Es hat eine Seele. Versteht ihr das? Eine Mächtige.“
„Es leuchtet jedenfalls.“ , stellte Macon fest. “Ich nehme mal an, das ist ein schlechtes Zeichen.“
„Es heißt jedenfalls, das ich keine Ahnung habe, was passiert, wenn ich versuche mit Magie gegen es vorzugehen. Und ich glaube nicht, das ich es herausfinden möchte.“
Macon seufzte. „Und ich dachte, ein Magier wäre nützlich. Nun gut, dann eben auf die altmodische Art.“
„Ihr habt also einen Plan?“ Cyrus war mehr damit beschäftigt, ungezielte Schüsse über die Schuttbarrikaden abzugeben. Falls noch weitere Verteidiger in der Nähe waren, würde sie das hoffentlich davon abhalten, zu mutig zu werden. Zwischen dem Golem und ihrer bestenfalls rudimentären Befestigung wären Schattenwächter jetzt das letzte, was sie brachten. Der Platz selbst bot so gut wie keine Deckung. Lediglich eine umgestürzte Statue aus mit Bronze beschichteten Stein und die Überreste eines Brunnens, über dessen Rand ein Gardist zusammen gebrochen war. Das einstmals klare Wasser hatte einen rötlichen ton angenommen, sprudelte jedoch noch.
Lord Macon nickte und gab einer Gruppe seiner Männer ein Zeichen. Die Reiter der goldenen Garde verschwanden zwischen einigen hastig aufgeschichteten Barrikaden und kehrten bald darauf mit einer mit Stroh ausgestopften Kiste zurück. Macon schon den Deckel zurück und drückte Cyrus eine Kugel aus dunklen Metall in die Hand.
„Drachenfeuer-Granaten.“ , erklärte er, was Cyrus dazu veranlasste, die Kugel hastig wieder in ihr Nest aus Stroh zurück zu legen. Allerdings vorsichtig genug um ja keine Erschütterung zu verursachen. Macon sah ihn einen Moment an und schüttelte den Kopf. „Immerhin scheint ihr ja damit vertraut zu sein.“
„Wenn ihr meint, dass wir keine Chance mehr haben und uns einfach umbringen sollten, ich kann mir angenehmere Arten vorstellen, das zeitliche zu segnen, als mich in die Luft zu springen.“
„Nicht euch.“ Macon nickte in Richtung des Golems. “Das Ding aber schon. Eine dieser Granaten als Zünder und ein kleines Pulverfass. Wenn wir es nur nahe genug an den Riesen heran bringen können…“
„Das zentrale Wort hier ist wenn.“ , warf Cyrus ein. Vielleicht war sich in die Luft zu sprengen doch die bessere Option. Macon beachtete seinen Protest gar nicht, sondern begann, die Granaten unter seinen verbliebenen Leuten aufzuteilen, während er sich selber ein Pulverfass unter den Arm klemmte.
„Wir werden alle sterben.“ , erklärte Cyrus nur resigniert, bevor ihm Macon ebenfalls eine der Granaten in die Hand drückte. Immerhin war der Mann schlau genug, Anselm keine der Waffen anzuvertrauen.
„Unsere Sache ist gerecht. Wir werden nicht versagen.“
Der Wolf musste sich zusammen reißen, nicht laut los zu lachen. „Ich weiß die Hälfte der Zeit nicht einmal genau, wen ich eigentlich weshalb bekämpfe.“
Macon sah ihn einen Moment an, als verstünde er nicht, wovon Cyrus überhaupt sprach. Wie groß der Unterschied zwischen diesen Männern und der übrigen Garde doch war, dachte er. Oder war es nur der Unterschied zu ihm selbst? Der Gedanke beunruhigte ihn mehr als es sollte. In seinen Augen war die goldene Garde verrückt. Und gleichzeitig herrschte zwischen dieser Gruppe Krieger ein Zusammenhalt der ihm selber lange bitter geworden war. Bevor er jedoch dazu kam, länger darüber nachzudenken, gab Macon das Zeichen zum Aufbruch.
Mit einem Aufschrei von „Für Kaiser und Hetman.“ Schwangen sich die Männer der goldenen Garde über die Barrikaden und strömten über den Platz. Die wenigen, die ihre Pferde irgendwie durch die verworrenen Gassen der Stadt geführt hatten, sprangen in die Sättel und führten den Angriff in Richtung des steinernen Riesen an, der ihnen den Weg versperrte. Zwei stellten Banner auf, die sofort feindliches Feuer auf sich zogen und das Drachenwappen der Ordeal zerfetzten. Macon selbst lief seinen Leuten vorweg und feuerte auf einige versprengte Verteidiger ohne auch nur Anstalten zu machen, irgendwie ein schwierigeres Ziel zu bieten. Was neben dem Golem noch an Wiederstand auf dem Platz verblieben war, wurde von dem selbstmörderischen Vormarsch der Garde endgültig zurück getrieben. Eine Kugel traf Macons Schulter, prallte jedoch scheinbar wirkungslos an der Rüstung des Mannes ab… Der Anführer der goldenen Garde lachte nur, während er die leer geschossenen Pistole sinken ließ, eine zweite Waffe hob und den Abzug durchzog. Der Schütze fiel, bevor er überhaupt registrierte, dass seine Kugel verfehlt hatte.
Geister wie konnte man in diesem Chaos lachen? Cyrus zögerte einen Moment den anderen zu folgen. Macon Schritt seinen Männern voraus, die leer geschossenen Pistole wieder im Halfter. Stattdessen nahm er dem bisherigen Träger die Regiementsflagge ab und trat aus dem letzten Rest Deckung. Das schwarz-weiße Banner der goldenen Garde zog sofort das Feuer der immer noch auf dem Platz verstreuten Verteidiger auf sich. Lichtbögen leuchteten um den Herrn der Husaren auf, als die ersten Kugeln ihr Ziel fanden und an der Rüstung des Mannes abprallten, als wären sie auf soliden Stein getroffen. Dieser schien die Einschläge kaum zu spüren, sondern bedeutete seinen übrigen Männern nu, ihm zu folgen. Einer nach dem anderen erhoben sich die Gardisten aus ihrer Deckung und strömten hinter ihrem Anführer her. Bei allem was recht war, dachte Cyrus, der Mann sollte längst tot sein. Weitere Projektile fanden ihr Ziel, nur um zu verglühen, bevor sie die Macons Panzerung auch nur zerkratzen konnten. Magie. Hatte der Mann deshalb Anselm unbedingt für seine Einheit gewinnen wollen?
Die Luft um die Gestalt des in Gold gekleideten Anführers flimmerte, während er den Säbel mit der freien linken Hand schwang und sich einem der Verteidiger stellte. Obsidian traf auf gehärteten Stahl Lichtbögen sprangen auf, folgten den Bewegungen der von innen leuchtenden Klinge. Dann machte Macons Gegner einen Fehler und der Anführer der goldenen Garde streckte ihn nieder, ohne den gefallenen Körper eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine übrigen Männer taten es ihm gleich und rückten in dicht geschlossenen Linien über den verwüsteten Platz vor. Einer fiel, als ein Schütze ihn an der Schulter traf, nur um wortlos wieder aufzustehen und den Mann mit einem Schuss niederzustrecken. Die Verletzung ignorierend, schloss er sich wieder den übrigen Männern an und schloss die Reihen.
Cyrus zog wortlos das Messer und drückte es Anselm in die Hand. „Ihr bleibt hinter mir.“ , erklärte er und vergewisserte sich erneut, das die Granate, die Macon ihm gegeben hatte sicher verstaut war. Wenn er sich schon an diesem Wahnsinn beteiligte, dann wollte er wenigstens nicht sterben, weil ihm seine eigene Waffe auf die Füße fiel. Der Wolf atmete noch einmal tief durch, vergewisserte sich, das sein Gewehr geladen war, dann schwang er sich über die Barrikade. Er kam allerdings nicht weit, bevor ihn jemand am Kragen packte und mit einem Ruck wieder zurückzog. Im selben Moment verschwand der gesamte Platz vor ihm in Flammen. Flammen, die scheinbar aus den Fäusten des steinernen Riesen auf sie herab regneten. Ein Gardist schaffte es nicht rechtzeitig sich in Sicherheit zu bringen und wurde von magischem Feuer eingehüllt. Seine Schreie übertönten die rasch gerufenen befehle Macons. Wo die Flammen den Boden erreichten, verbrannten sie das Pflaster zu Schlacke und ließen Gase aus dem Boden aufsteigen.
Cyrus rappelte sich wieder auf und sah zu Macon, der eine Hand nach wie vor in seinem Mantel vergraben hatte. Der junge Magier zitterte sichtlich, die Augen starr auf den riesigen Golem gerichtet.
„Bei allen… Was war das?“ , verlangte der Wolf zu wissen.
„Ich habe es gesagt.“ Anselms stimme war kaum mehr ein ersticktes Flüstern. „ Es hat eine Seele.“
„Und das heißt es kann Magie benutzen?“
Was Cyrus auf dem Gesicht des jungen Magiers sah, als er sich ihm wieder zuwendete, gefiel ihm gar nicht. Angst. Jegliche Farbe war aus dem Gesicht des Mannes gewichen.
„Ich…“ Anselm schüttelte den Kopf. „ Da ist etwas in diesem Ding, das da niemals sein dürfte Cyrus. Etwas altes, das ihm Macht verleiht.“
Etwas an der Stimme des Magiers zehrte an seinen Nerven. Die schrille Höhe, die pure Panik… Sie waren bis hierher gekommen, ohne das Anselm zusammengebrochen war. Nun jedoch schien er fast vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen.
Cyrus atmete tief durch und legte dem jungen Mann eine Hand auf die Schulter. Jung… Wieder einmal musste er sich daran erinnern, dass er möglicherweise sogar jünger als Anselm war. Zumindest, was Jahre anging. Doch der bloßen Erfahrung nach… Vielleicht hatte er sich geirrt was Anselms Fähigkeiten anging, aber das hier war kein Ort für ihn
Cyrus riskierte einen kurzen Blick über die Barrikaden.
Zwanzig Mann in vergoldeten Rüstungen und gelben Uniform-Mänteln, die einer Gestalt folgten, die eine Schneise durch die ihr entgegen kommenden Verteidiger schlug, einen von magischem Licht umhüllten Säbel in einer Hand und das halb verbrannte Banner der Garde in der anderen. Der Feuerball des Golems hatte Macon offenbar verfehlt und nur den Stoff der Standarte versengt.
„Lasst sie ihre Stadt verbrennen, wir weichen nicht zurück!“ Macons Stimme war selbst über das allgemeine Chaos deutlich zu hören. Nun, immerhin musste er sich um den verrückten Hauptmann keine Sorgen machen, dachte Cyrus. Der Mann war wahnsinnig aber auch scheinbar zu stur um zu sterben, wenn er es sollte. Kugeln aus gestohlenen Waffen verglühten in der Luft kurz bevor sie ihn erreichten und zogen nur mehr Feuer nach sich, das wirkungslos verpuffte. Die übrigen Männer der goldenen Garde folgten ihrem Herrn auf dem Fuß. Einer wurde von einem Schemen durchbohrt, der sich aus dem nichts zu materialisieren schien, bevor Macon herum wirbelte und die schwarze Tempelwache mit einem Hieb köpfte. Die Magie die den Mann mit seiner Umwelt verschmelzen ließ schwand in einem Funkenregen und ließ nur eine mit schwarzen Wucherungen übersäte Gestalt zurück. Doch egal wie mutig oder besser Todesverachtend die Männer der goldenen Garde sein mochten, die ersten fielen und wenn der Steinerne Riese erneut angriff, wären sie verloren. Und das schloss dann auch ihn ein, dachte Cyrus.
Er wendete sich wieder Anselm zu und bemühte sich so klar und ruhig wie möglich zu sprechen. Der junge Mann schien nach wie vor nur halb da zu sein und als Cyrus ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte er sichtlich zusammen.
„Hör zu, wir schaffen es so niemals über diesen Platz und das schließt Macon und seine Leute ein. Weglaufen ist auch keine Option. Nicht solange dieses Ding uns mit Magie und Gebäudeteilen bombardiert.“
„Und was soll ich dagegen tun?“ Anselm schrie fast, sah ihn mit weiten Augen an. Angst und Panik lagen nach wie vor darin. Unter anderen Umständen hätte Cyrus ihn vielleicht jetzt ebenfalls angeschrien, aber die Wahrheit war, dass er eine gewisse Zuneigung für den Mann empfand. Und Verständnis. Er war auch einmal Jung gewesen. Nein nicht jung, dachte er. Das war das falsche Wort. Unschuldig vielleicht? Nicht gebrandmarkt und abgestumpft durch zu viel Tod und Terror, bis ihn nichts mehr bewegte, außer zu Überleben.
„Kannst du denn etwas tun?“, fragte Cyrus, nach wie vor bemüht ruhig zu klingen.
Anselm atmete tief durch.“ Ich… Vielleicht. Aber nur einmal und nur weil wir sonst sterben werden.“ Was nun im Gesicht des jungen Magiers schimmerte, gefiel Cyrus noch weniger als die Panik zuvor. Es war kälte. „Du wirst mich kein zweites Mal darum bitten.“
Warum hatte Anselm eine solche Abneigung dagegen seine Fähigkeiten einzusetzen? Jetzt war nicht der Augenblick ihn danach zu fragen, aber trotzdem… Cyrus hatte gesehen wozu er fähig war. Wieso also saß jemand wie er in einem Graben inmitten einer umkämpften Stadt anstatt als einer der Hochmagier des Ordens zu dienen. Geschützt vor den schlimmsten Wirren des Krieges… und geachtet.
Anselm stand auf, zitternd, mit geballten Fäusten und im gleichen Augenblick wendete sich der steinerne Golem am anderen Ende des Platzes ihnen zu… und erstarrte. Cyrus wusste nicht, was er erwartet hatte, als er Anselm um Hilfe bat, doch einen Augenblick lang standen sich der Magier und das gigantische Konstrukt nur regungslos gegenüber. Die Luft schien schwer, elektrisch aufgeladen und seine Füße kribbelten.
Ein gewaltiger Knall folgte, laut genug, dass selbst Macon und seine Männer einen Augenblick inne hielten und zu ihnen zurück blickten. Fels zerbrach, als ob er unter Spannung stünde, Lichter tanzten um die Gestalt des Golems. Risse breiteten sich über die eben noch glatte, steinerne Oberfläche des Konstrukts aus, als würde es von unsichtbaren Kräften zermalmt. Anselm hatte die Arme erhoben und die Augen geschlossen. Seine Hände zitterten. Einen Augenblick lang schien es so etwas wie einen Stillstand zwischen den beiden Kontrahenten zu geben. Der Golem blieb eingefroren wo er war, Anselms Hände blieben in der Luft, erstarrt als wären auch sie als Stein oder würden gegen eine unsichtbare Mauer pressen. Cyrus konnte beinahe zusehen, wie einzelne graue Strähnen in den Haaren des Magiers auftauchten, seine Züge blasser wurden…
Dann ging alles ganz schnell. Ein Lichtblitz hüllte den Golem ein, blendete sie alle einen Augenblick, als die in seinen Körper eingelassenen Kristalle aufleuchteten und den Zauber zerstreuten, den Anselm gewirkt hatte. Eine Druckwelle riss das auf, was vom Pflaster des Platzes noch übrig war. Schrapnell und Staub wirbelten auf. Etwas traf Cyrus Schulter und warf ihn zu Boden. Ein Ziegelstein, so groß wie eine Faust. Der dumpfe Pochende Schmerz ließ ihn aufstöhnen. Der Boden erzitterte, gab nach und sackte ein. Cyrus rollte sich zur Seite, versuchte zu entkommen, als die Welt sich zur Seite neigte und Staub und Geröll in die Tiefe stürzten. Der halbe Platz begann sich abzusenken, riss Gebäude und Trümmer mit sich. Cyrus schaffte es auf ebenen Boden und blickte zurück. Anselm war fort. Wo eben noch die behelfsmäßigen Barrikaden der goldenen Garde gewesen waren, war nun nur noch ein Trümmerfeld aus halb umgestürzten Ruinen, Sand und Staub, der langsam in die Grube hinab rieselten, die der fehlgeschlagene Zauber aufgetan hatte.
Anselm blinzelte. Staub rieselte um ihn herum herab und dämmte das Licht. Licht, das durch eine Handvoll Risse im Fels direkt über ihm herein kam. Ziegeltrümmer und gewaltige Felsbrocken, die sich weniger als zwei Hände breit über ihm verkeilt hatten. Er versuchte sich aufzusetzen, stieß sich den Kopf an den tief hängenden Felsen und schmeckte Blut.
„Cyrus?“ Die Worte kamen nur als ein ersticktes Flüstern und er musste husten. Die Luft war voll mit Staub, der ihn nach wie vor zu ersticken drohte, selbst wenn die Felsen nicht nachgaben. „Macon?“ Seine Stimme hallte seltsam nach, zitterte. Stille war alles was ihm antwortete. Aber nicht völlige Stille. Er konnte etwas hören. Nicht den gedämpften Lärm der Schlacht die irgendwo über ihm toben musste. Fließendes Wasser. So vorsichtig wie möglich versuchte er erneut sich zu bewegen. Einen Augenblick lang kauerte Anselm unter den Trümmern und starrte ins Halbdunkel. Vor ihm weitete sich der Einbruch und ging hinaus auf etwas, das wie ein aus Ziegeln gefertigter Steg aussah. Das Rauschen von Wasser, das er hörte schien von darunter zu stammen. Wo war er bloß gelandet?
Darum bemüht keinen der instabilen Trümmer zu berühren, schob er sich vorsichtig weiter. Immerhin, seine Beine trugen ihn, auch wenn sie sich wie Gummi anfühlten. Und dann hörte er noch etwas anderes. Stimmen. Einen Moment war er versucht zu rufen, besann sich jedoch rasch eines Besseren. Wo auch immer er hier gelandet war, es war unwahrscheinlich dass ihm hier jemand freundlich gesinnt war. Nicht wenn die Schlacht oben nach wie vor andauerte. Vielleicht eine Gruppe Tempelwächter die nachsehen wollten wie groß die Schäden waren? Die Stimmen schienen jedenfalls in seine Richtung unterwegs zu sein. Kurz wog er seine Chancen ab zu entkommen, bevor sie ihn erreichten, aber er hatte nach wie vor keine Ahnung wo er sich überhaupt befand. Also was blieb?
Sie töten. Der Gedanke kam so plötzlich, das er ihn erschreckte. So einfach. Ohne dass er es bewusst ausgelöst hätte, tanzten Flammen über seine Fingerspitzen. Er hätte die Macht dazu, nicht? Wenn es wirklich nur eine Patrouille war die sich die Schäden ansehen wollte, hätten sie ihm wenig entgegen zu setzen und doch… das war nicht er. Nicht wirklich. Nicht wieder. Anselm schüttelte den Gedanken ab. Wenn Magie keine Option war und er nicht entkommen konnte, blieb nur sich zu verstecken. Nur das einzige Versteck hier… Anselm warf einen skeptischen Blick zurück aus der Höhle aus der er eben erst geklettert war. Das Licht, das vom Platz weiter oben hereinfilterte machte es schwer sich wirklich zu verstecken, aber solange er sich nicht bewegte… vielleicht würden sie nicht zu genau hinsehen.
Die Felsen knirschten beunruhigend, als er sich unter sie duckte und sich in die dunkelste Ecke kauerte, die er finden konnte. Der Stein in seinem Rücken hatte allerdings nichts Beruhigendes. Ganz und gar nicht. Anselm atmete tief ein, versuchte sich irgendwie von der Tatsache abzulenken das wussten die Götter wie viele Tonnen instabile Trümmer nun über seinem Kopf lagen. Er schloss die Augen. Lauschte. Die Stimmen waren jetzt so nahe, dass er vereinzelte Worte aufschnappen konnte. Und was er hörte, gehörte ganz sicher nicht zur Amtssprache des Kaiserreichs. Bevor der Orden ihn hierher entsandt hatte, hatte er die Sprache der Pyramidenstadt studiert. Und auch wenn ihm die meisten Worte bekannt vorkamen so klangen sie irgendwie nicht richtig.
„Zerstören ganze Stadt….“ Die Stimme klang… nun nicht ganz wie die eines Kindes aber… Klein, dachte er.
„Ist der… sicher?“ Der was? Anselm wiederstand dem Drang sich etwas aus seinem Versteck zu lehnen. Stattdessen ließ er sich an den Felsen nach unten gleiten und versuchte sich so wenig wie möglich zu bewegen.
„So sicher wie die letzten hundert Jahre auch.“ , kam die Antwort. „ … nur wegen ihm hier draußen. “
„…vorne sind die Tunnel eingestürzt…wird Monate dauern…“
Die Stimmen waren jetzt ganz nahe. Wer immer hier unten war, sie waren offenbar zu viert. Drei der Stimmen schienen zu einer Gruppe Männer zu gehören, die letzte einer Frau.
„Kein Metall.“ Ein Stein wurde von einem Fuß weg getreten und prallte mit einem Echo gegen die Wand des Tunnels. Die Enttäuschung war dem Sprecher deutlich anzumerken.
„Wäre an dir doch eh nur verschwendet. Hilf mir lieber rauszufinden, wie schlimm es ist.“ Das war die Stimme der Frau.
„Diese Soldaten mit den roten Umhängen haben Metall. Ich hab einem von ihnen heute eine Nachricht bringen müssen.“
„Und sie würden dich töten bevor du dich auch nur entschuldigen kannst, wenn du ihre Rüstungen auch nur krumm anguckst.“ , erwiderte der Mann der zuerst gesprochen hatte.
„Wer sagt dass ich mich entschuldigen würde?“
Die Antwort erntete schallendes Gelächter.
„Wegen dem hier, Junge.“ Etwas klirrte metallisch. “Und was es mit dir anstellen wird wenn du es nicht tust. Glaub mir die Bindung in Frage zu stellen ist eine schlechte Idee.“
„Großvater Girsz haben sie nur eine Hand genommen und mit dem Eisen hat er sein ganzes Haus überzogen und die Aufmerksamkeit jedes Mädchens im Dorf errungen.“
„Hat er dir auch erzählt wie er da wirklich ran gekommen ist? Man kann Grisz Geschichten nicht ernst nehmen. Die Hälfte der Zeit weiß er nicht mal mehr seinen eigenen Namen und die andere spinnt er Garn. Nicht das das jemals anders war.“
Die Schritte der Gruppe kamen zu einem Halt und einen Moment war Anselm überzeugt, sie wären gegangen. Dann jedoch durchbrach wieder die Stimme der Frau die Stille.
„Ist der tot?“ Etwas, ein Fuß, stieß gegen sein Bein und er konnte sich gerade noch zusammenreißen sich nicht zu bewegen. „Ich könnte ein paar neue Stiefel gebrauchen.“
„Neu sind die ja nicht gerade.“ , kam die Antwort einer anderen Person. Mindestens drei, dachte Anselm, vielleicht mehr. „Sieht aus wie einer dieser imperialen Kerle. Ihr wisst schon die in den grünen Mänteln. Hast du nicht einen von denen von den Mauern aus gesehen Ganelle?“
„Das nennt man Türkies, Ewec. Türkies. Und der hier sieht ziemlich zerrupft aus. Ich würde mir das mit den Schuhen nochmal überlegen.“
„Heh. Zerrupft. Wie ein Hühnchen. Verdammt wann hatte ich das letzte mal etwas Richtiges zu essen. Habe mal gehört Menschen schmecken ähnlich.“
„Du denkst auch wirklich nur mit deinem Magen, Ewec. Tu was du nicht lassen kannst, aber seine Schuhe gehören mir.“ Erneut spürte Anselm wie etwas an seinem Fuß zog und es tatsächlich schaffte einen seiner Stiefel zu lösen.
„Dann nehme ich sein Bein.“ Das Schaben einer Klinge, die aus der Scheide gezogen wurde, überzeugte Anselm endgültig davon dass sich tot zu stellen keine gute Idee gewesen war. Nicht bei… was auch immer hier unten Lebte. Er wollte sie nicht töten wusste aber auch nicht, womit er es zu tun hatt. Aber es war dunkel hier unten… er konnte sie vielleicht blenden und so entkommen? Mit einem Ruck sprang er auf. Der nun ungeschützte Fuß trat auf einen scharfkantigen Stein und er zuckte unwillkürlich zusammen.
Der Lichtzauber, zu dem er soeben angesetzt hatte entglitt ihm, die Konzentration, die nötig war um ihn kontrolliert aufrecht zu erhalten, verpuffte. Statt einer simplen Lichtkugel strahlte plötzloich seine ganze Handfläche als würde sie direkt von der Sonne angestrahlt werden und zeichnete scharfe Schatten aus der Dunkelheit heraus. Anselm musste selbst die Augen zusammenkneifen und dder Aufschrei der auf seine Magie folgte, zeigte ihm, dass er Erfolg gehabt hatte. Nur an weglaufen war nicht zu denken. Er konnte sich selbst kaum orientieren, hinter ihm gab es nur Schutt und vor ihm schälten sich langsam drei Gestalten hervor, zwei die Hände zum Schutz vor die Augen gehoben und die dritte mit einem seiner Stiefel in der Hand. Und sie waren klein wie ihm klar wurde.
Die größte der Gestalten war immer noch einen ganzen Kopf kürzer als er und schienen geduckt und bucklig zu gehen. Das war allerdings nicht das seltsamste an ihnen. Zuerst dachte er an einen Gejarn aber die Unterschiede waren zu deutlich, als das der Vergleich lange hielt. Dünnes, rötliches Fell bedeckt ihre Körper, wo sie nicht in bunte, aber zerlumpte Kleidung gehüllt waren. Alles wirkte zu weit, so als hätten sie es irgendwo gefunden und versucht auf ihre Größe anzupassen. Eine der Gestalten hielt noch immer ein gezogenes Messer, ließ es nun aber sinken und beinahe schuldbewusst wieder an seinem Gürtel verschwinden. Ihre Gesichter waren nur halb zu erkennen, die obere Hälfte bedeckt von Masken, die aus gebleichtem Hlz gefertigt schienen. Darunter blitzten ihn goldene, reptilienartige Augen an. Und einige dünne, scharfe Zähne, die aus vor Überraschung geöffneten Schnauzen hervorstanden. Schuppen bedeckten ihre Gesichter dort wo das Fell weniger dicht wurde. Und ihm wurde klar, dass sie nicht gebückt standen. Der Eindruck entstand durch einen Krokodilartigen Schweif, der ihre Kleidung die offensichtlich fürMenschen gemacht war, ausbeulte.
Das fremde Wesen, das nach wie vor seinen Schuh hielt, machte einen Schritt zurück… und hielt ihm dann beinahe entschuldigend das Diebesgut wieder hin, während die anderen zwei auf ein Knie sanken. Anselm wusste nicht wie viel er aus ihren Gesichtern lesen durfte, aber bei einem Menschen hätte er wohl gedacht sie sähen beinahe… schuldbewusst aus.
„Danke.“ , meinte er unsicher, als er den Stiefel wieder an sich nahm. Anselm wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen. Die ganze Szene war einfach… bizarr. Vor wenigen Augenblicken hatten diese drei noch darüber geredet seine vermeintliche Leiche zu fressen, jetzt knieten sie vor ihm.
„Wir haben zu danken, Lord Magier.“ Die Stimme der Frau, die er schon vorher gehört und die seine Schuhe genommen hatte. Nun jedoch lag Angst darin. „Wir hatten nicht erwartet dass ein Hohepriester uns besucht.“
Hohepriester? Anselm zögerte etwas zu erwiedern, während er sich den gestohlenen Stiefel wieder anzog. Immerhin schienen sie ihm nicht feindselig gegenüber, das war immerhin etwas. Besser er ließ sie in dem glauben er sei… was auch immer, bis er hier raus kam. Vielleicht hatte sein Zauber sie irgendwie beeindruckt? Anselm ließ die Hände sinken und gleichzeitig das magische Licht verlöschen. Was jetzt? dachte er. Über ihm fand nach wie vor eine Schlacht statt und das letzte an das er sich erinnern konnte, war ein gigantischer Golem der ihn beinahe getötet hätte. Und Cyrus. Und Macon. Hoffentlich hatten die beiden Überlebt.
Er räusperte sich, setzte ein entwaffnendes Lächeln auf und fragte: „Verzeiht, ich fürchte meine Anwesenheit hier war nicht… beabsichtigt. Ihr könntet mir nicht zuföllig zeigen, wie ich hier raus komme?“
Offenbar hatten die drei Gestalten vor ihm jede Reaktion erwartet, nur nicht das.
„Na… natürlich, Lord. Nur einen Moment…“ Die Diebin drehte sich zu ihren zwei begleitern herum. Ewec, Eleg, ihr beide geht zurück. Ich bringe unseren Gast alleine an die Oberfläche.“
„Und du bist sicher dass du das tun willst?“ Einer ihrer Begleiter, Ewec, wenn Anselm sich nicht täuschte, sah zu ihm zurück. „Du kommst vielleicht nicht zurück. Wir sind alle drei hier raus gewandert.“
„Ja, aber weil ich nachsehen wollte.“ , erwiederte sie. „Ich habe uns dieses Schlamassel eingebrockt ich bringe uns auch wieder raus. Es reicht wenn einer von uns dafür bezahlt.“
„Sie haben uns für weniger getötet…“
Entweder interessierte es sie nicht, dass Anselm sie hören konnte oder sie gingen schlicht davon aus, dass er sich nicht dafür interessierte. Sie haben Angst vor mir, dachte er. Warum? Die Antwort ließ einen bitteren geschmack in seinen Mund aufsteigen. Aus dem gleichen Grund aus dem auch Menschen ihn mieden. Magier. Mit einem Mal wünschte er sich, er hätte keinen Zauber gewirkt. Sie waren nicht feindselig, dachte Anselm. Und jetzt fürchteten sie ihn. Er hätte ihnen gerne versichert, das er ihnen nichts tun würde, aber… würden sie ihn auch hier raus bringen, wenn sie wüssten das er weder ein Priester war? Vielleicht, vielleicht nicht. Aber er konnte sich nicht drauf verlassen. Er befand sich irgendwo unter Xihuitzin. Über ihm erstreckte sich ein hohes, gemauertes Gewölbe. Wasser strömte durch einen breiten Kanal rechts von dem gemauerten Steg auf dem er und die drei Gestalten sich befanden. Dahinter verlor sich alles im Dunkeln. Bei allen Göttern, er war in der Kanalisation gelandet, wie ihm langsam klar wurde.
„Ich weiß, Eleg. Aber das ist meine Verantwortung. Nd dieser ist… irgendwie seltsam.“ Die Frau machte eine scheuchende Bewegung in Richtung ihrer beiden Begleiter. „Geht. Geht schon. Und benutzt kein Licht“
Die zwei zögerten noch einen Moment lang, dann drehten sie sich langsam, einer nach dem anderen um und verschwanden im Dunkeln. Ihre Schritte waren noch eine Weile zu hören, dann blieb nur noch Stille und das stetige Tropfen von Wasser zurück. Ihm wurde erst klar, wie lange er dastand und wartete, als sich neben ihm jemand räusperte. Anselm sah nach unten und sah die verbliebene Fremde. Sie hatte eine Hand ausgestreckt, als wollte sie an seinen Arm ziehen um au sich aufmerksam zu machen, wagte es dann aber doch nicht ihn zu berühren.
„Wenn ihr mir folgen würdet…“
Einen Augenblick lang herrschte nichts als Stille. Alle Farbe schien aus der Welt gewichen. Für Cyrus bewegte sich alles unglaublich langsam. Macons verbleidende goldene Gardisten waren von dem Angriff zu Boden geworfen worden und ihr Anführer auf ein Knie gesunken. Manche waren tot, andre rappelten sich mühsam wieder auf. Vereinzelte Tempelwachen taumelten aus den Seitenstraßen Macon kam wieder auf die Füße, streckte einen der Männer mit beiläufiger Leichtigkeit nieder.
Aber für ihn gab es einen furchtbaren, endlosen Augenblick nur leere. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Anselm war fort. Von einem Augenblick auf den anderen einfach verschwunden. Warum kümmerte ihn das noch, warum war er so dumm gewesen jemand so unerfahrenen mit sich zu nehmen, egal was Macon verlangte… Es war schon wieder passiert. Schon wieder jemand für immer fort und er hatte wieder zugelassen, das ihn das genug kümmerte… das der Verlust schmerzte. Wie hatte er so dumm sein können. Kurz spürte er nur die altbekannte Leere, den kalten Abgrund der Gleichgültigkeit in den er sich zu oft geflüchtet hatte. Diesmal nicht. Cyrus nahm einen tiefen Atemzug, sah auf zu der lebenden Statue, die nun regungslos am Rande des großen Platzes stand. Aber nicht für lange, dachte er. Die Risse, die Anselm der Kreatur beigebracht hatte schienen sich bereits wieder zu schließen, Felsen sich wieder zusammenzufügen, als seien sie sich schließende Wunden.
Aber er hatte noch immer den Sprengsatz, den Macon ihm gegeben hatte. Cyrus erlaubte seinem ganzen Ärger, seiner Wut auf sich selbst ein neues Ziel zu finden. Das Monster vor sich. Er schöpfte Feuer aus dem Abgrund, Hass… kalte, berechnende Wut. Es gab auf einem Schlachtfeld keine Freundschaft. Nur Menschen die immer wieder sterben würden, egal was er tat. Aber er konnte sicherstellen, dass es dieses eine Mal wenigstens nicht umsonst war, nicht wegen der irren befehle eines Offiziers…
Macons Stimme holte Cyrus schließlich zurück in die Wirklichkeit.
„Zu mir!“ Macon schwenkte das Banner über seinen Kopf, als Zeichen für seine verstreuten Männer. Wussten die Geister wie er es geschafft hatte das verdammte Ding in dem ganzen Chaos nicht zu verlieren. Eine Kugel prallte wirkungslos an der Rüstung des Hetmans der goldenen Garde ab, ließ leuchtende Funken aufsteigen, wo die Verzauberungen, die in das Metall gewirkt waren ihnen die Energie nahmen. „Zu mir!“ Der erneute Ausruf brach endgültig die Starre, die sich über alle gelegt zu haben schien und Cyrus stellte überrascht fest, dass er dem Befehl fast wie von selbst folgte. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob er nicht selbst verrückt geworden war. Seine Füße bewegten sich wie von selbst über das aufgerissene Pflaster des Platzes. Und er war nicht der einzige. Gut zwanzig von Macons Gardisten standen noch und machten sich daran, zu ihrem Anführer aufzuschließen. Dieser hatte sich unterdessen daran gemacht, die verstreuten Tempelwachen zurück zu treiben, auch ohne ihre Hilfe. Zwei Männer mit Schwertern aus dunklem Stein stellten sich ihm entgegen und fielen ebenso schnell wie sie gekommen waren. Was sollte das bezwecken?, fragte Cyrus sich, während er über einen Graben setzte, den der letzte Angriff des Felsriesen aufgerissen hatte.
Sie konnten Macon nicht verletzen, selbst wenn der Mann nur halb so gut mit dem Schwert gewesen wäre. Und er war verdammt gut, dachte Cyrus. Die in magisches glühen gehüllte Klinge tanzte zwischen den verbliebenen drei Tempelwachen hin und her, trieb sie zurück, ohne das einer auch nur nahe daran kam, Macon in Bedrängnis zu bringen. Der Mann bewegte sich so grazil, als ob die goldene Rüstung die er trug nichts wöge und selbst die goldenen Flügel auf seinem Rücken schienen ihn kaum zu behindern.
Dann fiel ihm das seltsame Flimmern auf, das die Luft direkt neben Macon zu verzerren schien. Es war keine aufsteigende Hitze, dachte er. Es hatte klare Form und bewegte sich zielstrebig in den Rücken des Mannes… Ohne lange nachzudenken riss er die Pistole hoch. Zeit groß zu zielen blieb ihm keine, er musste hoffen, dass er entweder traf oder Macons Rüstung ihn vor einem Fehlschuss beschützen würden. Und wenn nicht, hätte immerhin irgendjemand für Anselms tot bezahlt. Der Gedanke kam so plötzlich, das er ihn selbst erschreckte. Geister was war los mit ihm. Erst am Morgen hatte er beinahe einen Offizier erschossen. Jetzt… Cyrus verbot sich weiter darüber nachzudenken und feuerte.
Der Knall war im allgemeinen Chaos kaum zu hören und mit einem Mal stürzte eine von dunklen Schuppen bedeckte Gestalt zu Boden, wo zuvor nur ein Schimmern in der Luft zu sehen gewesen war. Das Obsidianmesser, das sie eben noch in der Hand gehalten hatte, fiel zu Boden. Macon drehte sich zu der gefallenen Gestalt um. Dann sah er Cyrus direkt an. Die grünen Augen des Mannes fanden die seinen und einen kurzen Moment lang war dem Wolf, als wüsste Macon genau, was er eben noch gedacht hatte. Nur zu genau…
Dann nickte er ihm langsam zu und ein dünnes Lächeln teilte seine Lippen.
„Danke.“
Cyrus erwiderte das Nicken nur unsicher und überbrückte die letzten Meter zwischen ihm und dem Hetman. Es überraschte ihn, dass er ihn als erstes erreicht hatte. Die restlichen Gardisten waren immer noch damit beschäftigt, vereinzelte Tempelwachen zu bekämpfen oder über die Trümmer des Platzes zu ihnen zu klettern.
„Kommt schon!“ Macon ließ das Banner fliegen und erledigte seinen letzten Gegner mit einem Rückhandschlag. „Zu mir, habe ich gesagt! Wir haben einen Riesen zu töten. Los. Bringt dieses Ding zu fall. Es steht mir im Weg“ Und mit einem Blick zu Cyrus fügte er hinzu: „ Der verdammte Gejarn ist schneller als ihr. Ihr wollt euch von einem Flohteppich demütigen lassen?“
Mit diesen Worten setzte der Hetman über seinen gefallenen Gegner hinweg und lief auf das steinerne Monster zu, das nach wie vor am Rand des Platzes verharrte.
Und plötzlich tut es mir nicht mehr leid, dass ich ihn erschießen wollte, dachte Cyrus, bevor er ihm folgte. Warum? Sollte der Mann doch in seinen Tot laufen. Die Wunden die Anselm dem Golem beigebracht hatte, waren nun fast verschwunden. Wenn überhaupt sollten sie zusehen, dass sie verschwanden, solange sie die Gelegenheit dazu hatten. Er hatte er wenig Lust herauszufinden, ob das Ding wirklich tot war oder sich erholen würde. Und doch war da nach wie vor diese kalte Wut, die ihn vorwärts trieb. Mit wenigen Schritten hatte er Macon überholt und als er zu dem Mann zurück sah, stellte er fest, dass dieser lacht. Lachte… Einen Moment war er sich nicht sicher ob Macon nicht einfach völlig Wahnsinnig war. Und dann wurde es ihm klar. Das war Absicht gewesen… Macon hatte ihn provozieren wollen, hatte ihn angespornt nicht das zu tun was ihm sein Bauchgefühl riet, zu fliehen solange sie die Möglichkeit dazu hatten. Geister, das war der Sinn der Sache gewesen. Cyrus war sich unsicher ob er den Mann deshalb etwas mehr respektieren oder verabscheuen sollte. Aber Macon war nicht einfach nur ein weiterer, rücksichtsloser Befehlshaber der sich ohne einen Plan in die Schlacht warf. Oder vielleicht doch aber es war geplant. Er wusste was er tat und seine Stimme und sein Auftreten waren letztlich sehr viel wichtigere Waffen als die seltsame magische Rüstung und das Schwert das er trug. Ein verdammtes Schauspiel um seine Männer anzuspornen und ihre Moral aufrecht zu erhalten. Und es funktionierte, dachte Cyrus. Nun jetzt war es zu spät sich groß darum Gedanken zu machen. Die Luft in einer der letzten Seitenstraßen, die auf den Platz hinaus führten, flimmerte. Wolken aus Pulverdampf stiegen vor ihnen auf, machten die Umrisse ihrer unsichtbaren Gegner kurz sichtbar. Eine Kugel pfiff durch den Aufschlag von Cyrus Mantle und hinterließ ein breites Loch. Noch ein weiterer Flicken, dachte er. Irgendwie machte ihm der Gedanke die Näharbeit mehr Sorge, als das Blei, das ihn knapp verfehlt hatte.
Einst hatte er die unsichtbaren Elitesoldaten Xihutzins gefürchtet. Vor einer Ewigkeit… die doch erst einige Wochen zurück lag. Die Schatten, die überall sein konnten. Mittlerweile jedoch wusste er, worauf er achten musste und der Schock, den ihr Auftauchen verursachte hatte nachgelassen. Es waren auch nur Menschen. Verzerrt zu Monstern.
Er erwiderte das Feuer aus dem Lauf heraus und Blut spritzte aus der Leere auf, als er einen seiner Gegner traf. Nicht tödlich, aber die Blutspur machte ihn sichtbar und einer von Macons Gardisten erledigte ihn mit einem Kopfschuss. Im Gegensatz zu ihren Gegnern hatten Cyrus und die anderen jedoch nicht den Luxus sich zu verstecken… oder den eines schützenden Zaubers. Ein Mann direkt neben ihm wurde in die Brust getroffen und viel in einer Blutlache zu Boden… dann erzitterte der ganze Platz. Der bisher leblose Steinkoloss bewegte sich wieder, die Kristalle die in seinen Augen und in unregelmäßigen Abständen auf seiner Oberfläche eingelassen waren, glühten auf. Ein Fuß hob sich und fuhr mit der Wucht eines Meteoriteneinschlags zu Boden. Die Fassade eines bereits angeschlagenen Gebäudes kam ins Rutschen und stürzte in einer Lawine aus Ziegeln zu Boden, begrub sowohl Gardisten als auch geisterhafte Schemen unter sich. Dem steinernen Riesen schien es egal zu sein ob er Freund oder Feind tötete. Eine Pranke aus Granitblöcken, jeder so hoch wie Cyrus fuhr direkt neben ihm nieder, ließ Steinsplitter aufspritzen, die sie in seine Wange gruben und blutige Striemen rissen.
„Wir können das Ding unmöglich besiegen, Macon. Wir müssen hier weg oder wir sind alle tot.“, rief einer der verbliebenen Gardisten und unter anderen Umständen, hätte Cyrus ihm sogar recht gegeben. Jetzt jedoch…
Macons Antwort bestand aus Gelächter. „Der Tod ist nur ein Augenblick. Ruhm ist für immer. Folgt mir oder kommt mir nie wieder unter die Augen. Wir sind Hasparer. Wir sind die goldene Garde. Wir sind für Momente wie diesen geboren worden.“
Vielleicht ist er doch einfach Verrückt, dachte Cyrus. Verrückt aber effektiv. Niemand nahm das Angebot an zu fliehen und Cyrus duckte sich unter einem weiteren Hieb des Golems hinweg. Mit einer Hand schlug er mit der Axt nach den steinernen Fingern, die ihn greifen und zerquetschen wollten. Er hatte nicht damit gerechnet, das der Angriff mehr ausrichten würde, als ein paar Funken zu schlagen, doch die Obsidianklinge glitt fast widerstandslos durch den Fels, biss sich hinein und mit einem Mal wurde er von den Füßen und in die Höhe gerissen. Der Boden blieb mit rasender Geschwindigkeit unter ihm zurück und das letzte was er sah, war ein nach wie vor lächelnder Macon.
„Töte es.“
Cyrus schaffte es gerade noch nicht selbst laut loszulachen, während er versuchte, nicht abzurutschen. Seine Hände suchten nach halt auf dem glatten Granit des Handrückens der Kreatur. Die Axt löste sich und er schlug die Waffe in eine Kerbe im Fels. Wie sollte er dieses Ding bitte töten? Er könnte froh sein irgendwie Lebend wieder hier runter zu kommen. Der Steinriese überragte die meisten Gebäude. Er hatte nach wie vor die Granate aber… wie sollte das mehr ausrichten als Anselm?
Unter ihm hatte Macon mittlerweile die Füße der Kreatur erreicht und begann ohne zu zögern nach oben zu klettern, während die wenigen Männer, die ihm geblieben waren seinem Beispiel folgten. Nun wenigstens einer von uns glaubt, dass wir das Ding wirklich zu Fall bringen können, dachte Cyrus. Immerhin schien der Golem nicht zu bemerken das er auf seinem Arm balancierte oder er hätte nur noch die Wahl zwischen einem Sturz in den Tod oder zertrümmert zu werden. Nicht dass meine Optionen gerade deutlich besser sind- Diesmal lachte der Wolf tatsächlich über seine eigene Situation. Was konnte er hier oben schon tun? Nun… was hatte er am Boden tun können? Das Ding bestand aus massivem Stein und sie hatten keinen Magier. Weil es Anselm getötet hatte. Weil er nicht aufgepasst hatte. Weil der Verlust ihn mehr schmerzte als er recht dazu hatte. Er hatte den Mann kaum einen Tag gekannt, es war nicht fair. Nichts hier war es. Cyrus klammerte sich mit einer Hand in einer Kante im lebendigen Fels der Statue, als das Monster sich wieder in Bewegung setzte. Ein Fuß zerschmetterte zwei von Macons Gardisten. Cyrus tastete nach der Granate, die Macon ihm gegeben hatte. Sie war noch da. Nun wenn er schon hier festsaß, dachte er grimmig, könnte er wenigstens versuchen etwas auszurichten. Er löste die Granate von seinem Gürtel und wartete, bis der Golem sich wieder aufgerichtet hatte, dann rannte er los. Vielleicht brachte es etwas wenn er den Kopf dieses Dings zerstörte? Der Schlange den Kopf abschlagen. Nur das die hier leider nicht wirklich lebendig war. Zum Abgrund damit, er wäre so oder so tot. Er schaffte es fast bis zur Schulter des Kolosses, dann geriet die Welt erneut ins Wanken, als das Monster sich erneut in Bewegung setzte… mit dem Arm nach unten langte. Was eben noch ein leichter Anstieg gewesen war, wurde zu einer Klippe. Cyrus Füße drohten den Halt zu verlieren, zu schnell, als das er nach einem Halt greifen konnte. Er sah sich fallen, sah den aufgerissenen Platz plötzlich auf sich zurasen… dann riss ihn etwas wieder nach oben, eine Hand schloss sich um seinen Arm und packte mit stählernem Griff zu. Einen Moment glaubte Cyrus er wäre bereits tot und einer der Götter der Menschen wäre aufgetaucht um ihn in die goldenen Hallen zu bringen, ein grimmiger Engel aus strahlendem Gold, mit leuchtenden Flügeln. Macon, der auf der Schulter des Riesen balancierte und ihn mit einem Ruck nach oben zog. In Sicherheit. Oder zumindest vorerst.
Ohne ein Wort nahm er Cyrus die Granate ab, das Gesicht eine unleserliche Maske, selbst ohne den Helm mit der Totenmaske. Ein Streich mit der Klinge seines Schwerts entzündete die Lunte. Einen Moment war Cyrus überzeugt, er würde sie beide umbringen, wie er einfach wartete, während die Sekunden vergingen und der Docht immer kürzer brannte. Dann warf er. Die Granate segelte zielsicher direkt in das Auge der Kreatur, blieb zwischen einigen der glühenden Kristalle hängen und zog damit scheinbar endlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der Kopf des Golems drehte sich, starrte sowohl Macon als auch Cyrus einen Augenblick lang aus Ausdruckslos an… Dann detonierte der Sprengsatz. Trümmer regneten um sie herum herab, einige Granitblöcke lösten sich aus dem, was das Gesicht der Kreatur darstellte und fielen zu Boden. Die Statue begann zu schwanken. So unglaublich es schien… es hatte funktioniert, dachte Cyrus. Das Ding fiel. Und sie mit ihm, wenn sie nicht sofort hier weg kamen.
„Was machen wir jetzt?“ Er sah sich hilfesuchend zu Macon um, der nur, ein breites Grinsen im Gesicht dastand, die Arme überkreuzt.
„Wir sterben.“ , kam die simple Antwort.
Götter, ich hätte ihn erschießen sollen, dachte der Wolf.
„Das ist euer Plan? Wir sterben? Ähm, ja ich wäre wirklich froh wenn wir das noch ein paar Jahre verschieben könnten…“ Die Statue neigte sich weiter zur Seite, in eines der umstehenden Gebäude hinein. Staub und Geröll stoben auf als das Bauwerk begann unter der Last zusammenzubrechen.
„Ihr habt wirklich keinen Sinn für Ruhm.“ , bemerkte Macon, bevor er an den Rand der Riesenschulter trat und nach unten sah. „Kommt her und haltet euch gut fest.“
„Bitte was?“
„Ich sagte festhalten.“ , erwiderte Macon bevor er ohne ein weiteres Wort einen Arm um Cyrus legte. „Das wird in jedem Fall weh tun.“
„Oh nein. Nein. Nein. Nein.“ Mit einem Mal wurde ihm klar, was genau Macon vorhatte. „Vielleicht ist es euch entgangen aber ich trage zufällig keine Rüstung mit einem magischen Schild und ich weiß die Dinger halten Kugeln auf aber ich will nicht rausfinden ob das auch….“
„Deshalb sage ich ja, festhalten!“ Ohne Cyrus ausreden zu lassen, riss Macon den Wolf mit sich… und sprang. Der Fall schien eine Ewigkeit zu dauern. Cyrus Magen drehte sich um, als der Platz nun wirklich auf ihn zuzurasen schien und dann… ein gewaltiger Schlag,, als Macons Füße den Boden erreichten. Magische Entladungen blitzten um sie herum auf, als der Schild den Boden selbst unter ihnen verdrängte um den Fall abzufedern. Pflastersteine wurden unter dem Druck der Magie zermalmt, mehre der eingelassenen Juwelen auf Macons Rüstung flackerten auf, erst hell, dann immer dunkler werdend. Ein, zwei zersprangen einfach als die ihnen inne wohnende Magie aufgebraucht war. Macon sank auf ein Knie, ließ Cyrus nun endgültig los.
Schweißperlen standen dem Mann auf der Stirn und mit einem Mal war Cyrus überzeugt, das auch er nicht sicher gewesen war, ob sie das hier überleben würden. Und das er Angst gehabt hatte…
Der Moment verging jedoch so schnell wie er gekommen war, als Macon sich wieder aufrichtete und das Banner aufhob, das er irgendwann zurück gelassen hatte. Mit einem Ruck rammte er es in das was von dem Kopflosen Golem geblieben war. Ein Trümmerhaufen, der langsam in sich zusammensackte, während die Kristalle in seiner Oberfläche heller glühten.
„Nächstes Mal warnt mich bitte vor“ , brachte Cyrus heraus. Seine Beine zitterten und sein Magen rebellierte immer noch. Einen Augenblick war er zufrieden damit einfach vornübergebeugt stehen zu bleiben und gegen den Drang sich zu übergeben anzukämpfen. „Vielleicht nehme ich doch lieber den Sturz in Kauf als… das hier nochmal mit zu machen.“
Macons Antwort bestand aus Lachen, allerdings klang es etwas weniger selbstsicher als zuvor. „Heute Abend geht der Wein auf mich.“ , erwiderte er, bevor er Cyrus auf die Schulter klopfte. Dieser wäre unter dem überraschend kräftigen Schlag beinahe doch noch zusammengeklappt.
„Ich hasse euch.“
„Die meisten meiner Männer tun das. Sie sollen mich nicht mögen, sie sollen nur an meiner Seite kämpfen und nicht weglaufen. Also, kein Wein?“
Cyrus lächelte trotz allem. „Oh nein, darauf bestehe ich.“ Er schaffte ein paar zögerliche Schritte fort von dem gefallenen Riesen. Er war noch am Leben… das war immerhin etwas. Abgesehen von ihnen stand nur noch eine Handvoll von Macons Männern auf dem Platz. Von der Tempelwache der Stadt war nichts mehr zu sehen und auch kein verräterisches Flirren in der Luft, das auf einen Krieger der Schattengarde hingewiesen hätte. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit war es ruhig geworden. Lediglich in der Ferne konnte er ab und an noch Schüsse und das Donnern einer Kanone hören. Cyrus setzte sich auf einen gebrochenen Steinblock. Das Blut rauschte ihm nach wie vor in den Ohren und seine Beine fühlten sich dünn und zittrig an. Macon würde mehr als eine Flasche Wein brauchen um das hier wieder gut zu machen, entschied er. Einen Moment erlaubte er sich, lediglich das verstreute Muster aus Kieseln und Staub zu seinen Füßen zu betrachten und nicht darüber nachzudenken, das dieser Tag noch lange nicht zu Ende war. Die Schlacht ging weiter, auch wenn es in diesem Abschnitt der Stadt ruhig geworden zu sein schien. Und dann sah er etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Einer der kleinen Kiesel zu seinen Füßen bewegte sich. Zuerst schenkte er dem keine Beachtung, doch der Stein rollte nicht einfach nur ein Stück zur Seite, er wurde schneller, rollte eine Steigung hinauf und in den Trümmerhaufen hinein, der einst der Golem gewesen war. Ein zweiter folgte, ein dritter, größere Brocken lösten sich, wurde scheinbar wie von Geisterhand durch die Luft getragen. Er stand auf, gerade noch rechtzeitig um mitzubekommen wie der massive Block ein Stück über den Boden schlitterte, kurz anhielt… und dann mit unvorstellbarer Wucht zurück gerissen wurde.
„Götter…“ Macon machte einen Schritt rückwärts, weg von dem Trümmerfeld, als weitere Trümmer sich in die Luft erhoben… und de totgeglaubte Kreatur sich erneut rührte.
Die Felsen fügten sich wieder zusammen wie ein seltsames Puzzle, Bruchstellen verschmolzen innerhalb weniger Herzschläge miteinander. Und dann erhob sich ein Arm aus den Felsbrocken, griff zum Himmel und krachte direkt dort nieder, wo Cyrus zuvor noch gesessen hatte.
Wenigstens konnte es nicht mehr schlimmer werden, dachte er.
„Wie kann es noch leben?“
„Ich bezweifle, dass es wirklich lebendig ist.“ , erwiderte Cyrus beißend. „Wie wäre es wenn wir es mit meiner Methode versuchen und weg laufen bevor es aufsteht und uns umbringt?“
Einen Moment antwortete Macon nicht, sondern sah nur zu, wie mehr und mehr Trümmer sich wieder zusammensetzten und den Steinriesen wiedererweckten. Cyrus war versucht, ihn einfach abzuschreiben und sich davon zu machen. Sollte der Mann doch selbst zusehen, wie er hier raus kam. Dann jedoch rief er nur: „Macon! Wir müssen hier weg.“
Das schien den Menschen endlich aus seiner Starre zu lösen. „Wir haben keine Granaten mehr, oder?“ , murmelte er, mehr zu sich selbst, als das er Cyrus direkt ansprach. „Ich schätze wir sollten neue finden.“
Cyrus beschloss, das als ja aufzufassen und gab Macon ein kurzes Zeichen ihm zu folgen, bevor er losrannte. Unter ihren Füßen erzitterte der Boden, als sich der Steinriese erneut erhob und sich träge daran machte, ihnen zu folgen.
Flammen stoben auf und Anselm trat überrascht einen Schritt zurück. Nur mit Mühe unterdrückte er einen Aufschrei, als seine seltsame Führerin eine Fackel in Brandt setzte. Das seltsame Wesen atmete Feuer. Die Flammen stoben aus ihren Nüstern unter der Maske und setzten ein ölgetränktes Tuch in Flammen, das sie um einen Ast wickelte, den sie irgendwo aus einem der Kanäle gefischt hatte. Einen Augenblick lang war er überzeugt sie hätte Magie gewirkt, doch er spürte nichts. Kein Nachglühen eines Zaubers, nicht das vertraute Kribbeln in den Gliedmaßen wie kurz vor einem Gewitter. Nur die Hitze, die ihm ins Gesicht schlug, als sie sich zu ihm umdrehte und ihn einen Moment seltsam ansah. Falls sie etwas sagen wollte, tat sie es jedenfalls nicht, sondern wollte scheinbar nur sicher gehen, dass er noch da war. Und er war zu unsicher, um seinerseits das Schweigen zu brechen. Wofür auch immer diese Leute ihn hielten, er war sich nicht sicher, ob sie ihm auch helfen würden, wieder hier raus zu kommen, wenn er diese Täuschung aufklärte. Wie verhielt sich ein Hohepriester? Sie hatten klar Angst vor ihm gehabt. Doch die Angst seiner noch namenlosen Begleiterin schien nun mehr Neugier zu weichen. Vermutlich konnte er nicht darauf vertrauen, dieses Spiel sehr lange zu spielen. Anselm ließ ein kleines magisches Licht aufsteigen, das über seiner Handfläche verharrte. Er konnte sie immerhin daran erinnern, das Priester oder nicht, er ein Magier war. Es behagte ihm nicht, sich auf die Furcht dieser Leute zu verlassen aber… er hatte nicht vor ihnen wirklich etwas zu tun, sagte er sich. Nicht, dass es das besser machte, dachte Anselm. Er wusste wozu Furcht einen Menschen treiben konnte Eine ferne Erinnerung von Schnee, der durch die Luft gewirbelt wurde und Schreien in einem dunklen Burghof… Er verdrängte den Gedanken so gut er konnte und fröstelte trotzdem, nicht bloß weil es hier unter der Erde überraschend kühl war. Er verbarg die Arme in den weiten Ärmeln seines Umhangs… oder dem was davon übrig war.
Goldene Augen mit schrägstehenden Pupillen, die ihn entfernt an Cyrus erinnerten folgten der Bewegung aufmerksam. Das magische Licht, das nun ein Handbreit über dem Stoff seines Ärmels schwebte, spiegelte sich darin. Intelligent, wach und definitiv nicht mehr verängstigt. Dann nickte die kleine Gestalt nur und sie gingen langsam weiter.
Anselm war nun endgültig überzeugt in der Kanalisation der Stadt gelandet zu sein. Der Brunnen auf dem Platz auf dem sie der Golem angegriffen hatte, musste eine Verbindung hierher gehabt haben. Der Hohlraum hatte ihm vermutlich das Leben gerettet und verhindert, dass er unter den Trümmern begraben wurde. Er konnte von Glück reden, sich bei seinem Absturz nichts gebrochen zu haben. Und der Lärm hatte dann einige… seltsame Besucher auf ihn aufmerksam gemacht.
Die Kanäle waren genauso monumental angelegt, wie die Stadt darüber. Der Tunnel in den er sich wiedergefunden hatte, war noch einer der kleineren gewesen, wie er bald feststellen musste. Es waren nicht bloß Wasserleitungen, manche schienen ihm gebaut um einen ganzen Fluss umzuleiten, mit Kanälen, die breit genug waren, dass er die andere Seite nicht sehen konnte und die steinernen Stege, die an ihnen entlang führten seltsam schmal wirkten, obwohl er bequem gehen konnte. Das Geräusch von fließendem und tropfendem Wasser war allgegenwärtig. Moos wucherte zwischen den Fugen im Stein der Kanalmauern. Wo Holz oder andere Trümmer angespült und einen Nährboden gebildet hatten, sprossen weißliche, kleine Pilze. Ratten oder ähnliches Ungeziefer hingegen hatte er bisher nicht bemerkt. Seltsam. Das hier unten sollte ein Paradies für die Biester sein, überlegte er.
Manche der Kanäle, die sie passierten, lagen trocken, und wann immer er einen Stein oder ähnliches mit dem Fuß in die Tiefe stieß dauerte es unangenehm lange, bis er einen Aufprall hörte.
Ihr Weg führte sie durch mehrere Torbögen, die jeweils zu weiteren Tunnel führten, jedes Gewölbe groß genug, das man ein kleines Schiff darin hätte unterbringen können. Schließlich jedoch wurde der Pfad vor ihnen abrupt abgeschnitten. Sie passierten einen letzten Bogen und dann… endete der Steg einfach. Vor ihnen öffnete sich eine weite Kammer, an deren Grund klares Wasser strömte. Der Raum war kreisrund, mit einem gewölbten Dach, durch das Licht in die Tiefe fiel. Ein Gitter, am höchsten Punkt des Gewölbes war seine Quelle. Frische Luft schlug ihm entgegen und Anselm nach einen tiefen Atemzug, während er sich umsah… und etwas von der Kante zurücktrat. Es gab insgesamt vier Eingänge, zusammen mit dem durch den sie gekommen waren. Aber nur zwei davon, die links und rechts von ihm, waren durch eine große Brücke verbunden. Zwei riesige Statuen trugen das Konstrukt zwischen stilisierten, steinernen Fingern. Vier weitere Stützten das Kuppeldach über ihnen. Sackgasse, dachte er, während er sich zu seiner Begleiterin umdrehte. Diese schien nicht wirklich beunruhigt über die Situation, sondern sah ihn nur erwartungsvoll an. Als ob er sie irgendwie hier rüber bringen könnte. Anselm riskierte einen weiteren Blick in die Tiefe und spürte wie das Wesen sich in seinen Rücken bewegte. Einen Moment war er überzeugt, einen Stoß in den Rücken zu bekommen, einer, der ihn von der Kante und hinab in die schwarzen Fluten schicken würde. Doch nichts geschah. Als er sich wieder zu ihr umdrehte, stand sie nur immer noch da, scheinbar auf etwas wartend. Auf ihn, wie es ihm vorkam. Also was jetzt? Er wagte es nach wie vor nicht, einfach etwas zu sagen.
Jetzt, wo es wieder eine Verbindung nach draußen gab, konnte er auch wieder den Lärm der Schlacht hören, die nach wie vor über ihren Köpfen ausgetragen wurde. Das Donnern von Kanonen, die hier unten wie ein fernes Gewitter klangen, Schüsse und das grollen, wenn sich irgendwo eine der lebenden Statuen bewegte, die der Stadt als Kriegsmaschinen dienten.
Schließlich schien seine Begleiterin die Geduld zu verlieren und stieß ein leises Seufzten aus. Ihre Hand verschwand einen Moment in der Tasche ihres zerlumpten Kleids, dann förderte sie ein kleines Amulett zutage. Es bestand aus dunklem, fast schwarzen Stein mit blauen Adern, die im schummrigen Licht zu glühen schienen. Ohne etwas zu sagen, sie hatten sich wohl beide damit abgefunden, sich einfach anzuschweigen, Sie trat an ihm vorbei und hielt den Gegenstand hoch. Das innere Licht darin, schien einen Moment heller zu strahlen. Zuerst geschah nichts. Dann spürte Anselm, wie der Boden unter seinen Füßen erzitterte. Eine der Statuen an der Brücke hob den Kopf unendlich langsam, während Staub on hier herab rieselte und in den Fluten zu ihren Füßen verschwand. Dann erwachte auch die zweite zum Leben und mit ihnen die ganze Brücke. Die Luft wurde schwer von Magie, fühlte sich mit einem mal wie statisch aufgeladen an. Anselms Füße begannen zu kribbeln während die zwei steinernen Kolosse begannen, die Brücke zu drehen, als würde sie nichts wiegen. Uralte Scharniere knirschten, als sich das Konstrukt in Bewegung setzte, herumschwang und nahtlos mit dem Vorsprung an den sie standen abschloss. Dann war es auch schon wieder vorbei. Die Statuen erstarrten in der Bewegung und die Magie verschwand. Der Weg war frei.
Seine Begleiterin sah sich noch einmal kurz zu ihm um, während sie das Amulett umhängte und machte sich dann auf den Weg über die Brücke. Er zögerte kurz, dann folgte er ihr. Anselm musste an den Golem zurück denken, der ihn oben in der Stadt attackiert hatte. Etwas an diesem Wesen war ihm völlig falsch vorgekommen. Zauber die Stein belebten… keine Magie mit der sich ein Angehöriger des Ordens jemals beschäftigen würde, dachte er. Und sicher nicht um etwas so gewöhnliches wie eine Brücke zu bewegen, wo eine Fallbrücke das gleiche gebracht hätte.
Nicht weil es nicht möglich wäre, aber ein solcher Zauber müsste kontinuierlich erneuert und aufrechterhalten werden. Es würde eine ganze Reihe Magier brauchen um auch nur eines dieser Fels-Konstrukte zu erhalten, es war schlicht effizienter diese Kraft direkt in einen offensiven Zauber zu verenden. Etwas wie das hier… Es würde selbst den vorsichtigsten und mächtigsten Magier innerhalb weniger Tage ausbrennen. Er hatte es selbst gespürt, als er versucht hatte das Steinmonster aufzuhalten. Wie die Magie nach seiner Lebensenergie griff und sie unwiderruflich verschlang. Er hatte noch nicht in den Spiegel sehen können, aber… Anselm ließ eine Haarsträhne durch seine Finger gleiten. Ergraut an den Spitzen. Und das war nur der Anfang wie er wusste. Magie verzehrte ihre Anwender. Immer. Die älteren Magier des Ordens waren oft vom Magiebrand so zerfressen, das sie kaum mehr eigenständig gehen konnten, ihre Körper verkrümmt und vor der Zeit gealtert. Er hatte noch Zeit, sagte er sich. Jahrzehnte vielleicht. Und wenn er Glück hätte, würde er nie mehr gezwungen sein so viel Macht in einen einzelnen Zauber zu legen. Nur glauben konnte er es nicht, dachte Anselm. Bis jetzt war er der Maschinerie des Ordens entkommen, die Magier zu bloßen Ressourcen machte. Hatte es vermieden zu einer der ausgebrannten gestalten zu werden, die über die Schlachtfelder des Imperiums irrten.
Und doch schienen die Einwohner der Pyramidenstadt über ganze Armeen steinerner Konstrukte zu verfügen. Jede Menge Wächter… aber zumindest bisher war ihm nicht ein einziger anderer Zauberer in Xiutzhin aufgefallen. Es konnte natürlich sein, dass die Einwohner ihre eigenen Magier aus der Schlacht heraus hielten. aber nicht einmal als die Mauern gefallen waren, hatte sich ihnen jemand entgegengestellt. Als würden sie lieber riskieren, die Stadt zu verlieren, als ihre Magier zu opfern. Und noch etwas war ihm seltsam vorgekommen, etwas so grundlegend falsches, das er einen Moment wie angewurzelt stehen geblieben war. Es waren nicht einfach nur Stein und Magie, das das Geschöpf auf dem Platz belebt hatte. Es hatte sich nicht nach einem bloßen Zauber angefühlt… sondern wie ein lebendiges Wesen. Etwas Uraltes und wütendes das hinter den Kristallenen Augen der Statue hauste und das die Einwohner diese Stadt ihnen entgegengeworfen hatten. Etwas, das ihm auf seltsame Art vertraut vorkam. Weil er es schon einmal erlebt hatte… Anselm schüttelte den Gedanken ab.
Und wie hatte das Wesen die Zauber kontrollieren können?
„Dieses Amulett.“ , Er sprach bevor er über die möglichen Konsequenzen nachdenken konnte. Seine Neugier hatte endgültig gesiegt. Und außerdem bezweifle ich, dass sie noch lange glaubt, ich wäre Teil dieser Stadt, sagte er sich. „Es gibt euch Macht über die Zauber hier unten?“
„Nein.“ Sie drehte sich einen Moment zu ihm um. Blinzelte. Goldene Augen, die ihn einen Moment lang musterten als wäre sie sich nicht sicher ob die Frage ein Trick war. „Es ist eine Kette. Und ihr wisst auch, wer sie uns angelegt hat. Aber ich bin sicher ihr hattet wichtigeres zu tun.“
Anselm nickte nur. Er konnte schlecht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie redete.
„Dein Name ist Ganelle, oder?“, fragte er schließlich, um die Stille zu durchbrechen. Bisher hatte es ihn nicht gestört, aber einmal gebrochen, kam sie ihm nun drückend vor. Nicht zuletzt, dank der Bitterkeit, die in ihren letzten Worten gelegen hatte. Sie hatten die Brückenhalle passiert und gingen nun durch einen langgezogenen Korridor, der nicht länger an einem Kanal entlangführte. Der Boden begann anzusteigen und das Geräusch von tropfendem Wasser blieb langsam hinter ihnen zurück. Das hier begann mehr und mehr wie ein Keller und nicht mehr wie eine Kanalisation auszusehen, dachte Anselm. Vielleicht bedeutete das, dass sie bald am Ziel waren.
„Was für eine Ehre das ihr euch an meinen Namen erinnert, Lord Magier.“ Die Worte klangen hohl, eine Phrase, die klar machte, dass sie es keineswegs so meinte. Und wenn er ihre Mimik richtig las… Abscheu.
Ihr Gesicht erinnerte nur entfernt an das eines Menschen. Eine kurze Schnauze mit spitzen Zähnen, die goldenen Augen. Rotes Fell und Haare in dem gleichen Farbton, die halb unter einer Kapuze verschwanden. Zusammen mit der Maske aus weiß getünchtem Holz machte es das nicht unbedingt leichter zu deuten, was sie denken oder fühlen mochte, auch wenn die dünnen, flexiblen Schuppen, die die sichtbare Hälfte ihres Gesichts bedeckten durchaus Ausdrucksstark waren, nicht starr wie er bei einem Reptil erwartet hätte. Zuerst hatte er an ein Krokodil denken müssen, aber das kam dem nicht nahe, dachte er. Zumal ein Krokodil kein Feuer speien konnte. Der schwere Schwanz, den das Wesen hinter sich hertrug war flexibel, wie er gesehen hatte. Also was waren sie? Keine Gejarn, da war er sich ziemlich sicher, es sei denn das Kaiserreich hätte es geschafft all die Jahre einen ganzen Clan zu übersehen.
Die zusammengewürfelten, viel zu großen Kleider machte es schwer, etwas mit Sicherheit zu sagen, aber das Wesen dem er folgte schien nicht bloß von seiner Stimme her weiblich. Sie trug einen Gürtel, an den sich ein seltsames Sammelsurium von Gegenständen befand, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Ein Ölfläschchen, das sie benutzt hatte um die Fackel zu bauen, ein Messer mit einer Klinge aus Obsidian… und ein halbes Dutzend Stücke Metallschrott. Verbogene Messer, Löffel, das zerbrochene Schloss einer Flinte und eine glänzende Silbermünze mit dem Doppelwappen von Adler und Löwe, die in das Leder eingearbeitet worden war. Offenbar hatte diese Wesen ihr Heerlager besucht und einiges daraus geplündert. Oder es einem Toten abgenommen. Er wusste nicht, welche Möglichkeit er beunruhigender fand. Das jemand unbemerkt für Monate in ihrem Lager herumgeschlichen… und scheinbar Müll gestohlen hatte. Oder dass sie die Toten plünderten, wie er selbst erlebt hatte.
Ihr Weg endete schließlich vor einer kurzen Treppe, an deren Ende sich eine Tür aus angelaufenem Metall befand. Mehrere, mit Schlössern gesicherte Riegel hielten die Pforte verschlossen und von den alten, mit Rost gefüllten Kratzern im Boden zu schließen, war es bereits eine ganze Weile her, das sie das letzte mal geöffnet worden war.
„Ich bin Anselm.“ , sagte er schließlich, hauptsächlich um erneut das Schweigen zu brechen.
„Dann könnt ihr von Glück reden, Lord Anselm.“ , unterbrach sie ihn. „ Wir sind fast da. Haltet das bitte mal.“ Und mit diesen Worten, warf sie ihm die Fackel zu. Anselm hatte gerade noch Zeit sie aufzufangen, ohne darüber nachzudenken, wie. Funken stoben auf und heiße Asche rieselte auf seine Finger herab. Mit einem Fluch wechselte er die Fackel in die andere Hand um die Glut abzuschütteln.
Ganelle machte sich derweil an der Tür zu schaffen. Sie löste einen ganzen Bund Schlüssel von ihrem Gürtel und sperrte ein Schloss nach dem anderen auf. An manchen schien sie selber nicht zu wissen, welcher der Schlüssel dazu passte und musste mehrere ausprobieren, bis sie den richtigen fand. Anselm konnte nur dastehen und mit der Fackel licht spenden. Der Lichtzauber den er zuvor benutzt hatte war erloschen, als er sich verbrannt hatte. Minuten schienen zu vergehen, obwohl es tatsächlich nur wenige Augenblicke waren, dann endlich hatte Ganelle den letzten Riegel entfernt. Bevor sie die Tür jedoch aufzog, hielt sie noch einmal inne.
„Ihr seid kein Hohepriester.“ Es war keine Frage, sondern eine simple Feststellung. Als er nicht antwortete, lachte sie lediglich, ein seltsam heller Klang, nicht wüten nur… amüsiert, dachte Anselm. Freundlich.
„Nein.“ , gab er schließlich zu. „Tut mir wirklich leid, aber ich dachte nicht, dass du mich hier raus bringst wenn ich offen sage, dass ich zur Armee des Kaisers gehöre. Dein Begleiter von vorhin hatte schon Recht. Ich gehöre zum Orden. Ich bin ein Magier, nur keiner von euren.“
„Oh glaub mir das ist mir durchaus aufgefallene. Einer von unseren.“ Sie lachte erneut und es schien genau so viel Erleichterung wie Humor in ihrer Stimme zu liegen.“ Einer von unseren, wie du es nennst hätte mich längst getötet oder zu Recht gewiesen. Statt sich zu einem Leuchtenhalter zu machen und sich dann verbrennen zu lassen. Ich glaubs nicht. Ein schlechter Lügner, selbst wenn er die Klappe hält.“
„Ich bin Magier, kein Schauspieler.“, erwiederte Anselm. Er spürte selber wie die Anspannung etwas von ihm abfiel. Seine Sorgen waren wohl unbegründet. Wenn überhaupt schien sie froh es nicht mit einem ihrer Priester zu tun zu haben. Immerhin, die schien sie weniger zu mögen, als selbst die Armee, die gerade die Stadt über ihren Köpfen zerlegte. „Ich denke, ich finde den Weg von hier aus?“
Sie schüttelte den Kopf. „Besser nicht. Der Ausgang hier…“ Sie klopfte auf das Metall der Tür. „Führt direkt hoch zur inneren Pyramide. Nein, wenn du hier raus willst, fürchte ich müssen wir zurück. Es sei denn du möchtest wirklich herausfinden, warum ich unsere Hohepriester nicht mag. Die sitzen vermutlich gerade irgendwo direkt über uns.“
„Ich glaube ich verzichte. Aber wenn du sie nicht magst, warum hast du die Schlüssel? Ich meine, ich gebe doch niemanden dem ich nicht vertraue Zugang zu einer Geheimtür die direkt zu mir führt?“
„Niemand vertraut Kobolden.“ , erwiderte sie. „Aber uns misstraut auch niemand, Anselm. Es gibt keinen Grund aus dem wir nicht überall hin sollten. Niemand beachtet uns. Wir sind für die meisten so sehr Teil dieser Stadt wie der Stein aus dem sie besteht. Hätten wir die Schlüssel zur Stadt nicht bereits, würden wir sie uns eben nehmen.“
„Ich schätze von so etwas wie Diebstahl hast du noch nie gehört?“
„Doch, wenn mir jemand etwas weg nehmen will.“ Sie lächelte erneut, diesmal jedoch mit deutlich mehr sichtbaren Zähnen. Anselm musste daran zurück denken, wie einer ihrer Begleiter vorgeschlagen hatte ihn zu fressen. „Keine gute Idee. Soll heißen, du schuldest mir ein paar Schuhe.“
Anselm schüttelte den Kopf. „Nur um das klar zu stellen, das waren meine Schuhe.“
„Nein, nicht mehr. Ich hatte sie immerhin genommen.“ Die Entrüstung in ihrer Stimme schien echt genug, das Anselm sich fragte ob die Koboldin wirklich nicht verstand wieso etwas das sie sich nahm nicht sofort ihr gehörte… oder ob sie sich über ihn lustig machte.
„Von mir aus.“ , seufzte er schließlich. “Du kannst sie haben, sobald ich hier raus bin, klingt das wie ein Vorschlag?“ Wenn er es hier raus schaffte, wäre Barfuß zurück zum Lager zu gelangen ohnehin das Geringste seiner Probleme.
Der Vorschlag entlockte ihr ein breites Grinsen. „Einverstanden. Worauf warten wir dann noch.“ Der Kobold drehte sich schwungvoll um und machte Anstalten an Anselm vorbei und den Gang den sie gekommen waren, zurück zu gehen. Der Magier machte sich gerade daran ihr zu folgen, als er etwas hörte. Ein entferntes, lang gezogenes Heulen. Und nicht das eines Tieres… Er erstarrte in der Bewegung und sah zurück zur Tür. Zögerte.
„Worauf wartest du? Ich sagte bereits das ist der falsche Ausgang, wenn du hier lebend raus willst.“
Anselm rang einen Moment mit sich. Vielleicht war es nichts. Vielleicht war das Geräusch von oben aus der Stadt gekommen.
„Ganelle… was genau ist hinter dieser Tür?“
Sie schien einen Moment so zu tun, als hätte sie ihn nicht gehört, blieb jedoch stehen, bevor sie das Ende des Ganges erreichte.“
„Ganelle?“
„Du solltest noch was drauf legen.“ , erwiderte sie düster.
„Das ist kein Spiel, was liegt dahinter?“
Sie seufzte hörbar. „Die Zellen. Die Hohepriester haben immer gerne frisches Blut für ihre Rituale.“
„Und die Leute dafür entführen sie aus unserem Lager.“ Anselm zögerte, als er sich zu der Tür umdrehte. Er dachte an die Geschichten, die er gehört hatte. Wie viele Leute hatten die Hohepriester im Laufe dieses Krieges schon entführt und hier eingekerkert? Nicht als bloße Gefangenen, nicht als gefährliche Feinde… sondern mit dem klaren Ziel sie zu töten? Wenn noch welche am Leben waren…
Etwas zog an seinem Arm. Er hatte nicht gehört, wie Ganelle zurückgekommen war. Die Hand auf seinem Arm fühlte sich warm an, beinahe heiß, nicht kalt wie er erwartet hätte. „Können wir bitte einfach gehen? Du bist alleine, du kannst hier niemandem helfen.“
Wie gerne er sich selbst davon überzeugt hätte. Es wäre einfach. Er könnte später wiederkommen, sagte er sich, er könnte die kaiserliche Armee informieren, er könnte… vielleicht nur noch zu leeren Zellen und verstümmelten Leichen zurückkehren. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht konnte er niemanden befreien. Selbst mit Magie konnte er nicht wer wusste, wie viele Zellen öffnen. Aber wenn es überlebende gab musste er das wenigsten wissen. Ihnen sagen, dass Hilfe kommen würde, statt sie alleine in der Dunkelheit zu lassen. Er wusste, was furcht mit einem Verstand anstellen konnte. Und noch mehr, wenn es keinen Ausweg gab. Anselm schüttelte die Hand ab.
„Ich zwinge dich sicher nicht mit zu kommen.“ , sagte er schließlich. „Du hilfst mir vielleicht, aber du gehörst irgendwie zu dieser Stadt auch wenn ich nicht ganz verstehe wie. Ich finde sicher auch alleine einen Weg hier raus. Aber ich kann nicht einfach gehen.“
„Was hast du vor?“
Anselm holte tief Luft, bevor er eine Hand auf die eiserne Tür legte und sie aufstieß. „Etwas, das ein gewisser Wolf vermutlich als eine unfassbar dämliche Idee bezeichnen würde.“
Eine Weile war er sich sicher, dass sie ihm nicht folgen würde. Die Gestalt der Koboldin blieb einfach in der Tür stehen, während er sich auf den Weg den Gang hinab machte. Die andere Seite der Tür unterschied sich nicht sehr von dem Bereich davor. Ein lang gezogener Gang, der in der Entfernung langsam breiter zu werden schien. Die Wände bestanden aus dicht gefügtem Stein. Aber es gab Licht, wie er feststellte. In regelmäßigen Abständen brannten Feuer in Kohlenschalen. Nicht genug um die Dunkelheit ganz zu vertreiben, aber immerhin konnte er sich orientieren. Wo der Gang breiter wurde, zogen sich Gitter an einer Wand entlang, die Zellen, die er suchte. Die erste, die er passierte war leer, bis auf eine simple Steinpritsche und etwas Stroh, das faulig Roch. Weiße Kratzspuren waren an einer Stelle in den Granit geritzt worden, vielleicht mit einem Steinsplitter oder einem ähnlichen primitiven Werkzeug. Striche. Immer fünf in einer Reihe. Sie begannen etwa auf der Hälfte einer der Wände und zogen sich dann in unordentlichen Reihen fast bis zum Fußboden. Und die letzten sahen frisch aus. Irgendjemand hatte sehr viel Zeit an diesem Ort verbracht und auf sein Schicksal gewartet.
Immerhin, dachte Anselm. Besser als über einen Toten zu stolpern. Weitere Zellen, die ähnlich trostlos gehalten waren, reihten sich dahinter an. Eine alle paar Schritte immer gerade so weit von einander entfernt, dass sich die Gefangenen nur schwer würden miteinander verständigen können. Dunkle Flechten wucherten in den Fugen zwischen den Steinen, die die Innenwand der Zelle bildeten. Ein Fenster oder eine ähnliche Verbindung zur Außenwelt schien es nicht zu geben, nur in der Mitte des Ganges auf dem Anselm selbst lief, verriet ein schwacher Luftzug, das es irgendwo einen Ausgang nach draußen gab. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie sich noch unter der Erde befanden. Und das war vermutlich auch die Absicht der Erbauer gewesen, dachte er. Keine Möglichkeit das vergehen der Zeit wirklich sicher einzuschätzen. Ein paar Tage hier unten konnten sich schnell wie Monate anfühlen. Der Orden besaß ähnliche Orte. Einsame Kammern um aufmüpfige Magier zu brechen, tief in den Fels getrieben auf dem die große Burg der Magier stand, so dass sie nicht einmal einen anderen Menschen hören würden, bis ihre Meister beschlossen, sie wieder ans Tageslicht zu zerren. Wieder eine Erinnerung, die er am liebsten ganz vergessen hätte. Immerhin, er war wieder ans Licht gekommen. Anselm bezweifelte, dass die Leute hier unten dieses Glück gehabt hatten.
„Du siehst irgendwie wütend aus.“ Die Stimme neben ihm erschreckte ihn fast zu Tod. Er wirbelte herum, die Fackel erhoben und bereits einen Zauber im Geist formulierend… dann hielt er inne, als er die Stimme erkannte und das Feuer eine gebleichte Holzmaske und goldene Augen enthüllten.
„Götter…“ Er hatte nicht einmal gehört, dass sie ihm gefolgt war, dabei musst der Kobold die ganze Zeit direkt neben ihm gestanden haben. „Tu mir einen gefallen und schlich dich nicht wieder an mich ran. Ich dachte…“ Nun was hatte er gedacht? Er war alleine hier unten und es war totenstill. Und bisher hatte er keine Abbiegungen von dem endlosen Zellengang entdeckt. Er würde hören, sobald jemand den Gang herab auf ihn zukam. Noch mehr, er war bereit gewesen zu töten, was immer sich ihm auch in den Weg stellte zu Asche zu verbrennen… „Ich glaube dieser Tag hat mich ein wenig schreckhaft werden lassen. Wolltest du nicht abhauen?“
„Wer Schade um dein Sachen, wenn du dich umbringen lässt. Die Schuhe gehören mir. Und wenn du es schaffst geschnappt zu werden, hole ich mir auch den Rest.“ Sie grinste ein schiefes Lächeln, das kurze, spitze Zähne sehen ließ.
„Charmant, wirklich.“ Trotzdem lächelte er zurück. Dieb hin oder her, es war gut, nicht ganz alleine zu sein. Und wenn sie ihm in den Rücken fallen wollte, hätte sie das längst getan. „Kannst du wenigstens sicherstellen, dass ich wirklich tot bin, bevor du meine Sachen plünderst?“ , fragte er sarkastisch.“ Vielleicht wenigstens versuchen Hilfe zu holen?“
Zu seiner Überraschung, schien sie tatsächlich einen Augenblick über den Vorschlag nachzudenken.
„Ich verspreche nichts.“
„Ich lege einen Hand voll Silbermünzen drauf?“
„Ich kann mir den ganzen Beutel nehmen wenn du dich umbringen lässt?“
„Auch wieder war.“ Anselm wusste nicht wirklich, was für eine Antwort er erwartet hatte. Dann jedoch fügte er hinzu: „Dafür müsste ich sie aber bei mir haben.“
Zwar trug er einen kleinen Beutel mit Münzen bei sich, aber er wollte wissen, wie sie darauf reagierte. Vielleicht half das ganze ja.
„Kein Metall, kein Geschäft.“ , erwiderte Ganelle kühl und sichtbar enttäuscht. „Ich glaube Menschen geben zu viel auf Versprechen. Ich habe nie verstanden wieso.“
„Hast du nicht gerade noch gesagt du würdest mir so oder so nicht helfen?“
„Ich habe gesagt, ich würde mir die Münzen in jedem Fall nehmen. Und versuch erst gar nicht, mich dann schon wieder zu bestehlen. Einmal vergebe ich. Nicht zweimal.“
Anselm beschloss endgültig dass er aus Ganelle nicht so bald schlau werden würde.
„Ich habe doch schon gesagt, du kannst die Schuhe haben.“ Der Blick, den sie ihm daraufhin zuwarf, brachte ihn dazu, schnell hinzuzufügen: „Wenn wir hier raus kommen meine ich. Nicht sofort.“
Erneut war ihr die Enttäuschung deutlich anzusehen. „Die gehören sowieso mir.“
Anselm seufzte nur schwer, während sie weiter den Zellentrakt hinab gingen. Hier musste es Platz für hundert oder mehr Gefangenen geben, dachte Anselm bei sich. Sie waren jetzt bereits einige Minuten unterwegs und kein Ende des Korridors in Sicht, soweit er sehen konnte. Und auch kein einziges anderes Lebewesen, geschweige denn ein Mensch. Jede einzelne Zelle, die sie passierten war leer. Und jedes einzige Mal, wenn Anselm innehielt um sich eine näher anzusehen, fand er Spuren dafür, dass sie bis vor einer Weile noch belegt gewesen sein musste. Und er hatte jemanden gehört, als er vor der Tür stand. Waren die Leute, die hier unten eingesperrt gewesen waren erst vor kurzem weggebracht worden? Wohin brachte man hunderte Gefangene? Und wozu? Anselm entschied, die Antwort lieber nicht wissen zu wollen. Was Ganelle angedeutet hatte, hatte ihm gereicht.
Dieser Ort fühlte sich erdrückend an. Nicht physisch, aber das Gefühl das etwas ganz und gar falsch war blieb, egal wie sehr er versuchte es abzuschütteln. Er blieb einen Moment stehen und überlegte umzudrehen. Aber wen doch noch jemand hier war? Er würde sie zurück lassen. Vielleicht nur wenige Schritte von ihrer Rettung entfernt. Zu rufen und zu fragen, ob jemand da war, wagte er nicht. Er hatte bisher vielleicht keine Wachen gesehen, aber das hieß nicht, dass es keine gab. Also blieb er stehen und lauschte auf ein Zeichen von leben, ein Husten, Stimmen, irgendetwas, wirkte einen Zauber, der hoffentlich unbemerkt bleiben würde, der die Lebensfunken offenbaren würde, die jedem Wesen zu Eigen waren. Er fand er drei. Zwei, irgendwo weiter vor ihm im Tunnel, eines glühend wie ein Leuchtfeuer, so dass er es kaum wagte näher hinzusehen. Ein anderer Magier. Die bloße Präsenz von was immer weiter vorne wartete, schien die drückende Wirkung der Katakomben noch einmal zu verstärken. Götter… das erklärte einiges. Ein Magier mit einer solchen Macht könnte eine ganze Armee steinerner Konstrukte beleben. Und er sollte nicht existieren, dachte Anselm. Er war unter Zauberer aufgewachsen, er war Männern und Frauen begegnet, die einen Berg hätten versetzen können und anderen, die nur kleinere Zauber wirken konnten und dem Orden mehr als lebende Vorratsspeicher für Magie dienten, den als wirkliche Magier. Was immer dort war, es übertraf alles, was er bisher gesehen hatte. Nein… nicht alles. Aber das eine mal... Er schüttelte den Kopf und Ganelle sah ihn einen Moment fragend an, als sie die Geste bemerkte. Es machte ihm Angst. Wenn das ein Hohepriester war… Er darf uns unter keinen Umständen bemerken oder wir sind tot, dachte Anselm. Es war als hätte sich diese verdammte Stadt zum Ziel gemacht, all seinen Alpträumen neues Leben zu geben. Die Dunkelheit, die Zellen… und jetzt dieses Ding. Er zwang sich zur Ruhe. Das zweite Leben das er spürte war schwächer. Vielleicht ein verbliebener Gefangener. Oder jemand der den Magier begleitet. Er würde vorsichtig sein müssen. Das dritte war Ganelle.
Also gut. Er bedeutete ihr, unter allen Umständen leise zu sein. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, nun angespannt und jeden Schritt abwägend. Der Gang bot kaum Deckung, aber wenn er sich in den Schatten hielt könnte er es hoffentlich wagen, sich zu nähern. Der fremde Magier schien ihn jedenfalls nicht bemerkt zu haben, zumindest blieb er wo er war. Und dann schälte sich eine Gestalt aus der Dunkelheit. Anselm duckte sich so gut es ging hinter eines der Kohlebecken. Wenn der Fremde sich wirklich nach ihm umsähe, würde es ihn kaum verbergen, aber es war besser als nichts. Ganelle folgte seinem Beispiel und verschwand in den flackernden Schatten, die das Feuer warf. Der Kobold war deutlich besser darin, sich zu verstecken als er, denn obwohl er wusste, wo sie sich befand, schien sie fast unsichtbar zu werden.
„Ist das einer von ihnen?“ , flüsterte Anselm, während er die Gestalt beobachtete. Eine Frau, dachte er. Sie stand einer der Zellen zugewandt, was vermutlich der einzige Grund war, aus dem man sie noch nicht bemerkt hatte. Sie trug einen schweren Umhang aus schwarzem Stoff. Die Kapuze war zurück geschlagen und offenbarte lange, vom alten silbrig gewordene, Haare, auf denen ein Diadem aus grünem Glas ruhte. Was er von ihrem Gesicht erkennen konnte war glatt wie Marmor, zu makellos um nicht beunruhigend zu wirken und blass genug um selbst im schwachen Licht noch wie von inne heraus zu leuchten. Jeder Zug schien perfekt und feiner als er es bisher bei einem Menschen gesehen hatte. Eine Hand ruhte auf dem Gitter der Zelle, vor der sie stand. Handschuhe aus Silberfäden bedeckten ihre Finger. Hunderte, Anhänger mit in Silber eingelassenen Smaragden begleitete jede noch so kleine Bewegung mit metallenem Klirren.
„Ich habe noch nie eines ihrer Gesichter gesehen.“ , antwortete Ganelle genauso nervös wie er sich fühlte. „ Sie sehen… falsch aus.“
Anselm nickte. So perfekt, das ihnen die Menschlichkeit zu fehlen schien, dass irgendein Teil seines Verstandes ihm zuschrie, dass etwas nicht stimmte, das er weglaufen sollte…
Im inneren der Zelle stand eine weitere Gestalt. Der Gefangene, den er vermutet hatte. Doch handelte es sich definitiv nicht um einen entführten Gardisten oder Magier. Auch er war älter, doch bei ihm hatten die Jahre deutliche Spuren hinterlassen. Die Haut in seinem Gesicht war wettergegerbt und vernarbt, wie bei jemand der den Großteil seines Lebens unter offenem Himmel verbracht hatte. Grau melierte Haare, in denen nur noch eine Spur schwarz verblieben war, fielen ihm ungeordnet ins Gesicht. Und die Augen… Anselm war sich sicher, dass der Blick des alten Mannes einen Moment den seinen fand. Eisblau und so hell wie ein von der Sonne beschienener Gletscher. Falls der Gefangene sie jedoch bemerkt hatte, so zeigte er es mit keiner Regung. Seine Mine blieb ausdruckslos. Die Kleidung die er trug überzeugte Anselm endgültig, es nicht mit einem gefangenen Gardisten zu tun zu haben, es sei denn die Herren dieser Stadt hätten ihm aus irgendeinem Grund neue Kleidung gegeben. Er trug einen Umhang aus Tierfell und die Kleidung darunter bestand aus grob gearbeiteten Häuten und Pelzen. Einige aus Knochen geschnitzte Anhänger mit Runen und Stammessymbolen hingen um seinen Hals. Alles in allem schien der Mann der genaue Gegensatz zu dem opulenten Reichtum und Perfektion seines Gegenübers. Als wäre das hier kein bloßes Zusammentreffen, sondern ein geplantes Schauspiel. Für jemanden oder etwas.
Was Anselm jedoch am meisten irritierte war, das er einige der Symbole erkannte, die der Mann trug. Die Ordensburg lag an der Grenze zu Immerson, der nördlichsten Provinz des Kaiserreichs. Ein Land, das selbst Generationen an Herrschern nie völlig unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Von den wenigen Städten abgesehen gab es dort oben auch nichts. Nur einige nomadische Stämme, die es irgendwie schafften, in der Kälte und dem Eis zu überleben.. Doch ab und an hatten einige von ihnen den Aufstieg zur Festung der Magier gewagt um zu handeln oder einfach, weil die Gebirgspässe sie dorthin verschlagen hatten. Es waren wortkarge Menschen, die meist nur lang genug geblieben waren um sich aufzuwärmen und dann die sicheren Mauern so schnell wieder verlassen hatten, wie sie gekommen waren. Beinahe so als wären ihnen die steinernen Hallen mit ihren großen Feuern unangenehm. Vermutlich waren sich die meisten dieser Eisnomaden nicht einmal bewusst, dass sie Teil irgendeines Kaiserreichs waren.
Und sie waren vielleicht auch die einzigen Menschen, die freiwillig bei den Zauberern einkehrten ohne ein Wort dafür zu verlieren. Manchmal brachten sie Artefakte aus der gefrorenen Wüste mit, die sie ihre Heimat nannten. Uralte Steintafeln, mit den Schriftzeichen des alten Volkes, Fragmente von Wandgemälden oder sogar magische Kristalle. Als Läge dort draußen irgendwo eine ganze alte Stadt im Eis. Meist jedoch hatten sie außer Fellen und Fleisch nichts dabei, doch der Orden nahm ihnen auch diese gerne ab, besonders in den Wintermonaten, wenn die Pässe für jeden sonst unpassierbar gewesen wären und frisches Fleisch nicht mehr geliefert werden konnte. Die Eisnomaden fanden trotzdem einen Weg zu ihnen. Aber was machte einer von ihnen hier? Sie waren von Immerson aus gesehen am anderen Ende der Welt. Immerhin, er war hierhergekommen um zu retten, wen er konnte. Aber nicht solange die Hohepriesterin hier war. Anselm duckte sich tiefer in die wenige Deckung, die die Schatten ihm boten.
„Ihr wisst, dass ihr mich nicht töten könnt.“ Die Stimme des Gefangenen war tief und klang beinahe gelangweilt. „ Ich habe mein Ende gesehen. Nicht jetzt, nicht hier. Noch nicht.“ Erneut hatte Anselm das Gefühl, das der Blick des Mannes kurz den seinen fand und er wusste kurz nicht, was ihm mehr Angst machte. Die erdrückende Präsenz der Hohepriesterin oder diese Augen. Augen, die jeden seiner Gedanken zu kennen schienen und sich bis auf den Grund seiner Seele bohrten.
„Oh da irrt ihr euch Seher. Wisst ihr, ich habe nicht vor euch zu töten.“ Wo die Stimme des Hohepriesters tief und deutlich war, war die ihre dünn und schneidend wie ein Messer. „Nur euch zu verletzen.“ Mit diesen Worten wurde der Mann von den Füßen gerissen und gegen die Rückwand der Zelle geschleudert. Anselm biss die Zähne zusammen, als er Knochen brechen hörte und die Gestalt des Eisnomaden reglos zu Boden sackte. Einen Moment war er sich sicher, dass der Mann tot sein müsste. Dann jedoch wirkte sein Peiniger einen weiteren Zauber und das Geräusch von brechenden Knochen wurde ersetzt von welchen, die sich wieder zusammenschoben. Anselm wusste, das Heilzauber leicht genauso schmerzhaft waren, wie die Verletzungen selbst und er bezweifelte, dass die Hohepriesterin sich viel Gedanken darum machte, ihr Opfer wenigstens etwas zu schonen. Der Seher kam wankend wieder auf die Füße, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, doch hatte er während der ganzen Prozedur keinen Ton von sich gegeben.
Die Priesterin lächelte. Etwas, das ihrem Gesicht alles nahm, was man noch als menschlich hätte bezeichnen können. Selbst jetzt blieb ihre Haut fast vollkommen glatt als wäre sie nur eine Maske die sie trug.
„Noch einmal dann, ja? Warum seid ihr hierhergekommen? Was ist das für ein Gerede über Falamir und den Kaiser gewesen? Was wisst ihr über den Dreizehnten?“
„Ich habe euch alles gesagt was ihr Wissen müsst. Es endet hier für das alte Volk. Eure Zeit ist lange vorbei und der Tot eines einzelnen Menschen wird daran nichts ändern.“
Statt etwas zu erwidern hob die Gestalt lediglich erneut die Hand und ballte sie zur Faust. Anselm sah Weg, als die Knochen im Arm des Eisnomaden hörbar zersplitterten, als wäre ein Felsbrocken darauf gelandet. Die Splitter gruben sich durch die Haut, rissen grausige Wunden, als der Mann mit einem Aufschrei auf die Knie sank. Zusammengerollt und wimmernd blieb er liegen, nicht mehr länger stoisch oder unbeugsam sondern nur… ein Mensch der Schmerzen litt, dachte Anselm. Er konnte ihm nicht helfen. Nicht von hier und nicht solange die Hohepriesterin noch da war. Vielleicht hatte der Mann ihn eben wenigstens tatsächlich gesehen. Es würde wenigstens bedeuten, dass er wusste, dass es Hoffnung gab.
Anselm wendete sich ab. Magie zu nutzen um jemanden zu Foltern… Das war es was die Menschen an Magie fürchteten. Die Hilflosigkeit ihr gegenüber Eine Kugel mochte einen Zauberer genauso sicher töten wie jeden normalen Sterblichen aber das erforderte Glück. Alleine einem Magier ausgeliefert zu sein bedeutete schlicht machtlos sein. Sie waren besser als das, dachte er. Oder sollten es sein.
Er spürte wie sich jemand an ihn drückte und sah Ganelle, die versuchte, aus ihrem Versteck an ihm vorbei zu sehen. Sie schüttelte lediglich den Kopf, bevor sie sich wieder zurückzog. Offenbar gefiel ihr genau so wenig was sie sah.
„Du bist definitiv zu nett für einen Hohepriester. Aber ich würde vorschlagen, wir verschwinden solange wir können.“
„Danke. Aber ich glaube das ist nicht wirklich eine Herausforderung.“ , flüsterte er zurück. „Ach und noch etwas…“ Er packte ihre Hand, die in einer seiner Manteltaschen verschwunden war. „Das heißt nicht, das ich dich all meine Sachen nehmen lasse.“
„War den Versuch wert.“ , erwiderte sie und sah beinahe enttäuscht drein. „ Du wirst sie nicht brauchen wenn du tot bist. Was passieren wird, wenn wir noch länger hier bleiben. Wäre schade.“ Sie lächelte kurz, bevor der bevor der Kobold erneut in den Schatten verschwand.
Anselm lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Hohepriesterin und ihren Gefangenen. Der Mann hatte sich schlicht auf dem Boden zusammengerollt und versuchte, den zertrümmerten Arm irgendwie zu schonen. Anselm wünschte er könnte ihn helfen, aber er wagte es nicht einmal einen Zauber zu wirken der die Schmerzen des Eisnomaden wenigstens etwas lindern würde. Magie hinterließ Spuren und wenn die Priesterin auch nur etwas aufmerksam war… Wenn sie nur verschwinden würde, dachte er. Und sei es bloß für einen Moment. Erneut hatte er das Gefühl das der Gefangene ihn direkt ansah, sein schmerzverschleierter Blick wanderte genau zu seinem Versteck und trotz allem schien kurz ein Lächeln über die Züge des alten Mannes zu huschen.
„Sieh mal einer an. Da es euch scheinbar amüsiert mit gebrochenen Gliedmaßen dazuliegen, tue ich euch den gefallen sogar.“ Erneut hob sie eine Hand und das Blut, das aus den Wunden, die die Knochensplitter in der Haut des Eisnomaden gerissen hatten, stockte und gerann. „Ihr werdet nicht verbluten falls ihr darauf gehofft haben solltet, aber sehen wir doch mal ob euch ein paar Stunden in diesem Zustand nicht gesprächiger machen.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und machte sich den Weg den Gang hinab. Selbst ihr Gang wirkte irgendwie… falsch, dachte Anselm. Als würde sie sich halb schwebend fortbewegen, mehr gleitend als gehend. Nach allem was er in dieser Stadt gesehen hatte war jemand der Magie darauf verschwendete zu levitieren nur um nicht laufen zu müssen noch das geringste Wunder.
Rasch versicherte er sich, dass die Priesterin ganz im Halbdunkel des Zellengangs verschwunden war, dann kniete er sich vor die Gitter, die ihn von dem Eisnomaden trennten. Der Mann schien darum zu kämpfen, bei Bewusstsein zu bleiben, doch seine Augen folgten scheinbar trotzdem jeder von Anselms Bewegungen und falls er überrascht war, das ihm jemand zur Hilfe kam, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.
„Das letzte Puzzlestück….“ Der Mann machte einen halbherzigen versuch, aufzustehen, kam jedoch nicht weit, bevor er wieder hinschlug. „Ihr müsst schon entschuldigen, aber das ist wirklich komisch. Der Gefangene kommt zum Gefangenen.“
„Ich habe zwar keine Ahnung, wovon ihr redet alter Mann, aber ich bringe euch hier raus.“ , erwiderte Anselm. „Ganelle? Du hast nicht zufällig auch die Schlüssel für diese Zellen?“
„ Nun.“ Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrem Gürtel. Nicht der gleiche wie zuvor. Götter, gab es irgendwelche Schlüssel, die der Kobold nicht gestohlen hatte? Einen Moment besah sich der Kobold den Schlüsselring nur mit einem unsicheren Ausdruck. „Wenn du eine Stunde hast um es herauszufinden?“
„Haben wir nicht.“ , stellte Anselm fest. Aber er könnte die Zelle hoffentlich mit einem Zauber öffnen. Aber das bedeutete, zu riskieren, entdeckt zu werden. Wenn die Hohepriesterin noch nah genug war hätte er bestenfalls Minuten um den Eisnomaden hier weg zu bringen und in seinem Zustand… Anselm bezweifelte das er einen derart komplizierten Bruch einfach so heilen konnte. „Kannst du Wache halten und mich warnen falls diese Priesterin zurückkommt?“
„Und was ist für mich dabei drin?“
Anselm seufzte tief. „Ich beschwere mich nicht mehr wenn du versuchst meine Sachen zu stehlen?“
„Nehmen. Das ist ein unterschied.“ Sie schwieg einen Moment und schien zu überlegen. „Also gut. Du kannst wirklich froh sein das ich es schade fände wenn von dir nur ein Haufen Asche bleibt. Aber wenn der alte Mann drauf geht hab ich erste Auswahl an seinen Sachen.“
Anselm war einen Moment versucht ihr zu erklären, dass er nicht vor hatte den Eisnomaden zu bestehlen, selbst wenn sie ihn nicht hier heraus bringen konnten. Schließlich nickte er jedoch nur. Irgendwie bezweifelte er das Ganelle das verstehen würde. Streite niemals mit einem Kobold über Moral, dachte er. Stattdessen wendete er sich wieder dem Gefangenen zu.
„Wer seit ihr?“ , fragte er, hauptsächlich um ihn hoffentlich bei Bewusstsein zu halten, während er sich an den Gittern zu schaffen machte. Er könnte das Schloss mit einem Zauber aufsprengen aber dann würde der Lärm auch jeden nicht-Magier in der Nähe auf sie aufmerksam machen.
„Mein Name…“ Der Eisnomade schaffte es irgendwie sich in eine sitzende Position aufzurichten. „Ich bin Leird. Und ihr… Ihr seid Anselm nicht wahr?“
„Woher…“
Der Mann schüttelte lediglich den Kopf. „Nicht wichtig. Ich bin in diese Stadt gekommen weil ich eine Aufgabe habe. Damit ist sie fast erfüllt. Ihr habt sie gesehen. Die Priesterin meine ich.“ Anselm nickte nur während er aufstand und einen ersten Zauber wirkte. Feuer, das kurz und gleißend hell aufglühte und einen Teil des Riegels, der die Zelle verschlossen hielt durchbrannte. Er konnte keinen Lärm machen und keine großen Kunststücke wagen aber vielleicht würde eine Reihe schwächerer Zauber weniger auffallen, als wenn er die Zelle auf einmal öffnete.
„Natürlich habt ihr sie gesehen.“ Der Gefangene sprach einfach weiter, scheinbar mehr mit sich selbst als mit Anselm direkt. „Es gibt Wesen, die älter sind als das Kaiserreich und Laos. Sie haben diese Stadt versklavt mit Magie und Religion und sie würden das gleiche mit allen Menschen und Gejarn tun hätten sie bloß die Gelegenheit wieder zu erstarken….“
Anselm erwiderte nichts, sondern ließ den Mann einfach reden, während er den nächsten Zauber wirkte. Funken stoben auf, als der Bolzen endgültig durchbrach und die Tür der Zelle ein Stück aufschwang. Er zögerte nicht, sondern zog sie ganz auf, packte den gesunden Arm des Sehers und half ihm auf die Füße. Vorsichtig, um ihm nicht mehr Schmerzen zu bereiten als nötig, führte er ihn durch die Tür, darauf achtend einen kleinen Schritt nach dem anderen zu machen. So sehr alles in ihm schrie so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, es wäre sinnlos, wenn Leird ihm auf halbem Weg zurück an die Oberfläche zusammenbrechen würde.
Und dann hörte er Ganelle schreien. „Wir müssen weg hier. Jetzt!“
„Wieso?“ Er hatte es gerade wieder zurück auf den Gang geschafft und sah zurück in die Richtung aus der die Stimme des Kobolds gekommen war. Und erstarrte. „Oh verdammt…“
Der Tunnel vor ihm war nach wie vor größtenteils in Dunkelheit gehüllt, doch gegen das glühen der Kohlebecken zeichnete sich eine einzelne Gestalt ab. Die Finsternis schien um sie einen Augenblick dichter zu werden, die Flammen in den Becken weniger hell als sie sie passierte. Und sie ging nicht einfach nur, sondern schien zu schweben, bewegte sich ohne ein Geräusch auf sie zu, scheinbar ohne jede Eile obwohl sie sie sehen musste. Die Hohepriesterin… Kälte und bloße, ungebändigte Macht schienen in Wellen von der Gestalt auszugehen. Frost wand sich aus den Fugen der Mauern heraus und blühte zu dünnen Kristallen.
Ganelle rannte der Gestalt voraus zu ihnen zurück, nackte Panik in den Augen.
Sie mussten weg… aber mit dem verletzten Seher würden sie niemals rechtzeitig entkommen, es sei denn… Anselm schloss die Augen. Er könnte einen Teleportzauber wagen. In einer unbekannten Umgebung. Um sie in ein Lager zurück zu bringen, das er genau so wenig kannte. Götter, die Chance, dass sie dabei einfach zerstückelt wurden oder in einer Wand landeten war genau so groß wie das es sie rettete. Von dem was es ihm antun würde ganz zu schweigen. Es gab einen Grund warum ein Teleportzauber selten nur von einem einzelnen Magier gewirkt wurde.
„Nur als Warnung, das könnte unangenehm werden.“, rief er, bevor er den Zauber wirkte. Magie strömte durch seine Adern, ließ die Welt um sie alle drei herum einen Moment verschwimmen. Anselm wäre beinahe in die Knie gegangen als der Zauber nach seiner Lebensenergie griff und einen beachtlichen Teil davon einfach verzehrte wie ein Feuer Stroh… Ein Lichtblitz hüllte ihn, den Kobold und den Seher ein. Dann war es vorbei und er fiel tatsächlich auf die Knie. Auf den gleichen, kalten Steinboden auf den er sich zuvor schon befunden hatte. Seine Hände zitterten, als er aufsah… direkt in das Gesicht der Hohepriesterin. Wie? dachte er. Der Zauber hätte sie hier raus bringen müssen. Stattdessen hatte der Zauber sie lediglich direkt vor die Priesterin teleportiert. Ihr Blick traf den seinen. Hass brannte darin. Kaltes, grünes Feuer. Sie wusste was er war, was er versucht hatte und empfand nur Abscheu dafür…
„Glaubt ihr wirklich, ihr könnt mir davon laufen, kleiner Mischling? Es wieder mich an was eure Art für Magie zu halten scheint.“ Die Gestalt der Hohepriesterin schwebte keine zwei Schritte von ihm entfernt, ihre Gesichtszüge Ausdrucks und makellos wie zuvor.
Anselm war nicht in der Lage auch nur etwas zu erwidern. Die Kälte die von der Gestalt vor ihm auszugehen schien. Dann traf sie etwas mit voller Wucht am Kopf. Die Priesterin stolperte vorwärts, ihre Füße berührten den Boden und schienen sie kaum zu tragen als die Zauber die sie in der Luft gehalten hatten einen Augenblick lang versagten. Der Eisnomade, Leird, stand hinter ihr, nichts als einen Stein in der Hand und schlug wieder zu. Nur das der Fels sein Ziel nie erreichte, wi Anselm feststellte. Er traf auf eine Barriere, kurz bevor er den Schädel der Magierin zertrümmert hätte und prallte ab. Die Hohepriesterin ging ein Stück in die Knie, doch nicht mehr. Den Eisnomaden schien der Schild nicht zu beeindrucken, er hob den Stein einfach erneut.
Bevor er jedoch ganz ausholen konnte, hatte die Hohepriesterin bereits eine Hand gehoben. Flammen loderten darin auf, verdichteten sich, bis sie eine kleine Sonne zu formen schienen. Der Feuerball löste sich und hüllte die Gestalt des Sehers in gleißendes Licht. Die Hitze der Flammen vertrieb für einen Augenblick lang die Kälte in den Tunneln, brannte auf Anselms Gesicht, dann war alles vorbei.
Anselm war halb blind von den Nachbildern auf seiner Netzhaut. Und wo der Eisnomade gestanden hatte, blieb nichts außer Asche, die langsam zu Boden rieselte.
Langsam erhob sich die Gestalt der Priesterin wieder, scheinbar ohne Anselm auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Stattdessen wendete sie sich Ganelle zu.
„Ihr… Wieso führt ihr diese Abscheulichkeit hierher? Seit ihr Kobolde zu Verrätern geworden?“
„Ich nun… er gehört also gar nicht zu euch?“ Sie wich langsam von der Priesterin zurück. „Ihr… also ihr müsst verstehen ich habe wirklich gedacht… Bitte tötet mich nicht.“
„Genug!“ Erneut holte die Hohepriesterin mit der Hand aus. Eine Welle aus verdichteter Luft traf Ganelle und Anselm gleichzeitig, schleuderte sie beide zurück und ließ sie ein Stück über den Boden schlittern, bis sie nebeneinander liegen blieben. Die hölzerne Maske, die der Kobold getragen hatte, landete klackernd auf dem Boden. „Ihr werdet für euer Eindringen hier bezahlen. Euer Blut kann das eines Sehers nicht aufwiegen, aber ich werde sicherstellen, das mir kein Tropfen verloren geht. Ich..“
„Ihr redet zu viel.“ Diesmal traf der Stein die Hohepriesterin direkt ins Gesicht. Ihre Nase brach mit hörbarem knirschen, als der Seher zuschlug. Leird stand schwer atmend da, seine Kleider versengt, aber offensichtlich noch am Leben. „Ich habe euch gesagt, dass ihr mich nicht töten könnt. Noch nicht.“ Und mit einem Blick zu Anselm und Ganell rief er : „Lauft!“ , bevor er zum nächsten Mal zuschlug. Diesmal jedoch schien der Stein in der Luft auf eine Barriere zu treffen und abzuprallen.
Der Seher stolperte rückwärts, weg von der angeschlagenen Priesterin. Der Brocken, den er als Waffe benutzt hatte, blieb einen Moment in der Luft hängen… dann zerfiel er zu Staub.
Die Hohepriesterin rappelte sich wieder auf. Mehr Blut lief über ihr Gesicht ohne wirklich daran haften zu bleiben, tropfte zu Boden, während ihre Wunden sich bereits wieder zu schließen schienen. Blut rann ihr aus den silbrigen Haaren, schien von ihrer Haut abzuperlen als würde es nicht wagen, sie zu beschmutzen. Anselm kam es… falsch vor dieses Wesen verletzt zu sehen, so schrecklich es auch sein mochte. Etwas, das auf so essentielle Art nicht der natürlichen Ordnung zu entsprechen schien, als würde eine Feder nach oben fallen.
Er versuchte auf die Füße zu kommen, schaffte es auch halb und wäre fast wieder gestürzt. Der misslungene Teleportzauber hatte ihn zu viel Kraft gekostet. Wie viele Lebensjahre hatte er eben einfach so verbrannt? Als ob es eine Rolle spielte, wenn sie hier nicht raus kamen.
Dann riss Ganelle ihn auf die Füße. Der kleine Kobold war überraschend kräftig.
„Ich schlage vor wir tun was der verrückte alte Mann sagt.“ Ein dünnes Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Du siehst nicht gut aus. Graue Haare stehen dir nicht.“ Es war das erste Mal, das er ihr Gesicht vollkommen sah. Ohne die Maske wirkte es… nicht unbedingt menschlicher aber weniger seltsam dachte er.
Anselm ließ sich aufhelfen. Er konnte sich durchaus vorstellen, wie selbst gerade aussah. Magie ließ einen nicht wirklich physisch altern aber… sie nahm einem immer etwas. Er warf einen letzten Blick zurück auf den Seher und die Hohepriesterin. Einen Augenblick lang schien sich keiner der beiden zu rühren. Anselm wartete nicht darauf das etwas passierte, sondern lief los, Ganelle auf den Fersen.
Wenn sie es zurück zur Tür zu Kanalisation schafften könnten sie vielleicht hoffen sich dort zu verstecken. Sie kamen nicht weit. Anselm hatte kaum hundert Schritte gemacht, als hinter ihnen jemand aufschrie, ein Blitz tauchte den gesamten Tunnel einen Moment lang in Taghelles Licht. Er warf einen Blick zurück und sah die Gestalt des Sehers zusammensinken. Blut strömte aus dutzenden Wunden in seinem Körper, tränkte den Boden und die Füße der Hohepriesterin… Sie machte eine Handbewegung und der Blutstrom strömte nach oben, um ihre ausgestreckten Finger… Nach wie vor machte sie keine Anstalten Anselm zu folgen, sah ihnen einen Moment einfach nur hinterher.
Eine weitere Handbewegung und eine der Zellen vor ihnen explodierten nach außen. Metallfetzen und Felsbrocken wurden aus der Wand gerissen.
Ganelle legte die Hände über den Kopf um sich vor den Trümmern zu schützen. Anselm hingegen wurde nicht langsamer. Wir sind tot, wenn wir bleiben, dachte er. Er warf einen hastig errichteten magischen Schild über sie beide, packte die Hand des Kobolds und rannte weiter. Ein Steinbrocken so groß wie er selbst hämmerte gegen die magische Barriere und die Anstrengung den Zauber aufrecht zu erhalten ließ ihn einen Moment straucheln. Er war längst über die Grenze dessen gegangen zu was ein einzelner Magier fähig sein sollte. Zumindest wenn er am Leben bleiben wollte. Es spielte keine Rolle. Er tauschte Lebenszeit gegen bloßes Überleben. Eine weitere Wand implodierte auf einen Wink der Hohepriesterin nach innen. Anselm wirkte einen halbherzigen Zauber um die Trümmer zu verlangsamen. Einen Moment überlegte er sie auf ihre Verfolgerin zurück zu schleudern. Nein. Selbst jetzt nicht wo all seine Alpträume Realität geworden zu sein schienen. Die Wahrheit blieb, dass er sich nicht dazu durchringen konnte. Schließlich lenkte er die schwebenden Felstrümmer lediglich um und errichtete eine Blockade aus ihnen.
„Hey!“ Ganelles Stimme war von Angst gezeichnet, zu schrill und zu hoch. „Was bei allen… Warum tust du nicht irgendetwas? Glaubst du die paar Felsbrocken halten sie auf“
„Ich versuche zumindest sie aufzuhalten.“ , gab er zurück.
„Versuch vielleicht etwas, das tatsächlich etwas bringt.“ , rief der Kobold zurück. „Ich weiß nicht… mit Magie? Die kann Feuerbälle werfen, du kannst das doch sicher auch? Muss ich es aufzeichnen?“
Die Überreste der Wand zerbröselten zu Staub, während die Hohepriesterin sie passierte.
Eine bloße Zuschaustellung von Macht. Mit jedem Schritt floss das Blut des Sehers hinter ihr her, schien in ihrer Haut zu versickern wo es sie berührte, wo ihr eigenes zuvor keine Spuren hinterlassen hatte… Wie hatte Leird es fertig gebracht dieses Wesen zu verletzen?
„Nein.“ , erwiderte Anselm lediglich.
„Warum nicht?“ Ganelle klang nun nicht mehr bloß ängstlich sondern an der Grenze nackter Panik.
Er kam nicht dazu zu antworten, als vor ihnen endlich die Tür auftauchte. Ihr Fluchtweg… Götter, es könnte tatsächlich sein, das sie es Lebend hier heraus schafften. Ganelle erreichte die Tür einen Herzschlag vor ihm. Anselm rüttelte an der verrosteten Klinge. Nichts passierte. Verschlossen, dachte er und einen Moment wollte die Angst auch nach ihm greifen, ihn endgültig unfähig machen etwas zu tun, außer die Hände über den Kopf zusammenzuschlagen und auf den Tod zu warten. Und nach wie vor kam ihm das alles hier viel zu vertraut vor. Gefangen zu sein. Etwas unglaublich Mächtigem ausgeliefert und ohne die Möglichkeit weg zu laufen… Er kannte das Gefühl und er kannte das grüne Feuer das hinter den Augen der Hohepriesterin brannte.
Ganelle huschte ohne ein Wort an ihm vorbei und begann hastig nach dem Schlüssel zu suchen. Einer der schweren Schlüsselbunde die sie trug landete klirrend auf dem Boden, während sie einen nach dem anderen durchblätterte.
Anselm stellte sich mit dem Rücken zu ihr, den Gang im Auge behaltend. Die Hohepriesterin folgte ihnen nach wie vor, ohne sichtbare Eile. Die Levitationszauber trugen sie langsam, anmutig weiter auf sie zu. Schrecklich und doch auf eine falsche Art schön.
Anselm rief Flammen herbei, lenkte sie auf die Steinernen Fließen und die Wände des Ganges vor ihnen. Die Felsen begannen nach wenigen Augenblicken kirschrot zu glühen, tauchten den ganzen Gang in schummriges Licht. Ein normaler Mensch wäre bei lebendigem Leib gegrillt worden, hätte er es gewagt sie weiter zu verfolgen. Die Priesterin wurde nicht einmal langsamer und schien seinen Versuchen sie zu bremsen kaum Beachtung zu schenken. Eine einzige Geste und Frost breitete sich auf den Steinen aus, vertrieb die Hitze genau so schnell wie sie gekommen war und ließ Eisblüten aus den Steinen wachsen. Der plötzliche Temperaturunterschied ließ mehrere davon krachend splittern. Und noch immer wurde die Priesterin nicht langsamer. Sie hatte Anselm fast erreicht, als Ganelle rief: „Ich habs.“
Triumphierend hielt der Kobold einen Moment den Schlüssel hoch, dann machte sie den versucht, die Tür zu öffnen. Ein Augenblick zu spät
Die Hohepriesterin kam keinen Schritt vor Anselm zum Stehen, hob eine Hand. Der Schlüsselbund wurde dem Kobold aus der Hand gerissen und blieb einen Finger breit vor ihrer Hand schweben.
„Ein törichter Versuch.“ Ihre Stimme verriet keinerlei Emotionen. Nur Kälte und Abscheu und alles davon schien sich gegen Anselm zu richten. Eine weitere Geste und das Metall in ihren Händen schmolz in einem einzigen Augenblick, lief als glühende Masse zum Boden. „Einen für den ihr einen Preis zahlen werdet, kleiner Magier.“
Anselm musste sich anstrengend ihrem Blick Stand zu halten. Furcht packte ihn. Genauso kalt wie die ganze Ausstrahlung der Priesterin. Drohte ihn endgültig zu lähmen. Was konnte er tun? Was sollte er tun? Nichts hatte ihn hierauf vorbereitet. Keiner der tausend Meister des Ordens und erst recht keine der endlosen Lektionen über Magie und ihre Wirkung. Nichts davon schien mehr zu stimmen seit er diese Stadt betreten hatte und nun stand er einem wütenden Gott gegenüber.
„Ihr könnt es versuchen.“ Irgendwie schaffte er es, dass seine Stimme nicht zitterte und das freute ihn. Es war etwas. So sei es denn, dachte er. Es gab keine Möglichkeit zu entkommen, keinen Ort an den sie rennen konnten. Also dann, er wiederholte es in seinem Geist, als ob es ihn irgendwie davor bewahren könnte, was nun folgen würde. So sei es. So sei es. Der Entschluss war einfach. Das hatte er gefürchtet. Jetzt musste er es nur noch tun und das fürchtete er beinahe mehr als das Wesen vor ihm. „Wenn ihr es wagt.“
Er hatte sein Leben damit verbracht, Schranken aufzubauen. Nicht töten. Wenn möglich niemanden verletzen. Seine Kräfte nicht einsetzen, versuchen sein Leben zu bewahren wo es ging, die Magie weg schließen wenn er sie nicht brauchte. Und er wusste zu gut warum. Nicht davon würde ihm hier helfen oder ihn irgendwie hier heraus bringen. Nicht jetzt wo sein schlimmster Alptraum ihn nach all diesen Jahren wieder gefunden hatte. Und dieses Mal war er ganz alleine.
„Du forderst einen Gott heraus, Kind.“ Die Stimme der Priesterin klang warnend und doch gleichzeitig einen Augenblick lang… unsicher? Überrascht? Anselm wusste es nicht. Er ballte lediglich eine Hand zu Faust, sah einen Moment zurück zu Ganelle. Lächelte. Und schlug zu.
Eine Welle aus verdichteter Luft folgte der Bewegung seines Arms und traf die Hohepriesterin mit voller Wucht. Ein Lichtblitz als sie auf die Schilde traf, die das Wesen um sich herum errichtet hatte, ein zweiter als die magische Barriere erlosch. Scherben aus irisierendem Nichts hingen einen Moment in der Luft, brachen das Licht in allen Farben. Er hatte so viel in den Angriff gelegt wie er wagte und zu Anselms Überraschung zeigte er Wirkung. Die Hohepriesterin wurde von den Füßen gerissen und zurück geworfen. Das gläserne Diadem zersplitterte als die Druckwelle es von ihrem Kopf riss. Silberne Ketten rasselten als sie gegen die Wand geschleudert wurde und benommen daran herab sank.
Im gleichen Moment huschte ein grün-roter Schatten an Anselm vorbei und rannte den Gang in entgegengesetzte Richtung hinab, weg von ihm und der gefallenen Priesterin. Anselm konnte dem Kobold nur einen Augenblick ungläubig nachsehen, bevor sie in der Dunkelheit verschwand. Sie war weggelaufen, dachte er. Hatte ihn hier alleine gelassen. Zum Sterben. Konnte er es ihr verübeln? Sie hatte es oft genug angedroht. Und doch fühlte er sich mit einem mal enttäuscht. Er kam nicht dazu länger darüber nachzudenken.
Die Hohepriesterin schoss heulend wieder auf die Füße, ein kreischender Schatten der sich auf ihn stürzte, umhüllt von knisternder Magie. Die Bewegung erfolgte so schnell, das er sie kaum wahrnahm und mit schrecken wurde ihm klar, dass sie bisher bestenfalls mit ihnen gespielt hatte. Nicht mehr.
Er kam gerade noch dazu einen Schild zu errichten um einen Sturm aus schwarzen Blitzen abzuwehren. Jeder Einschlag erschütterte ihn trotzdem noch bis ins Mark und zog das Leben aus seinem Körper in einem verzweifelten Versuch, der Macht der Hohepriesterin etwas entgegenzusetzen. Klauen aus Eis und schreiendes Feuer schlugen nach ihm, verbrannten seine Hände, als er sie zum Schutz hob und die magische Barriere einen Augenblick nachgab. Die Haut an einer seiner Handflächen schlug Blasen und der Schmerz trieb ihn auf die Knie. Er stand inmitten eines Sturms aus Magie, die drohte ihm das Fleisch von den Knochen zu reißen, wenn er auch nur einen Augenblick lang strauchelte. Keine Möglichkeit selber anzugreifen oder sich auch nur zu bewegen. Seine Gedanken klammerten sich nur daran, irgendwie die Barriere um ihn herum aufrecht zu erhalten. Und dann war da Lärm, der tausende von Zaubern begleitete, die die Luft erhitzten, verdrängten oder gefrieren ließen und ein nicht enden wollendes tosen um ihn herum erzeugten.
Ein Gott, dachte Anselm. Er bekämpfte nicht mehr und nicht weniger als einen wütenden Gott. Und genauso aussichtslos war der Versuch. Wo er sich kaum auf den Beinen halten konnte, stand die Hohepriesterin nur da, als würde dieses Schauspiel an Magie sie nicht die geringste Anstrengung kosten und betrachtete ihn wie einen besonders interessanten Käfer. Einen, den sie trotzdem zerquetschen würde. Sie hätte ihn längst töten können, dachte er. Die Macht, die sie hier zur Schau stellte war atemberaubend, aber irgendwie hielt er ihr stand. Weil sie es erlaubte. Warum? Die Antwort schien so schlicht wie grausam. Er hatte einen Gott erzürnt… und er sollte einen Preis dafür zahlen, der weit darüber hinaus ging in einem Augenblick zu Asche verbrannt zu werden.
Anselm strauchelte und die schützende Barriere um ihn herum schrumpfte. Seine Hände zitterten, der Versuch wieder auf die Füße zu kommen schien ihm lächerlich…
Er starb gerade, dachte Anselm und war überrascht wie seltsam kalt ihn dieser Gedanke ließ. Alles Leben floss aus seinem Körper. Hielt er den Zauber aufrecht der ihn schützte lebte er vielleicht noch Augenblicke länger, aber nicht mehr… Die Priesterin sah lediglich auf ihn herab. Ein dünnes Lächeln erschien auf ihren Lippen. Ein toter Ausdruck,. Wenn überhaupt ließ es ihr Züge noch falscher aussehen, ohne jedes leben.
Anselm wusste, dass er verloren war.
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2018
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