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Ein Wunsch unter dem Winterstern

Kapitel 1

Der Sturm in meiner Nacht

Kapitel 1

Meine Liebe ist wie der Winterstern

Kapitel 1

Kapitel 2

Ein Wunsch unter dem Winterstern

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

 

Die Feier hatte um acht Uhr abends angefangen, und Chaniel brauchte gute drei Stunden, um endlich die Ablenkung zu finden, die diese Pflichtveranstaltung erträglich machte.

Er unterdrückte ein Seufzen und nippte an seinem Weinglas. In seinen Augen war es verschwendete Zeit, auf einer Sonnwendfeier herumzustehen und mit den Leuten zu plaudern, die er ohnehin an fünf von den sechs Tagen der Woche sah.

Nicht, dass er seine Kollegen nicht schätzte, aber seine Vorstellung von einem angenehmen Abend beinhaltete gutes Essen und die Gesellschaft eines Mannes und nicht eine Sonnwendfeier mit zweihundert Elfen. Wobei das Buffet zugegebenermaßen hervorragend war.

Chaniel hörte mit halben Ohr zu, wie Levanyar und ein paar andere Kollegen sich über die neue Armbrust unterhielten, mit der bald alle Polizisten ausgestattet werden sollten. Der Großteil seines Interesses galt jedoch dem Buffet, das vor der Wand aufgebaut war. Und dort weniger den Speisen als vielmehr einem der Gäste.

Dieser Mann schien Chaniel genau die willkommene Ablenkung zu sein, nach der er gesucht hatte. Auch wenn er irritierend runde Ohren hatte.

Vor einer Woche hatte er noch die Absicht gehabt, sich hier mit Levanyar einen netten Abend zu machen. Dann hatten sie eine jener Unterhaltungen geführt, die niemals gut ausging und stets mit den drei gleichen verhassten Worten begann: »Wir müssen reden.« Und danach waren sie kein Paar mehr gewesen.

Chaniel sah kurz zu Levanyar. Dieser zog einen Mundwinkel in der Andeutung eines Lächelns hoch, als er seinen Blick auffing. Sie hatten sich im Guten getrennt, waren weiterhin Freunde. Er fühlte keinen Schmerz, keine Wut, nur eine nagende Enttäuschung, und das sagte vermutlich alles über ihre Beziehung. Falls man sie überhaupt als solche bezeichnen konnte.

Sie waren nur ein paar Wochen zusammen gewesen. Eine Affäre, mehr nicht. Als sie feststellten, dass sie nicht zusammenpassten, zogen sie die Konsequenzen. In beiderseitigem Einvernehmen.

»Habt ihr schon die neuen Prototypen der Dienst-Armbrust gesehen?«, sagte Levanyar gerade, als Chaniel zu ihm hinsah.

Er nickte. »Ja, die sieht fantastisch aus.« Damit hatte er wenigstens irgendwas zur Unterhaltung beigetragen.

Er blickte an Levanyar vorbei zum aufgetischten Essen. Seit einigen Minuten betrachtete er den Mann am Buffet nun schon, und er konnte sich noch immer nicht erklären, was ihn an ihm faszinierte. Er war nicht der erste Mensch, den Chaniel sah. Auch nicht die erste Stadtwache, die ihm unter die Augen kam. Doch dieser hier … Er war irgendwie anders.

Es fing damit an, dass er größer war als alle Menschen, die Chaniel je getroffen hatte. Breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine. Beinahe elfisch. Nichts an ihm wirkte zierlich oder gar schwach.

Er trug die offizielle Uniform der Stadtwache – dunkelblauer knielanger Waffenrock mit dem ilarischen Wappen auf der Brust, schwarze Hosen und Stiefel. Unter dem Ausschnitt war das metallene Geflecht eines Kettenhemds zu erkennen, dessen kurze Ärmel ebenfalls zu sehen waren. Darunter trug er ein schwarzes Hemd.

An Waffen führte er nur einen Dolch bei sich, das sonst übliche Langschwert fehlte. Vermutlich, weil die KomKa es nicht gerne sah, wenn Personen, die nicht hier arbeiteten, schwerbewaffnet in ihren Räumlichkeiten herumrannten. Machte die anwesenden Polizisten nur unnötig nervös.

»Chan?«

Er drehte den Kopf suchend in die Runde, die ihn umgab. Wer hatte ihn angesprochen?

Levanyar blickte ihn mit gehobenen Brauen an. »Hast du mir überhaupt zugehört?«

»Äh, entschuldige, nein. Ich war gerade in Gedanken.« Er setzte ein leichtes Lächeln auf.

Van schüttelte nur den Kopf. »Egal. Du wirst uns früh genug berichten, wie sich die neue Waffe im Einsatz bewährt. Wenigstens ist sie eine Arbeitserleichterung. Im Gegensatz zum neuen Formular für die Verhörprotokolle.«

Kollektives Stöhnen um ihn herum, dem sich Chaniel anschloss und nicht weiter zuhörte. Sein Blick schweifte wieder zum Buffet, an dem sich der fremde Mann mit einer Kollegin Chaniels unterhielt.

Nevan, so hatte Levanyar ihn vorhin genannt. Chaniel wusste nicht einmal, ob das der Vor- oder Nachname war. Menschen besaßen ja zwei Namen, um die Dinge unnötig zu verkomplizieren.

Van hatte wohl schon mit ihm zu tun gehabt, zumindest kannte er seinen Namen. Chaniel hatte zwar gehört, dass sie nächstes Jahr einen neuen Verbindungsoffizier der ilarischen Stadtwache zugeteilt bekamen, sich aber nicht weiter darum gekümmert. Er würde diesen Menschen noch früh genug kennenlernen.

Der alte Verbindungsoffizier hatte sich nie großartig in die sagarischen Angelegenheiten eingemischt und war nicht öfter als ein oder zwei Mal im Monat aufgetaucht, was allen sehr recht war. Niemand wusste, wie ernst dieser Nevan seine Aufgabe nahm.

Zum ersten Mal hatte Chaniel nichts dagegen, dass sich jemand der ilarischen Stadtwache öfter auf dem Revier blicken ließ. Denn dieser Mensch war zumindest keine Beleidigung fürs Auge. Was die Gefahr für seine Nase anging, musste er erst näher heran.

Nevan wanderte mit dem Teller in der Hand zum Ende des Buffets, wo er sich eine Gabel und eine Serviette nahm. Chaniels Blick fiel auf seinen Hintern, von dem aufgrund des langen Waffenrocks und des darunter liegenden Kettenhemds fast nichts zu sehen war. Nur eine leichte Kurve, über der ein Gürtel mit einem Dolch hing. Und dennoch war selbst diese minimale Rundung reizvoll.

Er blickte zu Levanyar hinüber. Zwar hatte ihm das Ende ihrer Affäre nicht das Herz gebrochen, doch er spürte trotzdem diesen seltsamen Stich in seiner Brust. Mehr Wehmut als Schmerz. Es war schön gewesen, sich mit jemandem verabreden zu können. Jemanden abends nach dem Dienst zu treffen. Noch dazu jemand, der nur allzu gut verstand, wie anstrengend die Arbeit als Ermittler sein konnte.

Die Unterhaltung war bei den lächerlichsten Dienstvorschriften angelangt, und er nickte beipflichtend, während sein Blick zu Graycennar und seinem Freund schweifte. Soweit er feststellen konnte, waren sie das einzige Paar in dieser Runde, zu der sich gerade drei weitere Polizisten aus der Mordabteilung gesellten. Auch wenn der menschliche Magier bemüht war, genau diesen Eindruck nicht zu vermitteln.

Er hatte Willard auf einem Fest vor einem halben Jahr flüchtig kennengelernt, wo der Magier Chaniel fast seinen Auftrag vermasselt hatte.

Graycennar war auch jemand, der ihm gefallen hatte. Natürlich war er schon vergeben, und wie es schien, ziemlich fest. So intensiv blickten sich nur Leute an, die tiefe Gefühle füreinander hatten.

Es wäre schön, auch jemanden zu haben, der ihn so ansah. Jemanden, den er so ansehen konnte. Seine letzte langfristige Beziehung hatte vor zwei Jahren geendet, und bis auf ein paar Affären hatte sich seitdem nichts Festes mehr ergeben. Bei dem Anblick der Paare auf diesem Fest bedauerte er das.

Chaniel warf einen Blick in sein Glas. Es musste dieser verfluchte Wein sein, der ihn so sentimental werden ließ. In Kombination mit dem morgigen Jahresende.

Vielleicht sollte er den Wein auffüllen. Viel schlimmer konnten seine sentimentalen Anwandlungen nicht mehr werden. Außerdem schmeckte der Schiller wirklich gut. Nachdem er sich bei seinen Freunden entschuldigt hatte, spazierte er zum Tisch, wo die Getränke ausgeschenkt wurden.

Mit einem Glas, das nur zu einem Viertel voll war, wollte er zu seinen Kollegen zurück, als sein Blick wieder auf die Stadtwache fiel. Nevan lehnte mit dem Gesäß an einem der Tische, die an die Wand geschoben worden waren. Er spießte Häppchen mit der Gabel auf, während er die Menge beobachtete. Dabei landete sein Blick schließlich auf Chaniel und blieb für einen Moment an ihm hängen.

Der Elf erwiderte den Blick ohne sich abzuwenden und deutete ein Lächeln an.

Ein winziges Lächeln huschte auch über das Gesicht des Menschen, dann sah er in die andere Richtung. Das mochte Interesse an Chaniel sein oder schlichte Höflichkeit.

Es reichte, damit Chaniel sich in Bewegung setzte, um seine Ablenkung näher kennenzulernen.

 

* * *

 

Chaniel schlenderte zu dem Menschen hinüber und nickte ihm freundlich zu. Als Nevan ihn fragend anblickte, bemerkte der Elf erst, wie groß der Mann wirklich war. Beinahe so groß wie er selbst, musste er mindestens sechs Fuß und sechs oder sieben Zoll messen, was ihn zu einem Riesen unter den Menschen machte.

»Ihr seid zum ersten Mal hier, nicht wahr?« Chaniel deutete auf den Saal.

Nevan nickte und kaute bedächtig weiter. Manieren hatte er, was ihn schon mal von seinem Vorgänger unterschied, dem man beim Essen immer in den Mund schauen konnte. Die Stadtwache schluckte hinunter. »Ja. Ich habe gar nicht mit einer Einladung gerechnet, wo ich meinen Dienst doch erst in zwei Wochen antrete.«

Seine braunen Haare waren im Nacken kurz geschnitten und fielen ihm in Locken in die Stirn. Einige Strähnen hingen genau über seinem Auge und schienen darauf zu warten, zur Seite gestrichen zu werden. Ein Zucken lief durch Chaniels Finger, als er sie krampfhaft an seiner Seite hielt. Warum hatte er auf einmal das Bedürfnis, durch diese Haare zu fahren? Er war nicht der Typ für ständige Berührungen, schon gar nicht bei Leuten, die er überhaupt nicht kannte.

Ein Bart bedeckte Oberlippe und Kinn, etwas länger als die Stoppeln auf den Wangen. So ganz frisch rasiert sah es nicht aus. Dafür irgendwie … verwegen. Als hätte der Mensch Wichtigeres zu tun, als sich um seine Barttracht zu kümmern.

Dabei wirkte er nicht ungepflegt, ganz im Gegenteil. Der frische Duft einer zitronigen Kräuterseife hing an ihm. Vermutlich Verbena. Und darunter lauerte etwas Erdiges, das Chaniel nicht genau bestimmen konnte, seiner Nase aber schmeichelte.

Nevan war nicht unattraktiv. Natürlich konnte er sich nicht mit einem Elfen messen, dazu waren seine Gesichtszüge nicht prägnant genug, die Augen zu schmal, die Nase zu breit, die Brauen zu dicht. Aber dennoch wirkte er auf eine bodenständige Art gutaussehend.

»Chaniel vom Klan der Ultorria.« Er streckte ihm die Hand entgegen, und Nevan klemmte sich die Gabel zwischen Daumen und Teller, um eine freie Hand zu haben.

Sein Händedruck war angenehm fest, ohne übertrieben zu wirken. Manche Menschen glaubten ja, dass sie einem Elfen die Finger zerquetschen mussten, um ernstgenommen zu werden. »Hauptmann Tamann.«

Also war Nevan sein Vorname. Chaniel nutzte die Vorstellung, um ihm lange in die Augen zu blicken. Hellbraun, mit goldenen Sprenkeln, die ihnen einen warmen Glanz verliehen. Hübsch. »Wie ich sehe, findet Ihr zumindest Gefallen am Essen.« Chaniel deutete mit einem Grinsen auf den vollen Teller.

»Nicht nur am Essen. Eine schöne Feier.« Das klang eher höflich denn begeistert, ohne ehrliche Freude, aber Chaniel hätte an seiner Stelle auf einem ilarischen Fest nichts anderes gesagt.

»Habt Ihr schon viele Polizisten kennengelernt?« Chaniel nippte an seinem Glas und sandte einen winzigen magischen Impuls aus. Nichts, was sonst jemand in dem Saal bemerken würde. Es war mehr Gewohnheit als Notwendigkeit, weil er jeden, den er neu kennenlernte, auf diese Art abtastete. Warnte ihn manchmal vor unliebsamen Überraschungen, weil er so auch feststellen konnte, ob sich magische Gegenstände bei der Person befanden. Oder Waffen aus Metall.

Er bekam kein Echo. Die Magie lief widerstandslos durch Nevan hindurch, wurde nicht aufgehalten, nicht verformt, nicht zurückgeworfen. Völlig magieblind, wie die meisten Menschen.

»Die Leutnants der einzelnen Abteilungen. Ich hoffe, ich weiß ihre Namen noch, wenn ich nächstes Jahr mit ihnen zusammenarbeiten werde.«

»Ihr müsst Euch ja immer nur einen Namen merken und nicht zwei wie bei Menschen.«

»Ist es nicht unhöflich, den Klannamen wegzulassen?«

»Kein Elf redet einen anderen mit dem Klannamen an, es sei denn, es dient einer Aufforderung zum Duell oder einem Antrag auf eine eheliche Bindung. Und keines von beiden empfehle ich bei einem Treffen mit den Leutnants der KomKa.«

Ein Lächeln tanzte über Nevans Gesicht. »Ich werde versuchen, diesen Rat zu berücksichtigen. In welcher Abteilung arbeitet Ihr?«

»Schmuggel.«

»Ah, der Import und Export von verbotenen Waren, wie es offiziell so schön heißt.« Nevan nickte langsam. »Ich nehme an, wir werden uns öfter über den Weg laufen, da es zu meinen Hauptaufgaben gehört, den Transport verbotener Drogen und sonstiger Dinge nach Ilaria zu verhindern.«

»Werden wir.« Chaniel schenkte ihm ein breites Grinsen. »Nach dem Leutnant bin ich der zweitwichtigste Mann.«

»Ach ja?« Nevan bedachte ihn mit einem neugierigen und zugleich misstrauischen Blick. Vermutlich klang es nach Angeberei, aber Chaniel war tatsächlich die Hauptansprechperson in der Abteilung und koordinierte die Einsätze.

»Ich kann Euch gern mehr darüber erzählen, was sich alles in meiner Abteilung tut und womit wir im Moment beschäftigt sind.« Er ließ seinen Blick über den Saal schweifen. »Aber nicht hier. Schließlich ist das eine Feier und keine Dienstbesprechung.«

Das Misstrauen schwand aus Nevans Blick, und jetzt wirkte er wirklich interessiert. »Klingt spannend. Wollt Ihr Euch irgendwann mit mir treffen, um mich schon vorab einzuweihen? Die Berichte meines Vorgängers, die ich bis jetzt durchgelesen habe, sind nicht besonders … aussagekräftig.«

»Ach ja, der gute alte Bran und seine Berichte.« Chaniel schüttelte den Kopf. »Es wundert mich, dass er überhaupt welche verfasst hat, die länger als zwei Zeilen sind.« Er betrachtete den Mann vor sich mit schiefgelegtem Kopf. Ein kleiner Flirt vor dem Jahreswechsel wäre genau das Richtige, um seine Stimmung zu heben und ihn die Enttäuschung mit Levanyar vergessen zu lassen. Falls dieser Mensch hier dem eigenen Geschlecht zugetan war. Diese Ilarer ließen so etwas nie klar erkennen.

»Weniger Lesearbeit für mich, aber auch weniger Informationen, als mir lieb ist. Falls Ihr also irgendwann eine Stunde für mich erübrigen könnt, wäre ich überaus dankbar.« Er musterte Chaniel zum ersten Mal genauer, und dieser bildete sich ein, einen Funken Interesse in den goldbraunen Augen zu erkennen. Ein Funke, der sofort wieder erlosch, als Nevan den Blick abwandte. »Aber natürlich hat das keine Eile.«

»Morgen ist Wintersonnenwende.« Chaniel kam einen halben Schritt näher. Nahe genug, um Nevans zitronig-erdigen Geruch besser wahrzunehmen. An diesen Duft könnte er sich gewöhnen. Auch nahe genug, um in seinen persönlichen Raum zu dringen. So dicht trat er nur an Personen heran, die er gut kannte. Oder an Männer, die er ansprechend fand und näher kennenlernen wollte.

Nevan wich nicht zurück, machte sich auch nicht größer und breiter, wie Chaniel es oft an Menschen beobachtet hatte, die sich durch seine Körpergröße bedroht fühlten. Vielleicht lag es daran, dass Nevan beinahe gleich groß war und nicht fürchten musste, in einer Konfrontation der körperlich Unterlegene zu sein. Oder, was ihm als Erklärung besser gefiel, der Mensch fand den Elfen anziehend.

»Ich weiß.« Nevan runzelte die Stirn. »Deshalb ja auch diese Feier.«

»Die Sonnenwende ist gleichzeitig auch der Jahreswechsel. Ich will damit sagen, dass morgen Abend die meisten Elfen auf weiteren Festen sind oder zusammen mit ihrer Familie feiern. Es ist kaum jemand unterwegs. Da der erste Tag des neuen Jahres ein Feiertag ist, nutzen viele den morgigen Tag aus, um rauschende Feste zu feiern.«

»Und?«, meinte Nevan gedehnt und schob sich den nächsten Bissen in den Mund.

»Wie verbringt Ihr den morgigen Abend? Ich weiß nicht genau, wie die menschlichen Gepflogenheiten sind.«

Ein unübersehbarer Schatten huschte über Nevans Gesicht, und er kaute dermaßen gründlich, dass es offensichtlich war, dass er Zeit schinden wollte. »Ich werde mir die restlichen Berichte Brans zu Gemüte führen.«

»Klingt langweilig.«

»Nach der Feier heute möchte ich morgen nicht schon wieder auf einem Fest sein.«

»Zu viele Leute?«

»Ich habe nichts gegen Ruhe.«

»Keine Verpflichtungen?«

»Es gibt ein kleines Fest bei der Stadtwache, wo ich vermutlich kurz hinschauen werde.«

»Ich meinte familiärer Natur.«

Nevans Zähne gruben sich in seine Unterlippe, und er wich Chaniels Blick aus. »Nein.«

»Nun, da Ihr anscheinend am Abend mit nichts Wichtigem beschäftigt seid – und keine Angst, ich sage niemandem, dass Brans Berichte nicht wichtig sind –, könnten wir uns doch treffen.«

»Morgen?« Nevans Augen weiteten sich überrascht.

»Warum nicht? Ich lade Euch zum Essen ein.«

»Sehr großzügig von Euch, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich komme Euch gern in der KomKa besuchen, wenn Ihr Zeit für mich habt.«

»Die Sache ist die …« Chaniels Blick wanderte zu der Gruppe Polizisten, die er vorhin verlassen hatte. »Ich habe eine Tischreservierung für morgen Abend und keine Begleitung. Es wäre eine Schande, sie verfallen zu lassen.«

»Ihr kennt doch sicher jemanden, der Euch mit Freuden begleiten möchte.«

»Ich hätte aber gerne Euch dabei.« Chaniel neigte leicht den Kopf und setzte sein charmantestes Lächeln auf.

Nevans Wangen gewannen an Farbe, was auch die Bartstoppeln nicht verbergen konnten. »Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich würde es bevorzugen, Euch auf dem Revier zu treffen.«

»Es ist das beste Lokal von ganz Neygara. Man muss mindestens vier Monate im Voraus reservieren, um an so einem Tag einen Platz zu bekommen.« Oder dem Besitzer einen Gefallen erwiesen haben, der mit dem Schmuggel von Trüffeln zu tun hatte. Seitdem reichte es, wenn Chaniel fünf Wochen vorher Bescheid gab. Fünf Tage wären ihm lieber gewiesen, aber dafür musste er wohl noch einmal dem Wirt der Schönen Aussicht in Verbindung mit einer Schmugglerbande bringen und dann vergessen, es in seinem Bericht zu erwähnen.

»Dann würde ich mich umso schuldbewusster fühlen, einem Eurer Freunde diesen Platz weggenommen zu haben.«

»Bitte.« Chaniel schob sich so nahe an ihn heran, dass sich ihre Schultern fast berührten. »Ich möchte dort nicht allein essen. Ihr macht den Eindruck, als wärt Ihr eine angenehme Gesellschaft. Und als könntet Ihr morgen selbst etwas Ablenkung brauchen.«

Nevan wich noch immer nicht zurück, strich sich nur die lockigen Strähnen aus den Augen und balancierte Teller und Gabel in der anderen Hand. Sein Blick ruhte auf Chaniel, maß seine ganze Gestalt, und jetzt war sich der Elf sicher, Interesse in diesen hübschen Augen zu lesen. Interesse, das mit seiner Person und nicht mit seinem Beruf zu tun hatte.

Chaniel senkte die Stimme. »Ich versichere Euch, dass ich nicht beiße.« Er ließ seine Zähne in einem offenen Lächeln aufblitzen. »Außer, Ihr bittet mich darum.«

Nevans Wangen röteten sich deutlicher. Er machte einen Schritt zur Seite, an der Tischkante entlang, und räusperte sich. »Seid Ihr sicher, dass Ihr mit einem Menschen dort gesehen werden wollt?«

Chaniels Lächeln wurde zu einem zufriedenen Grinsen. »Ich hole Euch um sieben Uhr ab. Wo wohnt Ihr?«

Nevan griff in eine kleine Gürteltasche und holte eine Karte aus steifem Papier hervor. »Ich bekam einen ganzen Stapel von diesen hier, kaum dass ich mich bei meinem Vorgesetzten vorstellte.« Er hielt Chaniel die Karte entgegen. »Ich wusste nicht, dass ich sie dauernd hergeben muss oder danach gefragt werde.«

»Wir Elfen wollen uns nicht alles merken müssen und finden solche Kärtchen praktisch.« Es war eine offizielle Karte der ilarischen Stadtwache, auf der Rang, Name und Adresse des Büros verzeichnet waren. Auf die Rückseite hatte Nevan seine Privatadresse geschrieben. »Danke.«

»Ich danke für die Einladung.« Nevans Mundwinkel schoben sich langsam nach oben, und zum ersten Mal an diesem Abend lächelte er Chaniel offen an. Verhalten, fast schüchtern, aber es war ein Anfang.

 

Der Sturm in meiner Nacht

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

 

Die Luft roch nach Magie und Schnee, als Levanyar die Stufen zum Hauptgebäude der KomKa hochstieg. Er hoffte, heute nichts von beidem zu erleben, aber zumindest dem Schnee würde er kaum entgehen können.

Mit einem lautlosen Seufzen zog er die schwere Eingangstür auf. Vor einer Woche hatte er noch auf ein wenig persönliche Magie am morgigen Abend gehofft. Die Magie, die zwischen zwei Elfen entstand, wenn sie sich näherkamen.

Tja, vor einer Woche hatte er noch eine Beziehung gehabt. Jetzt war er wieder zu haben. Eine Tatsache, mit der er sich noch arrangieren musste. Er hatte sich die Wintersonnenwende und damit den Jahreswechsel anders vorgestellt. Vor allem weniger einsam.

Die Laternen brannten um diese frühe Stunde weiterhin in den Straßen und auf dem großen Platz vor dem Revier, auf dem erst drei Droschken auf Kundschaft warteten. Zwei davon gehörten der KomKa selbst, und wenn er Pech hatte, würde er bald in einer davon sitzen, auch wenn er heute einen ruhigen Tag im Innendienst bevorzugt hätte.

Das magische Licht strahlte seinen gelben Schein durch die Glaswände der Lampen und verbreitete auch den eigentümlich scharfen Geruch, der nachts Neygara durchzog. Selbst die Menschen hatten es auf ihrer Seite der Stadt geschafft, diese moderne Errungenschaft einzuführen. Nur die ärmeren Viertel auf der anderen Seite des Flusses verwendeten weiterhin Öllampen, die nachgefüllt werden mussten.

Der Schnee sollte spätestens am Nachmittag kommen. Man musste kein Wetterprophet sein, um das riechen zu können. Das Pflaster der Straßen war feucht wie beinahe jede Nacht im Winter, wenn Nebel durch die Gassen zog. Letzte Woche hatte es zwischen dem Regen nur für ein paar Flocken gereicht, doch jetzt so kurz vor dem Jahreswechsel war es kalt genug, dass beim nächsten Niederschlag Schnee erwartet wurde. Und wenn es nach Levanyars Nase ging, war das irgendwann heute der Fall.

Die Tür fiel hinter ihm zu und sperrte den Großteil der Kälte aus. Die Vorhalle wurde nicht beheizt, doch die Wärme aus den mit Öfen versehenen Zimmern reichte aus, um auch hier den Winter nach draußen zu verbannen.

Levanyar ging die Treppe in den ersten Stock hoch, wo sein Büro lag. Morgen war Wintersonnenwende und damit Jahreswechsel in Sagara, was bedeutete, dass übermorgen der erste Tag des neuen Jahres und somit ein offizieller Feiertag war. Ein zusätzlicher freier Tag, den sie nach der Feier heute Abend brauchen würden. Auch wenn er sich geschworen hatte, nicht so lange wie im letzten Jahr zu bleiben, als er erst bei Morgendämmerung heimgewankt war. Und bedeutend weniger zu trinken.

So früh am Morgen waren noch nicht allzu viele seiner Kollegen auf dem Revier. Die Nachtschicht bereitete sich auf ihr Dienstende vor, und er grüßte im Vorbeigehen einige der Polizisten, die ihre Sachen zusammenpackten oder letzte Hand an die unvermeidlichen Berichte legten.

Sein Büro lag weit hinten in dem langen breiten Korridor, was für gewöhnlich herrliche Ruhe bedeutete. Die Verhörräume waren in einem anderen Trakt untergebracht, und die Besucher mussten hinter einer Schranke im Flur warten. Damit fielen die beiden Hauptquellen für Lärm weg.

Er teilte sich das Zimmer mit seinem Partner Nataniel, der wie üblich schon vor ihm da war und ihn mit einem Winken begrüßte. Er saß hinter seinem Schreibtisch, der weniger Stapel an Akten aufwies als Levanyars. Also hatte Nat gestern Abend doch mehr aufgearbeitet als erwartet.

Wie gewöhnlich hatte Nataniel auch blendende Laune und deutete auf eine Papiertüte auf Levanyars Platz. »Morgen. Hab dir Nusstaschen mitgebracht.«

»Danke.« Levanyar hing seinen Mantel neben Nats hinter der Tür auf und schnupperte mehrmals. »Nichts zu trinken?«

»Wusste nicht, wann du kommst, und wollte nicht, dass der Kakao kalt wird. Du kannst einen auf der Fahrt trinken.«

Levanyar unterdrückte in letzter Sekunde ein Ächzen. Er wollte nicht, dass der Leutnant ihn hörte, an dem er im Korridor vorbeigekommen war. »Müssen wir heute wirklich raus?«

»Die Nachtschicht hat einen neuen Zeugen im Mordfall Bellheim ausfindig gemacht. Den dürfen wir befragen.« Nataniel strich sich eine der langen Strähnen zurück, die ihm über die Augen fielen. Levanyar hatte keine Ahnung, wie Nat das aushielt, dauernd Haare im Gesicht zu haben. Er musste aber zugeben, dass ihm die neue Frisur stand: an den Seiten kurz, oben so lang, dass ihm die dunklen Strähnen bis zur Nase reichten, wenn er sie nicht zurückkämmte.

»Wenn sie schon so fleißig waren, warum haben sie ihn dann nicht gleich mitgenommen?« Er trat zu Nats Schreibtisch, der ihm wortlos die Faust entgegenstreckte. Levanyar drückte seine dagegen und warf einen Blick auf die Bellheim-Akte, die aufgeschlagen vor Nat lag.

»Weil sie die Dame nicht gefunden haben. Das ist unsere Aufgabe.« Ganz und gar nicht üblich war das breite Grinsen, das Nataniel im Gesicht hatte. Sicher, er war meistens gut drauf und es brauchte schon besondere Umstände, um sein sonniges Gemüt zum Verschwinden zu bringen, aber dermaßen freudestrahlend? Um diese Uhrzeit? Das sah nicht mal Nat ähnlich.

Levanyar ließ sich auf seinen Stuhl fallen, schob die verführerisch duftende Tüte beiseite und zog den ersten Aktenumschlag vom Stapel. »Wann müssen wir los?«

»Ich hab den Wagen für acht bestellt.«

»Wie rücksichtsvoll. Warum nicht gleich jetzt?«

»Weil der Leutnant noch irgendwas wegen der Feier verkünden will. Vermutlich seine übliche Ansprache von wegen viel Spaß, esst viel, trinkt wenig und zeugt keine Kinder in meinen Räumlichkeiten.« Nataniel zuckte mit den Schultern und sah weiterhin entschieden zu fröhlich aus.

Levanyars Blick fiel auf einen Samtbeutel, der mitten auf Nats Tisch stand und nicht zur üblichen Ausstattung gehörte. Und der ihm irgendwie bekannt vorkam. Dunkelgrün, mit einer roten Kordel. »Woher kenne ich das Teil?«

»Das?« Nataniel beugte sich vor und hob den Beutel hoch. So, wie er die Hand hielt, war der Inhalt schwer. Etwas klimperte in seinem Inneren. »Das ist mein Gewinn.« Er drehte ihn, sodass Levanyar das eingestickte Symbol erkannte, ebenfalls rot, und ihn zuordnen konnte.

»Das stammt von einer unserer Wetten.« Fragte sich nur, von welcher. Auf dem Revier liefen Wetten auf so ziemlich alles. Wer in welchem Zeitraum die meisten Fälle abschloss, wer die meisten Verhaftungen in einem Jahr vorwies, wie oft im Monat der Leutnant einen Tobsuchtsanfall bekam und wie lange gewisse Beziehungen hielten. Und Nataniel machte bei so ziemlich allen mit. »Welche?«

»Graycen ist zurück.«

Levanyars Augenbrauen schossen in die Höhe. Alle beide. Sein Kollege war der Grund für einige dieser Wetten, und diejenige, die Levanyar als erstes einfiel, war diejenige, von der er nicht wollte, dass Graycen sie verlor. »Aus Belago? Seit wann?«

»Gestern Nacht.« Nataniels Grinsen wurde noch breiter, was kaum möglich schien. Und Levanyar irgendwie beruhigte. Sein Partner würde sich nicht so freuen, wenn Graycen seine Beziehung zu diesem Menschen beendet hatte. Außerdem hatte Nat, soweit sich Levanyar erinnerte, darauf gesetzt, dass die beiden es mindestens vier Jahre miteinander aushielten, und Graycen hatte gerade mal die Hälfte der Zeit geschafft.

»Oh komm schon, Nat.« Levanyar rieb sich den Nacken. Es war zu früh für Ratespiele, besonders, wenn sie Graycen betrafen, dem er mehr Wertschätzung entgegenbrachte als den meisten anderen Kollegen. »Lass mich nicht raten.«

Nataniel stellte den Beutel wieder ab. »Spielverderber. Er hat verloren.«

»Graycen hat was verloren?«

»Er hat einen Kampf verloren.«

Levanyar sagte nichts darauf, starrte Nataniel nur ungläubig an. Er erinnerte sich an diese Wette. Wann Graycen auf jemanden traf, der ihm überlegen war. Anscheinend hatte er sich mit jemanden angelegt, der ihn tatsächlich geschlagen hatte. Immerhin schien er noch zu leben, um davon berichten zu können.

Nat deutete mit dem Kinn nach nebenan. »Er ist in seinem Büro.«

Levanyar stand auf. Das musste er mit eigenen Augen sehen. »Abfahrt um acht?«

»Ja. Und glaub nicht, dass du dich vor der Ansprache drücken kannst. Ich erfinde nicht schon wieder eine Ausrede für dich.«

Levanyar schnaubte leise und griff sich die Papiertüte. Die Akten konnten warten. Zuerst musste er erfahren, gegen welche Horde an schwer bewaffneten Kriegern Graycen angetreten war.

 

* * *

 

Graycens Büro lag ein Zimmer weiter auf der anderen Seite des Korridors, und wie üblich stand die Tür offen. Levanyar blieb im Türrahmen stehen und klopfte leise.

Graycen hob nicht den Kopf, sondern nur den Blick, nickte ihm zu und schrieb weiter auf einem Blatt Papier. Dem offiziellen Wappen nach zu urteilen arbeitete er an einem Bericht für die KomKa. »Komm rein.«

Levanyar schlenderte näher und versuchte, an Graycens langen Haaren vorbeizusehen, die ihm über die Schulter nach vorne fielen und einen Teil seines Gesichts verdeckten. Er deutete auf den leeren Schreibtisch, der näher bei der Tür stand. »Wo ist Nia?«

»Noch nicht da. Müsste aber gleich kommen.« Die Feder kratzte kaum hörbar übers Papier. »Ich hoffe, er bringt mir Tee mit.«

Levanyar hielt ihm die Tüte hin. »Ich hab Nusstaschen hier, falls du eine magst.«

»Nein, danke.« Graycen streckte ihm die Faust entgegen, ohne aufzublicken, und Levanyar drückte seine in ihrer üblichen Form der Begrüßung dagegen.

»Kein Hunger?« Er beugte sich halb über den Schreibtisch. Irgendetwas war mit Graycens Gesicht passiert war, so viel konnte er erkennen, aber nicht genau, was.

»Nein. Was willst du?«

»Was wohl? Wissen, wie’s dir geht.«

Mit einem Seufzen legte Graycen die Feder beiseite und schob seinen Stuhl zurück. »Tust du nicht. Du willst sehen, warum Nat gewonnen hat.«

»Darf ich mir keine Sorgen machen?«

»Oh bitte, Van, lass die Glucke im Stall.« Er hob den Kopf und strich sich die Haare hinters Ohr, was Levanyar endlich einen ausgezeichneten Blick auf Graycens Gesicht einbrachte.

»Autsch.« Es war offensichtlich, dass sein Kollege in eine Schlägerei verwickelt gewesen war. Hautabschürfungen, eine aufgeplatzte Lippe, ein blaues Auge – allerdings schienen die ärgsten Schwellungen schon zurückgegangen zu sein, und der blau-violette Bluterguss zwischen Wange und Auge wies bereits einen grünlichen Rand auf. »Wer hat dich erwischt?«

»Rangal.«

»Und?«

»Was und?«

»Wer noch?« Es war klar gewesen, dass Graycen irgendwann einmal auf jemanden treffen würde, der ihm im Kampf überlegen war. Levanyar hatte nur gehofft, dass er dann zur Stelle war, um ihm zu helfen. Es war lange her, dass sie ein Paar gewesen waren, aber das hieß nicht, dass er ihn nicht weiterhin verdammt gern hatte. Graycen gehörte weiterhin zu seinen besten Freunden, das war vor ihrer Beziehung schon so gewesen und daran hatte sich zum Glück auch danach nichts geändert.

»Nur er.«

»Einer? Das hat ein einziger Mann angestellt?« Das erstaunte Levanyar jetzt doch. »Warst du abgelenkt?«

»Nein.« Graycen verdrehte die Augen. »Warum fragt mich das jeder? Er war einfach schneller und besser. Kommt vor. Ich bin gut, aber nicht unbesiegbar.«

»Aber ihr habt ihn geschnappt?«

»Ja. Er sitzt bereits in Haft.« Er deutete mit dem Kinn zur Tür. »Nia erzählt dir gern die ganze Geschichte in allen Einzelheiten.«

»Du nicht?«

»War keine meiner rühmlichsten Taten. Er wäre uns fast entwischt, und als ich ihn endlich gestellt hatte, hat er mit mir den Boden aufgewischt.«

Levanyar platzierte sein Gesäß auf der Tischkante und sah auf Graycen hinab. »Hauptsache, ihr seid am Ende die Sieger gewesen. Hat Nia auch was abgekriegt?«

Graycen schüttelte den Kopf. »Ich war ein paar Minuten allein mit Rangal. Als Nia uns einholte, gelang es uns endlich, ihn zu überwältigen. Hätte sonst wohl kein gutes Ende für mich genommen.« Er tastete nach seinem Jochbein und verzog das Gesicht. »Ich hatte vergessen, wie scheußlich weh Schläge ins Gesicht tun.«

»Ich sag dir das nicht gern, aber du siehst echt furchtbar aus. Warum hast du dir nicht frei genommen?«

Graycen hob eine Augenbraue zu einem schräggestellten Balken. »Und den Leutnant auf meinen Bericht warten lassen? Der kommt doch schon vor Spannung um. Ich will mir sein Gezeter nicht anhören, wenn ich nach einem Einsatz eine Pause brauche. Ich konnte mich auf dem Weg hierher erholen, das muss reichen.«

Das bezweifelte Levanyar. Der Weg nach Belago dauerte zu Pferd drei oder vier Tage, momentan eher fünf, und es war ein Wunder, dass sie bei den winterlichen Straßenverhältnissen nicht eine Woche oder länger gebraucht hatten. »Dann mach wenigstens früh Schluss.«

Graycen hob die Arme über den Kopf, streckte sich und hielt mitten in der Bewegung inne. Sein Gesicht verzerrte sich für einen Moment vor Schmerz, ehe er die Arme wieder senkte. »Geht nicht. Am Abend ist die Feier.«

»Sie werden deine Abwesenheit verkraften. Was ist?«

»Hm?« Graycen sah ihn fragend an.

»Wo bist du noch verletzt?« Levanyar konnte die Gedanken in Graycens Kopf förmlich sehen: Soll ich es abstreiten? Kann ich ihn erfolgreich anlügen? Wie groß sind meine Chancen, dass ich damit durchkomme? Er wollte dieser Diskussion zuvorkommen. »Vergiss nicht, ich kenne dich gut.«

»Erschreckend gut.« Graycen rollte vorsichtig mit einer Schulter, anstatt zu versuchen, sich erneut zu strecken. »Rangal hat mir ein paar Rippen gebrochen.«

»Oh Scheiße. Und du bist trotzdem hergeritten?«

»Es sind meine Rippen. Ich muss nicht darauf laufen oder sitzen.» Er seufzte wieder schwer. »War keine schöne Reise.«

»Ein Grund mehr, nicht zur Feier zu kommen. Der Leutnant wird es verschmerzen, wenn du einmal nicht dabei bist.«

»Er schon, aber Will nicht.«

»Ach, ihr trefft euch hier?«

»Er hat vorher einen Auftritt und kommt danach her.«

»Hol ihn doch ab, dann könnt ihr gleich nach Hause.« Levanyar griff in die Papiertüte und holte eine Nusstasche heraus. »Willst du wirklich keine?«

Graycen schüttelte den Kopf. »Hab keinen Hunger. Und das mit dem Abholen ist eine schlechte Idee, weil wir dann sicher bei ihm landen.«

»Was ist daran schlecht? Er hat doch ein nettes Haus.«

»Ich hab morgen die Feier bei meinen Eltern und muss dort in aller Frühe antanzen, noch vor dem Dienst. Also werde ich nach … ähm … Wills Begrüßung in meine eigene Wohnung fahren. Muss noch meine Festtagskleidung raussuchen.«

»Du kannst ruhig sagen, dass ihr Sex haben werdet.« Levanyar grinste ihn anzüglich an. »Ich habe nichts anderes erwartet. Schließlich habt ihr euch wochenlang nicht gesehen. Das ist die Wiedersehensfreude sicher groß.«

»Vermutlich«, antwortete Graycen kurzangebunden und griff wieder nach der Feder.

»Klingt nicht begeistert.«

»Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen.«

»Aber?«

»Oh Götter, Van, lass mich einfach in Ruhe.« Graycen warf ihm einen missmutigen Blick zu und tauchte die Feder in die Tinte.

»Angst vor dem Streit, den ihr sicher haben werdet, wenn Willard mitkriegt, dass du nicht bei ihm bleibst?«

»Hab ich dir schon mal gesagt, dass ich es hasse, dass du mich so gut kennst?« Er legte die Feder beiseite und starrte auf das Blatt Papier vor sich.

»Mehrmals.« Levanyar biss in die Nusstasche, und das Aroma von Äpfeln, Walnüssen, Zimt und Gewürznelken stieg ihm in die Nase. Der Geschmack des Winters. »Gibt’s auch Tage, an denen ihr nicht streitet?«

»Wir streiten nicht oft.«

»Weil ihr euch so selten seht.«

Graycen barg den Kopf in Händen und stöhnte verhalten. »Van«, kam es gedämpft zwischen seinen Fingern hervor, »gehst du bitte? Ich bin wirklich nicht in Stimmung, mir von dir erklären zu lassen, was alles in meiner Beziehung falsch läuft.«

»Wusste nicht, dass was falsch läuft.« Levanyar knabberte an der Nussfüllung herum und dachte nicht daran zu verschwinden. Er hatte Graycen drei Wochen lang nicht gesehen, da würde es doch wohl erlaubt sein, sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

Graycen hob den Kopf, und der Ausdruck in seinen Augen gefiel Levanyar nicht. Da war nichts von der Lebensfreude und dem Witz zu sehen, die er sonst von seinem Freund kannte. Er sah einfach nur entsetzlich müde aus. »Was ist mit dir?«

»Mir geht’s gut.« Levanyar zuckte mit einer Schulter. »Hier war das Übliche los – Leute werden ermordet und ausgeraubt, und wir tun unser Bestes, die Schuldigen zu finden. Du hast nichts verpasst.«

»Wie geht’s Chaniel?«

Levanyar kaute bedächtig auf seinem Bissen herum. Wenn er Graycen einweihte, blieb ihm nichts anderes übrig, als es auch Nataniel zu sagen, und darauf hatte er bislang keine Lust gehabt. Nicht, weil er sein Privatleben so streng privat hielt, sondern weil Nat immer Details wissen wollte. Er war sich nicht sicher, ob er schon darüber reden wollte.

Andererseits hatte er keine andere Wahl, als Nat bald einzuweihen, außer er wollte morgen die Sonnenwende alleine verbringen.

»Gut. Nehme ich an.« Er neigte den Kopf und betrachtete Graycens Gesicht. Abgesehen von den Verletzungen war er ungewöhnlich blass. Lag vermutlich am Schlafmangel. »Wir treffen uns nicht mehr.«

Graycens linke Augenbraue kletterte langsam hoch. »Ich dachte, es läuft gut?«

»Gut reicht eben nicht immer.«

»Was ist passiert?«

»Unterschiedliche Interessen.«

»Vor vier Wochen klang das noch ganz anders. Da hast du davon geschwärmt, dass ihr so viel gemeinsam habt.«

»Haben wir auch. Nur nicht im Bett.«

Jetzt begab sich auch Graycens zweite Augenbraue Richtung Haaransatz. »Oh. Nicht kompatibel?«

»Nicht auf lange Sicht.« Levanyar verkniff sich ein Seufzen und schob sich mehr von der Nusstasche in den Mund. Er mochte Chaniel sehr und hätte nichts dagegen gehabt, ihn weiter zu treffen und ihre Bekanntschaft zu vertiefen, aber es sollte nicht sein. Er stand einfach nicht drauf, im Bett auf eine Rolle festgelegt zu werden.

»Willst du morgen zu mir kommen?«

»Du meinst zur Feier deiner Familie?«

»Ich weiß, ist nicht ideal, aber es wäre eine Alternative. Du wolltest doch mit Chaniel feiern. Dann wärst du nicht allein.« Graycen biss sich auf die Lippe, und einen Moment lang wurde er noch blasser. »Scheiße.«

»Ist schon gut, ich komme nicht vor Einsamkeit um.«

»Ich will die Einladung nicht zurücknehmen, aber …« Graycen strich sich die Haare zurück, wodurch die schillernden Farben neben und unterhalb seines Auges noch mehr zur Geltung kamen. Levanyar hatte das dringende Bedürfnis, ihn in eine Droschke zu verfrachten und nach Hause zu schicken. Er sah einfach beschissen aus, und vermutlich fühlte er sich auch so.

»Aber du tust es doch?«

»Ich weiß, dass meine Eltern begeistert wären. Sie mögen dich. Aber es könnte das falsche Signal senden. Ich will ihnen keine Hoffnung machen, dass wir wieder zusammenkommen.«

Levanyar schluckte den letzten Rest des Gebäcks hinunter. Graycens Brauen zogen sich zusammen, zwei pechschwarze Balken, die jetzt fast wie eine durchgehende Linie erschienen. Seine Lippen bildeten nur mehr einen schmalen Strich, und sein Blick war so düster, dass Levanyar beinahe ein schlechtes Gewissen hatte. Was idiotisch war. Er konnte nichts dafür, dass Graycen sich einen Menschen als Partner ausgesucht hatte.

»Aber Willard mögen sie nicht«, stellte Levanyar fest, und Graycen nickte nur schwach. »Sie haben ihn nicht eingeladen?«

»Nein.«

»Kannst du ihn nicht …?«

»Nein.«

»Du hast recht. Das ist Scheiße.«

»Ja.«

»Mach dir keine Sorgen, ich komme nicht. Ich frage Nat, ob er mich wieder mitnimmt.« Levanyar knüllte die Papiertüte zusammen und versenkte sie im Mülleimer, der zwischen den beiden Schreibtischen stand. »Dann will ich dich nicht weiter beim Schreiben dieser ach so wichtigen Berichte stören.«

»Wichtig ist Ansichtssache. Der Leutnant hält sie für immens wichtig. Ich halte sie für Zeitverschwendung.«

Levanyar klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. »Immerhin sitzt du schön brav am Schreibtisch und rennst nicht in der Kälte herum.«

»Wäre mir lieber als diese ewigen Schreibarbeiten.«

»So wie du aussiehst, hast du schon Mühe, die Feder zu halten.«

»Raus hier.«

Er hob beide Hände. »Bin schon weg. Falls wir uns nicht mehr sehen – ich wünsche dir eine schöne Sonnenwende.«

»Warum sollten wir uns nicht mehr sehen?«

»Weil ein kluger Mann nach der Arbeit heimfahren und sich ausruhen würde, anstatt auf einer Feier rumzuhängen.« Er kniff die Augen zusammen. »Irgendwie siehst du krank aus. Hast du eine Erkältung?«

»Nein, kein Schnupfen. Gar nichts.«

»Kopfschmerzen?«

»Natürlich.« Er deutete auf den Aktenstapel zu seiner Linken. »Die sollte ich alle heute noch aufarbeiten. Allein der Gedanke bringt meinen Schädel zum Brummen.«

»Rückenschmerzen?«

»Ich habe mir die Rippen gebrochen. Natürlich tut auch mein Rücken weh.«

»Gliederschmerzen?«

»Was soll der Scheiß? Du bist kein Heiler, also frag mich nicht aus. Das hat Nat schon erledigt, und der hat dazu mehr Berechtigung als du.«

»Und der hätte dich sicher ins Bett gesteckt, wenn er als Heiler arbeiten würde.«

»Tja, sein Pech, dass er zur Polizei ging.« Graycen winkte ihn mit einer Hand hinaus und fing wieder zu schreiben an.

Levanyar traf beim Hinausgehen Niamat, der ihm mit zwei dampfenden Bechern Tee entgegenkam. Das erinnerte ihn daran, dass er noch immer keinen Kakao gehabt hatte. Er musste schnell hinunter auf die Straße, wo sicher schon Hanny seinen Stand aufgemacht hatte. Wie sonst sollte er die Ansprache des Leutnants durchstehen, wenn nicht mit einem heißen süßen Getränk in der Hand?

Seufzend hielt er auf die Treppe zu. Anscheinend war das alles, was ihm dieses Jahr an heißen süßen Dingen vergönnt war. Wieder einmal war eine Beziehung im Sande verlaufen, noch ehe sie richtig begonnen hatte.

Seit der Trennung von Graycen waren vier Jahre vergangen, und in der Zeit hatte er etliche Verabredungen und ein paar Affären gehabt, aber nichts, was auch nur länger als zwei Monate gehalten hätte.

Langsam bezweifelte er, dass er jemals einen Partner finden würde, der es länger mit ihm aushielt. Es half auch nicht, dass er dabei zusehen durfte, wie Graycen mit jeder Woche, in der er mit Willard zusammen war, aufblühte und vor Glück förmlich überging.

Mit einem schmalen Lächeln auf den Lippen stieg er die Stufen hinunter. Und dann gab es natürlich die unvermeidliche Krise zwischen seinem Ex-Freund und dessen Liebhaber, also ganz so reibungslos, wie es manchmal den Anschein hatte, war ihre Beziehung auch nicht.

Er freute sich für die beiden, auch wenn er sich eher seinen Dolch in den Bauch gerammt hätte, als das gegenüber Willard zuzugeben. Solange der Magier weiterhin so arrogant auftrat, solange würde Levanyar ihm das mit gleicher Münze heimzahlen.

Ach, irgendwann würde er schon den perfekten Mann finden, mit dem er sein Leben teilen konnte. Immerhin hatte er in Nataniel den perfekten Partner für die Arbeit und den besten Freund, den man sich wünschen konnte. Dadurch ließ sich die Einsamkeit, die ihn manchmal an freien Abenden überfiel, besser aushalten. Er hatte immer Nat zum Reden, zum Ausgehen und um zusammen einfach Spaß zu haben.

Manchmal fragte er sich, ob sich das ändern würde, wenn einer von ihnen langfristig vergeben war, aber er konnte es sich nicht vorstellen. Sie kannten sich schon so lange. Eine solche Freundschaft wurde nicht durch Partnerschaften mit anderen Leuten zerstört. Da mussten schon ganz andere Dinge passieren, und Levanyar würde alles tun, damit der Fall nie eintrat.

 

* * *

 

Wer auch immer diesen Becher, der Getränke warm hielt, erfunden hatte, hatte Levanyars ewige Dankbarkeit. Er nippte an seinem Kakao und bedauerte nur, dass er seine Finger nicht an dem dickwandigen Behälter wärmen konnte, weil dieser keine Hitze nach draußen abgab.

Immerhin war es im Inneren der Droschke nicht so kalt wie im Freien, aber viel Unterschied bestand nicht. Er sah zu Nataniel hinüber, der ihm gegenüber saß und seinen Schal bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Nat hasste den Winter mit Leidenschaft, auch wenn er sich bemühte, nicht allzu sehr darüber zu jammern.

»Wegen morgen …« fing Levanyar an und überlegte, wie er sich am geschicktesten selbst einladen konnte. Nat hatte sicher nichts dagegen, ihn wieder mit zu seiner Familie zu nehmen, wie in den vergangenen Jahren, aber es würde Fragen aufwerfen. Fragen, die er auf keinen Fall beantworten wollte. Es gab Grenzen, wie viel er vom Sex mit anderen Männern erzählte, bester Freund hin oder her.

Nataniel hatte da weniger Bedenken und plauderte hemmungslos über seine Eroberungen, manchmal so viel, dass Levanyar ihn bremsen musste. So genau wollte er gar nicht wissen, mit wem es Nat wie getrieben hatte. Das beschwor Bilder herauf, die er nicht sehen wollte. Weil er dann daran dachte, dass Nataniel nicht nur sein bester Freund, sondern auch ein überaus attraktiver Mann war. Und dieser Gedanke gehörte im Keim erstickt.

»Was ist mit morgen?«, fragte Nat, als Levanyar nicht weiterredete.

»Du bist bei deiner Familie?«

»Meine Schwester hat wieder die halbe Verwandtschaft eingeladen. Ihr Mann kocht wie üblich, also werde ich mich morgen Abend hoffnungslos überfressen.« Er kniff die Augen zusammen und nahm einen Schluck aus seinem Becher. Im Winter hatte er ihn fast immer dabei, wenn sie unterwegs waren, und zusätzlich eine dieser schicken Thermosflaschen, in denen sein Tee einen halben Tag lang heiß blieb.

An Nats letztem Geburtstag hatte er Levanyar diesen Thermosbecher geschenkt, für den er an Tagen wie diesen überaus dankbar war. Seitdem fragte er sich, wie er sich an seinem eigenen Geburtstag revanchieren sollte. Vielleicht wäre es doch nicht so verkehrt, den menschlichen Brauch einzuführen, dass derjenige, der Geburtstag hatte, beschenkt wurde, und nicht umgekehrt, dann hätte Levanyar etwas Zeit gewonnen.

Er schnaubte lautlos. Soweit kam’s noch, dass er Bräuche der Menschen für gut befand.

»Warum fragst du? Soll ich dir was vom Dessert aufheben? Mattesar macht Baumkuchen, Sterntaler und belagische Birne, die er sicher wieder in Rotwein ersäuft.«

»Klingt alles gut. Hättest du was dagegen, wenn ich mir was abhole?«

»Natürlich nicht, ist ja nicht mein Essen.« Er neigte den Kopf. »Willst du doch vorbeischauen?«

»Wenn die Einladung noch gilt … dann ja. Gerne.«

»Klar gilt sie noch. Sanni war ganz enttäuscht, als ich ihr sagte, dass du nicht kannst. Du gehörst doch praktisch zur Familie.«

»Danke. Dann bin ich morgen so gegen acht dort?«

»Komm um sieben. Du willst die Aperitifs nicht verpassen. Wir können auch gleich nach dem Dienst gemeinsam hinfahren.« Nataniel nippte wieder an seinem Tee und betrachtete Levanyar schweigend. Abwartend.

Levanyar gab mit einem Seufzen nach. »Willst du nicht wissen, warum ich meine Meinung geändert habe?«

»Natürlich will ich das wissen. Ich wollte nur nicht nachbohren.«

»Seit wann so zurückhaltend?«

Er zuckte mit den Schultern, doch seine Augen funkelten amüsiert. »Ich kann auch anders. Also, was ist passiert? Streit unter Liebenden?«

»Es gibt keine Liebenden.«

»Noch zu früh für so große Gefühle?«

»Es wird keine großen Gefühle geben.«

Das brachte Nataniel dazu, sich interessiert aufzurichten. »Mag er dich nicht? Er schien mir äußerst angetan von dir zu sein.« Für einen flüchtigen Augenblick verdüsterte sich seine Miene, dann setzte er wieder ein Lächeln auf, das seine Augen nicht erreichte. »Daran wird sich doch nicht plötzlich etwas geändert haben.«

Levanyar hatte nie begriffen, warum Nat seinen neuen Freund  – mittlerweile Ex-Freund – nicht mochte. Nataniel kam mit allen gut aus, war im ganzen Revier beliebt und verstand sich sogar mit Willard, wussten die Götter, warum. Chaniel war die einzige Ausnahme gewesen, dabei kannte er ihn kaum, weil sie in unterschiedlichen Abteilungen arbeiteten.

»Wir treffen uns nicht mehr.«

Nataniel beugte sich ruckartig vor. »Es ist aus?«

»Ja.«

Nats Augen weiteten sich, und für einen kurzen Moment erstrahlte sein ganzes Gesicht. Dann war der Augenblick vorbei, und Mitgefühl verdrängte die Freude. Ehrliches Mitgefühl, so gut kannte Levanyar ihn. Nataniel war kein besonders guter Lügner. »Seit wann?«

»Ungefähr eine Woche.« Levanyar lehnte den Kopf an die Rückwand und nahm das Rütteln der Droschke in Kauf, während er auf den unvermeidlichen Ausbruch wartete.

Der nicht kam.

Nataniel blickte ihn nur unverwandt an, motzte ihn aber nicht an. Hob nicht mal die Stimme. Sagte nur leise: »Eine Woche ist es schon her? Und du sagst es mir nicht?« Er schaute aus dem schmalen Fenster in den grauen Morgen. Wie immer gab er sich Mühe, seine Gefühle zu verbergen, und wie immer scheiterte er.

»Nat …« Levanyar drehte den Becher in beiden Händen. Er hatte ihm wehgetan, was nie seine Absicht gewesen war. Hatte nicht mal daran gedacht, dass sein Schweigen auf seinen Freund verletzend wirken konnte. War völlig damit beschäftigt gewesen, nicht über Chaniel nachzudenken. Oder darüber, warum er anscheinend keine langfristige Beziehung führen konnte.

»Was?« Jetzt schlich sich Ärger in Nats Stimme, und er drehte den Kopf zu Levanyar. »Du musst kein schlechtes Gewissen haben. Es ist alles gut.« Er zuckte mit einer Schulter. »Es ist dein Privatleben, und ich weiß, dass du selbiges gern privat hältst. Kein Grund, mit mir darüber zu reden.«

»Sarkasmus?«

»Warum sollte ich sarkastisch sein?«

Oh, und wie sarkastisch das klang. »Hör zu. Ich hab’s noch niemandem gesagt, weil ich einfach nicht darüber reden wollte.«

»Weiß es Graycen?«

»Äh, ja.«

»Also hast du mit jemanden darüber geredet.«

»Er hat mich heute Morgen nach Chaniel gefragt.«

»Und ich frage dich nicht?«

»Nicht wirklich. Wenn möglich, vermeidest du alles, was mit Chan zu tun hat. Also ist es doch gut, wenn ich ihn so wenig wie möglich erwähne. Dann musst du dich nicht über ihn aufregen. Auch wenn ich echt keine Ahnung habe, warum du ihn nicht ausstehen kannst.«

»Es liegt nicht an ihm.« Nataniel sah wieder aus dem Fenster.

»Woran dann?«

»Egal. Lassen wir das Thema. Du willst nicht darüber reden, gut, dann reden wir über was anderes. Ich glaube, es wird heute noch schneien. Was meinst du?«

Levanyar blinzelte erstaunt. Solche abrupten Themenumschwünge kannte er nicht von Nataniel. Sonst wollte er immer alles ausdiskutieren, nichts auf die lange Bank schieben. Eine der Eigenschaften, die Levanyar am meisten an ihm schätzte. »Du solltest nicht beleidigt sein.«

»Bin ich nicht.«

»Es gibt einfach Dinge, über die ich nicht gerne rede.«

»Bislang hattest du keine Probleme, mit mir über deine Beziehungen zu reden.«

»Und bislang hattest du auch mit keinem meiner Liebhaber ein Problem. Bis auf den letzten.«

»Also ist es meine Schuld, dass du mir nicht vertraust?« Nataniel sah nicht mal ansatzweise sauer aus. Sondern bestürzt.

»Es liegt nicht an dir.« Levanyar rollte mit den Augen. »Was haben sie dir heute in den Tee getan? Es ist vorbei, ich will nicht darüber reden, und wir haben einen langen anstrengenden Tag vor uns. Könnten wir das Thema sein lassen?«

»Das Gleiche habe ich dir vor zwei Minuten vorgeschlagen.«

»Dann sind wir uns einig.«

»Sind wir.«

Eine Zeitlang saßen sie schweigend in der Kutsche, die übers Pflaster schaukelte. Nataniel nahm die Finger, die in dicken Lederhandschuhen steckten, nicht von seinem Thermosbecher, auch wenn der kaum Wärme abgab. Seine Miene wechselte zu nachdenklich.

»Was kann ich tun, damit du wieder mit mir redest?«, fragte er schließlich ruhig.

»Ich rede doch mit dir. Nur eben nicht darüber.«

»Bist du dir sicher?«

»Natürlich bin ich das.« Was hatte er heute nur? Dabei lag die Feier noch Stunden entfernt, wo er so ein Verhalten auf den übermäßigen Genuss von Alkohol schieben konnte. »Nat, was ist los?«

»Was soll los sein?«

»Du bist seltsam.«

Nataniel stritt es nicht mal ab, was Levanyar jetzt wirklich Sorgen machte. Irgendetwas bekümmerte seinen Freund, sonst würde er sich nicht so Nat-untypisch verhalten. Viel zu empfindlich, viel zu grüblerisch. »Es ist nicht so … leicht gewesen, dir und Chaniel zuzusehen«, meinte er schließlich.

»Wieso nicht? Als ich mit Graycen zusammen war, hattest du keine Probleme mit ihm als meinen Freund. Auch nicht mit einem der anderen Männer, mit denen ich danach zusammen war.«

»Ich habe nur zwei davon kennengelernt.«

»Was an Chaniel regt dich so auf?«

»Es ist nicht Chaniel. Es ist … Ich bin es.«

»Du?«

»Ich habe mich verändert. Etwas hat sich verändert.«

»Was hat sich verändert?«

Nataniel betrachtete ihn seufzend. »Meine … Erwartungen.«

»Ach, findest du auf einmal, dass eine Beziehung doch nicht so übel ist, wie du immer behauptest? Ist es das? Dass du dich nach mehr als einer flüchtigen Affäre sehnst?«

»So was in der Art«, murmelte Nataniel.

»Na, ist doch wunderbar. Allerdings kein Grund, deshalb auf Chaniel eifersüchtig zu sein. Der kann nichts dafür, dass er etwas hat, was du gerne hättest. Hatte«, verbesserte er sich nach einem Moment.

Nataniels Blick spiegelte für einen Moment Schmerz wider. Reinen, echten, tiefsitzenden Schmerz.

Levanyar runzelte die Stirn. Was hatte er jetzt schon wieder gesagt? Bevor er dazu kam, seinen Partner zu fragen, was ihn sonst noch quälte, kam die Droschke mit einem Ruck zum Stillstand.

»Dann machen wir uns mal an die Arbeit.« Nataniel griff gleichzeitig mit Levanyar nach der Tür, und seine behandschuhten Finger landeten auf Levanyars Hand. Er zog sie nicht zurück, sondern starrte nur drauf, als hätte er noch nie eine Hand auf einem Türgriff gesehen.

»Nat?« Was in Lafennyas Namen war heute nur in ihn gefahren? Als wäre sein Verstand auf dem Revier zurückgeblieben.

»Wie? Oh. Ja.« Nat zog seine Hand zurück und wartete, bis Levanyar die Tür geöffnet hatte.

Levanyar würde am Abend ein Auge auf ihn haben, damit sich keine Katastrophen ereigneten. Und bis dahin versuchen herauszufinden, was mit Nataniel los war.

 

Meine Liebe ist wie der Winterstern

 

 

Kapitel 1

Kapitel 1

 

 

Willard hasste Winter im Allgemeinen und Kälte im Besonderen, doch heute Abend nahm er das schlechte Wetter kaum wahr. Pure, den ganzen Tag über vor seinen Kollegen sorgfältig verborgene Freude wärmte sein Inneres und ließ ihn sogar den Schnee mit einem Lächeln begrüßen.

Endlich war der Vorabend der Wintersonnenwende gekommen, was bedeutete, dass seine Zeit der Einsamkeit ein Ende hatte.

Er blieb in der Empfangshalle des riesigen Gebäudes stehen, in dem die elfische Polizei untergebracht war, und schüttelte die Schneeflocken von seinem Mantel. Voller Vorfreude stieg er die Stufen in den ersten Stock der Kommission zur Aufklärung von Kapitelverbrechen hoch. Eine hochtrabende Bezeichnung für die sagarische Ermittlungsbehörde, die jeder mit KomKa abkürzte. Es war nach zehn Uhr abends, also war die Feier bereits in vollem Gange.

Mit zitternden Fingern knöpfte er im Gehen den Mantel auf. Die dünnen Lederhandschuhe halfen nicht viel gegen die Kälte, die sich in seine Knochen fraß. Seit heute Morgen schickten die Götter ohne Unterlass Schnee vom Himmel, und die damit einhergehenden niedrigen Temperaturen trugen nicht dazu bei, dass Neygara um diese Jahreszeit in seiner Gunst stieg.

Willard zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Manteltaschen. Gleich würde er sich die Finger an einem Glas Glühwein anwärmen. Er hätte dafür einen heißen elfischen Körper bevorzugt, aber das schickte sich nicht in der Öffentlichkeit. Und zuerst musste er besagten Elfen überhaupt finden.

Bei dem Gedanken an seinen Freund schoss ein Schwall Hitze durch ihn und befeuerte sein Inneres mehr, als ein Ofen es vermocht hätte. Sie hatten sich drei Wochen lang nicht gesehen, weil der Elf – sein Elf – Ermittlungen außerhalb Neygaras durchführte. Grayce war erst gestern Abend zurückgekommen, und es hatte nur zu einer kurzen Nachricht an Willard gereicht, dass ihre Verabredung für die heutige Feier noch stand.

Wenigstens blieb es bei diesem Wiedersehen, wenn Willard schon bei der tatsächlichen Wintersonnenwende morgen auf ihn verzichten musste. Diese Abfuhr stellte weiterhin einen tiefen Stachel in seiner Seite dar. Er hatte gehofft, dieses Fest im dritten Jahr ihrer Bekanntschaft endlich gemeinsam mit seinem Freund begehen zu dürfen.

Im Korridor hörte Willard die ersten Anzeichen des Trubels. Er schritt an Polizisten vorbei, die sich in kleinen Gruppen unterhielten. Sie hatten sich genau wie Willard fein gekleidet, um den Anlass zu würdigen. Niemand sprach ihn an. Wenigstens grüßten ihn ein paar mit einem Nicken.

Willard folgte dem Lärm in einen Seitengang. Am Ende des Flurs befand sich der größte Saal in diesem Trakt, und er war vollgestopft mit Leuten. Es würde eine Weile dauern, Grayce zu finden, zumal dieser nicht zu den riesigen Elfen gehörte, die alle überragten.

Willard blieb neben der Tür stehen. Ganz hinten war eine kleine Bühne aufgebaut, auf der drei Musiker spielten. Auf der linken Seite stand ein mehrere Yards langes Buffet voller Köstlichkeiten, und sein Magen knurrte prompt. Er war direkt von einer anderen Feier aufgebrochen, auf der er mit seinen magischen Illusionen für Unterhaltung gesorgt hatte, und hatte sich keine Zeit zum Essen genommen.

Die Aussicht, seinen Freund endlich wiederzusehen, hatte solche nebensächlichen Gedanken erfolgreich verdrängt. Es war schlimm genug, nicht täglich mit dem Mann zusammen sein zu können, der die wichtigste Person in seinem Leben war, aber gleich ganze drei Wochen? Es gab Zeiten, da verfluchte er Grayces Beruf.

Auf einer Seite des Saals waren Tische und Stühle aufgestellt, die allesamt belegt waren. Einige livrierte Kellner eilten mit Tabletts herum und sorgten für Getränkenachschub. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Elfen hinwegzublicken. Für einen Menschen war er ziemlich groß, für elfische Verhältnisse allerdings verdammt klein.

Ein Elf stach unter den anderen durch seine Körpergröße hervor. Levanyar, einer von Grayces Kollegen. Willard straffte seine Gestalt und hielt auf ihn zu. Selbst wenn Grayce nicht bei ihm war, sollte dieser Ermittler zumindest wissen, wo Will ihn finden konnte.

Er kam bis auf fünf Yards an die Gruppe heran, als Levanyar ihn entdeckte. Er blickte Willard direkt an, über die Köpfe der anderen Elfen hinweg, und hob das Glas zum Gruß. Was Willard erstaunte. So höflich war der Eismann ihm gegenüber sonst nicht. Im gleichen Moment entstand Bewegung an Levanyars Seite, der plötzlich ein zweites Glas in die Hand gedrückt bekam und es irritiert ansah.

Elfen wurden zur Seite geschoben, als sich ein Mann zwischen ihnen hindurchdrängte, und im nächsten Moment stand Grayce vor Willard. Er trug einen dunkelgrauen Rock samt passender Hose, darunter ein weinrotes Hemd und sah darin zum Anbeißen aus, abgesehen von …

»Hey.« Sein Freund breitete die Arme aus, und Willard stoppte mitten in der Vorwärtsbewegung.

Mit großen Augen starrte er seinen Elfen an. »Wie siehst du denn aus?«

Grayce trug die Haare offen, ein seltener Anblick, wenn er sich auf dem Revier befand, doch das konnte nicht den Zustand seines Gesichts verbergen. Eine feuerrote Schwellung blühte auf seinem Jochbein, die in der Nähe des Auges in dunkles Violett überging. Das Auge selbst war leicht geschwollen, aber zumindest offen. Seine Unterlippe schien aufgeplatzt gewesen zu sein, denn Reste einer blutigen Kruste waren darauf zu sehen. Sogar sein Kiefer wies zwei blaue Flecken auf.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Grayce lächelte Willard trotz seiner sarkastischen Worte an, was eine grotesk einseitige Mimik wurde. Seine geschwollene Gesichtshälfte spielte nicht so recht mit.

»Was ist passiert?« Willard hob eine Hand, um ihm übers Gesicht zu streicheln, und ließ sie wieder sinken. Er wollte ihm nicht wehtun. Er wollte ihn auch nicht in der Öffentlichkeit auf so intime Art berühren, um nicht den Unmut von Grayces Kollegen zu erregen. Es reichte, wenn sie hinter Wills Rücken über ihn herzogen. Willard wollte vermeiden, dass sie offen ihre Abneigung gegen ihn zum Ausdruck brachten und es in einer Schlägerei endete. Wäre nicht das erste Mal, dass Grayce ihrer beider Ehre mit seinen Fäusten verteidigte. Und heute sah er nicht so aus, als würde er dabei gewinnen.

»Kleine Unstimmigkeit bei einer Verhaftung.« Der Elf zwinkerte ihm mit dem unverletzten Auge zu. »Aber du solltest den anderen Kerl sehen. Dem geht's noch viel schlechter.«

»Der andere Kerl ist mir egal.« Er trat dicht an ihn heran und inspizierte sein Gesicht. Durch die roten Schwellungen fiel Grayces ungewohnte Blässe umso mehr auf. Selbst im Winter hatte er hellbraune Haut, die sich im Sommer zu einem Bronzeton verdunkelte. Jetzt sah er eher so aus wie Willard im Hochsommer, was bei Grayce einfach nur ungesund wirkte. »Wo bist du noch verletzt?«

»Nirgends. Er hat nur mein Gesicht erwischt.«

»Du siehst nicht gut aus.«

»Danke«, erwiderte Grayce trocken. »Du schon.«

Willard hörte nicht auf, ihn zu studieren. Da war mehr passiert als nur ein kleiner Zusammenstoß mit einem gewalttätigen Verbrecher. Grayces Stirn glänzte feucht, als würde er schwitzen, und seine Augen schimmerten viel zu sehr. Das konnte unmöglich nur Wiedersehensfreude sein. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

Grayce sah ihn einen Moment schweigend an, ehe er antwortete. »Wurdest du schon mal zusammengeschlagen?«

»Nein.« Willard hatte Ohrfeigen kassiert, auch mal einen Schlag gegen den Kiefer, aber das war's dann auch schon mit seinen Erfahrungen bezüglich Prügeleien. Als Magier war es unter seiner Würde, sich auf solche primitiven Machtbekundungen einzulassen.

»Die Tage danach sind nicht besonders angenehm, weil einem alles wehtut. Aber abgesehen davon geht es mir gut. Wirklich.«

Willard hatte seine Zweifel daran, entschied aber, in der Öffentlichkeit nichts mehr zu diesem Thema zu sagen.

Grayce sah ihn fragend an. »Kriege ich eine Umarmung, oder geht das erst, wenn mein Gesicht wieder hübsch genug ist?«

»Willst du das wirklich riskieren?«

»Ich hatte eine Prügelei. Es ist nicht ansteckend.«

»Nicht das.« Willard deutete auf die umstehenden Leute und senkte die Stimme. »Sonst willst du doch auch nicht auffallen.«

»Was nur beweist, wie viel Punsch ich schon intus habe.« Er breitete die Arme aus und verzog das Gesicht.

Willard wusste genau, wie sich Schmerz auf diesen elfischen Zügen äußerte, und das war eindeutig Schmerz. Er war sich auch bewusst, dass Grayce das freiwillig nicht zugeben würde, schon gar nicht vor seinen Kollegen. Willard machte einen Schritt nach vorne und ließ sich umarmen, wobei er nicht verhindern konnte, dass er stocksteif blieb. So sehr er sich auch auf ihr Wiedersehen gefreut hatte, fielen ihm öffentliche Beweise seiner Zuneigung weiterhin schwer. Grayce schien es zu bemerken und löste sich sofort wieder von ihm.

Doch selbst dieser flüchtige Kontakt hatte gereicht, damit Willard sein Begehren niederkämpfen musste. Er wollte den Elfen berühren, an sich ziehen und festhalten. Drei Wochen ohne ihn waren eine verdammt lange Zeit gewesen.

Dennoch konnte er nicht über seinen Schatten springen und ihn hier vor allen Leuten abknutschen. Hier war er der Außenseiter, der Mensch unter all den Elfen. Grayce bekam schon genug Spott zu hören, weil er sich mit so jemandem eingelassen hatte, da wollte er den anderen Elfen nicht noch mehr Nahrung für abfällige Bemerkungen geben.

Grayce ließ das nächste halbseitige Grinsen sehen und zeigte mit dem Kinn in Richtung Buffet. »Willst du was essen?«

»Unbedingt. Kann ich irgendwo meinen Mantel abgeben?« Und kann ich irgendwo mit dir allein sein? Er seufzte lautlos und wünschte sich, die wenigen Stunden, die sie heute zusammen hatten, in intimer Zweisamkeit zu verbringen und nicht umgeben von anderen Elfen.

Und da war er wieder, der Stachel in seinen Eingeweiden, weil er die Sonnenwende morgen allein verbringen würde.

Es gab Tage, da hasste er Grayces Familie, auch wenn er sie nicht kannte. Hasste es, dass er in ihren Augen nicht gut genug für ihren Sohn war. Und er hasste es, dass das Gefühl der Unzulänglichkeit seine Wiedersehensfreude trübte.

Grayce streckte die Hand aus. »Ich kümmere mich darum. Hol dir in der Zwischenzeit was von dem Schokokuchen. Falls keiner mehr da ist: Hinter dem Tisch steht eine braunhaarige Elfe. Sag deinen Namen, und sie zaubert dir ein Stück auf den Teller.«

»Du hast mir ein Stück reserviert?« Der Mann musste ihn wirklich lieben. Und kannte ihn verdammt gut.

»Zwei Stücke.« Er nahm Wills Mantel entgegen und verschwand in der Menge.

 

* * *

 

Grayce deponierte den Mantel auf dem Berg an Kleidungsstücken, die sich auf den beiden Schreibtischen und einigen Sesseln in dem Büro türmten, das als Garderobe diente.

Er suchte sich den Stuhl, auf dem nur zwei Umhänge lagen, und ließ sich ächzend darauf sinken. Ein Moment Ruhe, mehr brauchte er nicht. Dann würde er Will dabei zusehen, wie dieser mit Hingabe seinen Schokoladekuchen aß. Die Aussicht auf das Verzücken auf Wills Gesicht hatte ihn die letzten Stunden aufrecht gehalten.

Seine Rippen protestierten mit dem vertrauten Schmerz, der ihn schon die ganze Woche begleitete. Sein erster Gang heute früh war zum Heilmagier der Polizei gewesen, der seine drei angeknacksten Knochen zum schnelleren Zusammenwachsen brachte. Was mehr der Beruhigung von Grayces Vorgesetztem galt, als dass es eine wirkliche Erleichterung war. Selbst mit magischer Unterstützung war eine Heilung nicht innerhalb von zwei Stunden geschafft, sondern dauerte ein paar Tage.

Rangal war gut gewesen, das musste er dem Kerl lassen. Hatte sich mit Händen und Füßen und diversen anderen Körperteilen gegen seine Verhaftung gewehrt. Zum Glück nur mit einem Dolch und nicht mit einem Schwert, weil Grayce nicht wusste, ob er sonst so glimpflich davongekommen wäre.

Er strich sich mit einer vorsichtigen Bewegung die Haare nach hinten. Was für eine beschissene Woche. Genau genommen drei. Die ersten Tage nach ihrer Ankunft in Belago waren noch erträglich gewesen, wo sie meistens in Tavernen herumsaßen und Leute beobachteten. Dann schlug das Wetter um und gleichzeitig erhielten sie die ersten brauchbaren Hinweise auf den Mörder, hinter dem sie her waren. Nach einer Woche fanden sie ihn im Hinterzimmer einer Schenke, Grayce fand sich selbst mit einem Stuhl auf seiner Brust konfrontiert und befand sich gleich darauf auf der Jagd nach dem Mann.

Eine halbe Stunde lang hetzte er ihn durch halb Belago, verlor zwischendurch Niamat, seinen Partner, der das Tempo nicht mithalten konnte, bis er Rangal in einem Hinterhof stellte. Dort prügelten sie aufeinander ein, bis Niamat sie schnaufend erreichte.

Zu zweit überwältigten sie den Gesuchten und schleppten ihn den ganzen Weg zurück nach Neygara.

Der Ritt dauerte bei dem Wetter fünf statt nur drei Tage. Fünf miserable Tage, in denen er jeden Abend ein wenig Magie benutzte, um sich selbst zu heilen. Er beschränkte sich auf den tiefen Schnitt an seinem Unterarm, wo ihn Rangal mit einem Dolch erwischt hatte, und sein zugeschwollenes Auge. Zu mehr reichte seine arkane Kunst nicht.

Gestern Abend hatten sie endlich Neygara erreicht. Da blieb keine Zeit, Will zu besuchen. Aber immerhin hatte Grayce es geschafft, zur heutigen Feier auf dem Revier zu erscheinen, auch wenn er lieber im Bett läge.

Er hatte Will eingeladen, und es kam nicht in Frage, dass er ihm absagte. Es war schlimm genug, dass sie sich morgen Abend bei der Sonnenwende nicht sehen konnten. Er hatte den Verdacht, dass Will deswegen noch immer sauer war und ihm eine Absage für heute ernsthaft übel genommen hätte.

Seufzend legte er den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Eine Runde Schlaf wäre wundervoll, aber die würde er nicht so schnell bekommen. Nach der Feier landeten sie sicher bei Will, um Sex zu haben, und danach musste er den Heimweg antreten. Was Will noch nicht wusste und bestimmt nicht freute.

Grayce seufzte erneut und massierte mit einer Hand seinen verkrampften Nacken, von dem sich Schmerz bis in seinen Schädel zog. Seine Eltern gaben morgen ihre eigene Sonnwendfeier, und er hatte versprochen, bei den Vorbereitungen zu helfen und am Abend anwesend zu sein. Wenn er morgen nicht spätestens um sechs Uhr bei seinen Eltern antanzte, würden sie einen Suchtrupp nach ihm losschicken.

Es war die vernünftige Lösung, heute nach einem Abstecher zu Will nach Hause zu fahren, um dort ungestört ein paar Stunden zu schlafen. Weil er nicht viel zum Schlafen kommen würde, wenn er mit Will zusammen war. Sie hatten sich drei Wochen nicht gesehen, also war davon auszugehen, dass sie jede Menge Sex nachzuholen hatten. Auf den er momentan keine wirkliche Lust hatte.

Er schlug die Augen auf. Mir muss es echt dreckig gehen, wenn ich nicht mal Lust auf Sex habe.

Irgendwas kratzte in seinem Hals, und er räusperte sich. Schon seit gestern hatte er das Gefühl, als rasselte etwas in seiner Lunge. Zu einem richtigen Husten reichte es nicht, nur zu dem lästigen Gefühl, dass sein Körper etwas loswerden wollte.

Großartig. Eine Erkältung war das Letzte, was er brauchte. Hustenanfälle bei gebrochenen Rippen waren eine Strafe der Götter. Was hatte er nur getan, dass sie ihm damit drohten? Nur, weil er seit drei Monaten in keinem Tempel mehr gewesen war? Oder waren sie der Meinung, dass seine Liaison mit einem Menschen zu weit gegangen war?

Was haben meine Eltern euch geopfert? Ihr Jahreseinkommen?

Mit dem nächsten Ächzen stemmte er sich hoch und taumelte unsicheren Schrittes in Richtung Tür. Sein Kreislauf schien noch auf dem Stuhl zu verharren. Am Türrahmen blieb er stehen und lehnte sich schnaufend dagegen, als Hitze durch seinen Körper raste und er nahezu spüren konnte, wie sich sein Blut überlegte, einfach mit der Zirkulation aufzuhören.

Das hatte nichts mehr mit den Nachwehen einer Prügelei zu tun, die aus schmerzenden Knochen, verkrampften Muskeln und blauen Flecken bestanden. Ein temporärer Schwindel gehörte für gewöhnlich nicht dazu, nur Schmerzen in allen Varianten.

Vermutlich war der Schlafmangel Schuld an seinem elenden Zustand. Während des Ritts hierher hatte er abwechselnd mit Niamat Wache gehalten, damit ihnen Rangal trotz seiner Fesseln nicht entkam. Da waren selten mehr als vier Stunden zusammengekommen, letzte Nacht noch weniger, weil er erst irgendwann nach drei Uhr im Bett gelandet und um sechs schon wieder aufgestanden war.

Er atmete ein paar Mal tief durch und bemühte sich, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern. Will sollte sich keine Sorgen machen. Im Moment mangelte es ihm zwar an Lust, aber erfahrungsgemäß stellte sich diese ein, sobald dieser Mensch an seiner Ohrspitze knabberte.

Grayce nahm die Schultern nach hinten, stieß sich von der Tür ab und trat auf den Gang hinaus. Zuerst noch ein Abstecher in den Waschraum. Kaltes Wasser im Gesicht verlieh ihm hoffentlich etwas Energie. Danach war es Zeit für Schokokuchen.

 

Kapitel 2

Kapitel 2

 

 

Willard stand mit einem Teller in der Hand neben Levanyar, als Grayce endlich wieder auftauchte.

»Alles in Ordnung?«, fragte er ihn leise. Der Elf sah keinen Deut besser aus als vor einer Viertelstunde. Als wäre er dreißig Meilen ohne Pause marschiert. Oder hätte drei Tage lang nicht geschlafen.

»Natürlich.« Grayce schenkte ihm ein Lächeln, das nicht restlos überzeugend wirkte.

»Willst du gehen?«

»Du bist gerade erst gekommen.« Grayce nahm sein Glas von Levanyar entgegen.

»Ich bin wegen dir hier, nicht wegen der Feier. Mir ist egal, wo wir uns treffen, solange wir uns sehen.« Willard stach mit der Gabel in den Traum aus Schokolade. So ganz stimmte das nicht. Am liebsten wäre ihm, wenn sie sich irgendwo allein unterhalten konnten. Irgendwo, wo er sich nicht sittsam benehmen musste. Ein Ort, wo er Grayce nackt ausziehen und über ihn herfallen konnte.

Wenn er ihn allerdings so ansah … Vielleicht sollte der Mann zuerst ausschlafen, bevor Willard ihn mit anstrengenden Tätigkeiten im Bett erschöpfte.

»Iss erst mal deinen Kuchen, und dann musst du unbedingt den Punsch versuchen. Wir haben dieses Jahr fünf Sorten.«

»Ich bevorzuge Glühwein.«

»Davon gibt’s drei Sorten.«

»Ihr Elfen betrinkt euch wohl gerne.«

»Wir feiern gern.« Grayce nippte an seinem Glas, das nur mehr halb gefüllt war.

»Ist Niamat auch hier?«

»Der schwirrt irgendwo mit Ana herum.«

Drei der Elfen in der Gruppe verabschiedeten sich, sodass neben Willard und Grayce nur mehr Levanyar übrig blieb. Willard deutete auf ihn. »Wo hast du Nataniel gelassen?«

»Der wollte neuen Punsch holen.« Levanyar drehte sich kurz zu dem Stand hinter ihm um. »Das war vor einer halben Stunde.«

»Vielleicht ist er in der Schüssel ertrunken«, murmelte Grayce, blickte an Willard vorbei und lächelte plötzlich.

Willard folgte seinem Blick. Ein großer Elf – warum mussten die alle so groß sein? – kam auf sie zu. Chaniel. Der Elf, den er vor über einem halben Jahr in inniger Umarmung mit Grayce erwischt hatte. Keine von Wills Sternstunden. Sein akuter Anfall von Eifersucht hatte sich als unbegründet herausgestellt.

Chaniel begrüßte die kleine Runde mit einer halben Verbeugung und stellte sich neben Levanyar, der ihn anlächelte. Breit und freundlich und so anders, wie er Willard gelegentlich angrinste. Es fehlte die Arroganz. Allerdings lag auch etwas Wehmut darin, was er schon gar nicht von Levanyar kannte.

Er musste Grayce mal fragen, ob da irgendwas zwischen den beiden lief.

Die Unterhaltung drehte sich um irgendwelche Verbrecher und ihren Weg vors Gericht. Also das Übliche, und Willard hörte nicht wirklich zu, während er genüsslich einen Bissen Kuchen nach dem anderen in seinem Mund zergehen ließ. Falls er je aus Neygara wegging, würde er die grandiose elfische Küche am meisten vermissen. Grayce würde er nicht vermissen, weil er ohne ihn nicht wegging. Entweder gingen sie zusammen woanders hin oder gar nicht.

Sie waren jetzt über zwei Jahre ein Paar und hatten damit Grayces gemeinsame Zeit mit Levanyar übertroffen. Trotz der Schokolade in seinem Mund musste Willard grinsen. Seit Wochen freute er sich über den Triumph, auch wenn es vermutlich kein sympathischer Charakterzug war, über so etwas froh zu sein. Egal. Es hatte seine latente Eifersucht etwas gemildert. Noch nicht ganz beseitigt. Daran arbeitete er noch.

Er kratzte die letzten Krümel zusammen und schob sich die Gabel in den Mund. Nach den zwei Stücken war seine Lust auf Süßes vorerst befriedigt. Blieb noch seine Lust auf einen harten elfischen Körper. Um die Befriedigung dieses Bedürfnisses würde er sich als Nächstes kümmern. Sofern Grayce in Stimmung und nicht zu müde war.

Willard wandte sich an seinen Freund. »Ich hol mir was zu trinken. Kann ich dir was mitbringen?«

»Orangenwasser.«

»Wasser?« Willard guckte ihn erstaunt an. Kein Alkohol? Das hatte Will von der letzten Sonnwendfeier anders in Erinnerung.

»Fruchtsaft geht auch.«

»Kein Punsch? Oder ein Glas Wein?«

Der Elf hielt sein leeres Glas hoch. »Ich hatte heute schon genug.«

»Wie du meinst.« Willard nahm ihm das Glas ab und drängte sich zum Buffet durch, wo er das benutzte Geschirr abgab.

»Hey, Willard!« Eine Faust landete auf seinem Oberarm, und er drehte sich um.

Niamat stand mit einem breiten Grinsen und roten Wangen vor ihm und zog ihn in eine Umarmung. Überrascht ließ Willard ihn gewähren. So herzlich kannte er Grayces Partner gar nicht.

»Ich wünsche dir eine schöne Sonnenwende.« Niamat ließ ihn los und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ich dir auch.«

»Was willst du trinken?«

»Was empfiehlst du?«

»Hab alle fünf Sorten Punsch durch. Sind alle gut.« Er strahlte übers ganze Gesicht, als wäre diese Erfahrung die beste seines gesamten Lebens.

»Ich nehme einen Glühwein. Vom Schiller.«

Niamat reichte ihm ein Glas und stieß mit seinem eigenen dagegen. »Auf dich und Graycennar.«

Willard runzelte die Stirn. »Zum Wohl.« Was sollte das schon wieder heißen? Die meisten Elfen, die von seiner Beziehung zu Grayce wussten, erweckten eher den Eindruck, ihnen kein Glück, sondern eine baldige Trennung zu wünschen. Gut, Niamat war mit einer menschlichen Frau verheiratet und von Anfang an auf ihrer Seite gewesen, aber er hatte sich nie besonders für sie beide als Paar interessiert. Was Willard ganz recht war.

»Wie läuft's?«

»Bestens.«

»Wie läuft's mit Graycen?«

»Gut.«

»Ich hab die letzten drei Wochen mit ihm verbracht.« Niamat prostete irgendjemandem hinter Willard zu. »Da erfährt man eine Menge privater Dinge.«

»Ähm, vermutlich.« Er wollte gar nicht wissen, was Grayce ausgeplaudert hatte.

»Der Kleine hat dich echt gern.«

Willard hatte Mühe, nicht in seinen Glühwein zu prusten. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass Niamat seinen Partner Kleiner nannte, obwohl er nicht mal so groß wie Willard und damit einen halben Kopf kleiner als Grayce war. Musste etwas mit dem Altersunterschied zu tun haben. »Ich weiß.«

»Falls er irgendeinen Blödsinn macht, musst du ihm vergeben.«

»Blödsinn?« Willard sah ihn misstrauisch an. Was hatte Grayce dem Mann verraten? »Was meinst du damit?«

»Na, Blödsinn halt.« Niamat blickte ihn erwartungsvoll an, als würde das alles erklären. Seine Augen glänzten, und seine Wangen waren noch dunkler geworden. Betrunken, allerdings nicht so viel, dass er nicht mehr verständlich reden konnte.

»Blödsinn wie mich betrügen?«

Niamat winkte ab und verschüttete ein paar Tropfen aus seinem Glas. »Götter, nein, das käme ihm nie in den Sinn. Der ist so treu wie Stahl. Ich meinte eher zu spät zum Essen kommen. Nicht Bescheid geben, wenn er länger auf dem Revier zu tun hat. Verabredungen absagen, weil er noch Schreibarbeit erledigen muss.«

»Ich nehme an, alles Dinge, die Ana an dir stören.«

Niamat seufzte ergeben. »Ich weiß, dass es nicht leicht ist, mit einem Polizisten zusammen zu sein. Meine Frau hat mir lang und breit erklärt, wie schlimm das sein kann. Du kannst gern mit ihr reden, dann erklärt sie es dir auch.«

»Danke, ich weiß Bescheid. Aus eigener Erfahrung.« Er lächelte in sein Glas. Niamat war im Laufe der Jahre zu einem Freund geworden. Keinem guten, vermutlich eher einem Bekannten, aber er mochte den kleinen Elfen mit den wirren grauen Locken und dem hervorstehenden Bauch. Es zeigte ihm, dass nicht alle Elfen riesige Göttergestalten mit perfekten Körpern waren.

»Machst du dir auch Sorgen, wenn er unterwegs ist?«, fragte Niamat.

»Sorgen?«

»Na ja, wegen der Jagd auf Mörder und so. Ana macht sich dauernd Sorgen. Ich sag ihr dann immer, dass Graycen auf mich aufpasst.«

»Auch mich beruhigt es außerordentlich, dass du ein Auge auf meinen Freund hast.« Will lächelte ihn an.

»Gut. Will nicht, dass du dir Sorgen machst. Ist nicht gut für eine Beziehung. Sag ich meiner Frau auch immer. Und so was wie diese Woche passiert selten.«

»Du meinst die Schlägerei, in die Grayce geraten ist?«

Niamat nickte und nahm einen langen Schluck. »Egal. Wir haben's überstanden, und die paar Blessuren sind bald vergessen. Kannst ihn ja gesund pflegen.«

»Könnte schwer werden, da wir uns nur ein oder zwei Mal in der Woche sehen.«

»Das lässt sich ändern.«

Wenn ich es könnte, hätte ich es schon längst getan. »Ist nicht so einfach.«

»Du hast doch das ideale Haus für jemanden, der bei der KomKa arbeitet. Nur eine Viertelstunde zu Fuß entfernt.«

Das stimmte, und es war nicht das erste Mal, dass Willard daran dachte, dass manches so viel einfacher wäre, wenn Grayce bei ihm wohnen würde. »Ich glaube nicht, dass er bei mir einziehen will. Ich bringe ihn ja kaum dazu, mehr als eine Nacht in der Woche bei mir zu verbringen. Wie soll ich ihn davon überzeugen, dass er mit mir zusammenzieht?«

»Du bist doch ein findiges Kerlchen. Ein paar Mal mit den Wimpern klimpern, und er macht alles, was du willst.«

Jetzt prustete Willard wirklich in sein Glas. Wenn es nur so einfach wäre. »Du arbeitest seit Jahren an seiner Seite. Du solltest wissen, wie stur er ist und wie sehr er seine Privatsphäre schätzt.«

Niamat legte ihm eine Hand auf die Schulter und flüsterte in sein Ohr. »Weißt du, wie Ana mich überzeugt hat?«

»Nein.«

»Essen und Sex. Sie kocht mir jeden Abend etwas, und ich kann jederzeit Sex haben, weil sie im gleichen Bett schläft.«

»Das wird bei uns nicht klappen. Ich kann nicht kochen.« Nicht umsonst hatte er einen Diener angestellt, der sich um diese Notwendigkeit kümmerte.

»Macht nichts. Sex zieht ohnehin besser.« Niamat hieb ihm auf die Schulter und lachte laut.

»Niamat.« Eine sanfte Stimme, der gleich darauf die dazugehörige Frau folgte. »Ich habe dich schon gesucht.« Ana reichte Willard zur Begrüßung die Hand. »Welche Weisheiten hat er jetzt schon wieder verbreitet?«

»Nichts, was nicht wahr wäre.«

Ana seufzte tief. »Er ist unmöglich, wenn er etwas getrunken hat. Redet dann mit allen und jedem über alles und jedes. Vor allem über Dinge, von denen er keine Ahnung hat.« Sie warf Niamat einen halb tadelnden, halb liebevollen Blick zu. »Willard, wenn du uns entschuldigen würdest. Ich muss meinen Mann nach Hause bringen.«

»Tja, wir müssen los.« Niamat sah ihn bedauernd an. »Meine Frau hat entschieden, dass ich nicht mehr feiern darf.«

Willard nickte ihnen zum Abschied zu und bestellte ein Glas Orangenwasser. Zusammenziehen. Was für eine dämliche Idee. Er konnte sich Grayces abweisende Reaktion darauf lebhaft vorstellen.

Und doch hatte diese Idee etwas an sich. Ein gemeinsames Leben in einem gemeinsamen Haushalt. Die Vorstellung war … schön. Keine getrennten Nächten, keine Einsamkeit in seinem riesigen Bett. Jeden Tag nebeneinander aufwachen.

Er verbot sich jeden weiteren Gedanken daran, sonst würde er herausfinden, wie sehr ihm diese Vorstellung gefiel.

»Willard.« Die nächste Hand fiel auf seine Schulter. Warum tatschte ihn heute jeder an?

Er drehte sich um und kam gerade noch dazu, Nataniel zu erkennen, ehe ihn dieser in die Arme schloss. Und warum umarmten sie ihn heute andauernd?

Entspann dich. Es ist erst die zweite Umarmung von Leuten, die dich nicht nackt gesehen haben.

»Schön, dass du gekommen bist.« Nataniel lächelte ihn freundlich an. Willard kannte ihn noch weniger als Levanyar, mochte ihn allerdings, im Gegensatz zum Eismann. Er hatte meistens ein Grinsen im Gesicht und erweckte den Eindruck, nie miese Laune zu haben. »Ich nehme an, du hast Graycen schon gefunden?«

»Ja.«

»Und, wie schockiert bist du über sein blaues Auge?« Er nahm das Glas Orangenwasser entgegen und reichte es Willard.

»Geht so. Ich schätze, irgendwann musste es soweit kommen, dass ich mit den Folgen seiner Arbeit konfrontiert werde.«

Nataniel lachte leise. »So kann man es auch ausdrücken. War ein Wunder, dass es so lange dauerte, bis Graycen seinen Meister fand.«

»Ich bezweifle, dass er diesen Kriminellen seinen Meister nennen würde.« Willard hätte nichts dagegen gehabt, so bezeichnet zu werden, aber Grayce hatte bei der Vorstellung nur zu lachen angefangen. Sie hatten sich auf katar, das elfische Wort für Gebieter geeinigt.

»Auf keinen Fall.« Nataniels Grinsen wurde breiter. »Jedenfalls hat er mir mit seinem Gesicht heute Morgen eine angenehme Überraschung verschafft.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Als es darum ging, wann Graycen zum ersten Mal von einem Verbrecher zusammengeschlagen wird, habe ich auf dieses Quartal gewettet.«

»Ihr habt darauf gewettet?« Willards Augen weiteten sich. Was für ein infantiler Haufen.

»Wir wetten auf alles. Auch auf euch.« Nataniels Grinsen ging noch mehr in die Breite.

»Ich bin erschüttert.«

»Keiner gibt euch mehr als drei Jahre. Ich bin der Einzige, der vier für möglich hält.«

Sollte er sich jetzt für diese Unterstützung bedanken? Wetten auf seine Beziehung. Es war nahezu beleidigend.

Willard griff in seine Hosentasche und zog den kleinen Geldbeutel heraus, in dem er die Goldmünzen aufbewahrte. Er holte fünf davon heraus und drückte sie Nataniel in die Hand. »Ich setze auf mehr als fünf Jahre.«

Nataniel blinzelte nicht mal, steckte das Geld nur nickend ein. »Geht klar, ich lass dich eintragen.« Er sah über seine Schulter. »Sind die anderen noch dort drüben?«

»Vor ein paar Minuten waren sie es noch. Chaniel kam auch gerade.«

Nataniel sah ihn wieder an, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Schön für ihn.« Seine Stimme klang wie die Levanyars, wenn dieser mit Willard redete. Eisig.

»Du magst ihn wohl nicht?«

»Ich kenne ihn kaum.«

»Was Negatives von ihm gehört?« Nicht, dass solcher Klatsch Willard auch nur das Geringste anging. Er wollte einfach nur Konversation machen. Und vielleicht ein paar Infos über Elfen erlangen, die ihm gefährlich werden konnten.

Ich bin nicht eifersüchtig.

Ja klar.

Momentan kaufe nicht mal ich mir das ab.

»Nein. Guter Ermittler. Ich muss weiter.« Nataniel drehte sich abrupt um und stapfte davon.

Willard sah ihm einen Moment nach, dann machte er sich auf den Weg zu Grayce. Niamat führte sich auf, als wäre Will sein neuer bester Freund. Nataniel wirkte verärgert durch Chaniels Anwesenheit, kannte ihn aber nicht wirklich. Levanyar giftete Will bei jeder Gelegenheit an, selbst wenn er sich um Freundlichkeit bemühte.

Merkwürdige Wesen, diese Elfen. Genauso irrational wie Menschen.

 

* * *

 

Dankbar nahm Grayce das Wasserglas mit der Orangenscheibe entgegen. Will stellte sich neben ihn, so dicht, dass jeder mitbekommen musste, dass sie sich gut kannten. Nicht so dicht, dass sie sich berührten. Selbst nach zwei Jahren hielt er in der Öffentlichkeit weiterhin einen gewissen Abstand zu seinem Liebhaber ein. Ob sich das je legen würde?

Grayce nahm einen Schluck und genoss die Kühle, die seine Kehle hinunter rann. Ihm war heiß, was nicht am Alkohol lag. Er hatte nur ein halbes Glas Punsch getrunken, auch wenn er es anders hatte aussehen lassen. So müde wie er war, würde ihn jeder Schluck noch mehr erschöpfen. Und er wollte wach sein. Hauptsächlich wegen Will.

Die Feier selbst interessierte ihn nicht besonders. Es war nicht seine erste, es würde auch nicht seine letzte sein, und hier passierte nichts Spannendes außer einem netten Zusammensein mit Kollegen.

Will stieß ihn sanft mit dem Ellenbogen an, und Grayce blickte zu ihm. »Kennst du den da?«, fragte sein Freund leise.

Grayce folgte seinem Blick zum Buffet, wo ein Mensch sich den Teller belud. Er versuchte, sich zu erinnern. »Navan. Nevan. Niven? Er ist bei der ilarischen Stadtwache.«

Neugierig musterte er den Mann. Enorm groß für einen Menschen, von der Statur eher einem Elfen ähnlich. Er trug die offizielle Uniform der Wache und hatte allem Anschein nach einen gewaltigen Appetit.

»Warum fragst du?« Er beugte sich zu Will und senkte die Stimme. »Willst du ihn fragen, ob er mit uns einen Dreier macht?«

Will verschluckte sich an seinem Glühwein und hustete einige Male. »Nein«, keuchte er und trank rasch einen weiteren Schluck. »Es interessiert mich nur, wer die wenigen Menschen hier sind. So viele haben sich nicht hierher verirrt.«

»So viele werden auch nicht eingeladen.« Grayce hielt sich das kalte Glas an den Hals. Er trug anlässlich der Feier keine Rüstung und nur ein dünnes Hemd unter dem Rock, und trotzdem war ihm heiß. Will konnte er auch nicht die Schuld geben, weil dieser noch nichts Anzügliches gesagt, geschweige denn getan hatte. »Willst du ihn kennenlernen?«

Will schüttelte den Kopf. »Nicht nötig.« Er streckte sich, um an Grayces Ohr zu kommen. »Ich muss nicht jeden Mann, der mir unterkommt, in unser Bett zerren.«

»Wie schade.« Grayce schenkte ihm ein schiefes Grinsen. »Das letzte Mal schien dir großen Spaß gemacht zu haben.«

Wills Ellenbogen stieß an Grayces Oberarm vorbei und landete einen punktgenauen Treffer auf seinen Rippen. Zum Glück war es die Seite, wo er sich nichts gebrochen hatte, und er konnte den leichten Schmerz mit einem Schnaufen abtun.

»Wir sind hier nicht unter uns, also halt den Mund«, raunte Will.

»Wie du wünscht.« Grayces lächelte ihn freundlich an und berührte ihn rasch und unauffällig an der Hüfte. Bei Radamer, was hatte er diesen Mann vermisst.

»Was tuschelt ihr da auf Alviniar?« Chaniel sah sie neugierig an.

»Wir reden über den Kerl da hinten.« Grayce deutete mit dem Kinn in Richtung Buffet.

»Der Mensch?« Chaniel sah zu den Tischen, sein Kopf neigte sich, und er starrte den Fremden an. »Wer ist er?«, fragte er schließlich, ohne den Blick von ihm zu nehmen.

Levanyar meldete sich zu Wort. »Nevan. Unser Verbindungsoffizier bei der ilarischen Stadtwache.«

»Ich habe ihn noch nie zuvor hier gesehen«, murmelte Chaniel und schien fasziniert von dem Mann zu sein.

»Ist noch nicht lange in Neygara. Wurde mehr aus Höflichkeit eingeladen und weniger aus Interesse an seiner Arbeit.« Levanyar zuckte mit den Schultern. »Wie dem auch sei, habt ihr schon die neuen Prototypen der Dienst-Armbrust gesehen?«

»Ja, die sieht fantastisch aus.« Chaniel wandte seine Aufmerksamkeit kurz ihrer Runde zu.

Grayce hörte nicht richtig zu. Mit dieser neuen Armbrust würde er früh genug Bekanntschaft schließen.

Er beugte sich wieder zu Will hinüber. »Möchtest du gehen?« Die Müdigkeit war einer tiefgreifenden Erschöpfung gewichen, das Kratzen im Hals nervte, und hinter seinen Augen pochte beständiger Schmerz. Er schloss nicht mehr aus, dass er sich in Belago tatsächlich eine Erkältung eingefangen hatte, die darauf lauerte auszubrechen.

Großartig. Das hatte ihm noch gefehlt. Ein Elf mit Schnupfen. Will würde sich halb tot lachen.

Kühle Finger streiften seine Hand. »Jetzt?« Will sah ihn aufmerksam an.

Ja. »Willst du lieber noch einen Nachtisch?«

Wills Finger schoben sich zwischen seine und zogen daran, bis Grayce leicht in die Knie ging, damit Will unauffällig auf Höhe seines Ohrs kam. »Lust auf unser eigenes Dessert?« Seine Stimme war ein heiseres Flüstern, durchtränkt von Verlangen.

Grayces Vernunft löste sich in dieser rauchigen Stimme auf. Er wollte Will endlich in die Arme schließen und küssen, und das würde nur gehen, wenn sie ungestört waren. Und er wollte es jetzt gleich, nicht erst, wenn sie in seinem Haus angekommen waren, wo er noch müder sein würde.

Die Aussicht, endlich wieder Wills Geschmack auf seiner Zunge zu haben, beflügelte ihn und drängte die Erschöpfung zurück. Er verabschiedete sich mit einem Nicken in die Runde und zog Will mit sich.

»Wohin?« Will löste sich aus seinem Griff.

»Mein Büro.«

»Ist dort mein Mantel?«

»Nein. Aber gleich ist dort ein williger Elf.« Er warf einen Blick über seine Schulter.

Will war ihm dicht auf den Fersen, ein breites Grinsen im Gesicht, und folgte ihm durch den langen Korridor.

 

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Tag der Veröffentlichung: 26.02.2017

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