Auszug aus DER SCHRIFTSETZER GEORG GAISWINKLER UND DIE NORMALITÄT DES TODES von Peter Campa
ZWEI
Ja, und überhaupt das Warten. Sein Leben kam Georg vor wie der Warteraum für sein nächstes Leben. Nie gab es einfach ein Hier und ein Jetzt. Alles war auf das Morgen gerichtet, dieses richtete sich auf das Übermorgen, die nächste Woche, das nächste Jahr, das nächste Leben. Nur etwas Unerwartetes könnte ihn davon befreien.
So etwas Unerwartetes traf ein, als sein bester Freund Paul Blumenthal, mit dem er einen Großteil seiner Lehrzeit verbrachte, sich eines Tages vor die U-Bahn warf, ihm ein Bein amputiert wurde und er in die Psychiatrische Universitätsklinik im Allgemeinen Krankenhaus in Wien eingeliefert wurde.
Erst nach einer Woche war Georg so weit, dass er es überhaupt wagte, Paul zu besuchen. Er nahm zum Geschenk eine Torte mit. Als er die Station 5 b betrat, sah er schon von weitem einen Mann dort sitzen, der ihn mit weit geöffneten Augen anstarrte. Es war Paul, dick war er geworden und schnell gealtert kam er ihm vor. „Servas, Georg!“ rief ihn Paul ungewohnt lautstark. „Hallo, Paul!“ Nach einer Weile gestand ihm Paul, er wolle nicht mehr leben.
Dies wunderte Georg, der ihn als stets lebenslustig, aber auch nie zu lebenslustig kannte. „Seit wann denn ?“ fragte Georg. „Weißt du, Georg, ich bin ohnedies schon bevor ich hierher kam, in Therapie gewesen. Beim Doktor Mitterlehner. Wegen meiner Angstzustände.“ Georg sagte nur:“Aha!“ „Und der hat mir Medikamente verschrieben und er hat auch noch gesagt, es kann sein, dass die Angstzustände zu Beginn der Therapie sogar ärger werden können.! Die sind dann auch ärger geworden, dann hat er mir noch andere Tabletten verschrieben, so genannte Neuroleptika. Diese rufen eine Neurolepsie hervor, das soll gut sein gegen Angstzustände und Depressionen, denn du weißt ja, die Depression ist ein protrahierter Schock. Und dann ist das passiert vor einer Woche. Plötzlich in der U-Bahnstation Margaretengürtel begann ich das Sein zu hassen. Diese Gegenständlichkeit, diese Sekunden, dieses du musst- und dann ist das passiert.“
Georg antwortete vorsichtig: „Da bist du ja dem Doktor Mitterlehner gehörig aufgesessen. Es ist ja bekannt, was das für ein Gauner ist. Schau, dass du dich auf eigene Füße stellst. Wenn du noch eine Chance haben willst, dann hast nur DU sie. Du musst so schnell wie möglich weg hier und setz die Medikamente sofort ab!“
Georg wusste, mit wem er es hier zu tun hatte. Dr. Alain Mitterlehner hatte als Facharzt für Neurologie und Psychiatrie im 5. Bezirk mit einer kleinen Ordination angefangen. Nach wenigen Jahren residierte er bereits im 19. Bezirk in der Dionysius-Andrassy-Straße. Georg war selbst schon einmal bei ihm gewesen. Er hatte zwei Dalmatinerhunde in der Ordination, von denen zumindest einer durchaus hätte böse werden können. Das war so jemand dem man nichts nachweisen konnte. Alles war in weiß gehalten, aber so ein Weiß! Ein Ultra-Weiß! Obwohl jeder wusste, dass er im Auftrag der Pharmafirmen an seinen Patienten Medikamente testete und das natürlich nicht umsonst. Ein Mann, der über Leichen ging. Aber diesmal war er zu weit gegangen. Georg würde ihn vor Gericht bringen. Zuerst müsste er aber Paul aus der Klinik rausbringen.
Am nächsten Tag brachte Georg Paul einen Anzug in die Anstalt und wollte mit ihm die Anstalt verlassen. Doch als sie eben gehen wollten, positionierten sich zwei Pfleger am Ausgang der Station 4 B. „Wo wollen Sie hin ?“ wurden die beiden gefragt. „Nach Hause!“ antwortete Georg. „Das geht nicht. Herr Blumenthal ist nicht freiwillig hier. Gegen ihn liegt ein amtsärztliches Parere vor. Der Patient wäre eine Gefahr für sich oder für seine Umgebung. Georg wusste zwar nicht, was das ist, er verstand nur „Barriere“. Ohne Rechtsanwalt würde das also nicht gehen. Am nächsten Morgen ging Georg in die Nationalbibliothek. Das Wort „Barriere“ ging im nicht aus dem Kopf. Dass es eigentlich Parere hieß, wusste er zunächst nicht, sonst hätte er viel schneller gefunden, was er eigentlich hatte wissen wollen.
Nach langem Suchen fand er in einer Broschüre von einer gewissen Frau Angelika Laburda folgenden Absatz: Rechtliche Grundlagen der Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus
Die Aufnahme in ein psychiatrisches Krankenhaus (PKH) kann freiwillig oder zwangsweise erfolgen. In der Regel erfolgen bei geistig Behinderten keine freiwilligen Aufnahmen, weshalb hier besonders die Zwangseinweisung dargestellt werden soll. Die Bedingungen der zwangsweisen Aufnahme sind im Krankenanstaltengesetz geregelt:
§ 49 (1) In eine Krankenanstalt für Geisteskrankheiten dürfen zwangsweise nur solche Personen aufgenommen werden, für die eine Bescheinigung (Parere) beigebracht wird, wonach anzunehmen ist, daß die aufzunehmende Person infolge einer Geisteskrankheit ihre oder die Sicherheit anderer Personen gefährdet. Eine solche Bescheinigung muß vom Amtsarzt der für den Aufenthaltsort der aufzunehmenden Person zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde bzw. Bundespolizeibehörde ausgestellt sein. Sie darf nicht älter als eine Woche sein.
(2) Einer Bescheinigung im Sinne des Abs.1 bedarf es nicht, wenn Personen von einem Gericht eingewiesen oder von einer öffentlichen Krankenanstalt überstellt werden und in diesem Falle aus den Aufzeichnungen in der Krankengeschichte hervorgeht, daß die Überstellung wegen Gefährdung der eigenen oder der Sicherheit anderer Personen notwendig ist.
Das schaut aber gar nicht gut aus, dachte Georg bei sich. Das mit der Gefährdung der eigenen Person lässt sich ja nicht von der Hand weisen. Es steht hier ja nicht zur Debatte, wie es überhaupt zu dieser Gefährdung der eigenen Person kam.
Er besuchte einen Rechtsanwalt. In so einer Situation etwas zu machen, sei sehr schwierig, belehrte ihn dieser. Er werde nicht umhin können, eine Anzeige gegen Dr. Mitterlehner zu erstatten und dies werde sehr lang dauern, sei aber der einzig richtige Weg. Und was Paul Blumenthal betreffe, so werde er, sobald er nicht mehr suizidgefährdet sei, ohnehin entlassen werden. Er werde aber als Rechtsanwalt mit dem Träger des Krankenhauses, in diesem Fall der Gemeinde Wien in Kontakt treten und auf diesen Fall hinweisen. So schnell werde dies aber nicht gehen.
Georg fürchtete, dass eben genau das eintreten könnte, vor dem man Paul im Krankenhaus schützen wollte, nämlich dass sich Paul in der Zwischenzeit tatsächlich umbringen könnte und fragte noch nach, ob man das nicht beschleunigen könnte. Zumindest müsste man die Medikation stark reduzieren. Der Rechtsanwalt versprach sein bestes zu geben.
Georg verstand die Welt nicht mehr. Die Ärzte im Allgemeinen Krankenhaus wollten Paul vor dem Selbstmord schützen. Georg wollte dasselbe. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, standen sie in Widerspruch zueinander. Paul bekam das Neuroleptikum Truxal, dazu noch Akineton gegen dessen Nebenwirkungen, am Abend noch zwei Nozinan und zwei Mogadon, auch ein Mittel für die Verdauung bekam er. In der nächsten Zeit, so meinten die Ärzte, werde man ihn auf Haloperidol einstellen. Dann würde er regelmäßig eine Depotspritze bekommen.
So eine Depotspritze würde ich dem Dr. Mitterlehner vergönnen, dachte Georg bei sich, ob er dann noch so charmant lächeln würde ? Täglich war Georg nun bei Paul zu Besuch und versorgte ihn mit Durchhalteparolen. Die Pfleger kontrollierten sehr genau, ob Paul seine Medikamente regelmäßig einnahm. Obwohl der verängstigte Paul ohnedies immer seine Medikamente genommen hätte, war er schon von einem Pfleger aufgefordert worden, nach der Einnahme „Lala“ zu sagen. Wenn sich einer wehrte, wurde er von den Pflegern festgehalten, bis der Arzt kam und ihm eine intramuskuläre Injektion verabreichte. Sicher, hier waren die Medikamente getestet, entsprachen den gesetzlichen Bestimmungen und die Verträglichkeit war hier auf eine philosophische Frage reduziert. Das war aber bei den Medikamenten, die Paul von Dr. Mitterlehner erhalten hatte, nicht so. Das waren reine illegale Versuchsprogramme.
Georg hatte bereits im Wachzimmer Anzeige gegen Dr. Mitterlehner erstattet. Die Anzeige lautete auf „fahrlässige Körperverletzung“. Dabei wurde Georg den Verdacht nicht los, Dr. Mitterlehner habe vielleicht nicht nur fahrlässig, sondern absichtlich gehandelt. Aber das werde sich ja noch herausstellen. Auf jeden Fall ist ja nach dem Arzneimittelgesetz die Anwendung nicht zugelassener Medikamente an Patienten verboten. Es hätte ja auch sein können, dass Dr. Mitterlehner von seinen Patienten testamentarisch bedacht worden war und sich deshalb die Todesfälle in seiner Umgebung häuften. Aber vielleicht denke ich da doch zu viel, schränkte Georg sich wieder ein. Wie Dr. Mitterlehner plötzlich zu seiner noblen Praxis in der Dionysius-Andrassy-Straße im 19. Bezirk gekommen war, schien ihm zumindest rätselhaft. Auf jeden Fall würde er selbst nie freiwillig auch nur eines der Medikamente nehmen, die er seinen Patienten verschrieb.
Das Schreiben des Rechtsanwaltes war inzwischen bei der Psychiatrie eingetroffen. Es wurde beschlossen, Paul von der Psychiatrie auf die Orthopädie zu verlegen. Georg atmete auf. Paul war zwar noch ein wenig ängstlich, ob er ohne die Psychopharmaka existieren könne, obwohl er sie eigentlich ohnehin nicht vertrug, doch die Ärzte versprachen, einen Begleitbrief an die behandelnden Ärzte mitzugeben, welche Medikamente Paul benötige.
Es ging doch wieder ein wenig aufwärts. Pauls Medikamente wurden reduziert und er bekam jetzt ein Holzbein. Er merkte nun auch, wie mit der Reduktion der Medikamente die Gefühle allmählich doch wieder kamen, die er bereits tot geglaubt hatte. Georg brachte ihm einen Zeichenblock und Malstifte ins Krankenhaus und Paul betätigte sich zum ersten Mal seit seiner Kindheit wieder künstlerisch. Er zeichnete sich selbst mit nur einem Bein und nannte die Skizze „Noch einmal davon gekommen“. Auf einer zweiten Skizze zeichnete er den Dr. Mitterlehner, wie er unter Neuroleptikaeinfluss delirierte.
Paul träumte von der Liebe. Doch unter Einfluss der Medikamente verstärkte sich seine Befürchtung, er wäre impotent. Es war zwar ohnedies keine reale Partnerin in Sicht, doch in Pauls Träumen gab es sie sehr wohl. Georg konnte er sein Leid klagen. Das kommt sicher von den starken Psychopharmaka, meinte Georg. Doch Paul konnte das nicht glauben. Er erfasste diesen Zusammenhang nicht. Er onanierte zwar nach wie vor, doch wurde dies unter dem Medikamenteneinfluss immer anstrengender und zusehends unproduktiver. Auch dies förderte seine Depression. Georg aber wurde nicht müde, Paul auf diesen Zusammenhang hinzuweisen. Dafür liebte Paul Georg. Doch es schien ihm nicht so leicht, aus Georgs Hinweisen Konsequenzen zu ziehen. Dafür las er die Geschichten von Krafft-Ebing, einem Psychiater aus dem 19. Jahrhundert, der von der „Neurasthenia sexualis“ sprach und von der Angst psychisch Kranker, impotent zu sein, die diese in die Depression treibe. In diesem Buch wurde auch der Begriff „Streber und Onanist“ verwendet. Für einen solchen hielt sich Paul nun. Georg, der der Meinung war, Dr. Mitterlehner habe Paul zumindest psychisch ermordet, versuchte auf Paul einzuwirken und hielt ihn an, weiter zu zeichnen und sich künstlerisch zu artikulieren. Paul hielt sich nun eben für einen reinen Geistesmenschen und versuchte sein Glück in der geistigen Welt. Das schien ihm zunächst gut zu tun.
Die Bücher von Krafft-Ebing waren sicher veraltet, woher Paul die wohl hat ? Doch heute noch, so überlegte Georg war die Psychiatrie weit hinter Freud. Immer noch schien das Erreichen von Apathie das Höchste der Gefühle zu sein. Dabei gäbe es ja viele Anstöße, die so manchen Patienten aus seiner Depression, Lethargie oder Hyperaktivität reißen könnten. Die meisten – oder wahrscheinlich alle – so mutmaßte er, außerhalb der Psychiatrie. Wehren könne sich jeder Mensch nur selbst und niemand anderer könnte sich für einen Menschen wirklich nachhaltig wehren. Man könne zwar jemand verteidigen, doch allmählich müsse der Betroffenen selbst die Initiative ergreifen. Wieso Paul überhaupt zu diesem Kurpfuscher gegangen war ? Er war doch nicht blöd, nicht hässlich oder sonst wie unterprivilegiert. Vermutlich war er sich unnötig vorgekommen. Kein Wunder, wenn man so lange bei seiner Mutter gelebt hat wie er. Wohl ist er seit drei Jahren ausgezogen, doch bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr hatte er bei seiner Mutter gelebt und sich von ihr erhalten lassen. Solchen Leuten muss man Aufgaben zuweisen. Sie sind dankbar dafür, dachte Georg.
Es gibt sogar Leute, die muss man erst kräftig unterdrücken, bis sie sich endlich wehren. Aber zu diesen schien Paul zwar nicht zu gehören, doch könnte ihn ein kleiner Anstoß nicht schaden.
Daher wagte es Georg bei seinem nächsten Besuch, Pauls Skizzen zu kritisieren. Diese seien stümperhaft, langweilig und phantasielos. Paul entgegnete, er wisse ohnedies, dass seine Zeichnungen schlecht seien.
Am nächsten Tag überraschte Paul Georg mit neuen Zeichnungen. „Also, die sind wirklich großartig!“ entfuhr es Georg. Wieder hatte Paul den Dr. Mitterlehner zu Papier gebracht, wie er im Zustand der Neurolepsie seiner Frau eine Liebeserklärung gemacht und dann erstarrt war. Darunter hatte er geschrieben: Der Gefriergeschockte. „Also, du wirst wirklich immer besser!“ lobte Georg. Paul freute sich. Er wunderte sich selbst, dass er sich wieder über etwas freuen konnte.
Paul war zwar immer noch impotent, doch er war in der Lage, sich über ein Lob zu freuen. Sicherlich, dieses sexuelle Problem machte ihm zu schaffen, den Zusammenhang mit seiner Medikation wollte er Georg nicht ganz glauben und er glaubte ihn auch nicht, nachdem ihm einige Ärzte versichert hatten, nach Absetzen der Neuroleptika würde sich dies wieder bessern. Doch es sei noch nicht die Zeit, sie ganz abzusetzen.
Paul hatte in der Behandlung siebzehn Kilo zugenommen. Sein Gesicht war nun zwar nicht mehr so aufgedunsen wie zu Beginn der Behandlung, doch die lange chemische Ruhigstellung spiegelte sich in seinem Körpergewicht. Noch ging ihm auch das fehlende Bein nicht ab, da er ohnedies zumeist im Krankenwagen hin- und hergeschoben wurde.
Er lernte nun auch schon, sich das Holzbein anzuschnallen und zunächst mit Krücken zu gehen. Dies tat er vor allem mit Hilfe Georgs, der sein einziger Freund war. Sein Vater schien sich nicht um ihn zu kümmern und seine Mutter war selbst schon über siebzig, leicht gehbehindert und konnte nur einmal in der Woche kommen. Sie wohnte nämlich einsam und verlassen in Kottschallings, einem kleinen Ort im Waldviertel.
Für Georg war das gar nicht so leicht, da er mit Paul weder verwandt noch verschwägert war, konnte er sich keinen Pflegeurlaub nehmen. Er nahm sich wohl hin- und wieder einen Urlaubstag, doch sein Chef begann schon zu meckern und zu jammern. „Wenn dann die Computer kommen, dann können wir alle zusperren!“ Im Grunde war er aber mit Georgs Arbeitsleistung zufrieden.
Am Freitagabend jedoch ließ der Chef, er hieß Josef Melzer, Georg zu sich rufen und bedauerte, ihm mitteilen zu müssen, dass er am kommenden Montag erst am Nachmittag zu kommen brauche, ebenso am Dienstag. Dem verwunderten Georg erklärte er, die Auftragslage sei eben nicht gerade gut. Ja, es könnte sogar sein, dass er das ganztägige Arbeitsverhältnis in ein halbtägiges umwandeln werde müssen. Dies spräche nicht gegen ihn, Georg, er sei mit ihm sehr zufrieden, doch auch er müsse sich nach der Decke strecken.
Georg stellte sich nun seine Zukunft vor, die Hälfte des Gehaltes, statt sechzehntausend Schilling netto nur noch achttausend. Zum Glück hatte er – noch – keine Familie. Aber dafür würde er mehr Zeit haben. Er könnte sich jetzt auch ohne Probleme um Paul kümmern. Auch für sich selbst und seine Freundin Gerda würde er vielleicht mehr Zeit haben. Vielleicht wäre er am besten überhaupt arbeitslos. Vor Arbeitslosigkeit hatte er immer die größte Angst gehabt. Aber vielleicht gab es so etwas wie fröhliche Arbeitslosigkeit ?
Am Montag konnte sich Georg endlich wieder einmal ausschlafen. Das war auch wichtig, denn am Sonntag hatte er, nachdem er bei Paul gewesen war, wieder einmal ausgiebig dem Alkohol zugesprochen. Dabei hatte er gemacht, was nur wenige Alkoholisierte tun, er hatte über seine Zukunft nachgedacht. Ob er von 8000 Schilling im Monat leben könne, später, nach dem dritten Bier kam ihm seine Zukunft eigentlich recht rosig vor. Er würde mehr Zeit haben, könnte öfter ausgehen und länger ausbleiben, vielleicht könnte er sogar seiner wahren Berufung folgen und selbst ein Buch schreiben. Vom Schriftsetzer zum Schriftsteller. Hatte er etwas zu verlieren ? Nicht, so lange er allein war. Wohl war Gerda seine Freundin, doch er sah sie nicht all zu oft. Und so hatte er zumeist das Gefühl, er sei ohnedies allein. Und außerdem müsse er den Fall Mitterlehner klären.
Als Georg am darauffolgenden Vormittag Paul in der Orthopädie besuchte, spürte er noch den Restalkohol. Paul schien dies irgendwie zu ahnen und fragte Georg, ob er ihm nicht ein paar Bier auf die Station bringen könne. Georg lehnte das ab, so lange Paul noch Medikamente nehme, sei Alkohol für ihn tabu. Paul ließ aber nicht locker und so versprach ihm Georg, nach der Entlassung mit ihm in die Arena zu einem Konzert zu gehen. Wie lang das noch dauern könne, fragte Paul . Georg beteuerte, er wisse es nicht, er solle seinen Arzt fragen. Paul erwiderte, er hätte schon gefragt. In einer Woche, hätte er gesagt. Dies sei vor drei Wochen gewesen. Manchmal habe er das Gefühl, er hätte noch sein zweites Bein.
Georg dachte nach. Nun war es schon fünf Monate her, dass das mit dem Unfall passierte. Und von seiner Anzeige gegen Dr. Mitterlehner hatte er auch noch nichts gehört. Paul machte inzwischen bei seinen Gehübungen große Fortschritte und der Arzt meinte bei der morgentlichen Visite, in einer Woche könnte er nach Hause gehen. Paul freute sich und auch Georg.
Nach zehn Tagen durfte Paul tatsächlich die Anstalt verlassen. Er bekam noch Medikamente mit auf den Weg, vor allem für die Psyche und dann sollte er zweimal wöchentlich zur Heilgymnastik.
Georg holte ihn ab. Er konnte das nur, weil sein Chef bis auf Widerruf am Montag und Dienstag nur Nachmittagsdienst vorsah. Er lieh sich ein Auto aus und brachte Paul Blumenthal in seine Zimmer-Küche-Wohnung in der Gaullachergasse im sechzehnten Wiener Gemeindebezirk. Dann ging er in die Arbeit. Am nächsten Tag besuchte er ihn wieder und ging für ihn einkaufen.
Jetzt gestand ihm Paul, dass er Dr. Mitterlehner für den Fall seines Todes vierzigtausend Schilling vermacht hatte. Wie es dazu wohl gekommen sei, wollte Georg wissen. Nun ja, zu Beginn der Behandlung hatte er einen Zettel unterschrieben, in dem er sich verpflichtete, Dr. Mitterlehner für etwaige nicht bezahlte Honorare eine Sicherstellung zu geben. Wieso Paul das mit sich machen ließ ? Naja, es waren da einfach einige Zettel zu unterschreiben, sonst hätte er ihn nicht behandelt. Ob er noch eine Kopie davon hätte ? Natürlich nicht, Paul war damals nicht in der Lage gewesen, sich um derartige Sachen zu kümmern. Du wirst wohl nicht der einzige gewesen sein, der so einen Wahnsinn unterschrieben hat. Das glaube ich auch nicht, meinte Paul. Ich hätte damals alles unterschrieben, ergänzte er. Weißt du vielleicht noch jemand, der so etwas unterschrieben hat oder unterschreiben hätte können, fragte Georg. Paul dachte nach. Hm, da war doch dieser Andreas, der mir den Doktor vermittelt hat. Wie hieß der bloß ? Ich glaube, der hieß Prskavec. Ich weiß nicht, ob ich dem seine Telefonnummer noch habe. Das ist doch auch so ein windiger Hund. Den kann man einfach nicht erreichen. Und dann ist er plötzlich da und dann ist er wieder weg.
Georg rief die Auskunft an. Ja, der Herr Prskavec hat ein D-Netzhandy, so etwas hatte damals freilich nicht jeder. Seine Nummer lautet 0663 –7514705. Georg tat sich schwer mit dem Mitschreiben. Und er erreichte ihn sogar. Nun, er selbst hat so einen Zettel nicht unterschrieben und er hätte ihn auch nie unterschrieben, so blöd sei er in seiner schwächsten Phase nicht gewesen. Doch er wisse von zumindest zwei Personen, dass sie so einen Zettel unterschrieben hätten. Und dann sei es ihnen gar nicht gut gegangen. Er wisse sogar die Telefonnummern. Das eine sei ein Herr Joe Steinbrecher, der zweite sei der Herr Walter Vyslocil. Wie er das von Herrn Steinbrecher gehört habe, hätte er umgehend die Therapie abgebrochen, das sei ihm alles nicht ganz geheuer gewesen. Georg konnte Joe Steinbrecher nicht erreichen, bei Walter Vyslocil war immer besetzt. Also ließ er es fürs erste bleiben.
DREI
Gerda Windisch war ungeduldig. Schon zum dritten Mal hatte sie versucht, Georg telefonisch zu erreichen. Er hatte nie abgehoben. Wahrscheinlich war er gar nicht zu Hause. Aber manchmal war er zu Hause und schlief und ging daher nicht ans Telefon. Vorsorglich, das wusste Gerda, hatte er das Telefon aus der Steckdose gezogen und einen Telefonstecker ohne Gerät ersatzweise eingesteckt, damit es nicht aus der Steckdose läutete, was auch schon passiert war. Gerade heute wollte sie ihm sagen, dass es mit ihnen nicht so weiter ging. Und jetzt war er nicht da. Einmal hatte er gesagt, er wolle sich einen Anrufsbeantworter kaufen, aber der müsse postgenehmigt sein und so etwas koste fast fünftausend Schilling. Also hatte er keinen. Sie wollte sich trennen. Nie hatte er Zeit für sie. Und dann auch noch dieser Paul, von dem er ihr erzählt hatte. Ob es den überhaupt gab ? Da steckt sicher eine andere Frau dahinter, mutmaßte sie. Oder Georg und Paul waren schwul. Ja, denen würde sie die Schwänze ausreißen. Allen beiden.
Nun, da sie ihn telefonisch nicht erreichen konnte, machte sie sich auf den Weg. In die Jahngasse. Wahrscheinlich würde sie ihn schon in der Reinprechtsdorfer Straße treffen, wenn er mit seinem schwulen Freund Paul um die Ecke käme. In der Reinprechtsdorfer Straße waren viele Männer. Georg aber war nicht darunter. Paul auch nicht. Sie klopfte an seiner Wohnung in der Jahngasse. Niemand öffnete. Sie nahm einen Zettel und hängte diesen an Georgs Tür. Bitte gefälligst um Rückruf, Gerda. Aus dem Schwänzeausreißen schien nichts zu werden. Also wollte sie sich einen Mann anlachen.
Sie ging zurück nach Hause, zog sich einen nicht all zu kurzen Minirock an, dann zog sie sich den BH aus und über ihrer durchsichtigen Bluse ein Sakko. Jetzt war sie erotisch, aber nicht zu erotisch. So machte sie sich dann auf den Weg . Im Gasthaus „Zur Bunten Kuh“ stellte sie sich dann an die Theke. Wenn jemand da gewesen wäre, hätte sie sicher Aufsehen erregt. Da aber nur die Kellnerin da war, bestellte sie sich zunächst ein Bier.
Zwei Männer betraten das Lokal. Sie nahmen im Hinterzimmer Platz und bestellten sich zwei große Bier und ein Schachbrett. Gerda würdigten sie keines Blickes. Das sind doch keine Männer, dachte sie. Dann kam ein Kronenzeitungsverkäufer. „Oh, schöne Frau!“ sagte er. Doch der war wieder nicht ihr Fall. Dann musste sie aufs Klo. Auf dem Weg zurück bemerkte sie auf dem Boden eine Blutspur. Aufgeregt erzählte sie dies der Kellnerin. Ja, der Löwe, sagte die Kellnerin, das ist ein Stammgast, der leidet unter Nasenbluten. In der linken Ecke des Lokales bemerkte Gerda plötzlich einen Punker, den sie vorher nicht gesehen hatte. Sie näherte sich seinem Tisch. Er hatte ein Papiertaschentuch in der Hand. Darf ich mich ein wenig zu dir setzen, fragte sie. Bitte, setz dich her! Ich bin der Löwe. Und ich bin die Gerda. Wieso hast du Nasenbluten ? fragte Gerda. Ich weiß auch nicht, antwortete der Löwe. Ich hab das immer wieder, einmal war ich beim Arzt und der hat gesagt, das ist ein Vitaminmangel. Er musste niesen. Neuerlich rann ihm das Blut aus der Nase. Und wieso heißt du Löwe, wollte Gerda wissen. Ich bin der Löwe von Juda! erklärte der Löwe. Der Vater der Rastas. Und wieso bist du dann ein Punk und kein Reggaeanhänger ? Der Löwe setzte seine Wollhaube auf, die in den Nationalfarben Jamaicas gestrickt war. Bist du einsam, fragte Gerda. Ich bin immer einsam, weißt du was, ich kann mich nicht anpassen, ich bin eben der Löwe. Gerda öffnete ihr Sakko. Die durchsichtige Bluse wurde jetzt einsichtig. Ich möchte nicht mit dir schlafen! Ich möchte einfach nur mit jemand reden, ergänzte sie. Ja, ich möchte auch einmal mit jemandem ein gutes Gespräch haben, meinte der Löwe. Gerda streichelte ihn am Kopf. Sie bestellten jeder noch ein Bier. Der Löwe erklärte seine Lebensphilosophie. Man muss eben leben und leben lassen. Gerda lehnte sich an den Löwen an, dann legte sie ihren Kopf an seine Seite. Weißt du was, Löwe, wurde sie leise, heute möchte ich mit dir davon schweben! Ah so, aha! Wunderte sich der Löwe, ließ es sich aber gefallen. Willst du noch ein Bier, Löwe ? wollte Gerda noch wissen. Ja, noch ein Bier! brüllte der Löwe. Noch zwei Bier, rief Gerda. „Anarchy for the U.K.“ brüllte der Löwe neuerlich. Gerda gab ihm einen Kuss. Weißt du was, immer wenn ich ein paar Bier trinke, verschwindet plötzlich mein Nasenbluten! stellt der Löwe fest. Gerda kichert und sie küssen sich wieder. „Zahlen!“ ruft der Löwe. Weißt du was, heute lade ich dich ein! schlägt Gerda vor. Na ja, ausnahmsweise. Hand in Hand torkeln sie aus dem Lokal in die neonerhellte Nacht.
VIER
Walter Vyslocil war eigentlich ein sympathischer Kerl. Fand zumindest Georg. Er hatte eine Wohnung im 3. Bezirk, nahe dem Kardinal Nagl-Platz, ziemlich geräumig, auch wenn sie nicht ihm, sondern seiner Mutter gehörte. Georg hatte sich die Schuhe ausgezogen und die bereitgestellten Hausschuhe von Walter Vyslocil´s Mutter angezogen, die ihm etwas zu eng waren. Er sei ein Revolutionär, behauptete er, doch einmal habe er eine Blödheit gemacht. Georg wunderte sich über den Revolutionär, denn wenn man in diesem Alter noch bei seiner Mutter wohnt, ist man ja gerade das nicht. Darauf wollte er aber nicht eingehen, vielmehr interessierte ihn, was das für eine Dummheit gewesen sei. Du weißt ja, was der Grund unseres Treffens ist, erwiderte Walter. Ja, ich habe das unterschrieben. Was, fragte Georg rhetorisch. Ja, beim Dr. Mitterlehner habe ich unterschrieben, dass ich im Fall meines Ablebens einen Teil meiner Erbschaft diesem vermache. Dafür war die Therapie günstig. Nur zweihundert Schilling pro Sitzung. Ja, mir ist es auch schlecht gegangen, einmal aber so schlecht, dass ich nicht mehr hingehen konnte. Ich hab mich nämlich kurz vor der Sitzung angekotzt. Vermutlich von den Medikamenten, die er mir verschrieben hat. Und das war der Grund, warum ich die Sitzung abbrechen musste. Vielleicht hat mir dieser Umstand das Leben gerettet. Ich würde auch jeder Zeit vor Gericht bezeugen, dass ich zu dieser Unterschrift aufgefordert wurde und diese auch geleistet habe.
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2008
Alle Rechte vorbehalten