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1943, Ettersberg:

Die Sonne schien ihm direkt in die Augen und er musste sie zusammenkneifen. Er hielt die hellen Lichtstrahlen nicht mehr aus. Ilan hatte es sich zur täglichen Aufgabe gemacht, Morgens wenn er das erste Mal die Baracke verließ, so lange in die Sonne zu schauen wie er es schaffte auszuhalten ohne die Augen von diesem, für ihn einzigen Lichtblick, abzuwenden. Ilan ist 16 Jahre alt und hat dieselben Interessen wie alle anderen Jungen in seinem Alter. Mit dem einzigen Unterschied, dass er seine nicht ausleben kann an dem Ort wo er sich befand. Er hatte die Tage aufgehört zu zählen, welche er nun schon von seiner Familie getrennt war. Er vermisste seine Mutter, seinen Vater und seinen Großvater mehr als alles andere auf der Welt. Selbst hier, an einem Ort, der in seiner Fantasie nicht hätte schrecklicher sein können, wäre seine Freude darüber, auch nur ein Familienmitglied wieder in die Arme nehmen zu können, unbeschreiblich groß gewesen.
Er wollte seinen Blick gerade wieder zur Sonne wenden, als ein Mann um die 60, sich vor ihn stellte und ihm somit den Blick zur Sonne versperrte. Josua hatte sich seiner angenommen, denn auch er hatte sämtliche Familienmitglieder und seinen Lebensgefährten an jenem Tag verloren, als die SS-Soldaten sein Haus stürmten. Ilan mochte diesen alten Mann. Denn durch ihn fühlte er sich nicht ganz so allein und einsam. Mit den anderen Jungen in seinem Alter wollte er nicht reden. In den ersten Monaten hatte er mit keinem der anderen Häftlinge gesprochen und er verdankte es Josuas Hartnäckigkeit, welcher sich immer wieder neben ihn gesetzt hatte und ihm Tag für Tag Geschichten aus einem besseren Leben erzählte, dass er überhaupt wieder angefangen hatte zu sprechen. Auch heute setzte sich der viel zu magere Mann mit dem aufgenähten rosa Winkel in Höhe seiner linken Brust neben ihn. Ilan hatte nicht nur einen Winkel auf seiner Kleidung sondern zwei gelbe die aufeinandergesetzt waren und so den Judenstern bildeten. „Weißt du was an so einem Tag wie diesem bei uns Christen gefeiert wird?“, fragte der alte Mann.
Ilan wandte den Blick von dem rosa Winkel ab und sah Josua direkt in die Augen. Er hatte das Gefühl, dass die Farbe in den Augen des alten Mannes täglich mehr verblasste und die Traurigkeit mehr und mehr Besitz von ihm ergriff. Ohne eine Antwort abzuwarten ergriff Josua erneut das Wort: „Bei uns Christen würde man unter anderen Umständen heute die Auferstehung Jesu Christi feiern. Jesu Christi ist der Sohn Gottes und hat den Tod überwunden.“ „Werden wir auch den Tod überwinden Josua?“, frage Ilan ihn sofort. „Ja mein Sohn, wir werden auch das hier überwinden und nach unserem Tod wartet wieder eine bessere Zeit auf uns.“ Ilan sah wie dem alten Mann eine Träne über sein schwarz verrußtes Gesicht floss und so, einen hellen Streifen an der Stelle zurückließ. „Ich weine nicht vor Trauer Ilan, ich weine vor Glück wenn ich an die alten Zeiten denke wo ich mit meiner Familie an Ostern um den Tisch gesessen habe und wir ausgelassen und fröhlich beisammen waren. Die Erinnerungen geben mir hier drin Kraft und ich kann dankbar sein, dass ich so schöne Momente in meinem Dasein erleben durfte. Wenn ich mich recht erinnere, dann feiert ihr zu der Zeit wo wir die Auferstehung Jesu Christi feiern Pessach? Was genau feiert ihr da?“ Jetzt war es Ilan, dem eine Träne entglitt. Allein das Wort Pessach, rief in ihm wunderschöne Erinnerungen hervor. Stolz darüber, dass jetzt er es war welcher dem alten Mann, der sonst immer alles wusste, einmal etwas beibringen konnte, überschlug sich seine Stimme fast von selbst als er ihm antwortete. „Es ist eines der zentralen Feste des Judentums und wir feiern dort den Auszug unseres Volkes aus der Sklaverei der Ägypter. Ich habe diese Feste geliebt und es macht mich im Gegenteil zu dir sehr traurig wenn ich an die schöne Zeit zurück denke, weil mir dann noch viel stärker bewusst wird, wie sehr mir meine Eltern und mein Großvater fehlen.
Der Alte wollte gerade etwas erwidern als aus einem Mikrophon die Stimme eines SS-Wachmanns zu hören war. Sofort war die Trauer in Ilans Augen verschwunden und zurück blieb nur die Angst, welche ihn nun den restlichen Tag begleiten würde. Er realisierte, dass er weder die Baracke verlassen noch Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht gespürt hatte. Stattdessen saß er auf dem Boden der Baracke, der alte Mann neben ihm und sie sahen gemeinsam an die Decke zu dem schwach flackernden gelben Licht, was aus der Glühbirne trat. Dennoch war er sehr Dankbar für den kurzen Moment, in dem der Alte es wieder geschafft hatte, ihn durch Erzählungen von seiner Angst abzulenken.
1943, KZ Buchenwald


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Texte: Coverbild und Text: Copyright © Kira Kalle, 2011
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2011

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