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Alfred DeMichele – Wasserstoffe

 

»Das Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.«
(Jules Verne - Die geheimnisvolle Insel – 1870)

 

Prolog

Wer in Paris an einem ganz und gar außergewöhnlichen Ort speisen will, dem sei das Restaurant in der zweiten Etage des Eiffelturms empfohlen. Ein Privataufzug befördert die Gäste vom Fundament des Südpfeilers direkt in das exklusive Restaurant »Le Jules Verne« in 123 Metern Höhe, wo man sich bei einem atemberaubenden Panoramablick höchsten Genüssen französischer Kochkunst hingeben kann. Ob der berühmte Schriftsteller jemals selbst auf dem Eiffelturm dinierte, ist nicht bekannt. Überliefert ist jedoch eine Anekdote, die sich im Jahr 1904, zu Füßen des stählernen Kolosses, auf dem Pariser Marsfeld ereignete:

An einem herrlichen Sonntag Nachmittag flanierten der alte Jules Verne und sein neunjähriger Enkel Jules Michel über das Marsfeld. Als sie den Eiffelturm erreichten, deutete der aufgeweckte Knabe nach oben und fragte seinen Großvater, was denn die goldene Schrift unterhalb der ersten Etage zu bedeuten habe. Die Augen des alten Mannes waren vom grauen Star getrübt und er bat seinen Enkel ihm seine Entdeckung vorzulesen. Während sie gemeinsam das Fundament umrundeten, zitierte der kleine Jules Michel die Namen der berühmten französischen Erfinder, die Gustave Eiffel seinerzeit dort, zur Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen hatte anbringen lassen. Es waren Namen wie Lagrange, Laplace, Ampère oder Gay-Lussac, die dem technikaffinen Schriftsteller nur zu gut bekannt waren und über deren Erfindungen er seinem wissbegierigen Enkel viel zu erzählen wusste. Als der Junge jedoch den Namen Becquerel entzifferte, fragte er aufgeregt seinen Großvater: »Ist das nicht der berühmte Physiker, der letztes Jahr den Nobelpreis erhalten hat? Wieso steht der denn schon da oben? Der Eiffelturm ist doch schon vor fünfzehn Jahren erbaut worden! War der denn damals schon berühmt?« Der alte Schriftsteller, der mit der Familie Becquerel seit vielen Jahren gesellschaftlichen Umgang pflegte, lächelte milde und erklärte ihm, dass die Becquerels schon seit Generationen immer wieder berühmte Physiker hervorgebracht hätten: »Der Nobelpreis wurde Henri Becquerel für die Entdeckung der Radioaktivität verliehen. Sein Vater, Alexandre Edmond Becquerel, hat den photoelektrischen Effekt entdeckt und sein Großvater Antoine César Becquerel hat sich große Verdienste bei der Erforschung der Elektrizität erworben. Ihm ist die Inschrift dort oben gewidmet!« Der kleine Jules Michel starrte bewundernd auf die in der Sonne strahlenden goldenen Lettern und fragte sich insgeheim, ob er später wohl einmal ein berühmter Schriftsteller werden würde.

Als die beiden eine Stunde später in einem Cafe am Tuileriengarten saßen und süße Limonade tranken, fragte der alte Mann seinen Enkel, welchen Beruf er denn später einmal ergreifen wolle. »Mineralienforscher!«, sprudelte es spontan aus dem Mund des Jungen heraus. »So wie Henri Becquerel, der mit seinen Uranmineralen diese geheimnisvolle Strahlung entdeckt hat und damit so berühmt wurde!«

Der alte Schriftsteller nickte zufrieden. »Das ist eine sehr gute Entscheidung, mein Junge«, sagte er und strich ihm zärtlich übers Haar. »Ohne die Erforschung der Minerale gäbe es kein Eisen, keinen Eiffelturm, keine Elektrizität und auch keinen technischen Fortschritt. Die Natur birgt noch unendlich viele Geheimnisse, die von uns Menschen erforscht werden wollen!«

Der Knabe überlegte eine Weile. »Großvater, du hast doch so viele wissenschaftliche Bücher geschrieben! Bist du denn auch schon einem Geheimnis auf die Spur gekommen?«

Der alte Mann blickte nachdenklich drein, bevor er sich nach vorn beugte und seinem Enkel ins Ohr flüsterte: »Das kann man wohl sagen! Bist du denn schon alt genug, um ein Geheimnis für dich zu behalten?«

Der kleine Jules Michel nickte und schüttete vor lauter Aufregung etwas von der gelben Brause über seinen feinen Sonntagsanzug. Die Geschichte, die er damals von seinem Großvater erfuhr, sollte er seiner Lebtag nicht mehr vergessen. Er wurde zwar weder ein berühmter Schriftsteller, noch ein berühmter Mineraloge; die Liebe zur Wissenschaft begleitete ihn aber sein Leben lang. Als Hobby-Mineraloge durchstreifte er später mit seinem Geologenhammer die französischen Alpen, wann immer er die Zeit dazu fand. Über das Geheimnis, das ihm an jenem Sonntag anvertraut worden war, sprach er jedoch bis zu seinem Tod mit keiner Menschenseele.


Teil 1 - Südsee

Malachit ist ein häufig vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der „Carbonate und Nitrate“ mit der chemischen Zusammensetzung Cu2[(OH)2|CO3]. Er ist damit chemisch gesehen ein basisches Kupfercarbonat. Schon im Antiken Griechenland, im Alten Ägypten und Römischen Reich war das Mineral außerordentlich beliebt. Die Ägypter schnitzten aus dem Malachit beispielsweise allerlei Kunstobjekte wie etwa Amulette und Skarabäen.

Tomu Pahua wurde von einem dumpfen Geräusch geweckt. Erschrocken riss er die Augen auf. Doch es dauerte nur eine Sekunde bis er die Situation erfasst hatte und sich wieder entspannt in die Hängematte sinken ließ. Es war eine Kokosnuss, die sich in luftiger Höhe von ihrer Palme gelöst und dem Gesetz der Schwerkraft folgend, ihre kurze Reise nach unten angetreten hatte. Wo sie sich mit Wucht, unweit von Tomu, in den weißen Korallensand bohrte. »Wieviele Menschen werden wohl pro Jahr von Kokosnüssen erschlagen?«, grübelte Tomu und rieb sich die Augen. Über Hundert, glaubte er irgendwo einmal gelesen zu haben. Aber als Naturwissenschaftler war er generell etwas skeptisch, was die Verbreitung solcher Zahlen anging.

»Fast wie im Paradies«, dachte er, während sich über ihm das Blätterdach der Palmen in der leichten Südsee-Brise wiegte. Sonne, Strand und keine Touristen weit und breit an diesem wunderschönen Ende der Welt.

Nukufetau – der Name des Atolls stammt aus dem Polynesischen und bedeutet übersetzt »Die Insel mit dem Fetaubaum«. Wie am Reißbrett gezeichnet ragen die vom Meer abgetragenen Reste des längst erloschenen Vulkans rechteckförmig aus den unendlichen Weiten des Südpazifiks. Das äußere Riff zähmt die Wellen des Ozeans und erlaubt Schiffen nur an einer einzigen Stelle die Passage in die geschützte Lagune. Die einrahmenden Inselchen werden von den Eingeborenen liebevoll »Motus« genannt. Die meisten von ihnen sind viel zu klein, um dauerhaft darauf leben zu können. Lediglich auf dem Motu Savave bot die Natur genügend Lebensraum, um eine Dorfgemeinschaft zu gründen. Immerhin ein paar hundert Menschen leben heute in dieser abgeschiedenen Idylle. Oder genauer gesagt: Fünf Prozent aller Einwohner der Inselrepublik Tuvalu.

Beinahe hundert Kilometer trennen Nukufetau von Tuvalus Hauptinsel Funafuti. Dort befindet sich das Verwaltungszentrum des, aus neun bewohnten Atollen bestehenden Landes. Hier gibt es ein Krankenhaus, eine weiterführende Schule und einen Flugplatz! Auf dem zweimal in der Woche ein Flugzeug landet und kurz darauf wieder verschwindet. Den Rest der Woche wird die Landebahn als Sportplatz und Treffpunkt für jung und alt genutzt. Was angesichts der begrenzten Inselfläche auch nicht verwunderlich ist.

Wie wäre Tomus Leben verlaufen, wenn seine Eltern vor vierzehn Jahren nicht den Entschluss gefasst hätten, nach Neuseeland auszuwandern? Wahrscheinlich hätte er den Rest seines Lebens in Tuvalu verbracht, so wie alle seine damaligen Freunde. Sein Vater war Mechaniker und seine Mutter Krankenschwester von Beruf. Sie hatten Glück und das begehrte neuseeländische Arbeitsvisum bekommen. Deswegen hatten sie mit dem fünfzehnjährigen Tomu und seiner kleinen Schwester die Insel verlassen und in Auckland, Neuseelands größter Stadt, Arbeit gefunden und ein neues Leben begonnen. Wäre er heute unglücklich, wenn sie geblieben wären? Wahrscheinlich nicht. Wenn er hier seine ehemaligen Schulkameraden traf, hatte er nicht den Eindruck, dass ihnen irgendetwas fehlte. Sie führten ein glückliches und friedvolles Leben in ihrem kleinen Paradies, fernab vom stressigen Trubel der großen weiten Welt.

Die ersten Jahre in Neuseeland waren hart für Tomu. Die Jungs in seiner neuen Schule hatten ihn unmissverständlich wissen lassen, dass er ein Fremder war und sie hatten ihm den Start nicht gerade leicht gemacht. Seine schulischen Leistungen ließen anfangs sehr zu wünschen übrig. Schließlich hatte er aber doch die Kurve gekriegt und den Kiwis gezeigt, was in ihm steckte. Am Ende seiner Schulzeit war er Klassenbester und bekam sogar ein Begabtenstipendium für das Hochschulstudium der Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität von Auckland. Seine Träume gingen in Erfüllung, als er nach Abschluss des Studiums einen Job bei einem der begehrtesten Arbeitgeber Neuseelands ergatterte. Inzwischen war er knapp dreißig Jahre alt und verdiente im Vergleich zu seinen Eltern und seiner Schwester eine Menge Geld.

Während Tomus Augen über den endlosen Traumstrand wanderten überkam ihn ein leises Gefühl von Wehmut. Als Kind hatte er oft seine Freizeit an diesem idyllischen Ort verbracht. Seine Freundin Naomi hatte ihn oft hier her begleitet und gemeinsam hatten sie hier Pläne über ihre Zukunft geschmiedet. Kurz vor seiner Abreise nach Neuseeland hatten sie im Schutz der Palmen zum ersten Mal Liebe gemacht. Der Abschied hatte ihm fast das Herz gebrochen. Jetzt war sie mit einem seiner ehemaligen Schulkameraden verheiratet und hatte vier Kinder. Zwei stramme Jungs und zwei bildhübsche Mädchen. Gestern war er Naomi zufällig auf der Straße begegnet. Vor Verlegenheit hatte er gar nicht gewusst, was er zu ihr sagen sollte.

Bevor Tomu die Hängematte von den Palmen löste, packte er die Kokosnuss in seinen Rucksack. Dann machte er sich auf den Weg zurück ins Dorf.

Kulturunterschiede

Strunzit ist ein selten vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der „Phosphate, Arsenate und Vanadate“. Es kristallisiert im triklinen Kristallsystem mit der chemischen Zusammensetzung MnFe23+[OH|PO4]2·6H2O, ist also ein wasserhaltiges Mangan-Eisen-Phosphat mit zusätzlichen Hydroxidionen. Das Mineral wurde zu Ehren von Karl Hugo Strunz, dem Begründer der modernen Klassifikation der Minerale, benannt.

Als Tomu das Haus seines Onkels und seiner Tante erreichte, war die Familie vollständig auf der Veranda versammelt. Tante Ana bereitete mit Tomus Mutter das Abendessen vor. Sein Vater und dessen Bruder Enele hielten eine Bierflasche in der Hand und führten Männergespräche.

Tomu ging in die Küche und holte eine Machete aus der Werkzeugkiste. Mit einem gezielten Hieb öffnete er die Kokosnuss und kostete ein wenig von leckeren Flüssigkeit im Inneren. Dann löste er mit geschickten Bewegungen der langen Klinge das Fruchtfleisch aus der harten Schale. Mangels Ananassaft holte er eine angebrochene Flasche Softdrink aus dem Kühlschrank und füllte die Nuss damit fast bis unter den Rand. Noch ein Schuss Rum aus der Flasche im Küchenregal und fertig war die Pina Colada à la Nukufetau. »Habt ihr einen Strohhalm?«, rief er laut in Richtung der offenen Tür.

»In der linken Schublade müssen welche sein!«, kam prompt die Antwort seiner Tante.

»In Neuseeland wollen sie jetzt den Verkauf von Strohhalmen verbieten!«, sagte er, als sich auf der Veranda neben seinen Onkel setzte.

»Warum das denn?«, fragte Tante Ana mit erstauntem Blick.

»Wegen des vielen Plastikmülls in den Meeren«, antwortete Tomus Vater mit einem Schulterzucken. »Man will verhindern, dass die Verschmutzung der Ozeane in diesem Tempo weitergeht.«

»Bei uns landen die Strohhalme mit all dem anderen Plastemüll hinter dem Dorf«, lachte Onkel Enele, »und beim nächsten Zyklon wird das ganze Zeug für immer entsorgt.«

»Denkt ihr denn gar nicht an die Umwelt?«, fragte Tomus Mutter mit vorwurfsvollem Blick.

»Tuvalu ist ein armes Land«, entgegnete Onkel Enele und schüttelte verständnislos den Kopf. »Wisst ihr was eine fachgerechte Entsorgung kosten würde? Das können wir uns leider nicht leisten.« Etwas verschämt wandte er seinen Blick Richtung Boden. Dann wechselte er lieber das Thema: »Tomu, ich habe von deinen Eltern gehört, dass du ein gutverdienender Raketeningenieur bist und ihnen den Flug hierher als Weihnachtsgeschenk spendiert hast.«

Jetzt war es Tomu, der verlegen drein blickte. Er würde sich bei weitem nicht als Großverdiener bezeichnen. Die Miete für sein Appartement in Auckland verschlang jeden Monat einen Großteil seines Gehalts. Dennoch verdiente er wesentlich mehr als seine Eltern und seine Schwester und im Vergleich zu seinen armen Verwandten aus Tuvalu war er zweifelsohne reich.

Zu allem Überfluss fiel ihm nun auch noch seine eigene Mutter in den Rücken: »Unser Tomu arbeitet bei einem der angesehensten Arbeitgeber von Neuseeland!«

»Bist du denn so etwas wie ein Astronaut?«, fragte sein Onkel neugierig. Fliegst du demnächst mit einer Rakete ins All? Oder zum Mond – oder gar zum Mars? Das wäre doch ein Ding, wenn einer von uns Nukufetauern seinen Fuß auf einen fremden Stern setzen würde!«

»Ach Onkel«, lachte Tomu und schüttelte den Kopf. »Zu fremden Sternen wird so schnell kein Mensch fliegen! Und unsere Firma hat auch nichts mit der bemannten Raumfahrt zu tun. Wir haben uns auf den Transport von kleinen Satelliten spezialisiert und bringen die mit unseren Raketen in eine erdnahe Umlaufbahn.«

»Ist das denn nicht die Domäne der Amerikaner?«, wunderte sich Onkel Enele. Er hatte noch nie davon gehört, dass Neuseeland eine Raumfahrtnation sei.

»Oh nein!«, entgegnete Tomu und holte etwas aus: » Die Rocketeer Limited hat geschickt eine Nische in der Weltraumindustrie besetzt. Wir sind in der Lage wesentlich kostengünstiger als die Amis kleine Lasten ins All zu transportieren. Sogar einen richtigen Weltraumbahnhof haben wir gebaut. Die abgelegene Lage von Neuseeland ist ein großer Standortvorteil für uns. Wenn die Amerikaner eine Rakete von Florida aus in All schießen, ist das mit einem gewaltigen Organisationsaufwand verbunden. Der Flug- und Schiffsverkehr ist dort dermaßen dicht, dass es immer ein Heidengeld kostet, die Vorbedingungen für einen Raketenstart zu schaffen. Stell dir vor, das Ding stürzt ab und fällt jemandem auf den Kopf. Man muss dort jedes Mal großräumige Flugverbotszonen einrichten und die Meere im weiten Umkreis der Startrampe freihalten. Das alles ist in Neuseeland viel einfacher! Wir starten unsere Raketen quasi im Nirgendwo und haben immer freie Flugbahn. Außerdem hat mein Chef für die kommenden 30 Jahre die Genehmigung bekommen, alle paar Tage eine Rakete ins All zu schießen. Das senkt unsere Kosten und verschafft uns einen riesigen Wettbewerbsvorteil.«

»Das klingt ja fantastisch!«, meinte Onkel Enele und fügte hinzu: »Vielleicht sollten wir auch langsam darüber nachdenken nach Neuseeland auszuwandern und dieses absaufende Atoll zu verlassen.«

»Stell dir das nicht zu einfach vor«, beschwichtigte ihn sein Bruder sofort. »Die gutbezahlten Jobs sind dort rar gesät und selbst ein kleines Genie wie unser Tomu hat großes Glück gehabt, dass er da reingerutscht ist! Von meinem Gehalt als Automechaniker hätte ich mir diesen Weihnachtsurlaub sicher nicht leisten können. Und bei Takena schaut es in ihrem Job als Krankenschwester auch nicht besser aus. Jede Menge Nachtschichten und die Bezahlung ist mies.«

Auf Tomus Schwester ging der Mechaniker erst gar nicht näher ein. Das arme Mädchen versuchte sich mit Gelegenheitsjobs in der Tourismusindustrie mehr schlecht als recht über Wasser zu halten. Vor Weihnachten hatte sie auf der Südinsel in Queenstown als Zimmermädchen in einem kleinen Hotel gearbeitet. Die Reise von dort nach Auckland hatte sich alles andere als einfach gestaltet. Sie musste erst mit dem Bus nach Picton fahren, dann die teure Fähre nach Wellington nehmen und schließlich mit dem Nachtzug die ganze Nordinsel durchqueren. Ohne Tomus Unterstützung hätte sie an dem Familienurlaub nicht teilnehmen können.

Nachlass

Brownleeit ist ein sehr seltenes und bisher auf der Erde nicht nachgewiesenes Mangan-Silicium-Mineral aus der Mineralklasse der „Elemente (Metalle, intermetallische Legierungen, Metalloide u. Nichtmetalle, Carbide, Silicide, Nitride u. Phosphide)“. Es konnte bisher nur in Form mikroskopisch kleiner Partikel in gesammeltem kosmischem Staub nachgewiesen werden. Über die Bildungsbedingungen des Mineral ist bisher nichts bekannt. Entdeckt wurde Brownleeit 2003 in Staubpartikeln, die in der Stratosphäre über dem Südwesten der USA eingefangen worden waren.

Tomu fühlte sich wie gemästet. Drei Tage lang waren die vier Neuseeländer von ihren Gastgebern mit Essen vollgestopft worden. Schließlich sahen sie alle viel zu mager aus und sollten während ihres Ferienaufenthalts wieder zu Kräften kommen. Onkel Enele hatte den Besuchern zu Ehren ein Schwein geschlachtet und Tante Ana bot alles an Nahrungsmitteln auf, was die Vorratskammer und der Garten hinter dem Haus her gab. Tomu wusste, wie schwer es war auf dem Atoll Gemüse anzubauen, da der Boden nahezu vollständig aus Korallensand bestand und Humus eine wertvolle Resource war, die teuer importiert werden musste. Dennoch ließ es sich Tante Ana nicht nehmen, ihren Gästen jeden Tag frisches Gemüse vorzusetzen, das sie in Blumentöpfen hinter dem Haus eigenhändig gezogen hatte. Nach dem Mittagessen saßen alle am Boden der Veranda und unterhielten sich über dies und das.

»Wisst ihr schon, dass der Franzose letzten Monat gestorben ist?«, fragte Tante Ana eher beiläufig in die Runde.

»Louis Forgeron?«, fragte Tomus Vater sichtbar berührt. Er kannte Louis seit Kindertagen. Die beiden waren etwa gleich alt.

»Ja, wer sonst? Kennst du einen anderen Franzosen hier auf der Insel? Er wurde tot am Strand gefunden. Es heißt, er wäre betrunken mit seinem Boot zum Fischen in die Lagune gefahren und dort ins Wasser gefallen. Na ja, so genau wird man wohl nie erfahren, was da passiert ist. Aber er war ja auch schon immer ein merkwürdiger Kerl!«

Louis Forgeron war auf der Insel eigentlich nur als »Der Franzose« bekannt. Seine Großeltern waren aus Französisch Polynesien gekommen, wo der alte Pierre angeblich für die französische Regierung gearbeitet hatte. Sie sprachen aber auch gut englisch und vom Aussehen her konnten sie keine gebürtigen Polynesier gewesen sein. Dafür hatten sie eine viel zu helle Haut. Der Familie war aber kein Glück in ihrer neuen Heimat auf Nukufetau beschieden. Der alte Pierre starb bereits kurz nach der Ankunft an einer seltsamen Krankheit. Seinem Sohn Jules war auch kein langes Leben vergönnt. Er starb vier Jahre nach der Geburt seines Sohnes Louis, der bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr von seiner Mutter aufgezogen wurde, bis auch diese überraschend starb und Louis von da an ganz allein auf sich gestellt war. Die Inselgemeinschaft bemühte sich redlich um ihn und sorgte dafür, dass er im Haus seiner Eltern wohnen bleiben konnte. Dennoch blieb er sein Leben lang ein Außenseiter. Tomu kannte ihn nur vom Sehen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals ein Wort mit ihm gewechselt zu haben. Was zum einen sicher am großen Altersunterschied der beiden lag, aber bestimmt auch daran, dass Louis von den meisten Inselbewohnern gemieden wurde. Warum entzog sich Tomus Kenntnis. Es hatte ihn auch nie interessiert.

»Was passiert denn jetzt mit seinem Haus?«, fragte Tomus Vater neugierig.

»Louis hat keine Verwandten«, antwortete sein Bruder. »Das Haus wird an den vergeben, der es am nötigsten hat. Die persönlichen Habseligkeiten des Franzosen landen wahrscheinlich auf der Müllkippe.«

Da schaltete sich Tante Ana wieder in das Gespräch ein: »Tomu, du solltest vielleicht einen Blick darauf werfen! Es heißt, der Franzose habe ein paar wissenschaftliche Geräte besessen, von denen niemand weiß, was damit anzufangen ist. Du bist doch Wissenschaftler! Geh doch einfach mal rüber und sieh dir die Sachen an!«

»Aber ich kann doch nicht einfach in das Haus von Louis Forgeron gehen und in dessen Sachen rumschnüffeln. Wie sieht das denn aus?«, entgegnete Tomu entrüstet. Außerdem konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich im Hausrat dieser gescheiterten Existenz irgend etwas finden ließe, was für ihn von Interesse sein könnte.

Doch auch Onkel Enele meinte: »Schauen kostet doch nichts! Komm, wir gehen zum Dorfvorsteher und sehen mit ihm zusammen die Sachen des Franzosen durch. Da kann dann keiner was dagegen haben!«

Eher aus Freundlichkeit seinen Gastgebern gegenüber, als aus persönlichem Interesse, gab Tomu dem Drängen seiner Verwandten nach und willigte ein. Keine zehn Minuten später waren er und Onkel Enele beim Haus des Dorfvorstehers angekommen.

»Tomu! Das ist ja eine Überraschung!«, begrüßte ihn der dicke alte Mann freundlich und klopfte ihm fest auf die Schulter. »Ich habe schon gehört: Du bist Astronaut oder so etwas ähnliches geworden! Ich habe ja schon immer gesagt, dass aus dir mal etwas ganz besonderes wird.«

Tomu hatte keine Lust schon wieder zu erzählen, was er in Wirklichkeit beruflich so machte und erwiderte mit freundlichem Lächeln: »Danke, danke, zu viel der Ehre, nicht ganz getroffen, aber so ungefähr stimmt das schon.«

Zum Glück erlöste ihn sein Onkel aus der Situation: »Wir wollten zum Haus des Franzosen gehen, weil es heißt, dort lägen ein paar wissenschaftliche Geräte herum. Vielleicht sind die für unseren gescheiten Tomu ja von Interesse!«

Der wäre vor lauter Peinlichkeit am liebsten im Sandboden versunken und meinte: »Aber nur wenn es keine Umstände macht.«

»Aber klar doch!«, antwortete der Dorfvorsteher und sein strahlendes Gesicht zeigte ehrliche Freude über diese willkommene Abwechslung. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg durch das schachbrettartig aufgebaute Dorf und erreichten nach fünf Minuten die Hütte des toten Franzosen.

»Na, dann wollen wir mal sehen, welche Überraschungen hier auf uns warten!«, lachte der Dorfvorsteher und führte seine Begleiter über die Veranda ins Innere des nicht abgeschlossenen Hauses. »Viele Habseligkeiten scheint der arme Kerl ja nicht besessen zu haben.«

Tomus Augen mussten sich erst langsam an die Dunkelheit der Hütte gewöhnen, die nur aus einem einzigen großen Wohnraum und einem kleinen abgegrenzten Sanitärbereich bestand. An einer der Wände befand sich, unter einem winzigen Fenster, das Bett des Franzosen. Ungemacht und so, als könnte er jeden Augenblick wieder vom Fischen heimkehren. An der gegenüber liegenden Wand stand ein Kleiderschrank und in etwas Abstand davon eine Kommode. Neben dem Eingang zum Waschraum war eine kleine Küchenzeile mit einem Regal über dem Spülbecken und einem Unterschrank darunter. Direkt neben der Eingangstür standen ein Tisch und ein paar reparaturbedürftige Stühle. Mehr Möbel gab es nicht. Die Inspektion des Küchenschranks beförderte nur die üblichen Haushaltsgeräte zutage, die so oder so ähnlich in jeder der Inselhütten vorhanden waren. Den Kleiderschrank öffnete der Dorfvorsteher nur ganz kurz und schloß ihn sofort wieder, als der unangenehme Geruch der darin befindlichen Sachen die Nasen der drei Männer erreichte. Schließlich kam die Kommode an die Reihe, in der sich der restliche Hausrat des Franzosen befinden musste. Der alte Mann räumte den Inhalt Stück für Stück heraus und platzierte alles fein säuberlich auf dem Tisch. Fotoalben, ein Dokumentenordner, ein schönes, aber unvollständiges Porzellan-Kaffeeservice und weitere gewöhnliche Dinge, die man in so einem Möbelstück aufzuheben pflegt, kamen zutage.

Dann ging ein Strahlen über sein Gesicht und er rief: »Ja was haben wir denn da?« Vorsichtig hob er eine schwere Kupferplatte mit einem darauf liegenden Instrument vom untersten Regalboden und legte beides neben die anderen Sachen auf den Tisch. »Tomu, hast du eine Ahnung was das sein könnte?«

Tomu nahm das Metallinstrument behutsam in seine Hände und musterte es interessiert. »An diesem runden Bogen ist eine Skala und dieses Rohr enthält im Inneren eine Optik. Das Ganze scheint beweglich zu sein und für irgendwelche Berechnungen zu dienen. Es erinnert mich irgendwie an die alten Rechenschieber, welche die Ingenieure früher benutzten, als es noch keine Computer oder Taschenrechner gab. Aber die waren, glaube ich, gerade und nicht so kreisförmig gebogen wie dieses Ding hier.«

Skeptisch musterte er das alte Gerät und bewegte dessen Teile hin und her. »An dieser Halterung ist eine Glasplatte angebracht, vielleicht war es auch mal ein Spiegel. Mittlerweile ist er völlig blind geworden, was aber auch kein Wunder ist, wenn man bedenkt wie alt dieses Teil sein muss.«

Dann kam ihm plötzlich die Erleuchtung. »Das ist ein alter nautischer Sextant! Damit hat man früher den Winkel zwischen Sonne und Horizont bestimmt und daraus die Position auf dem Meer. Waren die Vorfahren des Franzosen vielleicht Seefahrer?«

Onkel Enele und der Dorfvorsteher schauten sich ratlos an und zuckten mit den Schultern. Offenbar hatten sie keine Ahnung was die Familie des Franzosen vor ihrer Ankunft auf Tuvalu gemacht hatte, geschweige denn, was es mit ihren Vorfahren auf sich hatte.

Tomus Onkel beendete seine Verlegenheit, indem er die schwere Kupferplatte in seine Hände und in Augenschein nahm. »Da ist eine sehr aufwendig gemachte Gravur drauf!«, sagte er mit anerkennendem Gesichtsausdruck. »Das war bestimmt nicht billig! Ein großer verzierter Buchstabe N mit einem gewölbten Schriftzug darüber.« Er zögerte kurz und las dann laut vor: »Mobilis in Mobile.« Etwas ratlos blickte er in Richtung seines Neffen. »Ist das etwa französisch?«

»Nein«, antwortete Tomu, »das klingt mir eher nach Italienisch oder gar Latein. Ja, wahrscheinlich ist es Latein. Die Wissenschaft hatte schon immer eine Vorliebe für diese tote Sprache. Was das bedeutet, kann ich euch auch nicht sagen. Irgendetwas mit Bewegung jedenfalls.«

»Ich sehe schon«, sagte der Dorfvorsteher, »die Sachen sind bei dir in guten Händen. Wäre ja wirklich schade, wenn diese Antiquitäten bei uns auf der Müllhalde landen würden. Aber lass uns mal sehen, ob da noch mehr zu finden ist.«

Keuchend bückte er sich erneut ganz nach unten zum Boden und beförderte einen weiteren Gegenstand aus den Tiefen der Kommode hervor. Es handelte sich um einen großen, verschlossenen Glasbehälter, der bis oben mit türkisfarbenen Sand gefüllt war.

»Mann, ist das schwer«, stöhnte er, als er den Behälter nach oben beförderte. »Hoffentlich hält der Tisch das aus!«

»Was soll das denn sein?« fragte Tomus Vater verwundert. »Das sieht aus wie einer dieser großen Glasbehälter, die man in der Apotheke manchmal sieht. Da passen bestimmt drei Liter hinein. Das Glas wirkt recht stabil.«

»Da ist ein alter Aufkleber dran«, sagte Tomu. »Die Schrift ist zwar ziemlich ausgebleicht, aber ich glaube man kann es noch lesen.« Vorsichtig drehte er das Etikett des schweren Glasbehälters in Richtung der Tür, so dass das Licht von draußen die Konturen der verblassten Schrift deutlich machte. »Hydromet – nein, Hydronit!«, las er laut vor. »Braucht man so etwas vielleicht zum Fischen?«

Onkel Enele und der Dorfvorsteher prusteten vor Lachen. »Zum Fischen? Man merkt schon, dass du die letzten Jahre in der Stadt verbracht hast, mein Junge«, meinte schließlich der alte Mann. »Nein, ich habe keine Ahnung wozu dieses Zeug gut sein sollte, aber auf keinen Fall zum Fische fangen.«

Tomu überlegte kurz und meinte dann: »Ich habe einen Freund und Kollegen, der Kristalle sammelt und sich mit Mineralien auskennt. Der könnte uns vielleicht sagen, was es mit diesem Hydronit auf sich hat.«

»Nimm es doch einfach als Geschenk für ihn mit! Bestimmt freut er sich darüber«, schlug der Dorfvorsteher vor und Tomu konnte in seinen Blicken lesen, dass es ihm nur darum ging, dass das unbekannte grüne Zeug nicht auf seiner Inselmüllhalde landete.

»Meinetwegen«, gab sich Tomu geschlagen und war froh, dass er nicht noch mehr Sachen des toten Franzosen mitnehmen sollte. Der alte Sextant war es wirklich wert erhalten zu werden und er würde ihm einen Ehrenplatz in seinem Appartement einräumen. Die gravierte Kupferplatte könnte er zumindest von einem Sachverständigen begutachten lassen. Vielleicht ließe sie sich ja bei einem Antiquitäten­händler zu Geld machen. Und der türkisfarbene Sand? Na ja, den würde er schon irgendwie loswerden.

Nachdem sie die restlichen Sachen wieder in der Kommode verstaut hatten, verließen die drei das Haus des toten Franzosen und machten sich mit ihrer Beute auf den Heimweg.

Heimflug

Das Lithium-Mineral Spodumen ist ein eher selten vorkommendes Kettensilikat aus der Gruppe der Pyroxene. Es kristallisiert im monoklinen Kristallsystem mit der chemischen Zusammensetzung LiAl[Si2O6] und entwickelt meist kurze, abgeflachte Kristalle, die in Längsrichtung deutlich gestreift sind. Die Größe der Kristalle schwankt oft zwischen einigen Zentimetern und Dezimetern, kann aber an einigen Fundorten auch Rekordgrößen von mehreren Metern erreichen. Spodumen ist eines der wichtigsten Lithiumerze. In der Glas- und Keramik-Industrie dient es als Zuschlagstoff zu Rohprodukten für die Herstellung von beispielsweise Glaskeramikkochfeldern, Faserglas oder Sanitärkeramik.

Tomus Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie sah, was ihre beiden Männer da anschleppten. Ihren Blick starr auf das Apothekerglas mit dem türkisfarbenen Sand gerichtet, sagte sie zu ihrem Sohn: »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du das im Flieger nach Neuseeland transportieren kannst!«

Daran hatte Tomu noch gar nicht gedacht. Das Glas wirkte zwar recht massiv, war aber andererseits bestimmt schon recht alt. Würde es den langen Flug heil überstehen? Vielleicht könnte er den Sand in ein stabileres Behältnis umfüllen – aber selbst dann: Was sollte er der Security oder dem Zoll erzählen, wenn man ihn fragen würde, um was für ein Transportgut es sich dabei handelt? Er war schon drauf und dran das Glas an den Strand zu bringen und seinen Inhalt dem Meer zu übergeben, aber es war ja noch genügend Zeit, um sich darüber Gedanken zu machen.

Die Tage auf dem Atoll plätscherten dahin. Tomu traf sich mit alten Schulfreunden und schwelgte in längst verblassten Kindheitserinnerungen. Viele Stunden verbrachte er an seinem Lieblingsstrand in der Hängematte und genoß die Ruhe und den Zauber dieses unentdeckten Paradieses.

Zum Jahreswechsel wurde es auf dem Atoll vorübergehend etwas lauter als sonst. Auch wenn die Tuvaluer normalerweise die Letzten sind, die von den Geschehnissen der großen weiten Welt tangiert werden: Als das neue Jahr eingeläutet wurde, gehörten sie aufgrund ihrer Lage an der Datumsgrenze mit zu den Ersten, die es begrüßen durften. Während die Australier dem Jahreswechsel noch entgegen fieberten, die Europäer noch beim Silvesterbrunch saßen und die Amerikaner noch friedlich in ihren Betten schlummerten, knallten auf Nukufetau bereits die Korken und die Insulaner feierten mit viel Böllern und ein paar vereinzelten Raketen Happy New Year.

Überhaupt brachte die Zeit um das Neujahrsfest ungewohnten Trubel in das sonst so beschauliche Inselleben. Die Pahuas waren nicht die einzigen im Dorf, die Verwandte unter ihrem Dach beherbergten. Auf Schritt und Tritt begegnete man Emigranten, die über die Weihnachtsferien wieder zu ihren Wurzeln zurückgekehrt waren. Man ließ alte Traditionen aufleben, es wurde lauthals gesungen, gefeiert und getanzt. Die Frauen putzten sich heraus und trugen bunte Blumenkränze im Haar. Fast jeden Tag wurden riesige Buffets aufgetischt. Frische Fische, exotische Früchte, im Ganzen gebratene Schweine – kein Aufwand war zu hoch und keine Kosten und Mühen wurden gescheut, um die kurze, gemeinsame Zeit zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen.

Nach all der Völlerei war Tomu froh, dass er beim großen Ano-Turnier mitmachen durfte. Fast die ganze Inselbevölkerung versammelte sich auf der großen Freifläche im Dorfzentrum zu diesem traditionellen Massenspektakel, das vor langer Zeit als merkwürdige Mischung aus Volleyball und Völkerball entstanden war. Auf dem spärlich bewachsenen Rasen verteilten sich die zwei Teams in ihren Feldern. Die Werfer schleuderten den Anoball in die gegnerische Menschenmenge, die ihn, wie beim Volleyball aufnehmen und – ohne dass er den Boden berührte – ihrem eigenen Werfer zukommen lassen musste. Unter den ernsten Blicken eines aufmerksamen Schiedsrichters wiederholte sich nach einem strengen Ritual der immer gleiche Spielablauf. Am Ende eines langen Spiels unterlag Tomus Mannschaft knapp ihren Gegnern, was der guten Laune aller Beteiligten aber keinen Abbruch tat.

Mit jedem Tag auf Nukufetau gewöhnte sich der junge Raketeningenieur ein wenig mehr an das unbeschwerte Dasein auf seiner Heimatinsel. Doch irgendwann waren die zwei Ferienwochen vorbei und es hieß Abschied nehmen. Als Tomus Familie das Boot an der Anlegestelle des Dorfes bestieg und dieses kurz darauf über den schmalen Kanal in Richtung Lagune davon dümpelte, blieb kein Auge trocken. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wo und wann man sich das nächste Mal wiedersehen würde.

Beim Zusammenpacken hatte Tomu kurzerhand beschlossen, nur eine kleine Probe des geheimnisvollen Sandes mit nach Neuseeland zu nehmen. Den großen Glasbehälter hatte er seiner Tante zur Aufbewahrung oder Entsorgung übergeben – wie es ihr beliebte. Er wusste ja selber nicht, ob und wann er zurückkommen würde. Drei Handvoll Hydronit-Sand hatte er in eine kleine Plastiktüte geschüttet, diese verknotet und in seinem großen Rollkoffer zwischen die Schmutzwäsche gestopft. Nur zwei stecknadel­kopfgroße Körner, die wie kleine Edelsteine aussahen, hatte er in seinem Geldbeutel deponiert. Den Sextanten hatte er sorgfältig mit seiner Softshelljacke umwickelt und in seinem kleinen Tagesrucksack verstaut, so dass er sein wertvolles Mitbringsel während der gesamten Rückreise als Handgepäck im Auge behalten konnte. Und die schwere Platte mit der eingravierten Inschrift hatte er zwischenzeitlich seinem Onkel geschenkt, dem dieses Fundstück offensichtlich sehr gefiel.

Während der Überfahrt nach Funafuti sprachen die Familienmitglieder kaum ein Wort. Was aber nicht am Wellengang lag – den waren sie alle vier von Kindesbeinen an gewöhnt – vielmehr hing jeder seinen melancholischen Erinnerungen nach und verarbeitete den Abschiedsschmerz. Als die Fähre im Hafen von Funafuti anlegte, war Tomu aber in Gedanken schon wieder in Neuseeland und richtete seinen Blick nach vorn.

Der Abflug am internationalen Flughafen war in jeder Hinsicht anders, als die anderen Flüge, die Tomu in seinem bisherigen Leben so erlebt hatte. Eigentlich hatte er als Jugendlicher bei der Auswanderung dieses Prozedere schon einmal miterlebt. Aber irgendwie hatte er diesen Tag völlig aus seinem Gedächtnis verdrängt, zumindest was solche Nebensächlichkeiten wie die Fliegerei anging. Jetzt war er um so mehr am Geschehen interessiert.

Zwei- bis dreimal in der Woche wurde die Hauptinsel aus ihrem seligen Dornröschenschlaf gerissen: Und zwar immer dann, wenn das Flugzeug kam. Kurz vor der planmäßigen Ankunft begann die Inselfeuerwehr mit ihrem größten Löschfahrzeug und lautem Sirenengeheul die Landebahn auf und ab zu fahren und versuchte diese von Menschen, Motorrädern und Hunden frei zu bekommen. Kaum war diese Aufgabe erfolgreich bewältigt, bekam der Pilot der anschwebenden Fiji Airways Maschine über Funk die Erlaubnis zur Landung und setzte die Turboprop Maschine unter großem Beifall der Insulaner souverän auf. Die Check-In Prozedur und die Sicherheitskontrolle spotteten jeder Beschreibung und wäre dieser Flug direkt nach Auckland gegangen, hätte Tomu das große Sandglas einfach auf seinem Schoß nachhause transportieren können, ohne dass jemand daran Anstoß genommen hätte.

Es verging nicht einmal eine Stunde, dann war die kleine Maschine bereits wieder in der Luft und unten auf Tuvalu kehrte wieder Ruhe ein. Während des Steigflugs konnte Tomu noch einmal das markante rechtwinklige Atoll von Nukufetau erkennen, ehe die Maschine eine scharfe Kurve in Richtung Süden flog und nur noch die Weite des endlosen pazifischen Ozeans unter ihnen zu sehen war. Von den 68 Sitzen der ATR-72 waren bestenfalls die Hälfte belegt. Mit an Bord waren den Premierminister und der Wirtschaftsminister von Tuvalu. Tomus Vater ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, sich zu den beiden zu setzen und sich mit ihnen zu unterhalten. Die drei kannten sich offenbar aus ihrer Schulzeit und sein alter Herr und die Politiker schienen eine Menge Spaß während des kurzen Fluges zu haben. Nach gut zwei Stunden setzte die Maschine in Suva, der Hauptstadt der Fidschi Inseln, zur Landung an und die vier Urlauber hatten das Gefühl, als wären sie plötzlich wieder in der menschlichen Zivilisation angekommen.

Um den Weiterflug nach Neuseeland zu erreichen, galt es aber noch ein großes Hindernis zu überwinden: Nämlich die Hauptinsel Viti Levu der Republik Fidschi. Während sich viele Staaten der Erde mit einem einzigen internationalen Flughafen begnügen, erlauben sich die kleinen Fidschi Inseln deren zwei. Und diese liegen auf der kreisförmigen Hauptinsel einander genau diametral gegenüber. Während man auf einem normalen Airport für den Anschlussflug das Gate oder schlimmstenfalls das Terminal wechselt, gilt es auf Fidschi die ganze Insel zu überqueren, sei es per Bus, per Taxi oder per Flugzeug. Tomu hatte sich bei der Buchung für die einfachste Variante mittels Air Shuttle entschieden. Zum einen, weil dies die schnellste und bequemste Alternative war, zum anderen weil der Preisunterschied angesichts der Gesamtkosten der Ferienreise auch nicht mehr sehr ins Gewicht fiel.

Nach einigen Stunden Wartezeit bestiegen sie das Shuttle Flugzeug, welches, kaum dass es in der Luft war, schon wieder am internationalen Airport von Nadi zu Landung ansetzte. Hier war natürlich ein weiteres Mal Geduld gefragt, bevor endlich der Flug nach Auckland auf der großen Anzeigetafel erschien. Tomu war erleichtert, als beim Sicherheitscheck seines Handgepäcks sein Sextant zwar interessiert inspiziert, letztendlich aber problemlos durchgewunken wurde. Kurz bevor die Passagiere zum Einsteigen aufgerufen wurden, rutschte ihm aber doch noch das Herz in die Hose. Plötzlich wurde über Lautsprecher sein Name ausgerufen: »Mr. Pahua, Mr. Tomu Pahua, booked on Fiji Airways flight FJ-3756, please proceed immediately to the information desk! Mr. Tomu Pahua, please proceed to the information desk!«

Mit weichen Knien folgte er der Aufforderung und wandte sich an den unfreundlichen Herrn am Schalter: »Ich bin Tomu Pahua. Sie haben mich ausrufen lassen!«

»Mr. Pahua, beim Durchleuchten ihres Koffers hat es einen Securityalarm gegeben. Man hat zwischen ihren Kleidungsstücken ein grünliches Pulver gefunden. Können sie mir bitte sagen, ob sie davon Kenntnis haben und wenn ja, um was es sich dabei handelt?«

Tomu wurde heiß und kalt und er überlegte fieberhaft, was er antworten könnte. Schließlich log er: »Ich komme gerade von meiner Heimatinsel. Meine Eltern und ich sind vor vielen Jahren ausgewandert und wir wissen nicht, ob wir jemals wieder dorthin zurückkehren werden. Zur Erinnerung habe ich ein wenig von dem Sand mitgenommen, den es in dieser Farbe nur auf unserer Insel gibt. Sie wissen schon, als Erinnerung, wenn man mal wieder Heimweh bekommt und ...«

»Ja, ja ist schon gut! So genau will ich das gar nicht wissen«, unterbrach ihn der Mann hinter dem Tresen barsch und führte ein kurzes Telefonat. Tomu wurde unterdessen wieder zurück in den Wartebereich geschickt, wo er seine aufgeregte Familie über den Grund des Aufrufs informierte.

»Ich hab dir gleich gesagt, dass du Probleme mit diesem Zeug bekommen wirst!«, schimpfte seine Mutter sofort los. »Aber du wolltest ja nicht auf mich hören!« Auch seine Schwester und sein Vater blickten nicht gerade erfreut drein und rechneten wohl schon damit, dass der Flieger nach Neuseeland ohne sie abheben würde. Ein halbe Stunde lang saß Tomu wie auf heißen Kohlen und hatte nicht die geringste Ahnung, wie es nun weitergehen würde. Bis ihn der Mann am Informationsschalter schließlich erneut zu sich rief und ihm mitteilte, dass alles in Ordnung sei.

Eine Abfrage in der Computerdatenbank hatte in der Zwischenzeit bestätigt, dass der junge Neuseeländer offenbar die Wahrheit sprach und tatsächlich aus Tuvalu stammte. Der Koffer hatte keinerlei verdächtige Kabel oder potentielle Zündein­richtungen enthalten und auch ein hinzugezogener Rauschgift­spürhund hatte sich angewidert von Sand und Schmutzwäsche abgewendet. Da gaben die Sicherheitsleute grünes Licht. Die ursprüngliche Plastiktüte war beim Öffnen leider kaputt gegangen. Deshalb schüttete man den Sand in eine neue Tüte mit Zip-Verschluss. Ein ganz besonderer Witzbold unter den Kontrolleuren klebte noch einen Aufkleber mit der Aufschrift »Aloha!« auf das neue Behältnis, bevor es wieder zwischen Tomus getragenen Unterhosen verschwand und der verschlossene Rollkoffer auf dem Gepäckband landete.

Experimente

Das Mineral Türkis ist ein eher selten vorkommendes, wasserhaltiges Kupfer-Aluminium-Phosphat aus der Mineralklasse der „Phosphate, Arsenate und Vanadate“ mit der chemischen Zusammensetzung CuAl6(PO4)4(OH)8·4H2O. Anstelle von Aluminium kann Eisen als Fe3+ in die Kristallstruktur eingebaut werden. Seiner charakteristischen blaugrünen Farbe verdankt die Farbe Türkis ihren Namen.

Zwei Wochen waren vergangen und Tomu war wieder voll in seine Arbeitswelt zurückgekehrt. Zusammen mit seinem Freund und Kollegen Peter Thompson arbeitete er an einem neuen wichtigen Projekt. Oft saßen die beiden bis spät in die Nacht im Entwicklungszentrum der Rocketeer Ltd und brüteten über den Spezifikationen für ein neues Raketentriebwerk. Als das Wochenende vor der Tür stand, überlegten sie, wie sie am besten ihren Kopf wieder freibekommen konnten. »Alles – bloß nicht über Raketenantriebe reden!«, lautete die Devise. Am Samstag Vormittag trafen sie sich in einem Squash Center in der Innenstadt. Eine Stunde später waren sie völlig ausgepowert und besuchten, durstig wie sie waren, die nächstgelegene Bar. Aus einem Bier wurden schnell zwei – drei – vier, aber das ganze Wochenende lag ja noch vor ihnen und sie waren gut drauf – wie schon lange nicht mehr.

»Ich hab was aus Tuvalu mitgebracht, was ich dir unbedingt zeigen möchte!«, sagte Tomu, als er sein Bierglas geleert hatte.

»Was denn?«, fragte Peter neugierig. »Etwa ein Hula-Hula-Mädchen von deiner Insel?«

»Quatsch, einen Mineralsand von dem ich nicht weiß, was ich davon halten soll.«

»Mineralsand?«, lachte Peter und schaute ungläubig. »Du fährst auf ein Südsee-Atoll und bringst Sand mit? Hammermäßig!«

»Na ja, keinen gewöhnlichen Sand. So ein seltsam grünliches Zeug. Und die Umstände, wie ich daran gekommen bin, sind auch außergewöhnlich.«

»Wie außergewöhnlich?«

»Wir haben den Sand im Haus eines gestorbenen Nachbarn gefunden. In so einer Art Apothekerglas, zusammen mit ein paar anderen merkwürdigen Gegenständen. Hey, der Mann war Fischer und lebte unter ärmlichsten Bedingungen. Mir ist völlig unklar, wie jemand wie er an diese Sachen kam.«

Peter blickte nur mitleidig drein. Tomu glaubte seine Gedanken lesen zu können: »Da fährt der Kerl zwei Wochen in die Südsee und was bringt er mit? Sand!«

»Hast du heute noch was vor?«, fragte er Peter. »Wenn nicht, dann komm doch einfach mit zu mir, dann zeig ich dir das Zeug und du sagst mir, was du davon hältst.«

Tomus Appartement lag an der Queens Street etwas außerhalb des Stadtzentrums. Von der Bar waren es keine fünfzehn Minuten zu Fuß. Da Peter schlecht nein sagen konnte, willigt er ein. Die beiden Männer bezahlten ihre Getränke und verließen das Lokal. Draußen empfing sie die Mittagsglut eines heißen Januartags. Es dauerte nicht lange, da waren sie genauso verschwitzt wie am Ende ihrer Squashpartie.

»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Peter als Tomu die Tür zu seinem Appartement aufsperrte. Die kleine Wohnung im dritten Stock war angenehm kühl.

»Entschuldige bitte die Unordnung, aber ich hatte eigentlich nicht mit Besuch gerechnet. Möchtest du noch ein Bier? Ich müsste welches im Kühlschrank haben.«

»Bloß nicht! Ich habe schon viel zu viel auf nüchternen Magen getrunken«, entgegnete Peter und schüttelte entschieden den Kopf.

»Nimm Platz«, sagte Tomu und deutete auf das bequeme Ledersofa. »Ich muss erst mal sehen, wo ich das Zeug überhaupt hingetan habe.« Er verschwand im Schlafzimmer und kam nach zwei Minuten Suche mit dem Plastiktütchen zurück.

»Um das hier geht’s«, rief er, während er die Tüte über seinem Kopf schwenkte und damit in Richtung der Küchenzeile ging. Dort nahm er eine Tasse aus dem Geschirrschrank, öffnete den Zipverschluss der Tüte und streute etwas von dem türkisfarbenen Sand in die Tasse, bis der Boden bedeckt war. »Nun – was hältst du davon?«, fragte er mit neugierigem Blick.

Peter feuchte seinen rechten Zeigefinger an, drückte ihn auf den Boden der Tasse und steckte ihn mit den Sandkörnern, die nun daran klebten, zurück in seinen Mund. »Nun – was soll ich sagen – schmeckt nach gar nichts!«. Dann grinste er übers ganze Gesicht.

»Sollen wir mal versuchen Wasser drauf zu geben?«

»Kann nicht schaden! Vielleicht kann man’s ja trinken. Oder vielleicht auch rauchen, dann wäre Wasser aber eher kontraproduktiv!«

Tomu brachte die Tasse zum Spülbecken und füllte sie mit Wasser. Aus der Küchenschublade holte er einen Teelöffel und begann das Ganze umzurühren.

»Da tut sich gar nichts«, bemerkte Peter mit gelangweiltem Blick. »Da kannst du rühren bis du schwarz wirst! Hast du Säure im Haus?«

»Säure?«, fragte Tomu ungläubig. »Woher soll ich Säure haben? Du bist der Chemiker von uns beiden, nicht ich!« Dann hatte er aber eine Idee: »Ich habe eine alte Motorradbatterie im Schlafzimmer rumstehen. Da müsste doch Schwefelsäure drin sein. Geht das?«

»Klar, warum nicht? Vielleicht bricht die Säure ja die Kristallstruktur auf!«

Tomu verschwand erneut im Schlafzimmer und kam mit der schweren Batterie zurück. »Die musste ich neulich austauschen und bin noch nicht dazu gekommen sie zu entsorgen weil ...«

»Jetzt quatsch nicht rum«, unterbrach ihn Peter. Zieh einen der Stopfen ab und schütte etwas von der Säure in die Tasse! Hast du einen Plastiklöffel?«

»Machst du dir Sorgen um mein gutes Besteck?«, lachte Tomu und legte den Teelöffel zurück in die Schublade.

»Ich will nur nicht, dass dein Metalllöffel unsere Experimente verfälscht. Hey, hier wird streng wissenschaftlich gearbeitet! Ich könnte jetzt übrigens doch noch ein Bier vertragen.«

Tomu ging zum Kühlschrank und kam mit zwei geöffneten Flaschen Premium Lager zurück. »Zum Wohle!«, rief er und knallte seine Flasche gegen die von Peter. Dann zog er einen der Verschlussstopfen aus dem Bleiakku und begann vorsichtig ein wenig von der ätzenden Säure auf das Wasser in der Tasse zu träufeln. Nachdem er den Akku wieder abgestellt und verschlossen hatte, suchte er im Küchenschrank nach einem Löffel aus Plastik.

»Da tut sich schon was!«, rief Peter euphorisch, noch bevor Tomu mit einem kleinem Eislöffel aus durchsichtigem Kunststoff zurückkam und in der Tasse wild zu rühren anfing.

»Ja, es löst sich auf! Sieh doch! Was für eine schöne glitzernde Brühe! Vielleicht ist es als Streichfarbe oder zum Färben von Textilien zu gebrauchen!«

In der Tat bot nun die Flüssigkeit, die auf Tomus Wohnzimmertisch von der Sonne beschienen wurde und in allen Regenbogenfarben glitzerte, ein beeindruckendes Schauspiel.

»Sieh doch, Peter! Da steigen Blasen auf!« Tomu zeigte mit steigender Begeisterung auf den Inhalt der Tasse, der mehr und mehr zu schäumen begann. »Das fängt richtig zu kochen an!«, rief er, während er die Tasse an seine Nase führte, um vorsichtig daran zu schnuppern.

»Pass bloß auf!«, ermahnte ihn Peter. »Verätz dir nicht die Nasenschleimhäute. Mit Schwefelsäure ist nicht zu spaßen! Ist die Tasse denn heiß geworden?«

»Nein, die Tasse ist kalt und riechen tu ich auch nichts«, antwortete Tomu und stellte die Tasse wieder zurück auf den Wohnzimmertisch. Dann ging er erneut zum Küchenschrank, kramte darin herum und kam schließlich mit einer großen gläsernen Salatschale zurück, die er umgekehrt über die Tasse stülpte und diese damit vollständig abdeckte. »Mal sehen ob wir den Wasserdampf da drin auffangen können!«

Auch Peter hatte inzwischen Gefallen am Experimentieren gefunden. »Das kann ja etwas dauern, bis deine Dampfmaschine fertig ist. Ich geh einstweilen mein Bier wegbringen«, sagte er und verschwand nebenan in der Toilette. Als er zurückkam, war Tomu gerade dabei die gläserne Salatschüssel leicht anzuheben und mit einem Feuerzeug zu bearbeiten.

»Spinnst du?«, schrie Peter seinen Freund an, weil er den Ernst der Situation erkannte, aber es war schon zu spät! Die Flamme des Feuerzeugs hatte den Rand der Glasschüssel noch nicht erreicht, als sich in deren Innerem schlagartig ein gewaltiger Feuerball entwickelte. Begleitet von einem ohrenbetäubenden Knall wurde die Schale explosionsartig in die Luft geschleudert, landete auf dem Fußboden und zersprang in tausend Scherben. Die Tasse mit der brodelnden grünen Substanz fiel um und verteilte ihren Inhalt über Tomus Wohnzimmertisch und den schönen neuen Teppich darunter.

»Scheiße!«, schrie Tomu, »ich habe mir die Hand verbrannt!«, und rannte so schnell er konnte zur Küchenzeile, wo er mit schmerzverzerrtem Gesicht kaltes Wasser über seinen lädierten Handrücken fließen ließ.

»Du bist doch vollkommen bescheuert!«, rief Peter und war mit einem Schlag wieder nüchtern. »Warum zum Teufel hast du das Feuerzeug da hingehalten?«

»Ich wollte sehen, ob die Flamme in dem Wasserdampf ausgeht«, antwortete Tomu geknickt. »Okay, ich sehe ein, das war keine so tolle Idee.«

»Das war eine lupenreine Knallgasexplosion«, erwiderte Peter. »So was kann bös ins Auge gehen und zwar im wahrsten Sinne des Wortes! Du hast Glück gehabt, dass nicht mehr passiert ist! Ist es schlimm mit deiner Hand?«

»Geht schon wieder. Haare hab ich keine mehr drauf. Die wurden alle abgesengt. Aber der Schmerz lässt langsam wieder nach. Wie konnte es denn zu so einer Explosion kommen?«

Peter begann das Chaos im Zimmer zu beseitigen und meinte dabei. »Du hast an der Highschool wohl im Chemieunterricht gefehlt! Es gibt jede Menge chemischer Reaktionen, bei denen Wasserstoff freigesetzt wird. Was dann in Verbindung mit Sauerstoff ein hochentzündliches Knallgasgemisch ergibt. Wirf mal Aluminiumfolie in Natronlauge und du wirst sehen, was ich meine.« Dann fuhr er fort die Glasscherben einzusammeln.

Wenig später klingelte es an der Tür. Als Tomu einen Spalt öffnete, sah er zwei Polizisten vor der Wohnung stehen.

»Ihre Nachbarn haben bei der Notrufstelle angerufen und behauptet, dass hier im Haus ein Schuss gefallen sei oder dass eine Explosion stattgefunden habe. Haben sie auch etwas gehört?«

»Wir hatten ein kleines Malheur beim Kochen«, antwortete Tomu mit Unschuldsmiene. Uns ist die Salatschüssel runtergefallen.

Der Polizeibeamte und seine junge Kollegin schauten sich fragend an. »Nach der Schilderung ihrer Nachbarn, klang das aber anders! Dürfen wir bitte mal kurz reinkommen?«

Tomu öffnete zögernd die Tür und ließ die beiden Polizisten eintreten. »Bitte, sehen sie selbst: Mein Bekannter sammelt gerade die Reste der Glasschale zusammen. Es hat wirklich ganz schön laut geknallt, als sie mir aus der Hand gefallen ist. Aber eine Explosion? Sie müssen wissen, meine Nachbarn sind etwas lärmempfindlich, aber jetzt übertreiben sie ja wohl wirklich!«

Der Polizist begutachtete den Wohnzimmertisch und die frischen grünen Flecken auf dem hellen Teppich. Seine Kollegin ging währenddessen zum Fenster und begann demonstrativ zu schnüffeln. Offensichtlich war sie auf der Spurensuche nach verräterischem Pulverdampf. Außer der penetranten Bierfahne, die von den beiden jungen Männern ausging, konnte sie aber nichts Verdächtiges riechen. »Wäre ja nicht das erste Mal, dass so kurz nach Silvester jemand seine verbliebenen Knallkörper in der Wohnung zündet«, meinte sie schließlich und suchte den Blick ihres Kollegen.

»Hören sie mal!«, entgegnete Tomu erbost, »wir sind Raketen-Ingenieure und haben wirklich besseres zu tun, als mit Feuerwerkskörpern zu spielen! Ich wollte gerade eine Vinaigrette für unseren Salat anrühren, als mir die Schale zu Boden fiel. Sie sehen doch selbst die grünen Flecken, die die Sauce auf dem Teppich hinterlassen hat!«

Die Polizistin, die kochenden Männern offenbar jede denkbare Ungeschicklichkeit zutraute, zuckte mit den Schultern und sagte: »Meinetwegen, aber passen sie bitte in Zukunft besser auf! Auch aus Rücksicht auf ihre armen Nachbarn.«

Die beiden Beamten sahen sich noch einmal verunsichert an, verabschiedeten sich dann aber. Auf dem Weg zur Tür tippte sich der ältere Kollege an die Stirn und flüsterte der jungen Frau kopfschüttelnd zu: »Raketen-Ingenieure!«

Knalldose

Krokoit ist ein selten vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der „Sulfate (einschließlich Selenate, Tellurate, Chromate, Molybdate und Wolframate)“. Es kristallisiert im monoklinen Kristallsystem mit der chemischen Zusammensetzung Pb[CrO4]. In einer Beschreibung von 1766 wies Johann Gottlob Lehmann darauf hin, dass das Mineral in Salzsäure aufgelöst eine Lösung mit schöner grüner Farbe ergab. Lehmann konnte allerdings seine Untersuchungen nicht mehr zu Ende führen, da er 1767 bei einer Explosion in seinem Labor starb.

Eine Woche war vergangen, als Tomu während der Arbeit Peter noch einmal auf das misslungene Experiment ansprach: »Ich habe mich inzwischen ein wenig über Wasserstoffexperimente schlau gemacht.«

»Du hast wohl vom letzten Mal noch nicht genug?«, lachte Peter. »Hast du wieder deine Wohnung in die Luft gesprengt?«

»Nein, keine Sorge. Alles ist gut. Eigentlich wollte ich das sogenannte Knalldosenexperiment durchführen. Das Internet ist voll mit Anleitungen, wie man da vorgehen muss. Gestern Abend probierte ich dafür wieder mit meinem Sand Wasserstoff zu erzeugen, es hat aber nicht funktioniert.«

»Tja – Maschinenbau und Chemie: Zwei Welten treffen aufeinander!«

»Eigentlich habe alles so gemacht, wie am Wochenende. Dieses Mal hat aber überhaupt keine chemische Reaktion stattgefunden.«

»Und jetzt willst du, dass ich dir hier im Labor zeige, wie man diesen Versuch richtig durchführt, hab ich recht?« Peter kannte seinen Freund lange genug, um zu wissen, dass dieser so schnell keine Ruhe geben würde.

»Das wäre super!«, antwortete Tomu und strahlte übers ganze Gesicht. Ich habe auch ein wenig von dem Mineralsand mitgebracht. Können wir uns in der Mittagspause bei dir im Labor treffen?

»Meinetwegen«, seufzte Peter und sah sich schon um seine Kantinenmahlzeit gebracht. »Treffen wir uns um Zwölf in Labor 3.«

Die Firmenzentrale der Rocketeer Ltd erstreckte sich über mehrere Gebäude. Der mit Abstand größte Trakt war für die Forschung und Entwicklung reserviert. Wobei allein die Abteilung, in der Peter Thompson arbeitete, über vier leistungsfähige Chemielabore verfügte. Labor 3 war das kleinste und am dürftigsten ausgestattete von ihnen. Bei den Chemikern und Werkstoffkundlern war es aber sehr beliebt, weil sich darin ein kleiner Härteofen befand, der sich neben der Wärmebehandlung von Metallteilen auch hervorragend für die Zubereitung von warmen Mahlzeiten eignete.

Als Tomu um zwölf Uhr an die Tür von Labor 3 klopfte, hatte Peter bereits vorgearbeitet. »Dein Ausweis ist wohl nicht für diesen Raum freigeschaltet«, lachte er, als er Tomu die Tür öffnete. »Und soll ich dir was sagen? Das ist auch gut so!«

Alle Rocketeere, wie sich die Mitarbeiter von Rocketeer Ltd selber nannten, trugen Firmenausweise mit integrierten RFID-Transpondern bei sich, mit denen sich alle Türen öffnen ließen, für die sie die entsprechende Berechtigung besaßen. Da Tomu selten in den Chemielaboren zu tun hatte, benötigte er keine Berechtigung für die Türöffner in diesem Bereich.

Peter bat Tomu sofort zu dem gekachelten Labortisch am Fenster, auf dem er ein kleines Glasschälchen mit beidseitigem Klebeband befestigt hatte. Diese war bereits mit Wasser befüllt. »Nun gibt schon her!«, forderte er Tomu auf.

Tomu zog ein kleines Kuvert aus der Brusttasche seines Hemds, in welches er ein wenig von dem grünen Sand gefüllt hatte. »Soll ich ihn in die Schale geben?«, fragte er Peter.

»Ich bitte darum«, antwortete dieser und ging zu einem Regal. Dort zog sich ein Paar dünner Gummihandschuhe über. Aus einem Schrank holte er eine große Flasche mit Schwefelsäure. Bevor er einen kleinen Schuß davon in die Schale kippte, setzte er sich eine Schutzbrille auf. »Sicher ist sicher«, sagte er grinsend, während er das Oberlichtfenster über dem Labortisch in Kippstellung brachte.

Es dauert nur einen kurzen Augenblick, dann begann dasselbe Schauspiel wie eine Woche zuvor in Tomus Appartement. Der Sand begann sich in der Flüssigkeit aufzulösen und diese förmlich aufzukochen. Dicke Blasen stiegen nach oben und ließen die Oberfläche in bunten Farben im einfallenden Sonnenlicht erstrahlen.

»Na also, klappt doch wunderbar. Da muss eben ein Fachmann ran«, grinste Peter triumphierend. »Und jetzt machen wir das Knalldosen Experiment, wie wir es aus der Schule kennen.« Er ging zum Mülleimer und holte eine Konservendose daraus hervor, die einer der Kollegen dort hinterlassen hatte. Im Spülbecken reinigte er sie grob von den Resten serbischer Bohnensuppe und präsentierte sie stolz seinem staunenden Assistenten. Dann holte er einen Schraubenzieher, drückte ihn auf den Boden der Dose und schlug so fest mit der Hand darauf, dass ein kleines Loch hineingestanzt wurde. »Jetzt einen Klebestreifen drauf, damit die Dose wieder dicht ist!«

»Eigentlich hatte ich das auch so ähnlich vor, aber gestern Abend habe ich nicht einmal die Brühe zum Schäumen gebracht«, wunderte sich Tomu.

»Geh jetzt bitte ein paar Schritte zurück!«, kommandierte Peter. »Ich will nicht, dass du dich schon wieder verletzt.« Dann stülpte er die Konservendose über die Glasschale mit dem heftig blubbernden Inhalt. »Jetzt heißt es warten. Es wird eine Weile dauern, bis sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0452-2

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