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Leseprobe

Alfred DeMichele – Wasserscheiden

 

»Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen«
(George Orwell) 

 

Für Julia, Maira und Ingrid 

 

Prolog

Es begann mit einer Pressemeldung, die an einem Donnerstagmorgen über die Ticker der Nachrichtenagenturen lief:

+++ Genua, 2. Mai 2052,
Gestern wurde auf eine Pipeline bei Genua ein Anschlag verübt. Unbekannte Täter führten in den Bergen der ligurischen Apenninen vorsätzlich mehrere starke Explosionen herbei. Dabei wurde die Pipeline an drei Stellen vollständig zerstört. Große Mengen Rohöl traten aus und versickerten im Erdreich. Die Central European Pipeline (CEL) gilt als eine der ältesten Pipelines Europas und wurde bereits im Jahre 1966 fertiggestellt. Bisher war lediglich noch der Abschnitt zwischen Genua und Mailand in Betrieb. Der Mailänder Rat verurteilte den Anschlag als abscheulichen Akt der Barbarei, der gegen die gesamte Bevölkerung der Po-Domäne gerichtet sei. Die Pipeline werde so schnell wie möglich wieder instandgesetzt. Solange die Arbeiten noch nicht vollständig abgeschlossen seien, würden ersatzweise Straßen- und Schienentransporte die Rohölversorgung der Mailänder Raffinerien sicherstellen. Umweltverbände in der rheinischen Bodenseeregion riefen anlässlich des Anschlags zu spontanen Protestaktionen gegen die geplante Wiederinbetriebnahme der CEL auf. Ursprünglich hatte die CEL den Ölhafen von Genua mit den Raffinerien im ehemaligen Deutschland verbunden. Bislang hat sich noch niemand zu dem Anschlag bekannt. 

Dieser Pressemeldung wurde leider nicht die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdient hätte. Im Trubel der Krönungsfeierlichkeiten für den neuen britischen König war das Interesse der Mainstream Medien auf andere Dinge fokussiert. Die weiteren Ereignisse nahmen deshalb zunächst unbemerkt ihren Lauf. 

Teil 1

Lichtermeer

»Problem gelöst. Jetzt reicht’s aber für heute!«

David Jonas klappt sein Notebook zu. Wieder einmal hat er die Daten eines Anwenders retten sollen, die dieser leichtfertig und trotz mehrmaliger Nachfrage des Systems in den digitalen Orkus geschickt hatte. David wollte gerade Feierabend machen, als ihn sein Chef um diesen »kleinen Gefallen« bat. 

»Du kennst dich doch gut mit Computern aus!«, hatte er scheinheilig getan. »Mein Kollege hat ein Problemchen mit seinem Rechner. Ist für dich bestimmt nur eine Kleinigkeit!«

Und dann hatte David stundenlang damit zu tun, zu retten, was noch zu retten war. Aber was hätte er von seinem Chef und Auftraggeber Thomas Prenninger auch anderes erwarten sollen? Klug daherreden und andere die Kastanien aus dem Feuer holen lassen, das kann er hervorragend. Wenigstens sitzt er selbst auch noch um diese Zeit im Büro. Aber wer sollte auf den auch schon zuhause warten? David schwört, dass dies das letzte Mal war, dass er sich für das Erledigen eines solchen Idiotenjobs hat breitschlagen lassen. Schließlich arbeitet er hier als freiberuflicher Datenbankspezialist und genau das steht auch in seinem Arbeitsvertrag. Er zieht die Tür des Managerbüros hinter sich zu und geht bis zum Ende des langen, dunklen Flurs. Dort betritt er das Büro seines Chefs. 

»Na David, Problem gelöst?«, empfängt der ihn breit grinsend. 

»Ja – das Übliche! Der Fehler saß mal wieder vor der Tastatur.«

Thomas Prenninger nickt nur stumm. David kann ihm ansehen, was er gerade denkt: »Soll der Computer-Fuzzy doch einfach seinen Job machen. Schließlich wird er gut dafür bezahlt.«

»Wie läuft das aktuelle Projekt?«, will er wissen und mustert David. 

»Alles im Plan. Gestern haben wir pünktlich den Meilenstein erreicht.«

David schiebt ihm seinen Stundenzettel zum Abzeichnen hin.

»Welches Datum haben wir heute?«, fragt Thomas. 

»Den 7. Mai 2052.«

Während sein Chef akribisch den Stundenzettel kontrolliert, schweift Davids Blick durch das Büro bis zum Fenster. Nicht schlecht, der Blick vom 27. Stock des Büroturms mitten im Wiener Bankenviertel. Gerade nachts. Von hier oben wirkt die Stadt wie ein Lichtermeer. David fotografiert leidenschaftlich gerne und ist fasziniert von allen Bildern seiner Stadt. Er findet, dass nichts so anschaulich den Wandel verdeutlicht wie Fotografien. Selbst Nachtaufnahmen. Klar, die Silhouetten der Gebäude änderten sich im Lauf der Zeit, während das dunkle Band der Donau und die Bergketten in der Ferne immer gleich blieben. Als Technikfreak hat ihn an Nachtfotos schon immer fasziniert, dass sich auch die Beleuchtung stetig verändert. LED-Licht, Glühlampen, Gaslampen: Zu jeder Zeit wurde die Stadt nachts in ein anderes Licht getaucht und auf historischen Fotografien festgehalten. 

»Ich darf doch bestimmt ein Foto von hier oben machen?«, fragt David eher beiläufig und hält sein Smartphone ganz nah an die Glasscheibe. 

»Wenn’s sein muss. Du kannst auch gerne mal am Tag vorbei kommen. Dann würdest du auch was sehen!«

»Mein neues Handy hat eine Superoptik. Da gelingen sogar Aufnahmen bei diesen Lichtverhältnissen.«

Schade, dass die Fotografie so spät erfunden wurde. Wie es wohl zur Römerzeit nachts ausgesehen hatte, als Wien noch Vindobona hieß? Wer nachts unterwegs sein musste, benötigte eine Fackel. Und wer etwas besser betucht war, hatte einen Fackelträger. Erstmals halbwegs hell wurde es am Anfang des 19. Jahrhunderts, als die ersten Gaslaternen angezündet wurden. Hundert Jahre sollte es dann dauern, bis das elektrische Licht langsam Einzug hielt: Kohlefadenlampen, Gasentladungslampen, kalte und warme LED-Lampen. Jede Zeit hatte nachts ihr eigenes Licht. Oder auch kein Licht. So wie während des ersten großen Krieges, als Geld und Ressourcen knapp waren und an allen Ecken und Enden gespart werden musste. Oder während des zweiten großen Krieges, damit die feindlichen Bomber ihre Ziele nicht finden sollten. Oder wie kurz nach dem großen Zusammenbruch, als auf der ganzen Welt buchstäblich die Lichter ausgingen.

David war damals noch ein Kind. Das Gerede von den schweren Zeiten geht ihm auf die Nerven. Er lebt heute und er lebt gut. Und falls er einmal Kinder haben sollte, wird es hoffentlich auch diesen gut gehen.

»Gute Nacht, Thomas! Arbeite nicht mehr so lange!«

»Gute Nacht. Ein wenig muss ich noch. Sehen wir uns morgen auf dem Kickoff-Meeting?«

»Wird sich wohl nicht vermeiden lassen«, erwidert David und seufzt leise. 

Er fährt mit dem Aufzug nach unten und wünscht dem Portier eine gute Nacht. Sein Auto steht in der Tiefgarage. Er stöpselt das Stromkabel ab und kontrolliert die Akkuanzeige. 90 Prozent – fast voll. Wenigstens in dieser Hinsicht hat sich der Abend gelohnt. 

Zuhause in seinem kleinen Appartement fällt er todmüde ins Bett. Fünf Stunden Schlaf bis zum Weckton. 

Junge Römer

Ebenfalls im Mai 2052, aber an einem anderem Ort:
Rom – Domänenhauptstadt der Zwergdomäne Tiber.

Gianna Marconi steht seit einer Stunde auf der Engelsbrücke und wartet.

»Wann kommt denn der Kerl endlich?«, denkt sie ärgerlich. 

Zum tausendsten Mal schaut sie auf die Uhr. Halb vier hatte der ominöse E-Mail-Absender hier sein wollen. Gianna schnaubt. Sie hätte sich nicht darauf einlassen sollen. »Brisante Informationen!«, denkt sie. Klar! Es sind immer »brisante Informationen«, die ihr ihre Abonnenten zukommen lassen wollen. Als Journalistin und Video-Bloggerin hatte sie schon oft Hinweise aufgegriffen, die sie per E-Mail erhalten hatte. Aber meist hatten die Tippgeber namentlich genannt werden wollen. In diesem Fall hatte Gianna nicht mal herausbekommen, von wem die Mail überhaupt abgeschickt worden war. Das hätte sie vielleicht stutzig machen müssen. In Wirklichkeit hatte aber gerade das ihre Neugier angestachelt. Jetzt verflucht sie sich dafür. Erneut schaut sie auf die Uhr: Schon halb fünf vorbei!

Giannas Augen schweifen zum Ende der Brücke, wo die trutzige Engelsburg in ihrem dreckigen Braun im starken Kontrast zum azurblauen Himmel steht. Wie aus der Zeit gefallen steht sie da. Seit langem verrammelt und verriegelt. Es heißt, dass die Priester aus dem Vatikan manchmal über den Passetto di Borgo, einen uneinsehbaren Fluchtgang aus dem Mittelalter, nachts in die Engelsburg kommen und dort Orgien feiern. Gianna hält dies für ein wildes Gerücht. Eines von den vielen, die sich um dieses Bauwerk und den Vatikan ranken. Trotzdem bekommt sie regelmäßig eine Gänsehaut, wenn sie die Engelsburg sieht. Warum nur? 

»Fünf Minuten noch. Länger werde ich nicht warten!«, schimpft sie. 

Gestern hatte sie die E-Mail erhalten. Der Absender hatte ihr brisante Informationen in Aussicht gestellt und wollte ihr diese hier und jetzt übergeben. Aber weit und breit ist niemand, der Augenkontakt zu ihr aufnimmt. Er schrieb, dass er wüsste, wie sie aussieht und dass er ihr persönlich einen Umschlag übergeben würde.

Viel los ist nicht hier auf dieser Brücke. Ab und zu mal ein Pferdefuhrwerk, ein Motorrad oder ein Dreirad. Autos dürfen hier nicht drüber fahren, aber Autos gibt es in Rom ohnehin kaum mehr.

»Wenn er wenigstens geschrieben hätte, woran ich ihn erkennen kann.«

Gianna mustert den älteren Mann, der gerade auf sie zukommt. Aber er scheint keine Notiz von ihr zu nehmen. Er trägt eine abgewetzte Aktentasche unterm Arm und hat einen Zigarettenstummel im Mund. Kurzzeitig treffen sich ihre Blicke, aber dann geht er an ihr vorbei und verschwindet in Richtung Piazza Ponte Sant'Angelo. 

»Das hat heute keinen Sinn mehr. Vielleicht meldet er sich ja nochmal.«

Gianna geht zu ihrem Roller, klappt die Sitzbank nach oben, nimmt den Helm heraus und stülpt ihn über ihren Lockenkopf. Ein kurzer Druck auf den elektrischen Anlasser und die Vespa springt an. Auf nach Hause! Gianna fährt auf die linke Uferstraße des Tibers und folgt dem Lauf des Flusses bis zur Ponte Garibaldi. Dort überquert sie den Fluss und hat es nicht mehr weit bis zu ihrem Wohnquartier in Trastevere. Im Innenhof ihres Wohnhauses stellt sie die Vespa ab und kettet sie sorgfältig an das massive Gitter eines Kellerfensters. 

Noch mit Sonnenbrille und Helm springt sie die Treppen hoch bis in den dritten Stock. Der schöne alte Aufzug in der Mitte des Treppenhauses ist schon lange außer Betrieb. Gianna und ihren WG-Mitbewohnern ist das egal, ihren alten, gehbehinderten Nachbarn jedoch weniger. 

Vor zwei Jahren ist Gianna von zuhause aus- und drei Häuser weiter hier in die WG eingezogen. Leerstehende Wohnungen gibt es genug im heutigen Rom, seit es nach dem großen Zusammenbruch einen Massenexodus aus der Stadt gegeben hatte. Die Bevölkerung konnte nicht mehr ausreichend ernährt werden und zog, vom Hunger getrieben, in ländliche Regionen.

Roms legendärem Status als »Ewiger Stadt« tat dies keinen Abbruch. Schon oft hatte sie im Laufe ihrer Geschichte gute und schlechte Zeiten erlebt. Als das römische Reich zugrunde gegangen war oder die Vandalen die Stadt geplündert hatten, war dies auch immer mit einem rapiden Rückgang der Einwohnerzahlen einher gegangen. Jetzt war es eben wieder mal so weit und die Stadt wartete auf den nächsten Aufschwung, der bestimmt irgendwann kommen würde.

Gianna liebt ihre Stadt. Für nichts auf der Welt würde sie aufs Land ziehen. Die schweren Zeiten kennt sie nur vom Hörensagen und von Erzählungen ihrer Eltern. Wie es in Rom vor der großen Krise einmal aussah, kennt sie natürlich von alten Filmen. Das Leben damals war offenbar in vielerlei Hinsicht unkomplizierter und konsumorientierter, als sie es von Kindheit an kennengelernt hatte. Früher träumte sich Gianna gerne in die alten Zeiten: Shoppen gehen in der Via Condotti oder das ausschweifende Nachtleben in Trastevere genießen. Als junges Mädchen hätte sie vieles dafür gegeben, einen Tag und eine Nacht in dieser vergangenen Welt verbringen zu dürfen. Heute sind die ehemaligen noblen Einkaufstempel Ruinen aus Marmor und Glas. Und Trastevere ist wieder ein ruhiges Wohnviertel. Auf dem Forum Romanum grasen sogar zeitweise Kühe. Es gibt genügend Wohnraum in der Stadt und die Straßen sind zwar in schlechtem Zustand, aber nicht mehr von stinkenden Autos verstopft.

Gianna schließt die Tür zu ihrer Wohnung auf. Ihre Mitbewohner Marco und Maria sind offenbar nicht da. In der Küche findet sie ein paar Kekse. Daneben im Spülbecken steht die Espressokanne und lacht sie unwiderstehlich an. Während das Wasser langsam heiß wird, klappt Gianna ihr Notebook auf und checkt ihre Mails.

Moderne Zeiten

Um sieben Uhr schlägt Davids Smartphone Alarm. Die Sonne scheint bereits in sein Schlafzimmer und macht das Aufstehen erträglich. Nach dem Duschen ein kurzer Blick auf die Uhr: Er hat noch genug Zeit, um in Ruhe zu frühstücken und den Tag langsam angehen zu lassen. Während der Kaffeeautomat seine Arbeit verrichtet, schaltet David den großen Zimmermonitor ein: 

»Alexandra, suche mir einen Sender, der gerade Nachrichten bringt!«

»Ja David, ich schalte auf TV Vienna.«

Die Sprachassistentin des Monitors trägt den Namen von Davids vorletzter Freundin. Schon mehrfach hatte er sich vorgenommen sie endlich umzutaufen. Andererseits findet er aber die Namensähnlichkeit zu einer der ersten vorsintflutlichen Sprachsteuerungen ungeheuer retro. Leider versteht kaum einer seiner Zeitgenossen diesen Spaß. Und seine letzte Freundin schon ganz besonders nicht. Nachdem David über die aktuellen Neuigkeiten informiert ist, ruft er:  

»Alexandra, welche Termine stehen heute an?« 

»Du hast heute um zehn Uhr einen Termin in der Zentralbank, Gebäude 5, Besprechungsraum Lech«

Wenigstens einen ordentlichen Raum haben sie diesmal reserviert! Die Besprechungsräume in der Bank sind nach Flüssen benannt und der Lech bildet als direkter Zufluss zur Donau immerhin eine Level-2-Domäne. Gestern hatten er und seine Kollegen den halben Tag in »Cibin« verbracht; einem kleinen Rückzugsraum, der seinen Namen der Level-3-Domäne Cibin.Olt.Donau verdankt – und damit einem unbedeutenden Fluss in der Walachei1 . 

»Alexandra, erzähl mir was über den Lech!«

»Der Lech ist ein 264 Kilometer langer, rechter Nebenfluss der Donau. Die Domänenhauptstadt der Domäne Lech.Donau ist Augsburg. In Augsburg befindet sich der Mündungspunkt der Domäne Wertach.Lech.Donau.«

Vergangenes Jahr war David beruflich einmal zusammen mit Alexandra – nicht die mit der Computerstimme, sondern die mit dem Knackarsch – in Augsburg. Viel von der Stadt hatten sie nicht gesehen, aber für einen kurzen Spaziergang durch die historische Innenstadt hatte es dann doch noch gereicht. Alexandra wollte unbedingt die Fuggerei, eine der ältesten Sozialsiedlungen Europas, besichtigen. Angeblich bestand früher einmal die Miete darin, jeden Tag ein paar Gebete für den Stiftungsgründer Jakob Fugger und seine Familie zu verrichten. 

David wohnt in einem ehemaligen Gemeindebau im 19. Wiener Gemeindebezirk und wäre froh, wenn die Miete durch Beten zu begleichen wäre. Die Wiener Gemeindebauten waren früher einmal dafür gedacht, der einfachen Bevölkerung billigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Allerdings ist heute nichts mehr davon zu spüren. Die Kaiser-Franz-Josef-Residenz, in der Davids Appartement liegt, hieß früher einmal Karl-Marx-Hof. Der ehemalige Gemeindebau wurde allerdings mehrfach luxussaniert und wird heute nur noch von gutverdienenden Yuppies2 bewohnt.

»Alexandra, wie komme ich mit dem Auto am besten zu meinem Meeting?«

»Kurz vor zehn Uhr wird sich der Verkehr wieder beruhigt haben. Fahre mit dem Auto über den Handelskai an der Donau entlang und parke in der Tiefgarage des Millennium Tower.«

Als David im Auto sitzt und an der Donau entlang fährt, drehen sich seine Gedanken wieder ums Wasser und seine heutige Bedeutung. Wie war es dazu gekommen? Damals nach dem großen Crash. Seine Eltern hatten ihm oft von den furchtbaren Zeiten erzählt, als die Wirtschaft auf der ganzen Welt aus den Fugen geriet und die gesamte Menschheit vorübergehend in ein unfassbares Chaos stürzte. Mit den Staatspleiten, die wie Dominosteine ihre Bahn über die Weltkugel zogen, lösten sich die Nationalstaaten auf. Niemand wusste, wie die Zukunft aussehen würde und welche Gesellschaftsformen eines Tages aus dem Ganzen hervorgehen würden.

Damals waren viele Weltverbesserer und Scharlatane unterwegs, die alle versuchten ihre Heilslehre unters Volk zu bringen. Nach dem Crash behauptete jeder diesen vorhergesehen zu haben und konnte auf Anhieb die daran Schuldigen benennen. Auch Davids Vater behauptet bis heute steif und fest, schon Jahre vorher die Anzeichen des drohenden Niedergangs erkannt zu haben. Jedes Mal wenn das Gespräch bei seinen Eltern auf dieses Thema kommt, ist es Zeit das Weite zu suchen, um dem zwangsläufig entstehenden Streit möglichst aus dem Wege zu gehen. 

Das heutige Domänensystem wurde anfangs nur belächelt und als Spinnerei einiger durchgedrehter Theoretiker angesehen. Überraschenderweise hat es sich dann doch in vielen Regionen der Erde durchgesetzt. Wahrscheinlich aus einem einzigen Grund: Es basiert auf Grenzen, die es schon immer gab und die sich nie ändern können. Nach all den Kriegen und Streitereien der vergangenen Jahrhunderte war die Menschheit offenbar an einem Punkt angelangt, wo man dies als entscheidendes Argument bewertete. 

Jeder Mensch mit festem Wohnsitz ist im Domänensystem eindeutig verortbar. Und zwar je nach dem, in welchem Flusssystem er wohnt und in welches Meer er entwässert. David gehört als Einwohner von Wien zur Donau-Domäne. Dass Wien zur Domänenhauptstadt ernannt wurde, war lange Zeit sehr umstritten. Letztendlich wurde in der gesamten Domäne eine Volksabstimmung durchgeführt, bei der sich Wien knapp gegen Konkurrenten wie Budapest und Belgrad durchsetzte.

Auch in den Unterdomänen gab es seinerzeit ein großes Gezerre und Geschacher um die Ernennung zur jeweiligen Provinzhauptstadt. Bei den Volksabstimmungen setzte sich häufig – aber nicht immer – die einwohnerstärkste Gemeinde des jeweiligen Flusseinzugsgebietes durch. 

Das heutige Domänensystem verbindet viele Regionen miteinander, die früher als Nationalstaaten voneinander abgrenzt waren. Für die Österreicher wirkte die Entstehung der Donau-Domäne fast ein wenig wie die Rückkehr zu den guten alten Zeiten der k.u.k. Monarchie. Andere Nationalstaaten, wie zum Beispiel die ehemalige Bundesrepublik Deutschland, zerriss es in mehrere Einzeldomänen. Während der Großteil des früheren Freistaats Bayern ein Teil der Donau-Domäne wurde, fanden sich die anderen deutschen Bundesländer in den Flusssystemen von Rhein, Ems, Weser, Elbe und Oder wieder, die heute allesamt eigenständige Hauptdomänen sind.

»Wie die Welt wohl heute ohne das Domänensystem aussähe?«, fragt sich David, als er in die Tiefgarage fährt. 

Trastevere

Gianna hat ihr Notebook wieder zugeklappt. Keine neue Mail vom großen Unbekannten. Mittlerweile sind auch ihre Mitbewohner Marco und Maria nach Hause gekommen.

Marco arbeitet tagsüber als Mechaniker in einer Werkstatt. Gianna hält große Stücke auf ihn. Ist er es doch, der ihre alte Vespa am Laufen hält. Letzte Woche erst hatte er irgendwelche Riemen und Rollen ausgetauscht, nachdem Gianna eher beiläufig erwähnt hatte, dass ihr Gefährt ungewohnte Geräusche macht. Am folgenden Morgen fuhr er mit ihrem Roller zu seiner Werkstatt und als er abends nach Hause kam, schnurrte die kleine Vespa wieder wie am ersten Tag ihres langen Lebens.

Maria arbeitet als Grundschullehrerin an einer privaten Schule in Trastevere. In den vergangenen Jahren war die Zahl der Kinder wieder angestiegen und Maria war froh, dass sie nun endlich ihren Lebensunterhalt in ihrem Wunschberuf verdienen konnte. Viel Geld verdienen sie allerdings alle drei nicht. Aber für die Wohnung müssen sie nur recht wenig Miete an die Kommune zahlen und ansonsten leben sie auch sehr sparsam.

Gianna ist dennoch auf den Unterhalt durch ihre Eltern angewiesen. Sie hat einen Abschluss an einer Journalistenschule gemacht und arbeitet freiberuflich für diverse Onlinezeitungen. Davon leben kann sie aber nicht. Zusammen mit Salvatore, einem befreundeten Journalisten, hat sie vergangenes Jahr einen Video-Blog gegründet, in welchem sie, in unregelmäßigen Abständen, Leute aus Rom vor der Kamera interviewen. Die Zahl ihrer Blog-Abonnenten war anfangs sehr überschaubar, in den vergangenen Monaten hat sich ihr Kanal aber doch herumgesprochen und die Zahl der Klicks auf ihre Videos steigt langsam aber stetig. 

»Sag mal Gianna, wie ist denn dein Geheimtreffen an der Engelsburg gelaufen?«, fragt Marco beiläufig. 

Er kann Giannas sogenannter investigativer Arbeit nicht viel abgewinnen und macht sich gerne darüber lustig. 

»Ist nicht gekommen, der Kerl. Hat mich eine Stunde auf der Brücke blöd rumstehen lassen. Ich hab mich schon gewundert, dass mich keiner angequatscht hat, von wegen ob ich mit ihm in seine Wohnung komme oder so.«

»Ja, es soll in dieser Gegend ja selbst tagsüber öfter vorkommen, dass sich dort einsame Männer nach kurzen Bekanntschaften umsehen.«

Marco spielt auf die Nähe zum Vatikan an. Nach dem wirtschaftlichen Niedergang Roms, ist dieser zum bedeutendsten Wirtschaftsfaktor der Stadt geworden. Je schlechter die Zeiten wurden, um so mehr gewann die katholische Kirche wieder an Bedeutung, was sich an steigenden Mitgliederzahlen und auch an sprudelnden Einnahmen zeigte.

»Arbeitet nicht dein Vater dort in der Nähe?«, bohrt Marco nach. 

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass mein Vater nur gelegentlich im Vatikan zu tun hat? Er erledigt seine Arbeit meistens zuhause!«

Gianna ist genervt. Marco mag Ihren Vater nicht besonders und lässt das auch bei jeder Gelegenheit mit spitzen Bemerkungen durchblicken. Wahrscheinlich ist er ihm nicht italienisch genug, weil er in Deutschland geboren wurde. Gianna dagegen liebt Ihren »Fatti tedesco«. Früher hatte er einmal an der deutschen Botschaft gearbeitet. Als er Giannas Mutter kennengelernt und geheiratet hatte, war er aber schnell zu einem echten Römer mutiert und nur wenn man genau hinhört, kann man einen leichten deutschen Akzent aus seinen Worten heraushören.

Giannas Mutter hatte früher ebenfalls im diplomatischen Dienst gearbeitet, wo sich die beiden dann auch über den Weg liefen und die Liebe ihren Lauf nahm. Mit Diplomatie war allerdings nach dem großen Crash erst einmal nichts mehr zu verdienen und Giannas Eltern hatten eine schwere Zeit durchgemacht. Während die Mutter versuchte die Familie mit Schneiderarbeiten über Wasser zu halten, konnte der Vater gelegentlich seine Sprachkenntnisse bei den diversen verbliebenen Institutionen einbringen. Letztendlich war es der Vatikan, der ihn häufig mit Übersetzungen vom und ins Deutsche beauftragte. 

»Gianna, wann kommen denn Deine Eltern mal wieder zum Essen vorbei?«, mischt sich Maria in das Gespräch ein.

»Keine Ahnung, ich werd‘ sie mal fragen, wenn ich sie das nächste Mal sehe.«

Gianna kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Wenn ihre Eltern sie in der WG zum Essen besuchen, sieht das meistens so aus, dass die drei WG-Bewohner den Tisch schön decken und am Ende den Abwasch erledigen. Das Essen wird von Giannas Mutter mitgebracht und mit viel Liebe zum Detail zubereitet. Natürlich wird sie schon beim Kochen und erst recht während des Essens von allen Seiten mit Komplimenten überschüttet. Aber im Grunde sind es ihre Eltern, die das Essen finanzieren und ihre Mutter, die die Arbeit macht. Trotzdem hat ihre Mutter bisher noch keine dieser »Einladungen« abgelehnt und auch ihr Vater ist eigentlich immer ganz froh, wenn er sich mal mit den jungen Leuten unterhalten und alte Geschichten zum besten geben kann.

»Habt ihr am kommenden Sonntag Zeit? Falls ja, frage ich sie mal, ob sie Lust haben, zum Essen zu kommen.«

»Ja, natürlich!«, antworteten Maria und Marco wie aus einem Mund. 

Kickoff

Als David den Besprechungsraum betritt, sind seine Kolleginnen und Kollegen schon beinahe vollzählig versammelt.  Nur sein Chef Thomas Prenninger fehlt noch. 

»Hat heute schon jemand unseren Projektleiter gesehen?«, fragt Klaus, der wie David als freiberuflicher IT-Spezialist bei der Zentralbank arbeitet.

»Er war gestern Nacht noch in seinem Büro«, antwortet David. »Wahrscheinlich hat er dort übernachtet und verschlafen!«

Im gleichen Augenblick tritt Thomas zur Tür herein.

»Ein wunderschönen guten Morgen allerseits!«

Noch während er seinen Kaffee eingießt kommt er schon zur Sache:

»Worüber wir heute sprechen werden unterliegt der Geheimhaltung! Bevor wir anfangen, müsst ihr alle eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen. Hat irgend jemand damit ein Problem?«

Die Kollegen grinsen sich gegenseitig an. Das Ritual ist ihnen hinlänglich bekannt. Schweigend lassen sie die Unterschriftenliste herumgehen und unterzeichnen an der für sie vorgesehenen Stelle. Als die Liste wieder bei Thomas ankommt, wirft einen kurzen prüfenden Blick darauf und lässt das Formular in seiner Tasche verschwinden.

»Gut – soviel zu den Formalitäten.«

Er klappt sein Notebook auf und verbindet es mit dem Multimediasystem des Besprechungsraums. Der Beamer wirft eine Europakarte an die Wand, mit den, durch die jeweiligen Flusssysteme definierten, Domänengrenzen.

»Es geht um folgendes: Wie ihr bestimmt alle wisst, haben die Domänenregierungen Rhein, Weser, Elbe, Po und Donau vor kurzem vereinbart, Handelshemmnisse abzubauen und ihre Währungssysteme aneinander anzugleichen. Darüber hinaus sollen ein paar wirtschaftlich starke Zwergdomänen in diese Handelsunion integriert werden.«

David mustert die Gesichter seiner Kollegen und denkt sich: »Was soll der Scheiß? Wir sind Techniker! Was kommt uns der Typ jetzt mit Politik?« Die anderen scheinen das ähnlich zu sehen. Thomas Prenninger fährt aber ungerührt fort: 

»Ihr wisst ebenfalls, wie schwierig es war und wie lange es gedauert hat, innerhalb der Donau-Domäne eine gemeinsame Währung einzuführen. Fakt ist aber, dass sich der Donautaler heute in der gesamten Domäne durchgesetzt hat und von Ulm bis zum Schwarzen Meer überall als gesetzliches Zahlungsmittel anerkannt wird.«

David weiß noch aus dem Geschichtsunterricht, wie viele Regionalwährungen es seit dem Niedergang der Weltwirtschaft gegeben hat. Gerade in den Anfangsjahren nach dem großen Crash hatte jede Provinzregierung ihr eigenes Währungssystem erschaffen. David war in einem kleinem Ort im Bayerischen Wald aufgewachsen. Er kann sich noch gut daran erinnern, wie ihm sein Vater sein erstes Taschengeld überreichte: Fünf Schwarze Regenmark. David hatte sich gewundert, warum diese glänzenden Münzen als schwarze Regenmark bezeichnet wurden. Erst viel später kapierte er, dass dies mit der Domäne »SchwarzerRegen.Regen.Donau« zu tun hatte, in der seine Familie lebte. 

»Und? Soll jetzt wieder der Euro eingeführt werden?«, fragt er in die Runde. 

Allgemeines Gelächter. Jeder kennt die Geschichten aus der Endzeit des globalen Finanzkapitalismus, als der Euro erst mit viel Euphorie in den europäischen Nationalstaaten eingeführt wurde und dann maßgeblich zu deren Zusammenbruch beitrug.

»Nein, natürlich nicht«, beruhigt Thomas Prenninger das Team. »Ich denke schon schon, dass unsere Politiker aus der Vergangenheit gelernt haben. Es ist geplant eine übergeordnete Clearinghouse Institution zu gründen, die den Finanzausgleich der domänenübergreifenden Handelsströme abbildet, berechnet und abwickelt.« 

Überall in der Runde nur fragende Gesichter. Keiner hat verstanden, was der Projektleiter gerade gesagt hat. 

»Ihr müsst das jetzt auch nicht verstehen. Wichtig ist nur, dass die Banken unserer Domäne und insbesondere unsere Zentralbank eine geeignete Schnittstelle zu diesem neuen Abrechnungssystem bereitstellen. Diese Schnittstelle zu entwickeln ist euer Job.«

»Nicht schlecht!«, denkt sich David. Klingt nach einigen Mannjahren Entwicklungsaufwand! In den kommenden Monaten hätte er damit genug zu tun und müsste sich nicht mehr um das Hereinholen neuer Aufträge kümmern. 

»Wann soll es los gehen?«, fragt Klaus neugierig. 

»Sobald eure Arbeitsverträge unterschrieben sind. Weiß heute schon jemand von euch, dass er oder sie im kommenden Jahr keine Zeit hat? Oder hat jemand Probleme grundsätzlicher Art an diesem Projekt mitzuarbeiten?«

Allgemeines Schweigen in der Runde. Die meisten der freiberuflichen Kollegen sind wohl ähnlich angenehm überrascht wie David und die anwesenden festangestellten Mitarbeiter der Zentralbank sind bei derartigen Überlegungen ohnehin außen vor. Sie haben zu tun, was man von ihnen sagt.

»Gut, ich habe auch nichts anderes erwartet! Die weiteren Details werden zu gegebener Zeit an euch verteilt.«

Klaus will doch noch etwas mehr wissen: »Gibt es schon Vorstellungen, wie wir uns die Arbeit im Team aufteilen werden oder können wir uns da selbst organisieren?«

Thomas Prenninger muss grinsen. Immer dasselbe mit dieser subversiven IT-Truppe. Wollen immer möglichst selbstständig arbeiten und benötigen dann aber doch immer jemand, der ihnen die Richtung vorgibt.

»Nein, die Aufgabenverteilung werde ich mit meinen Vorgesetzten diskutieren und die Ergebnisse werden euch dann kommuniziert. Was dich betrifft Klaus, würde ich aber davon ausgehen, dass du und David aufgrund eurer Expertise für die Datenbankanbindung des Systems verantwortlich sein werdet.«

David Jonas und Klaus Baumann tauschen kurz ihre Blicke aus. Das war jetzt keine wirkliche Überraschung! Schon oft hatten die beiden in Projekten der Zentralbank zusammengearbeitet und sich gegenseitig schätzen gelernt. Sowohl fachlich, als auch menschlich.

Sie kommen beide aus der bayerischen Provinz, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Ecken. Sie waren nach ihrer Ausbildung etwa zur gleichen Zeit nach Wien gezogen. Beiden war ihre Heimat irgendwann zu klein geworden und beide suchten die berufliche Herausforderung in der Domänenmetropole Wien. Während eines kleinen IT-Projekts bei einer Versicherung hatten sie sich kennengelernt. Nach der Arbeit waren sie gemeinsam häufig durch die Kneipen und die Kaffeehäuser gezogen und hatten über Gott und die Welt – und zugegebenermaßen auch viel über Computerprogramme – geredet. 

Über Klaus war David damals auch an sein Appartement gekommen. Ohne Beziehungen läuft auf dem Wiener Wohnungsmarkt fast gar nichts. Klaus hatte David den Tipp mit dem frei werdenden Appartement gegeben und stellte auch den Kontakt zum Verwalter der Wohnanlage her. Danach ging alles ganz schnell und nach zwei Wochen konnte David aus seinem anfänglichem möblierten Notquartier in sein Yuppie-Appartement umziehen.

Anfangs fühlte er sich damit in Klaus‘ Schuld, aber mittlerweile waren ihre Gefälligkeitssalden ausgeglichen. Den aktuellen Job bei der Zentralbank hatte Klaus zum Beispiel durch eine Empfehlung von David bekommen. Thomas Prenninger hatte David gefragt, ob er einen guten Datenbank-Administrator wüsste. Klar, hatte er geantwortet und eine Woche später hatte Klaus den Job. Auch wenn dieser zum damaligen Zeitpunkt zwar ein gewisses Grundlagenwissen über Datenbanken hatte, aber alles andere als ein Spezialist war! War letztendlich aber auch egal. Am Ende des Projekt hatten sie beide den Job ordentlich erledigt und spätestens zu diesem Zeitpunkt konnte sich Klaus dann auch guten Gewissens als echter Datenbankprofi bezeichnen.

Thomas Prenninger fährt fort: »Ich werde den Rest unseres Meetings nutzen, um euch noch mit ein paar wichtigen Hintergrundinformationen zur Geldpolitik und den daraus resultierenden Anforderungen an das Projekt zu versorgen.«

David hört aber schon gar nicht mehr richtig hin. Mit Politik hat er nicht viel am Hut. Was für ihn wichtig ist, hat er in diesem Meeting schon erfahren. Soll sein Chef ruhig weiterschwafeln.

Für den Rest der Veranstaltung kreisen Davids Gedanken um ganz andere Dinge. Zum Beispiel, wie viel Süßigkeiten er damals für fünf schwarze Regenmark am Kiosk der guten Frau Adam einkaufen konnte. Sein Blick schweift dabei aus dem Fenster des Besprechungsraums im 34. Stock des Millennium Towers, über die Donau bis zu den Hügelketten am Horizont, hinter denen bereits das Einzugsgebiet der Elbe und damit eine andere Welt beginnt.

Scaloppine ai funghi

Am Sonntag um elf Uhr vormittags klingeln, fast auf die Minute wie verabredet, Giannas Eltern an der Wohnungstür der WG.

»Ciao Mamma, Ciao Vati«, umarmt Gianna ihre Eltern noch im Treppenhaus. »Kommt doch rein!« 

Gemeinsam betreten sie den langen dunklen Flur, von dem sämtliche Zimmer der Wohngemeinschaft abzweigen: Die drei Schlafräume, das Bad, die Toilette und die große Wohnküche, die den gesellschaftlichen Mittelpunkt der Wohnung bildet und in der sich der Großteil des WG-Lebens abspielt. 

»Hallo Signora und Signore Marconi!«, begrüßt Maria herzlich das eintretende Ehepaar. »Wie geht es Ihnen?« 

»Danke gut, und selbst?«, antwortet Giannas Mutter ebenso herzlich wie erfreut. 

Auch Marco bringt ein freundliches »Hallo« über seine Lippen und widmet sich dann aber wieder der Aufgabe, die ihm von seinen Mitbewohnerinnen übertragen worden war: Fein säuberlich verteilt er Essbesteck und Trinkgläser neben den Tellern und nimmt mit Hilfe eines frischen Geschirrtuchs die Sauberkeitskontrolle aller verteilten Teile vor. Akribisch poliert er nochmal alle Gläser und kontrolliert sie im Schein der schon recht hoch stehenden Sonne, bevor sie ihren endgültigen Platz auf dem eingedeckten Esstisch finden. 

»Was kochen wir denn heute?«, fragt Gianna neugierig. 

Ihre Mutter antwortet etwas verlegen: »Ich war gestern auf dem Markt auf der Piazza San Cosimato und habe dort 5 Kalbsschnitzel bekommen. Es gab auch Kartoffeln, Pilze und etwas Gemüse. Wir kochen also Scaloppine ai funghi con patate. Außerdem habe ich noch ein paar Zweige von dem Rosmarin mitgebracht, den ich auf unserem Balkon anbaue.«

Alle sind begeistert; besonders als Giannas Vater noch eine Flasche guten Rotwein aus dem mitgebrachten Jutebeutel hervor zaubert.

»Aus meinen eisernen Beständen!«, verkündet er stolz.« 

Die Frauen fangen gemeinsam an die Kartoffeln zu schälen und das Gemüse zu putzen, während Marco und Giannas Vater schon mal am Esstisch Platz nehmen und etwas Smalltalk betreiben.

»Na Marco, wie läuft das Geschäft bei euch in der Werkstatt?«

»Es geht so. Wir haben nicht genug zu tun, um alle Leute jeden Tag voll zu beschäftigen.«

»Ich habe aber schon das Gefühl, dass die Anzahl der Autos auf den Straßen langsam wieder zunimmt.«

»Ach wissen Sie, Signore Marconi, die meisten Römer können sich doch bestenfalls ein Motorrad leisten. Das Hauptproblem bei den Autos sind die Ersatzteile. Seit Jahren ist es unmöglich Ersatzteile für Reparaturen zu bekommen und unsere Arbeit besteht hauptsächlich darin, alte Autos auszuschlachten und deren noch nutzbare Teile wieder zu verwerten. Seit dem Zusammenbruch der Autoindustrie sind keine neuen Autos mehr nach Rom gekommen. Die zuletzt gebauten Autos waren absichtlich so konstruiert, dass sie nicht lange halten. Und die davor gebauten Autos, die noch eine einigermaßen gute Qualität hatten, hat mittlerweile der Rost zerfressen.«

In der Tat hat Marco in seiner Werkstatt fast ausschließlich mit alten Motorrädern zu tun. Daran kann man wenigstens noch herumschrauben und zur Not auch mal ein Ersatzteil provisorisch selbst herstellen. Autos, mit ihrem ganzen Elektronikkram, waren ihm schon immer suspekt.

»Aber auf unserer Halbinsel werden doch mittlerweile längst wieder neue Autos gebaut. In Turin haben die Fiatwerke gerade eben doch wieder ein neues Elektromobil angekündigt!«

»Ja Signore Marconi, das ist richtig. Im Norden ist die Industrie wieder schnell auf die Beine gekommen. Die hatten in ihrer riesigen Po-Domäne aber auch ganz andere Ausgangsvoraussetzungen! Eine funktionierende Landwirtschaft, um die Ernährung der Bevölkerung in den Großstädten sicher zu stellen und moderne Industriestandorte, um wettbewerbsfähige Produkte herzustellen.«

»Ich weiß was Sie meinen, Marco. Der Süden ist wirtschaftlich abgehängt worden. Was haben wir hier in unserer Minidomäne denn als Handelswaren zu bieten. Die Produkte aus der Landwirtschaft benötigen wir dringend selber, damit unsere eigenen Leute nicht verhungern. Wie sollen wir da von den reichen Norddomänen Autos kaufen, wenn wir uns schon schwer tun, unsere alten Vespas mit Benzin zu versorgen.«

Von der Küchenzeile her riecht es schon lecker nach Essen. Die Schnitzel brutzeln im heißen Olivenöl und ein Duft von Knoblauch und Rosmarin liegt in der Luft. 

»Ich glaube es wird nicht mehr lange dauern«, sagt Marco. »Soll ich schon mal den Wein öffnen?«

»Ja gerne! Der gute Tropfen soll ruhig noch ein wenig atmen, bevor wir ihn uns einverleiben.«

Giannas Vater war sein Lebtag einem guten Glas Wein nie abgeneigt. Leider erlauben es ihm die Umstände nicht mehr, seinem alten Laster zu frönen. Es ist nicht so, dass im heutigen Rom kein guter Wein zu bekommen wäre. Es ist vielmehr eine Frage des Geldes. Die mitgebrachte Flasche hatte er vor ein paar Jahren auf einem Winzermarkt erstanden. Der Verkäufer hatte eine Auswahl regionaler Weine dabei, von denen er seine potentiellen Kunden auch gerne probieren lies. Giannas Vater war mit vier Flaschen Rotwein aus Cesanese del Piglio und einer ordentlichen Alkoholfahne nach Hause gekommen und musste sich heftige Vorwürfe seiner Frau anhören. Sie ist es schließlich, die im Hause Marconi die Oberhoheit über die Finanzen hat und das hatte sie ihm bei der Gelegenheit auch unmissverständlich klar gemacht.

»Kinder setzt euch, das Essen ist gleich fertig!«

Auf dieses Kommando der Signora Marconi hin nehmen sofort alle ihren Platz ein. Die drei Frauen verteilen das Essen, Giannas Vater spricht ein kurzes Tischgebet und lobt ausführlich die Kunst der Köchin. Dann herrscht genießerische Stille. Alle am Tisch wissen es, aber keiner spricht darüber: Es ist schon Wochen her, dass sie sich zuletzt solch ein teures Festmahl geleistet haben. 

Dunkle Wolken am Horizont

Sehr viele Jahre vorher, in einer deutschen Kleinstadt westlich von Köln: 

Peter Eckert sitzt in seinem Hobbyraum am Computer und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf die aktuellen Aktiencharts.

»Das geht doch nicht mehr mit rechten Dingen zu!«

Diese Kurve erinnert ihn mehr an die Aufzeichnungen eines Seismographen. Wie sie immer dann im Fernsehen zu sehen sind, wenn ein katastrophales Erdbeben mal wieder kurzzeitig die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erregt hat.

In den letzten Jahren hatte Peter Eckert ordentliche Gewinne an der Börse erzielt. Nachdem die Zinsen für sein Erspartes erst gegen Null und dann sogar noch ins Negative gedriftet waren, hat er das Ruder herumgerissen und begonnen in Aktien zu investieren. Bisher hat er diesen Schritt nicht bereut, aber was in den vergangenen Wochen an den Aktienmärkten so abgegangen war, hatte ihm noch ein paar zusätzliche graue Haare eingebracht. Und das bei den wenigen, die er ohnehin nur noch hat!

»Du darfst das nicht als Krise, sondern als Chance sehen!« hat sein Bankberater gesagt, den er schon von seiner Schulzeit kannte. »Kaufen wenn die Kanonen donnern!« und so‘n Zeug hat er gesagt. Aber Peter Eckert hörte keine Kanonen. Manchmal sieht er welche im Fernsehen: In Syrien oder in der Ukraine, weit weg und irgendwie nicht so richtig furchteinflößend. War das jetzt schon die Krise? Oder stehen wir kurz davor? Soll ich besser jetzt verkaufen und wenn ja, was mache ich dann mit dem Geld?  

»Bei großen Kursschwankungen lassen sich auch große Gewinne realisieren!« war noch so eine Weisheit. Hatte auch ein paar Mal geklappt, ging aber noch öfter in die Hose!

»Ist doch alles eine Zockerei auf Kosten der Kleinen!«

Wie sollte ein Kleinanleger wie er denn auch eine Chance gegen die Investmentabteilungen der Großbanken haben? Indem er nach Feierabend Onlinecharts an seinem Computer studiert und dann Kauf- bzw. Verkaufsorders im Onlinebanking erteilt? Die professionelle Konkurrenz kämpft derweil um jede Millisekunde, die sie schneller als der Rest der Welt sein könnte, um diesen Zeitvorteil direkt in einen Geldvorteil umzuwandeln.

»Nein, so dumm ist ein Peter Eckert nicht, dass er sich von den Banken über den Tisch ziehen lässt! Ich verfolge meine langfristige Anlagestrategie und werde schon weiterhin gut damit fahren. Und damit nichts schief gehen kann, habe ich vorsorglich ein paar geeignete Stop-Loss-Orders gesetzt!«

Versuchung

David und Klaus hatten den ganzen Tag in ihrem Projektraum im Millennium Tower verbracht und dabei unzählige Anforderungsdokumente durchgearbeitet. Danach rauchte beiden der Kopf und sie beschlossen den Tag mit einem Zug durch die Kneipen ausklingen zu lassen.

Drei Lokale und sechs Bierchen haben sie schon hinter sich, als sie entscheiden in eins der angesagten Szenelokale unter den Bögen der Wiener Stadtbahn zu gehen.

»Schon ganz schön voll hier!«, schreit Klaus gegen die ohrenbetäubende Musik an. 

»Ja, ich glaube da hinten ist noch was frei.«

Sie setzen sich an einen kleinen Bistrotisch in der schummrigen Ecke des Lokals. Hier ist die Musik etwas gedämpfter als vorne, wo die Bässe der Boxen einem das Gehirn zum Vibrieren bringen und man kann sich noch halbwegs unterhalten.

»Sag mal, wie gefällt dir eigentlich das neue Projekt?«, fragt Klaus. 

Oh Mann, der Typ ist immer noch in Gedanken bei der Arbeit. Hat der denn heute gar nichts anderes mehr im Kopf?

»Ich find‘s okay. Hab schon Schlimmeres erlebt.«

»Ich auch. Schon viel schlimmer! Aber trotzdem komme ich mir langsam vor, wie ein Hamster in seinem Rad. Dauernd von einem Projekt zum Nächsten rennen und trotzdem nicht voran kommen.«

Mann, wie ist der Klaus heute wieder drauf? Immer wenn er zu viel Bier getrunken hat, bekommt er seinen Philosophischen und zweifelt am Sinn seines Lebens.

David antwortet: »Was ist so schlimm daran, wie es ist? Willst Du Karriere machen? Oder wie unser Sesselpupser von Projektleiter den Idioten für die Bosse geben? Ne ne mein Lieber, da bin ich lieber der Kopf der Ärsche, als der Arsch der Köpfe.«

Klaus muss grinsen. Er mag Davids Art, manche Dinge sehr einfach auf den Punkt zu bringen. Dann sieht er sich um und als er sicher ist, dass niemand neben ihnen steht, beugt er sich zu David vor und sagt ihm direkt ins Ohr: 

»Karriere machen? Nein danke! Aber ich frage mich manchmal schon, warum wir uns täglich für unser bescheidenes Einkommen abrackern, während andere Leute das große Rad drehen und dabei die dicke Kohle einschieben.«

»Und was hast du konkret vor? Willst du in den Keller der Zentralbank einsteigen und den großen Tresor mit einem Schweißbrenner bearbeiten?«

Die Augen von Klaus werden eng: »Nein, damit kenne ich mich nicht aus. Da würde ich mir wohl buchstäblich die Finger verbrennen. Aber manchmal gibt es auch Situationen, da liegt das Geld auf der Straße und man muss es nur aufheben.«

»Kannst du mir vielleicht erklären, was da damit meinst?«

Klaus antwortet ausweichend: »Nein, das kann ich dir jetzt nicht erklären. Die Sache ist mir zu heiß, als dass ich dich da jetzt reinziehen will.«

Bei David beginnen die Alarmglocken zu schrillen.

»Sag mal, machst Du irgendwelche krummen Dinger in der Bank?«

»Ach Quatsch! Natürlich nicht! Aber es könnte doch sein, dass man von krummen Dingern anderer Leute Wind bekommt und selber davon profitieren kann.«

David ist perplex. Doch bevor er weiter nachfragen kann, über was Klaus da faselt, setzen sich zwei gutaussehende junge Frauen zu ihnen an den Tisch.

»Dürfen wir uns zu euch dazu setzen?«, fragt die blondere von den beiden in breitestem Wiener Dialekt. 

»Nur zu, schöne Frau!« antwortet Klaus reflexartig.

David muss schmunzeln. Sein Freund hat nahtlos vom Gier- in den Balzmodus gewechselt. Sofort beginnt er auf die Blondine einzureden: Was sie so macht, was er so macht, wo sie herkommt und so weiter und sofort. Nach einer Viertelstunde verschwinden die beiden auf nimmer Wiedersehen auf der Tanzfläche.

Trotz der ohrenbetäubenden Musik versucht sich David eine Zeit lang mit der Begleiterin der Blonden zu unterhalten. Irgendwann verschwindet jedoch auch diese in Richtung Tanzfläche und lässt ihn alleine zurück.

David wartet noch eine Weile auf seinen Kollegen, zahlt dann aber sein Bier und verlässt den Club. 

»Endlich frische Luft!«

Draußen auf der Straße rattert die Hochbahn stadtauswärts. David kann in die hell beleuchteten Abteile sehen. Nur ein paar vereinzelte Fahrgäste fahren um diese Zeit in Richtung ihrer Schlafstätten in den Wiener Vororten. Die meisten von ihnen starren hypnotisiert auf ihre Smartphones oder dösen mit gesenkten Köpfen vor sich hin. David spürt das Vibrieren des Bodens unter seinen Füßen, aber im Vergleich zu dem Schallpegel in dem Lokal ist das rhythmische Donnern der stählernen Räder auf den Schienen geradezu eine Wohltat für seine Ohren. 

Er geht durch die grell erleuchteten Straßen des Wiener Amüsierviertels. Inzwischen ist es Mitternacht und das Nachtleben beginnt Fahrt aufzunehmen. David hat aber für heute genug. An der Thaliastraße winkt er ein Taxi herbei. Der Fahrer fragt ihn in einem harten osteuropäischen Akzent nach seinem Ziel. 

»Warum kommen eigentlich fast alle Taxifahrer aus dem ehemaligen Rumänien oder Bulgarien?« denkt sich David, nachdem er dem Fahrer die Adresse seines Appartements genannt hat und sich müde in das weiche Leder der Rückbank fallen lässt. 

Wandertag

Das Festmahl mit Giannas Eltern ist beendet. Zum Espresso haben sich Gastgeber und Gäste in der gemütlichen Sitzecke mit den alten Polstermöbeln niedergelassen. 

»Gianna, meine Nachbarin hat gesagt, sie hätte dich neulich im Fernsehen gesehen!«

»Mamma, sie meint wahrscheinlich mein Videoblog.«

»Wie auch immer das heißt, da wo du dich mit dem alten Fremdenführer unterhalten hast.«

Gianna hatte zusammen mit Salvatore eine Reportage über die Zeit gedreht, als Rom noch ein Mekka für Touristen aus aller Welt gewesen war. Ihre Altersgenossen kennen den Tourismus eigentlich nur aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Die Reportage war deshalb gerade bei den jungen Leuten auf reges Interesse gestoßen und hatte ihnen viele neuen Abonnenten für ihren Videokanal beschert. 

Nach Rom kommen auch im Jahr 2052 nach wie vor viele Pilger aus aller Welt. Der Transport und ihre Unterbringung liegt aber fest in der Hand des Vatikans. Die Pilger aus den reichen Domänen landen gewöhnlich mit dem Flugzeug am Flughafen Giovanni Paolo II in Fiumicino. Von dort werden sie sofort in die komfortablen Hotels transferiert, die in den vergangenen Jahren am Rande der Vatikanischen Gärten neu errichtet worden waren. Die ärmeren Pilger werden am Busbahnhof eingesammelt und in die einfachen Herbergen auf dem Vatikanareal gebracht. Während ihres gesamten Aufenthalts bleiben die Pilger üblicherweise innerhalb der Mauern des Vatikans. Nach dem Abschluss der Feierlichkeiten und Zeremonien, verlassen sie dann die Stadt genau so schnell, wie sie gekommen sind. Vor einer Stadtbesichtigung werden sie eindringlich gewarnt. Die Stadt sei für Fremde sehr gefährlich sei und Überfälle wären an der Tagesordnung. 

»Weißt du Mamma, der alte Fremdenführer ist ein Bekannter von Salvatore. Seit Jahren schwärmt er von den goldenen Zeiten, die er in seiner Jugend erlebt hat. Salvatore hatte dann irgendwann die Idee zu der Reportage. Wir sind einen Tag lang zusammen durch die Innenstadt gelaufen und Salvatore hat gefilmt, während mir der alte Mann von früher erzählte.«

»Da könnte ich euch auch einiges erzählen!«, wirft Giannas Vater ein. »Käme ich dann auch ins Fernsehen?« 

»Ach Vati, ich hab dir doch schon oft erklärt, dass ein Videoblog nichts mit dem Fernsehen zu tun hat.«

»Das weiß ich doch, mein Kind. Deine Mutter und ich haben damals doch das Entstehen des Internets miterlebt. Wir können uns sogar noch daran erinnern, wie mit Jutube oder wie das damals hieß, die ersten Blogger auf der Bildfläche erschienen sind. Du würdest dich kaputt lachen, wenn du die alten Videos aus dieser Zeit ansehen würdest!« 

Maria und Marco verwerfen sich verstohlen Blicke zu. Gleich würde Giannas Vater wieder seine  Geschichten aus der guten alten Zeit zum Besten geben. Höchste Zeit das Thema zu wechseln. 

»Ich war neulich mit meiner Grundschulklasse auf Erkundungstour in der Innenstadt«, beginnt Maria zu erzählen. »Es gab im Vorfeld einige Bedenken der Eltern, die sich Sorgen um die Sicherheit der Kleinen gemacht haben. Erst als wir eine Abordnung der Bürgerwehr als Begleitschutz organisiert hatten, durften die meisten der Kinder an diesem Wandertag teilnehmen.«

»Die Bambini kommen doch nie aus ihrem Viertel heraus!«, beginnt sich Marco zu ereifern. »Die Eltern sollen doch froh sein, wenn die Schule solche Ausflüge organisiert.« 

»Es hat auch allen gut gefallen. Wir sind in Trastevere losmarschiert und haben unsere erste Pause auf der Tiberinsel gemacht. Die Mönche dort waren hocherfreut über den jungen Besuch und haben uns über das ganze Gelände und auch durch die Kirche San Bartolomeo geführt. Von dort ging’s dann weiter über den Campo de’ Fiori zur Piazza Navona. 

»Gibt’s da noch die kleine Eisdiele mit dem lecker Schoko-Eis?«, will Marco wissen. 

»Ja, die gibt’s dort noch«, fährt Maria fort. »Allerdings hätte ich deren Besuch gerne vermieden. Denn nur die Hälfte der Kinder hatte Taschengeld von ihren Eltern mitbekommen und konnten sich eine Kugel Tartufo leisten. Die anderen mussten ihnen beim Schlecken zusehen.«

»Die Welt ist eben ungerecht«, ist alles was Giannas Vater dazu einfällt. »Das kann man gar nicht früh genug lernen.«

»Nach unserer Pause auf der Piazza Navona sind wir dann zum Corso Vittorio Emanuele gelaufen und haben am Ende der Straße die Tiberbrücke überquert. Die Kinder wollten unbedingt einmal den Petersplatz und den Dom sehen, aber daraus ist leider nichts geworden. Die Leute von der Schweizer Garde haben uns ohne Passierschein nicht reingelassen.« 

»Das ist wieder typisch!«, beginnt Marco loszupoltern.  »Ich kann diese Typen nicht ausstehen. Egal wo Du in der Stadt auf sie triffst: Die behandeln einen wie den letzten Dreck!« 

»Ja, ja«, erwidert Giannas Mutter. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die noch in ihren Hampelmannkostümen durch den Vatikan gelaufen sind. Waren damals eigentlich immer recht sympathische Burschen. Heute habe ich auch immer ein ungutes Gefühl, wenn ich einen von ihnen sehe: Schwarze Klamotten, Sonnenbrille, und meistens bis an die Zähne bewaffnet.« 

Giannas Vater sieht die Sache entspannter:

»Ist eben ein Security Verein, wie es ihn mittlerweile überall auf der Welt geben soll. Der Vatikan hat Macht und Geld. Das erzeugt viel Neid in der Stadt. Ich halte es daher schon für legitim, dass sich der Vatikan gegen das Gesindel zur Wehr setzt.«

Marco fällt es immer schwerer ruhig zu bleiben:

»Und deswegen muss man den Petersplatz gegen eine Horde von Grundschülern verteidigen? Die Bambini hätten ja wohl kaum die Kirchenschätze geplündert und den Papst entführt. Es ist doch anders herum: Wie viele der feinen Herren kommen denn nachts heimlich im Schutz der Dunkelheit in unsere Stadt? Wissen Sie wie viele unserer Frauen sich prostituieren, um ihre Kinder ernähren zu können? Ist es ein Zufall, dass heute fast alle römischen Bordelle um den Vatikan herum angesiedelt sind?«

Maria versucht Marco zu beruhigen:

»Also komm, Marco. Prostitution gibt es in Rom ja nun schon etwas länger. Das ist nun wirklich keine neue Erfindung des Vatikans.«

Gianna sieht, wie ihre Mutter vorwurfsvolle Blicke in Richtung ihres Mannes wirft. Bevor die Situation beginnt peinlich zu werden, legt Marco aber schon wieder los:

»Trotzdem – ich bleibe dabei: Der Vatikan ist der Stachel im Fleisch unserer Stadt. Ich sehe nichts Positives an dieser Institution. Gianna, ich glaube übrigens, dass der Typ, der dich neulich auf der Engelsbrücke versetzt hat, auch mit dem Vatikan zu tun hat!«

Wenn Giannas Blicke töten könnten, wäre Marco auf der Stelle tot umgefallen. Prompt fragt ihr Vater mit besorgter Miene:

»Gianna, was meint Marco damit?«

»Ach nichts Besonderes. Salvatore und ich hatten in unseren letzten Videoblogs ja teilweise recht kritisch über das Verhältnis zwischen dem Vatikan und der Stadt Rom berichtet. Daraufhin hat mich jemand anonym kontaktiert und angedeutet, dass er interessante Unterlagen für mich hätte. Er wollte mir diese bei der Engelsburg übergeben, ist dann aber nicht gekommen.«

»Um Gottes Willen! Was für Unterlagen?«, bohrt Giannas Mutter sofort nach. 

»Mamma, ich weiß es doch nicht. Es ist ja niemand gekommen und gemeldet hat sich dieser angebliche Informant ja auch nicht mehr. Wahrscheinlich war es nur irgendein blöder Wichtigtuer. Aber es ist nun mal mein Beruf als Journalistin solchen Hinweisen nachzugehen. Man kann ja vorher nicht wissen, was dabei rauskommt.«

Doch auch ihr Vater ist jetzt zutiefst beunruhigt: 

»Gianna, versprich mir bitte, dass Du auf dich aufpasst! Ich gebe Marco in gewisser Hinsicht recht. Die Leute im Vatikan sind nicht alle von der guten Sorte. Deine Mutter und ich machen uns Sorgen um dich! Versprich mir, dass Du mir Bescheid sagst, wenn sich dieser angebliche Informant wieder bei Dir melden sollte.«

»Ihr braucht euch keine Sorgen um mich machen. Ich bin alt genug, um auf mich selber aufzupassen.«

Gianna vermeidet den direkten Augenkontakt mit ihren Eltern. Sie hat sie gerade angelogen. Es ist nämlich nicht wahr, dass sie keine Nachricht mehr von dem dubiosen Informanten bekommen hat. Gestern lag die zweite Mail von ihm in ihrem elektronischen Postfach.

Luxusprobleme

Jan Eckert ist vom Streit seiner Eltern genervt. Seit Wochen geht es nur um ein Thema. Wo verbringen wir dieses Jahr den Sommerurlaub. Jans Vater will an die Nordsee. Holland oder eine der ostfriesischen Inseln. Wie jedes Jahr eben. Jans Mutter hat Sehnsucht nach südlicheren Gefilden. Auf der Strada del Sole nach Italien, mit dem Flieger nach Mallorca, Gran Canaria, Malediven. Egal wohin, bloß nicht schon wieder an diese verdammte Nordsee!

»Ich hab keine Lust wieder zwei Wochen bei schlechtem Wetter in der Ferienwohnung zu sitzen!«

»Na und? Glaubst du in Italien gibt es kein schlechtes Wetter?«

»Doch, aber nicht wochenlang am Stück, wie an deiner blöden Nordsee!«

»Wir waren doch schon ein paar Mal in Italien. Dir ist schon klar, wie lange wir jedes Mal mit dem Auto unterwegs sind, bis wir endlich in diesem dämlichen Rimini ankommen? Baustellen ohne Ende, Staus ohne Ende und im Maut kassieren sind die Italiener ja auch nicht zu toppen! Wir schmeißen denen unser sauer verdientes Geld in den Rachen und die leben da unten in Saus und Braus!«

»Dann fliegen wir eben mal wieder. Von Köln-Bonn sind wir mit dem Flugzeug schneller auf den Kanarischen Inseln, als mit dem Auto an der Nordsee! Und viel teurer ist es auch nicht. Außerdem sagt du doch ständig, dass unser Geld vielleicht bald nichts mehr wert ist. Dann hör doch endlich auf, an unserem Urlaub rum zu geizen!«

Jan hat die Schnauze voll von diesem ewigen hin und her seiner Eltern. Er wird sowieso nicht mitfahren, egal wie die Entscheidung fallen wird. Seit seinem 16. Geburtstag hat er sich da ausgeklinkt. Das Thema Urlaub mit seinen Eltern ist für ihn durch.

Vor einem halben Jahr haben ihm seine Oldies zum bestandenen Abitur ein eigenes Auto geschenkt.  Eine kleine untermotorisierte Kiste. Aber Jan fühlt sich seitdem frei. Richtig frei! Mit drei Kumpels war er in Urlaub gefahren: Zwei Wochen hatten sie auf Texel gezeltet. Komisch – am selben Ort war er bereits oft mit seinen Eltern gewesen. Aber irgendwie war mit seinen Freunden dort alles ganz anders. Viel cooler eben. Bis zu der Nacht, als Max besoffen ins Zelt gekotzt hat, weil er nicht mehr rechtzeitig den Reißverschluss vom Ausgang aufgekriegt hat. Am Morgen sind sie dann wieder heimgefahren. 

»Lass uns doch nach Griechenland fliegen! Soll jetzt viel günstiger geworden sein, seit wir den Griechen das Sparen beibringen«, fängt Jans Mutter die Diskussion wieder an. 

»Bist du verrückt? Weißt du wie schlecht die Griechen auf uns Deutsche zu sprechen sind? Die geben uns doch die Schuld für ihre eigene Misswirtschaft. Jetzt wollen sie schon wieder eine Schuldenerleichterung haben. Womöglich stranden wir auf irgendeiner griechischen Insel, weil die Fluglotsen, die Hafenarbeiter oder der ganze Staat sich mal wieder im Streik befindet. Ich frage mich, wie das alles dort mal enden soll.«

»Also doch Italien. Da ist die Welt doch noch in Ordnung.«

»Du hast doch überhaupt keine Ahnung! Neulich haben sie wieder einen Bericht über die italienischen Banken gebracht. Da ist die Kacke auch schon gewaltig am dampfen. Ist doch nur noch eine Frage der Zeit, bis die nächste Blase platzt!«

»Du musst es ja wissen. Wo du dich in finanziellen Dingen ja immer soooo gut auskennst!«

Jans Mutter rollt mit den Augen. Sie hat ihrem Mann noch nicht verziehen, dass er damals unbedingt diese Lehman-Papiere kaufen musste. Zwanzigtausend Euro hatten Peter und Elvira Eckert  damals verloren. Geld, das sie für das Studium der Kinder eigentlich schon fest eingeplant hatten. Von heute auf morgen futsch. Dabei hatten sie beide ihrem Geldberater von der Sparkasse immer vertraut. Und was man so hörte, hatte dieser damals selbst einen Haufen Geld verloren. Aber geredet wird viel in dieser Kleinstadt – häufig auch viel Blödsinn. 

Woher sollten sie sich auch auskennen in Bankangelegenheiten? Jans Eltern haben sich aus kleinen Verhältnissen hochgearbeitet. Peter Eckert hatte Elektriker bei RWE gelernt. Im Lauf der Jahre hat er sich im Konzern nach oben gearbeitet. Heute hat er einen Schreibtischjob und bereitet als Sicherheitsbeauftrager Audits und Zertifizierungen vor. Er ist jetzt Mitte fünfzig und mit 63 Jahren will er in Rente gehen. Bis dahin muss er noch ordentlich für das Studium der Kinder ranklotzen. 

Elvira Eckert hatte eine Ausbildung als technische Zeichnerin gemacht. Nachdem sie Jan und drei Jahre später seine Schwester Anna bekommen hatte, blieb sie zu Hause und kümmerte sich um die Kinder. Seit die aus dem Gröbsten raus sind, arbeitet sie stundenweise an der Kasse vom örtlichen Lebensmitteldiscounter.

»Wenn wir uns nicht einigen können, machen wir diesmal eben getrennt Urlaub!«, schlägt Jans Mutter vor. »Du fährst an deine Nordsee und Anna und ich fahren nach Italien.« 

Jans Vater hat keine Lust mehr diese Diskussion heute noch weiter zu führen. Wortlos verschwindet er in seinen Hobbykeller und schaltet den Computer ein, um die aktuellen Bewegungen auf dem Aktienmarkt zu analysieren. Doch was er da sieht, trägt nicht gerade zu seiner Beruhigung bei. Ganz im Gegenteil! 

Gewissensbisse

Gegen zehn Uhr im Projektraum: David und Klaus haben das geräumige Büro heute offenbar für sich allein. Die anderen Teammitglieder arbeiten im Homeoffice. Auf Davids Messenger App haben alle den Status auf »Erreichbar« gesetzt. Auch David arbeitet lieber zuhause. Heute benötigen sie aber direkten Zugang zum Bankrechner und den haben sie nun mal nur hier vor Ort. 

Ist ja auch kein schlechtes Arbeiten hier. In der Teeküche gibt es nicht nur Tee, sondern auch Kaffee so viel man möchte. Schmeckt zwar nicht gerade wie in einem guten Kaffeehaus, ist aber durchaus trinkbar und enthält genug Koffein für eine Stunde Arbeit. Auch frisches Obst und verschiedene Softdrinks werden den Mitarbeitern unentgeltlich zur Verfügung gestellt. Im Kampf um die besten Köpfe lassen sich die Unternehmen schon Einiges einfallen. Allerdings werden für diese Wohltaten auch Gegenleistungen erwartet. Wer nicht performt, der fliegt, was natürlich keiner so direkt ausspricht. David hat aber schon oft erlebt, dass Mitarbeiter zum Quartalsende auf nimmer Wiedersehen verschwanden, weil ihr Vertrag nicht verlängert worden war. 

»Sag mal Klaus, wie lange warst du denn neulich noch in dem Club?«

»Gar nicht so viel länger als du. Hast mich ja einfach allein zurückgelassen. Ich bin dann mit der Lissi zu ihr nach Hause in den 21. Bezirk gefahren. Eine scharfe Braut, sag ich dir!«

Auf die Schilderung näherer Details möchte David heute lieber verzichten. Stattdessen würde er lieber den Fehler in seiner Software finden, der ihn seit heute morgen beschäftigt. Nun denkt er aber doch wieder an den nächtlichen Ausflug mit Klaus und an die seltsame Andeutungen, die dieser gemacht hatte. 

»Kannst du dich eigentlich noch erinnern, was du gesagt hast, bevor diese Lissi in dein Leben trat?«

Klaus schaut ihn fragend an.

»Was meinst du?«

»Du hattest gesagt, dass du jetzt nicht mehr kleine Brötchen backen, sondern ins ganz große Business einsteigen willst, oder so ähnlich.«

»Ach Quatsch, du musst nicht immer alles gleich wörtlich nehmen. Außerdem warst du zu dem Zeitpunkt ja auch nicht mehr ganz nüchtern.«

»Ich war auf jeden Fall nüchtern genug, dass ich mich noch recht gut erinnern kann. Und was du da erzählt hast, hat mich ziemlich irritiert. Also raus mit der Sprache! Wir kennen uns schon lange genug. Ich halte schon dicht!«

Klaus windet sich. Er könnte sich dafür ohrfeigen, dass er an dem Abend so viel gequatscht hat. Da er aber David vertraut, beginnt er zögernd zu erzählen:

»Mir sind neulich bei der Wartung der Datenbank ein paar seltsame Datensätze aufgefallen. Es gibt da regelmäßige Überweisungen auf ein Konto, das keinem echten Bankkunden zugeordnet werden kann. Von dem Konto wurde das Geld regelmäßig, kurz nach der Überweisung, wieder in bar abgehoben. Das Konto wird ausschließlich online verwaltet. Ich habe mir die Logfiles angesehen und die IP-Adressen ausgewertet. Und stellt dir vor: Der Zugriff erfolgte immer aus dem Adressraum der Stadtverwaltung. Die Überweisungen entsprechen immer dem selben Muster. Der Betrag liegt zwischen 10.000 und 20.000 Donautalern und im Überweisungzweck steht jedes Mal der Begriff ‚Wasserbereinigung‘. Wenn du mich fragst, zweigt da irgend so ein korruptes Schwein in der Stadtverwaltung massiv Geld ab und macht sich ein schönes Leben!«

David hat aufmerksam zugehört und schüttelt den Kopf.

»Da hast du dir aber eine schöne Theorie zurecht gelegt. Meinst du nicht, dass da ganz was anderes dahinter stecken könnte? Warum meldest Du den Vorgang nicht Deinem Chef? Dazu bist du vertraglich sogar verpflichtet!«

»Bist du blöd? Die würden mir sofort einen Strick daraus drehen, weil ich unbefugt Kontodaten ausgewertet habe. Ich hätte garantiert sofort eine Anzeige am Hals und wäre meinen Job los. Außerdem habe ich dir noch nicht alles erzählt: Es gibt bei dem Konto in den Kontaktdaten eine Mobilfunknummer. Die habe ich anonym angerufen. Der Typ in der Leitung war ganz schön irritiert, als ich ihn auf das Konto angesprochen habe. Dem ist der Arsch richtig auf Grundeis gegangen und er hat von sich aus gefragt, ob ich Geld von ihm wolle!«

»Bis du jetzt völlig durchgeknallt? Das ist Erpressung!« 

»Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd. Da sitzt so ein korrupter Sack in der Verwaltung und macht sich von meinen Steuern ein schönes Leben und ich soll da ruhig zuschauen, wie er die Kohle einschiebt? Ich werde dem Kerl einfach einen Denkzettel verpassen und einen Teil der Schadens, der ohnehin schon angerichtet ist, in Form einer Beteiligung an mich umleiten.«

David sieht unverkennbar die blanke Gier in Klaus’ Augen. Der gleiche Blick wie neulich im Club. Offensichtlich ist er wild entschlossen dieses krumme Ding durchzuziehen. David denkt kurz nach und sagt dann: 

»Hör zu! Meine Meinung kennst Du. Wenn du dich nicht traust Anzeige zu erstatten, dann kannst Du das ja auch anonym machen. Ich will mit der Sache nichts zu tun haben. Was mich betrifft, so hat dieses Gespräch hier nie stattgefunden.«

Er klappt sein Notebook zu, verlässt wortlos den Raum und verzieht sich in die Teeküche. Auch Klaus hat keinen Nerv mehr weiter zu arbeiten. Er lässt David seiner Wege gehen und ist ganz froh, dass diese Aussprache fürs erste vorbei ist. Kann er sich wirklich darauf verlassen, dass David nichts weiter erzählt? Wahrscheinlich schon; er ist nicht der Typ, der ein gemachtes Versprechen leichtfertig brechen würde. Und irgendwie steckt er ja nun auch mit drin.

Klaus ist fest entschlossen, die Sache jetzt bis zum Schluss durchzuziehen. Im Grunde ist es eh zu spät, um sich das Ganze nochmal zu überlegen. Heute Abend wird das Ding über die Bühne gehen!

Beichtgespräch

Gianna liest nun schon zum vierten Mal die Mail:

Sehr geehrte Signorina Marconi,
bitte entschuldigen Sie vielmals, dass ich Sie neulich an der Engelsbrücke versetzt habe. Leider war es mir nicht möglich, unser Treffen wie geplant in die Tat umzusetzen, ohne uns beide dabei in große Gefahr zu bringen. Ich hoffe inständig, dass Sie mir noch eine weitere Gelegenheit für ein Zusammentreffen geben werden. Bitte kommen Sie am nächsten Donnerstag um 10 Uhr vormittags in die Kirche Santa Maria in Cosmedin. Ich werde Sie dort in einem der Beichtstühle erwarten. Vor dem Beichtstuhl werde ich ein Gebetbuch ablegen, damit Sie mich leichter finden können.
Mit Gottes Segen 

So ein elender Wichtigtuer! Warum schreibt der Typ denn nicht gleich, was er von mir will? Stattdessen diese Geheimniskrämerei! Gianna hätte immer noch gute Lust die E-Mail in den elektronischen Papierkorb zu verfrachten. Zuletzt siegt aber doch ihre Neugier über die Verärgerung. Wenigstens ist diese Kirche nicht so weit von ihrer Wohnung weg, wie die Engelsbrücke. 

Gianna packt ihre Handtasche und verschließt sorgfältig die Wohnungstür. Maria und Marco sind beide schon längst in der Arbeit. Es wird ein wunderschöner Tag. Die Vögel zwitschern von den Balkonen und Dachterrassen. An der Piazza Castellana erreicht Gianna den Tiber und überquert ihn auf der Ponte Palatino. Von der Brücke aus, kann sie hinten den grünen Bäumen am anderen Ufer bereits den markanten Turm von Santa Maria erkennen. 

Als sie die Kirche erreicht, sieht sie eine Gruppe von Straßenjungen vor dem Portal herumtollen. Der Platz und die Vorhalle der Kirche sind ein beliebter Treffpunkt. Besonders die Vorhalle mit dem »Mund der Wahrheit« soll früher einmal eine Touristenattraktion gewesen sein. Heute beweisen allenfalls mal ein paar Halbstarke, dass sie sich trauen, ihre Hand in das Loch in der Marmorplatte mit der angsteinflößenden Fratze zu stecken.

Im Kircheninneren ist keine Menschenseele zu sehen. Es ist dunkel. Am Altar und in den Seitenschiffen brennen ein paar vereinzelte Kerzen. Gianna geht über den Marmorboden des rechten Seitenschiffs, an den Säulen vorbei, bis sie den Beichtstuhl mit dem Buch davor findet. Vorsichtig hebt sie das Buch auf und legt es auf einen der nahen Stühle. 

Soll sie wirklich in diesen Holzschrank hineingehen? Wer weiß, was sie da drin erwartet? Gianna hat noch nie in ihrem Leben gebeichtet. Als sie noch ein Kind war, hatte sie ihre Eltern häufig zum sonntäglichen Gottesdienst begleitet. Auch die kirchlichen Initiationsriten wie Kommunion und Firmung hatte sie mit großer Freude mitgemacht. Aber beichten? Nein danke! Wieso sollte sie mit einem wildfremden Menschen über Dinge reden, die diesen nun wirklich nicht das Geringste angingen? 

Langsam zieht Gianna die knarzende Holztür auf und sieht ins Innere des Beichtstuhls. Sehr viel Platz ist da drinnen ja wahrlich nicht. Ein einfacher Holzstuhl steht vor einer kleinen Kniebank. Über der Kniebank befindet sich ein engmaschiges Holzgitter, das den Beichtenden vom Geistlichen trennt. Gianna tritt ein und schließt die Tür wieder hinter sich. Jetzt wird erst einmal alles völlig dunkel um sie herum. Gianna spürt, wie ein Gefühl von Panik in ihr hochsteigt. Hätte sie sich doch nur nicht auf diesen Wahnsinn eingelassen!

»Signorina Marconi?«, flüstert jemand hinter dem Holzgitter.

»Ja?«, antwortet Gianna mit bebender Stimme.

Die Pupillen ihrer Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit. Gianna sieht, wie das Gitter langsam zur Seite geklappt wird. Durch das nun offene Sichtfenster blickt sie in das freundliche Gesicht eines jungen Mannes im Priestergewand.

»Vielen Dank für ihr Vertrauen! Ich rechne es Ihnen hoch an, dass Sie mir diese zweite Chance geben.«

So hatte sie sich den Mailschreiber nicht vorgestellt. Jetzt – wo sie ihm so nah gegenüber sitzt – geht irgend etwas Vertrauenerweckendes von ihm aus. Ohne seine Priestermontur hätte sie sich auf der Straße wahrscheinlich sogar nach ihm umgedreht. Schwarze dichte Locken umrahmen seine kantigen Gesichtszüge. Ein Dreitagebart verleiht ihm eine gewisse Wildheit, die aber im Widerspruch zu seinem freundlichen Mundwinkeln und dem klaren Blick seiner dunkelbraunen Augen steht.

»Ist schon in Ordnung«, antwortet Gianna. »Mit wem habe ich es denn zu tun? Verraten Sie mir ihren Namen?« 

»Mein Name tut nichts zur Sache. Es ist besser, wenn sie ihn nicht kennen. Nennen sie mich der Einfachheit halber Pietro.«

»Meinetwegen Pietro, aber sagen Sie mir bitte wenigstens, was Sie von mir wollen!«

»Ich habe ein paar Informationen, die den Weg in die Öffentlichkeit finden sollten. Ich hoffe, Sie können mir dabei behilflich sein.«

»Warum brauchen Sie denn mich dazu? Seit Jahrzehnten gibt er doch im Internet Dutzende von Leaking-Plattformen, wo man nach Lust und Laune jeden beliebigen Geheimnisverrat begehen kann. Sie haben doch Internetzugang, sonst hätten Sie mich ja nicht kontaktieren können.«

»Mein liebes Kind, ich bin Priester und mit diesen technischen Dingen nicht sehr bewandert. Ich hatte großes Glück im Vatikan an diesen anonymen Emailzugang zu gelangen. Die Bedienung von diesem Wikidings übersteigt aber meine Kompetenz. Außerdem bin ich mir sicher, dass alle Daten, die den Vatikan in Richtung Internet verlassen, genauestens protokolliert und ausgewertet werden.«

»So wie die zwei Mails, die Sie mir unverschlüsselt geschrieben haben!«, seufzt Gianna, während sie fassungslos den Kopf schüttelt. 

»Tut mir leid, wenn ich Sie da in Schwierigkeiten gebracht haben sollte. Aber als Journalistin bekommen Sie doch bestimmt jeden Tag eine Menge E-Mails von allen möglichen Quellen und etwas Belastendes habe ich in den zwei Mails ja nicht geschrieben.«

»Nun sagen Sie mir schon endlich, um was es geht!«

Gianna wird ungeduldig.

»Ein Mitbruder von mir arbeitet als Sekretär in der Bank des Vatikans unter der Leitung des Monsignore Scarelli. Er hat dort Unregelmäßigkeiten im Zahlungsverkehr zwischen der Vatikanbank und dem Rat der Stadt Rom festgestellt.«

»Was meinen Sie mit Unregelmäßigkeiten?«

»Wie Sie vielleicht wissen, zahlt der Vatikan jeden Monat an den Rat der Stadt einen gewissen Geldbetrag für die Förderung sozialer Einrichtungen. Altersheime, Lazarette, Kindertagesstätten und dergleichen.«

Gianna nickt. Auch wenn der Vatikan ein globales Wirtschaftsunternehmen ist und im Geld schwimmt, so kann er es sich offenbar moralisch nicht leisten, die notleidende Stadt vor seiner Haustür einfach so vor die Hunde gehen zu lassen. Und der Stadt bleibt auch nichts anderes übrig, als diese Almosen anzunehmen, um ihren Einwohnern ein halbwegs erträgliches Dasein zu ermöglichen. 

»Ich habe ihnen hier ein paar Unterlagen mitgebracht, die beweisen, dass in den letzten Jahren erhebliche Teile dieser Hilfsgelder an bestimmte Personen im Vorstand des Zentralrates der Stadt umgelenkt worden sind und damit ihrem Bestimmungszweck entzogen wurden.«

Gianna erinnert sich an so manchen Wutausbruch ihres WG-Genossen Marco, der gerne über die grassierende Vetternwirtschaft im römischen Rätesystem herzieht. Die Bewohner von Trastevere wählen regelmäßig ihre Quartiersräte, die sie meistens auch persönlich gut kennen und denen sie vertrauen. Wenn einer dieser Räte das in ihn gesetzte Vertrauen nicht erfüllt, kann er jederzeit durch jemand anderen ersetzt werden. Was sich aber im Zentralrat auf Stadtebene abspielt, ist für den einzelnen Römer nur noch schwer zu durchschauen. Der Zentralrat wird durch die vielen Quartiersräte gewählt und dabei geht es offenbar nicht immer mit rechten Dingen zu. 

Der Priester reicht Gianna ein Bündel Papier durch das Fenster der Beichtstuhls.

»Ich vertraue Ihnen hiermit diese Papiere an. Bitte sorgen sie dafür, dass dieses Unrecht bekannt gemacht wird und den Hilfebedürftigen der Stadt wieder angemessen geholfen wird.«

»Und wie stellen Sie sich das vor? Soll ich diese Papier einscannen und auf meinem Videokanal veröffentlichen?« Gianna schüttelt wieder verständnislos den Kopf. 

»Liebes Kind. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass sie sich selbst in Gefahr begeben. Aber ich bin mir sicher, dass Sie einen Weg finden werden, dass die Gerechtigkeit in dieser Angelegenheit letztendlich den Sieg davontragen wird.«

Gianna wird dieses pathetische Gefasel langsam zu viel.

»Wie kann ich Sie denn erreichen, wenn ich noch Fragen habe?«

Der Priester zögert. »Ich fürchte, das können Sie gar nicht. Aber ich werde regelmäßig Ihren Videoblog verfolgen. Wenn Sie dort einmal etwas über die Bocca della Verità berichten, werde ich versuchen, mich wieder per E-Mail bei Ihnen zu melden.«

»Gut, dann verbleiben wir so. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen!«

Gianna faltet sorgsam die Papiere in der Mitte zusammen und verstaut sie in ihrer Handtasche. Ohne ein weiteres Wort verlässt sie den Beichtstuhl. Für kurze Zeit bleibt sie noch in der Kirche. Vor dem Altar kniet sie in einer der Bänke nieder und tut so, als ob sie das ihr aufgetragene Bußgebet verrichten würde. In Wirklichkeit kreisen ihre Gedanken um das Gespräch mit dem Priester. Soll sie sich da wirklich mit reinziehen lassen? 

Nach zwei Minuten gibt sie ihre Büßerhaltung auf und verlässt die Kirche mit schnellen Schritten. Sie kann es kaum erwarten nach Hause zu kommen und einen Blick in diese angeblichen Geheimpapiere zu werfen.

Der Ernst des Lebens

Der Sommer ist vorbei und der Urlaub der Familie Eckert ebenfalls. Peter und Elvira Eckert hatten mit ihrer Tochter Anna zwei schöne Wochen, bei herrlichem Wetter, auf Rügen an der Ostsee verbracht. Der Verzicht auf die Nordsee war der Preis dafür gewesen, dass seine Frau nicht mehr auf Italien bestanden hatte. In Peter Eckerts Augen ein guter Kompromiss. 

Sohnemann Jan war zuhause geblieben und hatte mit seinen Kumpels die sturmfreie Zeit gnadenlos ausgenutzt. Es war einige Nächte hoch hergegangen. Zum Glück haben die Eckerts verständnisvolle Nachbarn. Bevor seine Eltern wieder zurückkehrten, hatten Jan und seine Freunde mit vereinten Kräften alle Spuren ihrer Saufgelage beseitigt und sogar einmal durch die ganze Wohnung geputzt.

Noch bevor der Sommer richtig begonnen hatte, hatte sich Jan auf Druck seiner Eltern entscheiden müssen, was er denn nun nach seinem bestandenen Abitur machen wollte. Leider war er völlig unentschlossen und hatte wirklich noch keine Idee, was aus ihm einmal werden sollte. Eine Weile hatte er mit einem freiwilligen sozialen Jahr geliebäugelt. Bei seinen Eltern war er aber damit nicht auf Begeisterung gestoßen. Kurz vor Ablauf der Bewerbungsfristen hatte er sich dann für einen BWL-Studiengang an einer Kölner Universität eingeschrieben und auch tatsächlich eine Zusage bekommen. Jetzt steht der Semesterbeginn kurz bevor und seine Eltern machen mal wieder Druck: 

»Wann kümmerst du dich endlich um einen Platz im Studentenwohnheim?«

»Mensch Ma, dort krieg ich eh keinen Platz. Die haben doch ewig lange Wartelisten. Ein Freund von mir wohnt in Köln in einer WG und er hat gesagt, dass da demnächst wohl was frei wird.«

»Und wann entscheidet sich das?«

»Keine Ahnung, demnächst eben! Und wenn nicht, dann fahre ich erstmal jeden Tag mit dem Auto nach Köln. Dauert ja nur ne Stunde. Machen doch viele so. Oder ich such mir eine kleine Wohnung irgendwo in der Nähe der Uni.«

Jetzt schaltet sich sein Vater in das Gespräch ein: »Eine eigene Wohnung? Ich glaube du träumst! Weißt du was ein Einzimmerappartement in Köln auf dem freien Wohnungsmarkt jeden Monat an Miete kostet?«

Und seine Mutter fügt hinzu: »Ist ja auch keine Wunder bei den ganzen Ausländern, die unsere Regierung ja unbedingt ins Land holen musste. Die bekommen jetzt alle Wohnungen vom Amt und wir Deutschen können sehen, wo wir bleiben!«

»Ach Ma, jetzt fang nicht schon wieder mit der Schimpferei auf die Flüchtlinge an. Sollen wir die lieber im Mittelmeer ertrinken lassen?«

»Doch Junge, deine Mutter hat schon recht!«, mischt sich nun auch noch Jans Vater ein. »Wir können doch nicht das Elend der Welt damit bekämpfen, dass wir allen Afrikanern, Afghanen, Syrern, Irakern und so weiter Asyl gewähren. Hast du eine Ahnung wieviele DIE sind und wieviele WIR sind? Wieviele willst du kommen lassen? Und was sagst du denen, die nicht einreisen dürfen? Die wirklich armen Menschen in diesen Ländern können es sich doch gar nicht leisten zu uns zu kommen, weil sie kein Geld für die Schlepper haben. Findest du das gerecht?« 

»Nein, aber trotzdem finde ich es wichtig, dass man Menschen in Not hilft, wenn man dazu in der Lage ist!«

»Und was ist mit den ganzen Wirtschaftsflüchtlingen? Warum haben die ihr Geld den Schleppern gegeben, statt es in ihrer Heimat in ihre eigene Zukunft zu investieren? Die wollen doch nur Leistungen unseres Sozialsystems in Anspruch nehmen, ohne jemals etwas dafür eingezahlt zu haben. Deine Mutter und ich haben unser Leben lang Steuern, Rentenbeiträge und Krankenversicherung gezahlt. Und zwar nicht zu knapp!«

»Ach jetzt hört doch auf mit euren Rentenbeiträgen und dem Scheiß. Das Geld, das ihr eingezahlt habt, ist doch sofort an die Rentner wieder ausgezahlt worden. Oder glaubt ihr, das funktioniert wie bei einem Sparschwein, das man in jungen Jahren füttert und und im Alter schlachtet. Wenn ihr mal Rentner seid, dann seid ihr auch darauf angewiesen, dass meine Generation euch durchfüttert, ob euch das passt oder nicht.«

»Nein mein Junge, da irrst du dich! Wir haben schon dafür gesorgt, dass wir dir im Alter nicht auf der Tasche liegen. Und gerade deswegen wollen wir nicht, dass jetzt diese Fremden daherkommen und es sich auf unsere Kosten gut gehen lassen!«

»Was ist denn fremd für euch? Alles was nicht deutsch ist? Die Assi-Müllers am Ende der Straße, ja die sind deutsch. Seit drei Generation leben die von Sozialhilfe und Hartz vier. Die sind mir aber fremder als der Sultan aus meiner Abi-Klasse, der trotz seiner Sprachprobleme den Schulabschluss geschafft hat. Oder der alte Meier, der im Sommer im Park immer die kleinen Jungs im Sandkasten fotografiert? Auch so’n guter Deutscher. Dem muss ich auch mal seine Rente finanzieren, damit er sich immer das beste Objektiv für seine Spannerkamera kaufen kann. SOLCHE Leute sind mir fremd. DIE sollte man meinetwegen irgendwohin abschieben, wo der Pfeffer wächst. Geht aber leider nicht.«

»Junge, du hast ja recht: Nicht jeder Deutsche ist gut und nicht jeder Ausländer ist schlecht. Trotzdem können wir nicht die Welt retten, indem wir alle Menschen, denen es schlecht geht, zu uns holen. In Afrika bekommt jede Frau im Schnitt fünf Kinder. Du hast doch in Mathematik Abitur gemacht. Rechne doch mal aus was passiert, wenn wir die alle zu uns kommen lassen. Wie viele Jahre wird es dauern, bis wir dann in der Minderheit sind? Wenn wir da jetzt keinen Riegel vorschieben, ist es bald zu spät. Und wenn unsere Regierung das nicht begreift, dann wählen wir eben eine andere Regierung. Du wirst schon sehen!«

Jan hat keine Lust mehr auf eine weitere Diskussion mit diesen Spießern.

»Hey Leute alles klar. Ich werde mich demnächst um meine Bude in Köln kümmern. Kommt erst mal wieder runter!«

Mit diesen Worten lässt er seine Eltern stehen und verschwindet auf sein Zimmer. Seine Alten gehen ihm manchmal so was von auf den Sack! Er zieht seine Laufklamotten an und verlässt das Haus. Wie immer wenn Jan Frust hat, ist jetzt eine Runde Laufen angesagt. Heute ist sogar die längere Runde erforderlich, um seinen Kopf wieder frei zu bekommen. In strammem Tempo rennt er über geteerte Straßen und staubige Feldwege bis er nach einer halben Stunde völlig ausgepowert wieder sein Elternhaus erreicht. Vor dem Duschen fragt er seine Mutter in versöhntem Ton, wann es Abendbrot gibt. 

Kanalratten

Das Herz von Klaus pocht bis zum Hals. Jetzt wird‘s ernst. Er hat seit Wochen alles genau bis ins letzte Detail durchgeplant. 

Mit dem anonymen Kontoinhaber war er am Telefon schnell handelseinig geworden. Klaus hatte ihm gesagt, dass er die Angelegenheit gegen eine Zahlung von 100.000 Donautalern vergessen würde. Er gab sein Ehrenwort, dass er danach keine weiteren Forderungen mehr stellen würde. Im Gegenzug versprach sein Gesprächspartner, dass es in Zukunft keine verdeckten Überweisungen mehr geben würde. Die Geldübergabe war gegen zweiundzwanzig Uhr geplant. Klaus wies ihn an, dass er sich ab halb zehn in der Nähe der Hofburg aufhalten sollte und dort dann weitere Anweisungen per Telefon bekäme. Das Geld sollte er in einem kleinen Aktenkoffer mitbringen. 

»Auf geht‘s. Kühlen Kopf bewahren. Da musst du jetzt durch!«, versucht Klaus sich selber zu beruhigen. 

Seinen neuen Elektroflitzer hat in der Nähe vom Girardipark abgestellt. Schnellen Schrittes geht er in den Park und versichert sich, dass ihm niemand folgt. Er verschwindet hinter einem kleinen Gebüsch und versichert sich nochmal, dass ihn keiner sieht. Dann hebt er das unscheinbare Gitter zu dem engen Einstiegsschacht hoch, klettert hinein und schließt das Gitter wieder über seinem Kopf. 

Das Schloss am Gitter hatte er schon vor ein paar Tagen mit einem Bolzenschneider geknackt. Tagelang hatte er über den Plänen der alten Wiener Kanalisation gebrütet und Möglichkeiten für einem unbemerkten Ein- und Ausstieg gesucht, bis er hier fündig geworden war. Mittlerweile kennt er sich hier unten bestens aus.

Er schaltet sein Mobiltelefon aus. Hier unten hat er kein Netz und das ist auch gut so. Noch zehn Sprossen muss er sich auf der Leiter durch den engen Luftschacht zwängen, dann steht er in dem gemauerten Kanal. Die Stirnlampe auf seinem Kopf taucht die lange Röhre in ein kaltes LED-Licht. Mit schnellen Schritten folgt er dem Lauf des Kanals. Gelegentlich sieht er einen kleinen schwarzen Schatten vorbei huschen. Ratten! Es gibt hier Tausende davon! Bloß schnell weiter. Klaus kommt sich selbst schon vor wie eine dressierte Ratte in einem Labyrinth. Die Haupt- und Nebenkanäle, durch die er geht, unterscheiden sich stark voneinander: Neue Betonröhren, alte gemauerte Tunnel, kirchenähnliche Hallen und enge Verbindungsrohre wechseln sich regelmäßig ab. Der Gestank hier unten ist bisweilen unerträglich. Als Klaus neulich den optimalen Weg auskundschaftete, hatte er sich zweimal übergeben müssen. Heute ist er so jedoch so aufgeregt, dass ihm der Gestank nicht mehr so viel ausmacht. 

Ein paar Mal hat er das Gefühl, dass ihn jemand verfolgt. Es ist aber nur das Echo seiner Schritte, das sich an den unzähligen Mauern hier unten bricht, bevor es den Weg zurück zu seinen Ohren findet. Die meiste Zeit übertönt aber ohnehin das Rauschen der fließender Abwässer jede andere Schallquelle.

Bloß nicht in diese fließende Brühe treten! Klaus stellt sich vor, wie es hier unten zugehen muss, wenn mal ein heftiger Regenguss die Kanäle an den Rand ihres Fassungsvermögens bringt. Wer dann hier unten ist, stirbt einen ekelhaften Tod!

Er bleibt kurz stehen und überlegt. Bei den zwei Seitenkanälen die vor ihm nach rechts abzweigen, ist er sich einen Moment lang nicht ganz sicher, welcher der Richtige zu seinem Ziel ist. Er entscheidet sich für den zweiten. Nach ein paar Metern weiß er sich aber wieder auf dem richtigen Weg. Das durch die Gullideckel von oben einfallende Laternenlicht bildet in gewisser Weise ein Erkennungsmuster für seinen Orientierungssinn. Noch fünfzig Meter gerade aus, dann ist er am Ziel.

Er erreicht die schmale Wendeltreppe und steigt auf Zehenspitzen Stufe für Stufe nach oben. Am Ende der Treppe befindet er sich im Inneren einer Litfaßsäule, die einen der Notausstiege aus der Kanalisation darstellt und von außen als solcher gar nicht zu erkennen ist. Die Tür nach draußen ist ebenerdig. Durch das kleine runde Guckloch in der Tür kann er die Wiener Mariensäule schemenhaft erkennen.

Klaus schaut auf seine Armbanduhr. Es ist jetzt viertel vor zehn. Er atmet tief durch. Dann schaltet er sein anonymes Mobiltelefon ein, wartet kurz, bis es sich im Netz angemeldet hat und drückt die Wahlwiederholung. Nach kurzem Klingeln meldet sich die vertraute Stimme. 

»Hallo?«

»Ja hallo, ich bin’s. Wo sind Sie jetzt?«

»Ich stehe vor der Hofburg, wie abgesprochen.«

»Hören Sie: Sie gehen jetzt zur Mariensäule im Platz Am Hof. Wissen Sie wo das ist?«

»Ja natürlich.«

»Sie werden zu Fuß ungefähr fünf Minuten brauchen. Gehen Sie bei der Mariensäule auf der Mitte des Platzes auf und ab. Ich melde mich dann nochmal!«

Klaus beendet das Gespräch. Sein Puls rast. Er hat aber das Gefühl, dass sein Gesprächspartner ebenfalls recht nervös geklungen hat. Geschieht ihm ganz recht, dem Wichser! Hätte er sich eben vorher überlegen müssen, bevor er lange Finger gemacht hat. Jetzt soll er ruhig dafür büßen! 

Langsam weicht seine Unsicherheit und es beginnt sich ein Gefühl der Euphorie in ihm auszubreiten. Bisher hat alles genau nach Plan geklappt. Wenn er jetzt die Ruhe bewahrt und alles durchzieht wie geplant, kann nichts schiefgehen. Er wirft einen Blick auf den Schließmechanismus der Tür. Dieser ist so konstruiert, dass man die Tür der Litfaßsäule jederzeit von innen öffnen kann. Um der Öffentlichkeit aber den Weg nach unten zu verwehren, ist auf der Außenseite nur ein unscheinbarer Knauf mit einem darunter befindlichen Schloss vorhanden. Von außen ist die Tür nur schwer als solche zu erkennen. 

Bei seinen Planungen war Klaus davon ausgegangen, dass er nach der Geldübergabe unter Umständen verfolgt werden könnte. Der stabile Türmechanismus würde jeden Verfolger eine Weile aufhalten. Er hätte jedenfalls genügend Zeit, um sich durch das unterirdische Labyrinth aus dem Staub zu machen. Und durch die meterdicken Decken wäre auch eine Funkortung durch einen im Koffer platzierten Sender nicht möglich. 

Ein letztes Mal geht Klaus in Gedanken den entscheidenden Schritt der Geldübergabe durch. Dann positioniert er sich an dem Guckloch in der Tür und beobachtet den Platz vor der Mariensäule. Lange braucht er nicht zu warten, bis er einen dunkel gekleideten Mann über den, um diese Zeit menschenleeren, Platz gehen sieht. In seiner rechten Hand trägt er etwas. Die hellen Lampen der Straßenbeleuchtung werfen seinen langen gespensterhaften Schatten auf das Kopfsteinpflaster. Als er die Mariensäule erreicht, bleibt er stehen und sieht sich nach allen Seiten um. 

Klaus greift wieder zum Telefon und startet den entscheidenden Anruf:

»Hallo?«

»Hallo. Ich kann Sie sehen. Hören Sie jetzt genau zu was ich sage! Drehen Sie sich um etwa 90 Grad nach rechts - ja genau so. Sehen Sie die Litfaßsäule am Rand des Platzes?«

»Ja, die sehe ich.«

»Also, Sie gehen jetzt direkt dorthin. Wenn Sie an der Säule angekommen sind, stellen Sie den Aktenkoffer mit dem Geld dort ab. Dann gehen Sie ohne sich umzudrehen wieder zurück zur Mariensäule, dahin wo Sie jetzt stehen! Haben Sie das verstanden?«

»Alles klar.«

Klaus schaltet das Mobiltelefon aus. Jetzt kommt der entscheidende Augenblick. Durch das Fenster sieht er den Mann auf sich zukommen. Je näher er kommt, desto besser kann Klaus ihn sehen. Er ist von kräftiger Statur und etwas untersetzt. Typischer Schreibtischhengst, fast wie er ihn sich in seiner Phantasie vorgestellt hatte. Als er vor der Säule stehen bleibt, ist er nur noch einen knappen Meter von Klaus entfernt. Und wie er sich nach unten bückt, um den Aktenkoffer abzustellen, meint Klaus, seinen Atem durch die geschlossene Tür hören zu können. 

Instinktiv hält Klaus seinen eigenen Atem an. Sein Herz pocht bis zum Hals, während er mucksmäuschenstill abwartet, dass der Mann wieder verschwindet. Dieser sieht sich kurz in alle Richtungen um. Dann dreht er der Litfaßsäule den Rücken und geht, wie ihm befohlen worden war, in Richtung Platzmitte davon.

Klaus wartet kurz. Dann öffnet er die Tür der Litfaßsäule, greift sich den Aktenkoffer und zieht die Tür wieder fest zu. Geschafft! Jetzt heißt es schnell den Rückzug antreten. Zwei Stufen auf einmal nehmend, springt er die Wendeltreppe nach unten. Dann rein in die Kanalröhre und auf demselben Weg zurück, wie er hergekommen war. Er läuft so schnell, dass die Ratten vor ihm Reißaus nehmen und in kurzem Abstand vor ihm herjagen. Erst als er sich langsam seinem Ausstiegspunkt nähert, nimmt er sich die Zeit, um etwas zu verschnaufen. Die ersten tiefen Atemzüge bringen ihm aber auch wieder den bestialischen Gestank ins Bewusstsein. Jetzt ist es endgültig zu viel für seinen Magen. Er muss zweimal würgen, dann erbricht er sich in drei gewaltigen Schüben in die fließende braune Brühe. 

Nach ein paar Minuten kehren seine Lebensgeister langsam wieder zurück. Mit seinem Taschentuch trocknet er seine Augen und säubert notdürftig sein Gesicht. Irgendwie fühlt er sich jetzt in jeder Hinsicht erleichtert. Als letzte Aktion hier unten steht nun nur noch das Umpacken des Geldes an. Es könnte ja sein, dass der Aktenkoffer mit einem Sender versehen wurde, der ihm zum Verhängnis werden könnte, sobald er die Erdoberfläche erreicht. Aus seiner Jacke holt eine eine zusammengefaltete Stofftasche, die er zu diesem Zweck mitgebracht hat. Er faltet sie auseinander und öffnet den Aktenkoffer.

Im Schein seiner Stirnlampe kann er noch einen kurzen Blick ins Innere des Koffers werfen. Es ist allerdings nur ein sehr kurzer Blick. Der seltsame Inhalt eines ledernen Aktenkoffers ist das letzte, was die Augen von Klaus Baumann in diesem Leben sehen. Dann verwandelt sich der Koffer in Sekundenbruchteilen in einen gigantischen Feuerball und Klaus Baumann stirbt einen Tod, den man schneller und schmerzloser kaum sterben kann. 

In der gesamten altehrwürdigen Wiener Kanalisation breitet sich sich eine infernalische Druckwelle aus. Die benachbarten Tunnelsysteme brechen ein und schwere gusseiserne Kanaldeckel werden bis auf die Hausdächer geschleudert. Direkt über dem Detonationsort in der Operngasse wird eine Pferdedroschke in die Luft geschleudert und landet in dem klaffenden Krater, den die Bombe in die Straße gerissen hat. Der Kutscher ist auf der Stelle tot, das Pferd wird von einem herbeigerufenen Veterinär nach einer Stunde von seinen Leiden erlöst. Das Touristenpärchen in der Kutsche überlebt, wie durch ein Wunder, mit leichten Verletzungen. 

Am nächsten Tag wird die Kronen Zeitung titeln:

Selbstmordanschlag in der Wiener Kanalisation! Wollen uns die Islamisten in unserer Scheiße ersticken lassen?

Verschwörung

Boris Luganov hatte wieder einen Auftrag zur vollsten Zufriedenheit seiner Auftraggeber erfüllt. Die Herstellung der Bombe war sein Werk gewesen und er hatte eine Meisterleistung abgeliefert.

Vor zwei Wochen hatte ihn die Organisation im Darknet kontaktiert, um erneut seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Der Auftrag lautete diesmal einen Erpresser aufzuspüren und auszuschalten. Er war daraufhin sofort nach Wien gereist, um die Details zu klären und alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

Die Organisation hatte eine gute Vorarbeit geleistet. Der Kontakt mit dem Erpresser war bereits hergestellt worden. Dieser war auf einen der Telefon-Honeypots hereingefallen, welche die Organisation in ihrem weit verzweigten Schwarzgeld-Netzwerk ausgelegt hatte. Eine Analyse des Täterprofils ergab, dass er sich um einen naiven jungen Mann mit übersteigertem Geltungsbedürfnis handeln müsse.

Im Leitungskreis der Organisation wurden mehrere Handlungsalternativen diskutiert. Letztendlich wurde zur Risikominimierung die Tötung des Erpressers und die gleichzeitige Vernichtung aller Beweise beschlossen und beauftragt.

Boris Luganov war nach seiner Ankunft in Wien permanent als Berater in die Kommunikation mit dem Erpresser eingebunden. Sein Kontaktmann zur Organisation war dieselbe Person wie  der Kontaktmann des Erpressers. Der Bau des Bombenkoffers war in einer Woche über die Bühne gegangen. Boris Luganov ist in der Szene als Sprengstoffexperte bekannt und wurde bereits oft in vergleichbaren Situationen gebucht. Die Wirkung der von ihm verwendeten Explosivstoffe gilt als einzigartig. Er verfügt über gute Kontakte zu ehemaligen Geheimdienstmitarbeitern. Das ermöglicht ihm den Bau von Kofferbomben mit einer Detonationskraft, für die man früher noch ein ganzes Auto mit Sprengstoff benötigt hätte. 

Nachdem das Vorgehen der fingierten Geldübergabe mit dem Erpresser geklärt war, musste Boris Luganov nur noch den Bombenkoffer mit einer geeignete Zündeinrichtung versehen. Sein Kontaktmann wollte die Bombe erst im letzten Moment der Übergabe scharf geschaltet haben. Wahrscheinlich zur eigenen Risikominimierung für den Fall, dass der Erpresser ihn zum Öffnen des Koffers zwingen würde.

Auch während der Geldübergabe war Boris Luganov als unsichtbarer dritter Mann dabei gewesen. Keine hundert Meter hinter seinem Kontaktmann hatte er die Geldübergabe beobachtet und die Scharfschaltung der Bombe per Funk genau in dem Moment vorgenommen, als der Erpresser den Aktenkoffer an sich genommen hatte.

Als die Detonation der Bombe die Innenstadt erschütterte, saß Boris Luganov bereits im Taxi zum Flughafen. Am Abflugterminal konnte er noch die Breaking News zum Anschlag bei der Wiener Oper verfolgen. Sein Rückflug in die Newa-Domäne erfolgte planmäßig.

Leckstellen

Zuhause in ihrem WG-Zimmer brütet Gianna über den Papieren, die ihr der geheimnisvolle Priester im Beichtstuhl übergeben hatte. Es handelt sich offenbar um eine Auflistung von Zahlungsanweisungen mit Beträgen und Namen der jeweiligen Geldempfänger. Gianna verspürt das Bedürfnis mit jemandem zu reden. Marco und Maria möchte sie da jetzt ungern reinziehen. Zumal Marco, die alte Plaudertasche, bestimmt wieder nicht dichthalten kann. Als nächstes kommt ihr ihr Vater in den Sinn. Mit ihm könnte sie über alles reden, aber er würde sich vermutlich wieder Sorgen machen und womöglich sein Wissen an Giannas Mutter weitergeben. Danach würde sie dann unter Dauerbeobachtung ihrer Eltern stehen. 

Gianna beschließt Salvatore in die Angelegenheit einzuweihen. Mit ihm hatte sie ohnehin schon über das geplatzte Treffen an der Engelsburg gesprochen. Damit weiß er ja schon ein wenig Bescheid. Gianna klappt ihren Computer auf und sendet ihm in eine Chat-Nachricht:

»Ciao Salvatore, bist du da?«

Es dauert etwa eine Minute, dann erscheint auf dem Bildschirm seine Antwort: 

»Was gibt‘s?«

»Bist du zuhause? Ich muss mit dir reden!«

»Meinetwegen. Hatte eine lange Nacht. Bin grade aufgestanden. Kannst in fünfzehn Minuten vorbeikommen.«

»Ok, bis gleich.«

Salvatore ist in einer ähnlich prekären Situation wie Gianna. Er hat seine Journalistenausbildung erfolgreich abgeschlossen, kann aber von diesem Beruf nicht leben. Deshalb arbeitet er nebenher als Kraftfahrer für das kommunale Lebensmittelreferat. Mit einem alten Diesel-LKW transportiert er Lebensmittel aus dem Umland in die Stadt, wo diese zuerst in der Großmarkthalle verteilt und dann auf den lokalen Märkten zum Verkauf angeboten werden. Manchmal führen ihn seine Fahrten bis ins ferne Apulien. Die Rückfahrten werden dann immer zu einer besonderen Geduldsprobe, wegen der vielen zu passierenden Domänengrenzen. Aufgrund der besonderen Topologie des Apennin, mit seinen vielen kleinen Wasserläufen, die sich bereits nach kurzem Weg in die Adria oder das Tyrrhenische Meer ergießen, gibt es unverhältnismäßig viele davon. Und an jeder Domänengrenze gilt es Zollformalitäten zu erledigen und Zöllner zu schmieren. 

Gianna braucht gerade mal fünf Minuten zu dem alten Haus, in dem Salvatore ebenfalls in einer WG lebt.

»Buongiorno Salvatore, siehst müde aus!«

»Bin ich auch. Ich war die ganze Nacht mit dem LKW unterwegs. Was gibt‘s denn so dringendes?«

»Ich hatte dir doch von diesem konspirativen Treffen an der Engelsburg erzählt, was dann nicht zustande kam.«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Heute morgen habe ich mich mit dem Typen in der Kirche Santa Maria in Cosmedin getroffen. In einem Beichtstuhl. Der Typ ist ein echter Priester!«

»Du gehst zur Beichte?« Salvatore schaut Gianna fassungslos an. 

»Nein, Quatsch. Er hat mich in diesen Beichtstuhl einbestellt, damit niemand sieht, dass er sich mit mir trifft. Er hat mir dann erzählt, dass ein Kollege von ihm oder ein Bekannter oder wie auch immer man da sagt, in der Vatikanbank arbeitet und dort auf einen Schmiergeldskandal gestoßen ist.«

»Das ist ja dort eigentlich nichts besonderes«, lacht Salvatore und spielt auf die vielen Skandale in der Geschichte der Vatikanbank in den Zeiten vor dem großen Crash an. 

»Er hat mir Unterlagen übergeben, aus denen man angeblich ersehen kann, dass Hilfsgelder, die eigentlich für soziale Projekte der Stadt Rom gedacht waren, an Mitglieder des Zentralrates der Stadt umgelenkt worden sind.«

Salvatore pfeift durch die Zähne.

»Das klingt ja nach einer ziemlich heißen Nummer!«, meint er. »Hast du diese Unterlagen dabei?« 

Gianna zieht die Papiere aus ihrer Handtasche und gemeinsam breiten die beiden sie auf Salvatores Schreibtisch aus. Nachdem er sie eine Weile studiert hat und dabei immer öfter den Kopf geschüttelt hat, sagt er:

»Ich halte das für sehr brisante Informationen. Da würden manche Leute bestimmt alles dafür tun, damit das nicht an die Öffentlichkeit kommt!«

»Können wir das auf unserem Videoblog thematisieren? Wenn die Information erstmal raus ist, kann uns nicht mehr so viel passieren«, fragt Gianna vorsichtig. 

»Bist du wahnsinnig? Damit geraten wir zwischen die Fronten mehrerer kriegführender Parteien und sind bestimmt die ersten, die dran glauben müssen. Wer über solche Dinge Bescheid weiß, ist in dieser Stadt seines Lebens nicht mehr sicher. Glaub mir das!«

»Ich hab‘ ja auch ein ungutes Gefühl dabei. Aber wir sind doch Journalisten und können so etwas ja schlecht totschweigen.«

»Wieso hat der Priester denn diese Unterlagen nicht geleakt? Er scheint doch über einen Internetzugang zu verfügen!«

»Er hat mir gesagt, dass er sich damit nicht auskennt und so wie der aussah, nehme ich ihm das auch ab. Außerdem fürchtet er, dass der gesamte Datenverkehr aus dem Vatikan überwacht wird und er dann auffliegen würde.«

»Und wer garantiert uns die Echtheit der Dokumente? Vielleicht will er ja nur jemandem ans Bein pinkeln.«

»Die genannten Herren aus dem Zentralrat sind ja schon öfter beschuldigt worden krumme Geschäfte zu machen. Man konnte ihnen bisher nur noch nie was nachweisen.«

Gianna und Salvatore schauen sich eine Weile ratlos an. Nach einigem Grübeln beginnt Salvatore laut nachzudenken: 

»Ich kenne einen Journalisten bei der Zeitung La Città. Der untersucht schon seit längerem die Korruptionsvorwürfe gegen den Vorstand des Zentralrats. Wenn ich dem die Unterlagen zukommen lasse, bekommt er endlich die Beweise, die ihm bisher gefehlt haben. Er ist auch dafür bekannt, dass er seine Quellen nie preisgibt. Ich denke, wir können ihm vertrauen. Wenn die Zeitung das gedruckt hat, können wir auch noch in unserem Blog darüber berichten, ohne dass jemand Verdacht schöpfen wird.«

Gianna sieht Salvatore nachdenklich an. Dann meint sie:

»Ich glaube, das ist eine gute Idee. So machen wir das!«

»Sonst noch irgendwelche Fragen?« Salvatore schaut sie mit einem schelmischen Lächeln an. 

»Nein wieso?«, fragt Gianna etwas erstaunt. 

»Na ja, ich mein nur. Ich habe hier bis heute Abend sturmfrei und mein Bett ist noch warm!«

Aha, daher weht der Wind. Gianna weiß, dass Salvatore ein unverbesserlicher Casanova ist. Aber wie er da mit seiner Unschuldsmiene im Pyjama vor ihr sitzt und auf eine Antwort von ihr wartet. Ein Bild für Götter! Gianna grinst ihn eine Weile an und lässt ihn auf ihre Reaktion warten. Dann zieht sie ihm langsam das T-Shirt über den Kopf und die beiden verschwinden unter der weißen Bettdecke.

Studentenleben

In Köln ist es Winter geworden. Jan Eckert ist mittlerweile eingeschriebener Student für einen Bachelor Studiengang in Betriebswirtschaftslehre. Das mit der Wohnungssuche war doch nicht so einfach, wie er ursprünglich gedacht hatte. Sein Bekannter hatte zwar versucht ihm ein Zimmer in seiner WG zu verschaffen, Jan hatte aber dann beim Casting keine Chance gegen die Konkurrenz. Das Zimmer war an eine hübsche Medizinstudentin aus einem höheren Semester gegangen.

Die ersten Wochen war Jan tatsächlich mit seinem kleinen Auto jeden Tag zu den Vorlesungen gefahren. Die endlose Fahrerei hatte ihn aber dann doch dermaßen genervt, dass er das Thema Wohnungssuche intensiver angegangen war. Mit viel Glück hatte er über einen Aushang am schwarzen Brett der Uni einen Platz in einer Vierer-WG ergattern können. Die Wohnung liegt in einem schmucklosen fünfgeschossigen Nachkriegsbau in der Nähe vom Barbarossaplatz. Fünf Zimmer, Küche, Bad. Jans Zimmer geht zum Hinterhof raus. Es ist dunkel aber ruhig. Die Zimmermiete ist okay und wird direkt von seinen Eltern überwiesen. 

Von seinen drei Mitbewohnern ist nur einer Student: Patrick studiert ebenfalls BWL, allerdings schon auf Master und an einer anderen Hochschule als Jan. Elena kommt aus Spanien und arbeitet als Krankenschwester an der Uniklinik. Jan bekommt sie eher selten zu Gesicht, da sie häufig Nachtschicht hat. Georgios ist Grieche und studierter Informatiker. Er ist seit zwei Jahren in Köln und sozusagen der WG-Älteste. Er arbeitet in der IT-Abteilung einer Versicherung. Jan hat keine große Ahnung was er da genau macht und es interessiert ihn auch nicht sonderlich. Im Grunde macht jeder in der WG sein eigenes Ding. Ab und an kochen sie am Wochenende mal zusammen oder gehen gemeinsam feiern. 

Jans Eltern waren anfangs auch ein paar Mal zu Besuch. Sie wollten sich wohl versichern, dass es ihrem Sohn in der neuen Umgebung gut geht – so ganz allein und so fern von zuhause. Besonders Jans Mutter fällt die Umstellung schwer.

»Junge, du kannst mir ruhig ab und zu deine Wäsche bringen. Oder komm doch mal mit deiner netten Mitbewohnerin zum Abendessen vorbei!« 

Jans Mutter will einfach nicht kapieren, dass er sich nichts aus Frauen macht. Seine kleine Schwester weiß es, sein Vater ahnt es, aber seine Mutter ignoriert alle seine Andeutungen. Als  wenn er noch in der Pubertät stecken würde und sich alles irgendwann noch auswachsen wird. »Wahrscheinlich müssen Mütter so sein«, denkt Jan. Nach jedem Kontrollbesuch seiner Eltern war er jedenfalls froh, wenn sie wieder weg waren. Er empfindet sie einfach als peinlich. 

»Magst du deine Eltern denn nicht?«, fragt Georgios beim gemeinsamen Abendessen. 

»Doch, wieso fragst du?«, antwortet Jan. 

»Na, ich habe das Gefühl, dass du sie jedes Mal vor uns versteckst, wenn sie dich besuchen kommen.«

»Ach Quatsch, die wollten doch nur mal kurz vorbei schauen, weil sie gerade mal in Köln zu tun hatten.«

Elena meint: »Ich wäre froh, wenn meine Eltern mich mal besuchen kommen könnten. Ich habe sie schon sehr lange nicht mehr sehen können und sie fehlen mir sehr.«

»Dann lad sie doch mal ein nach Deutschland zu kommen!«, sagt Jan eher so flapsig dahin.

Georgios reagiert pampig: »In Griechenland ist uns die Familie auch sehr wichtig. Meine Eltern sitzen jetzt allein zuhause in Saloniki, weil mein Bruder und ich gezwungen waren, von daheim wegzugehen. Nur einmal im Jahr können wir uns sehen und ich finde das sehr schade. Ihr Deutschen wisst gar nicht, wie gut es euch geht!«

»Entschuldigung, ich wollte euch nicht verletzen. Mir ist schon klar, dass eure Situation nicht einfach ist. Aber meine Eltern sind manchmal echt nervig.«

Georgios hat häufig Heimweh nach Griechenland. Auch wenn ihm bewusst ist, dass die Ferne zur Heimat manche Dinge verklärt. Vor seinem Entschluss nach Deutschland zu gehen, war das Zusammenleben in seinem Elternhaus nicht immer konfliktfrei verlaufen. Sein Vater war seit Jahren arbeitslos. Seine Mutter war in ihrem Leben nie arbeiten gegangen, sondern nur für die Familie da. Als dann die Söhne nach dem Studium keine Arbeit fanden, war es unter den drei Männern häufig zu unschönen Szenen gekommen. Und als Georgios sich entschlossen hatte nach Deutschland zu gehen, sprach sein Vater eine Woche lang nicht mehr mit ihm. 

»Ausgerechnet zu diesen Nazis, die uns mit ihrem Spardiktat dieses ganze Schlamassel eingebrockt haben!«

Elena hatte in Spanien noch schlimmere Erfahrungen gemacht. Erst wurden ihr Vater und ihre Mutter, die im gleichen Betrieb gearbeitet hatten, gleichzeitig arbeitslos. Dann verlor die Familie im Verlauf der spanischen Immobilienkrise ihr neu gebautes Haus an die Bank. Mit ihren Eltern und ihrer Schwester war Elena dann regelmäßig auf die Kundgebungen der Podemos Bewegung gegangen. Zusammen mit hunderten anderen Schicksalsgenossen hatten sie dort ihre violetten Fähnchen geschwenkt und den etablierten Politikern lautstark ihren Protest entgegen geschrien. Zur Stärkung des eigenen Egos hatte dies zweifellos positiv beigetragen. An ihrer Situation geändert hat es allerdings nichts. Elena, die in Madrid einen Masterabschluss in Psychologie gemacht hatte, stand nach zwei Jahren erfolgloser Jobsuche vor der Wahl in ihrer Heimat zu verelenden oder einen mies bezahlten Krankenschwesternjob im fernen Deutschland anzunehmen. Jetzt teilte sie sich mit zwei verwöhnten deutschen BWL-Studenten die Wohnung, muss Schichtdienst leisten und Verbände wechseln. So hatte sie sich ihr Leben eigentlich nicht vorgestellt. 

Verhör

In Wien ist es später Nachmittag. Thomas Prenninger hatte am Morgen das gesamte Projektteam kurzfristig zu einer Besprechung in das Hauptverwaltungsgebäude der Zentralbank einbestellt. Die Teilnahme sei für alle verpflichtend. David und der Rest des Teams sind fast vollzählig versammelt. Nur Klaus fehlt und natürlich der Projektleiter Thomas Prenninger, der wie immer als Letzter kommt.

»Hat jemand eine Ahnung, was er von uns will?«

»Ich glaube nichts Gutes!«, meint Lukas Raderer, einer der Software Tester im Team. »Normalerweise wird man bei solch kurzfristig anberaumten Meetings über die Einstellung des Projekts informiert.« 

In diesem Augenblick betritt Thomas Prenninger den Raum. Die Ringe unter seinen Augen zeugen von massivem Schlafmangel.

»Leute ich mach‘s kurz. Ihr habt bestimmt von dem Terroranschlag vor drei Tagen gehört. Die Domänenstaatsanwaltschaft hat inzwischen die Ermittlungen übernommen. Ich bin heute morgen von meinen Vorgesetzten darüber informiert worden, dass es anhand der DNA-Spuren am Tatort mittlerweile gelungen ist den Täter zu identifizieren. Es handelt sich angeblich um unseren Kollegen Klaus Baumann.«

Im Raum könnte man jetzt eine Stecknadel fallen hören. Die Kollegen schauen sich entgeistert und ungläubig an. Klaus Baumann, der Opernbomber aus der Wiener Kanalisation? Das ist doch Schwachsinn!

»Sie haben offenbar sein Auto in der Nähe des Tatorts gefunden. Seit dem Tatzeitpunkt ist er spurlos verschwunden. Ein DNA-Abgleich von Leichenresten am Tatort und der Zahnbürste in seiner Wohnung hat eine hundertprozentige Übereinstimmung ergeben. Ein Irrtum ist angeblich ausgeschlossen.«

»Warum sollte Klaus so etwas tun? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn?«, schluchzt Tanja Hofbauer, eine Kollegin aus der Dokumentationsabteilung. 

David kann noch gar keinen klaren Gedanken fassen. Der Schock über die Nachricht vom Tod seines Freundes und Kollegen hat ihn geradezu gelähmt. Nur langsam gelingt es ihm seine Gedanken zu ordnen. Er erinnert sich, dass er Klaus in den vergangenen Tagen nicht erreichen konnte. Eigentlich hätte er zwei fachliche Fragen mit ihm besprechen wollen. 

Je mehr er nachdenkt, um so mehr kreisen seine Gedanken um das letzte Gespräch mit Klaus im Projektbüro. Sein Tod muss etwas mit seinen Andeutungen zu tun haben, die er dabei gemacht hatte. Er war ja offenbar drauf und dran gewesen jemanden erpressen zu wollen. Aber wie kann das so enden? David überlegt, ob und wen er in sein Wissen einweihen sollte. Er hatte Klaus fest versprochen, mit niemanden darüber zu reden. Aber Klaus war jetzt tot. Was sollte er tun?

Thomas Prenninger fährt fort: »Eine Sonderkommision der Staatsanwaltschaft ist aktuell damit beschäftigt, das gesamte persönliche und berufliche Umfeld von Klaus Baumann auszuleuchten. Auch mit jedem von uns werden sie im Anschluss ein kurzes erstes Gespräch führen. Macht euch schon mal darauf gefasst, dass da noch weitere Gespräche folgen werden. Ihr wisst ja: Das Thema wird in der Öffentlichkeit momentan ganz hoch aufgehängt. Die Ermittler stehen unter einem enormen Druck schnell Ergebnisse zu liefern und geben diesen Druck entsprechend weiter!« 

Na, dass kann ja noch ein langer Abend werden! Selbst wenn jeder Kollege nur eine halbe Stunde Rede und Antwort stehen müsste, käme der Letzte wahrscheinlich erst nach Mitternacht hier raus.

»Die Ermittler unterhalten sich momentan mit meinen Vorgesetzten«, erklärt Thomas Prenninger das weitere Vorgehen. »Dabei werden sie auch einen Zeitplan für die einzelnen Interviews erstellen. Solange ihr nicht dran seit, könnt ihr machen, was ihr wollt. Also euch in der Stadt herumtreiben, nach Hause gehen oder was ihr sonst so vorhabt. Natürlich dürft ihr auch arbeiten.« 

Mit diesem letzten Satz scheint der Projektleiter seinen Humor wieder gefunden zu haben. David sieht und hört dagegen fast nichts von alledem, was da um ihn herum passiert. Er versucht sich einen Reim darauf zu machen, was Klaus da in den vergangenen Wochen widerfahren war. Ist er nicht davon ausgegangen, irgend einem kleinen Korruptionsskandal auf die Spur gekommen zu sein? Hatte ihn Klaus angelogen? Hatte er ein Doppelleben geführt und ihn bewusst auf eine falsche Fährte gebracht, um ihn von seinen wahren Absichten abzulenken? Alles völlig unsinnig und unwahrscheinlich. Klaus musste da in etwas hineingeraten sein, dessen Dimension er völlig falsch eingeschätzt hatte und was ihm letztendlich zum Verhängnis geworden war. 

David versucht mehrere Hypothesen aufzustellen und verwirft diese genau so schnell wieder, wie er sie konstruiert. Die wilde Diskussion, die zwischen seinen Kollegen und Thomas Prenninger entbrannt ist, geht an ihm vorbei. Er wird erst wieder aus seinen Gedanken gerissen, als eine junge gutaussehende Frau und ein etwas älterer Mann den Raum betreten. 

»Guten Abend, meine Damen und Herren! Mein Name ist Johann Seeleitner – Kriminalhauptkommisar - und dies ist meine Kollegin Frau Oberinspektor Harbacher. Wir würden gerne einige Fragen an Sie stellen. Sie sind nicht verpflichtet, heute mit uns zu reden. Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, dass Sie zur Auskunfterteilung verpflichtet sind. Bei einer Verweigerung ihrerseits werden richterliche Zwangsmaßnahmen erwirkt. Ihr Arbeitgeber hat Sie von jeglicher Schweigepflicht entbunden, soweit Ihr Wissen mit dem aktuellen Fall zu tun hat. Darüber hinaus hat Ihr Arbeitgeber die ausdrückliche Erwartung geäußert, dass Sie in jeder Hinsicht kooperativ mit uns zusammenarbeiten.«

Mit jedem Wort, das dieser arrogante Kommissar von sich gibt, wird er David unsympathischer. Hoffentlich wird er nicht der erste Kandidat in diesem Verhörmarathon. Er hätte gerne ein wenig Zeit, um das wirre Gedankenchaos in seinem Kopf zu entflechten und sich eine vernünftige Strategie zu überlegen. Leider wird ihm dieser Wunsch nicht erfüllt. Die Ermittler haben an erster Stelle Thomas Prenninger auf ihrer Liste; in seiner Funktion als direkter Vorgesetzter und Projektleiter. Und gleich danach steht Davids Name auf dem Papier.

Das Interview mit Thomas dauert über eine Stunde. David wartet die erste halbe Stunde zusammen mit ein paar Kollegen in der Cafeteria und begibt sich dann vor den Besprechungsraum, in dem die Interviews stattfinden. Nachdem die Befragung von Thomas Prenninger endlich zu Ende ist, wird er von der jungen Inspektorin freundlich herein gebeten.

»Grüß Sie Gott Herr – Jonas«, begrüßt ihn der Kommissar, ohne seinen Blick von der Namensliste zu heben. »Setzen Sie sich doch bitte!« 

David nimmt auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz, hinten dem sich die beider Sonderermittler gegen ihn in Stellung gebracht haben.

»Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass diese Unterredung gemäß §23 Terrorabwehrgesetz mit Ton und Bild aufgezeichnet wird.«

Seine Kollegin richtet derweil die kleine Kamera ihres Notebooks auf ihn und startet die Aufnahme.

»Herr Jonas, wir haben gehört, dass Sie mit Herrn Baumann eng zusammengearbeitet haben. Können Sie sich erklären, was ihn zu dieser Tat bewogen haben könnte?«

»Tut mir leid, Herr Kommissar, ich kann mir das überhaupt nicht erklären.«

»Hauptkommissar – so viel Zeit muss sein. Wann haben Sie den Herrn Baumann das letzte Mal gesehen?«

»Das muss vor drei Tagen gewesen sein. Wir haben im selben Raum gearbeitet. Wir hatten aber mit unterschiedlichen Themen zu tun und deshalb wenig miteinander gesprochen.«

»Ist Ihnen an Herrn Baumann nichts aufgefallen? Das war schließlich derselbe Tag, an dem er dann Nachts das Bombenattentat beging!«

»Nein, mir ist nichts aufgefallen. Wie gesagt, wir haben wenig miteinander gesprochen, da wir viel zu tun hatten. Klaus hat sich aber wie immer verhalten. Es gab nichts, was auf so eine Tat hingewiesen hätte.«

»Herr Jonas, gemäß unserer Unterlagen hießen Sie bei ihrer Geburt Daoud Al-Sayed. Können Sie uns das erklären?«

David stockt der Atem. Woher wusste die Polizei das? Hatten sie in ihn jetzt auch schon als Mittäter im Visier? Wieso hatten sie in seiner Vergangenheit herumgestöbert?

»Meine Eltern stammen ursprünglich aus Syrien. Sie mussten vor vielen Jahren zusammen mit meinen Großeltern aus ihrer Heimat fliehen. Meine Eltern und Großeltern haben sich im damaligen Deutschland niedergelassen. Mein Vater hat noch vor meiner Geburt eine Änderung unseres arabischen Familiennamen beantragt. Seitdem heißen wir Jonas. Als ich geboren wurde, hat er mir den Namen Daoud – so wie mein Großvater hieß – gegeben. Als mein Großvater gestorben war, hat er Daoud in David ändern lassen.« 

»Warum hat er das veranlasst?«

»Wohl um mir die Integration in die Gesellschaft zu erleichtern. Zu dieser Zeit waren Flüchtlinge in Europa, wie sie wahrscheinlich wissen, nicht gern gesehen. Er wollte nicht, dass ich durch meinen Namen Nachteile haben würde.«

»Gehören Sie zur islamischen Religionsgemeinschaft?«

»Ich gehöre überhaupt keiner Religionsgemeinschaft an.«

»Aber Ihre Eltern und Großeltern sind doch bestimmt gläubige Muslime!«

»Meine Großeltern lebten zeitlebens nach den Regeln des Koran. Meine Eltern wuchsen auch in einem religiösen Umfeld auf, haben sich aber in den Jahren nach der Flucht vom Islam abgewandt.«

»Können Sie sich vorstellen, dass sich ihr Kollege Baumann in den letzten Jahren islamistisch radikalisiert hat?«

Jetzt kann sich David ein Lachen nicht verkneifen.

»Klaus ein Islamist? Der kam doch aus der Unterdomäne Loisach.Isar.Donau. Da sind die Leute katholischer als der Papst! Mit Religion hatte er aber überhaupt nichts am Hut. Das einzige an was der geglaubt hat, war seine Gehaltsüberweisung am Monatsende.«

»Haben Sie denn jemals mit ihm über religiöse Dinge geredet? Welchen Grund könnte es denn Ihrer Meinung nach gehabt haben, dass er sich zu dieser Tat hinreißen ließ? Er muss doch an irgend etwas oder zumindest an ein Weiterleben nach dem Tod geglaubt haben.«

»Nein, ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich keinen Bezug zu einer Religion habe und Klaus hatte ebenfalls keinen. Wenn Klaus wirklich bei dieser Explosion ums Leben gekommen ist, dann war das ein Unfall.«

David kann in den Augen des Kommissars nicht erkennen, ob er diesen mit seiner Aussage überzeugt hat. Soll er doch weiter seinen kruden Theorien nachlaufen und in dem Tod von Klaus das Selbstmordattentat eines religiös motivierten Eiferers vermuten. David ist sich jetzt jedenfalls sicher, dass er sein Wissen über Klaus‘ Pläne nicht einfach so an diesen Idioten weitergeben wird. Das ist er seinem toten Freund schuldig.

Pressefreiheit

Salvatore genießt den warmen Fahrtwind, der ihm ins Gesicht bläst. Er hat so lange auf Gianna eingeredet, bis sie ihm schweren Herzens ihre Vespa ausgeliehen hat. Jetzt ist er damit unterwegs zum Redaktionsgebäude der Zeitung La Città in der Via Cristoforo Colombo. Salvatore liebt es Motorrad zu fahren. Sobald es ihm seine Finanzen einmal erlauben, wird er sich selber eins zulegen. Dann allerdings einen richtigen Boliden und nicht so eine lahme Mädchenschaukel! 

Gerade biegt er in die Via del Circo Massimo ein und dreht den Gasgriff bis zum Anschlag. Das kleine Motörchen jault auf und tut was es kann. Links von ihm fliegen die Grünanlagen des Circus Maximus vorbei. So wie er jetzt, haben sich wahrscheinlich in der Antike die Wagenlenker gefühlt. Salvatore schließt kurz die Augen und stellt sich vor, er wäre Ben Hur.

Nur eine kleines Stückchen weiter und die nächsten altrömischen Überreste sind zu sehen: Die imposanten Ruinen des Caldariums der Caracalla Thermen. Seit keine Touristen mehr nach Rom kommen, liegen sie, wie schon so oft in ihrer langen Geschichte, wieder im Dornröschenschlaf. Salvatore nimmt sich vor, die antiken Stätten in Zukunft öfter zu besuchen. Er könnte ja auch einer der vielen Bürgerinitiativen beitreten, die sich auf ihre Fahnen geschrieben haben, die alten Ruinen vor dem Verfall zu retten. Vorsätze – aus denen erfahrungsgemäß doch nichts werden wird.

Noch ein paar hundert Meter und schon kann er auf die breite Via Cristoforo Colombo einbiegen. Als er über die alte Eisenbahnbrücke fährt, sieht er das Gleisbett des früheren Bahnhofs Ostiense unter sich liegen. Dieser Anblick fasziniert ihn jedesmal aufs Neue. Das gesamte Areal wurde fast vollständig von der Natur zurückerobert. Wo früher einmal grauer Schotter und Schienen lagen und ein Zug nach dem anderen vorbeiratterte, ist heute alles ruhig und grün. Büsche und Sträucher überall und hin und wieder sogar ausgewachsene Bäume. Der Eisenbahnverkehr wurde während des wirtschaftlichen Zusammenbruchs eingestellt und danach nie wieder aufgenommen. Es hatte keine fünf Jahre gedauert, bis das gesamte Schienennetz von Schrottsammlern abmontiert und in Gegenstände für den täglichen Bedarf umgeschmolzen war. Sämtlicher Personen- und Güterverkehr läuft heute über die Straße. Der Dschungel im alten Gleisbett dient jetzt als Unterschlupf für alle möglichen zwielichtigen Gestalten und nach Sonnenuntergang sollte man sich dort tunlichst nicht aufhalten, sofern einem das Leben lieb ist. 

Hinter der Brücke ist es nicht mehr weit bis zu Salvatores Ziel. Im Schatten der alten Pinienbäume lässt er die Vespa noch ein letztes Mal hochdrehen. Dann stellt er sein Gefährt vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung ab. Gianna hatte im mehrmals eingeschärft, dass er es unbedingt gut anketten solle und sich auf keinen Fall auf das Lenkradschloss verlassen dürfe. Salvatore klappt die Sitzbank nach oben und holt aus dem Helmfach das Kuvert mit den geheimen Unterlagen, sowie eine dicke Kette zum Abschließen der Vespa heraus. Er tut wie ihm geheißen und kettet das Hinterrad an ein Verkehrsschild. Wenn ihm die Vespa geklaut würde, dürfte er Gianna nicht mehr unter die Augen treten – so viel ist sicher!

Salvatore nimmt seine Sonnenbrille ab und betritt das große würfelförmige Bürogebäude. Am Ende des Foyers befindet sich ein wuchtiger Tresen. Der Mann dahinter scheint der Portier zu sein. 

»Guten Tag, mein Name ist Salvatore Pollini. Ich habe einen Termin bei Signore Manzoni, Guiseppe Manzoni.«

Der Portier will seinen Ausweis sehen und greift dann mürrisch zum Telefon.

»Signore Manzoni? Sie haben Besuch. Ein Salvatore Pollini sagt, er hätte einen Termin mit Ihnen vereinbart« - »In Ordnung. Würden Sie ihn bitte am Empfang abholen?« 

Der Portier bittet Salvatore kurz auf einem der Sessel Platz zu nehmen. Während er wartet, lässt er seinen Blick durch das große Foyer streifen. Hier wurde also früher einmal die La Repubblica gemacht. Lang, lang ist‘s her. Dann stand das Gebäude, wie so viele Bürogebäude in der Stadt, endlos leer. Bis dann irgendwann die La Città in die alten Redaktionsräume einzog und erfolgreich an alte Traditionen anknüpfte. Heute kann sie von sich behaupten, das einflußreichste Print- und Onlinemedium in der Stadt zu sein. 

Guiseppe Manzoni ist vermutlich genauso alt wie das Gebäude, in dem er hier arbeitet. Salvatore hatte ihn vor Jahren als Dozenten an der Journalistenschule kennengelernt und sich trotz des großen Altersunterschieds mit ihm angefreundet. Schon als junger Volontär hatte er hier gearbeitet, als es noch die La Repubblica gab. Von seinen Kollegen wird deshalb scherzhaft auch häufig als »der Dinosaurier« bezeichnet. Als er das Foyer betritt und Salvatore sieht, begrüßt er ihn mit einem festen Händedruck.

»Salve, Salvatore! Wie geht‘s, wie steht‘s?«

»Ciao Beppe! Lange nicht gesehen!«

Guiseppe führt ihn am Portier vorbei ins Treppenhaus. Sie steigen drei Stockwerke nach oben und erreichen den Flur in dem Guiseppe sein Büro hat.

»Komm rein und setz dich! Ich habe das Büro heute für mich allein. Wir können in Ruhe reden. Meine Kollegin ist heute den ganzen Tag unterwegs. Kann ich dir eine Zigarette anbieten?«

»Ich rauche nicht mehr«, lehnt Salvatore dankend ab. »Dürft ihr denn hier drin rauchen?« 

»Klar! Solange beide im Büro einverstanden sind, warum nicht? Eine paar gute Dinge haben uns die neuen Zeiten doch gebracht. Als ich hier früher noch für die Repubblica gearbeitet habe, mussten wir zum Rauchen immer aus dem Haus gehen. Absolutes Rauchverbot! Du kannst dir nicht vorstellen, wie reglementiert das alles war.«

»Ja, das habe ich schon von vielen Seiten gehört. Angeblich musste man beim Motorradfahren früher auch einen Helm tragen. Stimmt das?«

»Ja, natürlich. Hat ja auch vielen Leuten das Leben gerettet. Aber du bist ja wohl nicht gekommen, um mich über die Steinzeit auszufragen. Was hast du denn Interessantes herausgefunden?«

Salvatore erzählt Guiseppe die ganze Geschichte, so wie Gianna sie ihm erzählt hatte, ohne allerdings ihren Namen zu nennen. Dann zeigt er ihm die mitgebrachten Unterlagen. Guiseppe studiert sie eine Weile. Dann sagt er:

»Wenn diese Dokumente echt sind, dann können sich einige Herrschaften in der Stadtspitze auf etwas gefasst machen!«

»Werdet ihr die Dokumente veröffentlichen?«, fragt Salvatore neugierig. 

»Das kann ich dir momentan nicht versprechen. Wir werden das in der Redaktion diskutieren und das letzte Wort hat dann mein Ressortchef. Ich kann dir nur sagen, dass ich mich persönlich dafür stark machen werde, dass diese Schweinerei an die Öffentlichkeit kommt.«

»Du musst mir versprechen, dass niemand erfährt, wie du an diese Unterlagen gekommen bist!«

»Geht klar. Du kennst mich. Für mich hat der Schutz meiner Quellen oberste Priorität. Du kannst dich auf mich verlassen!«

Salvatore hat ein gutes Gefühl. Es wird ihm bewusst, wie sehr er Guiseppe als sein persönliches Vorbild betrachtet. Saubere journalistische Arbeit machen und dabei eine Festanstellung bei einem renommiertem Blatt haben. Leider sind solche Stellen rar gesät und viele junge Kollegen von Salvatore träumen denselben Traum. Porca miseria! 

Guiseppe fragt Salvatore noch nach seinen sonstigen beruflichen und privaten Aktivitäten. Nachdem sie sich dann eine Stunde über Gott und die Welt unterhalten haben, verabschieden sie sich wieder voneinander. Guiseppe bringt Salvatore noch bis ins Foyer.

Als Salvatore wieder auf die Straße tritt, gilt sein erster besorgter Blick Giannas Roller. Gott sei Dank, alles in Ordnung! Er löst die Kette und verstaut sie wieder im Helmfach. Dann schiebt er die Vespa vom Ständer, schaltet die Zündung an, drückt den Startknopf und auf geht‘s mit Vollgas zurück nach Trastevere auf dem selben Weg, den er auch gekommen war. Gianna wartet bestimmt schon zuhause auf ihn und das gute Stück. 

Tag X

Es war eine recht stressige Woche an der Uni gewesen. Jan Eckert hatte an den letzten Seiten seiner Seminararbeit geschrieben und war fast fertig zur Abgabe. Dann brach der Sturm über Europa und den Rest der Welt herein. Seit Wochen hatten sich die Finanzminister der Europäischen Union regelmäßig getroffen und Krisengespräche geführt. Dann wurde bekannt, dass zwei der größten  Bankinstitute der Welt in Schieflage geraten waren und ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten. Kaum waren die ersten Pressemeldungen durch die Agenturen gegangen,  gab es an den Börsen für sämtliche Aktienkurse nur noch eine Richtung: Den freien Fall nach unten. 

Als sich Jan am Freitag Abend in seinem WG-Zimmer durch die neuesten Finanznachrichten klickt, klingelt plötzlich sein Smartphone und das Bild seines Vater erscheint auf dem Display.

»Hallo Dad, was gibt‘s?«

»Hallo Jan. Ich brauche deinen Rat! Was ist da draußen eigentlich gerade los?«

»Du meinst an den Finanzmärkten? Da geht‘s grad mal wieder nach unten. Wieso?«

»Frag doch nicht so dumm. Du weißt doch, dass wir eine Menge Geld in Aktien investiert haben. Wenn ich mir die aktuellen Kurse ansehe, sind die inzwischen nur noch halb so viel wert wie letzte Woche!«

»Mensch Vadder, so ist das aber nun mal beim Aktiengeschäft. Mal geht‘s rauf und mal runter. Aktuell geht‘s eben massiv runter.«

»Deine Mutter macht mir aber die Hölle heiß. Da steckt schließlich unser Erspartes drin und beginnt sich in Luft aufzulösen. Ich hatte ja auch bei meinem Onlinebroker extra einige Stop-Loss-Orders gesetzt, um für solche Fälle gewappnet zu sein. Jetzt sagen die mir aber, dass der Handel von Aktien ausgesetzt worden ist und die Orders leider nicht ausgeführt werden konnten. Das ist doch Betrug!«

»Dein Onlinebroker kann aber auch nichts dafür, dass er deine Aufträge jetzt nicht mehr ausführen kann. Steht bestimmt auch irgendwo kleingedruckt in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen, dass in solchen Fällen der Broker zu keinem Schadenersatz verpflichtet ist. Da würd‘ ich drauf wetten.«

»Was soll ich denn jetzt machen. Momentan ist ja anscheinend noch völlig unklar, wann die Börsen wieder ihren Geschäftsbetrieb aufnehmen.«

»Was soll ich dir da raten? Abwarten und Tee trinken. Wenn die Börsen wieder aufmachen, kannst du dir die Kurse in Ruhe anschauen und dann entscheiden, ob du deine Aktien verkaufen willst oder nicht. Würde ich dir aber nicht empfehlen!«

»Wieso denn nicht?«

»Na weil bei so einer Panik immer alle verkaufen wollen und das senkt die Preise noch mehr. Das wäre der beste Zeitpunkt zum Kaufen. So machen das auch die Profis. Nicht verkaufen!«

»Erzähl das mal deiner Mutter! Die rastet momentan völlig aus und will, dass wir das Zeug so schnell wie möglich loswerden. Wie schätzen eigentlich deine Professoren die aktuelle Lage ein? Die müssten sich doch in der Finanzwelt gut auskennen!«

»Ach, da hat auch jeder seine eigene Sicht auf die Dinge. Manche reden seit Jahren von nichts anderem, als dass so eine massive Kurskorrektur längst fällig wäre und dies erst der Anfang ist. Andere sehen das weitaus optimistischer und durchaus im Rahmen der natürlichen Schwankungen in den Konjunkturzyklen. Die kochen halt alle auch nur mit Wasser und können nicht mit der Glaskugel in die Zukunft blicken.«

»Du scheinst das ja alles recht entspannt zu sehen. Dir ist aber schon klar, dass wir hier über echtes Geld reden, was man hat oder eben nicht mehr hat. Und wenn unser Geld den Bach runter geht, wie sollen wir dann auf Dauer dein Studium finanzieren? Du tust gerade so, als wenn dich das alles nichts anginge. Das tut es aber sehr wohl!«

»Ach Vadder, jetzt beruhig dich wieder. Solange du keine von deinen Aktien verkaufst, machst du auch keinen Verlust. Momentan sind das eh alles nur virtuelle Verluste. Erst bei einem Verkauf deiner Aktien verlierst du echtes Geld. Also bleib locker! Du kannst momentan sowieso nichts anderes machen.«

»Na vielen Dank! Ich werde das so an deine Mutter weitergeben. Mal sehen, ob sie das so akzeptiert. Ist ja immerhin der Rat des Herrn BWL-Studenten. Ich wünsch dir eine gute Nacht. Schlaf gut!«

»Ja, schlaf auch gut Vadder und grüß die Mutti von mir!«

Spurensuche

Seit einer Woche zermartert sich David nun schon sein Gehirn. Warum musste sein Freund und Kollege Klaus Baumann sein Leben lassen? Eine Woche lang nichts als Theorien und Phantastereien. Alles ohne Ergebnis.

Doch als er heute morgen unter der Dusche steht, fällt ihm plötzlich der Speicherstick ein! Klaus hatte ihm kurz vor seinem Tod einen Stick mit zwei Requirement-Spezifikationen gegeben, die sich David im Homeoffice anschauen wollte. Er hatte den Stick mit nach Hause genommen und sich seitdem nicht mehr drum gekümmert. Wie von der Tarantel gestochen springt David aus der Duschkabine, trocknet sich notdürftig ab und eilt zu seinem Schreibtisch. Tatsächlich: In der Schublade liegt der kleine schwarze Stick.

David fährt seinen Rechner hoch, steckt den Stick ein und schaut gespannt auf die Anzeige des Dateimanagers. Zwei Dateien im PDF-Format, beide ca. ein Megabyte groß. Ansonsten herrscht auf dem Stick gähnende Leere: Fast 512 Gigabyte freier Speicherplatz.

»Das war zu erwarten. Aber vielleicht ist da ja noch mehr!«

David startet eines seiner Programme zur Datenrettung. Wie oft schon hatte er Dateien wieder herbeizaubern müssen, die ein unbedarfter Anwender versehentlich gelöscht hatte. Wie oft hatte er bei unbelehrbaren Anwendern gegen eine Wand geredet:

»Leute macht Sicherheitskopien!« - »Ja klar, machen wir.«

Und dann musste David doch immer wieder anrücken, wenn irgend so ein DAU3 festgestellt hatte, dass leider sein allerwichtigstes Dokument futsch und dummerweise die Sicherheitskopie völlig veraltet war. 

David startet die Wiederherstellungsfunktion für den Speicherstick. Mit dem Anwachsen des Fortschrittsbalkens, wird auch die Liste der wiederhergestellten Dateien immer länger. David grinst. Selbst ein IT-Profi wie Klaus war manchmal so leichtsinnig und verzichtete auf ein konsequentes Neuformatieren seiner Datenträger. Dabei hat der bestimmt gewusst, dass sich die gelöschten Dateien wieder herstellen lassen würden.

Es dauert keine zehn Minuten, dann ist das Programm durchgelaufen und David sieht auf eine schier endlose Liste von Dateien.

»So weit so gut. Das wird aber eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Mal sehen, ob wir da noch etwas mehr Struktur reinkriegen!«

Jetzt kann sein Profiprogramm zeigen, was in ihm steckt. Ein paar Mausklicks und die unübersichtliche Liste beginnt sich ich in eine baumähnliche Struktur zu verwandeln, in der David elegant durch die verschiedenen Dateien navigieren kann. Bilder und Videos sortiert er gleich zu Anfang aus. Das Wissen darüber, was da so alles den Weg auf diesen Stick gefunden hat, soll Klaus mal lieber mit ins Grab nehmen. Was David interessiert, ist eine große Textdatei, die offenbar erst vor kurzem gelöscht worden war. Er versucht sie zu öffnen, muss aber feststellen, dass sie mit einem Passwort geschützt ist.

»Scheiße, wenn ich das Passwort nicht rauskriege, ist hier Schicht im Schacht!«

David kannte Klaus viel zu gut, als dass er ihm hier einen Leichtsinnsfehler zutrauen würde. Dieser arbeitete grundsätzlich mit sicheren Verschlüsselungsverfahren. Ohne das richtige Passwort läuft da gar nichts!

»Da müssen wir wohl schwerere Geschütze auffahren!«

David durchforstet seinen Computer auf der Suche nach einem geeigneten Programm. Im Ordner »Hackertools« wird er fündig. Er startet einen Brute-Force-Cracker und lässt ihn auf die verschlüsselte Datei los. Ganz langsam beginnt sich ein Fortschrittsbalken anzudeuten. 

»So, das wird nun wohl eine Weile dauern, bis alle möglichen Begriffe aus den einschlägigen Wörterbüchern durchprobiert sind.«

David überlässt den Computer seinem Schicksal. Erst jetzt merkt er, dass er bisher nur mit einem Handtuch bekleidet ist. Er zieht sich an, isst eine Schüssel Müsli und fährt mit seinem Elektroauto in die Arbeit. Wenn er abends nach Hause kommt, sollte der Computer mit seinen Millionen von ausprobierten Passworteingaben fertig sein!

Gewitterwolken

Monsignore Scarelli tobt. Selten haben die versammelten Abteilungsleiter der Vatikanbank ihren Chef so erregt und unbeherrscht erlebt wie heute. In einer sehr knapp gefassten Outlook-Einladung hatte sie der Privatsekretär des Monsignore für zehn Uhr in den abhörsicheren Besprechungsraum des Apostolischen Palastes beordert. Der akustische Rauschgenerator, der den kleinen Raum zusätzlich gegen unbefugtes Mithören schützen soll, läuft auf vollen Touren. Bei der Lautstärke, in welcher der Monsignore seine Schimpftiraden von sich gibt, könnte man ihn aber auch genau so gut wieder abschalten. 

»Ich will, dass diese undichte Stelle endlich gefunden und eliminiert wird! Das ist jetzt schon das dritte Mal, dass geheime Unterlagen aus unserem Haus den Weg nach draußen gefunden haben. Meine Herren, ich sage es Ihnen zum allerletzten Mal: Wenn Sie nicht in der Lage sind, die Zuverlässigkeit ihrer Mitarbeiter zu gewährleisten, dann bin ich gezwungen die Leitung Ihrer Abteilungen in andere Hände zu geben!«

Wutentbrannt und mit hochrotem Kopf, der sich farblich kaum vom Purpur seiner Amtstracht abhebt, knallt er ein Bündel Papiere auf den, aus edlem Mahagoniholz geschnitzten, Besprechungstisch. 

»Wie, in Gottes Namen, konnten diese Papiere nach draußen gelangen?«

Wie zurechtgewiesene Ministranten werfen die gescholtenen Abteilungsleiter verstohlene Blicke auf die einzelnen Seiten, während diese reihum gereicht werden. Mit leiser Stimme vermutet jemand:

»Das sind Überweisungsbelege an bestimmte Mitglieder des Zentralrates der Stadt Rom.«

»Das sehe ich selber, Sie Schwachkopf! Ich habe ja auch nicht gefragt was das ist, sondern wie das die Mauern des Vatikans verlassen konnte! Glauben Sie nur ja nicht, dass ich glücklich darüber bin, dass wir das Wohlwollen der Ratsspitze mit Geld erkaufen müssen. Mir wäre es auch lieber, wenn wir uns auf unseren christlichen Auftrag beschränken könnten und unsere Hilfsgelder denen zukommen lassen würden, die ihrer am dringendsten bedürfen. Wie Sie wissen, herrscht da draußen aber das Gesetz des Dschungels! Ohne die Gunst der Häuptlinge, können wir unsere Interessen leider nicht durchsetzen! Unser Gott im Himmel hat uns nun einmal diese schwere Aufgabe auferlegt: Leuchtturm des Glaubens mitten in der Wüste zu sein.«

Die Versammelten hoffen schon, dass das Ende der Standpauke erreicht sei und der Monsignore jetzt zum pathetischen Teil seiner Rede ansetzen wird. Da polterte er jedoch schon wieder lauthals los:

»Und ich werde Sie alle, wie Sie hier versammelt sind, in diese Wüste schicken, wenn Sie sich ihrer Aufgabe als unwürdig erweisen! Glauben Sie bloß nicht, dass das eine leere Drohung ist! Was schlagen Sie vor? Ich will jetzt von Ihnen konkrete Vorschläge hören, wie wir dieses Problem lösen werden!«

Der für die schwarzen Kassen verantwortliche Ressortleiter schaut erst zögernd in die Runde und fragt dann vorsichtig:

»Sind das denn die Originale der belastenden Dokumente?«

»Nein, einer der Ratsvorstände hat Kopien davon gemacht und an uns übergeben. Er selbst hat die Originale von unserem Mann bei der Zeitung La Città bekommen. Dieser konnte gerade nochmal verhindern, dass diese Papiere an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn das den Weg in die Zeitungsausgabe gefunden hätte!«

»Monsignore, wir müssen unbedingt an die Originale kommen. Wenn diese Papiere im Vatikan ausgedruckt worden sind, dann können wir feststellen, aus welchem Drucker sie kommen. Alle unsere Drucker sind entsprechend präpariert und drucken unscheinbare gelbe Punkte auf das Papier, in denen der jeweilige MIC4 enthalten ist. Über die Liste der gespeicherten Druckaufträge, kommen wir dann an die Person, die den Ausdruck oder die Kopie durchgeführt hat.«

Der Gesichtsausdruck von Monsignore Scarelli beginnt sich etwas zu entspannen. Seine Zornesfalten auf der Stirn weichen langsam einem teuflischen Lächeln, welches seinen Mund sanft umrahmt. 

»Sehr gut! Ich werde dafür sorgen, dass wir umgehend die Originale bekommen. Ich erwarte von Ihnen allen, dass die schuldige Person gefunden und an ihr ein Exempel statuiert wird. Jeder kleine Verräter hier, soll von Anfang an wissen, was mit ihm passiert, wenn er es wagt, die heilige katholische Kirche dermaßen zu hintergehen!«

»Sollen wir Bruno beauftragen?«

»Das werde ich mir noch überlegen. Wir haben in letzter Zeit gute Erfahrungen mit einem externen Consultant aus der Newa-Domäne gemacht. Ich denke Bruno ist bestimmt ein guter Mann, um ein paar unvermeidbare Aufträge hier in Rom zu erledigen. Dieser Luganov aus dem ehemaligen Russland spielt aber in einer anderen Liga. Er ist ohnehin demnächst für ein paar Tage hier vor Ort im Vatikan. Vielleicht kann er das dann gleich mit erledigen.«

Die versammelten Abteilungsleiter bekommen weiche Knie. Gott sei dank sitzen sie fest auf ihren, mit edlem Damast bespannten, Antikstühlen. Jeder von ihnen weiß, dass Scarelli über Leichen geht, wenn es der Durchsetzung seiner persönlichen Interessen dienlich ist. Dass er jetzt aber schon Profikiller aus dem Ausland einfliegen lässt, ist selbst für diese hartgesottenen Karrieristen im Dienste des Herrn zu viel. 

Bank Run

Eine Woche lang waren die Börsen auf der ganzen Welt geschlossen geblieben. Auf allen Fernsehkanälen gab es nur noch ein Thema: Die aktuelle Finanzkrise. Wann immer Jan Eckert den Fernseher einschaltete, wurde gerade irgend jemand zu seiner Einschätzung der aktuellen Lage interviewt. Dabei kristallisierten sich drei verschiedene Muster in der Berichterstattung heraus:

  • Muster 1: Hochrangige Regierungsvertreter versicherten mit dem Brustton der Überzeugung, dass für die Bürgerinnen und Bürger überhaupt kein Grund zur Sorge bestehe. Die Einlagen der Bürgerinnen und Bürger seien sicher, jedenfalls im Rahmen der gesetzlich garantierten Höchstsummen, die aber vom Gesetzgeber so hoch festgelegt worden seien, dass nur die Reichen mit realen Kapitalverlusten zu rechnen hätten. Die Staaten der Europäischen Union und die Europäische Zentralbank würden mit vereinten Kräften alle Maßnahmen in die Wege leiten, die für die erfolgreiche Bewältigung dieser Krise erforderlich wären. Natürlich wären jetzt auch alle Bürgerinnen und Bürger in der Pflicht, ihren Beitrag zur Stabilisierung dieser, zugegebenermaßen schwierigen, Situation zu leisten, indem sie mit Besonnenheit und Vertrauen in die laufenden Maßnahmen zur Deeskalation der Lage beitragen würden.

  • Muster 2: Experten unterschiedlichster Couleur und Provenienz analysierten die Hintergründe und Ursachen der aktuellen Situation. Interessanterweise waren sich alle Experten weitgehend darüber einig, dass die Geschehnisse der letzten Wochen vorhersehbar und durch eine verfehlte Geldpolitik in vergangenen Jahren verursacht waren. Keine Einigkeit herrscht allerdings darüber, welche Maßnahmen denn jetzt konkret zu ergreifen wären, um die Situation erfolgreich entschärfen zu können. Bei der Frage nach einem konkreten Rat, was der betroffene Bürger denn jetzt am besten tun sollte, wich die Antwort selten von den Ratschlägen aus Muster 1 ab. Die paar wenigen Experten, die den Mut dazu hatten, sich mit alternativen Vorschlägen ein wenig von der Mainstream-Meinung abzuheben, wurden sofort aus den Kanälen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens verbannt.

  • Muster 3: Es kam die große Stunde der Weltuntergangspropheten. Endlich konnten sich all jene Experten vor großem Auditorium zu Wort melden, die schon seit Jahren vor der Unausweichlichkeit dieses Crashs gewarnt hatten. Begriffe wie Fiat-Money, Geldschöpfung aus dem Nichts, Schwundgeld, Golddeckung und Josefspfennig erreichten über die privaten Fernsehsender erstmals die Wohnzimmer der breiten Bevölkerung. Der Zugang zu den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten blieb vielen dieser schillernden Persönlichkeiten zwar weiterhin verwehrt, dennoch konnten sie über das Privatfernsehen endlich Millionen von Menschen erreichen, was ihnen mit ihren YouTube-Kanälen und Internetseiten bisher nie gelungen war. 

Jan unterhält sich am Abend mit Patrick, seinem Mitbewohner und BWL-Studenten im achten Semester, über die Ereignisse des heutigen Tages.

»Hast Du die Menschenschlangen vor den Banken gesehen?«, fragt Jan. 

»Ja klar, vor allen Filialen, die heute geöffnet waren, standen sich die Leute die Beine in den Bauch!«

»Unser Prof hat heute in der Vorlesung gemeint, wenn die Leute erst das Vertrauen in unser Geldsystem verlieren, werden die Banken reihenweise den Bach runtergehen!«

»Ja, das glaube ich auch. Bei uns hat heute auch einer der Profs das eigentliche Vorlesungsthema ausfallen lassen und hat mit uns über die aktuelle Situation an den Finanzmärkten diskutiert. Weißt du was der glaubt?«

»Nein, erzähl schon!«

»Er sieht eine gewaltige Blase kurz vor dem Platzen, und zwar den Handel mit Derivaten.«

»Oh je, das hab ich noch nie richtig kapiert. Ich glaube, dass wir das erst in den kommenden Semestern auf dem Lehrplan haben«, stöhnt Jan. 

»Na ja, im Prinzip ist das ganz einfach zu verstehen. Da wird auf irgendetwas gewettet. Im Grunde ganz egal auf was. Den zukünftigen Preis von Weizen, Erdöl, Aktien, Kokosnüssen, wirklich scheißegal um was. Der Prof hat jedenfalls gemeint, dass in den letzten Jahrzehnten Unmengen von Kapital in solche Derivatgeschäfte geflossen sind, die sich alle gegenseitig am Leben halten. Das heißt A wettet auf einen steigenden Preis, B auf einen fallenden Preis. Wenn A recht hat, bekommt er Geld von B und umgekehrt genau so. Der Witz für die Banken ist dabei, dass sie nur darauf achten müssen, das Risiko immer schön gleichmäßig auf die wettenden Parteien zu verteilen. Dann verdienen sie an der Provision und gehen selbst kein Risiko ein.«

»Klingt doch ganz plausibel«, meint Jan. 

»Ja schon«, fährt Patrick fort. »Das Problem liegt einfach in der unvorstellbar großen Menge von virtuellem Geld, die sich da in den Jahren angesammelt hat. Du erinnerst dich doch an die Rettungsmaßnahmen der diversen Staaten, in früheren Finanzkrisen. Da wurden Unmengen neuen Geldes geschaffen, nur um die systemrelevanten Banken vor dem Zusammenbruch zu retten.« 

»Ich dachte, es wäre auch darum gegangen den Inflationswert und die Zinsen auf ein höheres Niveau zu heben, um die Leute zum Konsumieren anzuregen und die Wirtschaft anzukurbeln.«

»Ja, das hat aber nicht funktioniert. Das ganze neue Geld ist wie vom einem Schwamm in das ohnehin schon aufgeblähte Derivatesystem gesogen worden und hat die darin gefangene virtuelle Geldmenge noch weiter aufgebläht. Unser Prof sagt, dass das Volumen der weltweit gehandelten Derivate, das Bruttosozialprodukt der gesamten Weltwirtschaft um ein vielfaches übersteigt. Das heißt aber auch, dass das viele Geld, das in diesen Derivaten steckt, nur in den Köpfen der Anleger existiert. Wenn die Anleger jetzt Zweifel an der Funktionstüchtigkeit dieses Systems bekommen und ihr Vertrauen in diese Anlageform verlieren, werden sie versuchen ihr Geld daraus abzuziehen. Das kann aber nicht funktionieren, weil ja, wie gesagt, gar kein echtes Geld in dem System vorhanden ist.«

»Klingt ein bisschen so, wie im Märchen vom Kaiser, der keine Kleider anhat«, schmunzelt Jan mit einer

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.04.2018
ISBN: 978-3-7438-6645-4

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Widmung:
Für Julia, Maira und Ingrid

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