Wir waren alt.
Wir hatten langes, graues Haar, matt und ausgeblichen.
Wir hatten welke Haut.
Und müde Augen, ganz hell und erblasst, gezeichnet von dem Sonnenlicht, das sie durchflutet hatte.
Wir saßen auf einer Veranda, morsches, dunkles Holz.
In Schaukelstühlen, die noch älter als wir sein mussten.
Hinter uns stand ein Haus, mit roten Backsteinen erbaut.
Vor uns lag ein kleiner Garten, erst Rasen und Beete,mit Blumen und Gemüse, mit Mühe und Liebe gepflegt.
Dann ein schmaler Streifen, von grauem, groben Sand.
Und ganz hinten ein See, an dem auch die Grundstücke der Nachbarn endeten.
Der See lag ganz still und glänzend.
Da waren Enten und Schwäne und andere Vögel, die friedlich kleine Kreise zogen.
Sie sahen nur sehr selten einmal zu uns herüber.
Alles war so idyllisch, so schön anzusehen.
Wir waren ein altes Ehepaar.
Auf einer Veranda.
An einem lauen Frühlingsabend.
Es hätte perfekt sein können.
Hätte.
Wir hatten unsere Leben gelebt...
Er hatte sein Leben gelebt!
Er hatte seinen Traum verwirklicht, hatte geheiratet, hatte eine Familie gegründet, hatte ein eigenes Haus, hatte eine gut bezahlte Arbeit...
Nur an mich, an mich hat er nie gedacht.
Hat nie in Frage gestellt, ob ich mich an meinem Herd wohlfühlte.
Ging immer davon aus, dass ich gerne das Haus putzte.
Dass ich gerne die Kinder hütete.
Dass ich gerne seine Wäsche wusch.
Dass ich ihm gerne die Pantoffeln brachte, wenn er abends nach Hause kam.
Aber jetzt reicht es!
Seit mehr als sechzig Jahren bin ich jetzt mit diesem Mann verheiratet.
Seit mehr als sechzig langen Jahren wartet mein Koffer auf dem Dachboden.
Er wartet darauf, dass ich ihn da runter hole.
Er wartet auf den Tag, an dem ich mich traue mit ihm abzuhauen.
Aus diesem Leben auszubrechen.
Der Koffer ist gepackt, mit allem was ich brauche.
Mit Klamotten, mit Seife, mit Dingen, die mich an meine Kindheit erinnern.
Alle paar Wochen tausche ich den Inhalt aus, damit alles frisch ist, damit ich immer bereit bin.
Immer absolut bereit bin loszufahren.
Mir den Koffer zu nehmen und loszufahren.
Die Fenster ganz unten, den Februarwind auf der Haut.
Jeden Tag hatte ich es gewollt.
An keinem Tag hatte ich den Mut.
Aber heute, heute reicht es mir!
Ich kann doch nicht warten, bis der Tod mich eingeholt hat.
Ich kann doch nicht weiterhin alle paar Wochen auf den Dachboden klettern, den Koffer abstauben und weiterhin so tun, als wäre ich zufrieden, so wie es ist.
Heute, verdammt, heute mach ich das!
Heute nehm' ich mir meinen Koffer und hau' ab.
Ich flieh' aus dem Idyll, das mich kaputt macht.
Heute beginnt mein Leben.
Mein Heute.
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2014
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