Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen.
Meine Geschichte.
Eine Woche zu spät, am siebten Dezember neunzehnhundertachtundneunzig, setzten bei meiner Mutter die Wehen ein.
Sechsunddreißig Stunden später, am achten Dezember neunzehnhundertachtundneunzig, erblickte ich dann das Licht der Welt.
Wie du siehst, mein Start war nicht gerade der Leichteste.
Aufwachsen bin ich irgendwo zwischen Hannover, Thailand und Andalusien.
Ich war nie länger als ein Vierteljahr an einem Ort, wodurch ich nie gelernt habe, wie man Bindungen eingeht.
Ich hatte zwar keine Freunde, aber damals war es gut, so wie es war.
An dem Tag meiner Einschulung änderte sich mein Leben schlagartig.
Meine Eltern hatten sich getrennt, was aber nicht das Dramatische war.
Dramatisch war, dass ich mich binden musste.
Es wurde urplötzlich von mir verlangt Freundschaften zu knüpfen.
Ich sollte mich mit gleichaltrigen Rotzgören auf einen abgenutzten Bauteppich setzen und aus giftigen Kunststoffen gefertigte, magersüchtige Puppen an- und ausziehen?
Nee, nicht mit mir!
Ich war eine Rebellin.
Ich vermisste die Strände an denen ich groß geworden war und konnte mich mit der Einöde Deutschlands einfach nicht zufrieden geben.
Als ich erkannte, dass es kein Zurück in die Zeit vor meiner Schulpflicht gab verfiel ich wohl in meiner erste Depression.
Und ich war gerade mal sechs Jahre alt.
Wie sich das eben in dieser angepassten Welt so gehörte ließ ich es mir nicht anmerken.
Ein kleines Mädchen.
Wilde, rote Locken, die bei jedem Schritt lustig auf und ab wippten.
Ich war ein sehr hübsches Kind und dazu passte auch meine Umgebung.
Der neue Freund meiner Mutter hatte und eine Villa an einem Hang gekauft.
In dem riesigen Garten gab es einen Teich mit bunten Lurchen, ich bekam ein Kaninchen, welches ich Helmut taufte und auf unsere Trasse verirrte sich mal eine Taube, die uns treu blieb.
Ich wurde zur depressiven Märchenprinzessin.
Zu traurig, um zu hoffen, jedoch zu gut erzogen, um zu verzweifeln.
Dieses armselige Idyll hielt nicht lang.
Nach einem halben Jahr zogen meine Mutter und ich aus.
In unserer neuen Wohnung lebten wir uns schnell ein.
Ich besuchte meinen Vater alle vierzehn Tage.
Er hatte eine neue Freundin, welche von meiner Mutter und mir den heimlich Spitznamen „Tattoo-Betty“ erhielt, da sie von oben bis unten tätowiert war.
Sie hasste mich, was ich deutlich spüren konnte.
Und irgendwann sagte mein Vater dann den Satz, der mein Vertrauen zu ihm auf Ewig zerstören sollte.
„Ich will dich nicht mehr sehen, weil meine Freundin Kopfschmerzen von dir bekommt.“
Daraufhin haben wir uns über zwei Jahre nicht ein einziges Mal gesehen.
Meine Mutter hatte mittlerweile eine Stelle in ihrem alten Job als Versicherungskauffrau gefunden.
Da sie neu eingearbeitet werden musste und somit keine Zeit für mich hatte, zog ich zu meinen Großeltern, Kaninchen Helmut im Schlepptau.
Mein Großvater mochte Helmut.
Meine Großmutter sagte: „Der Hase stinkt!“ woraufhin er seinen Platz auf dem Balkon fand, wo er nicht weiter beachtet wurde.
Das machte mich traurig, aber ich traute mich nicht meiner Großmutter zu widersprechen.
Opa wurde krank.
Er rauchte seit er neun Jahre alt war, was seine Lunge nicht mehr mitmachte.
Ich hatte keine Angst um ihn, denn ich glaubte an Wunder.
Oma wurde bösartig.
Sie war schon immer bösartig, jedoch bekam ich es erst jetzt zu spüren, denn mein Großvater war zu schwach um mich zu beschützen.
Sie gab mir verdorbenes Essen und schlug mich, wenn ich mich davon übergeben musste.
Ich musste auf dem Fußboden schlafen.
Wenn ich Hausaufgaben machte saß sie mir mit einem Kochlöffel gegenüber und schlug mir bei jedem Rechtschreibfehler auf die Finger.
Sie schlug mich mit einem nassen Waschlappen ins Gesicht, nur weil ich ihrer Meinung nach nicht genug Disziplin hatte.
Kurz vor meinem achten Geburtstag fand man Krebs in Opas rechtem Lymphknoten.
Er wurde operiert.
An meinem Geburtstag ließ er sich auf eigene Gefahr aus den Krankenhaus entlassen.
Wir stellten fest, dass die Narbe links war.
Entgegen meiner Vorstellung machte sich niemand die Mühe das Krankenhaus zu verklagen.
Alle hatten die Hoffnung bereits aufgegeben.
Ich glaubte immer noch an Wunder.
Ich weiß nicht mehr viel über das folgende halbe Jahr.
Meine einzige Erinnerung gilt einer Familie aus dem Kosovo, zu denen ich ständig abgeschoben wurde.
Meine Großmutter sagte, ich solle dankbar sein, dass sich jemand um mich kümmere, also war ich dankbar.
Helmut musste ich weggeben.
Der Sommer brachte eine Wendung.
Meine Mutter hörte auf zu arbeiten.
Der Tag an dem sie kündigte war wohl der beste meines Lebens.
Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern.
Ich wusste, dass ich meine Mutter jetzt ganz für mich hatte.
Es war wie Schmetterlinge im Bauch.
Doch wie wir spätestens seit Caspers Alaska alle wissen, Schmetterlinge sterben so laut.
Die dritte Klasse besuchte ich nur vier Wochen, dann begann meine erste Therapie in einer tagesklinischen Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Ich fühlte mich dort wohl, in Sicherheit.
Ich wurde mit Kunst- und Musiktherapie beschäftigt, außerdem schaffte ich es Kontakt zu den anderen Kindern aufzubauen.
Über Weihnachten und Neujahr waren Ferien.
Für die Anderen ein Segen, für mich ein Fluch.
Mein Großvater baute ab, kein Grund für mich aufzuhören an Wunder zu glauben.
An Weihnachten ließ mein Wunder mich im Stich.
Opa verstarb am Morgen des fünfundzwanzigsten Dezembers zweitausendsieben.
Es ist verrückt.
Damals konnte ich nicht weinen und kaum schreibe ich es auf, zeichnen meine Tränen schwarze Schatten auf mein Gesicht.
Damit ich meine Trauer besser bewältigen konnte schenkte man mir zwei Tage nach dem Tod meines Großvaters einen Hund.
Ohne Frida wäre ich wohl untergegangen.
Als ich nach Silvester wieder in der Psychiatrie war bastelte meine Kunsttherapeutin mir aus Pappe, Stoff, Federn und Perlen einen Engel, der mich mit Opa verbinden sollte.
Meine Großmutter nahm ihn und warf ihn weg.
Rosenmontag zweitausendacht war mein Erster Schultag nach der Therapie.
Als Hexe verkleidet sollte ein neues Leben starten.
Ich wurde Klassenbeste.
Zu beginn der vierten Klasse kam meine Kusine Annasara an meine Schule, das sollte das Ende sein.
Bereits nach ein paar Wochen stand eine Klassenfahrt an und als es an die Zimmeraufteilung ging erzähle sie allen, dass ich einen Laptop mitnahm, um die ganze Nacht Pornos zu sehen.
Von diesem Tag an mied man mich.
Ich wurde zum „Mopfer“.
Auch als ich von der Grundschule zum Gymnasium wechselte fand ich keinen Anschluss.
Ich wurde apathisch.
Meine zweite Therapie begann.
Ich erzählte niemandem was los war, wurde einfach nur mit Medikamenten vollgepumpt.
Nach meiner Entlassung begann ich mir meinen ganzen Körper blutig zu kratzen.
Ich hörte auf zu essen.
Ich spielte mit dem Gedanken mir das Leben zu nehmen.
Erst in der sechsten Klasse bekam meine Mutter etwas mit.
Sie bemühte sich zum dritten Mal einen Therapieplatz für mich zu finden, ohne Erfolg.
Über die nächsten Jahre blieb mein Leben wie es war.
Es lebte sich ohne mich.
Fragte mich nicht nach meinem Einverständnis.
Es zog einfach sein Ding durch.
Heute bin ich fünfzehn Jahre alt.
Ich habe Normalgewicht.
Keine sichtbaren Narben.
Alles ist in mir eingeschlossen.
Nach der achten Klasse habe ich die Schule gewechselt.
Ich habe Freunde gefunden und noch ein paar Therapien gemacht, die allerdings nicht anschlugen.
Ich habe gute und schlechte Tage.
Ich schaffe es die guten Tage zu genießen.
Mein Hund begleitet mich durch alle Höhen und Tiefen.
Ich werde nie aufhören an Wunder zu glauben, warum sollte ich auch?
Mein Leben lebt sich weiterhin, manchmal habe ich sogar Mitspracherecht.
Es zieht immer noch sein Ding durch und ich hoffe, dass es so schnell nicht damit aufhört.
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2014
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