Eine Männerhand zieht am Riegel aus Metall. Sausewind kann sie sehen. Unter dem Daumennagel dieser Hand klebt ein dunkler Rand, auf dem Handrücken wachsen schwarze Haare. Die Hand gehört Andre. Andres Hand ist stark, sie kann zupacken und Gewicht halten. Einen ganzen Heuballen zum Beispiel. Für so jemanden ist es eine Kleinigkeit, einen Riegel zu öffnen. Der macht keine Zicken, wie die Reitschüler manchmal schimpfen. Er rutscht zurück und schabt an der Holzwand entlang. Das Geräusch macht Gänsehaut. Und auch Vorfreude. Denn schon springt die Tür zur Box auf. Jetzt ist Futterzeit, weiß Sausewind. Er stößt sich von der Wand ab und verlagert das Körpergewicht gleichmäßig auf alle vier Hufe.
„Guten Morgen, Sausewind“, sagt Andre wie immer. Beinahe gleichzeitig schiebt er die Schubkarre mit der Forke, den Lockenkopf und seinen Zweimeterkörper hinein. Ganz schön eng wird es in der Box. Andre ist der gute Geist des Reiterhofs, so nennen der Stallmeister Basti und die anderen Mitarbeiter ihn jedenfalls. Die Bezeichnung im Arbeitsvertrag lautet Pferdewirt. Manche sagen Stallbursche. Sausewind ist es egal, wie man Andre nennt. Er mag ihn. Genauso wie fast alles, was der Tag ihm sonst beschert.
Andre stopft Heu in die Raufe, das Wind und Wetter nicht ausgeblichen haben. Es schimmert dunkelgrün und duftet nach Kräutern. Qualität ist wichtig, meint er. Sausewind kennt den Satz. Andre passt immer auf, dass die Pferde nur das Feinste bekommen. Fohlen und ihre Mütter den Schnitt aus der ersten Mahd. Da stecken die meisten Vitamine und viele Mineralien drin. Die sorgen dafür, dass Stutenmütter die beste Milch geben. Und dass zappelige, kleine Fohlen zu ruhigen, großen Tieren heranwachsen.
Andre hat es eilig, weil so viel Arbeit auf ihn wartet. Unzählige Mäuler wollen frühmorgens gestopft werden. Den Hofhund und den alten Kater mitgezählt, dürften es an die Millionen sein. Schätzt Sausewind. Deswegen macht es ihm nichts aus, dass Andre ihn nur mit leichtem Klopfen an den Hals bedenkt. Auch Sausewinds Mutter erhält durch das Gatter zur Box nebenan eine schnelle Liebkosung. Dann ist Andre fort. Das Fohlen steckt die Nüstern ins Heu. Die Halme kitzeln so lustig, dass es niesen muss. Mann oh Mann, ist das großartiges Heu! Es riecht und schmeckt nach Gras, Kamille, Hirtentäschel, Wegerich und vielem mehr. Und nach Mut und Abenteuern.
Danach läuft der Tag ab wie jeder Tag abläuft. Mit einem Wort ausgedrückt: wundervoll. Erst geht es raus mit den anderen Pferden auf die Koppel. Sausewind hält sich die meiste Zeit nah an seiner Mutter. Weil es praktisch ist. In ihrer Gegenwart braucht er sich um nichts Wichtiges kümmern. Sie mag seine Anwesenheit auch. Sagt sie ihm oft. Und dass sie ihn so am besten unter Kontrolle hat. Als wenn man ihn noch kontrollieren muss. Er weiß längst allein, dass man Jakobskreuzkraut nicht frisst, weil das für Pferde giftig ist oder dass man im Wald nicht auf sumpfigen Boden tritt, weil der einen „Schlurps!“ aufsaugt.
Leider nimmt Mama ihre Aufgabe sehr genau. Zu genau für Sausewind. Sie sorgt sich um ihn und sagt es auch noch, wenn andere sie hören können. Zum Beispiel, wenn Sausewind auf der Koppel Vollgas gibt und wie der Wind über das Gras pfeift. Was ziemlich Bombe ist, findet er. „Dir könnte etwas zustoßen, wenn du so rennst“, ist einer ihrer Lieblingssätze. Voll peinlich. Und dann steht er da vor der Herde. Vor allem vor Rasputin, dem er mal ordentlich ein Schienbein verpassen möchte. Weil der überall der Größte ist. Und der Klügste. Und der Witzigste sowieso. Das lässt er Sausewind spüren, wenn er ruft: „Seht geschwind, da kommt das Mamakind, der Sausewind.“ Alle lachen. Sausewind kommt sich vor wie ein Feigling. Freunde macht er sich so keine. Die anderen machen ihre eigenen Runden, und kaum jemand fragt ihn noch, ob er mitlaufen will. Basti sagt Mama, dass sie ein Helikopterpferd ist und dass er so etwas in seiner Herde nicht gebrauchen kann. „Vor allem, weil Sausewind so viel Potential hat, das sich entwickeln soll. Du willst doch auch nicht, dass er verkümmert, oder?“ Natürlich will Mama das nicht. Sausewind erst recht nicht. Aber er möchte nicht, dass Mama traurig ist. Deswegen ist es das Einfachste, er nimmt nur so viel Kontakt mit den anderen Pferden auf wie notwendig. Egal, dass sie ihn als Einzelgänger bezeichnen. Man kann auch mit sich selbst reden. Mit Basti sowieso.
Die meiste Zeit des Tages verbringt Sausewind daher mit Träumen. Davon, dass er als kräftigster Hengst später den Rasputin schlägt und jedes Turnier für sich gewinnt. Davon, dass Basti und die ganze Welt ihn stolz anhimmeln. Denn Basti findet Sausewind nicht nur gut wie Andre, sondern oberklassegut. Und allein darauf kommt es an. Wenn Sausewind dann so für sich steht und vom Sieg träumt, ist er sogar selbst stolz auf sich. Das will schon etwas heißen.
Später führen Mitarbeiter oder die Besitzer ihre Pferde auf dem Platz hinter dem Stall an der Longe. In großen und in kleinen Kreisen. Rundherum um sich selbst. Mal in die eine, mal in die andere Richtung. Bleiben stehen, gehen vor und zurück. Bodenarbeit nennt man das. Überall dort, wo Hufe und Schuhe auf die Erde treffen, sind deutliche Spuren im Sand zu erkennen. Sausewind verfolgt sie neugierig wie ein Chamäleon die Fliege mit den Augen. Aus den Spuren liest er neue Geschichten aus der Pferdezauberwelt. Wie ein Pferdeindianer. Das Problem ist, sagt Basti, dass jedes Pferd normalerweise mit seinem Menschen verbunden ist. Mit einem, der für sein Tier sorgt, der es führt und sich kümmert. Der Besitzer von Sausewind und Mama nimmt es nicht so genau. Sieht in ihnen eine Geldanlage. Das bedeutet so viel, dass er beide gekauft hat, als er zu viel Geld besaß und sie für mehr als den ursprünglichen Einsatz verkaufen wird, wenn sein Geld zum Leben nicht mehr reicht. So kommt es, dass Sausewind und Mama jeden Mitarbeiter besser kennen als ihren eigenen Menschen. Jeder ist mal mit der Betreuung an der Reihe, je nachdem, wer Dienst hat. Am schönsten ist es, wenn Basti sich um Sausewind kümmert. Dann probieren sie lustige Übungen aus, einige sogar, die für erwachsene Pferde bestimmt sind.
Mittags steht Sausewind wieder in der Box, weil es im Stall schattig ist. Ruhe zieht auf dem Reiterhof ein. Nur der Hofhund unterbricht sie mit seinem heiseren Bellen. Eine vergessene Schubkarre klappert, geführt von einem der Mitarbeiter, über das Kopfsteinpflaster. Ansonsten heißt es: weiterträumen und Saftfutter zwischen die Zähne schieben. Sausewind lässt sich von seiner Mutter durch das Gatter schubbern. Das fühlt sich so gut an, dass ihm die Augen zufallen.
Wacht er nachmittags auf, steht die Sonne noch ein Stückchen höher am Himmel. Sie hat inzwischen auch den Stall erhitzt. Sausewind fühlt sich ein wenig schwummerig. Vorsichtig den Kopf hin und her schütteln. Dann geht es wieder. Mama steht noch mit halbgeschlossenen Augen nebenan.
Schon kommen die Reitschüler vorbei. Es hat sich ausgeträumt. Die vielen Mädchen und wenigen Jungen wuseln wie ein Haufen aufgeregter Ameisen durch die Boxen. Die Jüngsten, die noch nicht einmal lesen können, malen mit Kreide eine Wolke mit dicken Backen auf den Beton der Stallgasse. Für ihn. Damit die Wolke ordentlich pustet, wenn er flitzt. Sie finden Sausewind fabelhaft, weil er sich so still verhält. Weil er so schöne Augen hat. Und weil er Sausewind ist. Die Reitschüler helfen überall mit. Sie putzen, misten aus und füllen goldgelbes Stroh nach. Dann geht es wieder ab nach draußen. Die Schüler reiten auf den erwachsenen Pferden, die Fohlen laufen mit.
Abends, wenn die Mitarbeiter in den Feierabend gehen, öffnet sich für Sausewind der Himmel. Oder zumindest sein Herz. Dann nämlich kommt Basti zu ihm vorbei. Jeden Abend. Also so richtig vorbei. Mit einer Menge Zeit für Sausewind und mit einer Menge Liebe. Wenn er seinen Kopf an den von Sausewind legt, fühlt es sich an, als würden zwei Hälften zu einem Ganzen verschmelzen. Bastis Haut im Gesicht ist mindestens so weich wie die von Mama. Außer oberhalb seiner Lippen manchmal. Aber das macht nichts, wenn er da ein bisschen kratzt. So mit Basti zu stehen, ist das Allergrößte auf der Welt. Und dieses Gefühl darf niemals enden. Dafür lebt Sausewind. Mächtig anstrengen wird er sich, dass sein Glück bis in die Ewigkeit reicht. Natürlich auch das von Basti.
Weil Basti es besonders gut mit ihm meint, krault er Sausewind mit so viel Hingabe, wie ein ganzes Meer nicht fassen kann. Und das auch noch mit allen Fingern gleichzeitig am Bauch, genau an Sausewinds Lieblingsstelle. Herrlich! Basti meint ja, sie beide wären wie Blutsbrüder oder wie Abziehbilder, weil sie sich so gut verstehen. Blutsbrüder und Abziehbilder brauchen keine Worte, nicht einmal Blicke oder Gerüche. Die wissen auch so, wie es dem anderen gerade geht. Wie er sich fühlt, wovon er träumt und was er denkt. Jedenfalls war das bei Sausewind und Basti immer so. Bis gestern jedenfalls. Denn heute ist plötzlich alles anders.
Es beginnt damit, dass Bastis Haare glatter am Kopf liegen als sonst. Wie im nassen Zustand gestriegelt. Sie riechen auch anders. Nicht wie gewohnt nach Wind und Freiheit und ein bisschen nach Pferd. Sondern nach einem Mittel, das die Haarsträhnen bändigt und einen für Pferdenasen viel zu herben Duft verströmt. Widerlich. Basti blickt in die Ferne, als wenn es dort etwas zu sehen gäbe. Gibt es aber nicht. Sausewind kennt jeden Zentimeter in seiner Box. Basti scheint verwirrt. Vielleicht hat er sich bei der Auswahl seiner Haarpflege vertan und etwas Giftiges eingeatmet? Sausewind wird mal nachfragen. Dazu buzt er ihm mitten ins Gesicht.
Das Anstupsen schreckt Basti auf. Er sagt: „Hm?“ Dann lacht er. „Sausewind, nicht! Bleib mit deiner Nase weg. Ich habe mich extra fertig gemacht. Wie findest du mich?“
Sausewind hat keine Ahnung.
„Soll ich dir etwas verraten? Heute bin ich mit einer Frau verabredet. Mit einer schönen Frau. Da staunst du, was? Naja, was soll ich dir sagen? Sie ist hübsch, sie ist klug und sie lacht viel. Wir essen erst einmal nur zusammen. Mal sehen, was sich daraus ergibt.“
Schon wieder blickt Basti geradeaus, diesmal schmunzelt er sogar. Was er wohl sieht? Die schöne Frau? Sausewind mag sie nicht, obwohl er sie nicht kennt. Auch wenn er weiß, dass es gemein ist. Allein der Gedanke an sie sticht in seinem Bauch. Das ist die Eifersucht. Eine schlechte Eigenschaft, hat Mama ihm beigebracht. Bevor Sausewind genauer drüber nachdenken kann, wacht Basti aus seinem Traum auf und wuschelt ihm zum Abschied fix durch die Mähne. Dreht ihm den Rücken zu. Dann geht er. Ohne zu ihm in die Box zu kommen. Was war das denn gerade? Tief in Sausewind macht es laut „Klack.“ In seinem Herzen knipst jemand die Sonne aus.
Plötzlich überlegt es sich Basti doch noch einmal und kehrt zurück. Na bitte, geht doch. Und dennoch ist Sausewind auf der Hut. Basti zeigt mit dem Finger auf das Fohlen. Eine merkwürdige neue Art der Annäherung. Eine unangenehme. Irgendetwas lauert im Busch. Basti lehnt den Kopf an die Stäbe, schluckt. Mann, oh Mann. Heute hat er es schwer, die richtigen Worte zu finden. Beinahe tut er Sausewind leid. Basti streicht langsam mit den Fingern am Gatter entlang. So, als wenn er liebevoll etwas streichelt, von dem er weiß, dass man es ihm wegnehmen wird. Das Geräusch klingt, als wenn jemand traurige Musik auf einer Harfe spielt. Irgendein Schlamassel kündigt sich an, das noch in grauen Bildern schwimmt.
„Weißt du was, Brauner?“, sagt Basti endlich und sieht Sausewind an. Seine Lippen sind schmaler als sonst. Er fährt mit der Hand über beide Augen. „Dass ich heute eine Verabredung habe, war die gute Nachricht.“
Ach ja? Was denn noch?
„Es gibt etwas, was ich dir sagen muss. Eigentlich ist heute nicht der beste Zeitpunkt dafür. Aber für so eine Nachricht gibt es keinen guten Tag.“
Aha. Also stimmt es. Es kommt noch etwas. Keine gute Überraschung wie ein neues, rotes Halfter in Sausewinds Lieblingsfarbe. Kein zusätzlicher Apfel von seiner Lieblingssorte. Was folgt, will Sausewind gar nicht wissen. Am liebsten würde er sich die Ohren zuhalten. Funktioniert aber nicht. Er sieht zu Mama rüber in die Box. Die hat sich abgewendet.
Und dann ist das Schlamassel da. Basti sagt und lässt hinter jedem Satz eine Pause: „Du kennst doch unseren Plan. Ich will sparen, um dich und deine Mama abzukaufen, damit wir für immer zusammenbleiben. Daraus wird vielleicht nichts mehr. Dein Besitzer hat entschieden, euch schon bei der nächsten Auktion zu versteigern. Die ist in vier Wochen. Bis dahin bekomme ich die Summe nicht zusammen, auch, wenn ich schon
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Eddi Wortklang
Bildmaterialien: Eddi Wortklang
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2022
ISBN: 978-3-7554-2404-8
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