Die Chroniken der Seelenseherin
Das Amulett der Seelentropfen (Band 1.)
Das Geschwärzte Medaillon (Band 2.)
Das Schmuckstück der Welt (Band 3.)
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Dieses Buch ist ein Roman. Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, sowie mit Ereignissen und Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Copyright © 2015 Laura Jane Arnold
Umschlagabbildung: © Laura Jane Arnold
Umschlaggestaltung: Laura Jane Arnold
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Tigers‘ Tomorrow: Foto Tiger: © Julian W./Fotolia.com.
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Auch als Printbruch erhältlich.
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Tigers‘ Tomorrow der Autorin.
Für die Freunde, die nicht mehr bei uns sein können und uns doch nie verlassen.
Unser Schicksal tragen, heißt es besiegen.
- Edward George Bulwer-Lytton
Wie soll man leben, wenn Hoffnung etwas ist, dass man sich nicht mehr leisten kann? Wie die Nacht überstehen, wenn der eigene Körper jederzeit zum Feind werden kann? Wie soll man leben mit dem Wissen, dass der eine Mensch, den man liebt eine Seite gesehen hat, die Liebe unmöglich macht?
Die trockene Luft meines persönlichen Gefängnisses, welches mir gleichzeitig als mein Königreich beschrieben wurde, kratzte in meinem Hals. Es war ein ständiges Kratzen. Es hörte nie auf und bohrte sich in meine Lungen, als würde ich mit der Luft feine Glassplitter einatmen, die nach und nach mein Fleisch zerrissen. Ich hatte aufgehört, die Tage zu zählen. Aufgehört, auf die Sonne zu hoffen, deren Strahlen doch nie die Tiefen dieser Hölle erreichten. Ich war die Einzige hier. Ich war der einzige Mensch, der noch seine vollständige Seele besaß und doch war ich so gefangen, wie jeder dieser traurigen Sklaven. Sklaven eines Mannes, der mit einfachen Worten nicht zu beschreiben war. Noch immer hatte ich mich nicht an den Wahnsinn in seinen Augen gewöhnt. An die Reaktion, die er bei mir auslöste. An den Abscheu, der mich überfiel und die quälende Hoffnungslosigkeit.
Ich schloss meine Augen und versuchte mir für einen Moment vorzustellen, wie Wind meine Haare zerzauste und meine Lunge mit kühler Luft füllte. Wie die Sonne den wärmenden Ausgleich eines Herbsttages bot. Hier unten gab es nur Staub, Dreck und erstickende Hitze. Ich konnte nicht so schnell trinken, wie mein Körper auszutrocknen schien. Es war unnatürlich. Unter der Erde müsste es kühl sein. Sollte es kühl sein, aber die Gesetze der Natur galten in diesem düsteren Reich nicht. Mein unsicherer Gang war inzwischen der ungleiche Tanz eines Alkoholikers. Ich fühlte mich krank. Es war, als hätte Keira das letzte bisschen Stärke, das ich besessen hatte, mitgenommen und Craig das letzte bisschen Hoffnung. Auch wenn ich genau wusste, dass meine Seele noch mir war, fühlte es sich dennoch an, als wäre sie tot. Ein abgespaltener Teil, den ich nicht mehr zu fassen bekam. Er war mit Keira und Craig in dem geheimen Tunnel verschwunden. Ein Ausweg, dem ich nicht hatte folgen können. Ich streckte meine Hand aus und wollte die eine Stelle berühren, die Flucht bedeutete. Wie stets schienen meine Finger auf eine undurchdringliche Wand zu stoßen, die sich vor meinen Augen verbarg. Ich wusste es besser und vor allem fühlte ich es. Ich fühlte seine Gegenwart in meinem Körper. Es war keine Wand die meine Finger daran hinderte den Sandstein zu berühren. Er war es. Er kontrollierte meine Hände. Er war ein ständiger Geist, der mich begleitete, egal wohin ich mich in dieser unwirklichen Stadt bewegte. Die Stadt, die er Stolz Infernus nannte. Er hatte mein Leben gelenkt, seit ich auf diese Welt gekommen war. Er hatte alles geplant. Freier Wille war etwas, das er mir genommen hatte. Er hatte mir alles genommen. Er hatte mich zu seinem Werkzeug gemacht. Zu einem Werkzeug, das er dazu verwenden wollte, die Welt zu seinem persönlichen Paradies zu wandeln. Er wollte die Menschen neu erschaffen. Er wollte alles und vor allem wollte er mich. Er liebte mich.
»Sie kommen nicht zurück, solange ich es nicht will.«
Wieder schloss ich die Augen. Nicht aus Erschöpfung oder dem Versuch in eine Traumwelt zu flüchten. Es war der brennende Schmerz seiner Gegenwart, der durch meine Adern raste und in meinen Augen glühte. Es war schlimmer geworden. Viel schlimmer. Er löste es aus. Jedes Mal, wenn er mir nahe war. Meine Augen brannten und ich wusste dass sie feuerrot waren. Er rief das Monster in mir zum Vorschein. Das Monster, das ohne zögern töten konnte. Das Monster, das Craig gesehen hatte.
»Leander«, sagte ich bedrohlich, wobei ich mich nur langsam von dem Sockel seiner riesigen Statue abwandte. Sein übernatürlich perfektes Gesicht war nur eine Handbreit von meinem entfernt. Er lächelte. Immer lächelte er. In der Blutsicht war ich die Janlan, die er als seine Königin begehrte. Mit der er seine Welt erschaffen wollte. Sein Atem brannte heiß auf meiner Haut und sein Geruch stach in meiner Nase. Und dennoch war er verlockend. Alles an diesem Mann war verlockend. Er hatte Jahrhunderte Zeit gehabt, diese Wirkung zu erschaffen und dennoch gelang es ihm nicht, meine Seele an ihn zu binden, wie er es mit meinem Körper getan hatte. Doch für ihn war es vorerst genug. Kleine Elektroschocks zuckten durch meinen Körper, als ich mich ungewollt in seine Arme begab. Seine Lippen schlossen sich um meine und einmal mehr, fühlte ich einen Schmerz, der beinahe nicht zu übertreffen war. Es war nicht so sehr mein Körper der schmerzte, sondern meine Seele, die ein weiteres Mal Craig betrug. Es war mein persönlicher Albtraum, der sich immer und immer wieder wiederholte. Meine Füße bewegten sich ohne meinen Befehl. Meine Hand schloss sich um seine und zog ihn mit. Es war sein Art, mich für meine Rolle bei der Flucht von Keira und Craig zu bestrafen. Er machte mich zur handelnden Person. Ich versuchte mich fallen zu lassen, in den Tiefen meiner Seele zu versinken. Dort, wo das Bewusstsein nicht mehr war, als eine schwache Idee. Meistens gelang es mir für ein paar Minuten, bevor die Schmerzen mein Bewusstsein gewaltsam zurückholten. Ich tauchte aus einer dieser Tiefen auf. Die Realität schlug wie eine Granate in mein Bewusstsein ein. Für mich gab es einfach kein Entkommen. Sein Körper drückte mich in die Matratze und entzündete auf meiner Haut ein stechendes Meer aus Flammen. Meine Gedanken schmiegten sich um den einen Gegenstand. Die eine Stelle, die ich ansehen konnte, ohne ihn sehen zu müssen. Das Geschwärzte Medaillon. Es hing um seinen Hals und berührte immer wieder meine Haut, wo seine Kühle für einen kurzen Moment die Flammen erstickten. Es war dieser Gegenstand, der mich hierher gebracht hatte. Es war so nahe und doch konnte ich nichts tun. Ich war nicht Herr meines Körpers. Ich konnte meine Hände nicht dazu bringen, es Leander vom Hals zu reißen, oder ihn sogar mit der silbernen Kette zu erwürgen. Ich konnte es nur ansehen und daran denken, was es bedeutete. Meine Versklavung und die Möglichkeit des Untergangs meiner Welt. Einzig meine Abstammung verhinderte noch die Apokalypse. Ich wurde aus meinen schützenden Gedanken gerissen, als sein heißer Atem auf mein Ohr traf und seine Stimme wie Honig in meine Gedanken drang.
»Irgendwann wirst du mir das Amulett der Seelentropfen aushändigen.«
Es war drei Tage her, dass er versucht hatte, das Amulett von meinem Hals zu reißen. Es war ihm nicht gelungen. Er hatte es nicht einmal berühren können. Das Amulett hing immer noch um den Hals einer Seelenseherin. Ich hatte noch meine Seele und ich glaubte, dass, solange ich sie festhalten konnte, das Amulett für ihn unerreichbar bleiben würde. Alleine diese Tatsache schien den Schutz auszumachen, denn der Seelentropfen, den das Amulett und deren Trägerin eigentlich hüten sollte, war längst nicht mehr in seiner Mitte. Der Tropfen war nicht mehr als ein gläserner Stein. Ich wusste, wo sich der echte Seelentropfen befand, aber Leander ahnte es nicht. Er ahnte nicht, dass der Gegenstand, den er so dringend brauchte, weit weg war. Keira hatte den Seelentropfen und sie hatte ich weggeschickt. Es war ein kleiner Trost. Es bedeutete, dass sie und Craig mehr Zeit hatten, die Menschen wachzurütteln und ihre eigene Armee aufzustellen. Für mich bedeutete es mehr Zeit mit ihm. Mehr Zeit in der er mich zu allem zwingen konnte. Mehr Zeit, in der er versuchen würde, mich dazu zu bringen ihn zu lieben. Mehr Zeit, in der ich verlernen würde, wie man liebt. Denn Liebe war ein Luxus der Hoffnungsvollen. Ich war nur noch ein Schatten. Ich wusste nicht, ob Hoffnung etwas war, das ich mir leisten konnte. Wie sollte ich hoffen, dass Craig mich nach allem noch lieben würde? Wie sollte ich hoffen, wenn alles was ich noch kontrollieren konnte, meine Gedanken waren? Wie sollte ich die Welt retten, wenn ich mich selbst schon längst für verloren hielt? Ich wusste schon länger nicht mehr, wie lange diese Hölle bereits mein zu Hause war und mit jedem weiteren Tag schwand die Erinnerung an Sonne und Licht. An Liebe und Freundschaft. Wie sollte man auf Leben hoffen, wenn alles, was es bedeutete, einem entglitt. Wenn selbst die Erinnerungen zu verschwammen begannen.
»Du gehörst mir«, flüsterte Leander, als ich schließlich in seinen Armen lag. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sein Verlangen über sein Ego siegen würde, bis aus den erzwungenen Küssen mehr wurde. Bis er nicht mehr darauf warten würde, dass ich freiwillig seine Nähe suchte. Er würde sich nehmen, wonach es ihm verlangte. Und ich würde nichts dagegen tun können. Alles, was ich in diesem Moment tun konnte, war auf die Freiheit des Schlafes zu warten. Auf den schwachen Schimmer meiner Erinnerungen an ein verlorenes Leben.
Seit vier Tagen hatte sich Keira in der Einsamkeit ihres Hotelzimmers eingeschlossen, den Tag erwartend, den sie unmöglich ertragen konnte. Vier Tage war es her, dass sie aus dem Ende des Tunnels in einen Wald in der Nähe von Galin getreten war. Die Erinnerungen waren noch so frisch, dass sie glaubte, den Staub des Tunnels schmecken zu können. Das Stechen der trockenen Luft in ihrer Lunge. Immer noch drehte sie sich in der Dunkelheit um und erwartete, dass eines von Leanders Erdwesen seine Krallen nach ihr ausstreckte und sie zurück unter die Erde zerrte. Kälte überfiel Keira, als sie sich in den Bildern und Gefühlen ihrer Flucht verlor. Die Flucht, die nicht nur ihren Körper bis an seine Grenzen getrieben hatte.
Keuchend tastete sie sich wieder an der kühlen Wand des stetig steigenden Tunnels entlang. Licht war schon lange nicht mehr zu ihren Augen gedrungen. Die am Anfang vielzähligen Fackeln, waren immer weniger geworden und hatten dann plötzlich aufgehört. Die fein gearbeitete Wand am Eingang des Tunnels, war in grob behauenen Fels übergegangen, welcher immer wieder spitze Kanten besaß. Das alles hatte auf sie keinen besonderen Eindruck gemacht. Sie hatte nicht auf den scharfen Fels geachtet, der ihr durchaus ohne Probleme die Handflächen hätte aufschlitzen können. Genau das war einem der Mitglieder der Jüngsten Generation geschehen. Sie hatte seinen unterdrückten Aufschrei gehört, als der Stein sich in seine Haut bohrte, doch niemand hatte gewagt anzuhalten oder auch nur die Stimme über ein Flüstern zu erheben. Keiner hatte eine Pause einlegen wollen, obwohl sie nun schon seit Stunden schnellen Schrittes durch die Dunkelheit liefen. Keiner wollte zurück zu dem Ort, aus dem sie mit Mühe und Not geflohen waren. Dem Ort, an dem die Dunkelheit einfach überall war. Der Ort, an dem Leben keine wirkliche Bedeutung mehr hatte. Einmal dort angekommen, verließ man die Stadt nur wieder als seelenloser Sklave, dessen Äußeres nicht einmal mehr die Identität erahnen ließ, die das Herz in der Brust ausgemacht hatte. Man verlor alles. Man verlor seine Erinnerungen, seinen Charakter, sein Aussehen und seinen Freien Willen. Man folgte nur noch den wahnsinnigen Befehlen eines Menschen, der schon vor Jahrhunderten hätte sterben müssen. Der so wahnsinnig und machthungrig war, dass er die Welt neu erschaffen wollte. Menschen, Tiere, Pflanzen ... Nichts würde er dem natürlichen Lauf der Welt überlassen. Nichts dem Zufall, der vom Schicksal gelenkt wurde. Leander hatte alle Regeln gebrochen, alle Grenzen, welche die Moral den Menschen auferlegt. Er hatte sie überschritten und war nicht ein einziges Mal stehengeblieben. Er wurde von etwas angetrieben, das ihn blind machte für die Realität. Blind für all das, was richtig und gut war. Leander war eine perfekte Hülle, die etwas unglaublich Dunkles verbarg. Etwas Gefährliches und vor allem etwas Tödliches. Leander war ein Monster, das hatte er mehr als einmal bewiesen und in der Mitte von allem war Janlan.
»Janlan...«, war es gebrochen aus Keiras trockenen, spröden Lippen gekommen, als sie gegen die Wand gesackt war und zu Boden glitt. Ihren Arm hatte sie immer noch fest an ihren Körper gedrückt. Sie war sich sicher gewesen, dass die Schnittwunde erneut angefangen hatte, leicht zu bluten. Immer wieder hatte sie geglaubt, zu hören, wie Blutstropfen auf den Boden schlugen.
»Keira, bist du in Ordnung? Kannst du weitergehen?«
Craigs Stimme hatte undeutlich in Keiras Ohren geklungen, als hätte er aus weiter Entfernung zu ihr geflüstert. Sie hatte die Augen zusammengekniffen und versucht, sein Gesicht zu erkennen. Seine Lippen, damit sie vielleicht etwas mehr Sinn aus seinen Worten machen konnte. Ein sinnloses Unterfangen. Es war zu dunkel. Viel zu dunkel, um auch nur irgendetwas genauer erkennen zu können. Zu dunkel, zu stickig und zu hoffnungslos.
Craig hatte sie an den Schultern geschüttelt. Nicht stark, sondern eher, als wollte er sie sanft wachrütteln. Doch Keira hatte gewusst, dass sie nicht schlief. Sie hatte Janlans Schrei noch viel zu deutlich in ihren Gedanken gehört. »Rette die Welt.« Janlans letzte Worte an sie.
Wie sollte Keira die Welt retten, wenn sie wusste, wie sehr ihre beste Freundin litt? Wie verloren und wie hoffnungslos sie sich fühlen musste. Immer wieder hatte sie versucht, andere Gedanken von Janlan zu hören, aber da war nichts und mit jedem Schritt, den sie zur Erdoberfläche hin tat, hatte sie weiter von Janlan fortgetrieben und ihre Verbindung geschwächt.
»Keira?«
Sie war so müde gewesen. So unendlich müde. Ihr Arm hatte wehgetan, ihre Lunge gebrannt und um ihren Verstand hatte sich ein dicker Nebel gelegt, der es ihr fast unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu formen.
»Janlan?«, war Keiras schwache Antwort gewesen. Sie hatte gespürt, wie ein sanftes Schütteln durch den Körper gegangen war, der sie immer noch an den Schultern festhielt. Ein Kloß hatte in ihrer Kehle gestochen, als sie die Bewegung als ein stummes Nein deutete. Natürlich nicht. Sie wusste wo Janlan war. Und sie war ganz sicher nicht an ihrer Seite. Janlan saß in Infernus fest, bei dem Monster Leander, der so besessen von ihrer besten Freundin war, dass er die ganze Welt für sie neu erschaffen wollte. Dass er Jahrhunderte damit verbracht hatte, einen Plan zu entwickeln, wie er Janlan zu sich führen würde, ohne dass sie überhaupt schon auf der Welt war.
»Craig«, hatte sie nüchtern gesagt, »Wie konnte ich ihr das nur antun?« Keiras Stimme war zu leise, zu gebrochen gewesen, als dass sie glaubte, dass er es hatte hören können. Vielleicht war es auch besser gewesen. Janlan hatte Craig angelogen, um ihn zu retten. Keira wusste nicht, wie tief die Wunde ging, die Janlan ihm mit ihren Worten zugefügt hatte.
Aber er hatte sie gehört.
»Keira du-, ich-, wir... wir müssen weiter. Du... du musst aufstehen.« Er hatte einmal tief durchgeatmet, bevor er weitersprach. Sicher, um seine Gedanken einigermaßen zu ordnen. »Lehn‘ dich auf mich. Ich werde dich stützen. Die anderen sind bereits ein ganzes Stück weiter als wir. Na komm, sobald wir die Sonne auf unseren Gesichtern spüren, können wir sicher klarer denken und uns etwas überlegen wie wir J... wie wir sie retten können.«
Craig hatte sie sachte wieder auf ihre Füße gezogen und legte sich ihren Arm um die Schulter. Es war Keira nicht entgangen, das er Janlans Namen nicht aussprach. Er hatte ihn überhaupt nicht mehr laut ausgesprochen, seitdem Janlans rote Augen hinter dem Sandstein der Statue verschwunden waren. Er hatte Janlan noch nie in der Blutsicht gesehen oder erlebt. Es beunruhigte Keira, dass er sie immer noch nicht danach gefragt hatte, nachdem die ersten Schockmomente überstanden waren und sie in die Dunkelheit geflohen waren. So vernebelt Keira auch gewesen war, sie wusste, dass es nicht der Moment war, um darauf näher einzugehen. Craig hatte Recht behalten, sie mussten erst einmal selbst in Sicherheit sein, bevor sie irgendetwas unternehmen konnte. Dennoch gefiel es ihr immer noch nicht, wie er sich verhielt.
Eine dritte Stimme war in der Dunkelheit erklungen. »Können wir weiter? Die anderen werden schon unruhig.«
Keira war der flehende Unterton in Clara Halfersens Stimme nicht entgangen. Clara kam, wie Janlan und sie selbst aus Amalen und war viel länger in Infernus gewesen. Ganz zu schweigen von den anderen Mitgliedern der Jüngsten Generation. Viele von ihnen hatten die Sonne schon seit mehreren Monaten, wenn nicht sogar Jahren, nicht mehr gesehen. Sie kannte Clara schon lange. Sie war nicht auf den Kopf gefallen, ließ sich wenig bis gar nichts sagen und hatte auch noch das Aussehen um mit allem durchzukommen, aber hier, in der Dunkelheit, so nahe zu Leanders Erdwesen, war sie nicht viel mehr als ein unsicherer, verängstigter Teenager, der krampfhaft versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Clara war, zusammen mit Jason, Anführerin der Jüngsten Generation, doch beide folgten dem, was Keira sagte.
»Wir...wir können weiter. Musste nur ganz kurz eine Pause machen«, hatte sie geantwortet, wobei niemanden entgangen sein konnte, wie erschöpft sie war.
»Hat dein Arm wieder angefangen zu bluten?«, hatte Clara aus dem Nichts gefragt. Zum ersten Mal war Keira bewusst geworden, dass Clara die Nichte von Doktor Halfersen war.
»Ich denke ja, aber da können wir jetzt nicht viel machen. Nicht hier und erst recht nicht in dieser Dunkelheit. Ich dachte du wärst mit den anderen viel weiter vorne«, antwortete Craig, bevor Keira etwas hatten sagen können.
»Ich bin zurückgekommen. Die Anderen warten mit Jason.«
»Gut. Hilf mir Keira zu stützen, dann sollten wir wieder mit euch mithalten können.«
Craig war ständig an ihrer Seite geblieben. Sie war dankbar dafür gewesen. Er war die lebende Erinnerung an Janlan. Solange er an ihrer Seite war, konnte sie sicher sein, nicht den Verstand zu verlieren. Es war viel zu einfach zu glauben, dass Janlan für immer verloren war.
Unendlich viele Stunden schienen vorbeizuziehen und hatten immer mehr ihre Spuren hinterlassen. Keiras Kehle war bis dahin so ausgetrocknet gewesen, dass ihre Zunge sich schwerfällig und geschwollen anfühlte. Ihr Magen hatte das hungrige Knurren aufgegeben, sodass nur eine beißende Leere zurückgeblieben war. Sie hatte gewusst, dass es ihren Gefährten nicht anders erging. Sie hatte das Knurren ihrer Bäuche und das trockene Husten ihrer Lungen gehört.
»Nicht mehr lange ...«, hatte sie gemurmelt.
»Nicht mehr lange und dann was?«, hatte Craig fragend ihre Worte wiederholt. Sie konnte es noch ganz genau hören, als hätte er erst vor ein paar Sekunden gesprochen.
»Sonne«, war alles gewesen, was sie antwortete.
Ein Ruck war durch den Boden gefahren und von einem tosenden Meer an Geräuschen begleitet worden. Steine hatten aufeinander gerieben und waren übereinander und untereinander gerutscht. Dreck und Staub war in die Luft geschleudert worden und vereinte sich zu einer Wolke, die sich erbarmungslos durch den schmalen Tunnel auf die Jüngste Generation zugeschoben hatte. Sie hatten nicht davonrennen können. Nicht fliehen. Denn es hatte nur zwei Richtungen gegeben. Die eine nach vorne, dorthin, wo die Wolke ihren Ursprung hatte oder zurück, wohin die Staubwolke rollte und wo Leander wartete.
»Bedeckt eure Gesichter und legt euch sofort auf den Boden!«, hatte Craig befohlen. Er hatte Keira mit sich hinunter gerissen und schützte sie mit seinem Körper. Spitze Steine waren in der Wolke mit gerollt und hinterließen Kratzer auf den ungeschützten Stellen der vielen Körper. Die Luft war schwer gewesen und schien eine erdrückende Kraft zu besitzen. Keira hatte Augen und Lippen zusammengepresst und nur hoffen können, dass es schnell vorbei sein würde. Schmirgelpapier war über ihren Körper gerast und hatte feine Staubkörper in ihrer Lunge platziert. Sie hatte nichts hören können, außer dem Sturm, der über sie hinweg fegte. Eine Ewigkeit war vergangen, bis sie es gewagt hatte, ihren Kopf ein wenig anzuheben. Sie war erstarrt, als sie tatsächlich etwas sehen konnte. Natürlich hatte sie genau deshalb ihren Kopf gehoben, aber bis dahin war der Tunnel so dunkel gewesen, dass es ein sinnloser menschlicher Instinkt gewesen war. Nie hätte sie vorher etwas erkennen können. Aber dort hatte sie gelegen. Neben Craig. Bedeckt mit einer Schicht von Staub, Dreck und kleinen Steinen. Sie hatte die Mitglieder der Jüngsten Generation sehen können. Clara und Jason, die nebeneinander kauerten und die Hand des anderen in einer festen Umklammerung hielten. Die Andere hatte schützend über ihren Köpfen gelegen. Licht war am Ende des Tunnels durch eine Öffnung geströmt, die vor dem Beben noch nicht da gewesen war. Hatte Leander das Beben verursacht? Keira kannte seine Fähigkeit, Erdspalten zu erschaffen, nur zu gut. Sie wusste, dass er die Macht dazu besaß, den Tunnel sogar aus Infernus heraus noch zu manipulieren. Wie sehr hatten sie es sich alle gewünscht, endlich wieder Licht zu sehen, nun war sich Keira nicht mehr sicher, ob sie wirklich wollte, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging.
»Es ist vorbei«, hatte sie gehustet und sanft Craigs Schulter gedrückt. Auch er hatte husten müssen, bevor er die Kontrolle über seine Stimme zurückerlangte.
»Was zur Hölle war das bitte?«
»Das war ein Erdrutsch der uns mit Licht belohnt hat. Frag mich nicht, ob das Leanders Werk war, das weiß ich nicht. Noch nicht.«
Die Aussicht auf die Oberfläche hatte ihr wieder etwas mehr Kraft zurückgegeben.
»Alle okay?«
Als ein allgemein zustimmendes Murmeln erklungen war, hatte Keira sich etwas ungeschickt auf die Beine gekämpft und mit ihrem gesunden Arm den Rest der Staubwolke aus ihren Kleidern geklopft. Nur ein paar Sekunden später war das gleiche Geräusch auch von anderen Stellen erklungen. Sie hatte nicht darauf gewartet, dass Craig oder jemand anderes sie stützte. Keira hatte sich ihren Weg durch das verstreute Geröll gebahnt, wobei sie eine Hand immer am Schwertgriff hielt. Langsam und bereit auf fast alles, war sie näher an die Öffnung, die vor wenigen Minuten noch eine solide Mauer gewesen war, herangetreten. Der Stein war glatt weggebrochen. Erst weiter hinten im Tunnel waren die Steine unkontrolliert gefallen und gebrochen. Der ganze Erdrutsch, sowie die Staubwolke, waren die Resultate der dort veränderten Tunnelwand. Und diese war nicht auf natürliche Weise verändert worden.
»Leander?«, hatte Craig dann doch gefragt.
»Ich weiß‘ nicht. Es schien mir etwas zu unkontrolliert. Das ist merkwürdig. Der Erdrutsch hätte uns sehr wohl umbringen können. Zerquetscht von Steinen. Wenn er uns wieder gefangen nehmen wollte, hätte er das nicht riskiert. Und wenn er uns umbringen wollte, warum hat er dann einen glatten Ausgang geschaffen? Das passt nicht zusammen.«
Sie hatte die Augen zusammenkneifen müssen, als sie durch die Öffnung trat, viel zu lange waren sie in tiefer Dunkelheit gewesen und hatten bei der plötzlichen Konfrontation mit dem Licht gebrannt. Zuerst hatte sie nichts weiter als Schemen erkennen können. Helle Lichtflecken, die zur Decke hin immer größer wurden. Ansonsten hat sie nichts weiter ausmachen können. Keine aufrechten schwarzen Silhouetten, die von Menschen stammten, keine gekrümmten, die ein Erdwesen erzeugen würde. Da war nichts, außer dem grellen Licht gewesen.
»Wo sind wir?«, hatte Clara gefragt. Sie hatte eine Hand vor ihre Augen gehalten und versucht, einen Ausgleich zu schaffen. Immer wieder hatte sie geblinzelt. Keira hatte schon länger im Licht gestanden und konnte allmählich die Träne ausmachen, die sich aus Claras gereizten Augen drückte. Auch die anderen Mitglieder waren nacheinander durch die kleine Öffnung getreten und fanden sich neben Clara ein. Keiner von ihnen schien dem Licht gewachsen zu sein. Jeder von ihnen hatte die Augen zusammengekniffen und versucht etwas von dem Licht wieder zu verbannen.
»Ich bin mir nicht sicher.«
Der Kontrast, der sich ihr darbot, war fast schon komisch gewesen, hätte sie nicht all die Hintergrundinformationen, die sie hierher brachten, gewusst.
Der Raum, in dem sie alle standen, war aus einem hellen, fast schon weißen Sandstein gewesen, der unnatürlich glatt erschien. Er hatte das Licht reflektiert, das durch die vielen meterhohen Fenster fiel. Es war kein geschlossenes Gebäude gewesen. Keira hatte auch nicht geglaubt, dass es als Gebäude bezeichnet werden konnte. Denn als sie ihren Kopf zur Decke hob, war dort keine gewesen. Sondern nur eine breite runde Öffnung, die ihnen den Blick in den Himmel ermöglichte. Außerhalb der Fenster, wenn sie den Kopf richtig neigte, hatte sie das ungeschliffene, raue Äußere eines Berges erkennen können. Weiße Säulen hatten jede Wand gerahmt. Im Kontrast dazu standen die Mitglieder der Jüngsten Generation. Sie waren dreckig, zerkratzt und blutig gewesen. Ihr ganzes Erscheinungsbild hatte vor dem reinen, hellen Stein nur noch armseliger gewirkt.
Sie hatten in einem Sechseck gestanden. In jeder Wand war eine Tür, in den Stein eingelassen.
»Wir sind in der Spitze eines Berges. Soweit oben, dass wir einen 360 Grad Blick hätten, würden wir aus den Fenstern sehen können.«
»Wir sind in einem Berg? Das hier, dieser Raum soll in einem Berg sein?« Ein Junge, der vielleicht fünfzehn war, als Leander ihn entführen ließ, hatte diese ungläubigen Fragen gestellt. Keira hätte bei dem erstaunten Gesicht am liebsten angefangen zu grinsen. Die meisten Menschen kannten Magie nicht und dieser Junge kannte, wenn überhaupt, nur die dunkle Seite, die Leander verwendete. Es war ihr jedoch unmöglich erschienen, dass dieser Raum auf eine andere Art entstanden sein sollte. Er wirkte viel zu erhaben, zu beeindruckend, zu überirdisch um von bloßer Menschenhand entstanden zu sein.
»Ja, das denke ich«, war ihre sanfte Antwort gewesen. Sie war die starke Anführerin oder so wurde sie zumindest von den Meisten gesehen. Aber sie selbst sah sich nicht nur als Kriegerin. Als das wurde sie vielleicht geboren, doch es definierte sie nicht. Sie war immer noch eine junge Frau von zwanzig Jahren, die sich an dem verblüfften Ausdruck eines Jungen erfreuen konnte.
»Keira komm mal hier rüber«, hatte Craig sie ruhig aufgefordert. Er hatte an der gegenüberliegenden Wand gestanden und eine Stelle ein paar Zentimeter neben der Tür betrachtet. Von Weitem hatte sie nur ein paar dünne Vertiefungen im Stein ausmachen können. Als sie neben ihn trat erkannte sie dann die Vertiefungen, die ein Wort bildeten. Italien.
»Das ist noch nicht alles.« Er hatte auf etwas über dem Wort gedeutet. Keira hatte es nicht bemerkt, so gebannt war sie von dem Geschriebenen gewesen. Über dem Wort war eine weitere Vertiefung im Stein. Sie hatte die Form des Medaillons gehabt. Keira war sich sicher gewesen, dass, wenn sie es besäße, es perfekt in diese Vertiefung passen würde. Fast so, wie ihr und Janlans Wappenringe. War das ein Zufall gewesen?
»Das ist doch unmöglich«, war es ihr leise entfahren.
»Was hältst du dann von dem hier?«, hatte er gefragt und deutete auf eine weitere Vertiefung unter dem Wort. Sie war nicht so fein gearbeitet wie die anderen beiden. Sie hatte keine glatten weichen Kanten gehabt. Sie war grob in die Wand gehauen worden und ähnelte einer offenen Hand.
»Das war Leander«, hatte sie gesagt, ohne darüber nachzudenken. Sie ließ Craig keine Zeit, auf ihren Kommentar zu antworten, sondern war zur Tür rechts von dieser gegangen. Dort hatte sie ein weiteres Wort gefunden, eine Vertiefung des Medaillons und den Abdruck der Hand. Diese Tür hatte das Wort Frankreich an ihrer Seite getragen. Immer schneller war Keira die Wände entlang gelaufen. Jedes Mal hatten ihre Augen das gleiche gesehen: Den Namen eines Landes, das Medaillon und die Hand. Vor einer Tür hatte sie kurz verharrt, war dann aber weiter zur nächsten gegangen.
»Italien, Frankreich, Schweiz, Deutschland, und Österreich. Das sind die Länder, zu denen die Türen mit einer Vertiefung des Medaillons und der einer Hand führen.«
Sie hatte zu niemand bestimmtem gesprochen, auch wenn alle ihr ganz genau zuhörten. Jason war einen Schritt vorgetreten. Sein braunes Haar hatte in dem Licht etwas rötlicher ausgesehen und seine Haut etwas durchscheinender gewirkt, als für ihn normal war.
»Und was ist mit der sechsten Tür?«
»Die sechste Tür … führt uns nach Hause-«
Keira war von kleinen Jubellauten übertönt worden, sodass niemand es hörte, als sie sagte: »Und es ist die Einzige, die weder das Medaillon, noch die Hand zum Öffnen braucht.«
Es war ein Detail, das Keira mehr gesagt hatte, als alles andere, was man in diesem Raum hätte platzieren können. Es sagte ihr, dass dieser Raum wahrscheinlich von dem Orden geschaffen wurde. Dass es ein zentraler Knotenpunkt zu den ganzen Ländern rund um Alanien gewesen war. Und es sagte ihr auch, dass Leander ihn genauso missbrauchte, wie das Medaillon und seine Magie. Er hatte alle anderen Türen für den Rest von Alanien verschlossen. Keiner würde sie öffnen können, dessen war sie sich sicher gewesen. Sie hatte nicht einmal den Drang verspürt, ihre Vermutung zu bestätigen. Sie hatte einfach gewusst, dass sie Recht hatte. Und wenn Leander dort für die Abkapselung Alaniens verantwortlich gewesen war, so war er es sicher auch für die komplette Abtrennung vom Rest der Welt. Warum hatte er ihnen diesen Raum gezeigt? Warum gab er ihnen einen Ausweg? Was hatte er bezweckt?
»Dann können wir jetzt Heim gehen?«, fragte der Junge, der schon einmal so mutig gewesen war und ihre Anführerin, Keira Kanterra, die Schützerin von Janlan Alverra, eine Frage gestellt hatte. Dieses Mal hatte sie wirklich grinsen müssen, auch wenn sie die Traurigkeit darin nur zu deutlich spürte und sie wusste, dass sie zumindest Craig nicht entgangen war.
»Ja, jetzt können wir nach Hause gehen.«
»Wenn es doch nur so einfach wäre«, war Keiras bitterer Gedanke gewesen. Ihr stand ein Krieg bevor und ihre beste Freundin hatte sich einem Monster ausgeliefert, um Keira die Chance zu geben, die Menschen vor diesem Krieg zu warnen. Keira hatte Craigs Hand auf ihrer Schulter gespürt und sich zu der Tür, neben der Alanien in die Wand gehauen stand, umgewandt.
Die schwer aussehende Tür hatte sich mühelos öffnen lassen und den Weg in einen weiteren Tunnel freigegeben. Doch dieser hatte einen festen Boden und glatte Wände, die ganz ähnlich bearbeitet waren, wie die des Raums. Ein erleichterter, leiser Seufzer war Keiras Kehle entwichen, als sie die regelmäßigen Fackeln gesehen hatte, die mit einem Mal entflammt waren und ihr warmes Licht durch den Tunnel flackern ließen.
»Ich finde einen Weg zurück«, hatte sie zu sich selbst gemurmelt, bevor sie den Tunnel betrat und merklich Leanders Reich verließ.
Eine Ewigkeit waren sie durch den Tunnel gelaufen, der sie zum Fuß eines Berges brachte und sie der Welt zurückgab. Clara hatte die Weitsicht gehabt, ihr Handy nie wieder einzuschalten, nachdem sie sich eingestehen musste, dass sie in Infernus keinen Empfang hatte. So war es Keira möglich gewesen, Ryan sofort anzurufen, als sie aus dem Tunnel traten. Ryans Überraschung und Freude waren unüberhörbar gewesen, als er an sein Handy ging und Keiras Stimme aus den Lautsprechern erklang. »Ich habe gehofft dass du noch am Leben bist. Wo bist du? Ist Janlan auch bei dir? Wir haben von niemandem etwas über euch gehört.« Keira hatte es schwer gehabt, seinen Schwall an Fragen zu unterbrechen, um auch nur eine Antwort unterbringen zu können. Schnell hatte Ryan festgestellt, dass sie sich nur wenige Kilometer außerhalb von Galin befanden. Es war das Beste, worauf sie hatten hoffen können. Galin war immer noch der Stützpunkt des ehemaligen Widerstands. Ryan hatte ihnen versprochen, sofort mit mehreren Helikoptern loszufliegen und sie alle in die Stadt zu bringen. Sie war so erleichtert gewesen, dass sie am liebsten angefangen hätte zu weinen. Sie war so erschöpft gewesen und so hungrig, dass sie sich nicht einmal mehr sicher war, wie sie sich überhaupt noch auf ihren Beinen halten konnte. Dass sie alle überhaupt noch standen, atmeten und tatsächlich in der Lage waren, auf die Helikopter zu warten, war ein Wunder gewesen. Sie hatten schon ihr ganzes Wasser aufgebraucht, als sie den sechseckigen Raum erreicht hatten. Nie hätten sie es zum anderen Ende des Tunnels, nach Alanien, geschafft, ohne zu verdursten, wenn da nicht die kleinen Brunnen gewesen wären, die immer wieder in der Wand eingelassen waren und klares, kaltes Wasser bereithielten. Keira war regelrecht in Ryans Arme gefallen, als dieser aus einem der Helikopter sprang und zu ihr eilte. Es war alles andere, als eine Szene aus einem Hollywoodfilm. Da war kein leidenschaftlicher Kuss gewesen, keine Umarmung, die die Welt anzuhalten schien. Kein wunderschönes Paar, das alle anderen in den Schatten stellte. Keira hatte Ryan gerade noch begrüßen können, bevor auch der letzte Rest ihrer Kraft aus ihrem Körper gesickert war und die ganze körperliche und geistige Anstrengung die Kontrolle, die sie so lange umklammert hatte, übernahm. Ryan hatte sie nur noch auffangen können, als ihre Knie nachgaben. Keira erinnerte sich kaum noch daran, wie sie auf dem Dach eines Hotels aus dem Helikopter stieg und den Weg in eine der großen Suiten fand.
Die Suite, die sie seit dem Tag an dem sie feststellen musste, dass es der zehnte August war, nicht mehr verlassen hatte. Der fünfzehnte war der Tag, vor dem sie sich so fürchtete. Von dem sie nicht wusste, wie sie ihn überstehen sollte. Der fünfzehnte war Janlans zwanzigster Geburtstag. Sie hatten schon so viele Pläne gehabt, so viele Ideen, wie sie ihn am besten feiern könnten. An Keiras eigenem zwanzigstem Geburtstag waren sie alle in ein wunderschönes Hotel in Weralt gefahren, das weit über den Baumkronen lag und einen unglaublichen Ausblick bot. Es war ein perfekter Geburtstag. Sie und Janlan waren glücklich gewesen. Glücklich in dem Glauben, dass die Welt sicher war. Glücklich mit ihren Partnern. Sie hatte Janlan einen ebenso schönen Tag machen wollen. Sie davon ablenken, dass sie keine Familie hatte, die sie umrankte und ihr gratulierte. Sie hatte ihr zeigen wollen, dass sie alle ihre Familie waren. Dass die Welt perfekt sein konnte, für eine kurze Zeit zumindest und nun... Wo war Janlan jetzt? Einen Tag vor ihrem Geburtstag? Sie hatte alles aufgegeben. Alle von sich gestoßen, die sie liebte und die ihr so viel bedeuteten. Sie hatte ihren eigenen freien Willen geopfert, ihr Leben unter der Sonne. Und wofür? Damit Keira die Menschheit vor einem Krieg warnen konnte, an den niemand glauben wollte. Damit sie die Chance hatte, etwas Unmögliches zu erreichen. »Rette die Welt.« Wie sollte sie die Welt retten, wenn diese nicht einmal wusste, dass ihr Ende bevorstand? Keira sackte auf dem elfenbeinweißen Sofa zusammen, das die Mitte des kreisrunden Raumes einnahm, der an einer Seite gänzlich verglast war. Sie hatte keine Augen für den Ausblick, den dieses Fenster gewährte. Sie hatte keine Augen für irgendetwas anderes, als die Zukunft, die ihr so unglaublich düster erschien. Sie merkte schon nicht mehr, wie sie anfing zu weinen. Sie hatte es in den letzten Tagen so oft getan, dass ihr Gesicht eine ständige Röte hatte. Sie trug einen Pyjama, den Ryan ihr in der Hotelboutique gekauft hatte und darüber einen dieser unglaublich weichen Bademäntel. Sie vergrub gerade ihr Gesicht in ihren Händen, als es leise an der Tür klopfte. Sie wollte keinen Besuch. Niemanden sehen und mit niemanden reden. Sie fühlte sich völlig verloren, gar nicht wie die Keira, die Janlan und, ja sogar sie selbst kannte. Sie war eigentlich nicht so. So war nicht schwach, nicht unsicher, nicht weinerlich und doch saß sie hier und hatte jede Hoffnung eigentlich schon aufgegeben. Sie erkannte sich selbst nicht. War sie nicht immer die besonders starke von ihnen beiden. Diejenige, die Pläne entwickelte, wenn es aussichtslos schien. Diejenige, die sich lieber einem Kampf stellte, als davonzurennen. Diejenige, die einen Ausweg aus der Gefangenschaft des Zirkels gefunden hatte? Oder war das überhaupt nicht sie gewesen? Waren sie dort nie wirklich gefangen? War das auch schon ein Teil von Leanders Plan gewesen? Hatte er gewusst, dass sie Janlan befreien würde, egal um welchen Preis? Wie sollte sie wissen, was noch Wahrheit war und was die eingefädelten Ereignisse von Leander? Wie sollte sie noch an irgendetwas glauben können? Und wenn es ihr so erging, wie musste sich dann erst Janlan fühlen? Janlan, die so gutherzig war, so mitfühlend, so liebevoll und so verschlossen. Wie fühlte sie sich, wissend, dass alles, was sie im letzten Jahr durchlebt, alles was sie überstanden, alles was sie erreicht hatte, nur ein winziger Schachzug in Leanders Spiel war. Neue Tränen strömten aus ihren Augen und verwischten ihre Sicht. Sie brannten auf ihrer geschunden und gereizten Haut. Die Brust schnürte sich ihr zu und sie bekam Angst, zu hyperventilieren. Was war bloß los mit ihr? Erneut klopfte es an der Tür. Sie hatte schon wieder ganz vergessen, dass dort jemand stand, der darauf wartete, dass sie ihn hereinbat.
»Ja—«, war alles, was sie herausbrachte, bevor ihre Stimme abbrach und nur noch ein leises Kratzen herauskam.
»Keira? Ich bin‘s Ryan.«
Fast hätte sie angefangen albern zu kichern. Etwas, was so absurd war in ihrem jetzigen Gemütszustand, dass es nur dafür sprach, wie weit sie wirklich neben sich stand. Ryan war immer so höflich. Als ob sie ihn nicht schon an seiner Stimme erkennen würde. Und überhaupt, dass er so lange darauf wartete, dass sie ihn hereinbat.
»Jetzt komm schon rein, Ryan«, sagte Keira, als sie ihr Kichern unter Kontrolle hatte. Ryan kam direkt zu ihr und setzte sich neben sie auf das gemütliche Sofa. Er nahm sie in den Arm, ohne etwas zu sagen. Keira hatte nicht gewusst, wie sehr sie sich nach einer Umarmung gesehnt hatte, bis sie sich völlig in Ryans verlor. Es tat gut, seine Nähe zu spüren, doch es war nur ein kleiner Trost, der sie nicht lange würde beruhigen können.
»Geht es dir etwas besser?«, flüsterte er ihr leise fragend ins Ohr. Keira vergrub ihr Gesicht nur noch mehr in seiner Schulter und fuhr mit ihren Fingern durch sein blondes Haar, bevor sie kaum merklich den Kopf schüttelte.
»Ich kann an nichts anderes denken, als Janlans Geburtstag morgen. Sie ist in jedem meiner Gedanken und ich fühle mich so unglaublich machtlos. Ich weiß nicht, wie ich ihr helfen kann. Wie ich sie retten soll.«
Ryan bewegte sich unruhig und löste sich dann vorsichtig von Keira. Als sie in sein Gesicht sah, wurde ihr noch etwas übler.
»Keira... heute ist der fünfzehnte.«
Er sagte es so sachte, dass es deutlich war, wie besorgt er um sie war. Wie behutsam er sie berührte. Wie vorsichtig er mit ihr umging, das alles zeigte ihr nur noch mehr, dass sie sich nicht wie sie selbst verhielt.
»Wie ... Nein, heute ist der vierzehnte.«
Ryan schüttelte traurig den Kopf.
»Nein Keira. Es ist der fünfzehnte, deshalb bin ich gekommen. Ich wollte sehen, wie es dir damit geht. Vielleicht bist du leicht durcheinander gekommen, weil du so viel geschlafen hast.«
Er küsste sie vorsichtig auf die Stirn, bevor er wieder ihre braun-grünen Augen fixierte.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Keira fühlte sich, als hätte ihr gerade jemand den Boden unter den Füßen weggezogen.
»Es ist wirklich der fünfzehnte?«, fragte sie noch einmal ungläubig nach. Ryan nickte nur. Wie hatte sie einen ganzen Tag verlieren können?
»Wo... wo ist Craig?«
Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen und die Gefühle zu ersticken, die sich gewaltsam an die Oberfläche drücken wollten. Wie meist, wenn Keira sich mit einer Situation konfrontiert sah, die sie als bedrohlich oder unangenehm empfand, suchten ihre Hände die Griffe ihrer Schwerter. Sie langten jedoch ins Leere. Ihre Schwerter lagen unachtsam in einer Ecke ihres Schlafzimmers. Sie waren noch völlig verdreckt und blutig. Sie hatte es bisher nicht über sich gebracht, sie zu putzen. Das würde sie viel zu sehr an den Kampf an der Statue und ihre anschließende Flucht erinnern. Sie trug immer noch einen Verband an ihrem Arm, wo ein Dolch eines Erdwesens eine tiefe Schnittwunde hinterlassen hatte. Ein erneuter Kuss auf ihre Stirn holte sie wieder zurück, aus ihren immer dunkler werdenden Gedanken. Es war wie ein Sog, dem sie kaum entkommen konnte, wenn sie sich einmal an seinen Ausläufen befand.
»Bist du noch bei mir?«, erkundigte sich Ryan sanft. Keira schluckte und versuchte, den stechenden Kloß in ihrem Hals wieder hinunter zu drücken. Sie wollte nicht erneut anfangen zu weinen. Nicht jetzt, wo ihre Tränen endlich für einen Moment versiegt waren.
»Ja, natürlich ... Hast du mir gesagt wo Craig ist?«
Ryan seufzte kaum hörbar. Keira bekam es nur durch das plötzlich stärkere Heben seines Brustkorbs mit.
»Ich habe ihn kurz im Flur gesehen, als ich auf dem Weg zu dir war. Ich wollte mit ihm reden, ihn fragen, wie er mit dem Tag heute klarkommt und ihm meine Gesellschaft anbieten. Aber er verhält sich fast genauso merkwürdig wie du-«
Ryan stockte, als im klar wurde, was er eben gesagt hatte. So viel hatte er nicht sagen wollen, das war Keira klar.
»Ich-, Keira-, Entschuldige«, murmelte er, plötzlich überfordert, vor sich hin. Er wollte gerade wieder anfangen, etwas zu sagen, als sie ihm zuvor kam.
»Du hast Recht. Ich verhalte mich merkwürdig. Das weiß ich selbst. Ich weiß nur nicht, wo es herkommt. Ich fühle mich in meiner eigenen Haut unwohl. Ich fühle mich nicht, wie ich. Ich weiß auch nicht-«, sie unterbrach sich. Sie wusste nicht was sie sagen, oder wie sie es genauer erklären sollte. »Wo wollte Craig hin?«
Sie versuchte, wieder zu Craig zurückzugehen, um ihre Gedanken nicht erneut in einem unerträglichen Netz zu verlieren.
»Ich glaube, er wollte hoch auf das Dach. Aber ich weiß es nicht genau.«
Sie nickte und schaffte es, sich zum Aufstehen zu bringen. Nur langsam löste sie sich ganz aus Ryans Armen und lief zu der Tür, hinter der sich das teuer möblierte Schlafzimmer befand. Bevor sie das Zimmer betrat, sagte sie über ihre Schulter zu Ryan, der sich nicht bewegt hatte: »Warte kurz, dann ziehe ich mich um und wir gehen ihn suchen.«
Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern zog die Tür hinter sich zu. Sie hatte etwas zu tun und das war gut. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil ihrer Kontrolle zurückerlangen und etwas mehr Keira sein, als diese schwarze Hülle, die sie die letzten Tage beherrscht hatte. Sie holte eine Jeans aus dem Schrank, die mehrere gewollte Risse und Löcher hatte. Sie zog das erstbeste Oberteil an, das ihr in die Hände fiel. Sie warf einen kurzen Blick in den Spiegel, der über einer Art Schminktisch aufgehängt war und sah sofort wieder weg. Ihr Gesicht sah furchtbar aus, rot und aufgequollen. Normalerweise würde sie so nie ihr Zimmer verlassen und zumindest ein wenig Make-up auftragen, um nicht wie ein Zombie auszusehen, doch danach war ihr nicht. Es war ihr sogar egal, ob sie jemand so sah. Was sollte es sie kümmern? Sie hatte weitaus größere Sorgen, als die Meinung von Wildfremden auf dem Hotelflur.
Wenige Minuten später betrat sie, Ryans Finger mit ihren verschränkt, die Dachterrasse. Ein strahlendes Blau erstreckte sich über alle Himmelsrichtungen und empfing sie wie ein hoffnungsvoller Silberstreifen. Die Dachterrasse war ein unerwartet grüner Punkt, mitten in einer grauen Stadt. Weiße Steinwege führten zu den verschiedensten Plätzen. Manche mehr hinter Pflanzen versteckt als andere. In der Mitte der Terrasse konnte sie einen achteckigen Pavillon sehen, der aus verschnörkelten Metallmustern bestand und von zwei verschiedenen Arten von Kletterpflanzen umrankt war. Kleine Farbflecke leuchteten ihr entgegen und zeugten von unzähligen Blüten. Saftiges, grünes Moos bedeckte naturbelassene große Steine, die immer wieder einen netten Bruch in die Reihen aus Blumen brachten. Lavendel säumte den Weg auf dem sie gerade lief. Keira war sich sicher, dass Craig sie kommen hörte, immerhin knirschten die kleinen weißen Steine unter ihren Füßen. Dennoch zeigte er keine Reaktion auf ihre Ankunft. Er stand völlig regungslos da und sah weiter unbeeindruckt in die Ferne.
»Craig?«, fragte sie vorsichtig. Er dreht sich kurz zu ihr, zog eine Augenbraue kaum merklich hoch und wandte sich dann wieder von ihr ab. Jetzt wusste Keira ganz genau, was Ryan mit merkwürdig gemeint hatte.
»Du siehst nicht gerade wie du selbst aus«, sagte er ohne auch nur wieder in ihre Richtung zu sehen. Dieser Satz brachte Keira völlig unerwartet aus der Fassung. Sie hatte Craig nicht mehr gesehen, seit sie aus den Helikoptern gestiegen waren. Wie konnte er das wissen? Sie sah vielleicht nicht aus wie sonst, aber das war es nicht, was er meinte. Man hätte es so verstehen können, aber so hatte er es definitiv nicht gemeint. Er meinte genau das, was sie fühlte. Unbewusst hatte sie ihren Griff um Ryans Hand verstärkt, sodass dieser einmal kurz zischend Luft holte. Keira bekam es nur am Rande mit.
»Woher weißt du das? Wie meinst du das?«, brachte sie heraus, als sie sich ein wenig gefangen hatte. Er zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Ich weiß es einfach.«
Er sah sie immer noch nicht an. Was langsam, aber sicher ihr Temperament zurück an die Oberfläche holte. Sie amtete kontrolliert ein und aus, um es zumindest noch für einen Augenblick zu zügeln.
»Craig«, sagte sie betont ruhig, »es wäre nett wenn du mich ansehen würdest.«
»Ich würde dich ja doch nicht sehen«, gab er ungerührt zurück.«
Merkwürdig, war mehr als untertrieben, wie Keira nun beschloss. Was ging hier bloß vor sich? Was war mit Craig los? Und was war mit ihr?
»Und das soll heißen?« Ein hitziger Unterton hatte sich ungewollt in ihre Stimme geschlichen. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Ryan den Mund öffnete um etwas zu sagen, Keira schüttelte nur warnend den Kopf, woraufhin er völlig stumm blieb.
»Keira, ich möchte nicht reden. Ich möchte dich nicht sehen und ich möchte auch nicht sie in dir gespiegelt sehen.«
Wut und völliges Unverständnis krochen in Keiras Brust empor und schnürten jede andere Emotion ab. Sie verstand nicht, was er meinte, aber ihr Stolz und der Gedanke an sie — wie Craig Janlan benannt hatte — ließen es nicht zu, dass sie erneut nachfragte. Einmal war mehr als genug. »Du bist nicht der einzige, der Janlan verloren hat!«, fauchte sie.
Dass er sich auch bei diesen Worten nicht zu ihr drehte, raubte ihr fast den letzten Funken der Selbstbeherrschung. Sie hörte gerade noch seine Antwort, als sie sich auf der Stelle umdrehte und mit Ryan an ihrer Seite davon stürmte.
»Doch, das bin ich.«
Keira stürmte zurück in ihre Suite. Ihre Hand hielt die von Ryan immer noch fest im Griff, sodass er keine andere Wahl hatte, als ihr zu folgen. Sicherlich wäre er ihr ohnehin hinterher gekommen, aber diese Wahl hatte sie ihm nicht gelassen. Sie wollte nicht alleine sein. Erst recht nicht mehr nach diesem Gespräch mit Craig. Sie schlug die Tür der Suite etwas heftiger zu, als sie beabsichtigte, eigentlich hatte sie sie überhaupt nicht laut schließen wollen, aber auch Keira konnte manchmal nicht jede ihrer Bewegungen kontrollieren.
»Ugggghhhhhh!«, platzte es aus ihr heraus, bevor sie es unterdrücken konnte. »Was sollte das bitte alles bedeuten! Seit wann hat Craig ein Rätselbuch verschluckt! Wie kann er sich so aufführen! Und das heute! Doch das bin ich«, äffte Keira seinen letzten Satz nach. »Was soll das heißen!« Sie wirbelte zu Ryan herum, so schnell, dass ihre blonden Haare für eine Sekunde jeden Zentimeter ihres Gesichtes verbargen. »Hast du auch nur ein Wort verstanden? Hat er sonst noch irgendetwas zu dir gesagt, als du ihn gesehen hast? Und was sollte das Ganze über spiegeln? Ist er die neue Inkarnation von Janlans Großvater! Wie kann er sich gerade heute so verhalten! Ich habe Janlan genauso an Leander verloren, wie er! Es ist Janlans Geburtstag und er verhält sich, als würde er sie nicht besser kennen, als ... als ...Argh ich weiß auch nicht. Als hätte er sie eben nie gekannt. Wie kann er das tun!«
Ryan unterbrach Keiras Monolog, in dem er sie an den Armen packte und sie zwang, zumindest für einen Moment, stehen zu bleiben und ihn anzusehen. Sie war wie ein eingesperrtes Tier im Zimmer entlang gepirscht und hatte nur darauf gewartet, jemanden mit ausgefahrenen Krallen anzuspringen.
»Vielleicht ist es so für ihn einfacher damit umzugehen. Du solltest nicht so streng mit ihm sein.«
Keira schüttelte seine Arme ab, nicht im Geringsten ruhiger. Im Gegenteil, er hatte es geschafft, sie noch etwas wütender zu machen.
»Und was meinst du jetzt bitte damit? So hilft er mir nicht. So können wir Janlan nicht helfen! Zu verleugnen, wo sie ist, hilft weder ihm noch mir und ganz sicher nicht ihr!«
»Keira«, fing Ryan ruhig an. »Ich weiß nicht, ob es etwas gibt, das wir tun können. Nicht jetzt. Nicht, wenn alles, was du erzählt hast stimmt. Wenn Leander auf dem Weg an die Erdoberfläche ist, mit einer Armee von diesen Dingern, wie das was in Galin auf der Straße gefunden wurde. Wenn-«
»Was! Was hast du gesagt!«, fuhr sie ihn jetzt ganz direkt an. Sie war so schnell zu ihm herumgewirbelt, dass er vor Überraschung fast rückwärts gestolpert wäre.
»Wolltest du mir gerade sagen, dass wir nichts unternehmen werden um Janlan zu retten? Wolltest du mir das allen Ernstes an ihrem Geburtstag erzählen! Hast du vergessen, von wem du redest? Janlan, Ryan. Janlan, meine beste Freundin! Das Oberhaupt des Ordens von Alverra. Diejenige, die letztes Jahr nicht nur dein Leben gerettet hat. Diejenige, die sich geopfert hat, damit ich dir das ganze überhaupt erzählen konnte. Von ihr redest du doch, oder?«
Er wich ihrem Blick aus, der so durchdringend, war dass er ihm einfach nicht standhalten konnte. Die eine Sekunde, die er ihn gesehen hatte, war wie ein unkontrollierter Waldbrand gewesen. Ryan wusste sehr wohl, wie nahe sich Keira und Janlan standen, wie viel sie verband, mehr, als er vielleicht verstand.
»Ich weiß, wer sie ist«, gab er leise zurück. Es war ein erneuter Versuch, sie zu beschwichtigen, aber dafür war es mehr als zu spät. Er hätte nie davon anfangen dürfen. Nicht heute, obwohl sie an einem anderen Tag sicherlich nicht wirklich anders reagiert hätte.
»Aber du hast es eben selbst gesagt. Sie hat sich willentlich und, vor allem, wissentlich geopfert. Du hast es mir selbst erzählt, am nächsten Morgen, nachdem ich dich aus dem Wald geholt habe. Du hast mir erzählt, wie Leander Janlan offenbart hat, dass alles, was passiert ist, sein Plan gewesen war. Dass es alles allein dazu diente, diesen Krieg zu starten und dass er diesen überraschend beginnen wollte. Ohne, dass die Menschen etwas ahnten und sich würden wehren können. Das hast du mir erzählt und dass Janlan genau das verhindern wollte. Ich denke, sie hätte es nicht gewollt, dass du ihre Rettung über den Krieg stellst.«
»Das ist es, was du aus allem was passiert ist, aufgreifst? Dass, was dir gerade am besten passt! Sie ist vielleicht willentlich da geblieben, aber sie hat nicht wirklich eine Wahl gehabt! Er beherrscht ihren Körper! Sie konnte nicht gehen. Sie konnte nicht rennen. Sie konnte nicht einen einzigen Schritt vorwärts tun und glaube mir Ryan, das wollte sie! Sie wollte fliehen! Zusammen mit mir und Craig! Sie wollte raus aus der Dunkelheit, raus aus dieser Stadt, raus aus dem Gefängnis, das er um sie erbaut hat! Und wage es nicht, noch einmal von ihr zu reden, als wäre sie tot! Janlan ist nicht tot! Sie lebt und leidet jede Sekunde! Du kannst dir nicht im Geringsten vorstellen, was er ihr antut und alles was du dir vorstellst, kommt der Wirklichkeit nicht einmal im Entferntesten Nahe! Und was glaubst du überhaupt, wie weit wir ohne sie kommen? Alanien hat keine Soldaten, keine Armee, die es Leander entgegen stellen kann. Wir haben nichts! Nichts, was ihn auch nur ein wenig aufhalten würde. Aber Janlan, Janlan würde zumindest einen winzigen Ausgleich schaffen. Du hast sie nicht kämpfen sehen. Sie hat es mit so vielen dieser Kreaturen aufgenommen. Sie ist eine tödlichere Kriegerin als ich es bin! Sie würde einen ganzen Teil seiner Armee alleine ausschalten und mit mir-«
Ryan unterbrach sie hitzig, noch bevor sie ihren Satz beenden konnte: »Und dabei würde sie noch jeden von uns umbringen, der ihr in die Quere kommt! Stimmt doch, oder nicht? Wenn ihre Augen rot sind, ist es völlig egal, wer ihr vor die Dolche läuft. Sie würde jeden umbringen. Das macht keine Kriegerin aus, höchstens eine Mörderin! Wir können niemand im Widerstand gebrauchen, der so unberechenbar ist! Vielleicht ist es besser, wenn sie weit unter der Erde bleibt. Fern von allen, den sie schaden kann. Fern von allem, was wir versuchen zu erreichen!«
Ein pfeifender Knall erklang, als Keiras offene Hand mit voller Kraft auf seiner Wange aufschlug. Ryan zuckte nicht einmal mit den Wimpern. Er hob auch nicht seine Hand zur Wange, um die Schwellung zu ertasten, die sich dort bereits abzeichnete. Keiras Brust hob sich unkontrolliert schnell. Sie konnte nicht glauben, was er eben gesagt hatte.
»Ist das alles, woran du denkst? Der Widerstand?«, fragte sie leise und bedrohlich. Keiner von ihnen hatte sich auch nur einen Zentimeter von dem Anderen wegbewegt. Ihre Gesichter waren rot vor Zorn, nicht zu vergessen die Ohrfeige, die sie ihm gegeben hatte.
»Der Widerstand, das ist deine Priorität nicht wahr? Hast du überhaupt nach mir gesucht? Oder hast du mich genauso schnell als ersetzbar abgestempelt? Beiseite gekehrt, wie einen wertlosen Bauer, der nächste steht ja sicher schon bereit! Bereit geopfert zu werden, in deinem persönlichen Plan. Habe ich nicht Recht Ryan? Sag es mir. Wie viele Wochen hast du nach mir gesucht? Nach der Frau, zu der du ‚ich liebe dich‘ gesagt hast. Wie lange? Wie lange hast du dich vom Widerstand abgewendet, um nach mir zu suchen? Na los, sag es mir.«
Jede Emotion war aus ihren letzten Worten verschwunden. Sie konnte nicht glauben in was für eine Katastrophe sich dieser Tag entwickelt hatte. Noch nie hatten sie und Ryan sich derart angeschrien. Noch nie hatte einer von ihnen solch verletzende Worte ausgesprochen. Doch sie glaubte nicht, dass sie falsch lag. Sie konnte es in seinen hellblauen Augen sehen. Die Distanz, die sich zwischen ihnen aufgebaut hatte, schon lange, bevor sie in der Erdspalte verschwunden war. Er hatte schon eine Weile nicht mehr so viel mit dem Jungen gemein, den sie vor einem Jahr im Café kennenlernte. Der hinter dem Tresen gestanden hatte und Gläser putzte, während sie ununterbrochen beobachtete. Jetzt funkelte Ryan sie nur zornig an. Nicht ein Wort kam über seine Lippen, um sich zu verteidigen. Er öffnete seinen Mund einen Spaltbreit, nur um ihn dann wieder zu schließen und auf der Stelle herumzuwirbeln. Die Tür knallte ins Schloss noch bevor Keira auf seine Bewegung reagieren konnte. Sie stand immer noch auf derselben Stelle, ihre Hände hatte sie unbewusst zu Fäusten geballt.
»Das ist dann wohl meine Antwort«, zischte sie leise in den leeren Raum.
Eine Hand streifte mir sanft über die Wange und ließ mich unwillkürlich lächeln. Ich war noch halb in den Armen des Schlafes gefangen, aber es war eine so vertraute Geste, die mich mehr als einmal aus meinen Albträumen gerettet hatte. Craigs sanfte Hand, die liebevoll über meine Wange streifte und die ungezähmten Strähnen meines Haares aus meinem Gesicht strich. Meist folgte dieser Berührung ein leise geflüstertes: »Guten Morgen«. Nur widerwillig flatterten meine Augenlider auf. Ich wollte in diesem glücklichen Zustand bleiben. Zwischen Bewusstsein und Ohnmacht. In dem ich mich so sicher und glücklich fühlte. In dem nicht die Probleme von allen anderen auf meinen Schultern lasteten. In dem ich alleine die Anwesenheit von Craig spürte. Wie wundervoll es war, aufzuwachen und sich nicht fürchten zu müssen. Zu wissen, dass da jemand war, der einen schützenden Arm um mich legte, selbst wenn ich schlief und der mich sanft weckte, wenn die Welt nicht länger im Dunklen bleiben wollte. Schummrig gelbes Licht zuckte durch meine Augenlider, die mich eben noch in eine so warme Dunkelheit gehüllt hatten. Es war ein merkwürdiges Licht. Es hatte nicht den warmen orangen Unterton von Sonnenlicht früh am Morgen. Es war düster und bedrohlich, als würde ihm ein wichtiger Bestandteil fehlen, um es echt wirken zu lassen.
»Guten Morgen«, sagte nun eine Stimme, die nicht in meinen Gedanken, aus einer weit entfernten Erinnerung, nachhallte. Meine Augen flogen gänzlich auf und waren für ein paar Sekunden mit dem Licht überfordert, das sie vollkommen blendete. Das war nicht Craigs sanfte Stimme gewesen. Nicht seine liebevolle Berührung an meiner Wange. Nicht sein Arm, der mich schützend an seinen Körper hielt. Eis durchzuckte meine Adern und entzog meinem Körper jegliche Wärme, an die ich mich eben noch festgeklammert hatte.
»Leander«, zischte es aus meiner Kehle, als ich mich ruckartig aus seiner Nähe zurückzog. Das perfekte Gesicht meines Gefängniswärters lächelte mich warm an, als ob nichts an meinem Verhalten auch nur annähernd feindselig gewesen wäre. Meine Hände zuckten ganz automatisch zu meinen Waden. Nur fanden sie dort nichts. Die Stiefel mit meinen Dolchen lagen in einer Ecke des Schranks. Unerreichbar von dem Bett, an dessen Kopfende ich mich gerade presste. Ohnehin würden sie mir nichts nützen. Meine Hände würden in der Luft stoppen, als wären sie auf eine undurchdringliche Wand gestoßen, noch bevor sie überhaupt in die Nähe von Leanders Haut gekommen wären. Ich spürte seine Augen zu deutlich auf meinem Körper und zog mir die Decke noch weiter unter das Kinn. Ich hatte ein Nachthemd an, doch das half nicht viel, wenn es Leander betraf. Seine Augen fühlten sich immer an, als würden sie durch jeden Stoff dringen, durch jedes Hindernis, das sich zwischen ihm und mir aufstellte.
»Es ist schön zu sehen, dass du deine Hand wieder ganz normal verwenden kannst. Ich hatte befürchtet, dass sie zu wenig Zeit hatte vollständig zu heilen. Wie ich jedoch sehe, war das ein unnötiger Gedanke.«
Er lächelte mich so liebevoll an, dass es fast schon ehrlich wirkte. Zumindest, wenn man die Geschichte und die Botschaft hinter seinen Worten nicht kannte. Meine Hand – meine linke Hand, um genau zu sein – war inzwischen drei Mal von ihm geheilt worden. Das letzte Mal war es nur drei Tage nach dem vorangegangen Bruch gewesen. Der Preis, den ich hatte zahlen müssen, für den Versuch, ihm einen meiner Dolche zwischen die Schulterblätter zu stoßen. Mein Arm hatte sein Ziel nie erreicht, stattdessen hatte Leander sich zu mir umgedreht und mir einen unglaublichen Schlag gegen den Brustkorb versetzt, der mich rücklings gegen die Wand schleuderte. Meine Hand hatte noch vor meinem Rücken mit der Wand Bekanntschaft gemacht und ihrem Druck nicht standhalten können. Noch jetzt konnte ich das knirschende Bersten meiner Knochen hören. Es war ein Geräusch, das mir, mehr als die Schmerzen selbst, meinen Magen umgedreht hatte.
»Ich habe bereits erwartet dass du wach bist. Immerhin ist heute kein gewöhnlicher Tag«, fuhr Leander fort, als ich auf sein zuvor Gesagtes nicht einging. Verwirrung musste für eine Sekunde auf meinem Gesicht erschienen sein, denn sein helles, unmenschliches Lachen erklang und drang von allen Seiten an mein Ohr. Es war melodisch, auf eine dunkle, verführerische Weise. So ungefähr musste sich der Gesang von Sirenen anhören. Wohlklingende Töne, kurz bevor ihre Falle zuschnappte und einem sein Leben entglitt. Leander hatte Jahrhunderte damit verbracht, sich zu dem zu machen, das er nun war. Ein perfektes Bild, das jeden verzaubern und vor allem täuschen sollte, denn was sich hinter seiner Maske verbarg, war so furchtbar, dass es einen womöglich in den Wahnsinn treiben konnte. So zumindest fühlte es sich langsam für mich an. Das, was meine Augen jeden Tag sahen, war mit dem, was mein Herz spürte, nicht kompatibel und doch wusste ich, was die Wahrheit war. Ein Trost, der ein solcher nicht wirklich sein konnte. All diese Gedanken zischten durch meinen Kopf, in den wenigen Sekunden, die mein Verstand brauchte, um sich zu sammeln.
»Und was für ein Tag wäre das?«, fragte ich, mit einem vor Gift triefenden Ton. Leander stand auf und umrundete das Bett, bis er direkt neben mir an der Bettkante stand. Seine grünen Augen stachen in meine Seele. Ich spürte, wie mein Körper steif wurde. Wie ich jede Kontrolle über ihn verlor. Die Kontrolle, die ich eben noch besessen hatte, war mir mit einem Mal gewaltsam entrissen worden. Ich wusste, was nun folgen würde. Ich wusste es und ich fürchtete es. Ich versuchte, meinen Körper darauf vorzubereiten, noch mehr versuchte ich, meine Seele gegen die Folgen zu stählern. Gegen die Qualen, die ich noch lange danach spüren würde. Leanders warmer, süßer Atem traf auf mein Gesicht, das sich ungewollt in seine Richtung lehnte. Ich kam ihm entgegen, obwohl ich nichts anderes wollte, als in die entgegengesetzte Richtung zu rennen. So weit, wie nur irgendwie möglich, weg von diesem Albtraum, der Realität war.
»Es ist dein Geburtstag«, hauchte er, bevor seine Lippen sich auf meine legten. Es war ein schlagartig ausbrechender Waldbrand, der sich in meine Kehle vorarbeitete, in meine Lunge und schließlich in mein Herz, wo er alles auslöschte, außer dem Teil meiner Selbst, den ich vielleicht noch mehr hasste als Leander. Während meine Seele brannte, mein Wesen sich unter quälenden Schmerzen krümmte, entflammte ein Rot in meinen Augen, welches das Rot eines jeden Feuers übertraf. Es loderte durch meine Adern und erstickte meine bewussten Gedanken. Erstickte alles, was mich ausmachte. Meine Freundschaft zu Keira, meine Liebe zu Craig, der Verlust meiner Familie. Alles. Die Blutsicht verlangte alles ein. Sie ließ es nicht zu, dass mein Bewusstsein weiter an diesen Dingen festhielt. Sie löschte den Schmerz seiner Berührung, nur um einen noch viel schlimmeren zu entzünden. Meine Lippen schmiegten sich um seine und mein Körper wurde von ihm angezogen, während meine Seele schrie. Es war meine persönliche Hölle, die er jeden Tag aufs Neue wiederholte. Er wollte die rote Janlan. Er liebte die rote Janlan. Ich hasste sie. Ich fürchtete mich vor ihr, aber vor allem fürchtete ich, was sie aus mir machte. Zu was sie mich machte. Leander hatte sich tief über mich gebeugt. Sein Gesicht war so nahe, das ich die goldenen Sprenkel in seinen Augen sehen konnte. Sein Atem streifte über mein Gesicht. Es fühlte sich an wie heiße, ätzende Säure, die meine Gesichtszüge eigentlich zu einer grotesken Maske schmelzen sollte. Jetzt, da seine Lippen meine freigegeben hatten und er mich nicht mehr direkt berührte, spürte ich die winzige Kontrolle, die ich noch über meinen Körper besaß. Die einzige Möglichkeit die mir geblieben war, um Widerstand zu leisten. Mein freier Wille existierte noch so weit, dass ich frei sprechen konnte. Noch hatte Leander keinen Weg gefunden, meine gesprochenen Gedanken zu kontrollieren. Sie waren Teil meiner Seele und die gehörte, die meiste Zeit, immer noch mir selbst, auch wenn ich sicher war, dass dies nur ein vorübergehender Luxus war. Leander würde einen Weg finden, auch den letzten Rest meiner Seele zu brechen. Er hatte den besten Anfang getan, als er mich zwang, mich gegen Keira und Craig zu wenden. Als er mich zwang Craigs Herz zu brechen und dafür zu sorgen, dass seine Liebe für mich in Hass umschlug. Wie lange konnte schon jemand am Leben festhalten, wenn der Herzschlag das Einzige war, was einen noch als lebend auswies? Ein brennendes Stechen an meiner Wange riss mich aus meinen flüchtigen Gedanken. Wieder einmal fühlte es sich an, als würde er mir mit einem glühenden Messer die Haut aufreißen. Meine Hand wollte zu meiner Wange zucken um nach Blut zu suchen, aber sie blieb auf der Decke meines Betts liegen, nur Zentimeter von Leanders entfernt.
»Dann ist es der düsterste Geburtstag, den ich in meinem ganzen Leben hatte«, fauchte ich, bevor mich die Kraft dazu wieder verließ. Für eine Sekunde schien meine normale Sicht wieder an die Oberfläche zu dringen. Eine einzige Sekunde, in der ich den Kampf mit dem roten Teil meiner Selbst gewonnen hatte. Die Rote Sicht kam mit einer solchen Wucht zurück, dass es mir für einen Moment die Luft raubte.
»Das ist nicht die beste Art, einen solch besonderen Tag zu beginnen mein Herz«, flüsterte er mir ins Ohr, bevor er mich erneut küsste. Ich wollte wieder etwas antworten. Ihm widersprechen. Ihm zeigen, dass ich immer noch kämpfte, aber mein Kiefer öffnete sich nicht. So sehr ich es wollte. So sehr ich alles in meinen Gedanken schrie, das ich ihm an den Kopf werfen wollte, mein Kiefer öffnete sich einfach nicht. Meine Worte waren nur ein dumpfes Gemurmel, das in meinem Mund erstickte. Ich spürte, wie sich meine Augen vor Entsetzen weiteten. Noch nie hatte Leander es geschafft, meine Worte zu kontrollieren. Auch wenn er das nicht direkt tat, so hatte er doch einen Weg gefunden, mich am Sprechen zu hindern. Hektisch zuckten meine Augen im Zimmer umher, als würde es einen Ausweg geben, den ich seit Beginn meiner Gefangenschaft ganz einfach übersehen hatte. Meine eisblauen Augen verfingen sich an Leanders eigenem Kiefer, der wie alles an ihm eine perfekte Symmetrie hatte. Doch es war nicht die Symmetrie die meine Panik mit einem Mal unterdrückte. Es waren seine gestrafften Muskeln, die zum Reißen gespannt schienen. Da war kein verführerisches Lächeln, kein spöttisches Grinsen. Sein Kiefer war mit aller Macht angespannt, als würde er einen Kampf führen, den er nicht zu verlieren gedachte. Ich konnte das schwache Schimmern von Schweiß sehen, der sich langsam an seiner Oberlippe sammelte. Verlangte ich ihm eine solche Anstrengung ab? Wieder versuchte ich zu sprechen. Mein Kiefer wollte sich nicht einen Millimeter öffnen und Leanders schloss sich noch etwas mehr. Fast schon konnte ich das Knirschen seiner Zähen hören. Wie sie gewaltsam aufeinander rieben, bei dem Versuch mich vollkommen zu kontrollieren. Ein Funken Hoffnung entfachte am hintersten Rand meines Bewusstseins. Leander hatte Grenzen. Seine Kraft, seine Macht über mich, hatte Grenzen, die er gewaltsam versuchte, aufrechtzuerhalten. Seine Schwäche, so winzig sie auch sein mochte, gab mir den winzigen Schub den ich brauchte, um meinen stummen Worten wieder eine Stimme zu geben.
»Ich hasse dich, Leander. Ein Geburtstag hier mit dir, ist nichts anderes, als ein weiterer Tag in der Hölle! Ich werde niemals wirklich, wahrhaftig dir gehören!«
Die Worte schossen mit einer solchen Wucht aus meinem Mund, dass ich fast sehen konnte, wie Leander von ihnen zurückgedrängt wurde. Ich wusste, welchen Effekt sie haben würden. Was für Folgen vor allem mein letzter Satz für mich haben würde, doch das interessierte mich nicht. Ich hatte nicht vor, meinen Geburtstag mit einem Mann zu verbringen, dessen Wesen mich, alleine mit seiner Anwesenheit, zu verbrennen drohte. Ich würde ihm diesen Tag nicht schenken. Ich würde meinen Erinnerungen keinen derartigen Geburtstag hinzufügen. Ich würde nicht mit ihm in seinen Garten gehen, in seinen Armen liegen und seine Lippen an meinem Hals spüren. Ich würde ihm nicht gestatten, sich einen perfekten Tag zu schaffen. Nicht, solange ich wusste, wie sehr der heutige Tag Narben auf Keiras Seele hinterlassen würde. Sie würde sich das Schlimmste ausmalen. Leiden bei der bloßen Vorstellung, was mir zustoßen würde. Was er mir antat. Ich würde nicht zulassen, dass ihre Furcht Realität wurde. Auch wenn ich sie nie wiedersehen würde, dieses kleine Geschenk wollte ich ihr machen. Ein Tag, an dem sein Wille nicht meinen überschattete. Ich atmete einmal ruhig ein, nahm allen Sauerstoff auf, den die trockene Luft von Infernus zu bieten hatte und wappnete mich für den Schlag, der meinen Worten folgen würde. Die Schmerzen, die meinen Körper plagen würden, aber meine Seele würde in friedlicher Ohnmacht schlummern.
»Der Tag, an dem ich sterbe, ist der Tag, an dem ich wieder leben werde! Meine Tage mit dir sind mein Tod! Und wer nicht lebt, kann nicht lieben! Ich werde dich nie lieben Leander! Nicht heute und auch nicht in hundert Jahren, egal wie lange du mich am Leben hältst. Ich gehöre zu Craig und nur zu Craig. Ich liebe ihn! Nicht dich! Du bist nicht mehr, als eine Ausgeburt der Hölle, die mir den Weg zu ihm gezeigt hat! Ich werde niemals deins sein!«
Ich ahnte, dass meine Augen von geröteter Haut umgeben waren, aber meine Sicht war klar. Ich konnte deutlich sehen, wie meine Worte in Leander tobten. Wie sie ihn verhöhnten. Ich sah den wahnsinnigen Ausdruck, der jedes Mal in seine Augen trat, wenn er mich ansah, seine große Liebe. Die Frau, für die er die Welt neu erschaffen würde. Die Frau, die heute ihren zwanzigsten Geburtstag mit ihm feiern sollte, so als wären sie ein tragisches Liebespaar, das endlich zueinander gefunden hatte und nun die Welt erobern würde. Ich konnte sehen, wie der Wahnsinn in einen unglaublichen Zorn umschlug. Seine Augen wurden schmal und schienen geradezu elektrische Funken an ihre Umgebung abzugeben. Sie flackerten von der gewaltigen Emotion und ich wusste, dass diese mich gleich treffen würde. Mein Körper versteifte sich, doch es war nicht Leander der diese Starre verursachte, es war meine Erwartung des Kommenden. Leanders unbändige Wut entfesselte sich in einem einzigen Schlag, der mich die wenigen Zentimeter gegen die Wand schleuderte. Ich hörte ein ohrenbetäubendes Knacken und sah gerade noch, wie Leander vor mir stand, seine Brust hob und senkte sich mit schweren Atemzügen. Sein Gesicht war keine Maske mehr, es war der blanke Wahnsinn. Sein wahres Gesicht, das nun verschwamm und allmählich von warmer Dunkelheit verschlungen wurde.
»Happy Birthday«, flüsterte Keiras Stimme in meinen Gedanken. Ich spürte, wie meine Mundwinkel nach oben zuckten, bevor ich mit meinem Kopf auf einem warmen Kissen aus dicker, warmer Flüssigkeit einschlief.
Als es vorsichtig an der Tür klopfte, waren Keiras Augen bereits so ausgetrocknet, dass es ihr unmöglich war, auch nur eine einzige weitere Träne zu vergießen, so sehr sie sich auch danach fühlte. Sie saß in einer warmen, weichen Decke auf dem kleinen Balkon, der sich dem größten Schlafzimmer anschloss. Er war gerade groß genug, dass dort zwei Stühle und ein kleiner, runder Tisch Platz hatten. Keira hatte ihre Decke fest um sich geschlungen und starrte nun über die Balustrade hinaus in die untergehende Sonne. Die Tasse mit heißem Kakao hatte sie ignoriert, seit der Hotelservice sie ihr gebracht hatte. Sie hatte keinen bestellt und glaubte, dass es eine kleine Entschuldigung von Ryan war. Doch das war nicht der Grund, warum sie nicht einen Schluck davon trank. Keira fühlte sich einfach nicht danach, irgendetwas zu sich zu nehmen. Ihr Arm schmerzte und sie glaubte, dass ihr das vielleicht auf den Magen schlug. Und wenn, hatte sie nicht die Kraft oder den Willen, etwas dagegen zu unternehmen. Der Streit mit Ryan hatte ihr die letzte Kampfeskraft geraubt und alles, was sie jetzt tun konnte, war, zu hoffen, dass sie sich schnell wieder erholen würde. Das irgendetwas ihre leergesogenen Ressourcen wieder aufladen würde. Der Sonnenuntergang scheiterte an diesem Unterfangen.
»Den hättest du eigentlich trinken sollen«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie wusste, dass mit diesem Satz eine deutende Geste zu der Tasse einherging.
»Er ist kalt«, erwiderte sie ohne den Blick vom Horizont zu wenden. Sie war sich noch nicht sicher, ob sie Craig ansehen wollte. So sehr der Streit mit Ryan sie plagte, es war Craig, der die meiste Zeit ihre Gedanken einnahm, sofern sie diese konzentrieren konnte.
»Deshalb trinkt man ihn, wenn er einem dampfend gebracht wird.«
Sie hörte das unsichere Lächeln in seiner Stimme mitschwingen, doch ihr war nicht nach Witzen.
»Was willst du Craig?«, fragte sie mit einem unüberhörbar spitzen Unterton.
»Ich wollte nach dir sehen.«
»Naja jetzt hast du mich gesehen. Ist da noch etwas, das ich für dich tun kann oder war das schon alles was dich belastet?«
Sie hörte sein Zögern, wie er eine Sekunde unruhig sein Gewicht auf den anderen Fuß verlagerte. Diese Stimmung kannte er nicht von ihr. Sie kannte sie ja nicht einmal selbst. Keira atmete genervt aus.
»Hör zu Craig ... Ich bin nicht in der Stimmung mich zu streiten, das habe ich heute schon mehr als genug getan. Ich will hier einfach nur sitzen und versuchen, Janlan mindestens einen fröhlichen Gedanken zu widmen. Ist das zu viel verlangt? Du hast vorhin bereits mehr als klar gemacht, dass dich der Tag heute nicht interessiert. Aber könntest du ihn wenigstens mir lassen? Einen Tag. Ist das wirklich zu viel verlangt? Die Welt wird morgen immer noch untergehen. Also, wenn du dann so nett sein würdest und wieder gehst. Der Weg ist derselbe.«
»Es tut mir leid«, antwortete er, ohne sich von der Stelle zu bewegen.
»Ach ja? Und was genau? Der Teil, in dem du mehr oder weniger gesagt hast, dass dir Janlan egal ist oder der Teil, in dem du vergessen hast, dass wir Freunde sind? Was genau tut dir leid? Mir fällt da so viel ein.«
Warum war sie so extrem bissig? So unglaublich wütend? Ja, er hatte sich daneben benommen, aber toppte sie sein Verhalten gerade nicht um ein weites?
»Du verstehst nicht«, setzte Craig an, als er scharrend den zweiten Stuhl vom Tisch fortzog, um sich zu setzen. Keira hätte am liebsten ihre Sitzposition geändert, um ihn nicht ansehen zu müssen, doch sie konnte sich gerade noch beherrschen. Stattdessen zwang sie sich, in seine graublauen Augen zu sehen. Die Augen, die nicht viel von ihrer Farbe verändert hatten, als er vom Seelengeist wieder zum Menschen wurde. Oder, besser gesagt, seine Seele zurück in seinen Körper fuhr und er seine Augenlider öffnen konnte.
»Ach ja? Ist das so? Und ich dachte, ich hätte mir meinen Arm aufschlitzen lassen und nicht mein Hirn. Das schien soweit noch ganz gut zu funktionieren. Gut genug, um meine beste Freundin zu verraten.«
Sie spuckte ihm die Worte mehr entgegen, als dass sie sie aussprach, dabei wusste sie genau, dass zumindest die Wut des letzten Satzes nicht auf ihn gerichtet war. Sie sah, wie Craig seine Kiefermuskeln anspannte und immer wieder entspannte. Er sah aus, als würde auch er gleich die Beherrschung verlieren.
»Keira«, setzte er mit betont ruhiger Stimme an. Dann brach er ab und murmelte etwas zu sich selbst, das sie fast nicht verstanden hätte. »… nicht sie.«
Sie zog eine Augenbraue hoch, ohne dass sie es bewusst steuerte. Was sollte das nun wieder bedeuten? Sie wollte ihn gerade wieder anfahren und am liebsten aufspringen und in das nächste Zimmer stürmen, als er die Kontrolle über sein, normalerweise ohnehin ruhiges, Temperament zurückerlangte. Etwas, das Keira gerade nicht von sich behaupten konnte.
»Ich hätte mich vorhin klarer ausdrücken müssen. Das tut mir leid.«
Sie konnte sehen, dass er es ernst meinte, doch seine Worte machten sie nur wieder wütender.
»Das ist es, von allem, was du dir heraussuchst und wofür du dich entschuldigst?«
»Nein«, erwiderte er kleinlaut und Keira hörte, wie seine Stimme leicht zitterte, als ob sie kurz davor wäre, zu brechen und ihm den Dienst ganz zu versagen. Sie verengte ihre Augen und beobachtete für eine Sekunde Craigs schweres Schlucken, dann wanderten sie wieder hoch zu seinen. Sie sahen fast aus wie immer, doch da war etwas in ihnen, das Keira nicht zuordnen konnte. Sie konnte das Gefühl nicht deuten, das sich hinter ihnen verbarg. Langsam wurde es offiziell. Die Welt ging unter und alle verloren mit ihr ihren Verstand.
»Was dann? Warum bist du wirklich hierhergekommen, nachdem du so deutlich gesagt hast, dass du mich nicht sehen möchtest und dann noch etwas weniger deutlich, etwas von gespiegelt. Der Teil, der deine Entschuldigung eben begründet.«
»Ich weiß«, murmelte er. Seine Schultern sackten kaum merklich zusammen. Eben war er noch zornig gewesen, kurz vor dem Explodieren, wie sie glaubte und nun schien es, als hätte jemand mit einem Nadelstich sämtliche Luft aus seinem Körper gelassen.
»Craig«, setzte sie an. Sie wusste nicht wirklich, was sie sagen sollte oder wollte. Sie wusste im Grunde gar nichts mehr und das verwirrte sie nur noch etwas mehr.
»Ich habe Ryan gesehen«, sagte er so plötzlich, dass Keira einen Moment brauchte, seine Worte zu ordnen und ihre Bedeutung zu verstehen.
»Und?«, fragte sie dann wieder angriffslustig. Craig war nicht der einzige der unter extremen Stimmungsschwankungen litt.
»Er meint, dass es-«
Keira fuhr ihm dazwischen.
»Wage es nicht, seine Worte zu wiederholen. Ich weiß, was er meint! Noch ein Wort, von dem was Ryan meint oder gesagt hat und ich kick dich von diesem Balkon!«
Zu Keiras Überraschung wich Craig nicht vor ihr zurück oder versuchte, sie zu besänftigen, stattdessen sah sie, wie seine Hände in seine Hosentasche glitten und etwas kleines, quadratisches herausholten. Er öffnete den Gegenstand mit dem Nagel seines Daumens und hielt ihn Keira dann direkt vor ihr Gesicht. Keira stolperte vor Überraschung Rückwärts und wurde durch den Stuhl in ihren Kniekehlen dazu gezwungen sich wieder hinzusetzen.
»Was?-«, stammelte sie völlig verwirrt und überrumpelt.
»Das meinte ich mit ‚du spiegelst sie‘.«
Keira starrte gebannt in die kleine Fläche, die ihr Spiegelbild zeigte, doch genau dieses kannte sie nicht. Oder eher, es besaß etwas, das sie noch nie an sich gesehen hatte. Sie blinzelte mehrmals, als würde es das Bild verändern, das sich ihr bot.
»Ich habe es im Tunnel bereits einmal an dir gesehen oder zumindest ein schwacher Schimmer von dem, was es bei ihr ist. Ich hatte–, habe Angst, auch die andere Farbe zu sehen, ohne dass sie wirklich vor mir steht. Das hier ... Das kenne ich nicht. Da sehe ich sie nicht. Nicht direkt. Ich habe sie so nur das einmal gesehen ... und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2016
ISBN: 978-3-7396-3448-7
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