Das Geschwärzte
Medaillon
Laura Jane Arnold
Die Chroniken der Seelenseherin
Das Amulett der Seelentropfen (Band 1.)
Das Geschwärzte Medaillon (Band 2.)
Das Schmuckstück der Welt (Band 3.)
www.facebook.com/LauraJaneArnold.SeelenseherTrilogie
www.facebook.com/L.J.Arnold.Autorin
Dieses Buch ist ein Roman. Alle Charaktere und Handlungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, sowie mit Ereignissen und
Begebenheiten sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
2013
Copyright © 2015 Laura Jane Arnold, Erzhausen
Umschlagabbildung: © Laura Jane Arnold
Umschlaggestaltung: Laura Jane Arnold
Kreis: © olga4075 /Depositphotos.com
Ornamente: © lienchen020_2 /Fotolia.com.
Tigers‘ Tomorrow: Foto Tiger: © Julian W./Fotolia.com.
Das Geschwärzte Medaillon
Für meinen Onkel und meine Tante,
die immer stärkend in meinem Rücken stehen.
Für meine Cousine und meinen Cousin,
die die Welt noch etwas phantastischer machen.
Für die Freunde, die unseren Weg begleiten
und unsere Geschichte formen.
Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben.
- Marcus Aurelius -
Ich spürte den kühlen Nachtwind ganz deutlich über meine Haut streifen, aber nicht er verursachte mir einen unheimlichen Schauer, der meinen ganzen Körper schüttelte. Die Nacht, die sonst so klar und undurchdringlich war, wurde von grünen Blitzen erschüttert. Sie zuckten über den Himmel und brannten sich in meine Augen. Wo ihr Schimmer noch Sekunden, nachdem er erloschen war, zurückblieb. Das, was ich sah, war nicht normal. Magie, soviel hatte ich im letzten Jahr gelernt, existierte. Sie existierte in der Welt und sie existierte in mir. Das, was ich erblickte, war Magie. Magie der finsteren Sorte. Magie, die das Amulett der Seelentropfen auf meiner Brust unheilverkündend zum Vibrieren brachte. Es zuckte mit jedem Blitz, der unweit von meinem Anwesen aus der Erde zu sprießen schien. Grüne Blitze. Noch nie hatte ich etwas Derartiges gesehen. Und in diesem Moment war ich die Einzige, die sie sah. Die Einwohner Amalens lagen alle in ihren Betten und ahnten nicht, wovon diese Nacht verkündete. Ich wusste, dass sie schliefen, weil ich eine Alverra war. Genauer gesagt war ich Janlan Alverra, Oberhaupt des Ordens von Alverra, Hüterin des Amuletts der Seelentropfen und vor allem war ich eine Seelenseherin. Ich konnte genau sehen, wie die Menschen, die ich als meine Nachbarn kannte, ruhig schliefen oder von Albträumen geplagt wurden. Ich sah ihre Seelenenergie leise und sachte pulsieren oder wild rasen. Ich konnte jeder Seelenergie einen Namen zuordnen, ein Gesicht und eine Lebensgeschichte. Heute Nacht konnte ich sagen, dass niemand von ihnen die grünen Blitze erspähte oder das Gefühl wahrnahm, das sich in mir aufstockte. Es fühlte sich an, als würde ich beobachten, wie der Tod aus der Erde wuchs und sich nach dem Himmel streckte. Unwillkürlich schüttelte ich mich in der Hoffnung, dass diese Bewegung auch meine Gedanken vertreiben würde. Eine ganz andere Berührung verursachte einen erneuten Schauer, der meinen Körper überfiel: Wärme. Ich spürte, wie sich ein Arm um meine Taille legte und der andere mir sachte mein Pony aus der Stirn strich, die ohne, dass ich es bemerkt hatte, schweißgebadet war.
»Janlan, was machst du hier draußen?«
Mein Magen zog sich zusammen, als ich seine Stimme hörte und seine Berührung fühlte. Immer noch erschien es mir jedes Mal wie ein Traum. Ich erzitterte erneut, als ich seine warmen Lippen an meinem Hals spürte. Sie strichen sanft über meine Haut und verweilten dort für einen viel zu kurzen Moment. Noch vor wenigen Monaten hätte jede seiner Berührungen meinen Tod bedeutet. Craig war ein Seelengeist gewesen, als ich ihn in meinen Träumen das erste Mal traf. Schon damals dachte ich, welch ein schlechter Abklatsch einer Hollywood Teeniekomödie es gewesen war. Im wirklichen Leben kam so etwas nicht vor. Durch ihn war ich für eine kurze Zeit selbst zu einem Seelengeist geworden. Ein Zustand, der schlimmer als der Tod war. Es war so viel geschehen. So vieles, das so unvorstellbar schien, dass ich manchmal selbst nicht glaubte, dass es Wirklichkeit war. Dass ich Spuren davon zurückbehalten hatte. Spuren, die jeder sehen konnte und Spuren, die einen im tiefsten Innern verändern. Wie meistens glitten meine Augen an mir herab, ohne dass ich mich aus Craigs Umarmung löste. Sein Hemd, das ich trug, verbarg nur einen Teil dieser Überbleibsel. Rote Narben zogen sich immer noch über meinen Körper und berichteten von den Qualen, die ich während meiner Gefangenschaft beim Zirkel der Seelensammler erlitten hatte. Sie waren stumme Zeugen des Unwirklichen. Noch immer sah ich sie ungern an. Es war jedes Mal, als würde ein Teil von ihnen erneut aufbrechen und meinen Körper wieder mit diesen unerträglichen Schmerzen quälen, die nun alleine aus meinen Erinnerungen entstanden.
Eine Träne hatte sich aus meinem rechten Auge geschlichen und schimmerte in dem fahlen Mondlicht. Die grünen Blitze waren erloschen und nichts bewies, dass es sie jemals gegeben hatte.
Craigs Hand wischte mir die Träne so sachte weg, dass ich mir nicht sicher war, ob er mich dabei überhaupt berührte. Als er sprach, flüsterte er so leise, als wolle er nicht, dass die Welt mitbekam, was er mir zu sagen hatte.
»Janlan, es ist vorbei. Sie können dir oder Keira nichts mehr tun. Sie können niemandem mehr etwas tun. Du und Keira, ihr habt den Zirkel zerschlagen. Dank euch sind alle am Leben. Dank euch wird Alanien schon bald wieder Teil der Weltgeschichte sein.«
Keira Kanterra war meine beste Freundin und zufälligerweise auch meine Schützerin. Ganz alleine ihr verdankte ich die Tatsache, dass ich in diesem Moment atmete. Sie hatte mir mehr als einmal das Leben gerettet und dafür einen viel zu hohen Preis zahlen müssen. Wenn es einen Menschen gab, der selbst die verborgensten Winkel meiner Seele kannte, dann war dieser Mensch Keira. Sie war meine Familie geworden, als ich mit neun Jahren von meinem letzten Familienmitglied verlassen wurde. Seitdem hatte uns nichts trennen können. Nicht der Zirkel der Seelensammler, nicht einmal der Tod selbst. Keira, die in diesem Moment ebenfalls in ihrem Bett schlummerte und nicht einen einzigen grünen Blitz über den Himmel hatte zucken sehen, besaß eine Seelenenergie, die von einem so reinen Blau war, dass sie sich kilometerweit abhob. Sie wollte es mir nie glauben und entgegnete stets, dass ich mir das nur einbildete. Aber ich wusste es besser. Am Ende war es Keira gewesen, die den Seelentropfen, den ich nicht hatte zuordnen können, der Person zurückgab, die ihn so dringend gebraucht hatte. Mir. Ich war diese Person gewesen.
Craigs warmer Atem kitzelte in meinem Nacken, als er mich leise etwas fragte: »Wie kommt es eigentlich, dass du mich vom ersten Moment an geliebt hast?«
Für einen Moment verwirrte mich seine Frage. Es war so logisch und natürlich für mich, dass ich oft nicht daran dachte, wie merkwürdig es für Außenstehende aussehen musste.
»Ich kann deine Seele sehen, schon vergessen?«
Ich erzwang ein Grinsen, auch wenn meine Gedanken bereits wieder bei den grünen Blitzen waren. Sie schienen mein Bewusstsein zu umfangen und nichts schien mich wirklich von ihnen ablenken zu können. Nichts, abgesehen von ihm.
Ein Kuss, der meine Knie zum Schwanken brachte, holte mich aus meinen Gedanken. Selbst nach Monaten zitterte ich noch bei jeder von Craigs Berührungen. Es war, als würde ich jedes Mal von neuem den Rausch erleben, den ich verspürte, als ich ihn das erste Mal wirklich hatte berühren können. Wie selbstverständlich stützte er mich, während er mich zurück ins Haus führte. Ich ließ es geschehen, nicht imstande mich seinem liebevollen Griff zu entwenden. Er zog mich an sich und legte seinen Mund an mein Ohr. Wieder gesellte sich seine Stimme zu den Geräuschen der Nacht und fügte ihnen den einen Ton hinzu, der bis eben zu fehlen schien, um die Symphonie vollkommen zu machen.
»Ich liebe dich Janlan. Du musst keine Angst haben. Sie können dir nichts mehr tun. Es ist vorbei und ich bin jetzt bei dir.«
In jeder anderen Nacht, in jeder normalen Nacht, hätten diese Worte in mir ein Gefühl der Geborgenheit ausgelöst. Zuversicht darüber, dass der Zirkel zerschlagen war. Aber nicht in dieser. Ich wusste, dass dies keine normale Nacht war. Und ich wusste auch, dass es nicht vorbei war. Es hatte gerade erst begonnen.
Seit der merkwürdigen Nacht, die von grünen Blitzen erhellt gewesen war, waren drei Tage vergangen. Ich hatte Recht behalten. Außer mir hatte niemand sie gesehen. Nicht einmal Keira oder Craig. Ich war die Einzige, die das Spektakel beobachtet hatte. Ich versuchte, das ungute Gefühl abzuschütteln, das der Anblick in mir ausgelöst hatte. So richtig war es mir nicht gelungen und Craig hatte ich zudem auch noch nervös gemacht. Ich war nicht die angenehmste Gesellschaft gewesen und hatte auch nicht viel gesprochen.
In diesem Moment stand ich nur eine Handbreit vom Abgrund der Unendlichen Schlucht entfernt. Mein eisblauer Mustang GT stand nicht unweit von mir und glänzte in der frühen Mittagssonne. Ich hatte noch ungefähr fünfzehn bis zwanzig Minuten, dann würde Keira hier sein. Ich wusst, dass Craig sie anrufen würde, sobald er aufwachte und feststellte, dass ich schon wieder hier rausgefahren war. Vor einigen Monaten hatte ich an genau derselben Stelle gestanden und in die Schlucht hinuntergesehen. Ich fragte mich, ob ich auch heute wieder in den Tiefen der Schlucht eine Antwort finden würde. Langsam setzte ich mich auf die Kante und starrte die mir gegenüberliegende Felsenformationen an. Ich hatte zusammen mit Keira den Zirkel der Seelensammler zerstört. Es gab nicht einen einzigen Anhänger mehr und dennoch ließ mich das Gefühl nicht los, dass ich mich zu früh auf ein normales Leben eingelassen hatte. Ein merkwürdiges Glucksen kam aus meiner Kehle. Ein Geräusch, das zwischen einem Lachen und sarkastischen Knurren hängen geblieben war.
Bevor ich aussprechen konnte, was mir gerade durch den Kopf gegangen war, ging ein Ruck durch meinen Körper und ich spürte, wie ich an der Taille nach hinten gerissen wurde, weg von der Felskante.
»Bist du verrückt!«
Es war Keiras wohlklingende Stimme, die mich in ihrem gewöhnten sorgenvollen Ton anschrie. Ich fiel rücklings auf den dreckigen Boden und fing unwillkürlich an zu lachen. Das Lachen, das mir eben noch in der Kehle stecken geblieben war.
»Das ist echt nicht lustig! Wirklich Janlan!«
Ich gluckste, in dem Versuch meinen Lachkrampf in den Griff zu bekommen. Es gelang mir nur halb, was meine Worte nicht gerade verständlicher machte.
»Keira ... entspann dich.«
Dass ich dafür einen bösen Blick erntete, war klar. Nur schüchterte er mich ausnahmsweise mal nicht ein.
»Warum machst du so etwas immer wieder!«
Sie klang schärfer, als sie beabsichtigte, aber daran hatte ich mich schon vor Jahren gewöhnt. Keira war eine Kanterra und damit ein Mitglied des Ordens der Schützer. Es lag in ihren Genen mich beschützen zu wollen, ob es nun vor einem ›Feind‹ oder – und das waren die häufigeren Fälle - vor mir selbst war.
»Es wäre nichts passiert. Ich wollte nur ein wenig nachdenken.«
Ich sprach leiser, als ich gemusst hätte, aber das bedrückende Gefühl hatte sich wieder zurück in meine Brust geschlichen und machte sich dort nun erneut breit.
»Ich weiß. Craig hat mich angerufen. Was ist los mit dir? Seit drei Tagen habe ich dich weder gesehen, noch etwas von dir gehört. Also?«
Ich spürte ihren musternden Blick auf meinem Gesicht.
»Es ist nichts weiter. Nur so ein Gefühl.«
Ich hoffte, sie würde es dabei belassen, denn um ehrlich zu sein, wusste ich ja selbst nicht einmal richtig, was war. Und ich wollte wirklich, dass alles in Ordnung wäre. Dass die Welt nicht erneut vor einer Katastrophe stand und nur zwei Neunzehnjährige in der Lage sein sollten sie zu retten. Ich hatte Keira und Craig versprochen, dass alles normal sein würde und dieses Versprechen wollte ich unbedingt halten.
»Ein Gefühl?«
Auch wenn sie es zu unterdrücken versuchte, entging mir nicht die schwache Spur der Skepsis in ihrer Stimme.
»Ja. Nichts von wirklicher Bedeutung.«
Ich zuckte mit den Schultern, wie ich es oft tat, wenn ich unbekümmert wirken wollte.
»Janlan ...«
Keira stupste mich mit der Schulter an, eine unausgesprochene Aufforderung ihr zu erzählen, was das für ein Gefühl war.
»Also?«
›Also‹, wie oft sie dieses Wort gebrauchte und wie viele Bedeutungen es bei ihr haben konnte. Dieses Mal war es ein ›also‹, das ihre Ungeduld zeigte und mich zugleich aufforderte endlich etwas zu sagen. Es wurde nicht minder durch ihre hochgezogenen Augenbrauen untermalt. Durchdringend und gnadenlos durchforstete ihr Blick meine Seele, fast so als wäre sie, und nicht ich, die Seelenseherin.
»Keira ...«, setzte ich an, nur um dann gleich wieder innezuhalten. Was konnte ich auch schon groß sagen? ›Ich habe grüne Blitze gesehen und jetzt bin ich sicher, dass die Welt untergeht?‹ Klang nicht wirklich überzeugend.
»Ich höre?«
Ich seufzte und ergab mich in mein Schicksal.
»Vor drei Tagen, in der Nacht ... «, sie unterbrach mich, bevor ich überhaupt richtig anfing zu erzählen.
»Du erzählst mir jetzt gleich von den grünen Blitzen, die du gesehen hast, oder?«
Ich sah sie fragend an. Ihr hatte ich bis jetzt noch nichts davon erzählt.
»Woher ...«, ich seufzte erneut, »... Craig.«
»Er macht sich eben Sorgen.«
Sie sah mich entschuldigend an. Was bei mir sogleich ein schlechtes Gewissen auslöste. Sie meinte es nur gut und dasselbe galt für Craig. Für eine Sekunde sah ich seine graublauen Augen, wie sie mich besorgt musterten, als er mir vor zwei Tagen dieselbe Frage gestellt hatte. Ich hatte ihn abgeblockt, so wie ich es gerade eben mit Keira versucht hatte. Bei Craig hatte es noch funktioniert, aber nicht bei ihr. Sie würde weiterbohren, so lange, bis sie die Antwort zu jeder ihrer Fragen hatte.
»Vergessen wir’s einfach.«
Ich nahm einen Stein, der neben mir auf der trockenen Erde lag. Ich drehte ihn in meiner Hand und betrachtete seine raue, ungleichmäßige Oberfläche.
»Au ... Scheiße!«, stieß ich aus, als ich den Stein ruckartig fallen ließ und auf meine rechte Handfläche starrte. Ein tiefer Schnitt klaffte in ihr und rotes Blut strömte bereits an meinem Handgelenk hinunter und tropfte auf den sandigen Boden.
»Scheiße, scheiße, scheiße!«, wütend sprang ich auf, schnappte mir den Stein und warf ihn mit aller Kraft auf die gegenüberliegende Felswand. Das Echo des ersten Aufpralls hallte noch nach, als der Stein immer weiter in die Tiefe fiel. Keira war ebenfalls aufgesprungen und versuchte meine Hand zu packen. Gerade als sie ansetzte mich anzufahren, damit ich endlich stehen blieb, hörte ich ein merkwürdiges Geräusch, das ganz sicher nicht von dem immer noch fallenden Stein stammte.
»Janlan, kannst du bitte ... «, ich hörte den Rest von dem, was sie sagte, nicht. Ich hatte eine Art Gurgeln gehört. Ein Röcheln, wie von einem verletzten Tier. Aber das konnte nicht sein. In der Unendlichen Schlucht lebte nichts. Keiner wusste, wie tief diese Schlucht überhaupt reichte. Dennoch hatte ich etwas gehört. Ich war mir sicher.
Ein kräftiger Griff an meinem Handgelenk riss mich herum.
»Janlan, verdammt, jetzt halt endlich still!«
Keira zerrte mich zu meinem Mustang und langte mit einem geübten Griff nach dem Erste-Hilfe Kasten. Mit einem Schubser drückte sie mich auf den Fahrersitz.
»Wie bekommst du das bloß immer hin?«
Vorsichtig untersuchte sie meine Hand und verband sie mit geübten Handgriffen. »Das muss genäht werden. Rutsch rüber.«
Sie deutet auf den Beifahrersitz und ließ keinen Widerstand zu.
Amalen hatte seit einigen Jahren ein eigenes Krankenhaus. Es hatte ewig gedauert, aber da das nächste erst in Solem war, hatte die Gemeindeverwaltung sich nicht mehr gegen den Bau eines eigenen Krankenhauses wehren können. Das Sellersen Krankenhaus lag am östlichen Rand von Amalen. Es war nicht besonders groß, aber für das kleine Dorf reichte es und ich war dort bereits eine Berühmtheit. Es wunderte also niemanden, als ich dort mit einem blutgetränkten Verband auftauchte.
Misses Redstean war eine ältere Dame, die immer noch die meisten Schichten an der Anmeldung der Notaufnahme übernahm.
»Tag Miss Alverra, Miss Kanterra«.
Sie nickte uns freundlich zu und schenkte uns ein breites Lächeln.
»Hi Misses Redstean, wir brauchen mal wieder ihre Hilfe.«
Keira deutete auf meine verbundene Hand, von der gerade ein Blutstropfen auf den sauberen Krankenhausboden fiel. Ich schaute verlegen weg. Ich war definitiv viel zu oft hier.
»Ich sage Doktor Halfersen, dass er sich beeilen soll«.
»Das ist, ist nicht nötig ... es geht schon«, stammelte ich unverständlich. Misses Redstean lächelte mich aufmunternd an. Sie war die Art ältere Dame, die man sich immer als liebevolle Großmutter wünschte und vorstellte.
»Ist schon gut meine Liebe, das macht doch keine Umstände. Doktor Halfersen ist sicher gleich bei dir. Du kannst ruhig schon in das Behandlungszimmer gehen.«
Mit dem vertrauten Lächeln wies sie mich zu der verschlossenen Tür, auf der die Nummer eins prangte. Wieder einmal freute ich mich, dass ich nicht rot anlief, als ich mit gesenktem Kopf in das Zimmer ging und mich schnell auf die Barre setzte. Ich konnte schon fast mit geschlossenen Augen sagen, wo sich all die medizinischen Gegenstände befanden, ohne dass ich wirklich hinsehen musste. Ich hasste Krankenhäuser. Das sterile Weiß war mir nicht geheuer und das blasse Hellblau verbesserte meinen Eindruck nicht. Am schlimmsten war der Geruch. Den konnte ich am allerwenigsten leiden. Ich fühlte mich unwohl, sobald ich nur die Türschwelle überschritt. Wie stets biss ich mir vor Nervosität auf die Lippen.
»Lass das«, wies Keira mich sofort zurecht.
»Ich hasse Krankenhäuser«, drückte ich zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen heraus.
»Ich weiß und dennoch sorgst du nicht dafür, dass du weniger oft herkommen musst. Was sollte das vorhin?«
Erneut sah sie mich forschend an, als fürchtete sie, ich könnte es schaffen, mir selbst an der Krankenhausbarre auch noch die andere Hand zu verletzten. Bevor ich antworten konnte, schwang die Tür auf und Doktor Halfersen trat mit federndem Schritt ins Zimmer. Er war das Klischee eines Doktors. Ein Gott in Weiß, wie es immer so schön hieß. Er war bestimmt eins neunzig, von stattlicher Statur und eingekleidet in einen weißen Ärztekittel. Sein Gesicht war markant und wies die attraktiven Merkmale eines reifen Mannes auf. Sein dunkelbraunes Haar saß so perfekt chaotisch, dass es von einem Hollywood Visagisten hätte frisiert sein können.
»Also Janlan, was ist dieses Mal passiert?«, er lächelte mich bei seiner Frage einnehmend an, wobei leichte Krähenfüße an seinen Augen erschienen, die ihn nur noch sympathischer wirken ließen. Sie trugen unweigerlich dazu bei, dass sich jeder Patient in Behandlung von Doktor Halfersen gut aufgehoben fühlte.
»Nun ja ...«, fing ich erneut an zu stottern. Meine Tollpatschigkeit war mir zwar mehr als vertraut, aber das machte sie nicht weniger peinlich.
»Sie hat sich mit einem scharfen Stein versehentlich die Handfläche aufgeschnitten. Ist recht tief. Ich denke, das muss genäht werden.«
Keira hatte es bereits berichtet, bevor ich auch nur noch ein weiteres Wort hatte sagen können. Doktor Halfersen nahm auf dem schwarzen Lederhocker Platz und rollte elegant zu mir herüber.
»Dann wollen wir uns das mal ansehen.«
Wie zuvor Keira, nahm nun auch er vorsichtig meine Hand. Der Verband war inzwischen so blutgetränkt, dass er nicht mehr einen einzigen Tropfen auffangen konnte.
»Du bist ja schon richtig professionell im Verbinden, Keira.«
»Ich bekomme ja leider auch mehr als genug Übung.«
Sie sagte es ohne jeden vorwurfsvollen Unterton. Ich musste ja selbst eingestehen, dass sie bedauernswerterweise recht hatte. Ich zuckte zusammen, als Doktor Halfersen den Verband vom Schnitt zog. Ein Pochen fuhr durch meine Hand und breitete sich dann in jedem Zentimeter meines Körpers aus. Der Schnitt war wirklich tief und Keira behielt blöderweise Recht mit ihrer Einschätzung. Mit jedem Stich zuckte ich erneut zusammen. Acht Mal musste ich das über mich ergehen lassen, bis endlich ein sauberer weißer Verband an meiner rechten Hand prangte. Ich betastete vorsichtig die Arbeit des Doktors und stellte zufrieden fest, dass der Verband nicht so schnell verrutschen würde.
»Du kommst dann wie gewöhnlich zur Kontrolle.«
Ich nickte und wollte mich gerade bedanken, als Doktor Halfersen erneut anfing zu reden.
»Bevor ich es vergesse, habt ihr in den letzten Tagen meine Nichte Clara gesehen? Sie ist seit drei Tagen nicht daheim gewesen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie mal eine Nacht oder auch zwei nicht nach Hause kommt, aber inzwischen macht sich meine Schwester ernsthafte Sorgen.«
Ehrliche Besorgnis schimmerte in den sonst so freundlichen und fröhlichen Augen.
»Es tut mir leid, Doktor Halfersen, aber ich habe Clara schon länger nicht mehr gesehen. Du?«
Auch Keira schüttelte den Kopf und wiederholte meine Worte. Ein wenig enttäuscht sagte er, »Nun gut, aber wenn ihr sie seht, sagt mir doch bitte Bescheid.«
»Das werden wir natürlich machen. Danke, dass Sie sich so schnell um mich gekümmert haben. Ich bin sicher, Clara kommt wieder zur Vernunft und sitzt heute Abend beim Abendessen.«
Er lächelte mich dankend an, sagte aber nichts mehr, als er das Zimmer verließ.
Clara Halfersen war drei Jahre jünger als ich und in ganz Amalen für ihr aufbrausendes Temperament bekannt. Sie hatte sich schon immer schwer mit Regeln und Grenzen getan. Ihr durchaus gutes Aussehen hatte nicht gerade wenig dazu beigetragen, dass die Leute dazu neigten, ihr Dummheiten durchgehen zu lassen. Zudem konnte sie auch noch mehr als charmant sein und wusste, wie sie die Menschen zu ihrem Vorteil beeinflussen konnte. Allerdings war es wirklich untypisch für sie, länger als zwei Nächte fortzubleiben. Sie tat es meistens, wenn sie der Meinung war, sie müsste ihren Eltern eine Lektion erteilen. Aber drei Nächte, das war selbst für Clara übertrieben. Ich spürte, wie sich das ungute Gefühl in meiner Brust erneut zu einem bemerkbaren Kloß zusammenbraute. Unwillkürlich schlang ich mir die Arme um den Bauch, so wie ich es immer tat, wenn ich starke Bauchschmerzen oder Übelkeit hatte.
»Alles Okay? Soll ich Doktor Halfersen zurückholen?«
Keira musterte mich besorgt. »Du siehst irgendwie plötzlich ziemlich blass aus.«
Sie legte mir prüfend eine Hand auf die Stirn, als glaubte sie, ich hätte Fieber.
»Nein. Mir geht’s gut. Ich will einfach nur heim.«
Ich hatte nicht beabsichtigt, so barsch zu klingen. »Entschuldige. Ich bin einfach nur müde und würde mich gerne ein wenig hinlegen.«
Keira sah mich misstrauisch an, schien es dann aber auf den Blutverlust zu schieben.
Auf der Heimfahrt breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus. Ich konnte mich nicht überwinden etwas zu sagen. Dafür war ich viel zu sehr mit dem drückenden Gefühl beschäftigt. Als wir endlich bei mir ankamen, musste ich nicht mehr nur so tun als wäre ich müde. Ich war es wirklich und wäre ich auch nur für eine halbe Minute stehen geblieben, ich wäre auf der Stelle stehend eingeschlafen.
Craig stand bereits in der Haustür und wartete, dass wir die Einfahrt hinaufgefahren kamen. Ich stolperte aus dem Auto, wobei ich Keira noch ein unverständliches »Danke« zu murmelte.
»Was hast du mit deiner Hand gemacht?«
Klar, dass er sofort danach fragte, allerdings antwortete ich ihm nicht. Es war, als hätte ich ihn nicht einmal richtig gehört. Ich drückte mich an ihm vorbei durch die Tür und schleppte mich ins Schlafzimmer, wo ich mich ächzend auf mein Bett fallen ließ. Ich konnte noch Keiras und Craigs gedämpfte Stimmen hören.
»Was ist passiert? Was hat sie?«
Craig klang aufrichtig besorgt, wenn nicht sogar ein wenig verängstigt.
»Sie hat sich mit einem Stein die Handfläche aufgeschnitten. Es musste natürlich genäht werden.«
Ich dachte auch in Keiras Stimme etwas Beunruhigtes zu hören, aber wahrscheinlich war das nur Einbildung.
»Es war keine Absicht, oder?«
Ich zuckte innerlich zusammen, als ich ihn diese Fragen stellen hörte. Wie kam er bloß auf solch einen Gedanken? Fast schon hätte ich mich wieder erhoben, drauf und dran ihn anzubrüllen, aber dann spürte ich wieder die Müdigkeit und das schmerzhafte Pochen in meiner Hand.
»Nein! Natürlich nicht. Ich war dabei. Es war ein Versehen.«
In Gedanken bedankte ich mich erneut bei meiner besten Freundin. Ich verstand nicht ganz, was da draußen vor sich ging. Meine Gedanken schienen nicht mehr fähig zu sein das Gesprochene zu verstehen.
»Ich mache mir wirklich Sorgen, Keira. Sie verhält sich so merkwürdig. Die letzten Nächte ist sie mitten in der Nacht aufgestanden und zum Fenster gegangen. Sie hat immer nur da gestanden und hinausgesehen. Sie hat auf nichts reagiert, egal was ich getan habe. Es war ... es ist unheimlich. Was hat sie bloß?«
Ich versuchte angestrengt das Gesagte von Craig zu verstehen. Nachzuvollziehen, warum seine Stimme so besorgt und beunruhigt klang. Es gelang mir nicht. Es war, als wären meine Gedanken gelähmt. Ich versuchte ihnen weiter zuzuhören, aber alles, was ich noch mitbekam, war wie Keira antwortete: »Ich weiß nicht, was sie hat. Sie hat etwas von einem Gefühl gesagt ...«
Der Rest des Satzes verschwand in einem wirren Gemurmel, das schnell nichts weiter war als ein fernes Hintergrundgeräusch. Der Schlaf hatte mich überwältigt und brach nun mit aller Gewalt über mich herein und trug Träume mit sich, an die ich mich nie würde erinnern wollen.
Als ich am Morgen aufwachte, hatte ich das ungute Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Ich lag in meinem Bett und hatte mein Lieblingsnachthemd an. Es war eines von Craigs Hemden, das ich mir geliehen und dann nie wieder zurückgegeben hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es selbst angezogen zu haben. Das Einzige, was ich noch vom Tag zuvor wusste, war der klaffende Schnitt in meiner Hand und ein unverständliches Gemurmel, das ich nicht mehr zuordnen konnte. Mein Schlafzimmer war in völlige Dunkelheit gehüllt. Kein einziger Sonnenstrahl fiel durch die Vorhänge. Sofern es überhaupt Tag war. Unbeholfen wollte ich mich aufsetzen, wobei ich natürlich vergaß, dass meine rechte Handfläche eine Zeit lang nicht besonders belastbar sein würde.
»Au«, flüsterte ich mehr, als dass ich es wirklich überrascht ausrief. Ich schwang meine Beine aus dem Bett und bewegte mich unsicher zum Fenster. Mein Kopf fühlte sich an, als hätte ich drei Tage durchgefeiert. Er pochte unaufhörlich und mein Sichtfeld verschwamm im Sekundentakt, wobei mein Magen sich gegen jede Bewegung aufbäumte. Ich stütze mich notdürftig an der Wand ab. Was war bloß los mit mir? Ich griff mir an die Brust, ein Stechen schien mir förmlich die Luft abzuschnüren. Als meine viel zu kalten Finger auf meine Haut trafen, erschrak ich. Nicht weil ich überrascht war von der Kälte, sondern weil meine Finger auf das Amulett hätten stoßen müssen. Wo war es? Ich hätte es nie im Leben abgenommen. Verwirrt und viel zu schnell drehte ich mich herum und versuchte mich von der Wand wegzudrücken. Bevor ich auch nur einen Schritt getan hatte, zerrte mich etwas zu Boden. Ich schnappte nach Luft und erwartete einen überraschten Quietscher, aber aus meiner Kehle drang kein Laut. Panik kroch in mir hoch und sickerte in jede Faser meines Körpers. Ich versuchte mich aufzusetzen. Drückte mit aller Kraft gegen den Boden, versuchte mich hochzustemmen. Egal was ich tat, ich konnte mich einfach nicht bewegen, während der Druck auf meine Brust zunahm und sich jeder Muskel weiter versteifte. Lautlos rief ich nach Craig. Flehte, dass er ins Zimmer kam. Dass irgendetwas ihn dazu bewegen würde, nach mir zu sehen. Er kam nicht und mein Sichtfeld wurde zunehmend kleiner. Als endlich die erlösende Entspannung meines Körpers einsetzte, war es die Bewusstlosigkeit, die mich aus meiner misslichen Lage rettete. Ich hörte nicht die schweren Schritte, die erst langsam ins Zimmer kamen und dann panisch über den Boden rannten. Auch bekam ich nicht mit, wie ich endlich von dem Boden hochgehoben wurde oder wie sich die weichen Decken meines Bettes um meinen strapazierten Körper aufplusterten. Ich hörte auch nicht sein verängstigendes Rufen und Fragen. Mein Geist lag in tiefer Schwärze und reagierte auf nichts weiter als das nahe Pulsieren des Amuletts der Seelentropfen. Dieses Pulsieren war wie ein rettendes Licht, das mir den Weg aus der Dunkelheit wies. Ich tastete nach dem Schmuckstück und endlich hörte ich auch Craigs entfernte Stimme. Ich verstand noch nicht, was er sagte, aber zumindest wusste ich, dass er da war. Immer wieder stellte er mir eine Frage. Alles, was ich sagen konnte, war: »Amulett.« Ich brauchte das Amulett. Ich spürte wie das Bett unter dem hektischen Suchen von Craig bebte. Er wühlte sich durch die Deckenberge und suchte nach dem Gegenstand, den ich immer wieder vor mich hin murmelte. Als sich das kühle Metall auf meine Brust legte, war es, als würde ich durch die Wasseroberfläche stoßen, kurz bevor ich ertrunken wäre. Ich schnappte nach Luft, als wäre es das erste Mal, dass sich meine Lungen mit Sauerstoff füllten.
»Janlan! Alles Okay? Was ist passiert?«, fragte mich Craig, als er mich besorgt und erleichtert zugleich in den Arm nahm. Ich war mir nicht sicher, was passiert war, aber es war ganz sicher nicht normal gewesen. Es war wie der Anblick der grünen Blitze gewesen. Unheimlich und schwarzmagisch. Keira und Craig hatten mir bezüglich der Blitze nicht geglaubt, dann würden sie mir auch nicht glauben, dass ich von irgendetwas zu Boden gezogen wurde und mich nicht mehr bewegen konnte. Dass – und so musste es gewesen sein – etwas oder jemand meinen Körper kontrolliert hatte.
»Ich war einfach nur erschöpft.«, flüsterte ich leise gegen seine Schulter gelehnt.
»Janlan, du warst bewusstlos.«
»Ich muss mir wohl beim Sturz den Kopf gestoßen haben. Es war nichts weiter. Ich brauche nur ein wenig Schlaf.«
»Ich werde Doktor Halfersen anrufen.«
Ich seufzte innerlich.
»Craig, das ist nicht nötig. Ich will nur schlafen.«
Ich sah in seine graublauen Augen und fügte leise hinzu, »Bitte.«
Nur widerwillig nickte er und gab mir dann einen Kuss auf die Stirn.
»Na gut, dann ruh dich noch ein wenig aus. Ich rufe Keira an.«
»Nein Craig, nicht. Beunruhige sie nicht damit. Sie wird sich nur wieder aufregen, dass ich nicht aufgepasst habe. Es ist wirklich nicht nötig. Lass mir nur ein paar Stunden Schlaf. Wirklich, dann bin ich wieder fit.«
Er neigte seinen Kopf zur Seite und musterte mich liebevoll. Ein Blick, dem ich normalerweise nicht widerstehen konnte. Heute legte ich ihm nur die gesunde Hand auf die Wange, während ich schwach lächelte. Er gab mir noch einen kurzen Kuss, bevor er mich wieder alleine ließ. Unter der Decke fühlte ich unentwegt nach dem Amulett. Irgendwie hatte es mich aus der Umklammerung dieser erdrückenden Macht gerettet. Wie war es bloß von meinem Hals gekommen? Ich legte es nie ab. Nicht einmal, wenn ich duschte. Ich verstand nicht, was geschehen war. Noch bevor ich weiter über dieses neue unheimliche Ereignis nachdenken konnte, forderte mein Körper den verdienten, hoffentlich erholsamen Schlaf ein.
Ich bewegte mich unruhig im Schlaf und schlug überrascht die Augen auf, als ich spürte, dass jemand neben mir lag. Ich konnte mich nicht erinnern, was für ein Tag es war oder wer das neben mir war. Es war, als wären mir meine eigenen Gedanken fremd. Ich erkannte nicht einmal das Zimmer, in dem ich war. Alles war durcheinander und ergab keinen Sinn. Mein verwirrter Zustand machte mir Angst. Was war los mit mir? Warum erinnerte ich mich nicht? Und vor allem, wer lag neben mir? Ich versuchte mich vorsichtig aus der Umarmung des Mannes zu lösen, dessen Gesicht ich im Dunklen nicht erkennen konnte. Ich zuckte zusammen und schnappte nach Luft, als ein stechender Schmerz durch meine Hand zuckte und sich dann durch meinen Körper fraß. Entsetzt starrte ich auf den weißen Verband, der sehr gut im Dunklen zu erkennen war. Je länger ich darauf sah, umso röter wurde er. Blut sickerte durch den weißen Stoff und verschlang immer mehr von der weißen Fläche, bis der Verband nicht mehr zu existieren schien. Ich keuchte auf, als ich mit ansah, wie der Verband sich auflöste und meine geschundene Haut sich auftat. Ein tiefer Schnitt klaffte auf meiner Handfläche und schien mit jeder Sekunde tiefer zu werden. Ich spürte den Schmerz, aber der Schock über das, was ich sah, lähmte meine Stimmbänder. Ich musste träumen. Das war die einzige sinnvolle Erklärung. Ich hatte einen Albtraum. Mehr nicht. Ich würde jeden Moment aufwachen und dann wäre der Verband wieder weiß und ich würde den Namen des Mannes neben mir wissen.
Ein Albtraum. Mehr nicht. Nur ein Albtraum. Ich murmelte es in Gedanken immer und immer wieder vor mich hin, während ich weiter auf meine Hand starrte. Das Blut strömte inzwischen nur so aus dem Schnitt und lief über mein Handgelenk und tropfte schließlich auf die weißen Laken. Der Fleck auf dem weißen Stoff wurde immer größer und leuchtete mir entgegen. Ich sah nichts mehr außer dem strahlenden Rot meines eigenen Blutes.
»Ein Traum«, formten meine Lippen geräuschlos. Ich zuckte zusammen, als brennender Schmerz durch meine Hand fuhr. Ich schrie, ohne dass ein Laut aus meiner Kehle kam. Es war unerträglich. Nun brannten auch meine Augen und meine Sicht verschwamm unter den Tränen, die sich an die Oberfläche drückten. Ich starrte auf meine Hand. Zwischen dem ganzen roten Blut schimmerte mir etwas Weißes entgegen. Ich sah meine eigenen Handknochen. Der Schnitt war bis zu den Knochen aufgerissen. Das Blut auf dem Laken hatte sich so weit ausgebreitet, dass ich es bereits an meinen Knien spüren konnte. Warm und nass. Ich hörte nicht auf zu schreien, ohne dass ich wirklich schrie. Ich hoffte endlich aufzuwachen. Endlich diesem Schmerz zu entkommen. Es geschah nicht. Ich wachte nicht auf, weil ich nicht schlief. Dieser Albtraum war Realität. Grauenvolle, schmerzhafte Realität. Der Schnitt, das Blut, mein Blut, das sich überall verteilte. Das war real. Endlich bewegte der Mann sich und ich konnte sein Gesicht sehen. Bilder zuckten vor meinen Augen auf und jagten sich durch meine Gedanken. Ein silberblaues Gesicht, das mich aus der Ferne ansah. Dasselbe Gesicht, wie es mich besorgt im Rückspiegel musterte. Das mich liebevoll ansah, als ich nur im BH und Jeans neben einem Wagen stand. Dasselbe Gesicht, derselbe Mann, der nur Millimeter von mir in dem Wasser einer heißen Quelle stand und ein Netz aus Lichtlinien durchs Wasser spannte. Derselbe Mann, den ich küsste, in dem Moment als ich starb und derselbe Mann, den ich küsste, als ich wieder lebte. Der Mann, den ich von der ersten Sekunde an geliebt hatte. Der Mann, dessen Seele ich wohl besser kannte als meine eigene. Wie hatte ich bloß seinen Namen vergessen können? Die tiefe Verbindung, die wir teilten? Wie hatte ich mich nicht an Craig erinnern können? Wenn ich ihn vergessen hatte, wer war dann noch alles aus meinem Gedächtnis verschwunden?
Ich stöhnte vor Schmerz und vor Angst vor dem, was ich noch vergessen haben könnte. Craig bewegte sich weiter unruhig im Schlaf und nun berührte seine Hand den blutgetränkten Bereich des Lakens. Ich hatte mich nicht bewegt. Ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nur meine Hand sehen, aus der immer noch Blut sickerte und Craigs Gesicht. Ein Ruck fuhr durchs Bett, als er sich schlagartig aufsetzte und die Decke dabei von seiner Brust rutschte. Er sah auf seine Hand. Für eine Sekunde schien es so, als wüsste er nicht, was er dort glitzern sah. Dann schlug er auf den Lichtschalter über seinem Nachttisch. Weißes Licht durchflutet das Schlafzimmer und ließ die Szene noch grauenvoller erscheinen. Das Blut, das die gesamte Seite meines Bettes eingefärbt hatte, leuchtete noch intensiver. Es war einfach überall.
»Janlan!«, Craig keuchte und rang nach Luft, als sein Verstand versuchte zu verstehen, was genau er eigentlich sah. Ich konnte fast erkennen, wie seine Gedanken rasten. Er riss einen Streifen Stoff vom Laken ab, welches nicht von meinem Blut besudelt war, und band es fest um meine Handfläche. Seine Augen weiteten sich entsetzt, als auch er die Knochen meiner rechten Hand sah.
»Was ist passiert?«, schrie er mich an. Ich starrte nur zurück. Meine Stimme gehorchte mir immer noch nicht. Ich wollte etwas sagen. Ich wollte ihm antworten, aber nichts kam über meine Lippen. Hecktisch griff Craig nach seinem Handy. Seine Finger flogen über die kleine Tastatur.
»Doktor Halfersen, sie müssen sofort kommen ... Hier ist alles voller Blut ... Janlans ... Janlans Hand ...«
Craig rief nur unzusammenhängende Worte in das Handy. Als er auflegte, huschten seine Finger bereits erneut über die Tasten. Gleichzeitig spürte ich, wie meine Sinne schwanden und die Kontrolle über meinen Körper für einen kurzen Moment zurückkehrte. Es war dasselbe Gefühl wie vor ein paar Nächten. Die Bewusstlosigkeit erlöste mich aus der fremden Umklammerung.
Die erste Bewegung, die ich ausführte, war der unbewusste Griff nach dem Amulett. Es war nicht da. Erneut trug ich es nicht mehr und wieder hatte ich es nicht abgenommen. Craig bemerkte meine Bewegung nicht. Er hatte das Handy am Ohr und schien darauf zu warten, dass jemand abnahm. Ich wandte den Kopf nach links und sah über die Bettkante. Dort lag es. Auf dem Boden direkt neben dem Bett. Dann hörte ich noch zwei Dinge und sah etwas, das für mich keinen Sinn ergab. Neben dem Amulett lagen kleine Erdklumpen und Dreck. Ich hörte, wie Craig »Keira ...« sagte und das ferne Heulen von Sirenen. Dann wurde alles schwarz und ich kippte auf das blutgetränkte Laken.
Ein Geruch stach in meine Nase, als ich langsam erwachte. Ich kannte den Geruch und ich konnte ihn ganz und gar nicht leiden. Es roch nach Krankenhaus.
Beim Aufschlagen meiner Augen musste ich unwillkürlich blinzeln, weil ich das Licht unangenehm grell fand. Als sich meine Augen endlich daran gewöhnt hatten, sah ich, dass jemand an meinem Bett saß und meine gesunde Hand hielt. Ich seufzte erleichtert, als mir der Name der Person einfiel. Es war Keira. Ich hatte sie nicht vergessen. Ich war so erleichtert, dass ich lächelte.
Sie saß auf einem Stuhl und lag mit dem Kopf auf der Kante meines Bettes. Es sah furchtbar unbequem aus. Ich war mir sicher, dass ihr zumindest der Hals wehtun würde, wenn sie aufwachte. Meine linke Hand war eingeschlafen und kribbelte nun unangenehm, als ich vorsichtig versuchte, sie aus ihrem Griff zu befreien, ohne sie zu wecken. Fast wäre es mir gelungen. Keiras Griff festigte sich und mit einem Ruck saß sie aufrecht im Stuhl und sah mich plötzlich hellwach an. Noch bevor sie etwas sagte, rang ich schon nach Luft, weil sie mich so stürmisch umarmte.
»Krieg ... keine ... Luft ... «, stotterte ich mühselig und zugleich viel mir ein Stein vom Herzen. Ich konnte wieder sprechen. Keira wich auf ihren Stuhl zurück, ließ aber meine Hand immer noch nicht los. Ihre Augen waren rot gerändert und ihre Nase war ebenfalls leicht gerötet. Sie musste geweint haben.
»Keira ... was ist los?«, fragte ich vorsichtig. Okay ich lag im Krankenhaus, aber das war doch kein Grund. Als sie mich fassungslos ansah, wusste ich, dass es wohl doch ein Grund war.
»Was los ist?«
Sie klang nicht verärgert, wie sonst, wenn ich mich verletzt hatte. Sie klang einfach nur müde und besorgt.
»Du bist fast verblutet.«
»Oh«, war alles, was ich sagte. Das Bild des blutigen Lakens tauchte aus meinen Erinnerungen auf. Klar, es war viel Blut gewesen, aber dass es so viel gewesen war, hatte ich nicht gedacht.
»Hätte Craig nur noch ein paar Minuten länger geschlafen -«
Sie sprach nicht zu Ende. »Er macht sich furchtbare Vorwürfe. Warum hast du ihn nicht geweckt? Was ist passiert, Janlan?«
Sie ließ mir keine Zeit zu antworten. Die Worte schienen jetzt nur so aus ihr herauszusprudeln. Ich fragte mich, wie lange ich wohl geschlafen hatte.
»Doktor Halfersen sagt, dass der Schnitt bis auf den Knochen eingerissen wäre. Wie hast du das hinbekommen? Er sagt auch, dass du eigentlich nicht so viel Blut hättest verlieren dürfen. Es war immerhin nur ein Schnitt. Und warum verdammt noch mal, hast du Craig nicht geweckt? Er hat gesagt, du hast einfach nur auf deiner Seite des Bettes gekniet und auf deine Hand gestarrt. Was ist los mit dir? Was ist passiert?«
Endlich hielt sie inne und wartete. Offensichtlich war ich jetzt an der Reihe zu reden. Ich atmete tief ein und schloss kurz die Augen, weil mein Kopf zu schwirren anfing.
»Keira, ich weiß nicht, was passiert ist. Ich bin aufgewacht und -«, ich stockte. Ich zog meine Hand aus Keiras und suchte nach der kühlen Kette des Amuletts.
»Wo ist es!«
Keira zuckte zusammen, als ich sie ungewollt anfuhr. In meiner Brust staute sich Panik an. Ich brauchte das Amulett, es war mein einziger Schutz gegen was auch immer mir das angetan hatte. Keira rannte fast um das Bett und zog hektisch eine Schublade des sterilen Nachttischs auf. Sie hatte die Panik in meiner Stimme gehört. Sie langte hinein und holte das Amulett heraus.
»Hier. Es lag neben dem Bett. Ich habe es aufgehoben und mitgenommen.«
Mit zitternder Hand versuchte ich es anzulegen. Keira nahm es mir wortlos wieder ab und half mir.
»Warum hast du es abgelegt?«
»Das habe ich nicht! Ich lege es nie ab!«
»Aber es lag doch neben dem Bett.«
»Ich weiß, aber ich habe es nicht abgelegt!« Ich betonte jedes Wort mit Nachdruck. Keira atmete ein paar Mal tief ein. Sie versuchte ihr Temperament zu zügeln. Sie wollte mich wohl nicht anfahren, wenn ich im Krankenhaus lag und ein wenig blass war.
»Janlan, was ist passiert?
Sie hatte sich wieder auf ihren Stuhl gesetzt und sah mich fragend an. Ich ließ die linke Hand auf dem Amulett liegen. Es war, als würde es ein Schutzschild um mich herum aufbauen. Zumindest fühlte es sich so an, als wäre ich in diesem Moment vor dem Etwas sicher.
»Keira, ich weiß nicht genau, was passiert ist. Ich bin aufgewacht -« Ich hielt inne.
Warum war ich eigentlich aufgewacht? Keira zog eine Augenbraue hoch, weil ich mitten im Satz aufgehört hatte zu sprechen und nun Löcher in die Luft starrte.
»Du bist aufgewacht?«, fragte sie schließlich.
»Ja und ich habe mich aufgesetzt, dann hat meine Hand wehgetan und ich habe darauf gesehen. Ab da konnte ich mich nicht mehr bewegen -«
Sie unterbrach mich: »Wie meinst du das, du konntest dich nicht mehr bewegen?«
»Genau so, wie ich es sage«, erwiderte ich leicht gereizt. Ich merkte jetzt schon, dass sie mir nicht glauben würde. Genauso wenig wie sie das mit den grünen Blitzen geglaubt hatte.
»Ich konnte mich nicht bewegen, obwohl ich es wollte. Ich ... sagen wir: Ich hatte nicht die Kontrolle über meinen eigenen Körper.«
Ich sprach schneller, damit sie mich nicht wieder unterbrach und vielleicht nur die Hälfte von dem merkwürdigen Zeug wirklich mitbekommen würde.
»Dann ist der Verband rot geworden und hat sich vor meinen Augen aufgelöst. Und der Schnitt ist einfach aufgerissen und immer tiefer geworden und dann ist Craig aufgewacht und dann bin ich wohl bewusstlos geworden.«
»Ja, das bist du allerdings. Du hast im Koma gelegen. Vier Tage lang.«
»Oh«, war wieder alles, was ich darauf antwortete.
»Auch das ist nicht normal, hat Doktor Halfersen gesagt. Er war sich nicht mal sicher, ob du überhaupt wieder aufwachst.«
Ihre Stimme klang brüchig, so als ob sie gleich wieder anfangen würde zu weinen.
»Aber ich bin aufgewacht«, flüsterte ich ihr leise zu. Es schmerzte mich, dass ich ihr so viel Kummer bereitet hatte und an Craig wollte ich gar nicht erst denken. Er würde es sich nie verzeihen, dass er nicht früher aufgewacht war.
»Ja. Dieses Mal«, sie sagte es so leise, dass ich es fast nicht verstanden hätte. Mein Kopf fing an wehzutun und meine Hand pochte im Rhythmus meines Herzens.
»Ich habe bestimmt nur ein paar blöde Bewegungen im Schlaf gemacht und da ist der Schnitt aufgerissen. Und weil ich geschockt war, konnte ich nichts machen.«
»Doktor Halfersen meinte auch, dass du unter Schock gestanden haben könntest. Aber normal ist das trotzdem nicht.«
»Keira, mir geht es jetzt gut. Wo ist Craig?«
Ich versuchte meine beste Freundin so gut es ging zu beruhigen und auf ein anderes Thema zu lenken. Auch wenn das bei mir nicht wirkte. Ich wusste, dass ich keine blöden Bewegungen gemacht hatte und ich wusste, dass ich ganz sicher nicht unter Schock gestanden hatte.
»Naja du hast noch nicht in den Spiegel gesehen, oder?«
Sie versuchte zu grinsen, aber die Sorge der letzten Tage steckte ihr noch viel zu tief in den Knochen.
»Eh nein. Ich hab dieses unheimlich bequeme Bett noch nicht verlassen. Wie sehe ich denn aus?«
»Naja, ungesund. So als wärst du fast gestorben. Vampirmäßig irgendwie ... Craig wollte ein paar Klamotten zum Wechseln holen. Wir haben hier die letzten vier Tage mehr oder weniger gewohnt. Er kommt sicher gleich wieder.«
»Keira ...«, setzte ich an, aber dann wurde ich von der aufgehenden Zimmertür unterbrochen. Doktor Halfersen kam herein und hatte seine Nase über mein Krankenblatt gesenkt.
»Guten Morgen Doktor«, begrüßte ich ihn und versuchte ihn so unbeschwert wie möglich anzulächeln. Er blieb abrupt stehen und sah aus als würde er einen Geist sehen. Dann hellte sich seine Miene auf und die vertrauten Krähenfüße erschienen.
»Janlan. Na du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt. Seit wann bist du wach?«
Ich zuckte mit den Schultern und sah Keira fragend an.
»Seit ungefähr einer dreiviertel Stunde würde ich sagen«, antworte sie.
»Gut, gut«, sagte er, wobei er ungewöhnlich zerstreut wirkte. »Und wie fühlst du dich?«
»Eigentlich ganz gut.«
»Nun ja, das werden wir dann noch sehen. Ich lasse ein paar Tests machen und dann komme ich wieder. Du solltest dich am besten weiter ausruhen. Dein Körper ist sehr mitgenommen.«
Doktor Halfersen wandte sich wieder in die Richtung der Tür
»Ist Clara wiedergekommen?«, fragte ich. Jetzt, da mir mein letzter Arztbesuch einfiel. Er blieb stehen und nun war auch klar, warum er so zerstreut wirkte.
»Nein. Leider nicht. Wir machen uns große Sorgen und die Polizei ist auch schon längst informiert. Sie suchen überall nach ihr und in jedem Revier in Alanien hängt ein Foto. Aber bis jetzt ist es, als wäre sie einfach vom Erdboden verschwunden.«
Er wartete nicht auf eine Reaktion, sondern verließ fluchtartig mein Zimmer. Ich sackte in mein Bett zurück. Mein Kopf schwirrte jetzt noch mehr. Das alles war beunruhigend. Nur dass es außer mir niemand zu bemerken schien.
Die Tage, die ich im Krankenhaus verbrachte, schienen sich ins Unerträgliche zu ziehen. Ich war nie alleine, wenn ich aufwachte. Immer saß entweder Keira oder Craig in dem Stuhl an meiner Seite. Am zweiten Tag, nachdem ich wieder zu Bewusstsein gekommen war, weckte mich ein sanfter Kuss auf meine Stirn. Ich brauchte einen Moment, bis ich völlig wach war. In den ersten Sekunden war ich jedes Mal verwirrt und wusste nicht, wo ich mich befand. Der Geruch, den ich meistens zuerst wahrnahm, rief es mir dann leider in Erinnerung. Krankenhaus.
»Wie geht es dir?«
Ich blinzelte, bis Craigs Gesicht klarer wurde und der Schleier des Schlafes sich von meinen Augen geliftet hatte. Ich lächelte sanft. Es war wundervoll sein Gesicht nach dem Aufwachen zu sehen. Oder zumindest war es das gewesen, bevor der ständige Ausdruck von Sorge in seine Augen Einzug gehalten hatte. Mein Lächeln schmälerte sich ein wenig, auch wenn ich versuchte, es aufrechtzuerhalten.
»Gut. Wirklich gut. Ich denke, heute wäre der perfekte Tag nach Hause zu gehen.«
Ich hatte erwartet sein jungenhaftes Lächeln zu sehen. Ein Lächeln, das er nur mir schenkte und sich immer in seinen Augen spiegelte. Statt diesem geliebten Ausdruck erhielt ich nur eine gerunzelte Stirn. Sorgenfalten, die mir so tief erschienen, dass Craig für einen Moment aussah, als hätte er schon drei Viertel seines Lebens hinter sich.
»Ich denke, Keira hat mit ihrer Vampirtheorie Recht. Du bist viel zu blass, um annähernd lebendig zu wirken.«
Es sollte ein Witz sein, aber Craig konnte seiner Stimme einfach nicht die passende Tonlage dafür geben. Er strich mir mein Pony aus der Stirn. Es war ein leicht zu durchschauender Trick. Er wollte im Grunde nur meine Stirn fühlen, um zu sehen, ob ich Fieber hatte. Ich fühlte mich nicht so, aber sein Blick verunsicherte mich.
»Mir geht es schon viel besser«, versuchte ich ihm noch einmal zu versichern. Er grinste schwach. Sein Grinsen war genauso kurzlebig, wie mein Lächeln es gewesen war.
»Janlan ...«, setzte er an. Ich wusste, was jetzt kommen würde. Ich sah es in seinen Augen, noch bevor er meinen Namen ausgesprochen hatte. Ich wollte nicht über die Nacht reden. Nicht direkt, weil es für mich schmerzhaft war sich zu erinnern, sondern viel mehr aufgrund des Schmerzes, den er fühlen würde.
»Craig, das ist unnötig. Bitte ... Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich habe dir und Keira alles erzählt, woran ich mich erinnere. Du bist rechtzeitig aufgewacht. Es ist also völlig unnötig, dass du dich so quälst.«
Ich legte ihm eine Hand liebevoll auf seinen Arm. Seine Muskeln waren angespannt, als würde er gleich aufspringen und anfangen Löcher in die Wand zu schlagen.
»Craig ...«
Sein Mundwinkel zuckte auf eine schlechte Art. Ich wusste, dass er sich nicht mehr zurückhalten konnte.
»Und was, wenn nicht!«, platzte es schließlich aus ihm heraus. Ich wusste, dass sein scharfer Ton nicht gewollt war, aber ich zuckte dennoch ein wenig zusammen. Ich hatte Craig bisher noch nie seine Beherrschung auf diese Weise verlieren sehen.
»Was, wenn ich nicht in dein Blut gefasst hätte! Wenn ich mich einfach mehr zur Bettkante gedreht hätte anstatt zu dir! Du bist alles, was ich habe! Ich weiß nicht, wer ich bin ohne dich. Wortwörtlich. Ich kann mich nicht erinnern. An nichts, bis zu dem Zeitpunkt, an dem sich unsere Wege gekreuzt haben. Du bist schon einmal in meinen Armen gestorben! Verdammt, Janlan! Du bist wegen mir gestorben! Und jetzt hätte sich das beinahe wiederholt, nur weil ich geschlafen habe! Du hast keine Ahnung ...«
Er sackte zurück auf den Stuhl, von dem er aufgesprungen war. Er schien schlagartig erschöpft zu sein. Seine Schultern sackten zusammen und sein Kopf senkte sich auf seine Brust, zum Teil, um sicherlich nicht sofort meinem Blick begegnen zu müssen. Ich griff wieder nach seiner Hand, die kraftlos auf der Bettkante lag, und umschloss sie mit meinen Händen. Im Gegensatz zu seinen wirkten sie regelrecht winzig.
»Craig, das was-wäre-wenn Spiel hilft nie weiter. Ganz besonders nicht, wenn du nichts hättest anders machen können. Es ist alles gut gegangen. Ich habe nur ein paar blöde Bewegungen gemacht und die Nähte haben dann einfach den Schnitt weiter eingerissen. Ich hatte einen Schock und du dann sicher auch und dennoch warst du in der Lage sofort Hilfe zu holen. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Und überhaupt, meine Hand ist gut am Heilen. Ich bin schon wieder so gut wie neu.«
Ich nahm meine Hand von seinem Arm und schmiegte sie stattdessen an seine Wange. Eine Träne hatte sich aus seinem Augenwinkel geschlichen und zog ihre feuchte Spur über sein Gesicht. Ich wischte sie sanft mit dem Daumen weg. Ein dankbarer Ausdruck trat in seine Augen, auch wenn er immer noch von tiefer Besorgnis begleitet wurde.
»So gut wie neu ist wohl nicht die Wortwahl, die Keira, Doktor Halfersen oder ich verwenden würden ...«
»Gut, dann sagen wir eben: in gutem Zustand mit leichten Gebrauchsspuren.«
Craigs Mundwinkel zuckten nach oben bei meinem Witz. Ein kleiner Triumph, den ich für den heutigen Tag verbuchen konnte. Für einen kleinen Moment kämpfte ich mit mir selbst. Ich wollte das Lächeln, das endlich auf seinem Gesicht erschienen war, nicht sofort wieder mit der Frage zerstören, die mir auf der Zunge lag. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich musste ihn einfach fragen. Auch wenn ich glaubte, die Antwort zu kennen.
»Du kannst dich immer noch an nichts erinnern?«
Es war merkwürdig, nichts über sein Leben, bevor wir uns kennengelernt hatten, zu wissen. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie es für ihn sein musste.
Craig schüttelte frustriert den Kopf.
»Nichts. Manchmal denke ich, da wären Fetzen, an die ich mich erinnere. Bevor ich sie jedoch zu fassen bekomme, sind sie wieder weg.«
»Und du weißt nicht im Geringsten, was das für kurze Erinnerungsmomente sind?«
»Nein. Wie ich sagte, bevor ich verstehen kann, was sich gerade in meinen Gedanken abspielt, ist es schon wieder vorbei und ich habe nicht die winzigste Ahnung, was es war.«
Ich streichelte ihm über den Arm. Er fühlte sich viel zu warm an. Er zuckte bei meiner Berührung zusammen. Was ich äußerst merkwürdig fand.
»Craig, hast du Fieber?«
»Nein«, kam gleich seine Antwort. »Du aber. Deine Hände sind eiskalt.«
»Das gehört sich so für einen Vampir.«
Ich wollte grinsen, stattdessen fuhr mir ein Stechen durch den Kopf, der meine Hände sogleich zu meinen Schläfen zucken ließ.
»Hast du Kopfschmerzen?«
Craig kannte diese verräterische Geste. Ich nickte. Ich fühlte mich mit einem Mal so müde, als hätte unser Gespräch mich jeder Kraft beraubt.
»Du solltest schlafen. Ich werde Doktor Halfersen holen und vielleicht eine weitere Decke für dich auftreiben.«
Er lächelte mich liebevoll an. Ich erwiderte es, konnte meine Augen aber kaum noch offen halten. Gerade als Craig sich aus seinem Stuhl erhob, griff ich nach seinem Handgelenk um ihn aufzuhalten. Er zuckte dieses Mal nicht zurück, auch wenn meine Hand noch genauso kalt war.
»Wir werden deine Erinnerungen wieder finden«, flüsterte ich leise. Er lächelte mich erneut an, erwiderte aber nichts. Er lehnte sich nur zu mir und gab mir einen kurzen Kuss auf die Stirn, bevor er aus dem Zimmer ging. Ich schlief fast sofort ein.
Weder Keira noch Craig wollten mich in den nächsten Tagen nachhause lassen und Doktor Halfersen war auch keine große Hilfe. Er war der Meinung, dass ich besser noch unter Beobachtung bleiben sollte. Mir war nicht entgangen, dass ich noch blasser war als gewöhnlich. Aber inzwischen waren weitere drei Tage vergangen und ich fand, dass mein Gesicht seine übliche Farbe zurückhatte. Nichts Vampirmäßiges mehr. Der Schnitt auf meiner Hand war auch nicht wieder aufgerissen. Ich sah also keinen Grund, warum ich weiter hier bleiben sollte. Ich hatte immer wieder versucht Doktor Halfersen, und vor allem Keira, davon zu überzeugen, aber es schien einfach aussichtslos. Dass ich mir angewöhnt hatte, alle paar Minuten nach dem Amulett an meinem Hals zu greifen, half mir nicht bei meinen Bemühungen, sondern brachte mir nur sorgenvolle Seitenblicke von Keira ein. Ich war mir immer noch sicher, dass das Amulett mich schützte. Seit ich im Krankenhaus lag und es trug, war nichts Merkwürdiges mehr passiert. Ich hatte aufgegeben, mit Craig oder Keira darüber reden zu wollen. Sie wechselten jedes Mal das Thema. Sie benahmen sich fast so, als hätten sie noch nie etwas mit Magie zu tun gehabt. Und etwas anderes hatte es unmöglich sein können. Es war, als würden sie denken, ich sei aus Glas und könnte jede Sekunde zerspringen, wenn sie eine Diskussion darüber mit mir beginnen würden. Dann warf Craig jedes Mal einen besorgten Blick zu Keira und diese versuchte mich geschickt auf ein anderes Thema zu lenken. Ich bemerkte, was sie tat. Zuerst hatte mich das wütend gemacht, am sechsten Tag hatte ich es schließlich aufgegeben und behielt meine Gedanken für mich.
Als die Sonne am achten Tag hinter den Dächern der kleineren Häuser verschwand, wartete ich bis Keira das Krankenhaus verlassen hatte. Ich hatte sowohl sie als auch Craig am fünften Tag endlich überzeugen können, nicht mehr länger abwechselnd in diesem unbequemen Stuhl zu schlafen, sondern in ihren eigenen Betten. Sie hatte endlich nachgegeben, sicherlich nicht nur wegen mir, sondern auch wegen ihren geschundenen Muskeln. Beide hatten jedes Mal gestöhnt, wenn sie größere Bewegungen gemacht hatten, die ihre Muskeln auch nur ein wenig gestreckt hatten. Ich drückte sofort den Rufknopf für die Schwestern, als ich sicher war, dass Keira auf ihrem Weg nach Hause war. Es dauerte nicht lange, bis Ronja - eine der jüngeren Schwestern - in mein Zimmer kam.
»Wie kann ich dir helfen?«, sie fragte es und schaffte es währenddessen die ganze Zeit zu lächeln.
»Ich würde jetzt gerne nach Hause. Und soweit ich weiß, kann ein Patient sich selbst entlassen. Stimmt doch, oder?«
Ich sah sie prüfend an, entschlossen, dass ich nicht noch eine Nacht in diesem Bett verbringen würde.
»Das stimmt schon, allerdings ist es uns allen lieber, wenn ein Arzt einen Patienten entlässt.«
Sie lächelte mich immer noch an und ich starrte nur grimmig zurück. Ich wollte endlich nach Hause und ihr strahlend weißes Lächeln würde mich nicht davon abbringen.
»Ich werde nicht noch eine Nacht hierbleiben. Also können sie bitte den Papierkram holen.«
Ich hatte es nicht als Frage formuliert und Ronja schien das nicht entgangen zu sein. Sie stand noch eine Minute unentschlossen in der Tür, doch dann drehte sie sich um und verschwand aus meinem Sichtfeld. Ich ließ mich zurück in das Bett fallen und sah genervt aus dem Fenster. Der Himmel war bereits in sein schwarzes Laken gehüllt und die Sterne warfen ein schwaches Licht in das sterile Zimmer. Die einzige Farbe, die den Raum etwas gemütlicher gemacht hatte, stammte von den ganzen Blumen, die Craig jeden Tag mit in das Krankenhaus brachte. Als ich das Rascheln von Papier vernahm, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die Tür. Ronja kam gerade um die Ecke und sortierte die Entlassungspapiere.
»Ich habe mit Doktor Halfersen gesprochen. Er ist von deiner Entscheidung nicht angetan, aber er respektiert sie und hat die Papiere bereits unterzeichnet. Dann fehlt nur noch deine Unterschrift.«
Sie reichte mir Stift und Papier, das ich ihr sogleich abnahm und eilends unterschrieb. Kaum dass sich die Spitze des Stiftes wieder vom Papier trennte, sprang ich auch schon aus dem Bett. Ich schwankte kurz, aber das war für mich mehr als normal. Etwas, das Ronja nicht wusste.
»Bist du sicher, dass du gehen möchtest?«, sie hielt eine Hand hinter meinen Rücken, als fürchtete sie, dass ich jeden Moment umkippen könnte.
»Ja. Mir geht’s prima. Muss ich sonst noch etwas unterschreiben oder kann ich jetzt einfach gehen?«
Sie beäugte mich misstrauisch, wobei sie dennoch immer noch lächelte. Etwas, das zusammen äußerst skurril aussah.
»Nein, das war alles. Du kannst gehen.«
Das war mein Stichwort. Ich packte meine Jacke, zog sie über und schulterte meine Tasche, die ich seit Tagen schon gepackt hatte. Ich dachte nicht einmal daran, mir etwas anderes als meinen Pyjama anzuziehen. Ich stürmte aus dem Zimmer und nahm eines der Taxis vor dem Krankenhaus. Craig würde nicht erfreut sein, dass ich mich gegen den Rat des Arztes entlassen hatte, aber mit ihm würde ich schon fertig werden. Ich hatte so meine Mittel ihn abzulenken. Das Gespräch mit Keira hingegen würde unangenehmer werden. Craig lag jetzt vermutlich schon im Bett, und wenn ich Glück hatte, würde er nicht einmal merken, dass ich mich mitten in der Nacht in mein eigenes Haus schlich. Ich reichte dem Taxifahrer zehn Euro, als er den Wagen vor der großen Haustür anhielt. Wie immer war die Tür nicht verschlossen. Ich schloss sie nie ab, ich hatte ja ein Tor, das unerwünschten Besuch fernhielt. Das Schloss klickte leise, als ich die Tür öffnete. Ich vermied es, Licht zu machen. Ich musste ja nicht provozieren, dass Craig aufwachte. Fast schon entschied ich mich dafür, auf der Couch zu schlafen, aber dann fiel mir ein, wie ungemütlich diese zum Schlafen war. Auf Zehenspitzen schlich ich mich in unser Schlafzimmer. Jetzt erwies es sich als sehr praktisch, dass ich immer noch meinen Pyjama trug. So würde ich mich nicht im Dunklen zum Schrank tasten müssen. Ich ließ die Jacke auf den Boden fallen und glitt geräuschlos in das Bett. Craigs Körper hob sich als schwarze Silhouette von dem Mondlicht ab, welches durch das geöffnete Fenster fiel. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Ich hatte nicht vorgehabt ihn zu wecken, wenn er nicht von selbst aufwachen würde, aber nun fiel das silbrige Licht auf sein Gesicht und es schimmerte wie an dem Tag, als ich ihn das erste Mal in meinen Träumen gesehen hatte. Das Licht tanzte über sein Gesicht und zeichnete jedes Merkmal sanft heraus. Ich konnte nicht glauben, dass ich für einen Moment nicht mehr gewusst hatte, wer er war. Es war beängstigend, wie einfach ich ihn vergessen hatte. Jetzt, da ich mich erinnerte, schien mir das, was wir hatten, noch wertvoller. Ich musste es nicht bewusst steuern. Ich sank einfach in die Seelensicht und erblickte den silbrig blauen Faden, der mich mit Craig verband. Ein für mich sichtbarer Beweis, dass ich nicht mehr suchen musste.
Einem Impuls folgend, den ich nicht im Geringsten unterdrücken konnte oder wollte, legte ich sachte eine Hand an Craigs Wange. Ich erinnerte mich nur zu gut, dass diese einfache Berührung noch vor Monaten nicht möglich gewesen war. Tödlich hätte es damals eher getroffen. Ich neigte meinen Kopf zu ihm hinunter und küsste ihn. Eine Gänsehaut überfiel meinen Körper, als hätte ich ihn zum ersten Mal geküsst. Zuerst erwiderte er meinen Kuss, dann zuckte sein Kopf zurück und er blinzelte in die Dunkelheit.
»Janlan?«
Er klang verwirrt. Ich antwortete ihm nicht, sondern setzte mich auf seinen Schoß und verschränkte meine Arme hinter seinem Nacken. Ich küsste ihn erneut, nur nicht so zaghaft wie eben noch. Er wollte etwas sagen, was mich nur dazu verleitete ihn noch heftiger zu küssen. Ich spürte, wie sein Widerstand zu bröckeln begann. Mit meiner gesunden Hand fuhr ich über seine freie Brust und zeichnete seine Muskeln nach. Ich fühlte, wie er unter meiner Berührung zitterte. Liebevoll strich er mit seinen Fingern meinen Rücken hoch und wieder hinunter. Als seine Hand das dritte Mal meinen Rücken hinauf glitt, zog er mein Pyjamaoberteil mit sich. Es landete bei meiner Jacke neben dem Bett. Seine Finger fuhren nun über meine unzähligen Narben, die selbst bei dem Mondlicht noch gut sichtbar waren. Einige waren immer noch rot. Sie ließen mich nicht vergessen, dass ich gefoltert worden war. Das würde ich wohl nie vergessen dürfen. Craig hingegen sah sie als einen Teil von mir. Er küsste jede Einzelne und fast war es so, als würde mit jeder Berührung seiner Lippen ein wenig von dem Schmerz der Erinnerung verschwinden. Seine Lippen trafen nun auf eine Narbe an meinem Hals. Die Stelle war immer noch empfindlich und jagte einen Schauer durch meinen Körper.
»Ich liebe dich. Das darfst du nie vergessen«, flüsterte ich ihm leise ins Ohr. Es war nur für ihn bestimmt, der Rest der Welt sollte es nicht hören. Bevor ich es wirklich mitbekam, lag ich unter Craig und verschwand in den sich aufbäumenden Deckenbergen.
Als ich am nächsten Morgen von einem Sonnenstrahl auf meinem Gesicht geweckt wurde, lag mein Kopf auf Craigs Brust und ich hörte seinen leisen, rhythmischen Herzschlag. Es war wundervoll, seine warme Haut zu spüren. Nicht so wundervoll war der weiße Verband, der sich von seiner Hautfarbe abhob und mich wieder an alles erinnerte. Dieser Morgen hatte sich so normal angefühlt. So friedlich. Ich wusste, dass es trügerisch war. Und ich wusste, dass ich Recht hatte. Dass sich dort draußen etwas zusammenbraute. Ich würde es für mich behalten. So viel von dem normalen Leben leben, wie es mir möglich war. Und vor allem Craig und Keira ein normales Leben führen lassen. Bis jetzt war niemand anderem etwas geschehen. Warum also ihre heile Welt ins Wanken bringen?
»Guten Morgen«, flüsterte ich zu Craig. Ich streckte mich zu seinem Gesicht, um ihm einen Kuss zu geben, als ich merkte, dass er wach war.
»Morgen«, erwiderte er und drückte mich noch enger an sich. Es war perfekt und ich würde nicht diejenige sein, die diese Illusion zum Einsturz brachte. Nicht jetzt. Nicht heute und wenn möglich nie.
Ich hielt an meinem Plan fest. Oder eher versuchte ich an meinem Plan festzuhalten. Allerdings geriet mein Entschluss bereits beim Mittagessen wieder ins Schwanken. Im Fernsehen liefen nebenbei die Nachrichten. Ich hörte normalerweise nicht wirklich zu. Heute tat ich es. Ich hatte Claras Foto aus dem Augenwinkel gesehen und stellte den Ton sofort lauter. Die Nachrichtensprecherin war die Art Reporterin, die Massen von Einschaltquoten haben musste und fast jeder ihrer Zuschauer war sicherlich männlich.
»Wieder liegt der Polizei ein weiterer Vermisstenfall vor. Vermisst wird die siebzehnjährige Clara Halfersen aus Amalen. Die Polizei bittet um die Mithilfe aller Bürger Alaniens und ist für jeden Hinweis auf Claras Aufenthaltsort dankbar. Clara Halfersen ist nun die Zweiundzwanzigste, die dieses Jahr verschwand. Die Polizei fürchtet Zusammenhänge zwischen den einzelnen Fällen, da es sich immer um Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis achtzehn Jahren handelt. Die Polizei fordert alle Eltern auf, Kinder in diesem Alter nicht unbeaufsichtigt zu lassen und hofft auf eine baldige Aufklärung. Das war für sie Sandra Alberny, hier kommt jetzt How I Met Your Mother. Ich wünsche viel Spaß und einen wunderschönen Tag.«
Sie lächelte verführerisch und die Titelmelodie der Serie vermittelte einen unbeschwerten Eindruck. Mir hatte sich der Magen umgedreht.
»Bist du in Ordnung?«
Craig sah von seinem Buch auf und musterte mein blasses Gesicht. Ich ärgerte mich, dass ich zwar nicht rot werden konnte, sehr wohl aber blass.
»Mir geht’s gut. Keine Sorge.«
Ich lief zum Sofa und setzte mich neben ihn, wobei ich mich an ihn kuschelte. Der Sonnenschein vom Morgen war wie ein weit entfernter Traum. Das Wetter war umgeschlagen. Regen prasselte nun gegen die Fensterscheiben und verhüllte alles, was weiter als zehn Meter entfernt war. Der perfekte Tag um die Zeit vor dem Kamin zu verbringen. Ich trug einen von Craigs Pullis. Einen marineblauen mit V-Ausschnitt, der mir viel zu groß war, aber furchtbar bequem. Zudem hatte er noch so lange Ärmel, dass ich ohne Probleme den Verband verstecken konnte. Ich mochte es nicht, wie Craigs Gesichtsausdruck sich veränderte, wenn er ihn sah.
»Tut es noch weh?«
Er nickte zu meiner Hand und versuchte so beiläufig wie möglich zu klingen. Er hatte seinen Blick nicht wirklich vom Buch abgewendet.
»Nicht besonders.«
Ich zog den Ärmel über meine Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich fröstelte trotz des Kamins.
»Ist dir kalt?«
Sofort klang er besorgt. Es war lästig, wie vorsichtig Craig und Keira mit mir umgingen. Wie mit einem Porzellanpüppchen. Und ich war ganz sicher kein Püppchen. Ich war noch nie ein Püppchen gewesen und ich hatte mir auch nie gewünscht eines zu sein. Daher ärgerte es mich ganz besonders.
»Nicht mehr als sonst. Steht in der Zeitung etwas über Clara?«
Ich wollte ein ergiebigeres Thema finden, als die Tatsache, dass ich eine Frostbeule war, deren gängigstes Accessoire ein weißer Verband war. Er ließ sich darauf ein, wissend, dass ich nicht weiter über meine Hand reden würde.
»Nur das, was in den Nachrichten bekannt gegeben wurde und eine Liste von Namen der Kinder, die ebenfalls vermisst werden. Warum interessierst du dich so dafür?«
»Weil ich Clara kenne! Ich kenne Clara und ich kenne ihre ganze Familie. Ich bin mit ihr aufgewachsen. Wie kann dich das nicht interessieren? Sie würde nie freiwillig so lange wegbleiben. Ein, zwei Tage, ja. Aber nicht so lange. Und die anderen Kinder ... Das ist nicht normal und die Familien tun mir leid. Jemand sollte etwas unternehmen. Wir leben in Alanien und nicht in New York. Wir können nicht raus aus Alanien. Das heißt, die Vermissten müssen irgendwo im Land sein. Wenn es einen Weg über die Berge geben würde, dann wären schon längst eine ganze Menge Menschen geflohen, als der Zirkel an der Macht war. Die Nachricht über einen Weg hinaus würde sich sicher verbreiten wie ein Waldbrand. Und es ist auch nicht so, als würde die Welt sich wirklich für uns interessieren. Klar, wir bekommen hier ihr Fernsehen und alles, aber kannst du dich erinnern, wann das letzte Mal jemand mit einem Bewohner eines anderen Landes geredet hat? Oder kannst du dich zumindest daran erinnern, dass deine Eltern etwas Derartiges mal erzählt haben? Ich nicht. Der Zirkel ist fort. Niemand sollte mehr Angst haben hier zu wohnen und wie soll man keine Angst haben, wenn Kinder und Jugendliche einfach verschwinden? Wie kann dich das kalt lassen? Clara wohnt fünf Straßen weiter. Ihr Onkel hat mich mehr als einmal wieder zusammengeflickt. Falls du dich erinnerst, er hat mir erst kürzlich das Leben gerettet.«
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Laura Jane Arnold
Bildmaterialien: Laura Jane Arnold
Tag der Veröffentlichung: 02.07.2014
ISBN: 978-3-7368-2376-1
Alle Rechte vorbehalten