Ausgerechnet zum Feiertag
Historische Mord(s)geschichten
von
Barbara Schlüter
Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden.
Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.
www.elveaverlag.de
Kontakt: elvea@outlook.de
Auflage: Schardt-Verlag 2018
Neuauflage: © ELVEA 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf, auch teilweise,
nur mit Genehmigung des Verlages
weitergegeben werden.
Autorin: Barbara Schlüter
Bildquelle/Titelbild: Andreas-Andrew Bornemann
www.postkarten-archiv.de
Covergestaltung/Grafik: ELVEA
Layout: Uwe Köhl
Projektleitung
www.bookunit.de
Barbara Schlüter ist seit 33 Jahren selbständige Kommunikationstrainerin, Coach und Managementberaterin. Als wissenschaftliche Assistentin (damals Barbara Kroemer) am Historischen Seminar der Universität Hannover bot sie als Erste Veranstaltungen zum Thema ›Frauen in der Geschichte‹ an. Mit ihrem Sachbuch ›Rhetorik für Frauen‹ (1987) hat sie Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet.
Sie lebt nach einigen Jahren im Rheinland seit 2001 wieder in ihrer Heimatstadt Hannover und auf La Palma.
Ihre historische Romanreihe um 1890 ›Vergiftete Liebe‹, ›Verheimlichte Liebe‹, ›Gerächter Zorn‹ mit Detektivin Elsa besteht aus jeweils in sich abgeschlossenen Folgen. Außerdem ist Elsa aktiv in der Hannover Erzählung (1889) Wenn der Kaiser kommt, ist Feiertag in ›Ausgerechnet zum Feiertag – historische Mord(s)geschichten‹ und in ›Ein eiskaltes Händchen‹ (Hannover 1888/89) in: Joachim Anlauf, Peter Gerdes (Hrsg) Tod unterm Schwanz, Anthologie zur Criminale 2020 in Hannover, Gmeiner Verlag.
www.dr.b-schlueter.de
Hannover und Konstantinopel – Osterzeit 1897
Ostermorgen
Wald und Strom im Silberduft,
Glockenklang in sonn’ger Luft;
Durch die Lande frisches Wehen –
Quellensingen, Auferstehen!
Mädchenherz, auch dich umblühe
Ahnungsreich die Osterfrühe:
Fühl den Himmel wieder offen –
Und Erfüllung jedem Hoffen!
Julius Lohmeyer
*
Fritz Bindseil blickte seinen Schwiegervater erstaunt an. »Eine Reise? Noch dazu eine so außergewöhnliche? Wozu soll das gut sein?«
»Walburga heiratete dich mit knapp siebzehn – viel zu früh! Ich hätte es gern gesehen, dass sie noch ihre Sprachkenntnisse weiter vertieft hätte – nicht zuletzt wäre dies auch nützlich für die Geschäfte gewesen. Frisch aus dem Pensionat ging sie in die Ehe mit dir, bekam in drei Jahren drei Kinder. Es wird Zeit, dass sie mal etwas von der Welt sieht.«
»Lieber Schwiegerpapa«, Fritz Bindseil wusste genau, dass sein fast gleichaltriges Gegenüber diese Anrede hasste, »du weißt, ich lese Walburga fast jeden Wunsch von den Augen ab, aber bei einer so blutjungen Gemahlin galt es, ein gerechtes, aber auch strenges Eheregiment zu führen. Dies ergab sich einfach aus der Natur der Sache, sie war ein entzückendes junges Frauenzimmer, dem jedoch natürlich noch einiges an Leitsätzen für das Ehe- und Familienleben, kurz das Rüstzeug für den Alltag fehlte.«
»Fritz, du bist ihr Mann, nicht ihr Vater. Das bin bekanntermaßen ich! Der Altersunterschied war ja allen Beteiligten hinlänglich bekannt. Und dadurch, dass du ihr den umfangreichen Ratgeber von Amalie Baisch Ins eigene Heim geschenkt hast, wurde der auch nicht wettgemacht. Sowohl deine Schwester als auch ich hätten sich für einen Vierzigjährigen eine etwas reifere Frau gewünscht.«
»Schnee von gestern«, murrte Fritz Bindseil. »Walburga und ich führen eine gute Ehe. Und eine so junge Frau kann ein Mann eben noch besser nach seinen Vorstellungen formen.«
»Das mit dem Formen ist dir ja intensiv gelungen, drei Geburten in drei Jahren! Ich mache mir Sorgen. Kaum war sie der Kinderstube entwachsen, machte sie ja ihre eigene auf.«
»Ja, aber mit lauter Mädchen! Nun habe ich eine junge, hübsche Frau, aber was nutzt mir das alles, ohne Stammhalter?«
Gustav Behrends zuckte mit den Schultern. »Du hast drei bildhübsche, nette kleine Töchter! Dafür kannst du doch dankbar sein. Und du weißt ja, dass der Arzt nach der Geburt des dritten Kindes dringend anempfohlen hat, keine Schwangerschaft mehr zu riskieren. Jede weitere Geburt bringt Walburga in Lebensgefahr.«
»Soll ich etwa leben wie ein Mönch? Du weißt selber, dass die Verderbnis der Säfte für einen Mann ungesund ist.«
»Nun sei mal nicht päpstlicher als der Papst. Wie ich dich kenne, wirst du dafür wohl eine Lösung gefunden haben.«
Fritz Bindseil zog an seiner Zigarre, die ihm Gustav angeboten hatte, und brummte vor sich hin.
In der Tat hatte ich mich arrangiert, dachte er. Anna, eine dralle kleine Weißnäherin aus dem Hannover benachbarten Linden, für ihre sechzehn Jahre doch recht kess, kam ihm da gerade recht. Im Gegensatz zu Walburga, die die ehelichen Pflichten lediglich über sich ergehen ließ, fand Anna ganz offensichtlich Spaß an der Freud. Das führte dazu, dass er des Öfteren in Linden weilte und Anna sich eine winzige Wohnung, die ihr ganzer Stolz war, leisten konnte. Diese Puppenstube hielt sie peinlich sauber. Allerdings fragte er sich manchmal, ob er der einzige Verehrer war, der sie dort besuchte. Jedenfalls war sie jetzt schwanger, was ihn veranlasste, davon auszugehen, dass es noch andere gab. Seine Besuche bei Anna hatte er ebenso prompt eingestellt wie seine Zuwendungen. Lasse mich schließlich nicht für dumm verkaufen, auch wenn sie Stein und Bein geschworen hat, das Kind sei von mir. Dummes Weibergeflenne, schimpfte er innerlich. Allerdings, das enthaltsame Leben, das ich jetzt wieder führe, passt mir überhaupt nicht. Und im Bordell holt man sich ruck zuck den Tripper oder Schlimmeres.
Sein Schwiegervater riss ihn aus seinen Überlegungen. »Also, ihr holt die versäumte Hochzeitsreise, die ihr aus uns wohlbekannten Gründen damals nicht unternehmen konntet, nach.«
»Zu frühe Geburten kommen in den besten Familien vor, Gustav!«
Der überhörte den Einwand vornehm und fuhr fort: »Eine Fahrt mit dem Orient-Express, das ist doch eine extraordinäre Sache. Das spannendste und modernste, was es zurzeit gibt. Konstantinopel, die Endstation Europas, die Stadt auf den zwei Kontinenten. Der Luxuszug wird euch ebenso auf andere Gedanken bringen wie die Stadt selber.«
»Aber, Gustav, das wird teuer! Und unsere Geschäfte!« Fritz fühlte sich völlig überrumpelt. »Außerdem kann ja wohl von Hochzeitsreise keine Rede sein«, fügte er halblaut brummig hinzu.
Sein Schwiegervater überging dies erneut geflissentlich.
»Unsere Geschäfte laufen glänzend. Behrends und Bindseil Import & Export steht so gut da wie lange nicht mehr. Und du könntest dich nach einigen Waren für unsere Firma umsehen. Der Zeitpunkt ist auch günstig. Denn die Muslime feiern Ostern nicht, also könnt ihr Geschäfte machen. Walburga kann dich da bestens unterstützen, sie hat einen exzellenten Geschmack und Gespür für Qualität – ich denke vor allem an türkische Shawls aus Kaschmir, Goldschmuck, Gewürze und hochwertige Sultaninen. Dazu einige exquisite Süßigkeiten, wie Halwa, die natürlich Walburga kosten muss. Auch Produkte für die nächste Ostersaison könnt ihr ordern. Naschereien zu Ostern werden ja immer beliebter, und verpacken lassen können wir hier. Oder wir befüllen zum Beispiel mit Ostermotiven gestaltete, zweiteilige Pappeier. Ich habe mich bereits im Fabrikantenverein erkundigt. Ihr werdet im besten Hotel absteigen, im Pera Palace.«
»Na, du bist ja mit deinen Planungen schon weit gediehen«, murrte Fritz, dem zugleich schwante, dass weiterer Widerstand gegen die Pläne seines Schwiegervaters zwecklos war.
»In der Tat, denn wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir verbinden das Geschäftliche mit dem Privaten. In Konstantinopel treffen sich Ost und West, da lassen sich gute Geschäfte anbahnen«, versuchte Gustav Behrends sein Gesicht zu wahren. Die Gesundheit und das Glück seiner einzigen Tochter, um die er sich große Sorgen machte, waren ihm das Wichtigste auf der Welt. Als Walburga ein hübsches kleines Mädchen war, entdeckte er bereits ihre rasche Auffassungsgabe. Es hatte ihm Spaß gemacht, sie Sprachen lernen zu lassen und sie mit den Waren bekannt zu machen. Welch ein Jammer, dass sie nur ein Mädchen war, sie hätte ohne Weiteres das Zeug gehabt, ins Geschäft einzusteigen. Er riss sich zusammen und wandte sich wieder an seinen Schwiegersohn.
»Wir werden uns noch um einige Kontaktadressen kümmern, Fritz, und dann könnt ihr vor Ostern losfahren.«
Walburga sah ihrem vierten Ehejahr mit gemischten Gefühlen entgegen. Niemand würde der immer noch schlanken, bildhübschen Neunzehnjährigen mit dem seidigen blonden Haar zutrauen, Mutter von drei Kindern zu sein. Ihre Ehe mit dem wesentlich älteren Geschäftspartner ihres Vaters war so lange recht harmonisch verlaufen, wie sie sich anpasste. Das Problem des fehlenden Stammhalters jedoch ließ sich nicht durch Anpassung lösen. Alle Sorgfalt, die sie anwendete, um einen perfekten Haushalt zu führen, eine gute Gastgeberin zu sein, auf die Gesundheit ihres Gatten zu achten, konnte dies nicht wettmachen. Sie sorgte dafür, dass ihr Fritz keine Speisen zu sich nahm, die Nüsse enthielten. Denn egal ob Hasel- oder Walnüsse waren diese ihrem Manne unverträglich. Wie gut, dass der Hausarzt dieser Tatsache überhaupt auf die Spur gekommen war, denn Fritz hatte sowohl nach dem Genuss einer Walnusstorte mit Sahne als auch einem Dessert mit Haselnüssen heftige Erstickungsanfälle bekommen, was Anlass zu großer Besorgnis gewesen war. Nun wusste sie, was strikt gemieden werden musste und erkundigte sich stets, wenn sie auswärts speisten, genau nach der Zubereitung der Gerichte, die er zu bestellen wünschte. Indessen konnte sie nicht mehr die Augen davor verschließen, dass eine gewisse Entfremdung eingetreten war. Dies lag nicht nur daran, dass sie das Ehebett nicht mehr miteinander teilten – jegliche Maßnahme, um eine Schwangerschaft zu vermeiden, lehnte ihr Gatte als unmännliche Zumutung ab –, sondern es auch zu keinerlei Austausch von Zärtlichkeiten mehr kam. Fritz, der bisher wesentlich jünger als ihr Vater gewirkt hatte, wurde stattlicher. Die Tränensäcke unter seinen Augen und sein Embonpoint verrieten, dass er den Mahlzeiten wie dem Wein reichlicher zusprach als früher. Walburga fühlte sich allein gelassen – Fritz bot ihr nicht mehr die starke Schulter und den sicheren Hafen des älteren Beschützers. Er hatte sich in einen vorzeitig alternden Nörgler verwandelt und ließ sie beständig ihr Versagen spüren, dass sie ihm keinen Stammhalter mehr schenken konnte.
Zunächst hatte sich Walburga sehr gegen Urlaubspläne gesträubt, da sie sich keinesfalls von ihren Töchtern trennen wollte. Und schon gar nicht zum Osterfest, da sich die Mädchen sehr auf den Osterfuchs freuten. Denn sie hatte die alte hannöversche Tradition, dass der Fuchs die Eier bringt, immer hochgehalten. Nun, die Kinder waren bei den Großeltern gut aufgehoben, und ihre Mutter würde sicherlich eine feine Semmel in der Form eines Lammes backen, wie sie es aus ihrer eigenen Kindheit in Erinnerung hatte. Wider Erwarten genoss sie jetzt die Reise. Bereits die Zugfahrt in der 1. Klasse nach Paris lenkte sie ab. Als sie dann am Gare de l’Est, der Ausgangspunkt des Orient-Expresses war, in den äußerst luxuriösen Zug einstiegen, kam Vorfreude in ihr auf. In circa neunzig Stunden würden sie in dem dampfenden Ungetüm, das ungeduldig schnaubend auf den Gleisen stand, über Wien, Budapest, Belgrad und Sofia ihr Ziel Konstantinopel erreichen. Wie oft hatte sie die Werbeplakate für den luxuriösen Orient-Express bestaunt, und nun würde sie selber damit fahren.
Es blieb gerade noch Zeit, um sich vor dem Dinner im Schlafwagen einzurichten und frisch zu machen. Schon beim Eintreten in das üppig ausgestattete Abteil bemerkte Walburga erleichtert, dass die Betten getrennt waren. Der Speisewagen übertraf noch ihre Erwartungen – das kostspielige Interieur konnte sich mit jedem Luxusrestaurant messen. Silber blinkte, fünfarmige Kerzenleuchter spendeten angenehmes Licht, Porzellan mit dem Emblem des Orient-Expresses zierte die perfekt eingedeckten Tische. Und auch die Speisekarte versprach höchste kulinarische Genüsse. Schildkrötensuppe Lady Curzon – ihr lief das Wasser im Munde zusammen.
Beim Dinner bewunderte Fritz Bindseil im Stillen seine junge Frau, die angenehm zu plaudern verstand und dabei scheinbar mühelos vom Englischen ins Französische wechselte. Sie strahlte eine selbstverständliche Weltgewandtheit aus, die ihm selber, das musste er leider feststellen, durchaus schwer fiel. Dies versuchte er mit einer Mischung aus Besitzerstolz und der Gelassenheit des Älteren zu überspielen. Gerade schlug sie der Tischrunde vor: »Lassen Sie uns die Gläser heben, um Georges Nagelmackers zu ehren, der 1876 die Compagnie Internationale des Wagons-Lits gründete. Wie gut, dass ihm die bequemen Pullman-Züge in den USA so gut gefielen, dass er so etwas auch unbedingt in Europa haben wollte.«
»Da kann ich meiner entzückenden jungen Gemahlin nur zustimmen.« Er hob sein Champagnerglas und lächelte freundlich herablassend in die Runde. Dieser Architekt August Jasmund, der den vielgepriesenen neuen Bahnhof im Stil des europäischen Orientalismus in Konstantinopel gebaut hatte, verschlang Walburga ja geradezu mit den Augen.
»Erstaunlich, mit wie wenigen Erschütterungen die Fahrt vonstattengeht«, bemerkte Walburga gerade.
»Das liegt daran, dass die Schlaf- und Speisewagen vierachsig und mit Drehgestellen ausgestattet sind, einige wurden von der Waggonfabrik Josef Rathgeber in München gebaut«, wusste der wohlinformierte Jasmund zum geheimen Ärger von Fritz Bindseil eilfertig zu erklären.
In der Nacht wiegten die sanft rollenden Räder Walburga in den Schlaf. Es ist, als ob sie summten: ‹Wir fahren weit, wir fahren weit›, ging es ihr durch den Kopf, bevor sie in einen lange nicht gekannten, festen Schlummer fiel.
Nach vier Tagen des Unterwegsseins, in denen sie beständig wechselnde Landstriche durchquert hatten, meinte Walburga: »Ich freue mich darauf, mehr Bewegung zu bekommen und Konstantinopel zu entdecken.«
Fritz Bindseil ging es ähnlich, aber er konnte dies natürlich nicht unkommentiert lassen. »Es ist nichts schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen. Und wenn unser Kaiser Wilhelm II. bereits 1889 an den Bosporus rauschte, so soll es uns auch recht sein, nun diese Stadt zu entdecken. Aber ich muss zugeben, den ganzen Komfort des Orient-Expresses noch mal auf der Rückfahrt zu erleben, wird ein krönender Abschluss sein.«
Beim letzten Frühstück vor der Ankunft in Konstantinopel nutzte Jasmund die Gelegenheit, um vor Walburga zu glänzen, was erneut den Unwillen von Fritz hervorrief.
»Gnädige Frau, ich bin sehr gespannt, wie Ihnen der Bahnhof gefallen wird. Der Komplex steht auf einer Fläche von 1.200 Quadratmetern, und Sie werden sehen, wie meine Studien über die osmanische Architektur den Stil beeinflusst haben. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass dies auch die Entwürfe anderer Architekten anregen wird. Außerdem ist das Gebäude mit seiner Gasbeleuchtung und seiner Winterheizung das Nonplusultra an Modernität.«
»Nun, das werden wir im Pera Grand Palace auch haben«, verwies Fritz den Angeber auf seinen Platz. »Das Pera ist das einzige Hotel, das Elektrizität, fließend warmes Wasser und einen Aufzug hat.«
»Sie werden auch im Pera absteigen, wie schön! Ja, mein Kollege Alexander Vallaury hat die Perle von Konstantinopel in einer Mischung aus Jugendstil, orientalischen und neoklassizistischen Stilelementen gestaltet. Das Viertel, in dem sich das Hotel befindet, wird auch Klein-Europa genannt. 1870 gab es dort einen verheerenden Brand, dem über dreitausend Holzhäuser zum Opfer fielen. Danach hat man alles im modernen Stil wiederaufgebaut.«
»So, so«, lautete der Kommentar des offensichtlich übellaunigen Fritz Bindseil, dem der letzte Absacker nicht bekommen war und dem überdies die Erkenntnis, mit dem lästigen Jasmund nun auch noch das Hotel teilen zu müssen, keineswegs gefiel.
Mittlerweile ging Walburga das Gerangel zwischen den beiden Männern auf die Nerven, und sie war froh, als sie endlich aussteigen konnten. Die Architektur des Bahnhofs begeisterte sie sofort, was sie gescheiter Weise für sich behielt.
Über den Türen, die ins Bahnhofgebäude führten, sorgten riesige Rosetten für Lichteinfall; die mit weißem Marmor kunstvoll ausgeführten Umrahmungen waren bis zur halben Höhe mit roten Ziegeln ausgefacht. Und welche Überraschung im Inneren! Drei übereinanderliegende, unterschiedlich geformte Fensterreihen machten die Säle hell und luftig. Die Mischung von Eisenarchitektur, osmanischen Baustilen und europäischen Elementen gefiel Walburga so gut, dass sie im Geiste dem charmanten Herrn Jasmund gratulierte. Kaum hatten sie die Räume durchquert, wurden sie von einem Angestellten des Hotels begrüßt, der sich um das Gepäck und die Formalitäten kümmerte.
Vor dem Bahnhofsgebäude wartete bereits die nächste Überraschung: Die Gäste des Pera wurden doch tatsächlich mit prächtigen Sänften abgeholt, die von jeweils zwei Männern getragen wurden! Wohl fühlte sich Walburga dabei nicht, aber ehe sie sich versah, war sie in eines dieser Gefährte hineinkomplimentiert worden. Eine Art Aufseher begleitete die Karawane, die sich nun Richtung Bosporus aufmachte.
Walburga fand es angenehm, endlich einmal allein zu sein und die exotische Kulisse, die sich draußen vor ihren Augen abspielte, ohne die Kommentare ihres Gatten genießen zu können. Die für ihr Auge ungewöhnlichen Gebäude zogen sie ebenso in ihren Bann wie das Gewimmel unterschiedlichster Menschen. Ein tief gebeugter Mann schleppte zwei riesige Ballen auf Kopf und Rücken, Männer mit Fes, Uniformierte, tief verschleierte Frauen, bärtige Juden, dazwischen einige Europäer mit flotten, kreisrunden Strohhüten auf dem Kopf zogen an ihr vorüber.
Nachdem sie den Bosporus überquert hatten, muteten die Häuser in der Tat europäischer an. Da hielten sie auch schon vor dem fünfstöckigen Hotel, dessen Eingang von einem in eleganter Eisenarchitektur gekrönten Glasdach überspannt war. Kurz darauf standen sie vor dem Fahrstuhl. Völlig beeindruckt von der zum Treppenhausgeländer passenden Komposition des Liftes aus Eisenornamentik und Holz sagte Walburga: »Das ist gewiss der schönste Aufzug der Welt. Der Lift steigt auf wie eine Lady, die geknickst hat. Dieser Aufzug wirkt zutiefst vollkommen, schön und aristokratisch. Das ist eine wunderbare Mischung von Technik und Ästhetik.«
Walburga bestaunte die luxuriöse Ecksuite mit den französischen Balkonen im vierten Stock. Aus den Fenstern ergab sich ein fantastischer Blick auf das Goldene Horn und Pera. Fritz, der neben sie getreten war und ihre Schulter umfasste, zeigte sich ebenfalls beeindruckt.
»War doch eine gute Idee von Gustav«, meinte er. »Was hältst du davon, wenn wir uns schnell frisch machen und dann eine Stadtrundfahrt unternehmen? Dann wären wir zum Tee im Kubbeli Salon wieder hier. Oder brauchst du ein Mittagessen?«
»Gute Idee, Fritz!« Walburga lächelte ihren Gatten an. »Wir haben so üppig gegessen in den letzten Tagen, dass ich nicht hungrig bin. Als Notfallration können wir uns einige Maccarones und Gebäck aus der berühmten Patisserie des Hotels mitnehmen.«
Die Stadtrundfahrt führte sie an der Blauen Moschee, der Hagia Sophia, dem Topkapi-Palast sowie den Yerbatan-Zisternen vorbei. Durch das Studium des Baedeker im Zug gut vorbereitet, wusste Walburga die eine oder andere Einzelheit anzumerken, ansonsten genossen beide die fremdartige Architektur und das Leben und Treiben.
Nachmittags begaben sie sich in den Kubbeli Salon. Bei leiser Piano-Musik zelebrierten sie den Tee, zu dem sich offenbar auch einige Mitglieder der Konstantinopler oberen Zehntausend eingefunden hatten. Man hörte neben Türkisch und Arabisch außerdem Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch. Die außergewöhnlich hohen Decken mit Lichtkuppeln, die riesigen Muranoglas-Leuchter, die üppig mit Marmor eingefassten Fenster, große Orientteppiche, die die Schritte auf dem Parkett dämpften, schufen eine unwirkliche, geradezu magische Atmosphäre.
»Die Architektur spiegelt die Mischung von Ost und West, von Orient und Okzident wider, die sich hier im Hotel versinnbildlicht«, fasste Walburga ihre Gedanken zusammen.
Ein Hotelpage brachte Fritz eine Nachricht. Nachdem er diese überflogen hatte, informierte er seine Frau: »Von einem unserer Geschäftspartner, Murat Bayar. Er lädt uns für heute Abend hier im Hotel zum Dinner ein.«
Murat Bayar, der sie an der Rezeption erwartet hatte, betrachtete Walburga mit kaum verhohlener Bewunderung. Er führte das Ehepaar Bindseil an einen runden Tisch in einer Ecke, von wo aus sie einen guten Überblick hatten.
Als Walburga sich in dem eleganten Restaurant diskret umsah, war sie froh, dass der Vater ihr noch einige Kleider nach der neuesten Pariser Mode aufgedrängt hatte. Es geht hier womöglich noch eleganter zu als im Orient-Express, dachte sie.
»Sie geben mir hoffentlich die Ehre und das Vergnügen, heute Abend meine Gäste zu sein«, drechselte Murat Bayar.
»Gern, Herr Bayar, aber nur, wenn wir uns revanchieren dürfen. Wir würden Sie im Gegenzug in ein typisches türkisches Restaurant einladen.«
Ihr Gastgeber drehte und wand sich, um schließlich zögernd zu entgegnen: »In ein wirklich typisches Restaurant könnten wir aber die Frau Gemahlin nicht mitnehmen, das ist bei uns nicht üblich.«
»Oh, das haben wir nicht bedacht, Herr Bayar«, entgegnete Walburga. »Selbstverständlich können Sie beide einen Herrenabend verbringen, ich bin hier ja bestens aufgehoben.«
Obwohl Fritz Bindseil sofort an August Jasmund denken musste, vermutete er unverhofft, orientalische Erfahrungen nicht nur in kulinarischer Hinsicht, sondern vielleicht auch mit einer Bauchtanzvorführung machen zu können und stimmte daher schleunigst zu.
Bayar überspielte die Peinlichkeit, indem er fragte: »Möchten Sie zur Begrüßung lieber Veuve Clicquot oder Mumm Cordon Vert? Und außer Champagner sicherlich noch ein Mineralwasser – Vichy, Vittel oder Perrier?«
»Sie scheinen hier ja, was die Getränke angeht, fest in französischer Hand zu sein«, begann Walburga Konversation zu machen.
»Nun, nicht umsonst hat Lamartine den Stadtteil Pera die Provinz im Osten genannt, aber wir wissen natürlich das Interesse und die freundschaftliche Unterstützung Ihres hochverehrten Kaisers zu schätzen«, versicherte Bayar. »Und nicht nur das, Sie werden auch beste deutsche Weine wie Hochheimer, Berncastler und Rauenthaler auf der Karte finden.«
Nachdem ein exquisites Menü zusammengestellt und geordert war, wandte sich Fritz den Geschäften zu.
»Morgen werden wir auch unsere geschäftlichen Besuche beginnen und durch den Großen Bazar und den Gewürzbasar streifen«, erklärte er.
»Ihre Gattin beteiligt sich aktiv am Geschäft?« Völlig irritiert sah Murat Bayar beide an.
Walburga schlug die Augen nieder und atmete tief durch. Wenn auch im deutschen Kaiserreich für die Frauen sehr vieles im Argen lag, hier herrschte ja wirklich noch finsterstes Mittelalter. Bevor jedoch Fritz Bindseil reagieren konnte, blickte sie die Herren mit einem feinen Lächeln an und antwortete: »Wir wollen doch den Geschmack unserer Kundinnen treffen und zugleich sicherstellen, dass deren Männer mit dem Auftritt ihrer Frauen zufrieden sind. Wie sollte dies besser geschehen als in der Zusammenarbeit? Ich weiß, worin sich Frauen attraktiv und wohl fühlen, und mein Mann weiß, in welchem Kleidungsstil ihm seine Frau besonders gefällt. Und wenn es um Schmuck und Essbares geht, spielt doch der Geschmack von Frauen ebenfalls eine große Rolle.«
Fritz war bei dieser Antwort sprachlos, was selten geschah. Noch nie hatte seine Frau solche Gedanken vor ihm geäußert. Murat Bayar fasste sich schneller als er und entgegnete mit einer tiefen Verneigung: »Ja, so gesehen leuchtet mir das schon ein.« Er überlegte einen Moment. »Ich werde Ihnen meinen Gehilfen Mustafa mitgeben. Er kennt sich im Bazar wunderbar aus, und er spricht recht gut Deutsch, auch etwas Englisch, das wird Ihnen eine große Hilfe sein.«
Am nächsten Morgen wurden sie bereits von Mustafa, traditionell gekleidet und mit einem Fez auf dem Kopf, an der Rezeption erwartet. Nachdem er sich tief verbeugt hatte, bedachte er Walburga mit einem zweifelnden Blick, zwirbelte seinen stattlichen Schnurbart und erklärte: »Die Kutsche wartet schon. Wir werden mit dem Gewürzbasar beginnen.«
Kaum waren sie dort wenig später eingetreten, sog Walburga begeistert die unterschiedlichsten Gerüche ein. Sie überflog die Vielfalt an Waren, denn hier gab es beileibe nicht nur Gewürze. Sie wusste sofort, dass die Basare, bei aller Bewunderung für die Baudenkmäler, das sein würden, was sie an Konstantinopel am meisten faszinierte.
Trotz des Hutes erregte sie mit ihrem blonden Haar mehr Aufsehen, als ihr lieb war. »Fritz, lass uns sofort ein Kopftuch kaufen, die Blicke, die hier an mir kleben, behagen mir nicht. Und außerdem wird das auch unserem türkischen Ansprechpartner nicht behagen.« Fritz nickte zustimmend. Die Art und Weise wie seine Frau hier mit den Augen verschlungen wurde, gefiel ihm keineswegs. Mit Hilfe von Mustafa suchten sie einen dunkelgrauen Shawl aus, den Walburga sich im Hintergrund des kleinen, aber feinen Geschäftes so um den Kopf schlang, dass ihr blondes Haar völlig bedeckt war. Dabei fielen ihr sofort Tücher in unterschiedlichsten Formen, Farben und Macharten auf, wie sie als Zierde im Sommer, als Umschlagtücher oder wärmender Schutz an Wintertagen auch in Deutschland wunderbar zu gebrauchen waren.
»Fritz, sieh nur«, sie versuchte ihre Begeisterung zu zügeln, um nicht die Preise hochzutreiben, »Seide, Merino, Kaschmir – und Muster, die auch in Deutschland gefallen werden!«
Ihr Gatte brummte Zustimmung.
Der Tag verging im Basar wie im Flug. Eine kleine Mittagspause musste reichen, und Mustafa staunte, was die deutsche Frau alles aussuchte. Shawls, Taschen, Goldschmuck, Gewürze und große Mengen Süßigkeiten, von denen sie sich die genaue Zusammenstellung übersetzen ließ. Einige probierte ihr Gatte, andere sie selber. Kein Beobachter hätte auch nur im Entferntesten vermutet, dass die junge Frau kurz, aber heftig mit der Versuchung rang, ihren Mann mit einer aus vielen Nüssen bestehenden Süßigkeit ins Jenseits zu befördern. Nein, dachte Walburga, auch wenn er jede Nacht alkoholisiert ist, mir Vorhaltungen macht, eifersüchtig ist und handgreiflich wird – wenn ich das tue, werde ich meines Lebens auch nicht mehr froh. Ich muss mich auf das Aussuchen der Waren konzentrieren. Das tat sie sehr ausgiebig. Ein extra herbeigerufener Bote aus der Firma Bayar war am Ende des Tages mit Paketen beladen, denn Walburga hatte darauf bestanden, von allen wichtigen Waren ein Probestück mitzunehmen. »So können wir zu Hause sicherstellen, dass wir wirklich die gleiche Qualität erhalten«, flüsterte sie ihrem Gatten zu. Fritz und Mustafa hatten den ganzen Tag über eine Menge Notizen zu machen, denn am nächsten Tag sollten die Verträge fixiert werden.
Als sie abends ziemlich erschöpft im Hotel ankamen, rang sich Fritz ein Lob ab: »Du bist eben doch die Tochter deines Vaters, der Handel liegt euch im Blut. Morgen kannst du dich ausruhen, während ich den kompletten Papierkrieg erledige.«
Nach dem Frühstück wagte Walburga einen kleinen Spaziergang durch Pera und genoss den Luxus des Hotels. Indessen wurden die Geschäftspapiere durchgesehen, die zweisprachig ausgefertigt waren. Abends, nach einem weiteren exquisiten Essen, tranken die Herren noch einen Abschiedsschluck in der Hotelbar. Fritz Bindseil schüttelte Murat Bayar die Hand. »Damit besiegeln wir das Geschäft wie unter königlichen Kaufleuten. Papier ist geduldig, aber letzten Endes müssen wir uns aufeinander verlassen können.«
»Das gefällt mir, Herr Bindseil. Beide Seiten werden zufrieden sein.«
Am letzten Tag genoss das Ehepaar Bindseil eine Bootsfahrt auf dem Bosporus, eine Freude, die der hochzufriedene Murat Bayar seinen deutschen Gästen und Geschäftspartnern zum Abschied machte. Für Getränke und Speisen vom Feinsten war gesorgt. Mustafa kümmerte sich, von einem Diener unterstützt, aufmerksam um die Gäste.
»Ich wünsche Ihnen Hayırlı Paskalya! Ein gesegnetes Eierfest«, sagte er artig. Fritz Bindseil sah völlig irritiert seine Frau an.
»Er meint frohe Ostern«, flüsterte sie ihm rasch zu und bedankte sich bei Mustafa für seine Aufmerksamkeit.
Der freute sich und schwärmte: »Vom Goldenen Horn aus fahren wir zunächst Richtung Marmara-Denizi, dem Marmara Meer. Was für ein Erlebnis, den Topkapi-Palast und die Blaue Moschee vom Wasser aus betrachten zu können! Wir werden nicht bis zum Mara Deniz, dem Schwarzen Meer fahren, aber es gibt vieles zu sehen, zum Beispiel den Dolmabahce-Palast, der vom Wasser aus betrachtet besonders imposant ist.«
Am Abend machte sich Walburga Notizen über das Gesehene, um die vielen wunderbaren Eindrücke festzuhalten, die bereits in ihrem Kopf zu schwirren begannen. Vor allem für die Osterzeit hatte sie ganze Sortimente von Süßigkeiten zusammengestellt, die bestimmt gut ankommen würden, denn Orientalisches aller Art war ja gerade sehr beliebt.
Und schon brach die Rückfahrt an. Walburga seufzte leise, während sie die letzten Kleinigkeiten aus ihrem Handkoffer im Schlafwagen verstaute. Mir graut vor der Heimreise, dachte sie. Nur widerwillig erkennt er an, dass ich auch etwas kann. Ihm wäre am liebsten, ich würde für immer der schwärmerisch in ihn verliebte Backfisch bleiben. Wie sollen wir uns da bis an unser Lebensende arrangieren? Aber das Schlimmste ist: Die Anzeichen, dass Fritz sich mir unbedingt wieder ehelich nähern will, sind überdeutlich erkennbar.
Ihr Gatte unterbrach ihre trüben Gedanken. »Ich werfe mich geschwind in den Frack. Dann genehmige ich mir im Rauchsalon vor dem Abendessen noch eine Zigarre. Mach dich in Ruhe schön. Ich hole dich ab.« Mit einem Kuss auf ihre Wange und einem gutgelaunten Klaps auf ihr Hinterteil entschwand er.
Walburga blickte nachdenklich hinter ihm her und seufzte erneut. Noch länger kann ich keine Unpässlichkeit vorschieben, dachte sie, während sie mechanisch ihr Haar bürstete.
Mittlerweile hatte Fritz im Rauchersalon einen anderen deutschen Geschäftsmann getroffen, mit dem er sich über die frisch gewonnenen Eindrücke in Konstantinopel austauschen konnte. Der für Krupp tätige Mitreisende meinte: »Der Bau der anatolischen Eisenbahn 1890 brachte eine starke Beschäftigung der deutschen Industrie mit sich. Das Deutsche Reich und unsere deutsche Nation haben im Orient nichts zu wünschen, aber wir haben ein Interesse an der Stabilisierung der dortigen Verhältnisse.«
»Ganz recht.« Fritz Bindseil warf sich weltmännisch in die Brust. »Der kranke Mann am Bosporus bedarf unserer Unterstützung! Also mit Volldampf vorwärts nach Euphrat und Tigris und nach dem Persischen Golf. Der Landweg nach Indien muss wieder in die Hände kommen, in die er allein gehört, in die kampf- und arbeitsfreudigen deutschen Hände.«
»Ich sehe schon, wir sehen die Dinge gleich.« Sein Gegenüber hob ein Glas mit Cognac, und die beiden prosteten sich noch des Öfteren zu, während sie rauchten und politisierten.
In allerbester Laune öffnete Fritz Bindseil die Abteiltür und bewunderte seine Gemahlin in einem eisblauen Abendkleid, welches ihre hellblauen Augen und ihr blondes Haar wirkungsvoll unterstrich.
»Du siehst zum Anbeißen aus, mein liebes Weib. Du kannst dich übrigens auf ein üppiges Abendessen freuen. Für die internationalen Gäste hat man im Speisewagen sogar mit Ostereiern dekoriert. Das passt doch gut – schließlich galt schon in der Antike das Ei als Sinnbild des Lebens und der Fruchtbarkeit. Dies wird die richtige Nacht zum Helden zeugen. Lass dir vorab schon mal einen Kuss rauben!«
Seine Frau erstarrte zur Salzsäule, was ihn nicht im Geringsten zu stören schien. Rücksichtslos umschlang er sie fest, überhörte ihre protestierenden Laute und drang mit seiner Zunge tief in ihren Mund ein. Ihr geradezu verzweifelter Widerstand stachelte seine Erregung noch mehr an.
Was hat sie doch für eine süße Zuckerschnute, dachte er, dann ließ seine Leidenschaft etwas nach, weil er plötzlich Atemnot verspürte. Er öffnete die Augen, und sein Blick fiel auf eine angebrochene sechseckige Packung der 1777 gegründeten Confiserie HACI BEKIR, Turkish Delight, Lokoum Original with Hazelnuts. Er stöhnte, ließ Walburga los, blickte sie entsetzt an und begann zu röcheln. Bevor sie irgendetwas tun konnte, fiel er um wie ein Baum und knallte mit dem Hinterkopf auf die Klinke der Abteiltür. Ein hässliches Knacken zeigte an, dass Fritz Bindseil sein Leben mit einem Genickbruch abrupt beendet hatte. Seine Gattin indessen, die dies noch nicht begriffen hatte, rief völlig aufgelöst den Schaffner herbei. Der blickte auf den Mann, befühlte die Halsschlagader und wurde blass. »Gnädige Frau«, stammelte er, »Ihr Mann ist tot.«
Walburga zitterten die Knie, sie fühlte sich völlig durcheinander. »Ausgerechnet zu Ostern«, flüsterte sie, die tödlichen Folgen des Kusses von Judas und die Ironie des Schicksals schossen noch durch ihren Kopf, bevor sie in Ohnmacht fiel.
Cuba, Braunschweig, Hannover, Norderney, Gmunden,
St. Blasien, La Palma – 1901 bis 1904
Alle Reisen haben eine heimliche Bestimmung,
die der Reisende nicht ahnt.
Martin Buber (1878-1965)
*
Die meisten Schauplätze dieser Erzählung, die die halbe Erdkugel umspannt, ergaben sich durch die Recherche. Dazu passt die Herkunft der beiden Hauptpersonen: er Cubaner, sie Deutsche. Bei ihrer Begegnung ziehen sich Gegensätze an, aber nach und nach prallen auch Welten aufeinander. Schicksalhafte Wenden geschehen zu Pfingsten, die letzte auf einer kleinen Insel im Atlantik. Aber eines nach dem anderen! Zunächst gilt es, die beiden in ihren unterschiedlichen Welten kennenzulernen.
Cristobál Borrel-Bequer
Zwei Männer um die dreißig, die offensichtlich in ein ernstes Gespräch vertieft waren, saßen kurz vor Pfingsten 1901 auf der Veranda einer der größten Haciendas Cubas in der Nähe von Santa Clara. Sie führten die Zigarre genüsslich und mit der Regelmäßigkeit eines Kenners an die Lippen. Der köstlich duftende Rauch stieg mal in Ringen, mal kräuselnd in die schwülwarme Luft, wurde nur ab und zu durch das sanfte Auf und Ab der Schaukelstühle etwas verweht. Selbst die Wedel der hohen Königspalmen hingen schlapp herunter – kein Lüftchen regte sich. Die Männer waren Brüder. Bei Cristobál, der eine kleine Schattierung hellhäutiger war, handelte es sich um den Erben der Plantage. Seinen Halbbruder Juan, ein gewaschener Mulatte, wie man auf Cuba zu sagen pflegte, hätte man ebenfalls für einen Weißen halten können.
In der fruchtbaren Erde dieses großen landwirtschaftlichen Betriebes gedieh überwiegend, aber nicht ausschließlich, Zuckerrohr. Cristobál blies gekonnt einige Rauchringe in die schwüle Luft und meinte: »Diese köstlichen Zigarren verdanken wir unserem Urgroßonkel. Der hat auf La Palma erste Erfahrungen mit dem Tabak gemacht, den in die Heimat zurückgekehrte Landsleute dort erstmals in Mazo angepflanzt haben.«
Juan richtete sich auf. »Ja, so geht es zwischen den Kanarischen Inseln, Cuba und Venezuela hin und her. Denk unbedingt daran, wenn du in Europa interessante Gewächse siehst, dass du Samen mitbringst.«
Cristobál nickte. »Wie es ebenfalls Urgroßvater tat, als er von La Palma nach Cuba auswanderte. Die Pflanze faszinierte ihn. Und in Erinnerung an die ersten palmerischen puros baute er hier auch Tabak an.«
»Viele haben ihn ausgelacht, gemeint, dass er Eulen nach Athen trage. Aber er erzielte mit seinen Kreuzungen so gute Erfolge, dass wir mittlerweile über den Eigenbedarf hinaus an einen kleinen exklusiven Kundenkreis verkaufen. Zahlreiche Kenner sagen immer wieder, diese puros seien die besten auf ganz Cuba, besser als die Montechristo oder Cohiba, Romeo y Julieta oder Partagás.« Juan stieß wie zur Bestätigung einige perfekte Rauchringe aus.
In diesem Moment trat die Großmutter hinzu und meinte: »Mein Onkel, ein einfacher Kleinbauer, der von der Hacienda de Abajo aus Tazacorte auswanderte, hatte wie so zahlreiche andere auf der kanarischen Insel La Palma keine Zukunft für sich gesehen. Und wir haben ihm viel zu verdanken. Aber noch mehr Dank schulden wir seiner Schwester, meiner geliebten Mutter.«
Cristobál sprang auf, bot ihr einen Platz an und zwinkerte seinem Bruder zu, denn beide wussten, was nun kommen würde.
»Meine bildschöne blonde palmerische Mama, deren Porträt in der Halle hängt, hatte das Herz des Besitzers dieser Hacienda so vehement erobert, dass er die völlig mittellose Frau zum Entsetzen seiner Familie heiratete. Indessen erwies sie sich als tatkräftige Ehefrau, die, ebenso wie ihr Bruder als Verwalter, zum weiteren Gedeihen der Hacienda ganz erheblich beitrug.«
Cristobál wusste zu schätzen, was ihm diese Eheschließung beschert hatte. Statt als stolzer Haciendero hätte er auch der Nachfahre einer der unzähligen, von den Kanaren eingewanderten Frauen sein können, die sich mehr schlecht als recht auf den Haciendas oder in den Städten durchgeschlagen hatten. Die vorteilhafte Heirat der Urgroßmutter verhalf deren Nachfahren und damit auch ihm zu einer privilegierten Stellung.
In seiner Familie hatte man sich zunächst als Palmeros oder Canarios, dann zumindest als Spanier gefühlt – vereint durch das Band der Sprache und der katholischen Religion. Cristobál jedoch verstand sich als Cubaner und pflichtete der Redewendung, dass das Beste, was die Spanier Cuba hinterlassen hatten, die Siesta sei, aus vollem Herzen bei. Aber auch die Amerikaner betrachteten die Insel, die sie als natürliches geographisches Anhängsel ansahen, neben der strategisch interessanten Lage vor allem als ein lohnendes Objekt zur wirtschaftlichen Ausbeutung.
Die Großmutter seufzte und meinte, als ob sie Gedanken lesen könnte: »Nun bringt uns dein Eintreten für ein freies Cuba obendrein noch die Trennung. Noch nicht einmal den Geburtstag der Kirche, das Pfingstfest, können wir noch miteinander feiern.«
»Ja, ein Pfingstwunder, wo der Heilige Geist für die Verständigung zwischen den Menschen sorgt, damit sie sich gegenseitig verstehen, lieben und achten, das könnten wir auf Cuba bitter nötig gebrauchen. Von Kindesbeinen an kenne ich nichts anderes als kriegerische Auseinandersetzungen, die sich stets darum drehen, ob Cuba gänzlich unabhängig von Spanien werden, unter dem Schutz der spanischen Krone mehr Freiheiten genießen oder sich mehr an Amerika orientieren solle.«
»Juan und du, ihr habt ja schon als kleine Jungen den ersten Cubanischen Befreiungskrieg verfolgt. Der Zuckerbaron Carlos Manuel de Céspedes hatte seine Sklaven freigelassen und war mit ihnen und zahlreichen Verbündeten in den Kampf für das freie Cuba gezogen.«
»Das hat mir besonders imponiert, dass die Sklaven kämpften. Sie mussten sich geschlagen geben, was mich als Sechsjährigen, obwohl ich kaum etwas von Politik verstand, tief bestürzte«, erklärte Juan.
Cristobál enthielt sich jeder kritischen Bemerkung, die seinen Bruder hätte verletzen können, und sagte nur: »Der geschlossene Friedensvertrag brachte ebenso wenig die Unabhängigkeit wie die Abschaffung der Sklaverei oder die Aufhebung der Zensur. Und was Zensur bedeutete, wussten wir bereits, denn mit dem Schicksal des ersten großen Dichters Cubas, José Maria Heredia, hattest du, Großmutter, uns früh vertraut gemacht.«
»So ist es – und gerade heute bereue ich das …« Die äußerst belesene Frau lächelte etwas gequält.
»Auf keinen Fall, abuelita«, widersprach Cristobál heftig. »Den guten Hauslehrern und nicht zuletzt dem großen deutschen Gelehrten Johann Gundlach haben wir eine umfassende Allgemeinbildung zu verdanken – dir aber vor allem die Beschäftigung mit unseren großen Dichtern Heredia und Martí, verbunden mit der Liebe zu Cuba und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.«
»Ja, Heredia schrieb gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit, wollte Cuba von spanischer Vorherrschaft befreien und starb in jungen Jahren verarmt im Exil. Das wird dir, Cristobál, zum Glück nicht passieren.«
Der setzte sich auf. »Das ist ein schwacher Trost, Großmama. Cuba behandelte seine großen Söhne noch nie gut. Jose Martí war genau wie Heredia von der Insel verbannt worden. Martí gründete 1892 die Cubanische Revolutionspartei. Es gelang ihm mit deren führenden Köpfen den zweiten Krieg für die Unabhängigkeit wiederaufzunehmen.«
»Was für ein unwiederbringlicher Verlust, dass der kriegsunerfahrene Martí, kaum nach Cuba zurückgekehrt, bereits im Mai 1895 starb.« Ernst blickte die Großmutter von einem Enkel zum anderen. »Erst der Tod eures Vaters, dann Martí. Wir haben gemeinsam getrauert. Aber wenigstens konnte ich verhindern, dass ihr Brüder auch noch in den Krieg zogt. Was wäre sonst aus der Hacienda geworden?«
Cristobáls Gedanken wanderten zurück. Es galt auf der Hacienda als offenes Geheimnis, dass Juan, der ständige Gefährte und Freund seiner Jugendjahre, sein Halbbruder war. Die Ähnlichkeit war unverkennbar. Zusammen aufgewachsen waren sie jedoch nur, weil sowohl die Ehefrau des Vaters als auch dessen Geliebte, eine bildschöne hellhäutige Mulattin, die Geburt der Söhne das Leben gekostet hatte. Die Frauen ruhten nun an weit auseinanderliegenden Stellen des Friedhofes, was für die abergläubischen ehemaligen Sklaven auf der Hacienda genug Abstand bedeutete, um nicht noch nach dem Tode Eifersüchteleien auszutragen.
Um den Herrn rankten die Schwarzen manchen Gegenzauber, denn egal ob Schwarz oder Weiß, man fürchtete, er sei vor Kummer dem Wahnsinn verfallen. Denn er interessierte sich für nichts mehr. Die Großmutter stellte für seine beiden Söhne eine Amme ein, dazu eine Haushälterin und später ein Kindermädchen, denn sie musste sich wohl oder übel um die Geschäfte der Plantage kümmern. So wuchsen die Jungen in Freiheit dressiert auf. Als sie etwa sechs Jahre alt waren, raffte sich der Vater, von seiner eigenen Mutter gedrängt, so weit auf, dass er die Geschäfte nach und nach wieder selbst lenkte. Er bemerkte nun auch, dass seine Mutter seine Söhne völlig gleich behandelte und gemeinsam erzog. Dies wollte er umgehend unterbinden, stieß aber auf ihren erbitterten Widerstand. Sie drohte ihm sogar, gemeinsam mit den Jungen die Hacienda zu verlassen. Dieser energischen Gegenwehr fühlte er sich nicht gewachsen. Die Erziehung der Söhne, die ihn unweigerlich an den Verlust von deren Müttern erinnerten, überließ er ihr weitestgehend. Hauslehrer unterrichteten die Jungen. Erst mit siebzehn trennten sich ihre Wege.
Es gab vielfältige Mischungen zwischen den Spaniern, den Nachfahren der schwarzen Sklaven, den freien Mulatten, und den Chinesen, die man zum Arbeiten ins Land geholt hatte. Aber diejenigen, die weißes, vor allem spanisches Blut hatten, blieben möglichst unter sich. Dennoch war für Cristobál immer klar, dass sein Bruder ein ebensolches Anrecht auf das Erbe der Hacienda hatte wie er selbst.
Juan lernte von der Pike auf, was zur Führung einer Hacienda an unterschiedlichstem Wissen benötigt wurde. Währenddessen ging Cristobál nach Havanna, um Pharmazie zu studieren. Schwer zu sagen, wer von den beiden den anderen mehr beneidete – doch darüber sprachen sie nie, obwohl sie sonst stets ihre Gedanken miteinander teilten, was den einen oder anderen Disput keineswegs ausschloss.
»Es ist ein Jammer, dass du fortgehen musst, Cristobál«, nahm die Großmutter das Gespräch wieder auf. »Denn du hast dir ja während deines Studiums viele nützliche Erkenntnisse aus der Biologie und der Medizin angeeignet, die für die Hacienda von großem Nutzen sind.«
»Dazu haben außerdem die lehrreichen Gespräche mit deinem guten Freund Johann Gundlach beigetragen, Großmama«, sagte Juan. »Welches Glück, dass dieser hervorragende Naturwissenschaftler, der das erste Naturkundemuseum Cubas gegründet hat, uns auf die reichen Schätze unserer Natur aufmerksam machte.«
»Nicht zuletzt auf die heilsamen Auswirkungen sowohl des Meerwassers als auch des Thermalwassers. Leider muss ich die Erforschung der vielen Heilquellen bei San Diego de los Baños nun verschieben«, seufzte Cristobál.
»Die Quellen laufen dir nicht weg, mein Junge. Die gibt es schon so ewig, wie es Gott gibt. Sie sind auch ein Symbol des Heiligen Geistes, welchen er uns zu Pfingsten gesandt hat. Ich bin sehr traurig, dass du das Fest nicht mit uns verbringen kannst. Ach, ich werde dich vermissen. Dein Vater tot, Johann Gundlach ebenfalls, das sind die Lasten des Alters, die einsam machen.«
»Du hast ja noch mich, Großmama. Und außerdem haben Cristobál und ich doch eine ganze Menge getan auf der Hacienda, was dein Wohlgefallen fand.« Juan, mehr der geborene Landwirt als sein Bruder, blickte zufrieden zur Großmutter.
»Darauf bin ich sehr stolz! Unsere Familie gehört zu denen, die das Zuckerrohr reich gemacht hat. Aber dies geschah früher auf dem Rücken der Schwarzen, die die Felder mit Schweiß, Tränen und Blut gedüngt haben und das scheinbar paradiesische Gedeihen der Felder sowie das Funktionieren der monströsen Zuckerfabriken oft mit einem kurzen Leben bezahlten. Zwar wurden die Sklaven hier mit verantwortungsbewusster Fürsorge, wenn auch mit einer gewissen Herablassung, behandelt, aber ich war genau wie ihr beiden froh, als 1889 die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde.«
»Wir haben die Wohn- und Lebensverhältnisse nach und nach gemeinsam verbessert. Da waren Cristobáls Erkenntnisse und Argumente aus dem Studium nicht nur bezüglich der Hygiene nützlich.«
»Mir gefiel es sehr, dass ihr schon vor der Abschaffung der Sklaverei darauf gedrungen habt, die engen Baracken, in denen die Sklaven in winzigen Gelassen über Nacht eingesperrt waren, durch vernünftige, mit Palmwedeln gedeckte Hütten zu ersetzen. Und außerdem Kochhäuser und Latrinen anzulegen. Das Ende der Sklaverei bedeutete so für die Hacienda keinen großen Einschnitt. Wie bisher bekamen die Sklaven Nahrung, Behausung und Kleidung, dazu wurde ihnen Lohn gezahlt.« Zufrieden blickte die Großmutter ihre Enkel an. »Entschuldigt mich einen Moment. Ich will mal in der Küche nach dem Rechten sehen.« Und sie entschwand eilig, damit die Tränen, die in ihre Augen traten, unbemerkt blieben.
1889 hatten nur wenige Sklaven das Gut verlassen. Dafür kamen einige aufgeweckte Arbeiter hinzu, wie Estéban, der sich jahrelang als junger Bursche in den Wäldern versteckt hatte und dessen Rücken von Peitschenhieben zerfurcht war. Der zog auch 1895 mit einigen Gefährten in den zweiten Unabhängigkeitskrieg, an dem die große Mehrheit der Schwarzen teilnahm.
Nachdenklich wippte Cristobál hin und her – erst letztes Jahr war Estéban wieder auf die Hacienda gekommen. »Wir haben gekämpft wie die Löwen«, hatte er stolz berichtet, »aber die meisten von uns saßen nach Beendigung des Krieges 1898 auf der Straße. So kehrten die Freiheitskämpfer notgedrungen aufs Land zurück; in den Büros oder bei der Polizei wollten sie uns nicht haben. Alles wie gehabt – ins Zuckerrohr oder auf die Tabakfelder gehören wir. Denn die Amerikaner wollen nicht, dass die Nigger, wie sie uns nennen, stark werden. Wir sind zu viele, sie haben Angst vor uns. Und die Criollo mögen sie auch nicht, es sei denn, es handelt sich um schöne Frauen.« Zwischen Estéban und Juan war blitzschnell ein einvernehmlicher Blick hin und her geflogen, den Cristobál nicht bemerkte. Die Amerikaner, so hatte Estéban weiter berichtet, rissen sich schon bald unter den Nagel, was nur irgendwie ging, und machten dazu schöne Worte, aber die Cubaner, die ihnen gehorchten, trugen genauso viel Schuld.
Cristobál hatte ihm zugestimmt und eines seiner Lieblingsgedichte von Heredia, den bereits 1823 geschriebenen Stern von Kuba, zitiert.
›Wenn ein Volk seine schwere Kette
Nicht zerreißen kann mit eigner Hand,
Mag es ihm leicht sein, den Tyrannen zu wechseln,
Aber frei sein wird es nie.‹
Alle hatten ihm zähneknirschend zugestimmt.
Während Cristobál das, begleitet vom Abendkonzert der Grillen, durch den Kopf ging, fiel sein Blick auf drei kleine, völlig unterschiedlich gefleckte Kätzchen, die neugierig die Menschen beäugten. Das mutigste schlich schließlich heran und stupste ihn an. Obwohl er mehr die Hunde liebte, rührte ihn diese zutrauliche Manier. Unwillkürlich stieß er einen tiefen Seufzer aus: »Ach, Juan, wem können wir noch vertrauen?«
Sein Bruder wusste sofort, dass er an den Ausgang des zweiten Unabhängigkeitskrieges dachte. Als sich der Sieg der schlecht ausgerüsteten und zahlenmäßig unterlegenen Aufständischen abzeichnete, hatten die Amerikaner vergeblich versucht, den Spaniern die Insel Cuba abzukaufen. Im Hafen von Havanna explodierte dann ein US-Kreuzer, was die Amerikaner zum Anlass nahmen, Spanien auf cubanischem Boden den Krieg zu erklären.
»Na, den Amerikanern keinesfalls. Aber du hättest dich vielleicht mit deinem lautstark geäußerten Verdacht, dass diese bei der Explosion des Kreuzers selber die Finger im Spiel hatten, besser etwas zurückgehalten.«
In diesem Moment löste sich wie aus dem Nichts ein dunkler Schatten, wodurch die Brüder erschrocken zusammenzuckten.
»Das wusste doch der Dümmste, dass die Amerikaner die ›Maine‹ in die Luft fliegen ließen, um endlich in den Krieg eingreifen zu können. Alles andere sind Ammenmärchen! Und davon abgesehen – trauen kann man niemandem mehr – auch bei den Freimaurern gibt es Spitzel und Neider.«
»Verdammt, Estéban«, fluchte Juan, »kannst du nicht wie ein normaler Mensch auftauchen? Du erschreckst noch mal jemanden zu Tode!«
Der so gescholtene große Mann zuckte unbeeindruckt mit den Achseln. »Das Leben im Wald und die Jahre im Krieg, Señor – das Anschleichen ist mir zur zweiten Natur geworden.«
»Und das Lauschen ebenfalls«, meinte Cristobál. »Du bist wie immer ausgezeichnet informiert.«
Estéban neigte den Kopf und grinste dabei breit. »Ich bin nicht nur gekommen, um Sie zu verabschieden. Ich habe Ihnen auch ein Amulett mitgebracht, das Sie beschützen soll.« Er zog eine glänzend polierte kleine dunkle Steinscheibe hervor, die in der Mitte durchbohrt war. »Tragen Sie dies zusammen mit Ihrem goldenen Kreuz an der Halskette, dann haben Sie neben Christus unsere afrocubanischen Götter an Ihrer Seite. Und legen Sie das Amulett nie ab. Ohne mein Amulett«, er griff reflexartig an seinen Hals, »hätte ich den Krieg nicht überlebt.«
Cristobál blieb keine andere Wahl, als sich zu erheben und die Goldkette mit dem Kreuz, die ihm die Großmutter geschenkt hatte, aufzunesteln. Fordernd nahm Estéban sie ihm ab, zog die kleine Steinscheibe auf, ballte alles in seiner Faust zusammen und murmelte einige beschwörende Worte dazu. Er blickte konzentriert und ernst vor sich hin.
»Seien Sie vorsichtig, denn es gibt auch Wege, die in die Irre führen. Sie werden die Frau Ihres Lebens gewinnen und fast wieder verlieren. Sie werden einer Versuchung ausgesetzt sein, bevor Sie den Weg in die Heimat zurückfinden.« Dann legte er wie selbstverständlich Cristobál die Kette um den Hals und schloss sie sorgfältig. »Gesegnete Reise und kommen Sie bald gesund zurück.« Er zögerte einen Moment und fügte grinsend hinzu, um den Bann seiner Vorahnungen zu brechen, bei denen Cristobál sichtlich zusammengeschreckt war. »Und schaffen Sie eine schöne Henne aus der Ferne her, damit hier endlich was aufwächst!«
Juan, dem es bei den Prophezeiungen Estébans kalt den Rücken runtergelaufen war, feixte nun herzlich: »Also, Bruderherz, mach keinen Kokolores und bring vor allem eine anständige blonde Henne mit!«
Er prustete vor Lachen, da Cristobál, nicht zuletzt wegen der Wortwahl, etwas pikiert dreinblickte. Indessen wurde Estéban ernst und sagte: »Morgen früh müssen Sie mit der ersten Dämmerung aufbrechen, Herr, dann fahren Sie, so lange es nur geht. Wir bekommen einen heftigen Zyklon, der von Osten her aufzieht.«
Erstaunt sahen die Brüder sich an. »Woher willst du das denn wissen?«
»Nun, die tiefen Peitschennarben auf meinem Rücken schmerzen und ziehen. Und die Tiere verhalten sich merkwürdig – sie spüren, dass da was in der Luft liegt. Ob der Sturm uns erreichen wird, kann ich noch nicht sagen. Diese verdammten Ungeheuer wechseln ja oft die Richtung.«
»Halt mich auf dem Laufenden«, bat Juan, »damit wir Vorsichtsmaßnamen treffen und alles niet- und nagelfest machen können. Veranlasse, dass man sämtliche Vorräte überprüft, für den Fall, dass wir länger von der Außenwelt abgeschnitten werden sollten.«
Mit einem Nicken verschwand Estéban so schnell, wie er aufgetaucht war.
Juan beendete das sanfte Schaukeln des Stuhls und sagte zu seinem Bruder: »Ich bin sehr unglücklich darüber, dass du gehst. Es wäre viel schöner, wenn du hier ein normales Leben führen könntest, selbst mit den eingebildeten Amerikanern. Wir sind doch längst im richtigen Alter, endlich eine Familie zu gründen und die Plantage weiter voranzubringen.«
»Das überlasse ich zwangsläufig erst mal dir, Juan. Der Roman meines Lebens, wie Heredia schrieb, treibt auch mich in die Ferne. Wenn ich bleibe, steht Ärger ins Haus – man hat mich auch über die Freimaurer gewarnt, dass man mich arretieren will. Mir ist ganz unmännlich zum Weinen zumute, sobald ich daran denke, wie viele Cubaner für ein freies und unabhängiges Cuba umsonst gestorben sind. Unsere schöne Insel hat stets die Begehrlichkeiten anderer Länder geweckt. Spanien wollte uns als besonders schöne Perle für seine Krone.«
»Und die Amerikaner hätten uns am liebsten als weiteren Stern auf ihrer verdammten Fahne«, knurrte Juan.
»So weit ist es zum Glück nicht gekommen. Aber wir werden ihre Marionetten-Republik sein. Heredia würde sich im Grabe umdrehen. Bereits 1825 schrieb er: Cuba! Einst wirst du frei dich sehen und rein.«
»Wann wird der Roman deines Lebens enden, damit seine Realität beginnen kann?«, fragte Juan in Anspielung auf weitere Worte des Dichters, die die Großmutter so oft zitierte.
Gerührt und bedrückt prostete Cristobál seinem Bruder mit dem letzten Schluck Mojito zu. Diese Frage des verbannten Poeten begleitete in seltsamer Form das Leben Cristobáls, der seit seiner Jugend in die Unabhängigkeitsbestrebungen seines Landes verwickelt war.
»Apropos Realität«, warf Cristobál ein, »die Amerikaner sind ja mit ihrer hygienischen Säuberung gegen Schmutz und Gestank erbärmlich gescheitert. Die enge und verbaute Altstadt von Havanna und ebenso andere Küstenstädte gelten als Brutstätte des Gelbfiebers, als Haupthölle des gelben Teufels. Dabei habe ich ihnen, als wir hier eine Delegation der Neunmalklugen empfingen, laut und deutlich erklärt, wie ihr Landsmann Carlos J. Finlay schon vor vierzig Jahren nachgewiesen hat, dass der Moskito Aedes aegypti der Überträger des Gelbfiebers ist.«
»Finlay ist denen viel zu sehr Cubaner geworden«, entgegnete Juan, »außerdem wollen sich die Herren von uns Einheimischen und vor allem von uns Criollos nichts sagen lassen, sie sind ja der personifizierte weiße Fortschritt. Und zahlreiche unserer Landsleute denken leider genauso.«
Cristobál ging auf die Spitzen seines Bruders gegen den amerikanischen Rassismus lieber nicht ein, sondern fuhr fort: »Die nächste Epidemie des ›Schwarzen Kotzens‹ war jedenfalls schlimmer als zuvor. Sie forderte viele Tote, besonders unter den neu eingewanderten Spaniern, Amerikanern und deren Soldaten.«
Inzwischen wehten vom Küchentrakt köstliche Düfte herüber. Die Köchin versuchte ihren Abschiedsschmerz dadurch zu bekämpfen, dass sie alle Lieblingsgerichte ihres Herrn zubereitete. Sie ahnte nicht, dass sie ihm das Herz damit nur noch schwerer machte.
Sein Abschiedsblick nahm das gewohnte Ambiente plötzlich in ungewohnter Klarheit wahr. Um den Esstisch aus Italien standen in Cuba gefertigte Stühle im europäischen Medaillon-Stil. Vom Mittelbalken des aus Zedernholz hergestellten Walmdachs hing ein kostbarer Kristalllüster, den Cristobál trotz aller Schönheit stets etwas scheel ansah, da er aus den USA stammte.
Der Tisch war mit französischen Baccarat-Gläsern und Meißner Zwiebelmuster gedeckt, welches die Großmutter zu Ehren Johann Gundlachs aus Deutschland hatte schicken lassen. Der Gelehrte und Biologe war als Freund des Hauses oft auf der Hacienda zu Besuch gewesen. Die beiden Jungen hatten von ihm Deutsch gelernt und machten sich bald einen Spaß daraus, dies als Geheimsprache zu nutzen, wenn sie etwas für sich behalten wollten. Die Köchin, die einen Narren an dem ebenso bescheidenen wie freundlichen Mann gefressen hatte, hatte nicht eher geruht, bis sie das Leibgericht des Deutschen, nämlich Rinderrouladen, zu dessen höchster Zufriedenheit zubereiten konnte.
Und in der Tat gab es jetzt zum Abschied Cristobáls neben Kichererbsensuppe, Languste, Reis mit schwarzen Bohnen, Hühnchen, Yamswurzeln und Süßkartoffeln auch Rinderrouladen. Dazu tranken sie Rotwein aus Spanien. Doch die Großmutter und die Brüder stocherten nur in dem Festmahl, selbst der köstliche Flan, ein süßer Vanillepudding, vermochte die Stimmung nicht zu heben.
Abschied
Am nächsten Morgen nahm Cristobál in aller Herrgottsfrühe nach den ersten Hahnenschreien eine ausgiebige Dusche. Das neueste amerikanische Model besprühte den Körper nicht nur von oben, sondern auch von allen Seiten. Das Wasserklosett hingegen war aus englischem Porzellan und auf einem blauweißen Fußboden montiert. Im luxuriösen, marmorgetäfelten Bad ließ er sich von einem eingebauten Engelchen ausgiebig Eau de Toilette spenden und nahm sich ausnahmsweise von einem anderen einen kleinen Schluck Gin. Das Frühstück im Patio brachte er schnell hinter sich. Von der Großmutter hatte er sich bereits am Abend verabschiedet.
Da tauchte sein Bruder mit drei großen Holzkisten auf.
»Es hilft alles nichts, wir müssen adios sagen! Ich habe dir einen ordentlichen Vorrat unserer Zigarren einpacken lassen, damit du diese nicht entbehren musst.«
Cristobál nickte traurig.
»Bring ein paar schöne Jugendstil-Möbel mit Intarsien aus Europa mit und einige Gemälde, um die etwas düstere Pracht hier aufzuhellen. Diese Impressionisten malen sehr ansprechende Landschaften, also spring da mal über den Schatten deines eher konservativen Geschmacks! Auch wenn man es gerade mir nicht zutraut, habe ich ja von uns beiden die ästhetischere Ader geerbt.« Die erstaunten Äußerungen über sein gutes Auge für alles Künstlerische hatten ihn in jüngeren Jahren oft genug gekränkt.
Cristobál drohte seinem Bruder halb im Spaß – und der war zufrieden, die Trauer des Abschiedes etwas durchbrochen zu haben. So fuhr er friedlicher fort: »Und vielleicht wirst du ja sogar nach La Palma reisen.«
»Ja, irgendwann werde ich dieses putzige kleine Eiland aufsuchen, wenn ich in Europa bin. Müsste eigentlich ganz vertraut sein, denn Zuckerrohr und Tabak baut man dort ebenfalls an. Und Verwandtschaft haben wir auf der Insel ja auch noch. Der Traum, die alte Heimat zu besuchen, ist zwar von Generation zu Generation schwächer geworden, in meinem Herzen jedoch schlummern noch die getreulich weitererzählten Familiengeschichten, ausgeschmückt und durchsetzt von fabulösen Erzählungen über die tapferen Guanchen, von denen die blonde Urgroßmutter offensichtlich abstammte.«
»Und am besten wäre, wie Estéban schon gesagt hat, du bringst eine schöne blonde Frau heim, so eine, wie es die Urgroßmutter war – egal ob nun eine Palmera mit Guanchen-Blut oder eine hübsche Deutsche, ein blondes Gretchen, wie Johann Gundlach zu sagen pflegte.«
Cristobál nickte. Juan erhob mahnend die Hand. »Du solltest dich in Europa vielleicht nur als Besitzer einer kleineren Hacienda ausgeben – Frauen, die mehr an unserem kleinen Königreich als an dir als Person interessiert sind, gibt es auch hier genug. Du verdienst eine Frau, die dich ohne dieses ganze Brimborium liebt.«
Cristobál umarmte seinen Bruder fest. »Lass es uns kurz machen. Ich konnte das Rad der Geschichte nicht drehen, und nun muss ich sehen, dass ich von Cuba verschwinde.«
Am Pfingstsonntag brach er von Havanna aus nach Europa auf. Er fühlte sich traurig und erleichtert zugleich, als das Schiff ablegte. Das Sternenbanner über der Morro-Festung sah er zähneknirschend in der Ferne verschwinden. Und
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Elvea
Bildmaterialien: Elvea
Cover: Elvea
Lektorat: Elvea
Satz: Elvea
Tag der Veröffentlichung: 20.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3246-4
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