Mörderische Zahlenspur
ein RWG-Krimi von
Angelika Guder-Späth
Antje Haugg
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Kontakt: elvea@outlook.de
© ELVEA 2020
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk darf, auch teilweise,
nur mit Genehmigung des Verlages
weitergegeben werden.
Autoren: Angelika Guder-Späth, Antje Haugg
Covergestaltung/Grafik: ELVEA
Layout: Uwe Köhl
Das ist die einzige Kunst, die wir in der heutigen Zeit beherrschen müssen. Furchtlos die Dinge betrachten, furchtlos das Richtige tun.
(Dürrenmatt, Romulus der Große)
(Goethe)
Lisa öffnete mühsam die Augen und versuchte sich zu orientieren. Ohne Zweifel, sie lag in ihrem Bett in ihrem Zimmer, was sie zugleich beruhigte und verwirrte. Kaum hatte sie die Lider geöffnet, so folgten sie dem unwiderstehlichen Drang sich wieder zu schließen. Als sie sie wenige Minuten später wieder öffnete, fühlte sie einen brennenden Schmerz im Kopf, der wahrscheinlich nur eine Ursache haben konnte. Eines der letzten Biere musste nicht mehr gut gewesen sein, obwohl sie diesen Gedanken sogleich wieder verwarf. Sie war am letzten Abend auf dem Maisels Weißbierfest in Bayreuth gewesen und sicherlich war dort ein Bier wie das andere. Die letzten vertrugen sich nur nicht mit all ihren Vorgängern. Das musste es sein. Und außerdem war es den ganzen Tag und auch die ganze Nacht hindurch tropisch warm gewesen, so dass man natürlich sehr viel Durst bekam und diesen schnellstens bekämpfen musste. Ein Teufelskreis, dessen Auswirkungen Lisa nun zu spüren bekam. Unsicher stand sie auf und versuchte sich in dem großen Spiegel an ihrer Tür wiederzuerkennen, was ihr mit einigen Mühen auch gelang. Mit dem Blick auf ihr Gesicht setzte auch zugleich die Erinnerung an den gestrigen Abend ein und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, verbunden mit dem Gefühl einer leichten Verliebtheit. Am Spiegelrand steckte ein Zettel im Spiegelrahmen, der eigentlich an die Hausaufgabe im Fach Deutsch erinnern sollte. Sie ließ ihren Blick auf die Zeilen des Gedichts gleiten und begann es zu überfliegen. Bei den Versen von Goethes ›Willkommen und Abschied‹, das Teil eines Gedichtvergleichs werden sollte, ›Ein rosafarbnes Frühlingswetter lag auf dem lieblichen Gesicht, und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter, ich hofft es, ich verdient es nicht‹ stellte sich unweigerlich ein Bild in ihrem Kopf ein. Ein fröhlicher und gut aussehender Junge saß ihr gegenüber und lachte sie verschmitzt aus funkelnden Augenschlitzen an. Seine Zähne waren makellos und die ganze Erscheinung wirkte unwiderstehlich anziehend auf sie. Dass er am ganzen Körper tätowiert war, fand sie zwar zunächst etwas störend, sein Charme wog diesen kleinen Mangel aber tausendfach auf. Noch in Gedanken an ihn versunken, bemerkte sie, dass ihr Handy schon eine ganze Weile neben ihr surrte.
»Hi Lisa, hier ist Lena. Na, wie geht es dir nach gestern Abend? Gut, dass deine Schwester Lotte dich eingefangen und nach Hause gebracht hat, du hattest ja ganz schön geladen. Hast du dir eigentlich die Handynummer von Micha geben lassen. Meine Güte, habt ihr die Welt um euch herum eigentlich noch mitgekriegt? Und wieso war er dann plötzlich weg?«
Lenas Redeschwall ging noch eine ganze Weile so weiter, doch Lisa hörte nur noch mit einem Ohr zu, vergaß aber nicht gelegentlich ein »Ja« oder »ach so« einzuflechten, während sie Lenas Informationen ordnete. Ihre Schwester Lotte hatte sie also heim nach Emtmannsberg gebracht. Gut, dass sie eine so klar strukturierte und zupackende Schwester hatte, die sich gestern mal einen freien Abend von ihrer kleinen Tochter erkämpft hatte. Wobei nicht der Säugling das Problem war, sondern die reiferen Tanten, die sich allesamt gestern ebenfalls auf dem Fest mit ihren Tinderbekanntschaften verabredet hatten. Zum Glück hatte sich die Mutter ihrer Freundin Sarah bereiterklärt, auf die Kleine aufzupassen. Sarahs Mutter war Lotte noch immer zu großem Dank verpflichtet, da Lotte in ihrer Funktion als Kriminalbeamtin vor ihrer Babypause Sarah vor einem großen Unglück bewahrt hatte. Lisa merkte, wie ihre Gedanken abschweiften und bemühte sich, Lenas Worten wieder zu folgen. Ja, Michas Handynummer hatte sie tatsächlich nicht, was ihr gerade schmerzlich auffiel, aber er war ja ein Bekannter von Tanja gewesen, die seit dem Halbjahr in ihrer Jahrgangsstufe war, nachdem sie mit ihren Eltern von der Stadt Arzberg nach Bayreuth gezogen war. Weshalb Micha so plötzlich weg musste? Das hatte sie sich auch schon gefragt, konnte sich aber auch keinen Reim darauf machen. Sobald sie wieder etwas zusammenhängender denken konnte, würde sie Tanja anrufen. Lena erzählte dann noch eine Menge über ihre Freunde aus ihrer Stufe und beendete endlich das Gespräch. Während sich Lisa restaurierte, überlegte sie, wie sie möglichst unauffällig an Michas Telefonnummer über Tanja kommen konnte. Sie sollte ja schließlich nicht sofort merken, dass ihr der Typ so gut gefallen hatte. Auch wollte sie mehr über ihn erfahren. Eigentlich hatten sie sich nur von Beginn ihres Treffens an ein einziges Wortduell geliefert und dabei heftig geflirtet und rumgemacht. Mit einer Tasse Kaffee bewaffnet ging Lisa in den Garten, »Rosafarbnes Frühlingswetter – ganz schön abgefahren dieser alte Goethe! Aber er hat Recht!«, murmelte Lisa, während sie die frische Luft einzog und auf die noch blühenden Fliederbüsche schaute, die sie in rosa bis zu tiefen lila Nuancen aus dem weitläufigen Garten anschauten. Möglichst unverfänglich wollte sie jetzt mit Tanja plaudern und dann wie zufällig auf Micha zu sprechen kommen. Lisa tippte auf Tanjas Nummer und sie war nach dem ersten Ton dran.
»Hi Tanja, du erzähl mir mal was über Micha, der hat mir nämlich krass gut gefallen«, flötete Lisa in ihr Handy. Nein, weder ihr noch ihrer Schwester oder ihren Brüdern war es gegeben auch nur ansatzweise um den heißen Brei herum zu plaudern. Schon in dem Moment, in dem sie die Worte aussprach, hätte sie sich für ihre Plumpheit prügeln können. Noch dösiger geht es wohl kaum.
»Na, der hat dir gefallen, wie unschwer zu übersehen war. Was weiß ich über Micha? Er kommt aus irgendeinem Örtchen in der Nähe von Arzberg und ist mit mir in die Grundschule gegangen. Seine Eltern haben sich dann getrennt und seine Mutter ist mit ihm zu ihrem neuen Freund nach Tschechien gezogen. Armer Micha, er wollte nicht in das fremde Land mit der fremden Sprache. Ich hätte ihn auch niemals wiedererkannt, wenn er mich nicht angesprochen hätte. Er hat nur gesagt, dass er jetzt wieder da ist und wohl auch wieder in dem Haus seiner Großeltern in dem Örtchen bei Arzberg wohnt und dass die Großeltern nicht mehr leben. Was er aber beruflich macht, das weiß ich nicht und der Abend war ja auch viel zu witzig, um sich noch über solche ernsten Dinge wie die Arbeit zu unterhalten. Nein, seine Handynummer habe ich auch nicht, aber wenn er will, schafft er es schon Kontakt mit uns aufzunehmen. Dass er plötzlich mit dem komischen Typen, der an den Tisch kam, wegging, habe ich auch nicht verstanden, zumal die beiden eigentlich nicht miteinander gesprochen haben. Gehst du gleich mit zum Maisels Fun Run? Mia läuft doch mit, wir könnten sie anfeuern«, fragte Tanja.
Natürlich wollte Lisa mit zum Fun Run gehen, vielleicht würde sie da Micha zufällig wiedersehen, und so verabredeten sie sich und Lotte war auch schnell überzeugt davon, sie in die Stadt zu fahren. Die Stimmung war ungemein ausgelassen, doch so sehr ihre Augen über das Meer der Menschen, die die Läufer anfeuerten, kreisten, Micha fand sie nicht.
***
Dafür fand Oliver, oder »der Tupfer«, wie seine Freunde ihn nannten, Tanja. Oliver war der Typ gewesen, mit dem Micha so schnell verschwunden war. Wiedergesehen hatten sich Tanja und Oli im Lamperium, einer der Bayreuther In-Kneipen. Tanja hatte den ungemein attraktiven Typen mit den verwegenen grün-grauen Augen sofort wiedererkannt und auch Oliver wusste sofort, wo er sie hinstecken sollte. Lena war in ihrer unbekümmerten Art lange nicht aufgefallen, dass da was zwischen Tanja und Oli zu laufen begann, während Lisa nur Ausschau nach Micha hielt. Doch die Typen, die sich in seinem Dunstkreis befanden, gefielen Lisa überhaupt nicht. Alles an ihnen empfand sie als unangenehm. Die Art, wie sie sich kleideten, diese Mischung aus billig angeberisch, militärisch streng und pseudocool widerstrebte ihr, ebenso wie ihre Sprache und Wortwahl, die man, wie sie im Pädagogik-Unterricht gelernt hatte, nur als restringierten Code bezeichnen konnte, und ihr aggressiv-eintöniger Musikgeschmack. Tanja schien das alles nicht zu stören und Lena befand sich gerade in ihrer Flower-Power-Toleranz-Phase. Sie nahm die Jungs gerne als Beispiele für ihre psychologischen Analyseversuche. Und eine schwere Kindheit konnte man jedem von ihnen auch ohne weitere Kenntnis ihrer Geschichte problemlos bescheinigen. Lisa hätte am liebsten den Kontakt zu Tanja und Lena reduziert, aber das konnte und wollte sie nicht. Sie drei waren in fast allen Kursen zusammen und spielten gemeinsam Theater im Profilfach. Außerdem fühlte sich Lisa ohne ihre Freundin Anna ziemlich allein. Nicht, dass sie in ihrer großen Familie mit ihrer Schwester, den drei Brüdern, den Eltern, Großeltern und den gefühlt Dutzenden von Tanten und auch Onkeln irgendwie einsam zu nennen war, nein was ihr fehlte, waren richtig gute gleichaltrige Freunde. Anna war ihre engste Vertraute gewesen und sie war mit ihren Eltern nach dem Mord an ihrer Schwester Tina, den Lisas Kripo-Schwester Lotte mit ihrer Chefin, Frau Doris Lech, schnell aufklären konnte, von Bayreuth weg nach Apolda in Sachsen-Anhalt gezogen, wo Tinas Vater Verwandte hatte. Anna fehlte ihr sehr! Doch mit Tanja hatte sie nun jemanden gefunden, der wieder etwas mehr Power in ihr Leben brachte. Weder Lena noch Tanja wollte sie verlieren und deshalb ließ sie sich auch auf die verrückte Idee ein, mit den beiden nach Arzberg zu fahren. Der Vorschlag kam von Oli. An Pfingsten wurde in der Nähe der Stadt das ›Zuckerhutfest‹ auf dem Kohlberg, auch Zuckerhut genannt, gefeiert. Unter den Bäumen des Gipfels des Zuckerhutes, bei der Waldenfelswarte neben der Schutzhütte des Fichtelgebirgsvereins, fand jährlich ein Familienfest statt. Oli und seine Kumpanen wollten erst da feiern und dann zu einer kleinen Hütte an den Feisnitzstaussee gehen. Dort, so sagten sie mit einem blöden Kichern, gebe es dann tschechische Spezialitäten. Lisa wollte sich gar nicht erst vorstellen, was sie damit meinten, aber Tanja und Lena wiesen ihre Bedenken zurück. Lisa fragte Tanja auch, wieso der Berg ›Zuckerhut‹ genannt werde und Tanja gab stolz ihr Wissen aus dem HSU-Unterricht der 4. Klasse preis:
»Der Berg heißt so, weil über ihn mal eine Grenze zwischen Preußen und Bayern verlief und an dieser Grenze ein reger Zuckerschmuggel stattfand.«
Wieder lachten die Kumpels und Oli und dieses Mal waren sie so erheitert, dass sie sich bei dem Wort ›Zuckerschmuggel‹ wie wild auf die Schenkel klopften. Während Lena und Tanja höflich mitlachten, suchte Lisa nach irgendeinem Vorwand, um nicht mitfahren zu müssen.
»Was sagen deine Eltern eigentlich dazu, dass du in Arzberg feiern willst?«, fragte Lisa Tanja in einem ruhigen Moment.
»Mein Vater war zwar überhaupt nicht begeistert von der Idee, aber meine Mutter meinte, dass wir dann mal wieder ihre Tante besuchen könnten, dann also mal jemand aus der Familie nach ihr geschaut hätte und sie sich dann erst wieder zur Apfelernte bei ihr blicken lassen müsste«, raunte Tanja ihr zu. Als Lisa zu Hause von dem bevorstehenden Trip erzählte, hoffte sie, dass irgendwelche Einwände kämen. Aber ihre Familie war alles andere als abgeneigt. Ihr Vater begann einen Vortrag über den Zuckerhut und dessen Geschichte, den Lisa ja schon kannte, und ihre Tanten würzten die Geschichtsstunde mit vielen Anekdoten. Ihre Mutter freute sich, dass Lisa nach dem Verlust ihrer Freundin Anna wieder eine nette Clique gefunden hatte, und Lotte bemerkte, dass sie dort aber selbst auf sich aufpassen müsste, weil sie ja nicht dabei war, weil sie unbedingt auf die Bergkirchweih nach Erlangen fahren müsste. Für alle schien alles klar zu sein und so willigte Lisa letztlich ein, mitzukommen. Vielleicht kam es da ja auch zu einem Wiedersehen mit Micha.
(Goethe, Ipigenie auf Tauris)
Missmutig fuhr Tanjas Vater die drei Mädchen zu der Schwester seiner Frau nach Arzberg. Erinnerungen an schöne und unbeschwerte, aber auch an einsame Jahre stiegen in ihm auf. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Tanja auf einmal eine Affinität zu ihrer alten Heimat zu haben schien. Es gab nur keinen ihr erklärbaren rationalen Grund, weshalb es ihn so störte. Und er wollte auf keinen Fall, dass Tanja Verdacht schöpfte oder, was noch schlimmer war, sich in Gefahr begab.
Die ältere Dame freute sich erwartungsgemäß sehr über den Besuch ihrer Nichte und der beiden Mädchen. Lisa ließ angesichts der herzlichen Begrüßung ihre Vorbehalte gegenüber dem Ausflug etwas fallen und fand Gefallen an der lustigen und geistreichen Dame, die in einem schmucken Häuschen in der Nähe eines kleinen Parks wohnte. Sie versprach dem überraschend besorgten Vater sich um die Mädchen zu kümmern. Nach wenigen Minuten war er daraufhin verschwunden. Die Mädchen machten sich mit der klassischen Teenagerbeflissenheit fertig und Tante Heiderose, wie die Mädchen sie sogleich nannten, lachte darüber, wie viel Schminke es brauchte, um natürlich geschminkt auszusehen. Dann zogen die drei los und die Tante gab ihnen als Auftrag mit, sich super gut zu amüsieren und nicht vor dem Morgengrauen nach Hause zu kommen. Den Schlüssel würde sie für sie unter den großen Marmorstein am Eingang legen. Mit diesem Auftrag im Gepäck und dem festen Vorsatz, diesem nachzukommen, zogen die Mädchen los, liefen das kühle Röslau-Tal entlang und dann durch den angenehmen Wald hoch zum Zuckerhut. Schon von weiten war nicht zu überhören, dass dort ein Fest stattfand. Die Mädchen fanden schnell Kontakt und feierten ganz unbefangen mit einer ganzen Clique von Jugendlichen. Die Stimmung, das Wetter und das Bier waren wunderbar und Lisa fühlte sich rundherum prima. Als es zu dämmern begann, war die Party nicht mehr zu toppen. Da erschienen Oliver und seine Jungs. Zielstrebig schritten sie auf Tanja und ihre Freundinnen zu.
Alle Augen waren auf die Typen gerichtet, die in ihren Outfits so gar nicht zu dem normalen Festpublikum passten. Noch mit dem Blick auf die Gang gerichtet, fragte Manu, einer der neuen Feier-Bekannten, ob Tanja die Typen etwa kennen würde. Tanja nickte freudig und im gleichen Tempo wie Oliver und die anderen auf sie zu schritten, zogen sich die anderen Jugendlichen zurück. Lisa wäre zu gerne mit den anderen gegangen, doch sie traute sich nicht, ihre Freundinnen zu verlassen. Die Stimmung wurde schlagartig eine Mischung aus aggressiv und arrogant-ordinär. Wieder fragte sich Lisa, was Lena und Tanja an den Typen so toll fanden. Als die Feier auf dem Berg sich allmählich auflöste und die Familien zusammenpackten, schlugen auch Oli und seine Kumpels vor, sich in die Hütte zu begeben. Der Weg durch den Wald hinunter in Richtung des Stausees war noch einigermaßen gut zu erkennen, wurde aber mit jeder Minute dunkler und schmaler. Lisa wurde es mulmig zu mute, sie lachte und scherzte aber tapfer mit. An der Hütte angekommen, musste Lisa schlucken. Das Innere der Hütte war vollständig versifft. So stellte sie sich immer eine Messiewohnung vor. Auch der Geruch war widerlich. Es roch nach Fäkalien, Bier und nach Galle. Lisa wäre gerne wieder nach draußen gegangen, aber einer der Typen stand breitbeinig und Kaugummi katschend an der Tür und sie wagte sich nicht an ihm vorbei. Während Tanja und Lena bereitwillig das Bier tranken, das ihnen in gebrauchten Pappbechern unter die Nase gehalten wurde, nippte Lisa nur ein bisschen davon, tat aber so, als würde sie es in vollen Zügen hinunterstürzen. Erstaunlicherweise spürte sie, wie die Augen der Typen an ihnen hingen als warteten sie auf eine Reaktion ihrerseits. Jemand drehte die fürchterliche Musik auf und Lisa sah, wie sich Oliver aus dem Staub machte und sie mit den Typen, die sich irgendwie noch vermehrt hatten, zurückließ. Plötzlich merkte Lisa wie sie die Menschen um sich herum sehr konturiert wahrnahm und sie sehr nervös wurde. Sie versuchte auf das hirnlose Gestammel ihres Gegenübers zu antworten, merkte aber gleich, dass sie Wortfindungsstörungen hatte. Sie fühlte sich hilflos und gleichzeitig stark. Tanja und Lena plapperten in einer Tour und begannen völlig enthemmt auf die Musik zu tanzen. Lisa schaute einen Moment ganz klar und wach in die immer lüsterner werdenden Augen der Typen und wusste in dem Moment, worauf die ganze Veranstaltung hinauslief. Einer von dem Typen sprach es dann wahrscheinlich unfreiwillig etwas zu laut aus: Gangbang! Lisa wusste, dass sie jetzt, spätestens jetzt, unbedingt raus mussten. Nur wie? Und wie sollte sie Tanja und Lena erklären, in welcher Gefahr sie sich befanden? Sie tanzte sich an die beiden heran und raunte ihnen zu, dass sie unbedingt hier weg müssten. Lena schien plötzlich wach zu werden, während Tanja ganz abgefahren war und sich ungeniert an allen möglichen Stellen zu kratzen begann. Lisa erinnerte sich gelesen zu haben, dass es nur eine chemische Substanz gab, die dieses Kratzen bewirkte. ›Ist in dem Bier etwa …‹ weiter konnte sie nicht denken, die Angst vor dem Kommenden lähmte ihr Gehirn. Lena war es dann tatsächlich auch, die zu den Typen sagte, sie müssten mal alle drei in den Wald zum Pinkeln. Sie sollten alle schön auf sie warten. In ihren dumpfen Köpfen ließen sie sie gehen, nicht ohne sie dabei mit obszönen Sprüchen zu versorgen. Draußen angekommen gaben sie vor, zu einer Baumgruppe zu schlendern. Inzwischen hatte es zu regnen angefangen, so dass sich die Tür der Hütte schnell wieder nach ihnen schloss. Lisa packte die widerstrebende Tanja und zu dritt liefen einen schmalen und knorrigen Waldweg entlang. Allmählich wurde der Regen immer stärker und so waren sie sehr beruhigt, dass der Weg etwas breiter wurde. Zu ihrer Freude sahen sie hinter einer Brücke über die Röslau einen Gasthof, der an eine alte Mühle erinnerte, auftauchen. Doch wie sie sehr schnell feststellen mussten, war der Gasthof natürlich zu dieser späten Uhrzeit geschlossen. Unschlüssig standen die Mädchen auf dem Parkplatz und überlegten, ob sie hinauf auf die Straße laufen, oder ob sie lieber den schmalen Weg an der Röslau entlang nehmen sollten.
»Hast du auch nur wenig von dem Bier getrunken?«, fragte Lena ihre Freundin Lisa, die immer noch unglaublich nervös wirkte und sich fast schon kontinuierlich umschaute und die Dunkelheit zu durchspähen versuchte.
»Ja, ich hatte Angst, was da wohl drinnen sein könnte«, antwortete Lisa, doch dabei ließ sie es bewenden.
Auf der Straße, deren Asphalt bedrohlich grausilber durch die Nässe schimmerte, näherte sich ein Auto langsam der leichten Kurve, hinter der sich in einer Böschung der Parkplatz befand. Noch konnten sie in der Biegung nur die Lichter sehen, doch das Tempo, mit dem diese scheinbar suchend der Straße folgten, verhieß nichts Gutes. ›Wie das Gefieder einer Krähe glänzt die Straße‹, schoss es Lisa in den Kopf, doch sie zwang sich nicht abzuschweifen und sich ins Imaginäre zu verlieren, sondern einen klaren Kopf zu bewahren.
»Duck dich« flüsterte Lena ihr zu, als ob das Auto Außenmikrofone hätte, und zog sie mit in die Böschung hinter den Busch hinunter. Als Lisa so kauerte, bemerkte sie, dass Lena die apathisch wirkende Tanja bereits in diese Lage hineingezwungen hatte. Nun befand sich das Auto auf ihrer Höhe und durch den Schleier des immer dichter werdenden Regens erspähte Lisa, dass das Beifahrerfenster tatsächlich herabgelassen wurde. ›Na, da wird es ganz schön reinregnen‹, sinnierte sie und musste sich ein aufkommendes, völlig deplatziertes Lachen unterdrücken. Als der Wagen vorbeigeglitten war, registrierte auch Lisa wieder, in welcher Lage sie sich befanden und ihre Gedanken wurden erneut klar. Tanja war inzwischen in einen nervösen Aktivismus gefallen und Lena und Lisa hatten alle Hände voll zu tun, sie sicher auf dem schmalen Gehweg zwischen den Felsen und der reißenden Röslau zu halten. In der Dunkelheit tauchten auf der linken Seite des Weges nass schimmernde gewaltige Felsen auf, die, wären die Mädchen nicht in dieser Lage und das Wetter nicht so schlecht gewesen, ihnen bestimmt gefallen hätten. Jetzt wirkte das Tal, über das eine alte Eisenbahnbrücke führte, nur abweisend und gespenstisch. Allmählich fühlte Lisa, wie sich ihre Kleider mit Wasser vollgesogen hatten und keinen Schutz vor den Wassermassen mehr boten, sie also bis zur Haut nass war. Durch die Nässe hindurch begann sie zu schwitzen und sie merkte, wie ihr etwas schwindelig wurde. Auch Lena und Tanja sagten nichts mehr, sondern kämpften nur noch gegen den immer heftiger peitschenden Regen, der ihnen schräg ins Gesicht stach, an. Lena sah die Höhle, oder genauer den alten Bergwerksstollen zuerst.
»Lass uns hineingehen und uns warten, bis der Regen etwas nachlässt«, meinte Lena zu den anderen, die ihr nickend in das Innere des Stollens folgten.
Der erste Teil des Ganges war gerade und verwies mit Hinweistafeln auf die Geschichte des Stollens, der schon zur Zeit von Alexander von Humboldt von Bedeutung war. Die Mädchen gingen den Weg entlang, durch ein Eisentor hindurch in den hinteren Teil des Stollens, der weniger breit ausgebaut war. Hier in einer Nische setzten sie sich hin. Der prasselnde Regen war hier kaum noch zu hören und machte Platz für eine Geräuschkulisse anderer Art. Nicht weit von ihnen entfernt befand sich ein breiterer Raum und hierin waren einige Menschen, die die Mädchen zunächst nur als Schatten wahrnehmen konnten. Erst als sie sich etwas mehr an das fahle Licht, das den Ort beleuchtete und noch einen Lichtstreif in ihre Nische warf, gewöhnt hatten, konnten sie etwas klarer erkennen, was sich da gerade vor ihren Augen abspielte. An der hinteren Wand des Gewölbes saß ein nahezu unbeweglicher Mensch, dessen Schattenriss das Gewölbe in diesem Teil des Raumes auszufüllen schien. In der Mitte des Platzes saß oder kauerte ein männliches Wesen, das immer wieder von den zwei Männern, die neben ihm aufgerichtet standen, attackiert wurde. Vor ihm stand ein Wesen, das im Gegensatz zu den anderen eine Haube wie die des Ku-Klux-Klans über den Kopf gezogen hatte. Die ganze Szenerie erinnerte stark an eine mittelalterliche Gerichtsszene – oder – und dieser Gedanke, einmal gedacht, nahm immer mehr Raum in Lisa Gedanken ein – an eine Hinrichtung. Nachdem die Situation im Gehirn verortet war, fand Lisa Raum, dem Gesagten zuzuhören.
»Da wolltest du wohl dein eigenes Ding drehen?« blaffte den Delinquenten der Mann rechts vor ihm an.
»Nein, ich –«, weiter kam er nicht, da sich ihm von links eine Faust in den Magen bohrte. Nur noch kraftlos stöhnte er. ›Wie lange mag das schon so gehen?‹, fragte sich Lisa und merkte, wie sich ihr Magen anfühlte, als ob sie gerade geschlagen worden sei. In einem Anfall von Mut, der bestimmt nur mit der Beimischung in dem Bier zu tun gehabt haben konnte, das sie in der Hütte getrunken hatte, wollte sie aufstehen und gegen die Ungerechtigkeit, einen Wehrlosen zu schlagen, zu protestieren. Lena schien dies bemerkt zu haben und sie wagte es, kurz ihren Kopf zu bewegen, um Lisa einen Blick zukommen zu lassen. Tanja schien die ganze Situation durch sich hindurch zu lassen, so unberührt starrten ihre Augen auf das Tribunal, das wenige Meter vor ihnen stattfand. Nach der kleinen Pause des Stöhnens setzten die Peiniger ihre Inquisition fort.
»Oder wolltest du uns verpfeifen? Du weißt, dass du dem Meister Treue und absolute Verschwiegenheit und Gehorsam geschworen hast? Raus damit, was hattest du vor?«, zischte der Wortführer auf der linken Seite wieder.
Dieses Mal schwieg der Gepeinigte. Das ahnungsvolle Schweigen durchmaß den Raum. Plötzlich trat der Verkleidete einen Schritt nach vorne und ließ hinter sich ein glühendes Feuer in einer Schale erkennen. Langsam und gewichtig begann er zu reden:
»Du hast versucht, dich gegen deinen Meister aufzulehnen, du wolltest dem Bund den Rücken kehren, du hast gegen die Dogmen des Bundes verstoßen und das Gebot der Verschwiegenheit verletzt. Du hast dem gegenüber nichts zu deiner Verteidigung gesagt.«
Die Worte erfüllten den Platz und ließen in ihrem Widerhall keinen Zweifel darüber zu, dass hier ein Urteil gesprochen wurde, dass schon viele Menschen in vielen Jahrhunderten zu Opfern gemacht hatte und dem unerbittlich eine Konsequenz folgen musste. Lisa, Lena und Tanja waren atemlos und völlig gebannt vor Entsetzen. Inzwischen hatte der Mann sich wieder umgedreht und etwas in die Hand genommen, was Lisa sofort erkannte. Während der Vermummte sich mit dem Gerät über dem Feuertopf zu schaffen machte, zogen die Männer fast schon fürsorglich dem Verurteilten die Jacke aus. Dieser ließ alles apathisch über sich ergehen, als wäre jeder Lebenswille schon aus ihm gewichen oder herausgeprügelt worden. Als der Vermummte einen Schritt zur Seite trat, sah man, dass er einen Eisenstab in Hand hielt, an dessen Spitze ein Stab glühend glänzte. Der Schattenriss des Feuers ließ das Eisenstück groß wirken. Für einen Augenblick zauberte die Farbe des Eisens einen warmen, fast heimeligen Schimmer an das Gewölbe. Dann drehte der Vermummte sich zu dem Delinquenten, hielt in der Bewegung einen Augenblick inne und wandte sich der unbeweglich in seiner Ecke thronenden Gestalt zu. Diese nickte bedeutungsvoll und das Eisen ging präzise auf dem Oberarm des Verurteilten nieder. Es zischte leise und kurz roch man den Geruch von verbranntem Fleisch. Lisa kannte diesen Geruch und ihr war klar, was da eben geschehen war. Die Peiniger, die den Geschändeten bei der Prozedur festgehalten hatten, lachten leise, wurde aber mit einem einzigen Blick auf den Meister zur Ruhe gebracht. Einer von ihnen holte sodann einen Trichter und der andere eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Gewaltsam wurde der Trichter dem Mann in den Mund gestoßen und unerbittlich musste er die Flüssigkeit schlucken. Während er bei dem Brennen keinen Widerstand geleistet hatte, versuchte er sich jetzt heftig zu wehren, doch seine Versuche wurden im Keim erstickt. Er verschluckte sich, röchelte und jede Sekunde war offensichtlich eine unvorstellbare Qual für ihn. Als er nur noch röchelte, gebot der Meister mit einer Handbewegung Einhalt. Lisa, Lena und Tanja waren jede zu einem anderen Zeitpunkt kurz davor, aufzuspringen und dem Mann zu helfen, doch ihr Instinkt gebot ihnen, sich komplett ruhig zu verhalten. Auch hatte Lisa kurz erwogen, eine WhatsApp zu schreiben, aber an wen? Gänzlich duckten sie sich, als die Folterer den Mann direkt nur durch die schmale Verkleidung des Stollengangs geschützt an ihnen vorbei schleiften. Trotz aller Angst schaute Lisa ihn sich an und im immer schwächer werdenden Licht im Stollen erkannte sie ihn. Es war Micha.
Auch der Vermummte und der Meister verließen den Stollen und folgten der Prozession. Ihre Stimmen verloren sich im Geräusch des Regens, den die drei erst jetzt wieder wahrnahmen. Lena konnte als erste wieder klar denken.
»Wir müssen raus – das Gitter«, wisperte sie.
Nun riss sich auch Lisa wieder aus ihrer Starre. Natürlich, einer der Männer oder alle würden in den Raum zurückkommen und ihre Hinterlassenschaften wieder mitnehmen und dann unweigerlich auf sie stoßen. Während des Tribunals waren alle so konzentriert gewesen, dass sie sie nicht bemerkt hatten, aber jetzt, wo die Angespanntheit der Situation vorbei war, würde ihr dürftiges Versteck ihnen keinen Schutz mehr bieten.
»Klar müssen wir raus, aber wann«, flüsterte Lisa.
»Jetzt!«, flüsterte Lena zurück und gemeinsam nahmen sie Tanja ins Schlepptau, die immer noch fast teilnahmslos alles mit sich machen ließ.
Draußen angekommen merkten sie, dass der Regen zwar etwas nachgelassen hatte, trotzdem aber noch die bestimmende Geräuschkulisse der Nacht war. Durch den Regenschleier hindurch sahen sie, dass die Männer sich mit Micha zum Ufer der Röslau begeben hatten und gerade dabei waren, die Böschung hinunter zu gehen. Der Weg oberhalb des Flusses war schmal und so mussten sie fast hinter ihrem Rücken an ihnen vorbeilaufen. Trotzdem war ihnen klar, dass sie genau diesen Weg wagen mussten. Zurück durch das Tal zu laufen, wie sie gekommen waren, war noch gefährlicher, weil sie es bestimmt nicht mit den durchtrainierten Typen, die zu allem fähig waren, aufnehmen konnten und die Schlucht kein Entrinnen bot. Mit angehaltenem Atmen gingen sie möglichst geräuschlos an ihnen vorbei, der matschige Weg dämpfte zudem den Laut ihrer Schritte. Nun waren sie vorbei, wussten aber die Feinde im Rücken, was auch nicht viel angenehmer war. Umschauen, das spürten sie, durften sie sich nicht. Nur nach vorne mussten sie schauen und laufen. In dem Regennebel nahmen sie an der Böschung auf der linken Seite des Weges ein altes Gebäude wahr. Es sah aus wie eine alte Villa, deren Fenster aber vernagelt waren. Auch der Zaun um das Gebäude ließ keine Lücke frei, durch die sie hätten in den Garten dringen können. An das Gebäude angebaut war eine alte Firma, die bestimmt schon das ganze letzte Jahrhundert hier gestanden hatte. Aus einem der Fenster stahl sich ein Lichtschein in die Dunkelheit der Nacht hinaus. Die Mädchen nickten einander zu und drückten sich vorsichtig durch das kaum geöffnete Tor in den Vorhof des Gebäudes hinein. Vor ihnen lag eine eiserne Tür, die sich aber erstaunlich leicht und zu ihrer Erleichterung auch leise öffnen ließ. In der Fabrik selbst gingen sie durch einen hohen Raum, in dem Fässer und Kisten mit verschiedenen Nägeln säuberlich aufgereiht standen. Sie folgten dem lauten Geräusch, das aus einem hinteren Raum kam. Dort sahen sie im warmen Licht einer uralten Lampe einen Mann stehen, der sich an einer großen und eisernen Maschine zu schaffen machte. Mit einem gleichmäßigen »Tong« spuckte die Maschine in einem festen Rhythmus einen Nagel nach dem nächsten aus. Obwohl die Verlockung groß war, zu dem Mann hinzugehen und ihm alles zu erzählen, zog Lena Lisa in einen Nebenraum, der als Rückwand die Felswand hatte, und in dem Fässer unterschiedlicher Höhe mit Nägeln standen. Gut abgeschirmt durch die Fässer versteckten sich die drei mit dem Rücken zur Wand. «Lass uns kurz die Lage hier peilen, bevor wir zu dem Mann gehen«, flüsterte Lena in das gleichförmige Geräusch der Maschine hinein. Lisa nickte und auch sie atmete erst einmal tief durch. Auf dem Weg zur Fabrik konnte sie nicht umhin, einen Blick zur Röslau zu werfen. Und im Schatten der Böschungsbäume der gegenüberliegenden Flussseite hatte sie etwas unförmiges Dunkles treiben gesehen. War es Micha gewesen?
»Meinst du, die Typen haben mitbekommen, dass wir alles mit angesehen haben?«, fragte auf einmal Tanja, die aus ihrer Apathie kurz zu erwachen schien.
»Ich glaube schon«, antwortete Lena, »sie werden zurückgehen und sich fragen, weshalb es hinter der schmalen Stollenwand in der Nische so nass ist. Und dann werden sie den Boden ableuchten und in dem dünnen Matsch der Nische das Profil von Tanjas Stiefeln sehen. Vielleicht haben sie auch gespürt, dass da draußen etwas an ihnen vorbeihuschte. Auch wir haben Schatten.«
»Dann sollten wir ganz schnell zu dem Mann da vorne gehen und ihm sagen, dass er die Polizei anrufen soll«, wisperte Tanja aufgeregt.
»Still und runter«, raunte Lisa, denn sie hatte in einem Zwischenmoment zwischen den Geräuschen der Maschine das Öffnen der Eisentür gehört. Energische Schritte bewegten sich nun durch den ersten Raum durch in Richtung der Maschine. Der Typ mit der schwarzen Jacke und den Nieten an den Schuhen bewegte sich direkt auf den Arbeiter zu. Die beiden schienen miteinander zu reden und mit einem langanhaltenden Raunen kam die Maschine zum Stillstand. Das Gespräch, das sie nun führten, klang ganz unverfänglich und passte in seiner Normalität gar nicht zu den grausamen Ereignissen dieser Nacht. Die Stimmen waren unauffällig.
»Gut, dass du gut vorankommst, dann wird die Lieferung ja ganz pünktlich fertig und kann weitergehen«, mit diesen Worten durchschritten sie den Fabrikationsraum. Am Hall ihrer Schritte konnte man erkennen, dass sie nun in dem Teil des Gebäudes angekommen waren, in dem sich die Mädchen versteckten. Die Schritte kamen näher. Die Mädchen drückten sich lautlos immer dichter an den Felsen heran. Inzwischen waren sie so eng beieinander, dass sie das Herz der anderen schlagen hörten. Der Instinkt gebot es ihnen, möglichst flach und leise zu atmen. Direkt vor den Fässern und Kisten, hinter denen sie sich verborgen hatten, blieben die beiden Männer stehen. Durch einen Spalt zwischen den Fässern konnte Lisa die Stiefelspitzen des einen Mannes erkennen. Sie waren schwarz und mit Schlamm gedeckt. Ein wenig nasses Gras hatte sich in etwas Metalllernen verfangen. Der Geruch von nassem Brackwasser stieg ihr in die Nase. Und zugleich drängte sich ihr eine Gewissheit auf. Die dunkle Masse in dem Fluss war Micha gewesen.
All diese Gedanken erfüllten sie nur für einen Bruchteil von Sekunden. Ein Deckel von einem Fass wurde leicht angehoben und gleich wieder geschlossen.
»Also hier in den Fässern mit dem Bleiband?«, fragte die zu der schwarzen Stiefelspitze gehörende Stimme und der Gefragte schien als Antwort zu nicken. In Lisas Kopf begann es zu surren. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Irgendwann würde sie tiefer atmen müssen. So ging es den anderen auch. Lena lag fast auf Lisa und Tanja drängte sich so fest es ging in den kalten Felsen hinein. Um auf dem unebenen Untergrund nicht abzurutschen, hatte sie sich mit der linken Hand in einem Fass abgestützt, dessen Deckel sie leicht verschoben hatte. Erst hatte sie noch wahrgenommen, dass ihre Hand auf vielen kleinen, aber spitzen Nägeln ruhte, die überall in ihre Handfläche und auch unter ihre Fingernägel drangen. Nach dem ersten Schreck hatte sie sich wieder erholt und nun konnte sie die Hand nicht zurückziehen, ohne eine Veränderung ihres Körpers zu riskieren, die sich auch auf die anderen ausgewirkt hätte. So verharrte sie.
»Sag mal, hast du irgendjemanden in die Fabrik laufen sehen?«, fragte die ›Stiefelspitze‹. Als Antwort kam nur ein »Nö«.
»Weißt du, auf dem Weg hierhin habe ich zwei oder drei Wesen gesehen. Eines davon war wahrscheinlich ein Mädchen, weil ich im Regen noch die langen, blonden Locken erkennen konnte. An den Spuren auf dem Wanderweg konnte man so ein dickes Profil erkennen, das sich in Richtung der Fabrik bewegt hat. Kurz vor dem Tor ist es dann ja befestigt, da konnte man nichts mehr sehen, obgleich man ja die dreckigen Abdrücke der Schuhe noch einige Meter weit sehen müsste«, sinnierte der Mann. Die Mädchen konnten ihn riechen, so nah war er ihnen. Er roch abgestanden, kalt und ein wenig modrig süß. Lisa zersprang fast in dem Wunsch, auch nur einmal tief atmen zu können und obwohl sich alles in ihr danach sehnte, sich auch nur ein bisschen zu bewegen, hieß ihr Instinkt ihr, in dieser Totenstarre zu verharren. Sie fühlte Lenas Schläfe an ihrer Brust wild pochen, und merkte, wie das Surren in ihrem Kopf diesen fast ganz erfüllte. Sie war schon einmal ohnmächtig geworden und wusste, dass sie kurz davor war, ihre Sinne zu verlieren. Aber sie wusste vom letzten Mal auch, dass sie dann die Kontrolle über sich verlieren und die anderen in Gefahr bringen würde. So kämpfte sie gegen das Surren an und versuchte sich nur auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Also, wenn du irgendjemanden siehst, melde dich sofort bei mir. Man weiß ja nie, ob etwas nach außen dringt«, sagte der Mann, wobei er etwas auf die Zehen ging, wahrscheinlich um noch besser sehen zu können.
»Mache ich«, raunte der Arbeiter. Und nach einer gefühlten Ewigkeit entfernten sich die Schritte wieder. An dem energischen Auftreten der Füße konnte man hören, dass er bei der Tür war, einmal kurz verhielt, die Richtung wieder erneut zu ihnen wendete, dann aber doch zur Eisentür ging, diese öffnete und schloss. Auch die Maschine begann wieder in dem ihr eigenen Rhythmus zu ächzen. Die Mädchen atmeten durch. Noch waren sie viel zu angespannt, um auch nur einen Ton zu sagen. Lisa war die erste, die sich wieder gefangen hatte.
»Ganz leise raus hier und erst mal bis zur Tür. Bleibt dicht an der Wand. Ich gehe voraus, dann kommt Tanja und du, Lena, schaust immer mal in Richtung des Arbeiters. Los jetzt!«
Mit zitternden Knien begaben sich die drei aus ihrem Versteck. Erst jetzt merkte Lisa, dass ihre Beine eingeschlafen waren und ihr kaum gehorchten. Auch Tanja torkelte bedenklich. An dem Tor angekommen, hielten sie kurz inne und lauschten auf die Geräusche, die sie vor dem Eisentor erwarteten. War dort ein Atmen zu hören, das vielleicht zu dem Mann gehörte, der hinter dem Tor auf sie wartete? Kurz glaubte Lisa ein rhythmisches Atmen dort gehört zu haben, beschloss aber dann, dass es sich um ihren eigenen Atem gehandelt haben musste. Die Nerven waren zum Zerreißen gespannt, jedes Geräusch schien sich in ihrem Gehirn zu potenzieren und schwoll zu einem fast schmerzenden Gehämmer an. Ganz vorsichtig öffnete Lisa das Tor, nicht wissend, was sie dahinter erwarten würde. Standen da die Typen aus der Höhle und machten mit ihnen das, was sie mit Micha gemacht hatten? Lisa zwang sich das Kopfkino zu verbannen und sich zu sammeln. Ihr gelang es, das Tor leise zu öffnen. Der Lufthauch des frühen Morgens erfüllte für einen Moment ihre Lunge und sie kam innerlich kurz zur Ruhe. Auch den anderen Mädchen schien dieser eine Atemzug unendlich gut zu tun. Dann stieß Lisa das Tor vorsichtig weiter auf und spitzte nach draußen. Es war niemand zu sehen. Vorsichtig öffnete sie das Tor weiter und schlüpfte durch es hindurch und in die Freiheit des Morgens hinein. Die beiden anderen taten es ihr gleich. Doch kaum war auch Lena halb durch das Tor hindurch geschlüpft, verstummte das Geräusch der Maschine. Aus dem hinteren Teil der Fabrik bewegten sich Schritte erst zögerlich, dann aber schneller werdend in Richtung des Tores. Die Mädchen wurden dessen gewahr und stürzten jetzt los über den Hof mit den Kieselsteinen, der ihre Schritte unmissverständlich an die Stille der ausgehenden Nacht und beginnenden Tages weitergab. Vor ihnen war alles ruhig, nur hinter ihnen hörten sie noch, wie das Tor wieder ins Schloss fiel. Nach einer kurzen Strecke über den Kies an der Röslau entlang, die ihnen unendlich weit erschien, erreichten sie die Teerstraße, die den Berg hinauf zur Stadt führte. Hier liefen sie vorsichtig und sich permanent versichernd, dass sie nicht verfolgt oder beobachtet wurden, durch die noch schlafende Stadt. Nur einmal fuhr ein Auto verdächtig nah an ihnen vorbei. Schon beim ersten Schlurfen der Reifen über den Asphalt hatten sich die Mädchen hinter einer Hecke versteckt. Während Lisa und Lenas Sinne geschärft wie die eines verfolgten Tieres waren, schien Tanja wieder in ihre Apathie zu fallen und sie mussten sie immer wieder unterhaken, damit sie mit ihnen mitlief. Allmählich erschien ein Morgenstreif am Himmel und die Augen konnten im Dunst der regennassen Welt wieder Farben wahrzunehmen. Die Vögel begannen vereinzelt erst, dann immer stimmgewaltiger den Morgen zu begrüßen. Dass sie mit diesem Konzert um sich herum das Haus der alten Dame erreichten, erschien ihnen fast wie ein Wunder. Lisa schloss die Haustür auf und die Mädchen huschten hinein. Ohne ein Wort zu sagen, schlichen sie durch das Haus zu ihrem Zimmer, fielen in das Bett und deckten sich zu. Unter dem Schutz der wärmenden Decke kam Lisa das Erlebte unwirklich und wie ein Traum vor. Während die beiden anderen schliefen oder vorgaben zu schlafen, fanden Lisas Gedanken keine Ruhe. Immer wieder sah sie das menschliche Bündel im schwarzen Wasser der Röslau, das schnell und willenlos vorbeitrieb, ganz dem Spiel der Strömung ausgesetzt. Ach, lieber Micha, ich hätte dich gerne anders wiedergesehen, kreiste es ihr als Warteschleife durch den Kopf.
Wie an fast jedem Nachmittag spielte ich mit den kleinen Kätzchen, die meine Mutter Theano vor einem hartherzigen Bauern in Sicherheit gebracht hatte und seitdem in unserem Haus duldete. Mein Vater Pythagoras war weit weniger begeistert von dem unerwarteten Familienzuwachs, auch mein Bruder Telauges verzog zuweilen genervt das Gesicht, wenn er unerwartet von einem der Kleinen angesprungen wurde, weil er unabsichtlich mit den Zehen gewackelt hatte. Aber niemand hätte die Kätzchen vor die Tür gesetzt, denn das hätte den Lehren meines Vaters und seiner Schüler widersprochen. Für sie waren alle Lebewesen, Menschen und Tiere, gleichwertig. Seelenwanderung war das Stichwort, das sie predigten. Achtung vor dem Leben an sich, vor anderen Lebewesen. Ob mein Vater der Katze einen Tritt gäbe oder mir, das würde keinen Unterschied machen. Daher gab es in unserem Haus auch kein Fleisch zu essen, nur Obst, Gemüse, Eier und Milchprodukte. Schon über die Eier gab es hin und wieder Streit, weil mein Vater diese als werdendes Leben ansah. Irgendwann trennte meine Mutter drei der Hühner von den anderen ab und erklärte kategorisch, da der Hahn jetzt keinen Zugang mehr zu ihnen hätte, könne man diese Eier getrost essen. Ich weiß noch, wie verblüfft mein Vater sie anstarrte, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach und ihr zu dieser Idee gratulierte. Seitdem mäkelte niemand mehr, wenn es Eier gab.
Ich tollte also durch unseren Garten, einen dünnen Ast hinter mir her über den Boden ziehend. Es war immer wieder aufs Neue herrlich, wie die Kätzchen lauerten, zitternd bereit zum Sprung auf die Beute, dann den Ast knapp verfehlten, weil ich natürlich aufgepasst und ihn rechtzeitig weggezogen hatte. Meine Schwester Arignote saß auf einer steinernen Bank, eine Näharbeit auf dem Schoß, und lachte laut auf. Auch sie amüsierte sich immer wieder köstlich über die Kätzchen.
»Sabos, du hast es gut! Du bist noch ein Kind und kannst hier herumtollen wie ein kleiner Narr. Ich beneide dich«, rief sie mir zu. Erstaunt hielt ich inne und starrte sie verwirrt an.
»Aber mach doch einfach mit, Arignote. Keiner sieht uns hier, nimm einfach den Ast und spiel mit den Kleinen. Wer will es dir denn verbieten?«
Meine Schwester seufzte resigniert und schüttelte den Kopf, sodass ihre Locken leicht wippten.
»Nein, Sabos. Das geht leider nicht. Schau, ich werde bald heiraten und muss meine Aussteuer fertig nähen. Und so wilde Spiele sind etwas für Kinder wie dich, aber nicht für eine junge Frau. Was meinst du wohl, was Vater sagen würde, wenn er das sähe? Oder Telauges? Oder gar mein Verlobter Hippasos? Tollt ihr nur weiter, aber ich kann euch nur zusehen.«
Vorschriften, gute Sitten, immer und immer ging es nur darum. Ich ärgerte mich darüber, dass es nicht möglich sein sollte, einfach das zu tun, wonach einem war. Aber ändern konnte ich das System leider nicht.
»Wenn ich mal groß bin, dann werde ich meinen Kindern erlauben, so zu leben und sich so zu verhalten, wie sie selbst es wollen. Das verspreche ich dir, Arignote«, erklärte ich feierlich. Ein leises Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie winkte mich zu sich, um mich in die Arme zu schließen.
»Das ist lieb von dir, Sabos. Vergiss es nur nicht. Und jetzt spiel weiter, damit ich etwas zu lachen habe.«
Allzu lang dauerte ihre Freude jedoch nicht, denn eines der Kätzchen entdeckte ihre Näharbeit und verfing sich mit scharfen Krallen in dem zarten Stoff.
»Lässt du wohl los, du kleines Ungeheuer!«, schimpfte Arignote und setzte den Winzling auf den Rasen. »Ich gehe mal lieber ins Haus, bevor meine Arbeit sprichwörtlich für die Katz ist«, erklärte sie, packte ihre Sachen zusammen und verschwand in den Weiten des Säulengangs.
Ich selbst spielte noch eine Zeitlang mit den Kätzchen, dann legte ich mich hinter der Hecke aus duftendem Oleander in die Sonne. Ich mochte diesen Platz, hier konnte ich geschützt und ungestört liegen, keiner entdeckte mich, ich hatte meine Ruhe. In einigen Jahren, so überlegte ich schwärmerisch, würde ich die Nachbarstochter Helena heiraten und dann mit ihr gemeinsam hier liegen. Seit mir vor ein paar Wochen aufgefallen war, dass ihre Brüste sich zu formen begonnen hatten, ging Helena mir nicht mehr aus dem Kopf – auch wenn ich mit meinen neun Jahren keinerlei Vorstellung hatte, was denn wäre, wenn wir gemeinsam hier liegen würden. Einmal hatte ich Telauges gefragt, wie das denn wäre, verheiratet zu sein. Er musste es ja wissen, er war mehr als zehn Jahre älter als ich und seit dem Frühjahr ein verheirateter Mann. Aber er hatte nur rau gelacht und gemeint, das werde ich schon herausfinden, wenn es so weit wäre. Ich freute mich darauf es herauszufinden, zusammen mit Helena. Meine Fantasien beschränkten sich auf zarte Wangenküsse, so wie ich sie von meiner Mutter und meinen Schwestern manchmal zum Abschied bekam.
Es dauerte nicht lange und die warmen Sonnenstrahlen sorgten dafür, dass ich einschlief.
***
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Texte: Elvea Alle Rechte vorbehalten
Als ich erwachte, dauerte es einen Moment, bis ich mich zurechtfand. Es war schon fast gänzlich dunkel. Ich war mir nicht sicher, ob die Kühle mich geweckt hatte oder das Stimmengewirr, das von der anderen Seite des Oleanders herüberklang. Ich konnte die Stimme meines Vaters erkennen, ebenso die meiner Mutter und meines Bruders. Aber daneben mussten noch etliche
Impressum
Bildmaterialien: Elvea
Cover: Elvea
Satz: Elvea
Tag der Veröffentlichung: 10.03.2020
ISBN: 978-3-7487-3155-9