Cover

Titel

 

Barbara Schlüter

 

 

Gerächter Zorn

 

 

Gesellschaftsroman um 1891

 

 

 

 

 

 

 

 

ELVEA

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Handlung und alle Personen des Textes sind frei erfunden.

Alle möglichen Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Vorgängen oder Ereignissen bzw. mit lebenden oder gestorbenen Personen sind rein zufällig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

www.elveaverlag.de

Kontakt: elvea@outlook.de

 

Auflage: Schardt-Verlag 2016

 

Neuauflage: © ELVEA 2020

 

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf, auch teilweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

weitergegeben werden.

 

Autorin: Barbara Schlüter

 

Bildquelle/Titelbild: Archiv Bernd Sperlich

 

Covergestaltung/Grafik: ELVEA

 

Layout: Uwe Köhl

Projektleitung

www.bookunit.de

 

Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit.

Matthäus, Kapitel 5, Vers 6

 

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.

Friedrich Hölderlin

 

 

 

Autorin

 

 

 

 

Barbara Schlüter ist seit 33 Jahren selbständige Kommunikationstrainerin, Coach und Managementberaterin. Als wissenschaftliche Assistentin (damals Barbara Kroemer) am Historischen Seminar der Universität Hannover bot sie als Erste Veranstaltungen zum Thema ›Frauen in der Geschichte‹ an. Mit ihrem Sachbuch ›Rhetorik für Frauen‹ (1987) hat sie Pionierarbeit auf diesem Gebiet geleistet.

Sie lebt nach einigen Jahren im Rheinland seit 2001 wieder in ihrer Heimatstadt Hannover und auf La Palma.

Ihre historische Romanreihe um 1890 ›Vergiftete Liebe‹, ›Verheimlichte Liebe‹, ›Gerächter Zorn‹ mit Detektivin Elsa besteht aus jeweils in sich abgeschlossenen Folgen. Außerdem ist Elsa aktiv in der Hannover Erzählung (1889) Wenn der Kaiser kommt, ist Feiertag in ›Ausgerechnet zum Feiertag – historische Mord(s)geschichten‹ und in ›Ein eiskaltes Händchen‹ (Hannover 1888/89) in: Joachim Anlauf, Peter Gerdes (Hrsg) Tod unterm Schwanz, Anthologie zur Criminale 2020 in Hannover, Gmeiner Verlag.

www.dr.b-schlueter.de

Prolog


Endlich endete das Warten. Ein letzter Atemzug, dann war es vorbei. Die zusammengesunkene Gestalt hob den Kopf, den sie nervös in den Händen geborgen hatte, und blickte auf den Menschen, der kurz zuvor das Irdische gesegnet hatte – noch verzerrte sich das Gesicht im Todeskampf. Über die angespannte Miene glitt flüchtig ein sphinxartiges Lächeln, die verkrampften Finger begannen sich zu lösen. Zitternd stand sie auf – als sie ihren Knien wieder trauen konnte, huschte sie auf leisen Sohlen hin und her. Und plötzlich gab sie einen Laut von sich, der etwas von Genugtuung hatte.

Neben Erleichterung verspürte sie Befriedigung und einen stillen Triumph. Denn einzugreifen, auch hinsichtlich Leben und Tod, um Unrecht zu verhindern, fühlte sich letztendlich nach all den langen Bedenken richtig an. Es folgte ein nachdrückliches Nicken – rätselhaft, wem es gelten sollte, es befand sich niemand weiter im Raum. Nachdem sie tief durchgeatmet hatte, sortierte sie die Medikamente auf dem Nachtschränkchen, wobei sie ein kleines Fläschchen in ihre Rocktasche steckte. Während sie sich in der Waschschüssel gründlich die Hände wusch, summte sie zufrieden eine Melodie vor sich hin – in Dur, nicht in Moll.

»Das wäre überstanden«, murmelte sie, »eine Gefahr aus dieser Welt geschafft. Der Gerechtigkeit ist Genüge getan, nun ist es Zeit, sich wieder den Lebenden zu widmen. Gottes Arm reicht manchmal nicht überall hin, da braucht er seine irdischen Heerscharen zur Unterstützung. Der weitere Lauf der Dinge kann nur besser werden. Nur darum geht es, denn das ist es schließlich, was zählt.«

Familie Jacob beim Tee


Die Zwillinge Elsa und Emilie genossen gemeinsam mit ihrer Mutter Ernestine und deren Vater Wilhelm Jacob den Tee. Dessen Zubereitung hatte Elsa regelrecht zelebriert und gemeint: »Schließlich sind die Hannoveraner ja durch die Personalunion mit England manchmal britischer als die Briten.«

»Den Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne auf Norderney fand ich auch köstlich, aber dieser Tee schmeckt wirklich deliziös. In Königsberg tranken wir selten Tee.« Emilie nippte genüsslich aus der hauchdünnen Porzellantasse.

»Nun, wir haben mit Tee-Seeger seit immerhin 1743 das älteste Teespezialhaus Deutschlands, und man führt dort eine wunderbare Auswahl an Sorten.« Elsa als einzige alteingesessene Hannoveranerin zeigte sich wie immer heimatverbunden. »Wir trinken Orange Pekoe mit einem Löffel Earl Grey gemischt«, erklärte sie ihrer Mutter.

Diese wandte sich lächelnd Wilhelm Jacob zu. »Lieber Papa, ich genieße es besonders, in diesem gemütlichen Raum zu sitzen, mit all den stilvollen Möbeln aus der Biedermeier-Zeit, die auch Mama so gern mochte. Wie schön, dass du die aus Zeven hierher nach Linden mitgebracht hast. Dazu die schönen Landschaftsbilder auf der resedagrünen Seidentapete, das schafft eine harmonische Atmosphäre.«

Elsa stimmte ihr eifrig zu: »Das gefällt bestimmt auch Tante Sophie gut, die ja für ihren exzellenten Geschmack bekannt ist.«

Ernestine lächelte ihre spontane Tochter an und fuhr fort: »Und ebenso alle Möbel aus meiner Jugendzeit. Das hilft mir sehr, meine Erinnerungen wiederzufinden.« Da sie spürte, dass ihre Augen neuerlich feucht wurden, drehte sie den Kopf leicht verlegen zur Seite.

Emilie, die neben ihr auf dem kirschrotgoldgestreiften Sofa saß, bemerkte dies sofort und strich ihrer Mutter verständnisvoll über den Unterarm.

»Mein liebes Kind«, die Teetasse in der Hand ihres schon lange verwitweten Vaters, einem erfolgreichen Möbelfabrikanten, begann leicht zu zittern, »dass du nach neunzehn Jahren endlich wieder bei mir bist, dazu noch mit meinen entzückenden Enkeltöchtern, das ist das größte Glück, das mir auf dieser Erde noch wiederfahren konnte!«

Nach dieser Bemerkung zückte auch Elsa ihr Taschentuch.

Wie so oft, wenn Gefühle sie zu überwältigen drohten, suchte sie ihr Heil in einer kleinen Provokation. »Mit unseren verschiedenen Nachnamen wird uns nur nie jemand für eine Familie halten.«

»Zumindest für Elsa Martin, die ja hier in Hannover als Ziehtochter bei den von Elßtorffs aufwuchs, würde ein Wechsel des Familiennamens für erhebliches Aufsehen sorgen.« Nachdenklich klopfte Wilhelm Jacob mit dem Zeigefinger auf das Nähtischchen neben ihm.

»Und als Emilie Sartorius im letzten Sommer plötzlich als mein Zwilling aus Königsberg hier auftauchte, bot das halb Hannover auch Gesprächsstoff«, fügte Elsa prompt hinzu.

»Meine lieben Mädchen«, schaltete sich Ernestine ein, »die Angelegenheit mit dem Nachnamen würde doch mit eurer Eheschließung völlig unwichtig.«

Die beiden Schwestern tauschten einen langen Blick.

»Ach Mama, das mit dem Heiraten birgt einige Schönheitsfehler. Uneheliche Kinder und noch dazu ohne Vermögen stehen bei möglichen Ehekandidaten nicht hoch im Kurs. Und eigenwillige Frauen mit eigenen Interessen und Ansichten sind obendrein nicht gerade begehrt. Da bekommen wir Emilie noch eher unter die Haube als mich.«

Die jedoch hatte nicht richtig zugehört. »Und unsere Großmutter, die Gräfin von und zu Hohenstein in München?«, murmelte sie leise.

»Nun, unsere Großmama gab sich ja ganz liebenswürdig, aber sie gehört zum alten Schlag«, stellte Elsa fest.

»Da stimme ich dir zu.« Ernestine hob nachdrücklich die Hand. »Im Laufe der fünfzehn Jahre, in denen ich nach dem Verlust meines Gedächtnisses als ihre Gesellschafterin fungierte, lernte ich sie ja gut kennen. Durch die schweren Schicksalsschläge, die sie erlitten hatte, mag sie in einiger Hinsicht etwas weicher und zugänglicher geworden sein. Und als sich jetzt herausstellte, dass ihr gefallener Sohn Friedrich euer Vater ist, hat sie das kolossal gerührt. Aber sie bleibt doch eine außerordentlich standesbewusste Person.«

»Wohl eher voller Standesdünkel«, murmelte Elsa und wandte sich ihrer Schwester zu. »Adoptieren wird sie weder die Mama noch uns. Also mach dir keine Hoffnungen, eine Emilie von und zu Hohenstein bahnt sich nicht an. Außerdem brauchen wir das gar nicht. Auch wenn wir nun mal unehelich sind: Wir haben eine wunderbare Mutter und einen liebenswerten Großvater. Und vergiss nicht: Vor einem Jahr war ich eine Ziehtochter bei den von Elßtorffs, du warst die scheinbar natürliche Tochter des bürgerlichen Ehepaars Sartorius in Königsberg, und wir beide kannten uns nicht. Aber die Reise nach La Palma, der kanarischen Insel unserer Geburt, erbrachte ja dann endlich Klarheit über die familiären Wurzeln. Da geht es uns doch wohl jetzt Gold, liebe Emilie, es sei denn, du magst von dem Traum nach dem adeligen Titel partout nicht lassen!«

Ob sie aus Verlegenheit oder Ärger leicht errötete, wusste Emilie selber nicht so genau. Aber nachdem sie ihren Zwilling nun über ein Jahr kennengelernt und einige Abenteuer mit ihr bestanden hatte, entgegnete sie lächelnd: »Elsa, manchmal benimmst du dich wirklich wie ein Biest.«

»Mag sein«, konterte diese. »Du hast jedoch zuweilen noch Flausen im Kopf. Und viel zu viel Ehrfurcht vor allem, was adelig ist. Das zeigt sich ja oft genug, wie du dich von Sophie von Elßtorffs unsäglicher Cousine, der schrecklichen Tante Edelgarde, Gräfin von Potocki, unterbuttern lässt. Aber jetzt mal im Ernst: Der Dreh- und Angelpunkt besteht doch darin, dass zunächst wir Schwestern, danach wir vier sowohl durch Nachforschungen als auch einige beherzte Fügungen des Schicksals zusammenfanden. Das allein ist es, was zählt, und dafür bin ich außerordentlich dankbar.«

Wie so oft hatte Elsa die Dinge auf den Punkt gebracht – alle stimmten ihr zu.

»Ja, da hast du völlig recht. Und selbst wenn sich jeder von uns fragt, wie es weitergehen soll – wir brauchen Zeit, und die sollten wir uns auch geben.« Nachdenklich blickte Wilhelm Jacob seine Tochter und seine Enkelinnen der Reihe nach an. »Du, Ernestine, befindest dich nach dem über fünfzehn Jahre dauernden Gedächtnisverlust noch in der Rekonvaleszenz. Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe, keine Aufregungen, wenig Veränderungen, Spaziergänge, so lauten die Empfehlungen von Dr. Petzold, dem erfahrenen alten Hausarzt der von Elßtorffschen Familie. Denn wichtig ist, dass du dein Erinnerungsvermögen nach und nach vollständig zurückgewinnst. Hier oben auf dem Lindener Berg ist die Luft ja zum Glück viel besser als unten, wo die Schlote um die Wette rauchen. Es lässt sich am Wasserhochbehälter, der aussieht wie eine trutzige Festung, trefflich spazieren gehen. Auch eine kleine Gartenkolonie für die Arbeiterfamilien, die gerade entsteht, ist sehr einladend. Kurz und gut: so gern ich euch junge Damen hier im Haus hätte, und Platz ist mehr als genug, so weiß ich doch wie Sophie von Elßtorff ebenso wie Maximilian und Heinrich, euch schmerzlich vermissen würden. Deshalb sind Ernestine und ich uns einig, erst mal alles so zu belassen, wie es ist und …«

Da unterbrach ihn die sonst so sanftmütige Ernestine ungeduldig. Auf ihren Wangen zeichneten sich vor Aufregung rote Flecken ab.

»Ganz recht, Papa, wir werden sehen, wie lange meine Rekonvaleszenz dauert. Aber ich kann euch gar nicht sagen, wie aufgeregt ich bin, wenn ich an das morgige Wiedersehen mit meiner alten Pensionatsfreundin Sophie denke. Schließlich sind zwanzig Jahre vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Das ist ja unser halbes Leben. Hoffentlich erkennen wir uns überhaupt noch. Hauptsache, ich bekomme nicht vor lauter Aufregung Migräne. Und wer weiß …« Sie verhaspelte sich und rang nervös die Hände. Was, wenn sie sich gar nicht würde erinnern können? Viele Ereignisse aus der Vergangenheit tauchten unklar und diffus auf, manche traten dann plötzlich klar aus dem Gedächtnis heraus. Aber die großen Lücken waren beängstigend.

»Meine liebe Mama«, Elsa genoss es immer wieder von Neuem, nicht nur eine Mutter zu haben, sondern die bitter vermisste Anrede zu gebrauchen, um die sie ihren Ziehbruder Heinrich als Kind so schmerzlich beneidet hatte, »meine liebe Mama«, wiederholte sie in verschwörerischem Ton, »glaub mir, Tante Sophie ist mindestens so aufgeregt wie du.«

Besorgt mischte sich Wilhelm Jacob ein: »Nun lasst mal die Kirche im Dorf! Aufregung tut eurer Mutter nicht gut. Schließlich gibt es so viel Grund zur Freude.«

Insgeheim nahm er sich jedoch vor, bald mit seiner Tochter über eine finanzielle Versorgung seiner Enkeltöchter zu sprechen. Alle drei Frauen wussten bisher nicht, über welche Mittel er wirklich verfügte. Zudem stand er mit der Gräfin in München in engem Kontakt, wofür diese extra ein Telefon angeschafft hatte. Bei ihr hatte er durch seine klugen Ratschläge, wie er schmunzelnd festgestellt hatte, offenbar einen Stein im Brett.

Die eigensinnige und oft ungeduldige Elsa riss ihn aus seinen Gedanken. »Ja, Großvater, gönnen wir uns Zeit. Gut Ding will Weile haben – nach den vielen Veränderungen und Aufregungen wird uns ein wenig Normalität guttun. Es sind ja keine Mordanschläge mehr auf uns zu befürchten noch mysteriöse Todesfälle zu klären. Apropos Normalität«, fügte sie schleunigst hinzu, um das Thema zu wechseln, als sie die besorgte Miene ihrer Mutter bemerkte. »Wann dürfen wir denn deine Fabrik besichtigen? Und wieso hast du eigentlich nicht eine Fabrikantenvilla direkt daneben gebaut?«

»Weil deine Großmutter uns noch etwas Privatleben erhalten wollte, du Naseweis.«

»Und Cord hospitiert bei dir und wird im Oktober an der Königlich Technischen Hochschule im ehemaligen Welfenschloss studieren?«

»Ja, das wird er. Und er macht sich hervorragend in der Fabrik. Er hat ein gutes Vorstellungsvermögen und ein Händchen für Maschinen. Das hätte ich ehrlich gesagt von dem Sohn eines sozialdemokratischen Volksschullehrers nicht unbedingt erwartet. Ein famoser Bursche, bin schon dabei, ihn auch in der Continental-Caoutchouc AG als Praktikanten unterzubringen.«

Erfreut lächelte Elsa ihren Großvater an – es gefiel ihr, dass ihr junger Freund und Gefährte hier solche Förderung fand.

Emilie hatte sich etwas überlegt. »Tante Sophie hat ja letztes Jahr, als sie für das Kinderheim des Henriettenstiftes auf Norderney spendete, obendrein eine finanzielle Patenschaft für eine Familie in Linden übernommen. Unsere Haushälterin Marga, die ja auch aus Linden stammt, unterstützt die dort eingesetzte Diakonisse Karla. Momentan ist die zweite Diakonisse erkrankt, und kurzfristig kann die Henriettenstiftung keinen Ersatz stellen. Da wird jede helfende Hand gebraucht, gern möchte ich mit anpacken. Uns ist so viel Gutes widerfahren, das hätte genauso ganz anders ausgehen können. Vielleicht kann ich an der einen oder anderen Stelle Menschen, denen das Schicksal nicht so wohlgesonnen ist, etwas Unterstützung geben.«

Nachdenklich blickte Elsa ihre Schwester an. »Meine Liebe, das ist eine hervorragende Idee, ich bin dabei.«

Möglicherweise ist das, so dachte sie pragmatisch, nicht zuletzt eine gute Ablenkung von all den offenen Fragen, die zurzeit anstehen. Wobei ihre Gedanken zu ihrem Ärger kurz zu dem Rechtsanwalt Victor Rehnhoff abschweiften, dessen wankelmütiges Benehmen sie im Laufe des vergangenen Jahres allzu oft beschäftigt hatte.

»Vielleicht würde auch unsere Freundin Isidora Kaulbach dafür zu gewinnen sein.«

»Wer weiß, was deren Fastverlobter, der Chemiefabrikant, davon hält. Den muss sie jetzt wohl fragen. Abgesehen davon schreibt sie ja an ihrem ersten Roman – sie macht sich jetzt schon rar. Da wird sie nicht noch Zeit erübrigen können, um in Linden die Diakonisse zu unterstützen.«

Emilie blickte zu ihrer Mutter und fügte erklärend hinzu: »Isidora ist die Tochter des Malers Friedrich Kaulbach und eine alte Freundin von Elsa. Sie begleitete uns letzten Sommer nach Norderney und ebenso bei unserer Reise zu den kanarischen Inseln. Du wirst sie gewiss bald kennenlernen.«

Indessen hatte sich Ernestine in ihrem Armlehnstuhl aufgerichtet und erklärte bestimmt: »Emilie, inwieweit und womit deine Schwester und du der Diakonisse helfen könnt, das möchte ich zunächst morgen mit Sophie besprechen. Bist du schon mal in einem Arbeiterhaushalt gewesen?« Während Emilie verneinte, erwiderte Elsa: »Ich habe Marga mal begleitet, Maman. Aber die sagte damals, in jeden Haushalt würde sie mich nicht mitnehmen.«

Großvater Jacob räusperte sich und meinte: »Nun, verglichen mit vor einigen Jahren haben sich die Lebensumstände in der Industriestadt Linden zum Glück etwas verbessert. Die Bevölkerung ist ja durch Zuzug von Arbeitern in einem Tempo gewachsen, mit dem der Wohnungsbau nicht mithalten konnte. Und es gab auch eine Reihe von schlechten Wirtschaftsjahren. Die Verhältnisse in Linden Süd, Mitte und Nord sind zum Teil recht unterschiedlich.« Er unterbrach sich, schluckte offenbar weitere Ausführungen hinunter, schlug dann aber vor: »Was haltet ihr davon, wenn ihr in der Warteschule des Vereins christlicher Jungfrauen für Zwecke der Inneren Mission helft? Da wird gottgefällige Liebestätigkeit gewiss immer benötigt.«

»Warteschule?« Ernestines Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Warteschulen oder Kinderbewahranstalten sind Pflegeanstalten für kleinere Kinder unbemittelter Eltern. Diese gewähren den Kindern armer, rechtlicher Eheleute von eineinhalb bis sechs Jahren Schutz, Aufsicht, Pflege und Nahrung. Die Kleinen werden frühmorgens gebracht und abends wieder abgeholt.«

Wie so oft erkannte Elsa sofort den Haken an der Sache. »Bedeutet rechtliche Eheleute verheiratete Paare, so dass man uneheliche Abkömmlinge nicht aufnimmt?«

Alle blickten ebenso betroffen wie gespannt zu Wilhelm Jacob. »Leider ist das so. Ich habe das stets als pharisäerhaft verurteilt, denn gerade diese Sprösslinge benötigen doch Hilfe!« Er zögerte einen Moment, bevor er weitersprach. »Uneheliche Kinder bleiben von einer Betreuung ausgeschlossen, so hieß es, da selbstredend aus einer Wohltätigkeitsanstalt kein Beförderungsmittel der Unzucht werden dürfe.«

Während Emilie peinlichst berührt zusammenzuckte, wurde Ernestine abwechselnd rot und blass. »Das ist eine hanebüchene Ungerechtigkeit! In der Arbeiterschaft haben die alleinstehenden Mütter ja noch weniger Chancen, sich durchzubringen. Manchmal lassen mich diese selbstgerechten guten Christen wirklich verzweifeln!«

»Empörend!«, stimmte Elsa ihr zu und ergriff tröstend die Hand ihrer Mutter.

»Man muss sich über solche Kleingeister hinwegsetzen und gerade dort helfen, wo man kann.« Wilhelm Jacob, der das Thema der Unehelichkeit weder verschweigen noch überbewerten wollte, blieb ruhig. »Dennoch dürfen wir nicht verkennen, dass die 1888 eröffnete Warteschule des Jungfrauenvereins dringend benötigt wurde. Denn die Krippe der Mechanischen Weberei betreut zwar 150 Kinder, nimmt aber nur Sprösslinge ihrer dort beschäftigten Eltern auf. Und die Egestorffsche Verwahranstalt der Hanomag versorgt 45 kleine Erdenbürger, das reicht bei weitem nicht mehr aus.«

»Onkel Maximilian erzählte, dass das Gebäude der Warteschule des Jungfrauenvereins nach modernsten Gesichtspunkten gebaut wurde, mit einem Warmbad nach dem Vorbild der Warmwasseranlage im Elefantenhaus, die dort das Nilpferdbecken beheizt.«

Dies fand selbst Emilie so kurios, dass es ihr ein Lächeln abrang. »Den Zoo möchte ich auch gern mal besuchen.«

»Das lässt sich gewiss einrichten«, entgegnete ihre Schwester. »Jedenfalls leitet die Warteschule die im Henriettenstift ausgebildete Kinderlehrerin Marie Preuß, und die Diakonisse der benachbarten Schwesternstation wurde zur Hausmutter bestellt. Da haben wir also schon Verbindungen, denn mit der ist ja auch unsere Marga befreundet.«

»Ich möchte aber lieber Erkrankte in den Familien besuchen«, schaltete sich Emilie ein. »Da wird am dringendsten Unterstützung gebraucht.«

Ernestine beendete das Thema: »Sophie und ich werden das miteinander abklären, es kommt ja jetzt nicht auf einen Tag an.«

Unsere Mutter beginnt, die Zügel in die Hand zu nehmen, konstatierte Elsa. Nun haben wir ein Trio, das um unser Wohl besorgt ist: unsere leibliche Mama, Tante Sophie und Marga, die für mich von klein auf eine Vertrauensperson war. Wer wird schon so vielfach bemuttert wie wir? Sie drückte die Hand ihrer Schwester, die dies mit einem Lächeln erwiderte – zufrieden sahen die beiden sich an.

»Eine wichtige Frage habe ich aber noch, liebe Mama«, Elsa blickte verschmitzt in die Runde, »wer von uns beiden ist denn die Erstgeborene?« Alle Anwesenden hielten den Atem an und begannen dann zu lächeln – hatte es doch genau zu dieser Frage letztes Jahr auf Norderney ein kleines Wortgeplänkel zwischen den Zwillingen gegeben.

Ernestine, in Unkenntnis dieser Vorgeschichte, fühlte sich etwas irritiert, antwortete aber prompt: »Das ist nicht schwer zu erraten, denn es richtet sich nach dem Alphabet. L kommt vor M, also ist Elsa die erste gewesen, die auf La Palma das Licht der Welt erblickte.«

Diese schlug völlig undamenhaft erst sich selber, dann ihrer Schwester vergnügt auf die Schenkel und jubelte: »Hab ich es nicht gesagt!«

»Genau diese Vermutung äußerte Elsa letztes Jahr auf Norderney«, erläuterte Wilhelm Jacob seiner Tochter.

Die lächelte. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« – womit ausnahmsweise mal nicht Elsa, sondern ihre Mutter das letzte Wort hatte.

Ohne Scham


Während Cord die Falkenstraße hinunterging, kreisten seine Gedanken um eine Maschine in der Möbelfabrik Wilhelm Jacobs. Da beförderte ihn ein Pfiff in die Realität zurück. Kalle, ein etwa dreizehnjähriger typischer Lindener Butjer, stand vor ihm, schob die Schiebermütze nach hinten und zupfte sich am Ohrläppchen. Er umfasste, nachdem Cord diese Geste spiegelverkehrt wiederholt hatte, mit der rechten Hand dessen Handgelenk, was von weitem so aussah, als würden sich die beiden die Hände schütteln. Zweifellos handelte es sich um ein Mitglied der roten Füchse, einer Gruppe von Jungen, die in der Zeit der Sozialistenverfolgungen ein geheimes System aufgebaut hatten, um Genossen vor Polizeieinsätzen und Bespitzelungen zu warnen. Der Vater von Cord, ein außerordentlich belesener Volksschullehrer, wegen seiner sozialdemokratischen Gesinnung auch der ›rote‹ Breuer genannt, hatte damals seinem Neffen die Gründung dieses Bundes gestattet. Und Jahre später, 1890, waren die roten Füchse unter der Leitung seines Sohnes Cord aktiv geworden, um dessen Freundin Elsa bei der Aufklärung eines mysteriösen Todesfalls im Königlichen Schauspielhaus zu unterstützen.

»Mensch, Cord, wie gut, dass ich dich treffe, ich brauche deine Hilfe«, flüsterte der Junge. »Ich habe den Verdacht, dass bei uns gerade eine schreckliche Sauerei im Gange ist. Es geht um meine kleine Schwester Pauline …« In diesem Moment näherte sich ihnen ein Bursche aus der Nachbarschaft, der sichtlich neugierig versuchte, etwas von dem Gespräch aufzuschnappen.

Wütend zischte Kalle ihn an: »Kathol‘scher Bock, schiet in‘nen Rock, schiet deiner Mutter innen Kaffeepott!«

Diese freundliche Aufforderung, sich zu verziehen, verstärkte Cord noch durch ein trockenes, mit erhobener Hand unterstrichenes: »Verpiss dich!« Woraufhin der Junge mit roten Ohren ein »Jesses, Maria und Josef« ausstieß und sich schleunigst trollte.

Aufgeregt sprach Kalle mit leiser Stimme weiter, während er Cord mit sich zog. Der blieb völlig entsetzt stehen, als er verstanden hatte, um was es ging, ballte die Fäuste, versuchte, sich zu sammeln und erklärte: »Wir können da nicht einfach reinstürmen, es braucht einen Plan, um diese Ruchlosigkeit zu verhindern. Allein schaffen wir beide das kaum.«

Mit hängenden Schultern blickte der Jüngere zu dem Älteren auf. »Du hast doch immer gesagt, die roten Füchse sind, wie ihr Name schon sagt, schlau und listig. Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir zu spät. Und das darf auf keinen Fall passieren!«

In diesem Moment kam ein Schutzmann vorbei, der den offenbar aufgeregten jungen Männern einen prüfenden Blick zuwarf. Da blitzte in Cord eine geniale Idee auf. Während sie eilig der Viktoriastraße zustrebten, instruierte er Kalle, der erleichtert nickte. »Das funktioniert!«, zischte er zufrieden.

Sie betraten den zweiten Hinterhof, in dem es ekelhaft nach dem Latrinenhäuschen roch, und hörten schon die schrille Stimme einer offenbar nicht mehr nüchternen Frau. »Unvorsichtig ist die Alte auch noch«, fauchte Kalle. »Komm, wir gehen rein.«

In den muffigen Raum im Erdgeschoss drang nur wenig Licht. Umso deutlicher zeichnete sich die weiße Haut eines etwa zwölfjährigen, hellblonden Mädchens ab, welches splitternackt auf einem Schemel stand. Sie zitterte am ganzen Körper, hielt eine Hand vor die Scham, und ihre Augen irrten zwischen drei Männern hin und her, die sie taxierten. Kalle, der zunächst schreckensstarr auf dem Absatz stehen geblieben war, verkündete nun betont lässig: »Hier gibt es noch jemanden, der Interesse hat.« Niemand sah, wie sich die Finger seiner rechten Hand so fest in den Ballen bohrten, dass der Schmerz ihn sofort in die abscheuliche Gegenwart zurückriss. Denn ihm wurde gerade ein lange gehegter Verdacht zur schrecklichen Gewissheit.

Die Frau blickte indessen Cord nur mit einem verschwommenen Blick an und entblößte bei einem Lächeln zahlreiche Zahnlücken. »Willkommen, je mehr desto besser«, nuschelte sie. Die drei Kerle, die Cord auf über vierzig schätzte, beäugten ihn misstrauisch.

Wie gut, dass man mich meist für Mitte zwanzig hält, ging es dem jungen Mann durch den Kopf, während er sich zugleich um eine gleichgültige Miene bemühte. Er vermutete, dass die Männer alle aus Hannover kamen. Inzwischen kreiste die Schnapsflasche, und dies, so schätzte Cord, sicherlich nicht zum ersten Mal.

»Also, die Herren, das Mädel is Jungfrau, das garantier ich. Und se hat die Tage noch nicht, dat is ja auch wichtig, wir wollen ja kein Kladderadatsch.«

Ein dicker Mann, der die Melone nicht abgenommen hatte, zeigte mit seinen Wurstfingern auf die Kleine. »Will hoffen, dass das stimmt. Nen bisschen Busen hat sie ja schon.«

Cord sträubten sich die Nackenhaare.

»So, nu mal ran an den Speck und kein langer Firlefanz. Was wolln Se denn blechen?« Die Frau genehmigte sich einen ordentlichen Schluck aus einem schmuddeligen Glas und blickte raffgierig einen nach dem anderen an.

»Zehn Mark«, erklärte ein hagerer Mann in feinem Zwirn und leckte sich die Lippen.

»Dat is ja mal grad ’nen Wochenlohn von ’ner Arbeiterin. Das reicht nicht. So ’n süßes Schätzchen bekommen Se so schnell nicht wieder.«

Der Dicke trat plötzlich auf das Mädchen zu und strich ihr über das Hinterteil. Diese stieß einen leisen Schrei aus, während die Frau mit erstaunlicher Geschwindigkeit und Kraft den Mann zurückstieß.

»Ümesonst kriegste hier nichts!«

»Nu machen Se mal halblang«, der Hagere grinste verschlagen, »ich könnte das ja mal prüfen mit der Jungfräulichkeit«, und dabei ließ er den Zeigefinger seiner rechten Hand kreisen.

»Das Berühren der Figüren mit den Pfoten ist verboten, Kerl!« Mit hochrotem Gesicht kreischte die Frau in schrillsten Tönen.

Während in Cord Übelkeit aufstieg und Kalle immer käsiger aussah, schien der Dicke Feuer zu fangen – die Ausbeulung an seinen Beinkleidern zeigte das deutlich.

»Zwanzig Mark«, verdoppelte er.

»Dreißig Mark«, erhöhte der Hagere und kratzte sich unbewusst am Schritt.

Das halte ich nicht mehr lange aus, dachte Cord, dessen Magen heftig rebellierte. Das grausame Spiel muss schleunigst beendet werden. Er blickte zu Kalle, griff sich ans Ohr.

Der nickte und schrie: »Da kommt Polente, haut über die Hintertür ab!« Er riss die Tür auf, rannte los, fluchtartig stürzten die Männer hinaus, während die Frau dem Mädchen ein Hemd überstreifte. Cord bildete das Schlusslicht und rief: »Beeilung, der Gendarm verfolgt uns!« Woraufhin sich die Männer in dem Gewirr des Viertels verteilten.

Kalle und Cord verdrückten sich in eine Toreinfahrt, beide außer Atem und außer Fassung. Kalle schien völlig am Boden zerstört, er flüsterte: »Mir ist etwas Ungeheuerliches klargeworden.«

Bleich und zitternd bot er ein Bild des Jammers.

»Noch ungeheuerlicher als eben geht es ja kaum. Jetzt reiß dich zusammen und berichte, wie es sich für einen roten Fuchs gehört«, versuchte Cord ihn bewusst aus seinem Schockzustand zu holen. »Du weißt doch, Lindener Blut ist keine Buttermilch! Wir lassen uns nichts gefallen.«

Aber Kalle bekam kein einziges Wort heraus.

»Komm, wir setzen uns auf die Mauer dort, und du gibst Rapport. Wer hat was wann mit wem gemacht?«

Der Junge rutschte unruhig hin und her, sprang von der Steinwand wieder runter und starrte auf den Boden. »Damals, vor zwei Jahren, hatte ich mich versteckt, ich konnte nicht alles sehen und verstand nicht richtig, was da ablief. Jetzt jedoch fällt es mir wie Schuppen von den Augen.« Er hob den Kopf und sah Cord an: »Meine ältere Schwester – die Alte hat sie genauso verschachert, wie sie es heute mit der Kleinen vorhatte.«

Cord zögerte. »Deine ältere Schwester – aber die ist doch tot. Das war seinerzeit dieser schreckliche Unfall mit der Droschke, die sie überfahren hat. Der Kutscher floh und wurde nie gefunden …« Deutlich erinnerte er sich daran, wie unter vorgehaltener Hand über den entsetzlich zugerichteten Leichnam des Mädchens gesprochen worden war.

»Nein, ja – es verhielt sich aber anders. Frühmorgens weckte mich ein Geräusch, ich schlief unruhig, denn meine Schwester war nicht nach Hause gekommen, die Alte lag nicht ansprechbar sinnlos betrunken auf dem Bett. Ich schlich zur Tür, und da fand ich sie, sie war tot.« Kalle stockte, holte stöhnend Luft und fuhr mit leiser Stimme fort: »Sie hatte ein zugeschwollenes Auge, und untenherum war alles voller Blut. Ich hob vorsichtig ihren Unterrock an, es war schrecklich. Gerade eben begriff ich erst, dass sie erbarmungslos missbraucht wurde, vorn und hinten, Cord, sie muss verblutet sein.« Blicklos starrte er vor sich hin, während Cord Mühe hatte, das Gehörte zu begreifen.

»Heute gab es Rettung in letzter Minute, aber meine Mutter wird es wieder versuchen.«

Cord blickte ihn entsetzt an. »Was ist mit eurem Vater?«

»Unser Vater gibtʼs nich! Die älteste Schwester hatte einen, der ist tot. Von da an ging es nur noch abwärts. Die Alte kam über den Tod des Vaters wohl nicht weg – dauernd Kerle und immer mehr Alkohol – den Rest kennst du jetzt. Pauline und ich wissen nicht mal, ob wir vom selben Erzeuger abstammen, sicher ist nur, dass wir Früchte der Unzucht sind, wie der Pfarrer mal sagte.«

Cord schluckte – unehelich geboren, das machte es für die Kinder noch schwerer.

»Dann müssen wir unbedingt die Polizei verständigen.«

»Auf gar keinen Fall. Es gibt doch null Beweise. Soll ich meine eigene Mutter anzeigen? Die Alte käme ins Kittchen. Das hilft uns nicht weiter. Denn selbst wenn man uns glaubt, landen meine Schwester und ich in einem Waisenhaus, wo man uns trennen wird. Die Kleine ist sowieso schon völlig verstört und vertraut nur noch mir – sowie wir nicht mehr beisammen sind, wage ich nicht mir auszumalen, was dann passiert. Wir beide müssen zusammenbleiben, komme, was da wolle.«

»Aber ich verstehe nicht, was war denn mit dem Droschkenunfall?«

»Das war mein Onkel, meine Mutter hat ihn überredet, damit wir nicht alle in die Bredouille geraten.«

Völlig Durcheinander vor Entsetzen und Ekel konnte Cord kaum einen klaren Gedanken fassen.

Wir brauchen Unterstützung, überlegte er. Das kann ich nicht allein lösen. Schnell kam ihm Marga Lheiss in den Sinn, zu der er während der Reise zu den Kanarischen Inseln ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte. Die Haushälterin der von Elßtorffs zeichnete sich durch gesunden Menschenverstand aus.

»Hör zu, Kalle, ich versuche, Hilfe zu organisieren. Du lässt jetzt erst mal deine Schwester nicht mehr aus den Augen. Wenn es nicht anders geht, lauft ihr zu der Diakonisse Karla.«

»Aber was soll ich der sagen?«

Cord überlegte: »Sag ihr, eure Mutter sei schrecklich betrunken und habe Pauline schlagen wollen. Ihr würdet euch nicht allein nach Hause trauen.«

»Gut, das mache ich für den Notfall.«

»Melde dich bei mir jederzeit, wenn du mich brauchst. Du kannst auch einen von unseren Füchsen zu mir schicken. Ich werde meine Mutter immer informieren, wo ich bin. Jetzt hole ich mein Veloziped und fahre schleunigst in die Königstraße zu den von Elßtorffs. Kopf hoch, Kalle, es wird uns etwas einfallen!« Er schlug dem Jungen, der ihm von Herzen leid tat, aufmunternd auf die Schulter. Dabei war ihm noch völlig rätselhaft, was man tun könnte. Schnell eilte er nach Hause, informierte seine Mutter, die vor Entsetzen die Hände rang, und schwang sich aufs Rad.

Sein flottes Tempo musste er am Gasthof zum Schwarzen Bären drosseln – es herrschte das übliche Gewimmel eines Markttages. Besonders fielen die Frauen in der Bückeburger Tracht mit den roten Röcken und mehrfarbigen Schürzen auf, die bereits bei Tagesanbruch mit Pferdegespannen Richtung Linden aufgebrochen waren. Er schob sich durch das Gedränge, die verführerischen Gerüche vom Stand eines Landwirtes mit Wurst und Schinken vom Calenberger Land stiegen ihm in die Nase. Ihm wurde bewusst, wie hungrig er war. Rasch überquerte er die Ihmebrücke – seine Gedanken überschlugen sich. Zum Glück fand er Marga in ihrer Lieblingsecke im von Elßtorffschen Stadt-Garten vor. Vor ihr lagen Kräuter, die sie zum Trocknen bündelte.

»Cord, wie schön, dich zu sehen«, sie stockte. »Aber du siehst ja völlig aufgelöst aus. Was ist passiert?«

Der sank auf den angebotenen Korbstuhl, trank durstig ein Glas selbstgemachter Zitronenlimonade, räusperte sich und berichtete dann kurz und knapp.

Marga, die in Linden aufgewachsen war, hörte mit entsetztem Gesicht zu und sagte schließlich: »Dass es bei den teilweisen elenden Verhältnissen zu schlimmen Auswüchsen kommt, bedrückt mich häufig. Aber dass eine Mutter die eigenen Töchter ohne Rücksicht auf deren Leib und Leben an widerliche Kinderschänder verschachert, das kann ich nicht fassen.«

»Was sollen wir tun?« Hilflos blickte Cord sie an. Da knurrte sein Magen laut und vernehmlich.

»Du lässt dir gleich von der Köchin eine ordentliche Schinkenstulle machen – warum sagst du nicht geradewegs, dass du Hunger hast? Ich werde sofort die Diakonisse Karla aufsuchen. Du weißt, wir haben uns angefreundet, seitdem sie letztes Jahr vom Kinderhospiz auf Norderney nach Linden kam. Unter allen Umständen müssen wir das kleine Mädchen retten. Wir sprechen morgen weiter.«

»Was Kalle und seine Schwester angeht, werde ich gleich mit meinen Eltern reden, die kennen sich in Linden bestens aus. Meine Mutter ist ja nicht umsonst eine Pfarrerstochter und setzt sich viel in der St. Martinsgemeinde ein, während mein Vater als langjähriger Volksschullehrer und Sozialdemokrat fast mit ganz Linden bekannt ist.«

Mit einem Schulterklopfen, für das sie sich etwas recken musste, verabschiedete Marga den langen Kerl. »Deine Eltern sind für mich ein gutes Beispiel, wie das Bemühen um soziale Gerechtigkeit, evangelischen Glauben und sozialdemokratische Überzeugung Hand in Hand gehen können.«

»Ich weiß es zu schätzen, solche Eltern zu haben«, erwiderte Cord. »Umso mehr geht mir unter die Haut, was ich heute erlebt habe.«

Karla und Marga


Nachdem Marga sich von der Hausherrin Urlaub erbeten und noch schnell Anweisungen für das Dinner gegeben hatte, fuhr sie mit der Pferdetram in das benachbarte Linden.

Zum Glück fand sie Karla in der einfachen Dienstwohnung in der Falkenstraße 60 vor, wo seit einiger Zeit ebenfalls die Warteschule des Jungfrauenvereins für Kinder angesiedelt war.

Die Diakonisse hatte die unbequeme Haube zurückgeschoben und saß am Esstisch in der kleinen Wohnstube. Auch den Haarknoten, der etwas höher gesteckt und straff zusammengedreht werden musste, um dann die Bindebänder der Haube unter dem Kinn ordentlich fest anzuziehen, hatte sie gelockert.

Die beständige Reibung des Randes der Mütze führte zu spärlichem Vorderhaar und breitem Scheitel, die Ohren wurden leicht wund. Aber von weiblichen Eitelkeiten sind wir ja sowieso weit entfernt, sinnierte Karla, denn als Diakonissen gehen wir durch ein Fegefeuer, welches die Aschen der Selbstsucht zwangsläufig hinwegfegt.

Über dem Tisch hing ein in sorgfältigster Schönschrift geschriebener Spruch in einem schlichten Silberrahmen:

 

Vergiss niemals,

dass du nicht allein das leibliche Elend lindern sollst,

gedenke daran,

dass die Seele der Barmherzigkeit

die Barmherzigkeit mit der armen Seele ist.


»Ach Karla«, stöhnte Marga, die nach kurzem Anklopfen stürmisch hineingefegt war, auf den Spruch zeigend, »mit der Barmherzigkeit ist es selbst bei Müttern mit ihren eigenen Töchtern manchmal nicht weit her.«

Die erfahrene Diakonisse merkte sofort, in welchem Aufruhr sich die Freundin befand. Zu den vielfältigen Pflichten ihres Berufes, der ihr auch Berufung war, zählte neben der Krankenpflege die seelsorgerische Betreuung. Da hieß es einfühlsam sein, gerade wenn sie, vermittelt durch den Pastor, neu in eine Familie gerufen wurde. Denn zwangsläufig gewann sie genaue Einblicke in die gesamten Verhältnisse.

Hilfe im kompletten Haushalt des Kranken gehörte dazu. Außer der eigentlichen Pflege wurde jede noch so grobe Arbeit verrichtet, egal, ob die Diakonisse früher Dienstmädchen oder Tochter aus großbürgerlichem Hause gewesen war. Aber Karla scheute inzwischen auch unangenehme Reinigungsprozeduren nicht mehr, denn ihr kam es vor allem darauf an, bedrängte Seelen zu unterstützen. Und dafür hatte sie im Laufe der Jahre ein sehr feines Ohr und Gespür entwickelt.

»Hier hast du eine Tasse Pfefferminztee – und nun erzähl, was dich herführt.«

Marga zögerte. »Mir ist klar, dass du manch Schreckliches zu sehen bekommen hast, mehr als andere Frauen. In diesem Fall jedoch weiß ich nicht, wie ich es dir sagen kann. Ich bin Witwe, aber du …« Wie soll ich ansprechen, dass sie gewiss eine Jungfrau ist, überlegte sie verzweifelt.

Die Diakonisse schien ihre Gedanken lesen zu können. Doch ihr hauchfeines Lächeln verschwand blitzschnell wieder.

»Berichte einfach. Ich kenne mehr, als du glaubst. Das steht allerdings auf einem anderen Blatt.«

Als Marga geendet hatte, goss Karla jeder einige Tropfen Klosterfrau-Melissengeist in den Tee. Beide tranken ein wenig und genossen die entspannende Wärme im Magen. Nachdrücklich betonte Marga: »Das schreckliche Schicksal von Kalles älterer Schwester verlangt, dass wir besonders gut auf die Kleine achthaben.«

Karla entgegnete mit fester Stimme: »Das werden wir tun, soweit es geht. Heute Abend wird der Bruder aufpassen, so schnell kann die Frau nicht wieder einen neuen Versuch beginnen. In der Viktoriastraße bin ich sowieso öfter, und bei dieser Familie war ich auch schon. So gibt es keine unnötigen Nachfragen vom Pastor, was ich dort zu besehen habe. Gleich morgen früh gebe ich der schrecklichen Frau unmissverständlich zu verstehen, dass ich das Mädchen im Auge behalte. Wie es weitergeht, müssen wir dann entscheiden. Am besten wäre es zweifellos, Pflegeeltern für Kalle und seine Schwester zu finden.«

»Ja, die Kinder können keinesfalls bei der leiblichen Mutter bleiben. Selbst für Lindener Verhältnisse ist das ein extremer Fall.«

»Manchmal brauche ich Standhaftigkeit, um nicht zu verzweifeln bei so viel himmelschreiender Ungerechtigkeit«, gab Karla zu. »Umso dankbarer bin ich für deine Freundschaft. Auch für unsere Gespräche über Arzneien und was du mir von Linden erzählt hast, als ich letztes Jahr im September von Norderney nach Hannover kam. Das machte und macht es mir leichter, hier klarzukommen. Vor allem gerade jetzt, wo ich durch die Krankheit der zweite Diakonisse ganz auf mich allein gestellt bin. Da fällt es oft doppelt schwer, sich der unglaublichen Verwahrlosung, der Übermacht der Sünde entgegenzustemmen, ohne zu verzagen.«

»Mir bedeutet unsere Freundschaft auch viel«, erwiderte Marga mit einem warmherzigen Lächeln. »Meine Gnädige hält ja ebenfalls große Stücke auf dich. Bei der hast du schon im Kinderheim auf Norderney Eindruck gemacht. Augenblicklich steht dir die Arbeit hier wirklich Oberkante Unterlippe, aber ich bringe auch gute Nachrichten. In den nächsten Tagen werden die Zwillinge beginnen, dir zu helfen.«

»Das ist doch mal was – ich will allerdings hoffen, dass es keine Zimperliesen sind. Lass uns noch in Ruhe einen Tee trinken. Es würde uns guttun, auf andere Gedanken zu kommen.« Sie schenkte Tee nach und goss etliche Tropfen von dem Melissengeist hinzu.

»In Linden herrscht im Allgemeinen eine eigentümlich geistige Atmosphäre«, nahm sie das Gespräch wieder auf. »Sie besteht aus kleinstädtischer Jämmerlichkeit wie dörflicher Beschränktheit und wurzelt in dem geringen Bildungsgrad des größten Teils der Bevölkerung. Zahlreiche Zugewanderte kamen, um in den vielen Fabriken Arbeit zu finden. Dazu gehören auch die Katholischen, die ja so gar nicht hierher passen.«

Typisch Diakonisse, konstatierte Marga, die inzwischen die Antipathie der Freundin gegen alles aus Rom Kommende kannte.

Derweil schenkte diese nochmals Tee mit einigen Tropfen Klosterfrau nach. Marga konnte es nicht lassen, Karla ein wenig aufzuziehen: »Dass du das Rezept einer katholischen Ordensschwester nutzt, zeigt mir, dass du doch toleranter bist, als du manchmal tust.« Während ihr spielerisch mit dem Finger gedroht wurde, fuhr sie fort: »Das mit der Dörflichkeit offenbart sich leider auch in vielen unbefestigten Straßen und mangelnder Kanalisation. Linden galt lange als das größte Industrie-Dorf des Reiches, gerade einmal 1885 wurde es zur Stadt erklärt. Die Hannoveraner bezeichnen es dennoch als dreckig, arm und proletarisch. Unser erster Bürgermeister Lichtenberg bemüht sich sehr darum, die Verhältnisse zu verbessern. Inzwischen haben wir über 30.000 Einwohner, und es werden durch umfangreichen Zuzug jedes Jahr mehr.«

»Und das bei den ohnehin schlechten bis katastrophalen Wohnverhältnissen. Die Menschen leben zu beengt, und die hygienischen Verhältnisse lassen häufig zu wünschen übrig. Da ist es schon vorbildlich, wie die Kinderwarteschule des Jungfrauenvereins ausgestattet wurde.«

»So ist es, aber nun sollen allgemeine Anstrengungen für weiteren Wohnraum gemacht werden.«

»Ja, denn auch durch die qualvolle Enge treibt es die Männer in die Kneipen oder in die sozialdemokratischen Vereine. Diese rote Sauce, welche hier über allem liegt, verhindert außerdem, dass sich eine festere Bindung an unsere protestantische Kirche entwickelt.« Karla schniefte empört.

Das sah Marga, die durchaus Sympathien für das vielzitierte sozialistische Parfüm Lindens hegte, ein wenig gelassener. »Nun, die Diakoniestation hier wurde ja nicht zuletzt auch deshalb eingerichtet, um der intensiven katholischen Gemeindearbeit und der Anziehungskraft der Sozialisten auf die Jugend mit ihren vielen Vereine etwas entgegenzusetzen.«

»Genau, diese Arbeitersportvereine, Gesangvereine, Bibliotheken, Konsumgenossenschaften, Kegelvereine, Naturfreunde, die Arbeiterjugend, Linden ist durch und durch rot eingefärbt.« Mittlerweile hatte sich Karla regelrecht in Rage geredet.

Begütigend meinte Marga: »Die tun auch viel Gutes. Aber es verhält sich schon so, dass die evangelische Arbeiterschaft keinesfalls so mit der Kirche verwurzelt ist wie die eingewanderten Katholiken, ob sie nun aus dem Eichsfeld oder aus Polen und Rumänien kommen. Die Katholiken, immerhin sind es mittlerweile ungefähr 7.000, die bilden ein ganz eigenes Milieu.«

»Ja, mit dem ›Schutzengelverein‹ oder dem ›Kindheit-Jesu-Verein‹ und so geht es ein Leben lang weiter. Die wissen auch die Menschen an sich zu binden«, brummelte die Diakonisse.

»Vor allem aber ist Linden eben eine Arbeiterstadt«, versuchte Marga das Gespräch wieder auf neutraleren Boden zu lenken. »Die Lindener Butjer, die verteidigen ihr Revier. Wenn die hannöverschen Bengel rüberkommen und mit den hiesigen Mädchen schwofen wollen, müssen sie mit Schlägen rechnen. Da haben die Manschetten vor. Das Motto lautet: ›Lindener Blut ist keine Buttermilch‹. Die Jungs krempeln dann die Ärmel auf und sagen: ›Die Hannoveraner Milchbubis sollen woanders tanzen, wir können hier unsere Hühner selber treten!‹« In diesem Moment hätte sich Marga am liebsten auf die Zunge gebissen. »Entschuldige, Karla! Das war ja wohl kaum die richtige Sprache gegenüber einer Diakonisse.« Sie blickte betreten zu Boden.

Obwohl beide Frauen sich nun schon ziemlich gut kannten, waren sie bisher sparsam mit Hinweisen zu ihrem Lebensweg umgegangen.

»Nun, ich habe da mehr hinterm Berg gehalten als du, und das war kein Zufall.« Gedankenversunken klopfte die Diakonisse mit der rechten Hand auf die Tischplatte. Dann hob sie den Kopf und blickte Marga an: »Mein Verlobter starb genau wie dein Mann im Krieg 1870/71. Ich war völlig verzweifelt, denn ich liebte ihn sehr. Bald merkte ich, dass ich schwanger war, und wusste nicht aus noch ein.«

Das verschlug Marga zunächst die Sprache. Dann jedoch platzte sie heraus: »Just wie bei Ernestine, der Mutter der Zwillinge! Du liebe Güte, zahlreichen jungen Frauen wird das so gegangen sein, dass sie sich ihrem Verlobten oder Freund hingegeben haben, bevor er in den Krieg zog.«

»Ja, aber nicht alle wurden schwanger. Einerseits wollte ich das Kind, andererseits wusste ich nicht, wie ich es durchbringen sollte. Damals stand ich schon völlig alleine in der Welt.«

»Lebten denn deine Eltern nicht mehr?«

»Meine Mutter kränkelte lange an einem viel zu spät erkannten Frauenleiden. Sie hatte sich geschämt, einen Arzt zu konsultieren, und dann war es für ihre Rettung zu spät.«

Voller Verständnis meinte Marga: »Wenn wir doch endlich Ärztinnen hätten, da würden sich die Frauen bestimmt eher hin trauen! Augenblicklich können die Mädchen ja nicht mal Abitur machen. Nur in der Schweiz ist es bisher möglich, dass Frauen Medizin studieren.«

»Dabei könnten wir zahlreiche Medizinerinnen gut gebrauchen, dessen bin ich mir aufgrund meiner Erfahrungen in der Pflege gewiss.« Die Diakonisse hielt einen Moment inne. »So kam die Krankenpflege früh auf mich zu. Mutter starb, als ich achtzehn war. Der Vater wurde, so vermute ich, vor lauter Kummer krank, jedenfalls pflegte ich auch ihn bis zum Tode, und er folgte seiner Frau nach einem halben Jahr ins Grab. Ich hatte versucht, das Kolonialwaren-Geschäft von Papa weiter zu betreiben. Nach seinem Tod musste ich feststellen, dass nach Bezahlung aller Verbindlichkeiten kaum noch etwas vorhanden war. So stand ich völlig mittellos und ohne eine Aussteuer da. Die Entscheidung, was zu tun sei, blieb mir erspart – ich verlor das Kind im dritten Monat. Einerseits war ich traurig, gleichwohl auch erleichtert. Aber nun musste ich mein Leben in die Hand nehmen und beschließen, wie es weitergehen sollte.«

»Du hättest doch heiraten können.«

»Ohne Aussteuer einen passenden Mann zu finden ist wie ein Lotteriegewinn. Mir stand nach dem Verlust meines Verlobten auch gar nicht der Sinn danach, mir schleunigst einen Ehemann zu angeln.«

»Ich kann dich gut verstehen. Als ich meinen Mann verloren hatte, der übrigens Gärtner auf dem Rittergut der Familie des gnädigen Herrn war, da habe ich keinen mehr angesehen. Ob das richtig war, daran zweifele ich jetzt manchmal, aber geschehen ist geschehen.«

»Ja, gerade für eine Frau finde ich es schwierig, allein in dieser Welt zu stehen. Inzwischen ist das Mutterhaus meine Familie, etwas anderes brauche ich nicht«, erklärte Karla und fügte nach einem fast unmerklichen Zögern hinzu: »Nicht mehr.«

»So ähnlich geht es mir mit den von Elßtorffs.« Nachdenklich strich sich Marga eine vorwitzige Haarlocke hinter das Ohr. »Ich weiß natürlich, wo mein Platz ist. Wobei ich mich da ein wenig zwischen Baum und Borke befinde. Ich gehöre nicht richtig zur Dienerschaft, aber selbstverständlich auch nicht zur Herrschaft. Immerhin genoss ich mit meiner kleinen Wohnung im Elßtorffschen Haus in der Königstraße von Anfang ein besonderes Privileg. In den zwanzig Jahren, die ich der Familie diene, entwickelte sich ein großes Vertrauensverhältnis, vor allem mit der gnädigen Frau.«

»Und Elsa ist, glaube ich, fast wie eine Tochter für dich, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt. Mir vertraute sie von klein auf vieles an.« Nachsinnend blickte Marga auf den Spruch an der Wand. »Aber wie kamst du dann zur Diakonie?«

»Die Schwester einer Schulfreundin war Diakonisse bei der Henriettenstiftung. Sie machte mir klar, was für eine gute Ausbildung als Krankenschwester ich dort erhalten konnte. So trat ich den Dienst als Probeschwester in der Henriette an.«

»Gibt es da eigentlich so etwas wie Aufnahmebedingungen?«

»Ja, das Lebensalter muss in der Regel zwischen achtzehn und sechsunddreißig Jahren betragen, und es braucht ein ärztliches Attest über den Gesundheitszustand. Ich reichte einen selbst verfassten und eigenhändig geschriebenen Lebenslauf ein, in dem ich mich auch darüber auszusprechen hatte, wie ich zu dem Entschluss kam, mich dem Diakonissendienst widmen zu wollen. Nicht zuletzt benötigte ich ein Pastoralzeugnis über mein bisheriges Verhalten.«

»Das ist ja schon einiges. Ich habe gehört, es soll da sehr streng zugehen. Viel Arbeit, viel Disziplin und viel Demut. Hast du das damals auch so erlebt?«

»Ja, beständig wurde Demut und Gehorsam gefordert und geübt – von gesundem Selbstvertrauen hielt man wenig, sondern einzig und allein auf die Gnade Gottes sollte sich jede Hoffnung richten. Nicht umsonst heißt es für die Arbeit der Diakonissen: Was will ich? – Dienen will ich. Wem will ich dienen? – Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? – Ich diene weder um Lohn noch um Dank. Mein Lohn ist, dass ich dienen darf.«

»Das wäre mir mit zwanzig nicht unbedingt zugefallen«, meinte Marga nachdenklich.

»Dafür leben wir aber in einer Gemeinschaft. In der Diakonissen-Familie gebührt der Vorsteherin in ihrer übergeordneten Stellung um Gottes und des Gewissens willen kindliche Verehrung. Ihr wird in allen Anordnungen jederzeit pünktlich und willig, mit Hingebung des eignen Wollens, gehorcht.«

»Auch hier also wieder demütige Unterordnung.«

»Ja, aber wer von uns führt denn schon ein selbständiges Leben? Wir Frauen müssen uns eigentlich fast überall fügen. Ein Ehemann bestimmt doch ebenfalls in vielen Belangen über uns.«

»Wie wahr. Von der Vormundschaft des Vaters werden wir in die des Gemahls weitergereicht.«

»Eben! Jedenfalls biss ich in der ersten Zeit manches Mal die Zähne zusammen. Es gab jedoch außer der ausgezeichneten Ausbildung vieles, was mir gefiel. Neben dem gemeinsamen Morgen- und Abendgebet verband uns Schwestern ein frischer, manchmal urwüchsiger Humor. Für ein Scherzwort, welches durchaus nach Galgenhumor klingen konnte, war auch im Vorübergehen Zeit. Das schaffte in der Hetze des Alltags Zusammenhalt und Verständnis.«

»Und wie lange dauerte deine Ausbildung?«

»Nach drei Jahren wurde ich als Diakonisse eingesegnet. Erst arbeitete ich in unserer Henriette, das gefiel mir gut. Und mit dem Kinderheim auf Norderney wurde mir viel Verantwortung übertragen. Es war eine schöne Aufgabe, sich um diese armen Würmer zu kümmern und sie hochzupäppeln. Allerdings begann ich bereits dort, an so manchen Vorschriften zu zweifeln – vor allem die Sache mit der Mütze, wie ich unsere Haube gern nenne …«

»Was hat es damit auf sich?«

»Die gesteifte Kopfbedeckung, die vollständig die Ohren bedeckt, raschelt und knistert bei jeder Bewegung so, dass es das Gehör beeinträchtigt. Oft komme ich nicht umhin nachzufragen, was gesagt worden ist. Dieses Ding muss regelrecht balanciert werden, denn bei normaler Drehung des Hauptes stoßen die steifen Säume an den Schultern auf, dann verschiebt sich das Ganze. Daher wird der Kopf ein wenig gesenkt und geradeaus gehalten. Um zur Seite zu sehen, darf man nicht den Hals drehen, sondern wendet den Oberkörper und die Augen.«

Während Marga diese Beschreibungen gedanklich nachvollzog, stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf ihr Gesicht.

»Im Auftreten der Diakonissen liegt etwas Gemessenes und Gehaltenes, was mir als Ausdruck innerer Gesinnung erschien. Dass es auch mit dem Balanceakt mit der Haube zu tun haben könnte, darauf wäre ich nie gekommen.«

Karla musste ebenfalls

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Elvea
Bildmaterialien: Archiv Bernd Sperlich
Cover: Elvea
Satz: Elvea
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2792-7

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /