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Teenagerliebe

Kopfsprung ins Ungewisse

 

 

Warum bekomme ich sie nicht aus meinem Kopf? Ich habe sie nun 6 volle Wochen nicht gesehen und trotzdem jeden Tag mindestens einmal an sie gedacht. Sie heute wiederzusehen war wie eine Erscheinung. Sie hat gestrahlt und uns alle mit einer Umarmung begrüßt. Als sie mich kurz an sich gedrückt hat, hätte ich sie am liebsten nie mehr losgelassen. Doch ich kann diese Gefühle für sie einfach nicht zulassen. Darf sie nicht lieben, denn das tue ich.
Was würden den die anderen sagen, wenn ich mit ihr zusammen bin? Sie sind zwar unser beider Freunde, aber sicherlich würden sie mich auslachen. Mein bester Freund Micha würde mich kopfschüttelnd fragen, ob ich mir den keine hübschere anlachen könnte. Aber Linda ist schön. Sie ist wunderschön. Zwar nicht im klassischen Sinne, aber zu Zeiten von Rubens wäre sie vergöttert wurden. Ja, Linda ist Übergewichtig und das nicht nur ein bisschen.
Ich muss mich aus meinen Gedanken reißen, um nicht gegen die Wand zu schwimmen. Schnaufend schlage ich an, schüttle meine mich nicht weiterbringenden Gedanken ab und schaue zu unserem Trainer, der mir bedeutet aus dem Becken zu steigen, was ich umgehend tue.
Ich bin als erster da, so setzte ich mich wartend auf den Startblock und lasse meinen Blick über die Bahn gleiten. Automatisch finde ich sie. Linda. Ihre Bewegungen sind geschmeidig und einfach nur hübsch anzusehen. Im Wasser fällt ihr Körpergewicht gar nicht auf. Ihre Bewegungen sind fließend, als wäre sie schwerelos und würde tanzen. Es ist einfach anziehend ihr beim Schwimmen zuzusehen. Hinter ihr schwimmt Gina, sie scheint nur aus Haut und Knochen zu bestehen und von Anmut kann man bei ihren Schwimmbewegungen nicht reden.
„Na Leon, hast du nachher schon was vor? Wir wollen zusammen auf das neue Trainingsjahr anstoßen.“, fragt mich Hanna und ich beende meine Betrachtungen.
„Warum nicht.“, gebe ich schulterzuckend zurück und streiche mir durch meine schulterlangen dunklen Haare, die während des Schwimmens nur von meiner Schwimmbrille aus meinem Gesicht gehalten werden.
Als schlussendlich auch Linda und Gina das Becken verlassen haben gibt uns Franz, unser Trainer, die neue Aufgebe und wir schwimmen wieder los.
Ich liebe es zu schwimmen, dabei kann ich mich entspannen, aber auch nachdenken. Meine Gedanken schweifen wieder zu Linda. Zu ihrer zwar mächtigen, aber doch auch großen und schönen Erscheinung. Zu ihren langen blonden Haaren. Zu ihren vollen, geschwungenen Lippen. Zu ihrer üppigen Oberweite. Zu ihren wundervollen blau-grauen Augen. Zu ihrer perfekten Nase. Zu den Sommersprossen, die sich auf ihrem Gesicht tummeln, aber auch auf ihren Schultern. Auch wenn sie übergewichtig ist, ihre Proportionen sind nahezu perfekt.
Ob Hanna sie auch eingeladen hat? Wahrscheinlich nicht, denn auch wenn die meisten hier so tun als seien wir alle Freunde und sie würden Linda so akzeptieren wie sie ist, weiß ich wie sie über sie reden wenn Linda nicht dabei ist. Hanna würde sich nie mit ihr in der Öffentlichkeit zeigen. Neben ihr denken auch Gina und zwei, drei andere so.
Einen großen Teil ist es egal und sie tolerieren ihre Anwesenheit, aber beschäftigen sich nicht wirklich mit ihr. Dann gibt es noch Fine und Sophie, sie sind ihre besten Freundinnen und unternehmen auch privat viel mit ihr. Sie dulden sie nicht nur sondern haben sie in ihr Herz geschlossen, was bei Lindas offener, fröhlicher Art wirklich leicht ist.
Fine betreut sogar mit ihr eine Gruppe von 7-8 jährigen. Sie bringen ihnen gemeinsam das Schwimmen bei. Ich habe sie schon ein paar Mal beobachtet, wenn ich früher in der Halle war. Sie geht regelrecht auf in dieser Aufgabe und strahlt. Ihre blau-grauen Augen leuchten dann immer intensiv blau, wie das Wasser. Nur wenn sie wütend oder traurig ist werden sie grau, wie die Wolken an einem verregneten Tag. Diese Schattierung ihrer Augen bekommt man allerdings nur selten zu sehen. Linda scheint immer gute Laune zu haben und ich lasse mich oft von ihr anstecken. Ihrem einnehmenden Lächeln kann ich einfach nicht entkommen.
Mir ist aber auch klar, dass sie diese Fröhlichkeit gern mal verspielt. Oder liegt es daran, dass sie das Schwimmen so sehr liebt? Manchmal wirkt auch sie bedrückt, im Wasser merkt man dann aber nichts mehr davon, ganz zu schweigen wie sie zu den Kindern ist. All ihre ‘Kinder‘ lieben sie heiß und innig und ich kann ihnen gut nachfühlen.
Kaum habe ich die erste Trainingseinheit im neuen Schuljahr hinter mich gebracht, bin ich schon wieder in meinem Zwiespalt zwischen Gefühlen und gesellschaftlichen Konventionen gefangen. Alles wäre einfacher, wenn Linda nur Normalgewicht hätte. Doch dann wäre es nicht Linda, ihr Gewicht ist Teil ihrer Persönlichkeit. Ein Teil an ihr, den ich liebe. Ich liebe Linda, dass weiß ich nun schon eine ganze Weile. Aber… Es gibt so viele aber.
Ich bin wieder total in meinen Gedanken versunken. Ich habe kaum mitbekommen, wie ich mich geduscht habe und nun in der Umkleide stehe. Hat Micha zwischendurch mit mir geredet? Keine Ahnung.
Jetzt reiß ich mich aber von meinen Gedanken los und konzentriere mich darauf mich anzuziehen.
„Wie geht es deiner Schulter“, höre ich aus der Nebenkabine und brauche einige Sekunden, um die Stimme Sophie zuzuordnen.
„Ganz gut. Sie konnte sich ja nun 6 Wochen erholen und heute war ja eher locker.“, antwortet Linda.
Sind die zwei Mädels in einer Kabine? Ich hab schon öfter beobachtet, dass sie zu zweit in eine Kabine gehen. Muss wohl so ein Phänomen sein, wie das Frauen immer zu zweit auf Toilette gehen.
„Stimmt, aber Franz wird uns nicht mehr lange schonen, in 2 Wochen geht die Wettkampfsaison wieder los.“, entgegnet Sophie und ich kann quasi hören, wie sie die Augen verdreht. Sophie ist keine Wettkampfschwimmerin, sie nimmt zwar gerne teil, aber irgendwie kann sie nie ihre Leistungen aus dem Training abrufen. Im Gegensatz zu Linda. Sie gibt beim Wettkampf immer alles und hat schon einige Medaillen gewonnen und ist auch Landesmeisterin auf ihren Lieblingsstrecken. Sehr zum Ärger von Gina, denn beide sind im selben Jahrgang und werden somit zusammen gewertet. Gina verliert also regelmäßig gegen Linda. Allerdings ist auch Hanna in dieser Altersgruppe. Die Überschneidungen in ihren Schwimmstrecken sind zwar gering, aber da hat Linda keine Chance, was ihr immerzu überhebliche Blicke von Hanna einbringt.
„Hat dein Arzt nun eigentlich eine Lösung gefunden? Eine Operation?“, fragt wieder Sophie. Operation?
„Nein, es gibt keine Möglichkeit. Ich müsste mir ein neues Gelenk einsetzten lassen, würde dann aber mindestens ein Jahr ausfallen und außerdem fühle ich mich einfach zu jung für künstliche Körperteile.“, beantwortet Linda die Frage. Aha. Darum geht es also. Ich erinnere mich. Linda hat seit frühster Kindheit eine Schulterverletzung, Unfall im Kindergarten. Diese Verletzung lässt ihre Schulter immer wieder unkontrollierbar Auskugeln. Eine ‘rezidivierende Schulterluxation‘, wie Linda immer fachmännisch erklärt, wenn sie gefragt wird.
Einmal ist es während des Trainings passiert, es sah sehr schmerzhaft aus und auch wenn man ihr die Schmerzen angesehen hat, hat Linda Franz qualifiziert angewiesen, was er zu tun hat. Den Rest der Stunde saß sie draußen auf der Wärmebank und ihre Schulter hat sämtliche bekannten Blautöne angenommen. Seitdem steigt sie auf Beintraining um, sobald sie Anzeichen dafür spürt oder ihre Schulter Probleme macht.
„Anderes Thema! Da krieg ich ja schon Schmerzen vom Zuhören.
Kommst du noch mit? Die anderen wollen noch auf das neue Trainingsjahr anstoßen.“, lädt nun Sophie Linda ein. Wusste ich doch, dass Hanna sie nicht eingeladen hat.
„Nee, lass mal. Sie wollen mich doch sowieso nicht dabei haben.“, erwidert Linda und ich höre die Traurigkeit aber auch Resignation aus ihrer Stimme. Wie lange wird sie schon ausgeschlossen? Wie ergeht es ihr in der Schule?
„Aber ich will dich dabei haben. Ohne dich hab auch ich keinen zum Reden.“, bittet Sophie weiter.
„Da bist du aber auch die Einzige.“, spricht Linda nun verbittert weiter.
„Nein. Ich möchte auch, dass du dabei bist.“, war ich das grade? Hab ich das nur gedacht oder wirklich laut ausgesprochen?
Stille. Dann höre ich beide leise flüstern, verstehe aber nicht was sie sagen.
„Leon?“, höre ich dann Sophie und bin mir nun zu hundert Prozent sicher, dass ich es laut ausgesprochen habe.
„Ja?“, gebe ich mich unwissend und würde gern meinen Kopf gegen die Wand hauen. Jetzt wissen sie, dass ich ihr ganzes Gespräch mitbekommen habe.
Sophie flüstert zischend etwas zu Linda.
„Du…du möchtest wirklich,… dass ICH mitkomme?“, fragt Linda, nach einer längeren Pause, leise.
„Ja, warum nicht.
Wir sehen uns draußen“, entgegne ich und schnappe mir schnell meine Sachen und verschwinde aus der Kabine.
Nur kurz föhne ich mir meine Haare durch und gehe dann in die Eingangshalle, wo Micha schon mit einigen anderen wartet.
„Was brauchst du denn heute so lange?“, fragt er grinsend und gibt mir einen Klaps auf die Schulter. Ich zucke nur kurz mit den Schultern und setzte mich abwartend neben ihn.
Als alle in der Vorhalle angekommen sind, Hanna war mal wieder die letzte, bereden wir gemeinsam die Abendplanung.
Uns allen sieht man deutlich an, dass wir grade schwimmen waren, vom Chlorgeruch, der sich nie wirklich abwaschen lässt, wenn man so oft trainiert, ganz zu schweigen. Aber das war uns schon immer egal. Allen außer Hanna und Gina. Sie sehen aus wie aus dem Ei gepellt, brauchen deshalb aber auch immer mindestens eine halbe Stunde länger als die anderen.
Mein Blick wandert wieder zu Linda. Ihre Haare sind noch feucht und sie hat sich einen unordentlichen Dutt im Genick gebunden. Ein paar Strähnen haben sich schon gelöst und ich muss das Bedürfnis unterdrücken, sie ihr aus dem Gesicht zu streichen.
Wir setzten uns langsam, in Richtung Straßenbahn, in Bewegung und ich nehme schmunzelnd war, dass Sophie Linda unterhakt, sodass sie gezwungen ist mitzukommen. Linda wehrt sich nicht verzieht aber ihr schönes Gesicht unwillig.
Ich nehme mir vor ihr, in meinen begrenzten Möglichkeiten, einen schönen Abend zu machen.
Suchend schaue ich mich nach Micha um, um auf den Weg in die Bar einen Gesprächspartner zu haben. Doch ich entdecke ihn bei Hanna, sie klebt quasi an seinem Arm und hängt an seinen Lippen. Ja, er ist der bestaussehende Typ in unserer Gruppe, aber muss man sich so an jemanden ranschmeißen? Zumal Hanna jeden anbaggert und mit der Hälfte der Jungs auch schon mindestens rumgemacht hat. Dabei sieht sie nicht mal besonders gut aus. Ihre Proportionen stimmen überhaupt nicht. Sie ist klein, maximal 1,60m, hat dafür aber eine deutlich zu breite Hüfte, die auch gut gepolstert ist. Obenrum ist sie hingegen von der Natur vernachlässigt wurden.
Ich quatsche mit ein paar anderen und schnell erreichen wir die Innenstadt und die angepeilte Bar. Sie ist urig, mit nicht verputzten Wänden und Gewölbe-Flair. Wir nehmen mehrere Tische an der Wand in Beschlag, sodass die Hälfte von uns auf der gemütlichen Bank sitzt. So auch Linda, die sich neben Sophie in die hinterste Ecke setzt. Ich setzte mich, in Anbetracht meines Vorhabens, schräg gegenüber von Linda.
Wir bestellen uns Drinks und die Stimmung steigt. Wir reden viel übers Schwimmen, da es ja unser aller Leidenschaft ist und irgendwie wird es uns nie langweilig.
Linda unterhält sich die meiste Zeit mit Sophie und nippt nur ab und zu an ihrem Cocktail. Ich versuche ein Gespräch mit ihr anzufangen, doch ich weiß nicht genau was ich sagen soll. Dazu antwortet Linda nur sehr knapp, sodass mein kläglicher Versuch scheitert.
Der Abend ist schon sehr gut vorangeschritten und wir haben uns schon sichtlich dezimiert, als ich ein Kichern vom Nachbartisch wahrnehme. Unauffällig versuche ich herauszufinden worüber dort gelacht wird. Was ich zu sehen bekomme lässt Wut in mir hoch kochen. Dort sitzt eine Gruppe von aufgetakelten Modepüppchen, die unverhohlen über Linda lästern. Sie zeigen sogar mit dem Finger auf sie.
Ich sehe zu Linda hinüber, auch sie hat es bemerkt. Wie nicht?, sie blickt genau auf diese Gruppe.
Plötzlich kippt sie die Reste ihres Drinks hinunter, ganz als wäre es ein Shot und flüstert etwas zu Sophie. Diese ist allerdings grade in ein Gespräch mit Karl vertieft, so nickt sie nur kurz ab. Linda erhebt sich, mein Blick klebt quasi an ihr. Was wird sie jetzt machen? Sie schlüpft aus ihrer Sitzecke hervor und geht mit gesenktem Kopf an mir und dem Nachtbartisch vorbei. Wo ist ihre Selbstsicherheit geblieben, die sie in der Schwimmhalle immer zeigt?
Kurz erhasche ich ein Blick in ihre Augen, sie sind grau verhangen und glänzen verdächtig. Linda verschwindet in Richtung Toiletten und ich würde am liebsten an den Nebentisch gehen und diesen Barbies mal ordentlich die Meinung geigen, aber irgendetwas hält mich davon ab. Mein Herz bedeutet mir leise, dass es das Richtige wäre. Doch mein Hirn schreit, ich solle es lassen.
Kurz nachdem Linda auf Toilette verschwunden ist, erheben sich auch zwei der Mädchen vom Nachbartisch und gehen in eben diese Richtung. Das kann nicht gut ausgehen denke ich mir und folge ihnen, nachdem ich einen tiefen Schluck aus meiner Bierflasche genommen habe.
Mit sicheren Schritten stapfe ich zu den Klos, mein schon etwas vom Alkohol benebeltes Hirn hat nur einen Plan. Linda vor diesen Schnepfen zu beschützen. Doch vor der Damentoilette verlässt mich mein Mut. Ich höre Stimmen von drinnen, die Stimmen der Barbies, doch ich verstehe nicht was sie sagen. Ich kann doch nicht einfach da rein gehen. Meine wahrscheinlich vom Alkohol erhöhte Courage ist nun Niedergeschlagenheit und Angst gewichen. Was sollte ich denn auch schon sagen?
Mutlos verkrieche ich mich in eine Ecke und beobachte weiterhin die Tür der Damentoilette, denn ganz im Stich lassen will und kann ich Linda nicht. Ich balle meine Hände zu Fäusten, denn nun steigt Wut in mir auf. Wut auf mich selbst. Ich bin so ein Feigling.
Kurze Zeit später öffnet sich die Tür und Linda erscheint im Rahmen, hinter ihr sehe ich die zwei Barbie vor dem riesigen Spiegel stehen und sich noch mehr Make-up ins Gesicht kleistern.
„Ich würde mich ja so nicht mal auf die Straße trauen.“, sagt die eine abfällig und hebt dabei nicht mal ihren Blick von ihrem eigenen Ebenbild. Doch es ist klar wer gemeint ist, Linda.
Diese strafft sichtlich ihre Schulter und lässt die Tür hinter sich zu fallen, ohne sich nochmal umzusehen. Wieder erhasche ich einen kurzen Blick auf ihre Augen, die mir immer zweifellos sagen, wie sich Linda fühlt. Sie sind grau. Tief grau, wie kurz vor einem Gewitter. Doch sie sind nicht mehr wässrig, es ist Wut keine Trauer. Aber warum lässt sie diese Wut nicht an diesen Mädchen aus? Warum sagt sie ihnen nicht die Meinung? Weil sie viel zu gutherzig dafür ist. Weil sie lieber alles Leid der Welt auf sich bürden würde, als es ihrem ärgsten Feind zu wünschen. Mein Herz wird schwer, ich liebe dieses Mädchen so sehr. Meine Wut ist verpufft, da nun ein Kribbeln meinen ganzen Körper flutet.
Linda huscht wieder den Flur entlang zu unserem Tisch. Ich brauche noch einen Moment mich zu sammeln. Alkohol macht mich immer sentimental und jetzt grade empfinde ich tiefe Ehrfurcht vor Linda. Sie ist einfach zu gut für diese Welt. Viel zu vollkommen für mich.
Als ich mich wieder gefasst habe gehe auch ich wieder an meinen Platz. Mit großen Augen, stelle ich fest, dass sich einige leere Schnapsgläser vor Linda sammeln und sie auch grade eines hinunterstürzt. Ist das ihre Lösung der Probleme? Sie ertränken?
Mit einem schwermütigen Seufzen lasse ich mich wieder auf meinen Stuhl sinken und kippe den Shot, der vor mir steht. Der Alkohol brennt in meiner Kehle in ich verziehe das Gesicht.

 

„Ich werde mich los machen.“, ruft auf einmal Micha in die Runde und ich hebe meinen Blick, der die letzte Zeit an der Tischplatte geklebt hat. Eine Stunde ist seit dem Toiletten Zwischenfall vergangen und noch mehr Schnapsgläser haben sich vor mir gesammelt.
„Ich muss auch ins Bett.“, schließt sich Hanna an und Gina und Karl stimmen ihr zu. Sie beginnen sich ihre Jacken überzuziehen, ohne auf den verbliebenen Rest zu achten.
Während sich die anderen noch anziehen und bezahlen schaue ich mich um und stelle fest, dass nur noch Linda, Sophie und ich am Tisch sitzen.
„Ich muss auch meinen Bus bekommen. Kommst du klar?“, fragt Sophie Linda leise. Diese sitzt zusammengesunken auf ihren Platz und klammert sich an einer Bierflasche fest. Ich kann nicht sagen wie viel sie getrunken hat aber ihre glasigen Augen sagen mir, dass es zu viel war.
Mitleid steigt in mir auf. Sie betrinkt sich, um den Pöbeleien ihrer Mitmenschen zu entgehen. Jetzt weiß ich auch, warum sie zuerst nicht mit wollte, sie scheint sowas schon öfter erlebt zu haben.
Linda antwortet nicht und Sophies Blick schweift besorgt über sie.
„Ich begleite sie nach Hause. Ich wohne doch bei ihr um die Ecke.“, höre ich mich sagen, ehe ich nachdenken kann. Mist. Schon wieder war mein Mund schneller, als mein Gehirn. Mein berauschter Zustand unterstützt diese Fehlfunktion zusätzlich.
Lindas Blick schnellt ungläubig zu mir und auch Sophie betrachtet mich argwöhnisch.
„Das wär toll. Ist das okay für dich?“, will Sophie wieder von Linda wissen. Welche versucht mich streng anzustarren, doch ihre Augen schaffen es nicht mehr mich zu fixieren. Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, denn in diesem Moment wo sie verzweifelt probiert böse und kalkulierend zu mir zu gucken, sieht sie einfach nur süß aus. Ihre Nase zieht sich etwas kraus und ihre Augenbrauen scheiben sich zusammen. Aus einem Impuls heraus möchte ich sie umarmen und sie küssen, bis die kleine Falte zwischen ihren Brauen verschwunden ist. In meinem alkoholbedingtem Zustand kann ich diese Initiative erst unterdrücken, als ich schon aufgesprungen bin und leicht wankend vor ihr stehe.
„Komm, lass und gehen.“, bringe ich, in Ermangelung einer Alternative, heraus.
Nur zögernd steht auch Linda auf. Sie muss sich dabei sichtlich konzentrieren und dennoch am Tisch abstützen. Mir wird plötzlich klar, dass ich sie noch nie so betrunken erlebt habe. Wir trinken gern mal was, wenn wir zu Wettkämpfen fahren, dabei war aber sie immer eine der Vernünftigen, die wenig oder gar kein Alkohol zu sich nehmen.
Als wir in die frische Spätsommernacht hinaus treten, muss ich mich kurz sammeln. Die kalte Luft wirkt wie ein Hammerschlag auf mein benebeltes Gehirn und Linda scheint es nicht besser zu ergehen, sie kann sich kaum noch auf den Beinen halten und wirkt im Licht der Straßenlaternen unnatürlich blass.
Sophie verabschiedet sich mit einer Umarmung von uns und wirft mir noch einen prüfenden Blick zu, ehe sie zu ihrem Bus eilt.
Ich schaue mich nach Linda um, die immer noch neben der Tür zur Bar steht und sich nicht bewegt. Ihre Augen sind geschlossen, sie scheint hochkonzentriert. Langsam gehe ich auf sie zu und berühre sie leicht an der Schulter. Sie öffnet erschrocken die Augen und ich sehe in zwei dunkle Bergseen, über denen aber plötzlich ein Gewitter aufzieht.
„Kommst du?“, frage ich vorsichtig, da ich nichts mit diesem Wechsel ihre Stimmung anfangen kann.
„Gleich.“, haucht sie in die Nacht und wendet sich von mir ab. Linda torkelt ein paar Schritte in eine dunkle Gasse und hockt sich dann hin. Mist. Sie übergibt sich. Ich eile, so schnell es mein betrunkener Zustand mir möglich macht, zu ihr und streiche ihr beruhigend über den Rücken.
Vorsichtig schiebe ich ihr einige Strähnen aus dem Gesicht und muss feststellen, dass sie selbst in dieser Situation einfach wunderschön ist. Eigentlich wird mir selbst immer übel, wenn ich andere Menschen kotzen höre, doch Linda gibt kaum Geräusche von sich und ihr Anblick lenkt mich noch mehr von ihrer derzeitigen Lage ab.
Irgendwann reißt sie mich aus meinen Betrachtungen, in dem sie sich schwer atmend an mich lehnt.
„Du solltest ins Bett.“, beschließe ich und lächle leicht, da ich ihre Wärme an mir spüre. Sie durchfährt mich erst wie ein Blitz und breitet sich dann überall in mir aus.
Linda nickt leicht an meiner Schulter und so ziehe ich sie mit mir hoch. Schwankend steht sie mit halbgeöffneten Augen vor mir. Vorsichtig schiebe ich meinen Arm um ihre Taille, sodass ich sie stützen kann und so torkeln wir gemeinsam los.
Von der Innenstadt sind es zu unserem Wohnviertel eigentlich nur ein paar Minuten, doch unsere ausladenden, schwankenden Bewegungen machen den Weg doppelt so lang. Mich stört es nicht, ich genieße Lindas Wärme und ziehe sie so eng wie möglich an mich, denke gar nicht dran wer uns sehen könnte und wie derjenige darüber denken würde. Mein alkoholisiertes Hirn ist glücklich.
Irgendwann erreichen wir doch ihr Haus und bleiben wankend davor stehen. Sie wirkt, unter ihrer Trunkenheit, traurig und irgendwie zerbrechlich, auch wenn ihre Statur dies nicht vermuten lässt.
Mit gesenktem Kopf steht Linda vor mir und am liebsten würde ich sie einfach in die Arme nehmen und nie wieder los lassen. Doch wir beide sind betrunken und können nicht mehr rational Handeln, geschweige denn die Folgen abschätzen.
„Danke.“, vernehme ich leise, wie ein Luftzug, Lindas Stimme.
Mit meiner Hand unter ihrem Kinn zwinge ich sie etwas rabiat dazu mich anzusehen. Ich sollte zärtlicher sein, doch mein berauschter Zustand kann solche Kleinigkeiten nicht mehr differenzieren.
Ich blicke in graue, tosende Wellen und bin von der Traurigkeit, die sie ausstrahlen überrumpelt. Waren ihre Augen schon immer so von Trauer geprägt? Woher kommt sie? Was verursacht diese Trauer? Sind das ihre wahren Gefühle?
Ich bin verunsichert und gleichzeitig läuft mein Herz vor Liebe für dieses Mädchen über. Vorsichtig streiche ich ihr eine Strähne hinters Ohr und lasse dann meine Hand auf ihrer Wange liegen. Schüchtern schmiegt Linda sich an sie und schließt die Augen.
Plötzlich liegen, gegen jede Planung, meine Lippen auf ihren. Ihre süßen, vollen, weichen Lippen passen so perfekt auf meine. Ich küsse Linda! Es ist vollkommen.
Meine Hose wird etwas enger und ich lasse hastig von ihr ab. Oh Mann! Etwas aus der Puste sehe ich sie an. Linda wirkt plötzlich total nüchtern, stocksteif steht sie da und schaut mich mit großen Augen an.
Was soll ich jetzt machen? Gehen? Sie nach oben begleiten?
Was mein Körper will steht fest. Dieser miese Verräter wünscht sich in Lindas Arme, am besten nackt in ihrem Bett. Doch der letzte Rest meines nicht vom Alkohol beeinflussten Gehirns verhindert dieses auf zu tiefst animalische Weiße umzusetzen. Stattdessen überlege ich fieberhaft, was ich nun machen kann.
Eine ins Schloss fallende Tür reißt mich aus meinen Gedanken und ich blicke auf, auf die Stelle, wo grade eben noch Linda stand. Sie ist weg. Das Licht im Hausflur bestätigt mir noch mehr, dass meine ganzen Überlegungen umsonst waren.
Leise Flüche murmeln, was ich doch für ein Idiot bin, setzte ich mich in Richtung meines Zuhauses in Bewegung. Da angekommen bin ich nun kein Idiot mehr sondern, der größte Mistkerl auf diesem Planeten überhaupt. Erst lasse ich sie in der Bar im Stich und sehe zu, wie sie sich betrinkt, dann küsse ich sie einfach und beende es so abrupt, dass man denken muss es hat mir nicht gefallen. Aber das hat es, sehr sogar.
In meinem Bett liegend kann ich mir immer noch nicht verzeihen und werde mit Bildern bestraft, die mich nicht schlafen lassen. Szenarien, in denen ich Linda sanft küsse und meine Zunge in ihren Mund schiebe. Fantasien, in denen ich über ihren Körper streiche und sie an jeder Stelle berühre. Wieder meldet sich mein Lendenbereich und ich massiere ihn mit diesen Bildern vor Augen. Ein schneller aber nicht wirklich befriedigender Höhepunkt lässt mich einschlafen.

 

Am Montag haben wir wieder Training und ich muss mich das erste Mal wirklich überwinden hin zu gehen. Wie wird Linda reagieren? Wie soll ich ihr gegenüber treten?
Ich kann mir immer noch nicht verzeihen, wie ich mich am Freitag verhalten habe.
Dieses Mal begrüßt Linda nur Sophie mit einer Umarmung, den Rest, eingeschlossen meiner Wenigkeit, bedenkt sie nur mit einem kurzen Winken. Ich versuche einen Blick in ihre Augen zu erhaschen, doch sie hält den Blick gesenkt, wirkt ausgesprochen niedergeschlagen und in sich gekehrt.
Bis zum Beginn des Trainings sitzt sie zusammen mit Sophie und sie unterhalten sich. Ich beobachte die Beiden die ganze Zeit, kann Linda einfach nicht aus den Augen lassen.
Plötzlich blickt sie auf und wirft mir mit tief roten Wangen einen feindseligen Blick zu. Hat ihr Sophie grade berichtet, dass ich sie nach Hause begleitet habe? Weiß Linda, dass ich sie geküsst habe?
Wut steigt in mir auf. Wut auf den gesellschaftlichen Druck. Wut auf oberflächliche Menschen. Wut auf Leute wie Hanna oder auch Micha. Aber vor allem Wut auf mich. Denn ich bin es der sich den gesellschaftlichen Druck beugt. Ich bin oberflächlich. Ich bin nicht besser, als Hanna oder Micha, auf keinen Fall gut genug für Linda.
Ich versuche meine Wut im Wasser abzubauen, aber die Tatsache, dass Linda mich ignoriert schürt meinen Zorn auf mich selbst immer wieder an.

 

So geht es weitere drei Trainingseinheiten. Linda tut so, als wäre ich Luft und ich pflüge zornig durchs Wasser. Langsam hat diese Situation auch Auswirkungen auf mein restliches Leben. Dauernd erscheint Lindas ablehnender Blick vor mir und ich kann mich kaum noch konzentrieren.
Morgen steht unser erster Wettkampf in dieser Saison an und ich schleppe mich mit sinkender Wut, aber steigender Verzweiflung zum Training. Wenn sie mich weiter so behandelt halt ich das nicht mehr lange aus.
Heute habe ich mir fest vorgenommen endlich mit Linda zu reden. Ich muss ihr sagen, was in dieser Nacht passiert ist und das ich es gern wiederholen möchte. Dass ich sie mag, mehr als das, dass ich sie liebe.
Doch Linda kommt nicht. Sie ist nicht in der Schwimmhalle und ein großer Klumpen bildet sich in meinen Magen, da ich weiß, dass irgendetwas passiert sein muss. Linda kommt sonst immer zum Training.
„Linda hat bestimmt Schiss, morgen wieder gegen mich zu verlieren.“, höre ich Hanna sagen und drehe mich abrupt zu ihr um. Sie unterhält sich mit Gina und versucht nicht einmal zu flüstern.
„Klar, die fette Kuh hat keine Chance gegen dich.“, bestätigt ihr Gina begeistert. Mein Kiefer spannt sich bei ihren Worten an und meine Hände werden zu Fäusten. Wie kann man sich nur so von einem anderen Menschen beeinflussen lassen? Aber ich bin eigentlich nicht besser. Ich lasse mich genauso von der Meinung der Gesellschaft beeinflussen.
In dieser Stunde funktioniert überhaupt nichts und die blöden Kommentare, die ich immer wieder von Hanna und Gina über Linda höre bringen mich der Raserei nahe. Ich habe noch nie das Verlangen gehabt eine Frau zu schlagen, doch heute ist es gleich doppelt unbändig.
Endlich in der Dusche lasse ich meine geballte Hand gegen die Fliesen krachen und heiße den Schmerz willkommen, denn er bietet mir endlich eine Abwechslung zu der in mir brodelnden Wut. Immer wieder schlage ich auf die Wand ein, bis die Haut über meinen Fingerknöcheln aufplatzt und mein Blut sich mit dem kalten Wasser verbindet, dass unablässig über mich läuft.
„Was ist denn in letzter Zeit mit dir los?“, fragt mich Micha plötzlich barsch. Ich löse den Blick nicht von meiner blutenden Hand und zucke mit den Schultern.
„Nichts.“, zische ich und haue ein letztes Mal gegen die Fliesen, ehe ich überstürzt die Dusche verlasse.
Ich begebe mich auf den schnellsten Weg nach Hause, ich möchte heute nicht mehr mit ihnen abhängen. Mir das dumme Gewäsch von Hanna und Gina nicht mehr anhören, genauso wenig wie die Fragen von Micha.
Ich schlafe unruhig diese Nacht und so komme ich sichtlich gerädert am nächsten Morgen in die Schwimmhalle. Gott sei Dank ist es ‚nur‘ ein Stadtwettkampf, sodass wir in unserer Halle schwimmen und nicht allzu harte Gegner auf mich warten. Doch in meinem Zustand habe ich wohl nicht mal eine Chance gegen Micha.
Nachdem ich mich umgezogen habe lasse ich meinen Blick durch die Halle schweifen, auf der Suche nach Linda. Ich entdecke Fine und Sophie, die gemeinsam bei Lindas und Fines ‘Kindern‘ stehen und ihnen Anweisungen zur Erwärmung geben.
Mit demselben Klumpen im Magen wie gestern, verziehe ich mich in eine Ecke und setzte mir meine Kopfhörer auf. Wo ist Linda? Wieder knirschen meine Zähne bedrohlich. Haben es Hanna und Gina mit ihren Bemerkungen schlussendlich doch geschafft sie zu vertreiben? Oder schlimmer, ist ihr etwas passiert?
Grimmig starre ich vor mich hin und bin schon im Begriff wieder zu gehen und den ganzen Mist hier zu beenden, als mein Blick zur Tür schweift. Linda. Sie betritt die Halle und ich sehe auf Anhieb, dass sie Schmerzen hat. Ihre Schulter?
Sie geht hinüber zu Fine und Sophie, wobei die Kinder sie sofort bestürmen und herzlich umarmen. Ich sehe die Freude in ihrem Gesicht aber auch ihr Zusammenzucken bei jeder Berührung.
Unauffällig schiebe ich mich in die Richtung der Mädchen, um eventuell etwas aufzuschnappen. Ich gebe vor mich zu erwärmen, konzentriere mich aber lediglich auf das Gespräch zwischen Fine, Sophie und Linda.
„Wie geht es dir? Franz wird sicher nicht gutheißen, dass du schwimmen willst.“, höre ich Sophie fragen, sehe dabei aber bewusst unbeteiligt in eine andere Richtung.
„Alles gut. Ich werde ihn schon überzeugen. Ich kann doch nicht den ersten Wettkampf der Saison auslassen.“, gibt Linda betont lässig von sich und aus dem Augenwinkel sehe ich sie mit den Schultern zucken, was eine schmerzverzerrte Grimasse und ein leises ‘Mist‘ zur Folge hat.
„Könntest du mich tapen? Sonst wird das heute wohl doch nichts.“, wendet sich Linda nun an Fine.
„Klar, da muss ich aber nochmal kurz weg und alles holen. Mach keine Mist, jedenfalls nicht noch mehr.“, stimmt Fine ihr tadelnd zu und wirft sich sogleich ihre Tasche über die Schulter.
„Wie schön es doch ist, wenn die beste Freundin Physiotherapeutin ist.“, geht Linda ironisch über den Tadel hinweg.
Ich bin immer noch dabei meine scheinheilige Erwärmung durchzuführen, als sich Linda damit aus der Gruppe löst, dass sie Franz suchen geht.
Ich folge ihr unauffällig, fühle mich wie ein Stalker und hoffe, dass mich niemand bemerkt.
Franz steht bei einer Gruppe Trainer, sie besprechen wahrscheinlich den Ablauf des Wettkampfs. Linda geht zu ihnen und Franz löst sich aus der Gruppe. Gemeinsam stelle sie sich in eine ruhige Ecke und ich belausche sie von einem geschützten Punkt aus. Was mach ich hier eigentlich? Ich spioniere Linda nach. Was will ich damit erreichen? Aber es bleib mir keine Zeit mehr darüber nachzudenken, denn ich höre Franz aufgebrachte Stimme.
„Das kann nicht dein Ernst sein? Du willst heute schwimmen, obwohl du dir gestern erst die Schulter ausgekugelt hast?“, redet er verärgert aber auch hörbar besorgt auf Linda ein.
„Ja, das habe ich vor. Es ist ja nicht so als wäre es das erste mal.“, gibt sich Linda sachlich, wenngleich ich weiß, dass Franz für sie ein Vorbild ist und sie bis jetzt immer auf ihn gehört hat.
Ich höre Franz schwer atmen und kann quasi sehen, wie er sich durch das nicht vorhandene Haar streicht.
„Ich will es sehen.“, bittet er nun deutlich ruhiger.
„Was?“, fragt Linda verwirrt.
„Zeig mir deine Schulter. Ich möchte sie sehen.“, verlangt Franz seufzend. Er hat schon aufgegeben, denn auch für ihn ist Linda etwas Besonderes. Auch wenn er versucht uns alle gleich zu behandeln, so hat Linda doch eine Sonderstellung. Fast könnte man von einer Vater-Tochter-Beziehung reden. Seine wirkliche Tochter trainiert in Lindas Gruppe und ihre Familien sind befreundet.
Linda flucht leise und zieht dann zischend die Luft ein. Ich kann mich nicht mehr in meinem Versteck halten, muss unbedingt ihre Schulter sehen.
Sie zieht grade ihren rechten Arm unter dem T-Shirt hervor und legt somit das Gelenk und ihren Badeanzug frei. Die Schulter ist komplett blau-violett unterlaufen und ich kann grade so ein erschrockenes Aufkeuchen unterdrücken. So will sie schwimmen?
„Fine macht mir einen Tapeverband.“, sagt sie kleinlaut geworden unter Franz entsetztem Blick.
„Ich kann dich nicht zwingen es sein zu lassen. Aber ich bitte dich, auf dich aufzupassen.“, beschwört Franz Linda, streicht ihr eine Strähne hinters Ohr und geht dann seiner Wege.
Auch Linda geht wieder Richtung Sophie, nur ich bleibe zurück, halb versteckt und mit Wut, die sich in tiefes Mitleid verwandelt. Wie gern würde ich Linda ihre Schmerzen nehmen.
Ich sehe ein, dass es im Moment keinen Sinn macht mit ihr zu reden. Sie hat grade andere Probleme, ich muss mir einen anderen Zeitpunkt aussuchen und meine Gefühle wieder zurückstellen.
Dass mache ich auch. Ich halte mich von allen fern, bleib die meiste Zeit in meiner Ecke sitzen und beobachte Linda. Feuere sie im Stillen an, wenn sie dran ist und suche sie am Beckenrand, wenn ich schwimme. Jedes Mal steht sie an der Bahn und verfolgt meinen Lauf. Ich bilde mir nicht ein, dass sie es wegen mir tut, es gibt mir trotzdem ein gutes Gefühl.
Sie selbst schlägt sich trotz Schmerzen sehr gut. So gut, dass sie in der Gesamtwertung, vor dem letzten Rennen, nur wenige Punkte hinter Hanna liegt. 100 Meter Freistil, Lindas Paradedisziplin.
Doch als ich mich für diesen letzten Wettkampf auch an den Rand des Schwimmbeckens stelle, da ich danach dieselbe Strecke schwimmen werde (so läuft es normalerweise bei Schwimmwettkämpfen, erst sind die Mädchen mit einer Strecke dran, dann die Jungs mit derselben und danach wechselt die Strecke), sehe ich, wie auf dem Weg zur Startbrücke Hanna Linda absichtlich an ihrer verletzten Schulter heftig anrempelt. Sofort Bleibt diese abrupt stehen und greift sich an eben jenes Gelenk. Linda muss sich sogar vorn über beugen, um nicht in die Knie zu gehen vor Schmerzen.
Mein erster Impuls ist natürlich wieder zu ihr zu stürzen, ihr zu helfen und nebenbei Hanna noch viel größere Schmerzen zu bereiten. Allerdings ist Fine an ihrer Seite und so kann ich meinen Antrieb zügeln, obwohl mir mein wirres, von Liebe konfuses Hirn vorgaukelt, ich würde ihr besser helfen können.
Meine Zähne mahlen und knirschen unaufhörlich, während ich Hanna Blicke zuwerfe, die sie erdolchen könnten. Aber sie sieht mich gar nicht, beobachtet nur mit einen abfälligen Grinsen ihr ‘Werk‘.
Mit Tränen der Schmerzen in den Augen tritt Linda neben Hanna auf den Startblock, kurz bevor das Startsignal ertönt. Sichtlich langsam, denn nur mit einen Arm schwimmend aber deutlich mit Kampfgeist bewältigt Linda die Strecke und ich kann sie einfach nur staunend ansehen. Sie ist so stark, dabei aber auch so sensibel. Viele versuchen ihr das Leben schwer zu machen, aber sie lässt sich keine Steine in den Weg legen.
Nach ihren Lauf verschwindet Linda sofort mit Fine in den Duschen und mir bleib nichts weiter übrig, als meinen Wettkampf zu Ende zu bringen.
Mehr schlecht als recht kämpfe ich mich über die Distanz. Man sagt immer Wut oder allgemein Gefühle können die besten Leistungen hervorbringen. Bei mir ist es nicht so, das Gegenteil scheint der Fall zu sein, denn ich schwimme ein wirklich miserable Zeit.
Auch ich begebe mich sofort unter die Dusche, bleibe eine halbe Ewigkeit unter dem warmen Strahl stehen und versuche meine Gedanken und Gefühle zu ordnen. Als ich halbwegs entspannt bin schleicht sich ein Bild in meinen Kopf. Ein Bild von Linda. Wie sie jetzt, genau in diesem Moment, das Selbe tut. Sich von dem warmen Wasser die Muskeln lockern lässt und die Anspannung von ihr abfällt. In stelle mir vor, wie sie ihre langen blonden Haare wäscht und dabei genüsslich den Kopf in den Nacken legt. Sehe in meinem Geist, wie sie hinabgleitet zu ihren vollen Brüsten und… Mist!
Wild reiße ich die Augen auf, die ich geschlossen hatte, und schaue hinab auf meinen erigierten Penis. Mist! Allein der Gedanke an sie, an ihre nackte Gestalt unter der Dusche, bringt mich um den Verstand. Gott sei Dank scheine ich so lang geduscht zu haben, dass keiner mehr hier ist und dieses Schlamassel mitbekommt.
Schnell ziehe ich mich um und will grade aus der Kabine treten, als ich es leise schluchzen höre. Ich lausche einen Moment und höre dann eindeutig Franzs sanfte Stimme.
„Du hast dein Bestes gegeben. Ich bin stolz auf dich und Hanna bekommt für ihre Aktion noch eine gerechte Strafe.“, sagt er leise und nun entdecke ich ihn auch. Er steht in einer Ecke in den Umkleiden und hält die schluchzende, weinende, zitternde Linda in den Armen. Franz hat sie fest an sich gedrückt und seine Wange auf ihren Kopf abgelegt. Lindas Kopf liegt auf seiner Brust und sie weint sein T-Shirt nass.
„1000 Meter Schmetterling Sondertraining für sie am Montag, klingt doch gut.“, sinniert Franz mit einem Schmunzeln und entlockt Linda damit auch ein Zucken des Mundwinkels.
„Es steht doch gar nicht fest, dass sie es absichtlich gemacht hat und das kann sich doch keiner mitansehen, wenn sie 1 Kilometer Schmetterling schwimmen soll.“, löst sich Linda seufzend von Franz und wischt sich mit ihrem Pulloverärmel über die Augen. Selbst jetzt schützt sie Hanna?! Wo doch jeder in der Schwimmhalle gesehen hat, dass es volle Absicht war.
Ich verschwinde schnell Richtung Ausgang, als sich Linda anschickt die Ecke zu verlassen. Rasch stelle ich mich unter einen Fön, als ich sehe wie sie auch in den Vorraum tritt. Ich fühle mich wie ein erbärmlicher Stalker. Ich belausche ihre Gespräche, schleiche hinter ihr her, wie ein armseliger Irrer. Aber nichts anderes bin ich in Bezug auf Linda. Meine Gefühle lassen nicht zu, dass ich mich rational oder gar kultiviert verhalte.
Ein schmerzverzehrtes Stöhnen reißt mich aus meinen frustrierenden Gedanken und ich schau mich nach der Ursache um. Linda steht ebenfalls unter einen Fön und versucht sich die Haare zu bürsten während sie trocknen, doch ihre Schulter hindert sie daran und lässt sie immer wieder schmerzhaft aufstöhnen.
Sie will grade deprimiert aufgeben, als ich meinen inneren Schweinehund überwinde und beschließe, dass es endlich an der Zeit ist einen Schritt auf sie zu zumachen.
„Kann ich dir helfen?“, frage ich leise, als ich an sie herantrete. Sie hat sich grade zu ihrer Tasche umgedreht und wirbelt nun erschrocken herum. Die hektische Röte, die auf ihren Wangen steht, lässt mich leicht schmunzeln.
Ehe sie antwortet schweift ihr Blick zum Ausgang, wo der Rest unserer Trainingsgruppe mit ein paar anderen steht, so auch Fine und Sophie. Sie scheint abzuwägen, ob sie eine von ihnen fragen soll, ungekämmt geht oder doch meine Hilfe annimmt.
„Ich komme klar, Danke.“, wiegelt sie zu meinem Erstaunen sehr selbstbewusst ab. Ist sie immer noch sauer auf mich? Weiß sie was in der Nacht passiert ist?
Mutig, wodurch auch immer, beuge ich mich zu ihr vor. Soweit, dass meine Lippen ihr Ohr streifen und ich ihren Duft einatmen kann. Mein Puls beginnt sich zu beschleunigen und ich merke, die Wärme die von ihr ausgeht. Ich spüre, wie sie sich versteift. Hat sie Angst vor mir?
„Lass mich dir helfen, Bitte.“, flüstere ich und bemerke zufrieden ihre Gänsehaut. Ein letztes Mal sauge ich begierig die Noten von Pfirsich, Chlor und einfach Linda in mir auf, ehe ich mich wieder aufrichte und ihr in die Augen schaue.
Im Moment sind sie eine nahezu ausgeglichene Mischung aus grau und blau und ich wünsche mir ich hätte die Fähigkeit ihre Färbung komplett ins blaue umschwenken zu lassen.
Diesmal schafft sie es mich kalkulierend zu fixieren, aber es ist trotzdem wunderschön, wie sie ihre Augen verengt und ihre Augenbrauen sich zusammen ziehen. Sie scheint etwas sagen, fragen, zu wollen, denn ich sehe die Fragezeichen in ihren Augen, aber sie bleibt stumm.
Schweigend, jedoch immer noch abwägend öffnet sie ihre Tasche wieder und reicht mir die Haarbüste.
Linda dreht sich so unter dem Fön, dass wir mit dem Rücken zu Ausgang stehen, ich hinter ihr, ihre volle blonde Mähne direkt vor der Nase. Mist, ich weiß doch gar nicht wie sowas funktioniert. Meine Haare sind trotz ihrer Länge sehr pflegeleicht und eine Bürste haben sie noch nie gesehen.
Von aufsteigender Panik gepackt, ich könnte komplett versagen, versenke ich die Borsten in ihrem Haar und versuche sie nach unter auszukämmen. Doch es funktioniert nicht, sie verhaken sich und in meiner immer stärker werdenden Panik zerre ich daran.
„AUA!“, schreit Linda plötzlich los und wirbelt mich aus meiner Verzweiflung zurück in die Realität.
Sie wendet sich schlagartig um und funkelt mich böse an.
„Sorry… ich weiß… weiß nicht wie das geht. Würdest du es mir zeigen?“, beeile ich mich zu rechtfertigen und schlucke unter diesem Blick trocken.
„Wenn du es nicht kannst, warum bietest du mir dann überhaupt an mir zu helfen?“, faucht sie aufgebracht und entreißt mir die Bürste. Ich habe sie noch nie hart und gereizt erlebt und ich muss zugeben auch diese Seite an mir gefällt mir. Die Röte, die durch die Wut nun in ihre Wangen steigt. Der Gesichtsausdruck eines kleinen Kindes, dem man grade den Lolly geklaut hat. All das ist einfach zum niederknien, aber ich muss mich besinnen, dass ich nicht wie ein kompletter Idiot erscheine.
„Es tut mir leid, ich möchte dir doch nur helfen. Zeig es mir, bitte.“, flehe ich nun regelrecht. Jetzt bin ich einmal in ihrer Nähe, unterhalte mich mit ihr, da kann ich nicht einfach so schnell aufgeben.
Wieder dauert es eine Weile, bis sie antwortet. Sie wägt ab, scheint mich nicht einschätzen zu können und so versuche ich so viel Vertrauenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft in den Blick zu legen, wie es mir möglich ist.
„Okay,“, seufzt sie dann ergeben, „du musst die Strähne, die du kämmst, am Ansatz festhalten und dich von unten, also den Spitzen vorsichtig durcharbeiten. Hast du das verstanden?“, erklärt sie mir, wie einem Idioten aber in ihrer Nähe benehme ich mich ja auch wie einer.
„Klar. Am Ansatz festhalten, vorsichtig durcharbeiten.“, wiederhole ich ihre Worte und greife wieder nach der Büste.
Linda dreht sich erneut um und ich beginne ihre Haare zu bürsten, wie sie es mir erklärt hat. Während ich ihren Anweisungen folge und merke, dass es eigentlich ganz einfach ist, verfalle ich in Phantasien, was ich alles mit ihrem Haar anstellen könnte. Ihre blonde Mähne ist so voll und lang, dabei aber so unendlich weich, dass ich meine Finger ganz tief versenken möchte und sie nie mehr herausnehmen würde. Ich könnte mir eine Strähne nehmen und sie um meine Finger wickeln, sodass die Wellen ihrer Haare zu Locken werden.
Aus dieser Nähe sehe ich, dass Lindas Haare nicht einfach nur blond sind. Sie haben ein enormes Spektrum an Farbtönen, dass ich sie gar nicht alle erfassen kann. Manche sind so hell, dass sie fast durchsichtig erscheinen. Andere sehen aus wie pures Gold und wieder andere sind ganz deutlich kupferfarben. Alles in allem ergeben sie Lindas einzigartigen Haarton und ich bin begeistert, dass sie sich nie hat färben oder tönen lassen, dass sie diesem Trend nicht nachgeht. Eigentlich geht sie kaum Trends nach, sie zieht ihren Stil durch.
„Bist du nicht bald fertig?“, holt mich Linda mal wieder in die Realität zurück.
Natürlich bin ich fertig, doch es macht Spaß ihre Haare zu kämmen und dabei in Gedanken zu versinken, sodass ich deutlich länger gebraucht habe als eigentlich nötig.
Wortlos reiche ich ihr die Bürste und kann dabei den Blick nicht von ihren Haaren nehmen. Sie leuchten durch die ausführliche Behandlung mit der Bürste regelrecht und fallen ihr weich über die Schultern. Sie sollte ihr Haar öfter offen tragen schießt es mir durch den Kopf, viel zu oft bindet sie es im Nacken zurück.
Linda schultert ihre Tasche auf der unverletzten Seite und geht. Ich kann nur wortlos hinterher schauen, muss mich dabei sogar beherrschen nicht zu sabbern. Ihre Haare wehen wie eine Fahne hinter ihr her. Sie wirkt so unglaublich erhaben und elegant in diesem Moment, dass ich mir gar nicht bewusst bin, dass ich wie ein Idiot hier rumstehe.
Erst als Hannas und Ginas gekünsteltes Lachen zu mir durchdringt werde ich mir der Realität wieder bewusst.
Sie kommen grade von den Umkleiden und stellen sich nun vor den großen Spiegel, um sich Tonnen von Make-Up ins Gesicht zu schmieren.
Ich schnappe mir meine Tasche und geselle mich zu der Gruppe am Ausgang. Es sind auch einige Leute aus einer anderen Trainingsgruppe unseres Vereins da. Hauptsächlich Jungs, alle ungefähr zwei Jahre jünger als wir.
Doch trotzdem steigt ein Gefühl in mir auf, dass ich nur als Eifersucht betiteln kann, als ich sie bei Linda, Fine und Sophie stehen sehe. Sophie steht hinter Linda und bindet ihr grade einen Zopf. Gemeinsam lachen sie mit den Jungs, Linda wirkt dabei aber immer noch traurig. Liegt es an ihren Schmerzen oder an Hannas Aktion?
Ich stelle mir vor wie es sein könnte, wenn ich mit ihr zusammen wäre. Wenn die gesellschaftlichen Konventionen, dass nicht ausgrenzen würden. Wenn ich nicht zu feige wäre. Unter meinen Wunschträumen bemerke ich gar nicht, wie wir alle zusammen in eine Bar einfallen und einen Großteil des hinteren Bereichs einnehmen. Linda sitzt viel zu weit weg, als ich sie mit meinem Blick suche und außerdem sind immer noch diese Jungs in ihrer Nähe.
Warum kommen sie an sie ran, ich aber nicht? Immer wieder stelle ich mir diese Frage, während ich die Szenerie mit wachsender Eifersucht beobachte und gar nicht darauf acht, dass Micha ein Bier vor mich stellt oder mit mir redet.
Irgendwann erhebt sich Hanna großspurig und verschafft sich gehör, meine Aufmerksamkeit bleibt auf Linda gerichtet. Seit Hanna das Wort ergriffen hat und alle Blicke auf sich zieht, haftet Lindas Blick auf der Tischplatte und ich sehe, dass sie eine Flucht plant.
„… ich denke also, dass die zwei besten Schwimmer des Vereins nun gemeinsam einen trinken sollten.“, endet Hannas Ansprache, doch ich höre ihr nicht zu, blicke weiter zu Linda. Die nun mich auffordernd ansieht. So wie alle anderen auch, bemerke ich als ich mich in der Runde umschaue.
„Du sollst einen mit der besten Schwimmerin trinken.“, erklärt mir Micha und stößt mir dabei seinen Ellenbogen in die Rippen. Was? Die beste Schwimmerin? Mir ist klar, dass Hanna sich selbst meint, aber sie hat nur mit unfairen Mitteln gewonnen.
„Klar trinke ich einen mit Linda.“, gebe ich schulterzuckend der Runde bekannt und fixiere wieder Linda. Ihr Mund steht offen, ungläubig trifft es wohl im Moment am besten.
„Aber… ich...“, setzt Hanna an, schließt dann aber wieder den Mund und sammelt sich sichtbar einige Sekunden. Dann wendet sie sich Linda zu und starrt sie verächtlich an. Das kann nicht gut gehen, denke ich noch bevor Hanna wieder redet.
„Linda,“, beginnt sie mit nicht mal ansatzweise überzeugend gespielter Freundlichkeit, „eigentlich bewundere ich dich ja. Seit Jahren mühst du dich ab, trainierst, obwohl du quasi Invalide bist. Schwimmst bei Wettkämpfen wenngleich du weißt, dass du nicht gewinnen kannst. Für dieses Durchhaltevermögen sich immer wieder lächerlich zu machen gebührt dir mein tiefster Respekt.“, giftet sie Linda an und lässt sich dann selbstgefällig wieder auf ihren Stuhl sinken.
Keiner sagt etwas, alle schauen verwirrt, unbehaglich, mitleidig oder überheblich von Hanna zu Linda.
In mir macht sich wieder der Drang breit, diese Frau zu schlagen, ihr enorme körperliche Schmerzen zu bereiten, bis sie Linda endlich in Ruhe lässt. Meine Eifersucht ist wie weggeblasen, das neue Gefühl, dass mich erfüllt heißt Hass. Hass auf Hanna. Hass auf die Gesellschaft. Hass…
Linda springt auf, wirft dabei ihren Stuhl um und reißt mich damit aus meinen Gewaltphantasien.
Hektisch rafft sie ihre Sachen zusammen und stürmt aus der Bar. Fine, Sophie und die drei Jungs tun es ihr gleich und verlassen fluchtartig das Lokal.
Ich sollte ihr hinterher, sie trösten, ihr beistehen. Aber will sie das überhaupt? Mich an ihrer Seite? Ohne weiter darüber nachzudenken nehme auch ich meine Sachen und bezahle mein Bier. Doch ich kann nicht gehen ohne meinen Ärger auf Hanna ein bisschen Luft zu machen, sonst ersticke ich daran.
„Du bist absolut das Letzte!“, feuere ich ihr entgegen und genieße ihr Zusammenzucken, ehe ich mich der Tür zuwende.
Die kalte Herbstluft kühlt meine Wut etwas ab. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass ich mich von Hanna räumlich entferne.
Suchend blicke ich mich um und ärgere mich, dass ich nicht schneller reagiert habe, da ich Linda nirgendwo mehr ausmachen kann. Doch dann finden meine Augen, die sich nun an das Dämmerlicht gewöhnt haben, einen der Jungs an einer Hauswand lehnend stehen und rasch laufe ich auf ihn zu.
Das Bild das sich mir bietet zerreißt mir fast das Herz. Linda hockt auf dem kalten Boden an einer Wand, die Knie an den Körper gezogen und mit den Armen umschlungen. Ihr Kopf liegt auf den Knien und sie wird von heftigen Schluchzern geschüttelt.
Fine kniet neben ihr, umarmt sie und versucht sie zu beruhigen, aber anscheinend gelingt es ihr nicht und sie wird immer verzweifelter. Fragend, Hilfe suchend, schaut sie in die Runde und stockt, als sie mich sieht. Keiner hat mich bis jetzt bemerkt, aber da mich Fine nun fragend ansieht habe ich auch die anderen Augenpaare auf mir. Alle außer Lindas, die sich immer noch weinend in ihren Knien vergräbt und meine volle Aufmerksamkeit hat. Wie immer, wenn sie in meiner Nähe ist.
Alle meine Ängste überwindend arbeite ich mich direkt zu Linda vor und knie mich ebenfalls neben sie, gegenüber von Fine.
„Linda,“, beginne ich sanft und lege ihr eine Hand auf den Rücken. Sie zuckt kurz zusammen lässt meine Berührung aber zu und das lässt meinen Magen freudige Umdrehungen schlagen. „Hanna ist dumm. Alle sind dumm, die nicht sehen wie toll du bist.“, sage ich leise, bin mir aber bewusst, dass mich trotzdem alle umstehenden hören können.
Auch Linda hat mich gehört, denn sie blickt etwas verstört zu mir auf. Wie auch vorhin erforscht sie mein Gesicht, versucht vermutlich zu ergründen, ob ich es wirklich so meine.
„Könntet ihr uns kurz alleine lassen?“, fragt Linda, nimmt dabei aber ihren Blick nicht von mir.
Fine erhebt sich und sie entfernen sich ein Stück, doch einer der Jungs dreht sich nochmal um.
„Wir sind nicht weit weg, bleiben in der Nähe, falls er Ärger macht.“, beschwört er Linda mit einem finsteren Blick zu mir, den ich genauso finster erwidere, ehe ich mich wieder Linda zuwende, um die Wut auf diesen Typen in Grenzen zu halten. Was denkt der überhaupt von mir? Wie sollte ich Linda Ärger bereiten?
„Warum hast du das gesagt?“, fragt mich Linda, mit immer noch vom weinen zitternder Stimme.
„Was?“, will ich verwirrt wissen. Ich habe in letzter Zeit viel gesagt, in Bezug auf Linda.
„Dass, mit dem ‘einen trinken‘. Hanna meinte nicht mich, aber du hast gesagt du würdest gern mit mir einen trinken.“, erklärt sie genauer, was sie meint und ich muss mir ein Lächeln verkneifen bei ihrer detaillierten Erklärung. Es hätte auch gereicht, wenn sie auf die Bar angespielt hätte, aber das ist die exakte Linda, die auch offensichtliches ausspricht.
„Weil es stimmt. Sie hält sich für die allerbeste in so vielen Dingen, aber das ist sie nicht. Hanna kämpft unfair, das hat man heute deutlich gesehen.
Du hättest gewonnen und das weiß sie genau, deshalb ist sie so wütend auf dich. Du bist besser als sie, nicht nur im Schwimmen.“, rede ich liebevoll auf sie ein und versuche nicht einmal meine Gefühle für sie zu verstecken, dass habe ich lang genug getan.
Linda antwortet nicht, scheint aber über meine Worte nachzudenken, denn sie schaut gedankenverloren auf den Boden, auf dem wir immer noch sitzen.
Erst jetzt merke ich durch meine Jeans den kalten Boden und stehe wieder auf. Ich reicht Linda meine Hände und bereitwillig lässt sie sich von mir aufhelfen.
Wir stehen dicht beieinander, viel zu dicht um ihren Duft nicht einzuatmen oder ihre Wärme zu spüren. Linda fixiert immer noch den Boden, sodass ich nur ihre blonden Locken sehe. Sie ist wenige Zentimeter kleiner als ich, das ideale Maß, dass ich mich zu ihr hinabbeugen kann um sie zu küssen, aber nicht in die Knie gehen muss.
„Was ist in der Nacht passiert? Vor 2 Wochen?“, höre ich Linda leise fragen, den Blick noch immer auf den Asphalt gerichtet. Ich zwinge sie sanft, mit einem Finger unter ihrem Kinn, mich anzusehen. Ihre Augen sind noch immer grau, aber sie tosen nicht mehr, der Sturm hat sich gelegt. Ihre Wangen sind gerötet und ihr ist die Situation sichtlich unangenehm.
„Nachdem Sophie gegangen ist hab ich dich nach Hause begleitet.“, antworte ich, lasse aber die nicht so schönen Details weg.
„Du… du meinst… nachdem ich… mich über… geben habe.“, stottert Linda und wird noch röter, wenn das überhaupt möglich ist. Außerdem kann sie meinen Blick nicht mehr halten und versucht sich wegzudrehen, doch ich hindere sie daran.
Ich nicke nur und gebe ihr Zeit sich für die nächste Frage zu sammeln, denn ich sehe, dass sie ihr auf der Zunge liegt.
„Hast du… haben wir… vor der Tür?“, flüstert sie so leise, dass ich sie kaum verstehen kann.
„Haben wir was?“, frage ich schmunzeln, weil Linda einfach nur zu süß ist.
Jetzt ändert sich Lindas Gesichtsfärbung, aus Schamesröte werden rote Wutflecken und sie sieht aus wie ein schmollendes Kind.
„Du weißt schon…!“, zischt sie jetzt und ihr Blick brennt sich in meinen. Es fehlt nur noch, dass sie wütend mit dem Fuß aufstampft. Bei diesem Bild in meinen Kopf muss ich grinsen, doch um Linda nicht noch mehr auf die Palme zu bringen lasse ich meine Tagträume bei Seite und beuge mich zu ihr vor. Soweit, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren.
„Das?“, will ich leise wissen und lege sanft meine Lippen auf ihre. Es ist besser als vor zwei Wochen, nicht vom Alkohol benebelt. Zaghaft berühren meine Lippen ihre, bitten um Erlaubnis und als sie sich nicht wehrt presse ich mich enger an sie, sodass der Kuss intensiver wird.
Ich weiß genau, dass uns die Anderen beobachten. Dass sie uns mit wahrscheinlich offen stehenden Mündern angaffen. Aber es ist mir egal. Alles ist im Moment egal, außer Linda. Alles, außer ihre Lippen und ihr warmer Körper, den ich an meinen presse.
Das hier ist so unglaublich gut. Ihre Lippen scheinen perfekt auf meine zu passen. Meine Hand wandert an ihre Hüfte, die andere legt sich auf ihre Wange und gleitet dann in ihr weiches Haar. Am liebsten würde ich ihren Zopf lösen, um meine Finger tief darin zu versenken, Linda eventuell etwas daran zu ziehen, aber ich beherrsche mich. Ich darf sie nicht verschrecken, wo ich einmal so nah bei ihr bin. Darf nicht zu viel verlangen, obwohl ich gern meine Liebe für sie in die Welt hinausschreien würde.
Doch einen Vorstoß muss ich jetzt noch wagen. Langsam schiebe ich mein Zunge hervor, berühre vorsichtig ihren Mund, bitte um Einlass, aber sie verwehrt ihn mir. Schlimmer noch sie löst sich gänzlich von mir, unterbricht unsere Zärtlichkeiten und mir entfährt unwillkürlich ein sehnsuchtsvoller Seufzer.
Als ich meine Augen wieder öffne, die ich unter den geballten Emotionen schließen musste, sehe ich, dass Linda sich wieder auf den Boden konzentriert. Sie macht sich selbst wieder klein, versteckt ihre Stärke und ich frage mich warum. Wieso ist sie in der Öffentlichkeit so schüchtern? Weshalb kann sie hier nicht das Selbstbewusstsein zeigen, wie sie es in der Schwimmhalle tut? Dort bewegt sie sich mit erhobenen Kinn, wie selbstverständlich, im Badeanzug und hier versteckt sie sich nach einem Kuss. Oder liegt es an mir? Ich bin verwirrt und traue mich nicht etwas zu sagen, geschweige denn sie im Moment anzusehen.
Was würde ich sehen? Wie würden ihre Augen aussehen? Würde ich Liebe sehen? Würden sie vor Glück blau leuchten? Oder, würden sie mich grau anfunkeln, weil sie mich nicht mag und ich ihr zu Nahe getreten bin?
„Ich weiß nicht wie ich reagieren soll. Was das soll das? Was willst du von mir?“, fragt Linda leise und verwirrt mich noch mehr, da ihre Stimme eine Kühle in sich trägt, die ich von ihr nicht kenne. Die veranlasst mich nun doch sie ansehen zu müssen.
So zwinge ich sie sanft, mit den Finger unter ihrem Kinn, ihren Kopf zu heben. Was ich sehe schockiert mich regelrecht. Ihre Augen, graublau und ruhig, wirken zum ersten Mal eiskalt. Keine sonst allgegenwärtige Wärme, im Gegenteil sie blitzen mir so eisig entgegen, dass es mir kalt den Rücken runter läuft.
Das hier läuft in eine vollkommen falsche Richtung. Eigentlich dachte ich doch, dass wenn ich sie noch einmal küsse, ohne den lästigen Alkohol, dass sie sich mir in die Arme wirft und alles gut wird. Fieberhaft suche ich einen Fehler in meinen Plan zu entdecken oder eine Lösung zu finden, dass Linda mich nicht von sich stößt. Allerding ohne ihr sofort meine Liebe zu gestehen, denn da bin ich sicher, wird sie schreiend davon laufen.
„Ich… ich mag dich. Linda,… ich mag… dich wirklich… sehr.“, stammle ich verzweifelt vor mich hin und habe das Gefühl gleich heulen zu müssen, wenn sie mich weiter so anschaut. Meine Worte haben an ihren Blick nichts geändert. Wenn überhaupt ist er nur noch undurchdringlicher und abweisender geworden.
„Verarschen kann ich mich alleine, Leon. Wer glaubt dir schon, dass du jemanden wie mich mögen könntest? Ich nicht!“, faucht sie mir entgegen und ich zucke wahrhaftig einen Schritt zurück. Doch auch in mir steigt nun Wut auf. Wie kann sie so von mir denken? Warum sollte ich sie veraschen? Hab ich ihr je Anlass dazu gegeben so von mir zu denken?
„WAS SOLL DER SCHEISS?“, ist alles was ich in meiner Wut hervorbringen kann, dass aber laut, sehr laut. So laut, dass natürlich Fine, Sophie und die Typen sich sofort in unsere Richtung bewegen.
Ich kann Linda nur noch einen eindringlich fragenden Blick zu werfen, denn sie gekonnt ignoriert, ehe die anderen wieder bei uns sind.
Sofort stößt mich der Typ gegen die Schulter, der mir vorhin schon gedroht hatte.
„Ich hatte dich gewarnt, lass sie gefälligst in Ruhe.“, verteidigt er Linda und stößt mich nochmal gegen die Schulter, sodass ich nach hinten taumle. Meine Wut kocht fast über und wenn ich jetzt nicht gehe werde ich ihm eins in die Fresse geben. Doch dann würde Linda wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit mir wechseln. So schnaufe ich nur aggressiv und wende ich zum Gehen.
Auf meinem Weg nach Hause lasse ich die ganze Situation tausendmal durch den Kopf gehen und verfluche mich mal wieder als den größten Idioten dieser Erde. Aber diese Mal bin nicht ich alleine Schuld, Lindas kalte Schulter hat mich aus der Bahn geworfen. Warum ist sie so?

 

2 Wochen später (6 Trainingseinheiten)

 

Seit zwei Wochen schwanke ich zwischen Gefühlen. Einerseits will ich Linda nahe sein, versuche mich immer wenn ich sie sehe in ihrer Nähe aufzuhalten und fühle mich mehr als Stalker als je zuvor. Auf der anderen Seite ist da ihr neuer kühler Blick mir gegenüber, der mir mitten ins Herz sticht, aber auch meine Wut anfacht. Was habe ich getan oder gesagt, um diesen Blick zu verdienen? Ich war doch nur ehrlich.
Ist es möglich, dass sie keine Gefühle für mich hat? Kann es sein, dass ich zu viel in Kleinigkeiten hinein interpretiert habe und sie gar nicht auf mich steht? Allein der Gedanke daran sticht mir tief ins Herz.
Auch wenn ich mich in ihrer Nähe aufhalte fühle ich mich ihr ferner denn je. Langsam schleicht sich so etwas wie Resignation ein. Scheinbar will sie mich nicht.
Heute ist das letzte Training vor den Herbstferien. Das heißt morgen fahren wir ins Trainingslager. 10 Tage Kroatien mit 4 Stunden Training am Tag und rund um die Uhr Linda. Nicht alle aus unserer Trainingsgruppe fahren mit, sodass ich wenigstens Ruhe vor Hanna und Gina habe. Dafür fahren aber auch Lindas ‘Beschützer‘ mit, wie sie mittlerweile bei mir heißen, weil sie nun auch ständig bei ihr und Sophie oder Fine rumhängen, obwohl sie gar nicht zu unserer Gruppe gehören.
Eifersucht ist mein ständiger Begleiter, grade wenn Tom (der Typ, der mich von ihr weg gestoßen hat) in ihrer Nähe ist. Sie sind so vertraut miteinander, dass ich arrrrggghh…
Ich versuche mal wieder meinen Frust im Wasser abzubauen, pflüge Bahn um Bahn durch die gechlorte Flüssigkeit. Schwimme zusätzliche Meter, um mein Gefühlschaos mit körperlichen Schmerzen zu überlagern.
Erstaunlicherweise gelingt mir wenigstens das. Als ich nach der Trainingseinheit aus dem Wasser steige zittere ich am ganzen Körper und kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Mein Atem und Puls scheinen sich gar nicht mehr beruhigen zu können und ich muss quasi zur Dusche kriechen. Kurz davor geben meine weichen Knie doch unter mit nach und ich muss mich schnaufend gegen die Wand lehnen.
Ich halte meine Augen geschlossen, um mich darauf zu konzentrieren wieder genügend Luft in meine Lungen zu bekommen.
Kurz bevor ich endgültig an der Wand hinab gerutscht wäre, legt sich ein Arm um meine Taille und stützt mich.
„Warum hast du das gemacht?“, höre ich Linda leise fragen und bereife, dass sie es ist, die mich hält.
Ich öffne die Augen und schaue sie gequält an. Ein Blick der sagen soll, was sie mit ihrer Ablehnung bei mir bewirkt. Ich weiß nicht, ob sie die Botschaft verstanden hat. Kann mich grade nicht darauf konzentrieren, da sie mich zur Dusche schleift. Zur Mädchendusche, wie ich feststelle, aber es ist mir egal. Unter dem warmen Wasserstrahl breche ich zusammen und bin froh, mich in einer sitzenden Position halten zu können.
Auch das warme Wasser vermag nicht meine verkrampften, immer noch zitternden Muskeln zu entspannen. Mein Atem und mein Puls habe zwar mittlerweile wieder normal Tempo erreicht, aber ich kann mich nicht bewegen.
Kalte Finger treffen auf meine erhitzte Haut und beginnen sanft meine verspannten Muskeln zu lockern. Linda massiert zuerst meinen Schulterbereich, knetet kräftiger werden durch meine Muskeln und jede ihrer Berührungen schießt unaufhaltsam in meinen Lendenbereich. Als sie zu meinen Waden wechselt bemerkt auch sie die mehr als deutliche Beule in meiner Badehose und stockt abrupt. Ihre Wangen färben sich tief rot und ihr Blick saugt sich an den blau-weißen Fliesen fest.
„Diese Wirkung hast du auf mich.“, flüstre ich bedächtig und würde sie am liebsten berühren, doch ich weiß, dass es zu viel für sie wäre.
Eine ganze Weile sitzen wir so da und ich bekomme langsam die Kontrolle über meine Gliedmaßen wieder. Eine seltsame Spannung liegt in der Luft und lässt meine Leisten nicht zur Ruhe kommen.
Umständlich komme ich auf meine wackligen Beine, denn ich halte es nicht mehr aus mit dieser Spannung ohne sie zu berühren. Ich muss hier raus sonst verliere ich die Kontrolle und das kann nicht gut enden.
Auch Linda steht auf. Plötzlich steht sie direkt vor mir und ich kann einfach nicht mehr an mich halten. Die Versuchung ist zu groß, zu schön.
Vorsichtig, als könnte sie unter meiner Berührung zerbrechen, streiche ich ihr über die Wange, während die Dusche uns immer noch mit warmen Wasser berieselt, und lasse diese dann zum Ansatz ihrer Haare gleiten, sodass sie halb auf ihrer Wange liegt und halb in ihren nassen Haaren versinkt. Allein diese Berührung reicht aus, um den eben noch unbändigen Drang nach ihrer Nähe zu dämpfen. Das warme Wasser hat nicht vermocht meine Muskeln zu lockern, doch die Wärme die nun mein Körper durchfliest scheint mich dahin schmelzen zu lassen.
Mein Blick gleitet unwillkürlich zu ihren Lippen und Erinnerungen drängen sich in den Vordergrund. Erinnerungen daran, wie diese Lippen auf meinen liegen. Das Gefühl daran, wie weich sie sind und wie perfekt sie auf meinen Mund passen.
Ich werde aus meinen Erinnerungen gerissen, als diese vollen Lippen in der Realität auf mein gepresst werden. Der Kuss geht von Linda aus. Ich brauche einen Moment, um diese Tatsache zu realisieren. Doch dann erwidere ich ihn vorsichtig, spiele mit ihren Mund.
Linda ist es auch die ihre Zunge über meine Lippen gleiten lässt und ich lasse mir diese Chance natürlich nicht entgehen. Vorsichtig tastet ihre Zunge meinen Mund ab und ich tue es ihr gleich. Sie schmeckt so süß und einen Hauch nach Chlor, dass ich sie noch enger an mich ziehe.
Auch sie schlingt ihre Arme um meinen Nacken und bringt unsere Körper dichter zusammen. Ich keuche in ihren Mund, will unseren Kuss nicht beenden nur weil ich keine Luft mehr bekomme.
Mein Hirn scheint nun komplett abzuschalten, denn ich bewege uns Richtung Wand, sodass Linda die kalten Fliesen im Rücken hat und ich mich noch enger an sie pressen kann. Doch plötzlich, in dem Moment wo sie auch meine Leiste deutlich spüren kann, versteift sie sich und lässt schwer atmend von mir ab.
Niedergeschlagen, durch meine unbändige Lust lasse ich den Kopf sinken und trete einen Schritt von ihr weg.
Am liebsten würde ich mal wieder meine Faust gegen die Fliesen hauen, doch ich beherrsche mich, denn immerhin ist Linda immer noch anwesend. Ich spüre ihren Blick auf mir und es tröstet mich etwas, dass sie nicht sofort die Flucht ergreift.
Aber sie entfernt sich von mir, geht zu ihrem Handtuch und schlingt sich darin ein.
„Warum hast du das gemacht?“, wiederhole ich ihre Frage von vorhin und sehe sie nun wieder an, da ich ihre Reaktion beobachten will.
Ich sehe, dass ihr Worte auf den Lippen liegen. Worte, die mich erlösen könnten in meinem Zweifel, dass sie nichts für mich empfindet. Doch sie zuckt nun mit den Schultern, aber eine leichte, verdächtige Röte schleicht sich auf ihre Wangen.
Ich beschließe es dabei zu belassen, wenn ich sie dränge geht es nur nach hinten los und sie distanziert sich emotional wieder von mir.
Ohne ein weiteres Wort gehen wir in unterschiedliche Umkleidekabinen und reden auch nicht, als sich vor der Tür alle verabschieden.

 

Ich bin verunsichert, mehr als je zuvor. Lindas Vorstoß gestern hat mich in andere Sphäre katapultiert, meine Hoffnung geschürt, sie könnte doch etwas für mich empfinden. Doch als ich am Bus ankam war von Lindas Seite alles wie vorher. Zwar ist ihr kühler Blick mir gegenüber wieder verschwunden, aber sonst ist keine Annährung zu spüren. Es scheint fast so als hätte es den Vorfall gestern in der Dusche gar nicht gegeben. Hab ich mir das alles eingebildet? Kann ich so verrückt sein? Nein, es ist passiert. Das kann ich mir nicht ausgedacht haben, es war besser als all meine Vorstellungen.
So sitze ich in der hintersten Reihe des Buses und mache mir Gedanken über meinen Geisteszustand, während Linda ungefähr in der Mitte sitzt und sich mit Fine unterhält. Ihre ‘Beschützer‘ sind auch anwesend, alle drei. Nur Sophie fehlt an ihrer Seite, die konnte nicht mitfahren. Dafür hüpfen Franz Tochter Ina und Toms Bruder Ben auf den Sitzen vor Linda aufgeregt hin und her, weil sie auch dabei sind. Insgesamt sind wir um die 50 Leute, davon sind 5 Trainer, wenn man Linda und Fine mitzählt. Die ‘Kinder‘ sind bunt durchmischt, im Alter von ungefähr 7 bis 18.
Es gibt Menschen die würden eine solche Busfahrt als anstrengend betiteln, ich gehöre dazu. Wäre da nicht Linda, die mich von den Strapazen ablenkt. Egal ob sie mit Ina oder Ben scherzt, ob sie mit Fine redet oder sich in ihrem Sitz zurücklehnt und schläft, ich kann meinen Blick einfach nicht von ihr wenden.
Wir haben ungefähr die Hälfte der 12 Stunden Fahrt hinter uns, als plötzlich das Objekt meiner Beobachtung in Hektik ausbricht. Schlagartig sitze ich kerzengrade und versuche den Grund zu analysieren. Als ich den Beutel in ihrer Hand bemerke und wie sie damit zu dem grün anlaufenden Ben eilt, legt sich meine Anspannung ein wenig.
„Ey Tom, ich glaub dein Bruder kotzt.“, macht nun Alexander, ein weiterer der ‘Beschützer‘, seinen Kumpel darauf aufmerksam.
Sekunden später steht er neben Linda bei Ben. Eine seiner Hände streicht über Bens Haar die andere liegt auf Lindas Rücken und facht meine Eifersucht an. Als er sich, in dem engen Mittelgang, auch noch an ihr vorbeidrängt, möchte ich mich auf ihn stürzen und meine Faust seine Knochendichte testen lassen. Doch ich kann mich davon abhalten, grade so.
Kurz darauf halten wir an einem kleinen Rastplatz und Tom und Linda führen Ben nach draußen. Auch ein paar andere folgen, um sich die Beine zu vertreten, so auch ich. Wie immer halt ich mich so gut wie möglich in Lindas Nähe auf, was sich im Moment als schwierig erweist, da mir Bens Kotzgeräusche auch auf den Magen schlagen. Aber für Linda schlucke ich mein Unwohlsein tapfer runter.
Einige Minuten später trägt Tom einen weinenden Ben an mir vorbei wieder in den Bus und ich halte Ausschau nach Linda. Für einen Moment scheint es so als genieße sie die Aussicht, denn es dämmert bereits und man kann einen beeindruckenden Sonnenuntergang beiwohnen. Doch dann sehe ich wie sie schwankt und in die Knie gehen muss, weil ihre Beine sie nicht mehr tragen. Mein Herz rutscht mir in die Hose und mit 4 großen Schritten bin ich bei ihr. Sie hält die Augen geschlossen und atmet bewusst tief ein und aus.
„Alles okay?“, will ich vorsichtig wissen und hocke mich neben sie.
„Ja, ja. Nur der Kreislauf. Die lange Busfahrt uns so.“, spielt Linda es runter. Ich bin zwar kein Arzt, aber dennoch versuche ich ihren Puls zu fühlen, um wenigstens etwas einschätzen zu können wie schlecht es ihr geht.
Ich ertaste ihn an ihrem Handgelenk und sie lässt es zu. Er ist langsam und schwach und ich bekomme langsam Panik. Was soll ich jetzt machen? Wie kann ich ihr helfen?
Plötzlich ist Fine an meiner Seite und scheint die Situation sofort zu erkennen.
„Sie muss etwas essen und dann sollte sie liegen, mit angewinkelten Beinen, am besten sogar schlafen.“, erörtert sie professionell und deutet mir mit einer Kopfbewegung an Linda zurück in den Bus zu helfen.
Ich lege einen Arm um Lindas Taille, nachdem ich ihr aufgeholfen habe und führe sie zum Bus. Sie schwankt in meinen Armen und mein Herz scheint mir immer mehr in die Hose zu rutschen. Was wenn sie doch einen Arzt braucht? Wenn sie komplett zusammenklappt?
Nachdem ich mich mit Linda die schmale Treppe hinaufgekämpft habe, sehe ich mich suchend nach Fine um. Sie muss mir helfen, muss mir sagen was ich zu tun habe. Bevor ich sie entdecke bauen sich zwei ‘Beschützer‘ vor mir auf und versuchen mir doch allen Ernstes Linda abzunehmen. Ich arbeite mich an ihnen vorbei, gebe ihnen keine Chance, denn ich werde mich um Linda kümmern, ich bin für sie verantwortlich. Klang das jetzt ein wenig zu besitzergreifen? Vielleicht, aber so fühle ich. Ich will Verantwortung für sie, für uns, übernehmen.
Ich entdecke Fine an der hintersten Reihe stehen, wo nur ich und Micha sitzen. Den versucht sie anscheinend grade davon zu überzeugen, dass er seinen Platz zu räumen hat. Nachdem er, die immer noch schwankende, Linda an meiner Seite betrachtet hat und mir einen undefinierbaren Blick zugeworfen hat, geht er schnaubend von dannen.
Behutsam setzte ich Linda auf dem Sitz ab und Fine reicht ihr sofort ein Cola und ein Brötchen. Mit zittrigen Händen nimmt sie beides an sich, knabbert aber nur kurz an der Kruste des Backwerks und nimmt nur einen kleinen Schluck. Bestimmend schiebt Fine ihr die Flasche wieder an die Lippen und Linda trinkt zaghaft weiter, unter Fines strengen Blick zwingt sie sich sichtbar die halbe Flasche leer zu trinken, dann scheint auch ihr beste Freundin und Physiotherapeutin zufrieden.
„Leg dich hin.“, befiehlt Fine sanft und Linda kommt ihre Anweisung schwach nach. Ich hatte mich wieder auf meinem Platz niedergelassen, sodass Linda ihren Kopf nun, gewollt oder ungewollt, auf meinem Schoß legt.
Fine wirft mir noch einen argwöhnischen Blick zu, doch Linda scheint es nicht zu stören und sie schiebt ihr noch ein paar Decken unter die Beine, ehe sie sie zudeckt.
Allerdings geht ihr Vertrauen in mich wohl doch nicht sehr weit, da sie sich direkt vor mich und somit neben Tom setzt und streng beobachtet, wie ich Linda sanft über die Wange streiche.
Irgendwann, Linda ist schon einige Zeit eingeschlafen, drängt sich Franz durch den engen Gang bis zu uns ans Ende.
„Ben ist endlich eingeschlafen, Ina hat ihn in den Schlaf gestreichelt.“, berichtet er Tom und ich muss leicht grinsen bei den Gedanken, dass ich Linda genauso in den Schlaf gestreichelt habe.
„Wie geht es ihr?“, fragt Franz an Fine gewandt nach Linda. Warum fragt er nicht mich? Ich bin es doch er ihr über die Wange streicht, der sie seit Stunden nicht mehr aus den Augen lässt.
„Sie schläft. Wenn wir da sind wird es ihr besser gehen, die lange Busfahrt legt sich auf ihren Kreislauf.“, antwortet Fine und man sieht mal wieder die besondere Beziehung zu Linda in Franzs Augen.
Mit einem komischen Blick, den er mir zuwirft, geht er wieder nach vorne und ich kann meine Betrachtung der schlafenden Linda vorsetzten, bis auch mich der Schlaf übermannt.

 

Die weiter Busfahrt und die Ankunft in Kroatien sind ohne weiter Vorkommnisse abgelaufen. Obwohl mein Zimmergenosse ausnehmend schlecht gelaunt ist, weil er seinen Platz in der letzten Reihe abgeben musste und nur noch eine Reihe für sich ziemlich weit vorne im Bus gefunden hat. Direkt vor der Trainerin der ‘Beschützer‘, die einfach nicht den Schnabel halten kann, Wortlaut Micha.
Dementsprechend mies ist die Stimmung während wir unsere Sachen auspacken und wortlos vor uns hinarbeiten.
„Eigentlich ist ja nur Linda daran schuld. Hätte sie diese komische Kreislaufsache nicht gehabt, hätte ich gechillt hinten schlafen können.“, stellt Micha irgendwann ernst fest und meine Kiefer verkrampfen sich augenblicklich.
„Als ob sie etwas dafür könnte. Mit Sicherheit hat ihr diese ‘Kreislaufsache‘ keinen Spaß gemacht.“, kann ich durch meinen verkrampften Kiefer hervorbringen.
„Was ist bei dir eigentlich los? Stehst du etwas auf die Schwabbel-Kuh? So wie…“, den Rest seines Satzes höre ich nicht mehr, da ich zu seinem Schutz das Zimmer verlassen habe. Am liebsten hätte ich ihn eine runter gehauen oder besser zwei. Eine dafür, dass er genau ins Schwarze getroffen hat und eine dafür, dass er Linda Schwabbel-Kuh genannt hat. Als mir dieser Begriff erneut durch den Kopf geht schnellt meine Hand unkontrolliert nach vorne und trifft auf das kalte Metall der Fahrstuhlverkleidung.
In der Lobby rausche ich an Franz, Linda und ein paar anderen unserer Leute vorbei nach draußen. Franz ruft mir noch etwas hinterher doch ich bin zu sehr in meiner Wut gefangen.
Am liebsten würde ich rennen, einfach weg. Doch ich kenne meine Umgebung zu wenig und würde mich garantiert verlaufen. So suche ich mir nur einen geeigneten Gegenstand in meiner Nähe auf den ich einprügeln kann. Baum oder Wand? Da ich noch in diesem Hotel schlafen will entscheide ich mich schlussendlich für eine große Eiche. Ihre Rinde ist hart und unnachgiebig, sodass meine, in letzter Zeit sowieso geschundenen Knöchel, schnell aufplatzen. Aber ich achte nicht darauf, meine Wut ist auf ein neues höchst Maß gestiegen und ich sehe sprichwörtlich rot. Eigentlich hatte ich gehofft in diesen Tagen würde es anders laufen. Solche Lager haben immer eine eigene Energie, bei der viele gesellschaftliche Konventionen außer Kraft gesetzt sind, grade wenn sie im Ausland stattfinden. Allerdings scheint Micha von dieser Eigendynamik noch nie etwas gehört zu haben.
In letzter Zeit frage ich mich immer öfter warum ich überhaupt mit ihm befreundet bin. Wie kann man nur so oberflächlich sein? War ich auch so? Oder bin ich es immer noch?
Meine immer weiter auf den Baum einprügelnde Faust wird plötzlich gestoppt, da sich eine andere, fremde Hand um mein Handgelenk schließt. Noch ehe ich ganz aus meiner Wut wieder in der Realität angekommen bin steigt mir ihr Duft in die Nase. Der Duft nach Pfirsich, Chlor und Linda, lässt mich sie schon in meinem Wahn erkennen. Als ich ihr letztlich in die Augen schauen kann, entspannt sich auch mein Kiefer endlich. Ihre Augen sind blau und erforschen meine mit fragenden Blick.
„Wir sollten deine Knöchel sauber machen.“, ist alles was sie sagt, dann zieht sie mich auch schon hinter sich her, zurück ins Hotel.
Fine wirkt etwas irritiert, als Linda mit mir an der Hand in ihr gemeinsames Zimmer stürmt. Doch sofort werde ich weiter ins Bad dirigiert und auf den Wannenrand gesetzt. Linda befeuchtet ein kleines Handtuch mit warmen Wasser und tupft damit die Knöchel meiner Hand ab. Ich kann ihr dabei nur verträumt zusehen, bemerke kaum den stechenden Schmerz.
Bedächtig arbeitet sie vor sich hin, überprüft die Funktion meine Gelenke, in dem sie vorsichtig beugt und streckt, ehe sie eine Salbe auf die geschundene Haut aufträgt.
„Warum hast du das gemacht?“, platzten wir beide gleichzeitig heraus und lachen auf.
„Du zuerst.“, fordre ich dann wieder ernst und Linda weicht meinem Blick aus. Doch ich zwinge sie mich anzusehen. Mit einem Schulterzucken, wie vor zwei Tagen unter der Dusche kommt sie mir jetzt nicht davon.
„Du hast mir gestern auch geholfen und ich möchte nicht, dass es dir schlecht geht.“, gesteht sie leise und mein Herz schmilzt nur so dahin. Sie will nicht, dass es mir schlecht geht. Linda will nicht, dass ich Schmerzen habe. Ein idiotisches Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht und ich habe das Gefühl man könnte es nicht mal mit Hammer und Meißel dort entfernen.
„Und du?“, verlangt sie nun auch eine Antwort von mir und reiß mich aus meinen fast schon glückseligen Gedanken.
„Micha hat Mist erzählt.“, sage ich leise und nun bin ich es, der ihren Blick nicht standhalten kann.
„Mist, worüber?“, fragt sie einfühlsam weiter und zwingt mich, wie ich sonst bei ihr, sie anzusehen.
„Über dich.“, flüstre ich und mein Blick huscht von ihren Augen zu ihrem Mund, weil wir uns auf einmal so nahe sind dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren.
Wieder ist es Linda die diesen Kuss initiiert, ihr Vorstoß geht sogar so weit, dass sie mit den Finger durch meine halblangen, dunklen Haare streicht, ehe sie sie darin vergräbt und mich noch näher an sich zieht. Nachdem ich meine Überraschung überwunden habe erwidere ich den Kuss und lasse meine Hände ebenfalls in ihre Locken gleiten.
Ich hätte Ewigkeiten so auf dem kalten Wannenrand sitzen können, doch ein verhaltenes Klopfen lässt uns auseinanderfahren.
„Es gibt eine kleine Zusammenkunft unten in der Lobby, Franz war grade da und hat uns gebeten zu kommen.“, hören wir Fine vor der Badzimmertür zu uns sagen und sind beide sofort wieder auf den Beinen.

 

„… so sehen wir uns alle spätestens um 15 Uhr zu unsere ersten Trainingseinheit und jetzt wünsche ich euch allen einen guten Appetit. Vielen Dank“, beendet Franz seine Ansprache und alle klatschen verhalten.
Ich schließe mich kurzerhand Lindas Gruppe an, bestehend aus den ‘Beschützern‘, Fine, Linda, Ben und Ina. Wir gehen gemeinsam zum Essen und nachdem wir uns am Büffet alle die Teller gefüllt haben setzte ich mich neben Ina, da dies der nächste Platz zu Linda ist, der noch nicht besetzt ist. Linda sitzt zwischen den zwei kleinen und Tom natürlich neben seinen Bruder. Dieses Bild stört mich, wie sie beide so liebevoll mit den kleinen umgehen, fast als wären sie eine Familie. Allein die Vorstellung versetzt mir einen gewaltigen Stich ins Herz.
„Wer bist du?“, fragt mich Ina mit ihrer kindlich, naiven Art und lenkt meine Aufmerksamkeit von der imaginären Familienidylle ab.
„Leon.“, sage ich kurz angebunden, ich kann einfach nicht mit Kindern. Sie mögen mich nicht und es beruht auf Gegenseitigkeit.
„Und warum schaust du Linda immer so komisch an?“, bohrt sie weiter und nun hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Wie schaue ich Linda an? Leichte Panik steigt in mir auf, dass sogar ein 7jähriges Kind mir an der Nasenspitze ansieht, wie verliebt ich in Linda bin.
„Wie komisch?“, stelle ich, ziemlich ungehalten, eine Gegenfrage. Ina ist einen Augenblick verängstig und sucht Hilfe bei Linda, doch die beschäftigt sich grade mit Ben und Tom, sodass sich Ina augenscheinlich wappnet, sich mir doch stellt.
„Na, du beobachtest sie immer, dass ist ziemlich seltsam und auch manchmal gruselig. Aber oft lächelst du dabei auch und dann siehst du nicht mehr so böse aus.“, berichtet sie mit fester, überzeugter Stimme und ich bin beeindruckt vor der Courage des kleinen Mädchens.
Ist es wirklich so offensichtlich? Beobachte ich Linda wirklich so oft? Ich sehe böse aus? Wie Lächle ich wenn ich Linda ansehe? Hoffentlich nicht so ein total idiotisches, verliebtes Lächeln. Bekommen das auch andere mit? Ich schaue mich an dem großen, runden Tisch um, betrachte kurz all die Menschen, die Linda viel näher stehen als ich. Habe sie es auch bemerkt? Alle sind in Gespräche oder ihr Essen vertieft, sodass ich es überhaupt nicht einschätzen kann. Wie würden sie reagieren? Auf eine Beziehung zwischen mir und Linda? Wahrscheinlich nicht so ablehnend wie meine sogenannten Freunde. Sie würde sicher versuchen Linda zu schützen, so wie sie es schon vor ein paar Wochen nach ihrem Zusammenbruch getan haben.
Diese Gedanken verfolgen mich mal wieder bis ins Wasser und selbst der brennende Schmerz, den das Chlorwasser an meiner Hand auslöst, treibt sie nicht in den Hintergrund.
Die Gruppen sind hier etwas anders eingeteilt, da nicht alle Trainer mit sind und natürlich auch nicht alle Sportler der jeweiligen Gruppe. So trainieren die ‘Beschützer‘ mit bei Franz. Ihre eigentliche Trainerin trainiert die 11-15jährigen und Fine trainiert die Kleinen. Linda wechselt sich mit Tom, der auch ‘zu Hause‘ eine Gruppe betreut, ab, sodass beide wenigstens eine Trainingseinheit selber schwimmen. Fine schwimmt schon einige Zeit nicht mehr selbst, deshalb übernimmt sie ‘Vollzeit‘ die Jüngsten.
Franz gibt uns schon beim ersten Training einen Vorgeschmack auf die Härte, die auf uns zukommen wird und ich nehme mit einem zufriedenen Grinsen war, dass die ‘Beschützer‘ ganz schön schnaufen. Aber auch ich bin fertig nach einer Nacht ohne viel Schlaf und dieser Trainingseinheit.
Beim Essen hänge ich mich wieder an Linda und den Rest, die mich scheinbar wortlos in ihrer Gruppe akzeptiert haben. Diesmal sitze ich direkt neben Linda und als sie fertig ist mit essen, nimmt sie zaghaft meine malträtierte Hand in ihre und betrachtet sie sorgenvoll.
„Wir sollten sie nochmal eincremen, das Wasser war nicht grade hilfreich.“, erörtert sie leise, sodass nur ich sie hören kann. Während ich in die Runde sehe, bemerke ich, dass uns Ina beobachtet. Als sich unsere Blicke treffen huscht ein wissendes Lächeln über die Lippen und auch wenn ich Kinder nicht besonders mag, muss ich es erwidern.
 

 

Bei uns im Verein geht es recht locker zu, sodass wir an diesem Abend gegen 22 Uhr alle (die Erwachsenen und die sich dazu zählen) bei Franz auf dem Balkon sitzen und ein Eimer mit Bowle in der Mitte steht. In unserer lustigen Runde fehlen nur Mona (die Trainerin der ‘Beschützer‘), weil sie einfach eine Spießerin ist, Micha, weil er sich als was Besseres ansieht und Tom, warum auch immer.
Die Stimmung ist sehr gut, auch meine. Ich sitze direkt neben Linda, unsere Arme berühren sich auf den Lehnen unserer Stühle und ab und zu streicht sie mir unbewusst über meine Knöchel (die verletzten). So schickt sie immer wieder kleine Stromstöße durch meinen Körper, die das Kribbeln in meinem Bauch nicht abebben lassen und mir eine wohlige Wärme bescheren.
Grade beobachte ich Linda, hänge an ihren Lippen, weil sie eine Anekdote aus dem Training mit den Kleinen erzählt. Als Tom mit einem weinenden Ben auf dem Arm in der Terrassentür steht und jegliches Gespräch erstirbt.
„Linda, könntest du mir bitte helfen. Er hört nicht auf zu weinen und fragt nach dir.“, erklärt Tom sein erscheinen und natürlich springt Linda sofort darauf an. Wie nicht? Sie liebt dieses Kind abgöttisch.
Der kleine Junge mit den blonden Haaren schaut von der Schulter seines Bruders auf und als er Linda erkennt wirft er sich sofort in ihre Arme.
„Shhht. Komm ich bring dich ins Bett.“, flüstert Linda ihm zu und der Kleine nickt und vergräbt seinen Kopf an ihrem Hals. Wenn ich das nur auch tun könnte. Ich würde unendlich viele Küsse auf die zarte Haut ihres Halses tupfen. Würde ihren Duft intensiver wahrnehmen als je zuvor. Wie gern würde ich neben ihr in einem Bett liegen. Einfach nur liegen und sie betrachten, jeden Zentimeter ihres Körpers mit meinen Augen abtasten, ehe es meine Finger, meine Lippen, tun.
„Ob Franz wohl schon einen Hochzeitstermin festgeschrieben hat?“, fragt Alexander lachend in die Runde und ich kann nur die Stirn runzeln. Über wen reden sie? Was ist das Thema? Wo ist Franz? Wie lang war ich in meinen Gedanken versunken?
„Sicher, die zwei sind sich doch schon Jahre lang versprochen. Nur die Beiden wissen nichts davon, aber lang kann es nicht mehr dauern, wenn sie jetzt schon zusammen die Kinder ins Bett bringen.“, wirft ein Mädchen aus derselben Trainingsgruppe in die Runde und alle lachen laut auf, außer ich. Reden sie wirklich über Tom und Linda? Was bedeutet hier versprochen? Ich hab zwar gestern, während der Busfahrt, so nebenbei mitbekommen, dass Tom eine ähnliche Stellung bei Franz hat wie Linda, aber das es so weit geht…
Tom wohnt direkt neben Franz und ist so in diese erweiterte Familie mit eingeschlossen, doch hat Franz oder die Eltern von Linda oder Tom wirklich Bestrebungen in diese Richtung? Wie soll ich diese neuen Informationen einschätzen? Will Tom überhaupt etwas von Linda? Sie von ihm? Wie soll ich im Bezug darauf ihre Vorstöße in den letzten zwei Tagen werten?
Trübsinnig starre ich vor mich hin, zermartere mir den Kopf und komm dennoch auf keine Erklärung, keine Antwort.
Da das Gespräch um mich herum immer noch um dieses Thema kreist, wird es nur noch schlimmer mit meinen Fragen, meinen Phantasien. Sodass ich irgendwann aufstehe und gehen will, doch als ich an der Tür stehe wirft mir Fine, die genau am Ausgang sitzt, einen fragenden Blick zu.
„Ich geh ne Runde spazieren.“, entgegne ich traurig ihren Blick. Ja, ich bin traurig. Diese neuen Informationen bescheren mir ein vollkommen neues Bild. Von Linda. Von uns.
Fine nickt leicht, zur Bestätigung, dass sie mich verstanden hat und ich gehe meiner Wege.
Der Stand ist nicht weit vom Hotel entfern, so kann ich ohne Gefahr zu laufen mich zu verirren, mich hier hin verkriechen. Verkriechen, dass würde ich mich im Moment sehr gern. Ich habe das Gefühl, dass meine ganze Zukunft mit Linda grade in sich zusammenbricht. Eine zwar imaginäre Zukunft aber dennoch eine ausnehmend schöne.
Melancholisch werfe ich immer wieder Steine ins Meer und versuch mir eine Zukunft ohne Linda vorzustellen, allein.
Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, als sich jemand neben mich setzt. Der Funke Hoffnung, es könnt Linda sein, die mich aus meinem Schwermut reiß, erlischt als Fine beginnt zu reden.
„Sie hatte es nie leicht im Leben. Es ist schwer für sie sich auf neue Menschen einzulassen, es dauert lange ihre Freundschaft zu gewinnen, ihre wahre Freundschaft. Tom ist eine Konstante in ihrem Leben, sie sind fast wie Geschwister aufgewachsen.
Du bist ihr sehr schnell sehr nahe gekommen, was mich verwundert hat. Irgendwas muss sie in dir sehen, dass sie so reagiert. Aber lass mich dir eines sagen. Verletze sie nicht. Linda ist zerbrechlicher als man im ersten Augenblick annimmt.“, redet sie leise vor sich hin und schaut dabei in die Wellen, die sich vor uns brechen.
„Ich liebe sie. Ich habe nicht vor sie zu verletzen.“, sage ich nach einer Weile Stille ebenso leise.
Fine hat mich etwas erschrocken angesehen, als ich so mir nichts dir nichts meine Liebe zu Linda gestanden hab. Aber ganz verwundert scheint sie nicht zu sein.
Wieder legt sich ein Schweigen über uns. Doch eine Frage brennt mir noch auf der Zunge, wenn ich schon einmal mit Lindas bester Freundin rede.
„Ist da was zwischen Tom und Linda?“, will ich vorsichtig wissen, aus Angst vor der Antwort. Die Physiotherapeutin lässt sich Zeit mit der Beantwortung, denkt lang nach, was mich dazu bringt immer unruhiger zu werden und in dem kalten Sand abgespannt hin und her zu rutschen.
„Bis jetzt nicht, aber es würde mich nicht wundern, wenn sich etwas entwickelt.“, antwortet sie behutsam.
Wir sitzen noch einige Zeit am Strand und hängen unseren Gedanken nach. Als ich merke, wie müde ich nach diesem Tag nun doch bin, begebe ich mich gleich in mein Zimmer.
Micha liegt auf dem Bett und schaut fernsehen. Wortlos mache ich mich bettfertig und lege mich auf meine Seite des großen Doppelbettes. Ich merke nicht wann Micha den Fernseher ausmacht, denn ich schlafe in Sekunden schnelle ein.

 

Mein Wecker klingelt viel zu früh für die Ferien, aber ich wusste ja vorher worauf ich mich eingelassen habe.
Micha lasse ich wie gestern Abend links liegen, ich befinde unsere Freundschaft nach gestern für beendet. Wenn er sich nicht mal für seine Ausdrucksweise entschuldigen kann, dann sehe ich keinen Grund mehr mich mit ihm abzugeben. Klingt das überheblich? Sicherlich, aber ist er Linda gegenüber nicht selbst so überheblich?
Auch wenn es hier eine andere Situation ist und ich nicht sagen kann, ob der gesellschaftliche Druck in Deutschland nicht wieder zu hoch für mich ist, aber jetzt kann ich einfach nicht akzeptieren wie er mit anderen Menschen umgeht, insbesondere mit Linda.
Ich bin am diesen Morgen nicht besonders gut drauf. Meine Gedanken von gestern hängen mir noch nach und der unausgesprochene Streit mit Micha, setzen mir zu. Besonders etwas, dass Fine mir gesagt hat, ist bei mir im Gedächtnis geblieben. Linda hatte es nicht leicht im Leben und deshalb fällt es ihr schwer sich auf Fremde einzulassen. Was bedeutet das? Was ist Linda passiert? Wird sie mich je so nah in sich ran lassen, um es mir zu erzählen?
Über diese Fragen zerbreche ich mir beim Frühstück den Kopf, denn ich sitze allein am Tisch. Keine Ina die mich mit ihren neugierigen Fragen ablenkt. Keine Linda die mich durch ihre pure Anwesenheit auf andere Gedanken bringt.
Von unserer kleinen ‘Reisegruppe‘ sind nur ein paar Halbwüchsige zur gleichen Zeit im Speisesaal wie ich.
Als ich durch die Lobby schlendere, weil ich einfach nicht weiß wohin mit mir, entdecke ich Linda, die ‘Beschützer‘ und Fine auf einer Sofalandschaft im Eingangsbereich. Die Jungs spielen Karten. Fine und Linda schauen mehr oder minder interessiert zu und unterhalten sich.
„Hey!“, grüße ich in die Runde und bekomme ähnliche Grüße zurück. Wieder hängt mein Blick nur an Linda, der dies grade ziemlich unangenehm scheint, denn sie wird sichtlich rot.
„Willst du mitspielen?“, fragt mich Sebastian, der dritte im ‘Beschützerbund‘.
„Klar, warum nicht?“, gebe ich zurück und die anderen setzten sich etwas um, sodass wir gut spielen können. So sitzen wir jetzt jeweils zu dritt auf einer Couch gegenüber den anderen. Je ein Mädchen in der Mitte. Ich habe natürlich darauf geachtet, dass ich neben Linda sitze. Konnte es aber auch nicht verhindern, dass Tom auf ihrer anderen Seite sitzt.
Wir spielen ‘Arschloch‘ und die Mädchen feuern jeweils den Verlierer an. Ich habe eine richtige Pechsträhne, sodass ich ständig das ‘Arschloch‘ bin und sich Linda irgendwann erbarmt und mir hilft. So rücken wir noch enger zusammen und flüstern uns ständig zu wie wir wohl am besten weiter spielen, um aufzusteigen. Als wir endlich ‘Präsident‘ sind fällt mir Linda lachend um den Hals und ich genieße ihre ausgelassene Stimmung.
Meine Aufmerksamkeit lag das ganze Spiel über so sehr auf Linda, dass ich gar nicht bemerkt habe, wie Franz mit Ben und Ina sich zu uns gesetzt hat. Jetzt müssen wir leider aufhören, da unser Vormittagstraining anfängt, aber wir starten es alle anscheinend bester Laune.
Ich kann mich auf dieses Training gar nicht richtig konzentrieren, weil Linda nebenan die Kleinen trainiert. Sie läuft ständig an der Bahn auf und ab, gibt den Kindern mit Händen und Füßen Anweisungen und ruft ihnen zu, sodass sie sie auch unter Wasser hören. Das alles lenkt mich so sehr ab, dass mich sogar die ‘Beschützer‘ überholen.
Das Training ist fast beendet, wir schwimmen nur noch locker aus. Plötzlich habe ich Schmerzen in der Schuler, ein Krampf. Ich kämpfe mich bis zum Schluss durch, aber ich kann es nicht verhindern, dass ich am Ende der Bahn meine Schulter mit schmerzverzerrtem Gesicht massieren muss.
„Leon? Alles in Ordnung?“, spricht mich natürlich Linda an und das Hochgefühl, welches mich immer flutet, wenn ich in ihrer Nähe bin, setzt sofort wieder ein.
„Nur ein Krampf.“, tue ich es ab und hieve mich beschwerlich, weil meine Schulter immer noch ein einziger Muskelklumpen zu sein scheint, aus dem Becken.
„Komm doch nach dem Mittag in mein Zimmer. Fine hat bestimmt etwas, was dir helfen kann.“, lädt sie mich ein und schenkt mir ein Lächeln, dass ich bei ihr noch nie gesehen habe. Im ersten Moment wirkt sie verschüchtert, schaut zu Boden, aber dann strahlt sie mir so offen ins Gesicht, dass ich als Antwort nur dümmlich nicken kann.

 

Tom passt mich ab, als ich mein Zimmer verlassen und zum Essen gehen will. Er scheint nicht grade gut aufgelegt, wie er da an der Wand im Gang lehnt und mich finster ansieht.
„Ich warne dich noch ein letztes Mal, tu Linda nicht weh. Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, bist du Geschichte.“, sagt er dunkel, stößt sich dabei lässig von der Wand ab und baut sich vor mir auf. Er ist wirklich muskulös, viel mehr als ich muss ich mir eingestehen, doch er jagt mir keine Angst ein, da ich wirklich nicht vorhabe Linda in irgendeiner Weise zu verletzen.
Es muss ein komisches Bild sein, wie wir uns hier im Flur gegenüberstehen. Auf der einen Seite Tom, der blonde Schönling mit dem breiten Rücken und dem tiefblauen Augen, der wirkt wie ein Engel, wenn er nicht grade so finster drein schaut. Auf der anderen Seite ich, Leon, der große dunkelhaarige Typ, der mit seinen langen Haaren einem Gothic ähnelt und dessen dunkle Augen nahezu schwarz scheinen. Ich entspreche in diesem Sinnbild wahrscheinlich am ehesten einem Racheengel.
Ich versuche, den langen Moment den wir uns gegenüberstehen, Toms Blick standzuhalten und ihm nicht, aus Eifersucht und Wut, dass er mir so etwas zutraut, an die Gurgel zu gehen.
Scheinbar mache ich meine Sache ganz gut, denn es ist Tom, der den Augenkontakt zuerst abricht und sich zu Fahrstuhl wendet. Dennoch kann ich ein erleichtertes Seufzen nicht unterdrücken und sacke quasi zusammen, als er mir den Rücken zuwendet, da eine Anspannung von mir abfällt, die ich bis jetzt gar nicht gemerkt habe.
Wortlos fahren wir gemeinsam zum Speisesaal und betreten diesen auch Seite an Seite, fast hätte ich laut los gelacht, als ich merke, dass wir sogar im Gleichschritt laufen. Doch dann wird mein Blick, wie von einer fremden Macht geleitet, auf Linda geheftet und alles andere scheint vergessen.
Es ist nur noch ein Platz zwischen Ina und Tom frei, als ich mit meinen Teller zurückkomme, aber besser als gar nichts. Hauptsache in Lindas Nähe.
„Ist das eigentlich ansteckend? Dass mit den komischen Blicken?“, fragt mich irgendwann Ina und stupst mich leicht in die Seite, dass ich ihr Aufmerksamkeit schenke.
„Was? Warum? Wie kommst du denn da drauf?“, will ich etwas verwirrt wissen, vollkommen rausgerissen aus meinen Gedanken um Linda.
„Na weil Linda jetzt auch immer so guckt.“, antwortet sie fröhlich und ich sehe, wie ihre Beine in der Luft baumeln.
„Wen schaut Linda so an?“, versuche ich mal wieder etwas zu barsch herauszufinden, aber Ina scheint sich an mein Temperament mittlerweile gewöhnt zu haben, denn sie tut es ohne auch nur mit dem Wimper zu zucken ab. Ganz im Gegenteil sie verdreht sogar die Augen, als wäre ich der größte Idiot und würde gar nichts verstehen.
Als ich sie eine ganze Zeit lang fragend anschaue verdreht sie noch einmal die Augen, erbarmt sich dann aber und antwortet.
„Na dich, du Dummkopf.“, gibt sie meiner Meinung nach etwas spitz von sich, aber darauf kann ich grade nicht achten. Linda schaut mich an? Verliebt?, wenn Ina bei uns wirklich ähnliche Blicke beobachtet hat. Aber wann? Ständig, eigentlich immer, sehe ich zu ihr, beobachte jede ihrer Bewegungen, aber einen verliebten Blick habe ich von ihr noch nicht bekommen. Sie schaut mich sowieso sehr selten an, für meinen Geschmack viel zu selten.
Unter dieser neuen, irritierenden Information hat mein Herz angefangen zu rasen und es stolpert noch etwas mehr, als ich Lindas Blick begegne. Wieder schenkt sie mir dieses Strahlelächeln und ohne mein Zutun biegen sich auch meine Mundwinkel nach oben. Wie idiotisch dieses Lächeln aussehen muss, will ich mir gar nicht vorstellen. Es interessiert mich aber auch nicht, da Lindas nun noch ein Ticken größer wird, wenn das überhaupt möglich ist. Doch dieser so intensive Moment ist mit einem Schlag vorbei, als Fine Linda unsanft in die Seite stößt und sie damit darauf aufmerksam macht, dass uns der ganze Tisch anstarrt.
Tom betrachtet mich wieder böse, der gleiche Blick den er grade auch im Gang ausgepackt hat. Der Rest schaut eher belustigt. Auch Linda entgeht Toms böser Blick nicht und nun sind es die zwei, die sich ein erbittertes Blickeduell liefern. Fast scheint es so, dass sie nur mit ihren Augen kommunizieren. Ich weiß nicht wer gewonnen hat, aber als wir alle das Essen beendet haben zieht mich Linda hinter sich her auf ihr Zimmer. Fine und Sebastian begleiten uns, da Sebastian irgendein Problem mit dem Knie hat und sich Fine darum kümmern will. Schon praktisch, wenn man eine Physiotherapeutin dabei hat.
So liegen wir (Sebastian und ich) kurze Zeit später auf dem Doppelbett in Lindas und Fines Zimmer. Ich auf dem Bauch, Sebastian auf dem Rücken mit angestellten Bein. An diesem hantiert Fine fachmännisch herum, trägt Salbe auf, dreht und wendet. Derweil ist Linda etwas unschlüssig, wie sie mich ‘behandeln‘ soll. Mit dem Massagegel in der Hand steht sie neben dem Bett und scheint zu überlegen was sie nun macht.
„Setzt dich einfach auf mich drauf.“, bestimme ich nuschelnd, weil ich den Kopf auf meinen verschränkten Armen abgelegt habe. Dass ist zwar nicht besonders bequem, aber so bekomme ich Lindas Duft, der sich schon in dem Kissen festgesetzt hat, nicht voll ab. Allein dieser Abstand reicht, um meine Sinne zu vernebeln und so merke ich erst jetzt, dass meine Aussage vielleicht etwas anzüglich war.
Linda hat dies auch bemerkt und wird prompt knallrot. Sie schaut auf den Boden, versucht ihr Gesicht vor mir zu verstecken. Aber da ich vor ihr auf dem Bett liege habe ich einen fabelhaften Blick in ihr verlegenes Gesicht.
„Komm schon setzt dich auf meinen Po, ich geh schon nicht kaputt.“, lache ich, um die Situation etwas zu entkrampfen und schaffe dies auch. Denn Linda lässt sich wirklich vorsichtig auf meinem Po nieder und beginnt das Gel auf meinen Schultern zu verteilen.
Sie ist sehr angespannt, dass merke ich. Hockt eher auf ihren Knien neben meiner Hüfte, als auf meinem Po. Aber von Minute zu Minute, die sie sanft meine Schultern knetet, entspannt sie sich mehr und irgendwann drückt mich ihr gesamtes Gewicht in die Matratze, doch es ist nicht unangenehm. Der Druck ist gut und schießt mir sofort in die Lenden. Als ich dann noch an die Situation in der Dusche denke, wo sie mir auch die Schultern massiert hat ist es gänzlich um mich geschehen und ich kann grade so ein lustvolles Stöhnen unterdrücken.
Ich muss ganz schnell an etwas anderes denken, sonst bekomme ich hier vor Sebastian, Fine und vor allem vor Linda einen Orgasmus, nur weil sie mir die Schultern massiert. Doch ich schaffe es nicht mich abzulenken, viel zu präsent sind ihre sanften Finger auf meiner Haut, die meine Muskeln durchkneten. Nun muss ich meinen Kopf doch in dem wohlriechenden Kissen vergraben, da Linda nun genau den Muskel getroffen hat, der mir vorhin diese Probleme beschert hat und mir somit heißkalte Schauer über den Rücken schickt und ich ein Stöhnen nicht mehr verhindern kann. Es ist ein tiefes Stöhne, dass aus meiner Seele zu kommen scheint und all die Sehnsucht in sich trägt, die ich nach Linda verspüre.
Den Rest der Massage kann ich nicht wirklich genießen, da ich mit verkrampften Kiefer, tief in Lindas Kissen vergraben versuche nicht zu kommen. Mein Penis drückt sich hart in die Matratze und kleine Schweißperlen stehen mir auf der Stirn, als Linda endlich vom Bett steigt.
Fine und Sebastian sind schon eine Weile fertig und so stehen nun alle drei vor dem Bett und schauen mich erwartungsvoll an.
„Wir müssen zum Training Leon.“, erklärt mir Linda schon etwas genervt, als ich mich nach ein paar Minuten immer noch nicht gerührt habe.
„Ich kann grad nicht.“, bringe ich durch noch immer zusammengebissene Zähne hervor und ernte einen verständnislosen Blick von ihr. Fine und Sebastian lachen derweil laut auf und schieben Linda mit dem Kommentar ‘Leon braucht erstmal eine kalte Dusche hinaus‘.
Mist. Wie konnte diese Situation nur so peinlich werden? Wie soll ich den Fine und Sebastian je wieder unter die Augen treten? Linda? Was wenn sie darauf kommt was mit mir los ist? Sie denkt doch sicher ich bin ein sexbesessenes Monster. Besonders, da es ja nicht die erste Blamage dieser Art ist. Am Freitag hat sie es sogar mit eigenen Augen gesehen, welche Wirkung sie auf mich hat. Doch das heute war noch tausend Mal intensiver.
Um mich gänzlich runter zu fahren lasse ich mir in Lindas und Fines Badezimmer kaltes Wasser über die Handgelenke laufen und spritze mir auch etwas davon ins Gesicht. Als ich in den Spiegel schaue erkenne ich mich selbst fast nicht wieder. Meine Wangen sind gerötet und ich sehe wirklich so aus, als hätte ich grade Sex gehabt.
Irgendwann komme auch ich in der hoteleigenen Schwimmhalle an und stürze mich sofort in die Fluten. Wie beim letzten Training vor diesem Trainingslager wühle ich mich nur so durchs Wasser und bekomme nichts um mich herum mit.
Warum kann ich nicht einfach auf Linda zugehen und ihr von meinen Gefühlen erzählen? Warum kann ich nicht einfach mit ihr glücklich sein? Hier und in Deutschland. Warum ist das alles so kompliziert? Sie scheint doch auch etwas für mich zu empfinden, sonst würde sie sich doch nicht so verhalten. Würde mich nicht so ansehen, wie Ina es sagt. Würde nicht meine Verletzungen behandeln. Und vor allen Dingen würde sie mich nicht küssen, so leidenschaftlich ihre Lippen auf meine pressen.
Ich pralle schmerzhaft mit jemanden zusammen und werde so aus meinen Gedanken gerissen. Verwirrt sehe ich mich um und erkenne Linda, die sich den Kopf hält.
„Alles Okay?“, frage ich außer Atem und merke erst jetzt wie meine Muskeln brennen und beginnen zu zittern.
„Klar, obwohl du einen ganzschönen Dickkopf hast.“, bringt sie beschwerlich hervor und ich sehe, dass ein kleines rotes Rinnsal unter ihrer Badekappe hervorläuft. Sie blutet. Linda blutet. Meinetwegen.
Panisch schaue ich mich um und muss erkennen, dass wir uns natürlich mitten auf der Bahn befinden und unser Zusammenstoß nicht bemerkt wurde.
„Schaffst du es bis zur Leiter? Komm häng dich einfach an meine Schultern ich ziehe dich.“, fordere ich immer noch angsterfüllt von Linda. Sie scheint nicht so ganz zu verstehen was ich von ihr will, kommt aber meiner Anweisung nach.
Meinen immer noch zitternden Muskeln beschwerlich entgegenarbeitend bringe ich Linda zum Rand. Auch sie zittert, bei ihr kommt es aber nicht davon, dass sie ihre Gefühle am Wasser ausgelassen hat, sondern von unserem Zusammenstoß und meine Panik steigt noch ein bisschen mehr an. Was wenn sie eine Gehirnerschütterung hat? Oder schlimmer?
Fine scheint uns nun doch bemerkt zu haben und hilft Linda die Leiter hinauf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht entfernt Linda ihre Badekappe, während ich auch aus dem Becken steige. Zum Vorschein kommt eine erhebliche Platzwunde über Lindas rechter Augenbraue und zu meiner Panik kommt ein extrem mulmiges Gefühl in der Magengegend, um nicht Übelkeit zu sagen.
Ich kann mich durch meine zu stark belasteten Muskeln und die tiefe Sorge um Linda kaum noch auf den Beinen halten, dennoch schaffe ich es den einen Schritt auf sie zuzumachen. Ich stehe direkt vor ihr, lege meine zitternde Hand auf ihre blasse Wange und fahre mit den Fingerspitzen bis zu ihrer Wunde. Als ich diese berühre zieht Linda vor Schmerz zischend Luft ein und mein Blick huscht panisch zu ihren Augen, die sich in diesem Moment unnatürlich verdrehen. Linda sackt in sich zusammen und ich kann grade so, rein instinkgesteuert, verhindern, dass sie hart auf dem Boden aufschlägt. Aber halten kann ich sie auch nicht richtig, sodass sie auf die kalten Fliesen gleitet und auch meine bebenden Knie unter mir nachgeben und ich somit neben einer bewusstlosen Linda hocke.
Auch die anderen scheinen nun auf uns aufmerksam geworden zu sein, denn eine richtige Menschentraube bildet sich um uns.
Fine hat augenscheinlich das Kommando übernommen und delegiert allen irgendeine Aufgabe zu. Alexander hält Lindas Beine in die Höhe. Sebastian holt ein Handtuch und breitet es über ihr aus. Tom beruhigt Ina und Ben, die weinend auf die bewusstlose Linda starren. Fine selbst besorgt von irgendwoher einen Verbandskasten und beginnt Lindas Wunde zu versorgen. Einzig Franz und ich scheinen zu keiner Bewegung fähig. Doch das stimmt nicht ganz, stelle ich grade fest als ich wieder auf Lindas Gesicht hinabblicke. Ihr Kopf liegt in meinem Schoß, ich habe keine Ahnung wie er dahin gekommen ist und ich streichle ihr unablässig durch die nassen Haare. Meine Hände scheinen nun noch mehr zu zittern als vorhin und erst als eine Träne auf Lindas wunderschönes aber viel zu blasses Gesicht fällt merke ich, dass ich weine.
Ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen ist. Franz hat mittlerweile seinen Körper wieder unter Kontrolle und hat die Trainingseinheit abgebrochen und alle auf ihre Zimmer geschickt. Auch Ina und Ben sind weg, allerdings hat sich nicht Tom darum gekümmert sondern Sebastian. Tom hockt nun auf der anderen Seite von Lindas immer noch bewusstlosen Körper und hält ihre Hand. Neben der Sorge um Linda kehrt nun eine weitere Emotion zurück in mein Bewusstsein. Eifersucht. So huscht mein Blick ständig zwischen Lindas Gesicht und ihrer Hand, die Tom streichelt, hin und her.
Mein Adrenalinspiegel sinkt nun beträchtlich ab und Schmerzen stoßen an die Oberfläche. Jeder einzelne Muskel in meinem Körper schmerzt und auch wenn ich es wöllte ich könnte mich nicht bewegen. Aber die Schmerzen in meinem Kopf überschatten auch dies. Mein Schädel hämmert so sehr, dass es mir so vorkommt er könnte jeden Moment explodieren.
Ewigkeiten scheinen zu vergehen und nichts verändert sich, ehe Linda ein schmerzvolles Stöhnen von sich gibt und ihre Hand (leider nicht die, die von Tom gehalten wird) nach ihrer mittlerweile bepflasterten Wunde greift. Als sie diese berührt ächzt sie erneut und schlägt flatternd die Lider auf.
Erleichterung flutet mich und ich kann die wiederholten Tränen auf meinem Gesicht nicht verhindern.
Etwas verwirrt blickt sich Linda in der Runde um, doch ich kann nicht länger an mich halten. Muss sie sofort küssen, sonst scheine ich zu vergehen vor Sehnsucht. So liegen meine Lippen in der nächsten Sekunde auf Lindas. Fest, ungestüm, voller Liebe. Es dauert gefühlte Unendlichkeiten bis Linda den Kuss erwidert. Mehr noch sie vergräbt ihre frei Hand in meinen Haaren und zieht mich noch näher an sich.
Ich bin es, der den nächsten Schritt wagt und meine Zunge über ihre Lippen gleiten lasse. Ohne zu zögern öffnet sie ihren Mund und unsere Zungenspitzen berühren sich. Ein Feuerwerk explodiert in meinem Inneren und alle Schmerzen sind vergessen. Nun gleitet auch ihre zweite Hand, die bisher in Toms lag (Ha!) in meine Haare.
Vorsichtig greife ich in Lindas Rücken, sodass wir uns beide aufsetzten können, denn auch wenn dieser Kuss wundervoll, gigantisch und zauberhaft ist, so bereitet mir unsere Position auf dem kalten Boden zunehmend Schwierigkeiten.
Irgendwann lösen wir uns schwer atmend voneinander und wieder schleicht sich dieses idiotische Grinsen auf meine Lippen, aber auch Linda strahlt mir lächelnd entgegen. Aber es hält nicht lange. Als sie sich unserer Position hier auf dem Boden, unter dem wachsamen Blicken von Fine, Alexander, Franz und Tom bewusst wird flutet nun endlich wieder etwas Blut ihre Wangen und sie senkt verlegen den Blick.
Fine hock sich neben uns und stellt Linda zahlreiche medizinische Fragen, die sie alle nur mit einem Nicken oder Kopfschütteln beantwortet und dabei die ganze Zeit meinen mit ihrem Blick gefangen hält. Ihre Zähne maltraktieren währenddessen unentwegt ihre Unterlippe und ich wünschte sie würde es lassen, denn diese Geste treibt mir erneut an diesem Tag das Blut in die Lenden.
Ich bekomme nicht viel mit um mich herum, fixiere mich vollkommen auf Linda und so wundere ich mich sehr, als ich meine Umgebung wieder wahrnehme und mich mit Linda allein in ihrem Zimmer befinde.
Jetzt. Jetzt oder nie. Das ist meine Chance ihr meine Gefühle zu offenbaren. Doch wie soll ich anfangen? Welche Worte sind die richtigen?
„Es tut mir leid, dass wir zusammengestoßen sind. Ich war so im Wahn… bin einfach nur im Tunnel geschwommen.“, beginne ich leise, knete dabei meine Hände und richte meinen Blick auf eben jene.
„Ich mag dich. Ich mag dich schon so lange, aber ich bin einfach zu feige um diese Gefühle öffentlich zuzulassen. Ich habe so etwas noch nie gefühlt. Es tut mir fast körperlich weh ständig in deine Nähe zu sein, dich aber doch nicht berühren zu dürfen. Besonders hat mir deine kühle Art verletzt. Ich kannte dich so nicht und dann behandelst ausgerechnet du mich so abweisend. Du hast dich vor mir verschlossen und zurückgezogen und es hat mir schier das Herz zerrissen.
Natürlich habe ich mich auch aufgeführt wie der größte Idiot, aber ich will das ändern. Ich will dir nicht mehr wehtun, weder körperlich noch sonst wie.
Ich bin so durcheinander in letzter Zeit, weil mich meine Gefühle einfach wahnsinnig machen. Deshalb bin ich am Freitag und auch heute so durchs Wasser gepflügt. Ich musste mich einfach von dieser Achterbahn ablenken.
Irgendwie kann ich auch mit niemanden darüber reden. Micha hat es bei mir einfach nur verschissen, weil er sich abfällig über dich geäußert hat und andere Freunde hab ich nicht. Micha kann ich ja nun auch vergessen.
Was ich eigentlich sagen will ist. Linda ich mag dich wirklich sehr und du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf.“, rede ich mich immer schneller werdend um Kopf und Kragen. Ich muss tief Luft holen, da ich bei meinem Redeschwall anscheinen nicht geatmet habe.
Ich starre weiterhin auf meine verknoteten Hände und warte auf eine Antwort. Je länger ich warte desto mehr kommt mir mein Vortrag total irrsinnig vor. Was hab ich nur wieder für Bockmist von mir gegeben? Warum hab ich ihr von Micha erzählt? Warum konnte ich mich nicht kurz fassen?
Verunsichert hebe ich meinen Blick, halte es nicht mehr länger mit der Ungewissheit aus. Wie reagiert Linda?
Sie weint. Mit starren Blick auf mich laufen ihr stumme Tränen über die Wange. Sie gibt keinen Ton von sich, wirkt paralysiert.
Warum weint sie? Ich kann mit ihrer Reaktion so gar nichts anfangen. Hab ich irgendwas gesagt, dass sie hätte verletzten können? Akribisch versuche ich mir meine genauen Worte ins Gedächtnis zu rufen, aber es ist sinnlos. Ich habe so schnell und losgelöst von meinem Hirn gesprochen, dass ich mich nicht mal an die Hälfte des gesagten erinnern kann.
„Sag etwas.“, bitte ich Linda nach einer Zeit flüsternd, da mir ihr Verhalten keinen Aufschluss über ihre Gefühle gibt. Ich weiß einfach nicht, ob es Freude oder Trauer ist, die diese Tränen auslösen. Auch ihre Augen verraten mir nichts. Soweit ich das durch die Tränen erkennen kann tost in ihnen ein Sturm. Graue Wolken über der stürmischen See. Doch verbirgt sich dahinter nur ein kurzes Sommergewitter oder der drohende Weltuntergang?
„Leon…“, bringt sie mit zitternder Stimme hervor, bevor diese unter ihren Emotionen wegbricht. Mein Blick klebt wieder an ihr, ich sauge jede ihrer Bewegungen auf, als wären es die letzten die ich von ihr sehen werde. So entgeht mir auch nicht, dass sie schwer schluckt und dann erneut ansetzt.
„So etwas hat noch nie jemand zu mir gesagt. Ich…“, wieder bricht sie ab und holt zitternd Luft. Ich halte es vor Anspannung kaum noch aus, will ihr sie Situation aber auch nicht noch schwerer machen, indem ich sie zu etwas dränge.
„Ich mag dich auch.“, stößt sie plötzlich hervor und ich kann sie nur anstarren. Mein Gehirn braucht unendlich lang, diese Information zu verarbeiten. Fast merke ich wie sich die Rädchen in meinem Kopf drehen und immer und immer wieder ihre Worte analysieren, um den Sinn dahinter auszumachen.
Linda mag mich. Sie mag mich. Mich. Ein Sommergewitter das sich nun verzieht.
Nachdem diese Erkenntnis nun endlich vollkommen in mein Bewusstsein vorgedrungen ist, falle ich regelrecht über Linda her. Ich presse mein Lippen auf ihre und dränge mich so nah an sie, dass sie rückwärts auf das Bett fällt. Doch uns beide stört es nicht. Linda erwidert meinen Kuss ebenso stürmisch und ich schwebe auf Wolke sieben.
Zeit und Raum verschwimmen endgültig um mich herum, als ich zaghaft Lindas Köper erkunde. Sie noch enger an mich ziehe und sich unsere Lippen an einander festsaugen. Zwischenzeitlich müssen wir uns voneinander lösen, um Luft zu holen. Hier macht es sich zum Vorteil, dass wir durchs Schwimmen gut trainierte Lungen haben.
Doch als wir beide die Erkundungen des jeweils anderen Körper beenden und unser Finger sich in der Haarpracht des Gegenübers vergraben, fahre ich abrupt zurück. Der Schmerz in meinem Kopf ist zurück und ich befühle die Stelle, die sich als erstaunliche Beule herausstellt.
„Nicht nur ich habe einen Dickkopf.“, gebe ich schmunzelnd wider. Schlagartig setzt sich auch Linda auf, befühlt meine Beule und haucht zarte Küsse darauf, welche mir heißkalte Schauer über den Rücken treiben.
„Wir sollten uns mal wieder bei den anderen blicken lassen, sonst denken die noch wir machen sonst was.“, sage ich beschwingt und stehe endgültig von Bett auf.
Auffordern halte ich Linda meine Hand entgegen, doch sie ergreift sie nicht. Sie wirkt verlegen, aber es liegt nicht an meiner Anspielung eben. Was hat sie? Will sie sich nicht mit mir zeigen?
Linda kniet auf dem Bett und betrachte eingehend die Decke, welche sie zwischen ihren Fingern malträtiert. Sicher kaut sie auch wieder auf ihrer Unterlippe rum, doch ich kann es nicht sehen. Ich hocke mich vor sie, suche ihren Blick und stelle lächelnd fest, dass ich Recht habe.
„Ich hatte noch nie… Ich war noch nie… Das ist das erste Mal…“, setzt sie ein paar Mal an beendet ihren Satz aber nicht. Ich zwinge sie, mit einem Finger unter ihrem Kinn, mich anzusehen und sofort verhaken sich unsere Blicke.
„Ich war noch nie mit einem Jungen zusammen.“, platzt sie heraus und schiebt leise, dass ich es nur im Zusammenhang schließen kann ein ‘Wenn wir das überhaupt sind‘ hinterher.
„Natürlich sind wir zusammen, wenn du es auch möchtest. Und wenn ich ehrlich sein soll… ich war auch noch nie mit jemandem zusammen.“, gestehe ich leise uns streiche ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. Entgeistert schieß ihr Kopf wieder in die Höhe, denn ihr Blick hatte sich erneut gesenkt. Mit einem leichten Nicken bestätige ich nochmals meine Aussage und ernte ein Stirnrunzeln.
Diesmal kann ich den Drang nicht wiederstehen Linda die Falten gleit zu streichen, die auf ihrem schönen Gesicht entstehen, während sie ergründet ob ich die Wahrheit sage.
Kurz entschlossen greife ich nach ihrer Hand und ziehe sie hinter mir her zur Tür, doch mit jedem Schritt verstärkt sie ihren Wiederstand und an der Tür angelangt entreißt sie mir ihre Hand. Ich drehe mich zu ihr um. Linda steht mit vor der Brust verschränkten Armen da und ihre vorhin noch so blassen Wangen, werden jetzt von einem wütenden Rot bedeckt, dass mich wieder dümmlich grinsen lässt. Auch in dieser Situation sieht sie einfach nur heiß aus. Wie sie da nur im Badeanzug und Handtuch vor mir steht und mich wütend anfunkelt. Moment. Badeanzug? Handtuch?
Langsam schaue ich an mir herab und muss feststellen, dass ich kein Kleidungstück mehr als Linda am Körper habe. Badehose und Handtuch.
Mit der flachen Hand haue ich mir vor die Stirn, was meiner Beule nicht sehr bekommt und beobachte wie Linda erst beginnt zu Schmunzeln und dann in schallendes Gelächter ausbricht. Ich stimme mit ein.
„Gut, vielleicht sollten wir uns doch erst anziehen und uns dann zu den anderen gesellen.“, kann ich hervorbringen, als ich mich endlich soweit beruhigt habe.
Mit einem großen Schritt bin ich wieder bei Linda und drücke ihr einen Kuss auf die Lippen, ehe ich ihr Zimmer verlasse.

 

Wir treffen uns im Gang wieder und sofort verflechten sich unsere Hände miteinander. Am liebsten würde ich, wie vorhin einfach mit ihr auf dem Bett liegen, in ihren Armen liegen und sie küssen, sie berühren, sie ansehen, sie riechen… Doch ich möchte auch das Glück, dass im Moment das vorrangige Gefühl in mir ist, in die Welt hinausschreien und jeden zeigen, dass Linda zu mir gehört.
Das idiotische Grinsen verschwindet nun gar nicht mehr von meinem Gesicht, aber es stört mich nichts. Nichts kann mich ärgern, solange ich Linda an meiner Seite habe, ihre Hand in meiner spüre.
Die ‘Beschützer‘, Fine, Franz, Ina und Ben treffen wir in der Lobby an, sie sitzen in einer der Sofaecken und die Jungs spielen mal wieder Karten. Ich lasse mich auf die Couch fallen und Linda setzt sich neben mich. Am liebsten würde ich sie auf meinen Schoß nehmen, sie ganz eng bei mir haben, aber das ist eine der wenigen Sachen, bei denen ihr Gewicht stört. Dafür ist sie schlicht und ergreifend zu schwer und das weiß sie auch, denn Linda ist keinesfalls dumm. Aber auch ohne sie auf meinen Beinen sitzen zu haben findet Linda einen Weg mir so nah wie möglich zu sein. Sie legt einfach ihre Beine über meinen Schoß und schmiegt sich wie ein Kätzchen an meine Seite, sodass ihr Kopf in meiner Halsbeuge liegt und ich meine Wange an ihren Scheitel lehnen kann.
Einen Nachteil hat die ganze Sache mit der Nähe, ich kann Linda nicht mehr jede Sekunde beobachten. Ihr in dieser Position ins Gesicht zu schauen ist unmöglich, sodass ich meinen Blick in der Runde schweifen lasse. Auch um einzuschätzen was die anderen von dieser neuen Situation denken.
Ina und Ben versuchen unsere Position nachzustellen und es sieht einfach zu goldig aus. Ben scheint nicht sonderlich angetan von Inas Idee und er verzieht angeekelt das Gesicht, lässt aber alles über sich ergehen.
Sebastian und Alexander interessieren sich mehr für ihr Kartenspiel, als für uns. Nur Tom wirft mir immer wieder strenge Blicke zu. Linda scheint davon nichts mitzubekommen. Ich merke nur, wie sie gedankenverloren über meine Brust streicht und die Konturen meiner Muskeln nachfährt.
Fine strahlt mir entgegen, als sich unsere Blicke treffen und bei so viel Enthusiasmus, der mir von ihr entgegenschlägt, verbreitert sich mein idiotisches Lächeln unwillkürlich und ich habe das Gefühl mein Grinsen ist so breit, dass es meine Ohren erreicht.
Franz. Er ist der letzte unserer trauten Runde auf den mein Blick trifft und auch der Einzige, dessen Blick ich nicht deuten kann. Er wirkt nachdenklich, sieht zwar in unsere Richtung schaut aber durch uns hindurch. Worüber denkt er nach? Macht er sich Sorgen um Linda? Wie steht er unserer Beziehung gegenüber? Beziehung, dieses Wort in Verbindung mit Linda und mir klingt einfach nur fantastisch.
Wie sitzen solange in dieser Konstellation zusammen, bis es Zeit für das Abendessen wird. Allerding hab ich nicht wirklich Appetit. Mein Kopf schmerzt noch immer und ich befürchte ich habe mindestens auch eine leichte Gehirnerschütterung.
Als wir alle langsam aufstehen merke ich, dass Linda schon fast an meiner Schulter schläft und entscheide, dass es wohl für uns beide das Beste ist ins Bett zu gehen. Ich tausche einen schnellen Blick mit Fine aus und sie gibt mir wortlos zu verstehen, dass ich ihren medizinischen Segen habe.
Linda wehrt sich nicht, als ich mit ihr im Arm einen anderen Weg als der Rest einschlage. Ich begleite sie bis vor ihre Tür, küsse sie zur Verabschiedung innig und gehe dann in mein Zimmer. Als ich Bett liege, gehen mir die Ganzen Höhen und Tiefen des Tages nochmal durch den Kopf, aber in der Gewissheit, dass ich Linda endlich meine Gefühle gestanden habe und wir nun zusammen sind, schlafe ich schnell ein. Ein Traum von Linda und mir, der nun kein utopischer Gedanke mehr ist, begleitet mich durch die Nacht.

 

Die nächsten Tage vergehen wie im Fluge. Alles fühlt sich auf einmal viel einfacher an, leichter. Ich habe das Gefühl ich könnte alles erreichen, Bäume ausreißen, solang nur Linda an meiner Seite ist.
Unsere Zeit hier in Kroatien ist schon fast wieder vorbei, nur noch drei Tage dann reisen wir wieder ab.
Ich schlendre beschwingt Richtung Lindas und Fines Zimmer, da ich die Damen zum Frühstück abhole. Nach meinem fröhlichen Klopfen wird mir von Fine die Tür geöffnet und ihre Mine verschlechtert meine Laune augenblicklich. Sie begrüßt mich nicht charmant und aufgeschlossen wie die letzten Tage, nicht mal ein Lächeln hat sie auf den Lippen.
Was ist passiert? Sofort schrillen alle meine Alarmglocken. Ist was mit Linda? Geht es ihr gut? Ruppig stoße ich Fine zur Seite und suche hektisch das kleine Zimmer nach Linda ab. Sie sitzt auf der Bettkante, zusammengesunken. Weint sie?
Bekümmert hocke ich mich vor sie und sehe eine trübe See, die alle Melancholie der Welt in sich zu tragen scheint. Linda weint, aber es sind nicht die üblichen tosenden Wellen in ihren Augen, irgendwas ist anders aber ich kann nicht bestimmen was. Sie wirkt einerseits tief traurig, auf der anderen Seite aber befreit, losgelöst.
Ihre Augen sind schon rot gerändert, Linda weint schon eine ganze Weile und scheint so schnell auch nicht aufzuhören.
„Sweety, komm her.“, befehle ich sanft und ziehe sie mit mir hoch in meine Arme. Sofort vergräbt sie ihren Kopf in meiner Halsbeuge und schluchzt auf. Ihre Hände krallen sich in meinem T-Shirt fest, als wäre sie eine Ertrinkende und ich der rettende Anker.
„Ssshhh, alles ist gut. Was ist denn passiert?“, versuche ich in Erfahrung zu bringen, da ich langsam aber sicher mir der Situation überfordert bin. Doch Linda schluchzt nur leise weiter an meiner Schulter. Ich werfe Fine einen Hilfe suchenden Blick zu, doch sie wendet sich mit einem bedauernden Augenaufschlag, der mir sagen soll, dass muss sie dir selbst sagen, zur Tür und verlässt fast geräuschlos das Zimmer.
In Ermangelung einer Alternative lasse ich Linda weinen, versuche ihr nur so viel Trost zukommen zu lassen wie ich kann, auch wenn ich nicht weiß weswegen.
„Mein Vater ist tot.“, schnieft sie irgendwann leise und ich muss mich einen Moment sammeln, da ich nicht damit gerechnet habe. Weder, dass Linda etwas sagt, noch mit dem Inhalt dieser Aussage.
Ich weiß einfach nicht was ich machen, sagen, soll und so bleibe ich weiterhin so stehen. Linda fest im Arm.
Hatte sie ein gutes Verhältnis zu ihm? Wie war ihr Vater? Würde sie jetzt lieber zu Hause sein? Bei ihrer Mutter? Ich glaube nicht, dass die Beziehung zu ihrem Vater besonders gut war. Warum hätte sie sich sonst in Franz ein ‘Ersatzvater‘ suchen sollen?
Wir sitzen inzwischen auf dem Bett, da Linda begonnen hat zu zittern und ich nicht sicher war, ob sie zusammenbricht. Sie liegt in meinen Armen, ich wiege sie sanft und flüstere ihr immerzu ins Ohr, dass ich bei ihr bin.
„Er hat mich missbraucht.“, entkommt es Linda irgendwann zitternd und ich halte in meiner Bewegung inne.
„Jahrelang hat er mich geschlagen. Mich angefasst… und… er hat… mich gezwungen… gezwungen… zum Essen.
Ich war immer ein wählerisches Kind, aber bei meinem Vater musste ich essen was auf den Teller kommt. Egal, ob ich mich vor Ekel bereits auf den Teller übergeben habe oder nicht.“, berichtet Linda und wird von Wort zu Wort wütender. Bei der Erinnerung, wie sie zum Essen gezwungen wurde musste sie sogar jetzt noch würgen.
Ich fühle mich noch hilfloser, unfähiger ihr zu helfen, als zu dem Zeitpunkt zu dem sie nur geweint hat. Wie reagiert man angemessen auf sowas? Gibt es eine passend Erwiderung? Kann man in so einem Moment, die richtigen Worte finden? Jemandem die Last nehmen?
„Ich war nie dünn, aber seitdem sich meine Eltern getrennt haben, habe ich unnatürlich viel zugenommen, weil ich endlich das Gefühl hatte selbst zu bestimmen was und wieviel ich esse. Ich habe dieses Gefühl geliebt.
Meine Eltern sind schon 7 Jahre geschieden und seitdem hatte ich keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Erst vor 3 Wochen hat er sich wieder gemeldet, er wolle mich sehen, da er bald stirbt. Ich habe mich mit Händen und Füßen gegen meine Mutter gewehrt, aber sie hat mich ins Krankenhaus geschleift, hat mich an sein Bett gestellt. Er hatte einen Hirntumor, war nur noch der Schatten eines Menschen. Kaum noch als mein Vater zu erkennen und trotzdem hätte ich am liebsten auf ihn eingeprügelt, ihn angeschrien und gefragt warum er mir das angetan hat. Aber ich hab meine Wut runtergeschluckt, so wie ich alles geschluckt habe, wenn er es wollte.“, sprudelt nun ihre ganze Geschichte aus Linda raus. Doch ich kann mich nicht darauf konzentrieren, nicht noch einmal reflektieren, was sie mir soeben alles erzählt hat, denn mit den letzten Worten ist sie aufgesprungen und ins Bad gerannt.
Ich folge ihr ermatte, völlig überfahren von ihrer Offenheit und ihrer Geschichte. Es war vorhersehbar, dass ich sie über der Kloschüssel vorfinde. Linda würgt und würgt, aber es kommt nur Magensäure und Speichel. Bei diesem trockenen, intensiven Übergeben hebt sich auch meine Magen, aber ich schlucke tapfer die Galle wieder runter und kümmere mich um Linda. Sie braucht mich jetzt.
Es dauert eine Weile, bis sich ihr Magen wieder beruhigt hat und ich streiche ihr, die gesamte Zeit, liebevoll über den Rücken.
Wie sitzen wieder auf ihrem Bett, nachdem Linda sich die Zähne geputzt hat und hängen unseren Gedanken nach. Sie weint nicht mehr, viel mehr wirkt sie jetzt bedrückt.
„Eigentlich weiß ich gar nicht warum ich vorhin so geweint habe. Ich bin nicht traurig, dass er tot ist.
Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich nicht um meinen Vater trauere? Bin ich eine furchtbare Tochter, weil ich mich sogar befreit fühle? Ist es nicht üblich einem Elternteil nachzuweinen? Grade, wenn man sonst keine Verwandten hat?“, fragt Linda niedergeschlagen und ich begreife schlagartig, dass ihr gesamte frohe Natur, ihre Ausgelassenheit, nur ein Schutzschild ist. Sie versucht sich, ihre kleine gequälte Seele, zu schützen. Vielleicht nicht nur mit der vorgetäuschten Fröhlichkeit, vielleicht auch mit ihrem Essverhalten. Natürlich war die Befreiung vom Esszwang ihres Vaters der Hauptgrund, aber ich habe das unbestimmte Gefühl, dass sie absichtlich nichts dagegen unternommen hat.
Ich muss mich zwingen meine trübsinnigen Gedanken um Linda zu verscheuchen, sie braucht mich im Hier und Jetzt, nicht in meinen Gedanken.
„Du bist kein schlechter Mensch, du bist wundervoll. Niemand kann dich zwingen zu trauern, schon gar nicht bei dieser miserablen Beziehung zu deinem Vater.“, besänftige ich sie in ihren finsteren Gedankengängen und ziehe sie zu mir, um sie zu küssen. Ich muss sie von diesen niederschlagenden fixen Ideen ablenken und wenn das die einzige Möglichkeit ist, tue ich es gern.
Ein Klopfen an der Tür reißt uns auseinander und ich sehe in Lindas Blick, dass sie es bedauert unterbrochen wurden zu sein.
Fine schiebt ihren Kopf ins Zimmer und scheint die aktuelle Lage einschätzen zu wollen, ehe sie den Raum betritt. Hinter ihr kommt auch Franz ins Zimmer und ich sehe die ‘Beschützer‘ vor der Tür stehen. Doch sie bleiben zu Glück draußen.
Als Linda Franz bemerkt springt sie sofort auf und wirft sich in seine Arme. Sie beginnt zwar wieder zu weinen, aber ich bin mir sicher, dass Franz damit umgehen kann, dass sie bei ihm in guten Händen ist.
So lasse ich mich mehr oder weniger bereitwillig von Fine aus dem Zimmer ziehen. Tom stürzt sofort auf sie zu und belagert sie mit Fragen.
Ich fühle mich plötzlich ermattet, müde und einfach nur am Ende meiner mentalen Kräfte. Lindas Geschichte, ihre Art sie zu erzählen und ihre Gefühle im Bezug darauf haben mir ganz schön zugesetzt und so lasse ich mich einfach entkräftet an der Wand hinuntergleiten.
„Leon? Ist alles okay?“, will Fine nach einer unbestimmten Zeit, die ich stumpf vor mich hingestarrt habe, wissen.
„Klar.“, bringe ich hervor und schaue von den Punkt an der Wand vor mir, zu ihr rauf. Die ‘Beschützer‘ sind weg und Fine setzt sich zu mir auf den Boden.
„Hat sie es dir erzählt?“, bohrt sie weiter und ich nicke. War es das was Fine letzte Woche am Strand meinte? Das was Linda das Leben schwer gemacht hat? Sie das Vertrauen verlieren lies? Ich hoffe inständig, dass es alles war. Mehr kann doch ein einzelner Mensch nicht ertragen.
„Sie mag dich wirklich. Nicht mal Sebastian, Alexander oder Sophie kenne die ganze Wahrheit.
Ich hoffe für sie, dass sie jetzt, da er tot ist, endlich damit abschließen kann. Sie hat es verdient glücklich zu werden.“, bekennt Fine leise und lässt mich hier zurück.

 

Das Mittagessen verbringe ich allein und obwohl ich wirklich Hunger hab, stochere ich nur lustlos auf meinem Teller herum.
„Du bist jetzt also mit Linda zusammen. Ich wette nicht mal sie wird dich ranlassen, einen Schlappschwanz will keiner.“, werde ich plötzlich von der Seite angeblafft und schrecke aus meinen Gedanken hoch. Micha funkelt mich wütend an, ist aber im nächsten Moment schon wieder verschwunden, mit einem überheblichen Grinsen.
Seit über einer Woche reden wir nicht mehr mit einander und jetzt fährt er mich so unter der Gürtellinie an? Was soll der Scheiß? Wo liegt eigentlich sein verdammtes Problem?
Ich könnte schon wieder irgendwo da gegenschlagen. Meine Gedanken um Linda und ihre Familie, werden durch unbändige Wut ersetzt. Werden alle so reagieren? Hanna und Gina auf jeden Fall. Kann ich das ertragen? Kann ich es verkraften, dass sie sich über mich und meine Gefühle lustig machen? Oder gar über Linda?
Ich kann nicht länger sitzen bleiben. Wie im Tunnel rausche ich aus dem Speisesaal, ohne meinen Teller abzuräumen oder etwas davon zu essen.
Die Eiche steht noch an Ort und Stelle und ist Ziel meines Zorns. Meine noch nicht komplett verheilten Knöchel platzten sofort wieder auf und Blut bleibt an der Rinde haften, doch es interessiert mich nicht. Der Schmerz verdrängt die bohrenden Fragen und ich heiße ihn willkommen.
Erst als meine Hand beginnt blau anzulaufen kann ich mich selbst aus meinen Rausch herausbringen. Ein Rausch, der mir sämtliche, schreckliche Szenarien einer öffentlichen Beziehung zu Linda in Deutschland vor Augen geführt hat. Hier, an diesem so weit entfernten Ort, waren die Schwierigkeiten, denen wir uns zu stellen hatten winzig, im Gegensatz zu dem was in Deutschland auf uns wartet.
Ich kann meine Hand kaum noch bewegen und muss die andere unterhalten, um das Blut nicht auf den teuer scheinenden Teppich tropfen zu lassen, als ich die Lobby des Hotels wieder betrete.
Mein Blick huscht suchend umher. Was hab ich mir nur dabei gedacht? Wie soll ich denn jetzt wieder aus diesem Schlamassel herauskommen? Doch meine Fragen erübrigen sich, als mein Blick Linda trifft. Sie sitzt auf Franzs Schoß und Fine, die ‘Beschützer‘ und die Kleinen sitzen mit in der Sofaecke.
Sie scheint zu bemerken, dass ich sie angesehen habe, obwohl es höchstens 2 Sekunden waren, denn nun sieht auch sie mich an. Erst ist ihr Blick fragend, liebevoll und noch ein wenig traurig. Als ich mich nicht bewege, sie nur stumm durch den Raum anschaue, weil ich einfach nicht weiß was ich tun soll, wandert ihr Blick an mir herab und fällt auf meine Hand. Sofort weiten sich ihre Augen, sie springt auf und kommt schnell auf mich zu.
„Was hast du gemacht? Warum…?
Wir müssen ins Krankenhaus, dass lässt sich nicht einfach wegtupfen. Ich werde erst einmal ein Handtuch besorgen und Franz kümmert sich um den Bus.“, redet sie hektisch vor sich her, während sie mich in Richtung Sofaecke schieb, sodass Franz ihre letzte Ansage auch hört. Als wir bei der Sitzgruppe ankommen starren alle ungläubig auf meine Hand und ich komm mir total bescheuert vor. Wieso kann ich nicht mal meine Wut im Zaum halten? Dass war doch früher nie mein Problem. Aber in Bezug auf Linda wird es dazu. Ich bin nur froh, dass ich noch niemanden, außer mir, körperliche Schmerzen zugefügt habe.
Innerhalb kürzester Zeit hat mich Linda in den Bus verfrachtet, ich habe es über meine Frustration kaum mitbekommen.
Wir sitzen in der ersten Reihe, Franz auf der anderen Seite des Ganges. Sonst ist keiner dabei. Ein feuchtes Handtuch umwickelt meine blutende, immer mehr anschwellende Hand. Ich halte meinen Unterarm mit der anderen Hand, weil ich das Gefühl habe dieses Körperteil gehört nicht mehr zu mir, ist ein Fremdkörper und fällt ab, wenn ich es nicht halte.
„Micha hat mir einen blöden Spruch reingedrückt.“, sage ich irgendwann in die angespannte Stille im Bus. Franz tut so als höre er nicht zu und Linda nickt bekümmert.
Im Krankenhaus übernimmt Franz das Kommando und versucht den Ärzten und Pflegern mit Händen und Füßen zu erklären was los ist. Nach einem kompletten Durchlauf in allen möglichen Abteilungen und nach Barzahlung eines horrenden Betrags sitzen wir wieder im Bus.
Meine rechte Hand ziert nun ein ansehnlicher Gips und Training ist in nächster Zeit tabu. Linda verflechtet meine gesunde Hand mit ihrer und schmiegt sich an mich.
„Lass dich nicht von ihm provozieren, er ist es nicht wert.“, sagt sie leise, hebt unsere Hände an ihre Lippen und drückt mit einen Kuss auf den Handrücken.
Ich drehe mich zu ihr und will meine freie Hand über ihre Wange in ihr Haar gleiten lassen, wie ich es zu gern tue. Aber der Gips hindert mich daran und es ist nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass ich ihn innerlich oder mit deutlicher Wut verfluche. Mich selbst und meinen Zorn, meine Feigheit verfluche.
„Aber du bist es wert verteidigt zu werden.“, kontere ich, auch wenn Michas Spruch auf meine Kosten gegangen ist. Ich ziehe Linda näher und drücke meine Lippen sanft auf ihre. Ich hoffe sie merkt dadurch wie sehr ich sie liebe, denn ausdrücken kann ich es nicht. Ich kann nicht mal die berühmten drei Worte sagen, aus Angst. Angst Linda geht es zu schnell und sie wendet sich wieder von mir ab. Und aus Angst vor meiner eigenen Courage, Angst die Bindung zwischen uns könnte zu stark werden, um sie wieder zu lösen, wenn der gesellschaftliche Druck zu schwer wird. Wenn es mir doch nicht möglich ist mich Micha, Hanna oder anderen zu widersetzten, zu zeigen, dass Linda nicht minderwertig ist. Im Gegenteil, sie ist so viel mehr wert als alle anderen zusammen. Das alles lege ich in diesen Kuss und hoffe Linda versteht nur einen Bruchteil meiner Botschaft.
Das Nachmittagstraining hat bereits begonnen als wir wieder im Hotel ankommen, dass uns Franz auf die Zimmer gehen lässt. Linda und ich gehen gemeinsam in ihr Zimmer und kuscheln uns auf das Bett.
Es ist eine der wenigen Gelegenheiten, die wir alleine genießen können und so zögere ich nicht lange und lege wieder meine Lippen auf ihre. Auch wenn ich das in den letzten Tagen gefühlte tausend Mal getan habe, jagt es immer noch Stromstöße durch meinen Körper.
Unser Küsse reichen von zart, fast keusch und unsicher, bis hin zu leidenschaftlich, wild und ungestüm.
Immer wieder entweichen uns Beiden dabei, untrügliche Zeichen unserer Lust. Wir stöhnen in der Mund des anderen und erkunden mit den Zungen eben jenen. Dass alles spüre ich auch schnell in meiner Hose, ein Beule zeichnet sich ab, die sich bald fast schmerzhaft gegen den harten Jeansstoff drückt.
Ich wage einen Vorstoß, in dem ich Linda bis zum Saum ihres Shirts fahre und mit der Hand darunter gleite. An dieser Stelle warte ich bedacht, um ihre Reaktion abzuschätzen, doch es erfolgt keine. So lasse ich meine Hand weiter hinauf gleiten, streichle sie feinfühlig an der Taille aufwärts.
Ich fühle mich unbeholfen, da ich soweit noch nie mit einem Mädchen war. Was soll ich machen? Ist Linda auch so wild auf mich, wie ich auf sie? Macht es ihr Spaß? Ist es ihr unangenehm? Werden wir miteinander schlafen? Mein erster Geschlechtsverkehr? Ihrer?
Meine Finger sind mittlerweile bis zu ihrem BH vorgestoßen und der zarte Stoff lässt meine Fingerkuppen kribbeln, als ich darüber streiche.
Ich möchte, muss sie sehen. Schießt mir ein klarer Gedanke durch den Kopf und verdrängt die leisen Zweifel. So schiebe ich in Windeseile meine gegipste Hand auch unter Lindas Oberteil und ziehe es ihr über den Kopf, so schnell kann sie gar nicht reagieren.
Für diese Aktion mussten sich allerdings unsere Lippen trennen und so schauen wir uns jetzt deutlich außer Atem in die Augen. Lindas sind lustverhangen, innen tief blau und nach außen hin grau werdend. Diese Kombination habe ich noch nie bei ihr gesehen und ein kleines Schmunzeln entsteht auf meinen Lippen, als mir bewusst wird, dass ich dies erreicht habe. Nur durch mich leuchten ihre Augen jetzt so, bilde ich mir ein.
Unsere Blicke sind in einander verhakt und ich wage es nicht diesen Moment zu zerstören, ich fühle mich Linda näher als je zuvor. Obwohl mehr Abstand zwischen uns herrscht, als in den letzten Tagen üblich. Ich kann auch nicht den Anblick ihres Körpers genießen, da ich diese intensiven Augen nicht verlieren will. Ich halte an diesem Moment fest, am besten bis auf ewig.
„Ich werde nicht mit dir schlafen. Nicht hier. Nicht jetzt.“, reißt mich Linda aus meinen Gedanken, meiner Betrachtung. So abrupt, dass ich aus meiner halbliegenden Position etwas nach hinten falle und nun ausgestreckt neben ihr auf dem Bett liege. Diese Ansage hat mich im wörtlichen Sinne umgehauen.
Ich atme immer noch schwer von unseren Küssen und betrachte angestrengt die weiße Decke.
Sie klang so selbstsicher, so bestimmt, empfindet sie nicht dasselbe für mich, wie ich für sie? Warum will sie es nicht?
„Es ist nicht so, dass ich nicht auch ein gewisses Verlangen nach dir habe. Aber ich bin einfach noch nicht bereit, mir geht das alles zu schnell.“, gesteht sie mir nachdenklich und ich wende meinen verunsicherten Blick zu ihr. Sie liegt ebenso wie ich auf den Rücken und betrachtet die Decke, dabei beißt sie sich auf der Unterlippe herum, was meine Lenden nach dieser abrupten Abkühlung sofort wieder aktiviert.
Ich drehe mich zu ihr, meine Kopf auf dem Arm abstützend und befreie sanft ihre gepeinigte Lippe aus den Fängen ihrer Zähne. Als ihre vollen Lippen nun wieder frei sind und halbgeöffnet noch anziehender auf mich wirken drücke ich ihr einen schnellen Kuss auf.
„Okay. Du bestimmst das Tempo.“, beschwichtige ich. Obwohl ich nicht weiß, wie lange ich es noch aushalte, wie lange ich meine Lust noch zügeln kann. Ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr, aber zurzeit kann ich das Verlangen danach kaum bändigen, dass Verlangen nach Linda nur schwer im Zaum halten.
Im nächsten Augenblick steht Fine mit den ‘Beschützern‘ im Raum und ich wundere mich, dass das Training anscheinend schon beendet ist. Wo ist die Zeit nur hin? Zumal die drei Jungs schon geduscht und umgezogen sind.
„Raus aus den Federn ihr Turteltauben, wir haben uns ein Abendprogramm ausgedacht, dass trübsinnige Gedanken vergessen lässt.“, erklärt Alexander aufgelassen und klatscht fröhlich in die Hände.
„Ein Besäufnis auf euerm Zimmer ist kein extrem einfallsreiches Abendprogramm.“, kontert Fine augenverdrehend und schnapp sich ein paar Sachen mit denen sie ins Bad verschwindet, denn sie trägt noch ihre Hallensachen.
Alexander zieht hinter ihrem Rücken ein paar Grimassen, wird aber von Sebastian durch einen Hieb in die Seite zurecht gewiesen. Nur Tom steht stumm da und betrachte mich und Linda mal wieder mit bohrenden Blick.
So sitzen wir nach dem Abendessen, bei dem ich mir wirklich den Bauch vollgeschlagen habe, weil ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe, im Zimmer der ‘Beschützer‘, welches um Längen größer ist als die Zweier-Zimmer. In der Mitte des Raumes ist genug Platz mit 6 Personen in einem lockeren Kreis zu sitzen, dass tun wir auch.
Reichlich Alkoholika und andere Getränke stehen herum und ein Kartenspiel liegt in der Mitte, welches zurzeit aber noch nicht benutzt wird. Noch betreiben wir Smalltalk und nippen verhalten an unseren Bechern. Die Stimmung ist etwas angespannt. Niemand möchte die großen Themen des Tages anschneiden, alle versuchen so gut wie möglich nicht auf meine Hand oder Lindas Vater einzugehen. Sobald auch nur das Wort Vater erwähnt wird scheinen alle Linda zu fixieren und ihre Reaktion abschätzen zu wollen. Tom nimmt hierbei eine besondere Rolle ein, denn augenscheinlich befindet er sich in einem Zwiespalt. Er kennt keine genauen Details, insbesondere von dem was heute Morgen passiert ist, aber er will auch Linda nicht leiden sehen. Möchte keine negativen Gefühle in ihr auslösen, indem er sie danach fragt. Irgendwie hat sich unsere lasche Unterhaltung zu einem kleinen Spiel entwickelt. Jemand stellt eine Frage und alle in der Runde müssen sie beantworten, wer nicht antworten will muss trinken. Fine ist an der Reihe.
„Hab ihr schon mal jemanden eures Geschlechts geküsst?“, will sie feixend wissen und bei den Jungs fallen sofort die Kinnladen runter.
„Ich schon und um genau zu sein, nicht nur eine Person. Trotzdem stehe ich nicht auf Frauen.“, beantwortet sie als Erste ihre eigene Frage und wirft dabei einen kleinen Seitenblick auf Linda die leicht errötend zu Boden sieht.
„Ja, ich hab schon eine Frau geküsst und ich würde es wieder tun!“, entgegnet Linda mit fester, trotziger Stimme und steckt Fine die Zunge raus. Die ‘Beschützer‘ bekommen den Mund gar nicht wieder zu und auch ich muss trocken schlucken, bei dem Gedanken, dass sich die zwei schon geküsst haben. Hat Sophie dabei auch mitgemacht? Hat Linda auch sie geküsst oder nur Fine? Was machen die Mädels nur wenn sie allein sind? Eigentlich dachte ich Linda wäre unschuldig, ein braves Mädchen, doch grade tun sich ungeahnte Abgründe vor mir auf, dabei kann ich nicht mal sagen, dass es mir missfällt. Welcher Mann würde bei diesem Szenario nicht angeturnt werden? Mich lässt es jedenfalls nicht kalt und schon wieder werden meine Lenden aktiviert.
Ich versuche mich zu zügeln, während ich am Rande mitbekomme, wie Tom und Sebastian verneinen. Alexander hingegen trinkt einen Shot und die gesamte Runde weiß somit, dass er schon mal einen Kerl geküsst hat. Alle brechen sofort in Gelächter aus und Alexander läuft knallrot an.
„Ich dachte es ist eine Frau. Sah gar nicht so schlecht aus die Transe.“, verteidigt er sich, als die Lacher leiser werden.
Nun ist es an mir und das wissen auch die anderen, denn alle schenken mir ihre Aufmerksamkeit. Soll ich ehrlich sein? Warum nicht, ich habe nichts zu verbergen und die Transengeschichte von Alexander kann ich sowieso nicht überbieten.
„Ich war betrunken und mein damaliger bester Freund (nein nicht Micha) auch. Wir hatte noch keine Erfahrungen, nicht mal küssen und wollten halt üben.“, gebe ich schulterzucken zu und bin sofort die Aufmerksamkeit wieder los, weil meine Story wirklich nicht interessant ist. Viel mehr liegt nun das Augenmerk auf Tom und Sebastian.
„Da haben wir also noch zwei Jungfrauen, dass passt ja wie die Faust aufs Auge.“, betont Fine fröhlich und schaut die Zwei erwartungsvoll an. Ich glaube sie ist schon ganz schön betrunken. Angewidert blicken Sebastian und Tom von Fine zum jeweils anderen und zurück und schütteln wild ablehnend den Kopf.
„Gut, Vorschlag. Da ihr Jungs ja auf so Zeug steht, werden Linda und ich uns auch küssen, aber erst nach euch.“, versucht Fine die zwei zu locken und ich weiß nicht was ich von diesem Angebot halten soll. Einerseits bin ich, beziehungsweise mein kleiner Freund, total begeistert von der Idee. Auf der anderen Seite ist Linda offiziell meine Freundin und ich möchte sie mit keinem teilen, auch nicht mit einer Frau. Ich möchte der Einzige sein, der diese wundervollen Lippen berührt, der die Weichheit dieser feinen Haut spürt. Und so kämpfen Lust und Eifersucht in mir ohne ein deutliches Zeichen eines Gewinners.
Tom und Sebastian beraten sich kurz tuschelnd und nicht eindeutig gleicher Meinung, doch nach einer ganzen Weile wispernder Laute aus ihrer Richtung scheinen sie sich geeinigt zu haben. Beide blasen hart die Luft aus und werfen dann einen Blick in die Runde. Tom ist es, der zaghaft nickt, ehe sich die zwei Jungs sich gegenüber drehen.
Sie knien jetzt vor einander und bewegen sich mit geschlossenen Augen und gespitzten Lippen Millimeter für Millimeter vorwärts. Erst nach gefühlten Stunden berühren sich ihre Münder für einen Bruchteil einer Sekunde, bevor sie blitzartig wieder auseinanderfahren und sich stark angeekelt über die Münder reiben.
„Wollen wir den Jungs mal zeigen wie es richtig geht?“, fragt Fine an Linda gewandt, nachdem auch Tom und Sebastian wieder auf ihrem Platz sitzen.
Linda wirft mir einen fragenden Blick zu, scheint fast um Erlaubnis zu bitten und es irritiert mich, sodass ich nur mit der Schulter zucke. Sie dreht sich wieder zu Fine und auf beiden Gesichtern zeichnet sich ein kleines, erwartungsvolles Grinsen ab. Was wird das jetzt?
Fine beginnt Lindas Arm hinauf zu streichen und im Gegenzug versenkt Linda ihre Finger in den Bobschnitt von Fine. Fines Hand endet auf Lindas Wange und es wirkt magisch, wie sich die beiden in die Augen sehen. Obwohl sie sich nur berühren drückt sich meine Erektion schon schmerzhaft gegen meine Jeans und die Lust hat eindeutig die Eifersucht besiegt.
Wie in Zeitlupe, aber immer noch schneller als die Jungs, bewegen sich ihre Gesichter auf einander zu. Ihre Lippen treffen sich halbgeöffnet und sofort beginnen sie miteinander zu spielen. Man sieht Zungen, Zähne und Lippen. Man merkt, wie sich die ganze Atmosphäre im Raum ändert, eine Spannung entsteht, die wieder meine Eifersucht anstachelt. Doch es ist nur ein kleines Aufbäumen, viel zu erotisch ist dieser Anblick. Ich stelle mir vor, wie ich Lindas Mund küsse. Gehe ich sogar die Bewegungen mit? Keine Ahnung, ich bin wie im Wahn. Aber die ‘Beschützer‘ auch. Als ich meinen Blick für einen Moment abwende, sehe ich wie gebannt auch sie sind, wie sehr auch sie sich konzentrieren müssen nicht gleich hier abzuspritzen. Sondern sich später im Bett dieses Bild noch einmal vor Augen zu führen und es sich selbst zu besorgen. So ist auch mein Plan, denn wenn sie mich auf der einen Seite so scharf macht, mich aber auf der anderen Seite nicht ran lässt muss ich ja auf Handarbeit zurückgreifen. Ich bin doch auch nur ein Mann.
Mein Blick klebt wieder an den Mädchen, die sich immer noch auf höhst erotische weise die Zunge in den Hals stecken. Plötzlich durchbricht ein tiefes, animalisches Stöhnen die spannungsvolle Atmosphäre und zerstört den Moment. Fine und Linda kommen feixend auseinander und ich werfe einen verärgerten Blick in die Gesichter der männlichen Anwesenden. Wer war es der gestöhnt hat? Wer hat diesen Moment vernichtet? War es sogar eventuell ich?
Die anderen wirken genauso durcheinander, es ist nicht auszumachen wer diesen Laut von sich gegeben hat. Meine Augen bleiben bei Tom hängen. Er sieht Linda an, doch irgendwas ist anders an seinem Blick. Alle haben mir versucht einzureden die beiden hätten nur eine geschwisterliche Beziehung, doch das was ich jetzt in Toms Augen sehe, sagt mir etwas anderes. Es facht meine Eifersucht mehr an, als es der Kuss zwischen Fine und Linda getan hat. Ich will meine Hände zu Fäusten ballen und schon wieder auf etwas (am besten Tom) einschlagen doch mein Gips hindert mich daran überhaupt diese Hand zu beugen.
Linda lenkt meine Aufmerksamkeit von dieser stark beunruhigenden neuen Erkenntnis auf sich. Ich weiß nicht, ob sie meine Gefühle so genau lesen kann aber ihr Arm auf meinem Rücken lässt ein Teil meiner Wut verfliegen und mich zu ihr sehen. Noch ehe ich meinen Kopf ganz zu ihr gewendet habe umfasst sie mein Gesicht mit ihren sanften Händen und drückt mir begierlich ihre Lippen auf meine.
Dieser Kuss ist so viel mehr, als der eben gesehene. So voller Liebe, Leidenschaft und Verlangen. Jetzt bin ich es auf jeden Fall, der der stöhnt und es ist mir egal.
Nur wiederwillig lasse ich Linda sich von mir lösen, doch ich halte sie im Nacken fast, um meine Stirn an ihre zu lehne. Hektisch atmend sehen wir uns an und ich kann mein idiotisches Grinsen nicht unterdrücken.
„Du bist der Wahnsinn.“, hauche ich Linda entgegen und eine leichte Röte breitet sich auf ihren Wangen aus, ehe sie unser Kontakt unterbricht und sich wieder der Runde zuwendet.
Es entstehen jetzt kleinere Gespräche. Linda redet mit Fine und ich beteilige mich bei den Jungs, aber unsere Finger sind verflochten. Ein sichtbares und auch ein unsichtbares Band scheinen uns zu verbinden.
Der Alkoholspiegel aller ist mittlerweile so hoch, dass die Stimmung ausgelassener wird. Die Gespräche werden lauter und die Aussprache undeutlicher. Besonders Fine, die vorhin schon reichlich betrunken wirkte, erzeugt jetzt den Eindruck als würde sie gleich einschlafen, da ihr Alkoholpegel so hoch liegt, dass sie die Augen kaum mehr offen halten kann geschweige denn einen vernünftigen Satz herausbekommt.
„Linda hat noch gar keine Frage gestellt.“, wirft Sebastian, ohne irgendeinen Zusammenhang in die Runde und es dauert einen Moment bis wir alle geschnallt haben, worauf er hinaus will.
Linda lässt sich auf den Rücken fallen, betrachtet nachdenklich die Decke und überlegt. Vom einem auf den anderen Moment ist es im Zimmer unheimlich still, weil alle wie gebannt auf Lindas Frage warten. Sie macht es aber auch spannend.
„Glaubt ihr an Gott?“, fragt sie schließlich und im ersten Augenblick scheint eine Last von uns allen abzufallen, da es sich um eine eigentlich einfache und vor allem nicht sexuelle Frage handelt. Doch wenn man zwei Sekunden länger darüber nachdenkt, ist diese Frage gar nicht so leicht und schon gar nicht dumm.
Fine bekommt nur noch ein Kopfschütteln zustande, ehe sie zu einem der Betten krabbelt und sich in die Federn wirft. Nur Sekunden später sind ein zufriedenes Schnaufen und leise Schnarchgeräusche zu vernehmen.
„Nein.“, gibt Tom lediglich zur Antwort.
„Ich bin katholisch erzogen wurden, aber ich kann nicht sagen ob ich an Gott glaube.“, erklärt Sebastian.
Alexander gibt auch nur ein schnaubendes ‘Nein‘ von sich.
Den ‘Beschützern‘ ist meine Antwort anscheinend nicht wert darauf zu warten, denn sie packen die Karten aus und beginnen zu spielen.
Ich denke lange über die Frage nach und merke Lindas Blick in meinem Rücken, denn sie liegt immer noch auf dem Boden. Mit einem Seufzen lasse ich mich ebenfalls nach hinten fallen und so liegen wir neben einander auf dem Teppichboden und betrachten die weiße Decke.
„Ich persönlich glaube nicht, dass es einen Gott gibt. Aber ich finde es faszinierend, dass es Menschen gibt, die an eine höhere Macht glauben, die ihr Schicksal in die Hand einer nicht existierenden Kraft legen.“, gebe ich zu. Ich weiß nicht wie Linda darüber denkt, deshalb scheue ich mich zu ihr zu sehen und betrachte weiterhin die Decke.
„Ich finde es salopp gesagt einfach nur dumm, dass so viele Leute auf Gott oder wie man einen höhere Macht auch immer nennen will, vertrauen. Ich bin nicht gegen sie, jeder soll glauben was er will und man sollte sich auch nicht wegen des Glaubens bekämpfen. Es ist doch nun wirklich völlig egal ob dieses nicht existente Wesen Gott, Allah oder sonst wie heißt. Im Grunde ist alles derselbe Quatsch.
Aber vorauf ich eigentlich hinaus will ist, dass ich es unverantwortlich finde zum Teil sein ganzes Leben, seine Verantwortung, in die Hände dieser Macht zu legen. Selbstverantwortung braucht Intelligenz und wer sich dieser nicht stellt ist meiner Meinung nach dumm und naiv.
Die Bibel ist eine einzige Lügengeschichte aber Millionen lesen sie und gehen davon aus, dass es die Wahrheit ist, hinterfragen gar nicht.
Die Weltanschauung, grade der großen Religionen, sind so mittelalterlich, dass im Christentum grade mal anerkannt ist, dass sich die Erde wirklich um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Der Urknall ist schon lange wissenschaftlich bewiesen, alles ist wissenschaftlich bewiesen oder wiederlegt, aber da sie ja mit der Dummheit, der Leichtgläubigkeit der Menschen Geld verdienen, viel Geld verdienen, und es schon seit mehreren Tausend Jahren gut läuft, Warum etwas ändern?“, beendet Linda ihre faszinierende Rede über ihren Standpunkt über den Glauben. Ich bin von Tag zu Tag, von Minute zu Minute, beeindruckter von dieser Frau.
Ich kann gar nicht darauf antworten. Linda hat alles gesagt und die perfekten Worte gefunden. Ich sollte meine eigene Religion gründen, ich bete Linda jetzt schon an.
Linda schein auch gar keine Antwort zu erwarten, denn sie setzt sich, ohne mir einen Blick zu schenken auf und beteiligt sich am Kartenspiel der Jungs.
„Es gibt so viele verschiedene Weltanschauungen, jeder sollte die passend für sich finden und andere mit seiner Meinung in Ruhe lassen.“, wirft Sebastian irgendwann in die Runde. Wir spielen immer noch Karten, sind aber nicht vom Thema der Religionen oder das Glaubens weggekommen.
Nach dieser Aussage liegt die Aufmerksamkeit der Runde, neben dem Kartenspiel, auf Linda, denn sie hat bis jetzt zu allem einen intelligenten, wiederlegenden oder zum Nachdenken anregenden Kommentar geleistet. Linda nickt stumm, denkt aber auch schon wieder über eine Erwiderung nach. Wie klug ist dieses Mädchen?
„Ja. Vielleicht ist es aber auch ganz anderes und wir leben in einer totalitär fremdgesteuerten Welt á la Matrix. Was wenn wir unsere Handlungen gar nicht selbst bestimmen sondern von einer höheren Macht, egal ob Gott, Außerirdische oder schlicht ein Computer, kontrolliert werden.
Oder Sokrates hatte Recht mit seinem Höhlengleichnis und wir müssen begreifen, durch Intelligenz erkennen, dass uns nur Abbilder der Realität umgeben und wir durch hinterfragen und kritischem Reflektieren ergründen müssen was die Wahrheit ist.“, stellt sie eine neue Theorie in den Raum, die mich, wie schon so oft an diesem Abend, staunen lässt.
„Ist das Höhlengleichnis nicht von Platon?“, fragt Tom, wie ich finde etwas Spitz nach. Was stört ihn denn jetzt schon wieder? Ist es ihm nicht Recht, dass Linda einfach mehr weiß als er? Oder regt er sich darüber auf, dass es mir gefällt, dass sie so viel weiß?
„Nein, in vielen Lehrbücher wird es zwar Platon zugeschrieben, er hat es als Sokrates Schüler aber nur für ihn niedergeschrieben. Die Idee an sich ist von Sokrates.“, antwortet Linda gleichgültig, als hätte sie Toms Tonlage gar nicht bemerkt.
Kurz darauf beenden wir unsere traute Runde. Alexander wagt dabei einen Versuch Fine zu wecken, denn sie liegt in seinem Bett. Doch sie schläft wie ein Stein und lässt sich nicht wach bekommen. So zuckt er nur mit den Schultern und legt sich lediglich in Boxershorts neben sie. Ob das Fines Freund in Deutschland gefallen würde? Aber ich glaube der Altersunterschied von fast 10 Jahren schafft den angemessenen Abstand, sodass Alexander seine Finger bei sich lässt. Ich glaube zum Teil sehen die Jungs in Fine so eine Art Ersatzmutter und sie übt schon mal für den Zeitpunkt, wenn sie wirklich Kinder hat.
Linda und ich verabschieden uns von den Jungs und machen uns neckend auf den Weg zu ihrem Zimmer. Ich will ein Gentlemen sein und sie bis vor die Tür bringen und mich dann galant verabschieden. Der Weg zu ihrem Zimmer zieht sich gewollt in die Länge, da wir entweder knutschend an irgendeiner Wand lehnen oder uns gegenseitig pieken und kitzeln, sodass man kaum einen Schritt vor den anderen setzten kann. Die Stimmung ist ausgelassen und wir wecken wahrscheinlich grade das ganze Hotel auf, aber was stört es uns? Ich möchte Linda immer so sehen, dass ist keine aufgesetzte Fröhlichkeit, dass ist die pure, einzigartige Linda und meine Liebe für sie steigt in diesen Minuten noch mehr, wenn das überhaupt möglich ist.
Stolpernd und lachend kommen wir doch vor ihrer Tür an und es entsteht ein magischer Moment. Wir stehen uns nur gegenüber, in plötzlicher Stille und betrachten uns. Ihre Augen sind kaum im Dämmerlicht des Hotelflurs zu erkennen, aber sie leuchten so intensiv blau, wie ich es nie zuvor gesehen habe. Sie sind so voller Leben, Leidenschaft und Liebe, dass mein Herz droht überzulaufen.
Zärtlich, ganz vorsichtig, um diesen Augenblick nicht zu zerstören streichle ich Linda eine Strähne ihres weichen Haares hinters Ohr und lasse dann meine Hand auf ihrer Wange liegen. Sanft, in einer Geste tiefsten Vertrauens schmiegt sie sich an mich.
Ich kann nicht mehr an mich halten, auch ich habe Hormone, denen ich irgendwann nachgeben muss, sonst zergehe ich vor Leidenschaft.
Fast barsch drücke ich sie gegen die Tür und lasse meine Lippen auf ihre knallen. Meine Hand wandert automatisch in ihr Haar und schon wieder verfluche ich mich, dass die andere dieser nicht folgen kann. In diesem Kuss steckt hauptsächlich Lust, eine Lust, die mich aufzufressen droht, wenn ich ihr nicht bald nachgebe. Doch ich muss mich zügeln, ich habe Linda versprochen, dass sie das Tempo bestimmt, dass ich nicht über sie herfalle.
Meine Erektion drückt schon wieder unsanft gegen meine Hose und so zwinge ich mich diesen Kuss zu beenden, ehe es kein Zurück mehr gibt. Schwer atmend lehne ich meine Stirn gegen Lindas, wie vorhin schon im Zimmer der ‘Beschützer‘.
„Guten Nacht, Sweety.“, seufze ich und will mich schon abwenden, da hält mich Linda am Handgelenk fest.
Sie sieht mir fest in die Augen, ehe sie sich etwas auf Zehenspitzen stellt, um mir ins Ohr flüstern zu können.
„Fine ist nicht da, wir hätten das Zimmer für uns. Aber kein Sex.“, haucht sie bittend die schönsten Worte ins Ohr, die es zu geben scheint. Nur ein kleines Manko bleibt. Aber es muss ja kein Geschlechtsverkehr sein, es gibt andere Dinge, die einen zum Höhepunkt bringen können und wenn sie mich schon in ihr Zimmer einlädt werde ich ihr mindesten eine davon zeigen.
Woher kommt denn in letzter Zeit meine Begierde? Mein unbändiges Verlangen nach Sex, einem Orgasmus? Ich habe noch nie mit einer Frau geschlafen, keinerlei Erfahrung im Bezug darauf, aber es fühlt sich an, als wüsste ich instinktiv was zu tun ist, als wäre ich der geborene Frauenheld. Doch das will ich gar nicht sein, ich will nur eine Frau und diese zieht mich grade hinter sich her, in ihr Hotelzimmer.
Vor dem Doppelbett bleiben wir stehen und eine Sekunde hat es den Anschein, Linda würde ihre Entscheidung mich mitgenommen zu haben schon bereuen. Dann schnappt sie sich aber schnell ein Shirt und verschwindet ins Badezimmer. Die Tür lässt sie dabei offen, was für mich ein enormer Beweis für ihr Vertrauen ist, dennoch wage ich es nicht auch nur in diese Richtung zu blicken. Ich höre lediglich, wie sie sich Zähne putzt und bin unentschlossen was ich nun tun soll. Zögernd befreie ich mich von meinen Sachen, bis ich nur noch eng anliegende Boxershorts trage.
Immer noch unschlüssig stehe ich neben dem Bett, als Linda wiederkommt. Sie trägt nur das Shirt und höchstwahrscheinlich einen Slip, aber genau sagen kann ich das nicht, da ihr das Shirt bis zur Mitte der Oberschenkel geht. Sie hat ihre Haare geöffnet und augenscheinlich noch einmal durchgekämmt, denn es leuchtet fast golden im silbrigen Mondlicht, dass die einzige Lichtquelle hier ist.
Sie legt ihre Sachen auf einen Stuhl und stellt sich dann mir gegenüber. Ich komme mir vor wie ein kleines Kind vor Weihnachten und meine Unterhose kann kaum mehr meine Erektion halten. Kann sie es sehen? Sieht sie, wie ich auf sie reagiere? Schüchtert es sie ein? Oder macht es sie an?
Wie schauen uns tief in die Augen und ich überlege mir, wie ich vorgehen werde. Ich werde ihr einen Höhepunkt verschaffen, auch ohne meinen Penis in sie zu versenken. Ahnt sie mein Vorhaben? Oder warum ist sie jetzt so unentschlossen? Soll ich den nächsten Schritt machen?
Gleichzeitig, was uns beiden ein Schmunzeln auf die Lippen treibt, heben wir die Decke auf unsere jeweiligen Seite an und schlüpfen darunter.
Nun liegen wir uns gegenüber, ungefähr ein halber Meter trennt uns und wir lesen wieder in den Augen des anderen. Eigentlich ist unser Augenkontakt zu keinem Zeitpunkt abgebrochen.
Ich sehe in Lindas Augen die ganzen Strapazen des Tages. Der Tot ihres Vater, seine Misshandlung. Die Sorge um meine Gesundheit, dabei gleitet ihr Blick für einen Bruchteil einer Sekunde zu meiner eingegipsten Hand. Der im Wesentlichen entspannte Abend und die damit zusammenhängende leichte Trübung der Sinne durch den leichten Rausch, den wir beide haben.
Meine Fingerspitzen prickeln und ich kann nicht länger an mich halten sie nicht zu berühren. Zärtlich streiche ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und Linda schließt genießerisch die Augen, als meine Fingerspitzen ihre samtene Haut berühren. Ich fahre weiter mit den Fingerkuppen die Konturen ihres Gesichts nach, diese weichen Züge, die grade Nase, die geschlossen Augen. Ich beende meine zarte Erkundung bei ihren Lippen, fahre erst vorsichtig darüber, bevor ich mit Druck meinen Daumen über ihre Unterlippe gleiten lasse. Im nächsten Augenaufschlag ersetzte ich meine Finger durch meine Lippen, sauge ihren Geschmack gierig in mich auf.
Ich bin elektrisiert, lasse mich von der Lust leiten, die schon so lange in mir herrscht. Ihre Zunge, ihre Geschmack und ihr Duft vernebeln mir die Sinne und jagen mir Stromstöße durch den Körper, welche mir das Gefühl geben mein Penis müsste gleich platzten so sehr schwillt er an. Sie so neben mir liegen zu haben bringt mich um den Verstand, macht mich wahnsinnig und lässt keinen klaren Gedanken mehr zu. Jetzt lenkt mich nur noch die Leidenschaft, nur mein Instinkt befähigt mich meine Hand, die in ihr seidenweiches Haar gewandert ist, zu lösen. Ich lasse sie auf Erkundungstour gehen, streiche über Lindas Hals, ihr Schlüsselbein, was durch den großen Ausschnitt des Shirts offen liegt und wage mich noch weiter hinab. Ich komme bei einer ihrer perfekten, vollen Brüsten an und stelle mit Genugtuung fest, dass sie keinen BH trägt. Ihr Nippel reckt sich mir schon nach kleinster Berührung durch den dünnen Stoff entgegen. Ich genieße die Schwere ihrer üppigen Brust, in dem ich sie sanft massiere, bevor ich mich Lindas nun deutlich abzeichnenden Nippel zuwende. Während ich diesen zwischen Daumen und Zeigefinger zwirble, bis mir Linda wenig beherrscht in den Mund stöhnt, kann ich nicht verhindern, dass ich mich mal wieder wegen meiner ungezügelten Aggressivität verfluche. Wie viel besser wäre dies, wenn ich beide Hände voll einsetzten könnte? Ich würde die zweite in ihrem Haar vergraben, oder die andere, sich mir entgegenreckende Brust in Angriff nehmen. Doch mein eigenes unkontrolliertes Verhalten verwehrt mir dies.
Lindas erneutes Stöhnen bringt mich in die Realität zurück, in der ich meine Zunge tief in ihrem Mund vergrabe und ihren harten Nippel zwischen meinen Fingern reibe.
Ich wage mich weiter hinab, gleite auf ihrem Shirt bis zum Saum und fahre vorsichtig darunter. Meine Hand ruht auf ihrem Bauch und ich gebe Linda die Möglichkeit sich daran zu gewöhnen, meine Lippen verlassen dabei zu keinem Zeitpunkt die ihren. Erst als ich mir hundertprozentig sicher bin, dass sie mir der derzeitigen Situation klar kommt lasse ich meine Hand wieder hinab gleiten. Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Meine Finger wandern in ihren Slip und versenken sich zwischen ihren heißen, feuchten Schamlippen.
Linda versucht sich mir zu entziehen, dreht ihren Kopf zur Seite, sodass ich kaum noch meine Lippen auf ihren halten kann. Doch ich kann nicht zulassen, dass sie das hier beendet und so presse ich meine Lippen noch fester auf ihre, beiße ihr leicht in die Lippe und beginne meine Finger zu bewegen.
Nicht nur Lindas Atmung stockt, als ich ihre Klitoris erreiche und sie sanft massiere. Mein Puls schießt in ungeahnte Höhen und der Lusttropfen durchnässt an der Spitze meines Penis die Boxershorts.
Ich belasse meinen Daumen an dieser empfindlichen Stelle, gleite aber mit den restlichen Fingern weiter, noch etwas tiefer, bis ihren Eingang finde. Zaghaft lasse ich einen Finger hineingleiten und kann bei mir selbst bei dieser Hitze, dieser Lust, ein Stöhnen nicht unterdrücken. Linda seufzt im gleichen Moment lustvoll auf und trennt unsere Lippen endgültig. Doch nicht um sich mir zu entziehen, viel mehr, weil wir beide nicht mehr genug Sauerstoff bekommen. Mein Mund wandert nun über ihr gesamtes Gesicht, küsst, beißt, leckt. Während mein Finger tiefer in sie eindringt und diesen Vorgang ein paar Mal sorgfältig wiederholt.
Ein zweiter Finger gleitet in Linda unterdessen mein Damen noch immer, jetzt druckvoller, ihre Klitoris massiert. Lindas Atemzüge sind kaum noch von ihrem Stöhnen zu unterscheiden und auch ich kann das pulsieren meines Penis nicht leugnen. Mein gegipste Hand bewegt sich unbeholfen auf meiner Boxershorts aus und ab, um mir etwas Linderung zu verschaffen.
Meine Bewegungen in Linda und auch auf meiner Erektion werden hastiger, Lindas Atem flacher. Bis sie in einem letzten befreienden Stöhnen kommt und mich einfach nur durch die Geräusche die sie macht, ihrem hastigen Atem der mein Ohr streift, ihren speziellen Duft, der mich umhüllt und ihre Muskeln, die sich um meine Finger zusammenziehen, mitreist. Ich ejakuliere heftig in meine Unterhose.
Das war eindeutig das Beste, was ich in meinem bisherigen Leben erlebt habe. Nie zuvor habe ich eine solche Befriedigung erlebt. Ich fühle mich als würde ich schweben, mit Linda, auf Wolke sieben.
Immer noch schwer atmend lasse ich mich neben sie fallen und betrachte sie eingehend, als ich meine Augen wieder öffnen kann, vor denen grelle Blitze getanzt haben.
Lindas Brustkorb hebt und senkt sich schnell, ihre Augen sind lustverhangen, als auch sie mich ansieht. Ist sie sauer auf mich? Habe ich etwas falsch gemacht? Ist sie wütend, weil ich weiter gemacht habe, obwohl sie sich mir entziehen wollte?
„Das war… das… einfach… unglaublich.“, stößt sie immer noch um Luft ringend hervor und ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
„Du bist unglaublich.“, ist das einzige was ich erwidern kann.
Dann drücke ich ihr einen schnellen Kuss, auf die geschwollenen Lippen, ehe ich ins Bad verschwinde, um wenigstens etwas dieser Peinlichkeit aus der Welt zu schaffen. Ich säubere mich so gut wie möglich, aber eine neuer Boxershorts kann ich nicht herbeizaubern, ein nasser Fleck bleibt übrig.
Linda beobachtet jeden meiner Schritte, als ich ins Zimmer zurückkomme, fast als würde sie sich jedes Detail einprägen.
Ich lege mich neben sie, schließe sie fest in meine Arme und wünsche mir, sie nie wieder loslassen zu müssen.
„Guten Nacht Leon.“, flüstert sie leise, schon halb schlafen und vergräbt sich noch ein bisschen mehr auf meiner Brust.
„Guten Nacht Sweety.“, hauche ich und gebe ihr einen kleinen Kuss auf die Stirn, ehe auch mir die Augen zufallen.
Obwohl wir kaum vier Stunden Schlaf bekommen haben, bin ich am nächsten Morgen ausgeschlafen und bester Laune. Nur eines trübt meine Fröhlichkeit zeitweise, ich muss Linda verlassen, um mich umzuziehen.
Als ich mein Zimmer wieder verlasse und zu Linda ihrem zurückkehren will, um sie zum Frühstück zu begleiten, treffe ich auf eine zombieähnliche Fine die über den Flur schlurft und kaum die Augen auf bekommt.
„Na, kleiner Kater?“, frage ich betont beschwingt und natürlich extra etwas lauter, mit einen fröhlichen Grinsen in ihre Richtung. Aber Fine sieht es gar nicht, da sie sich die Schläfen reibt und sich sichtlich auf den Weg konzentrieren muss. Alles was ich als Antwort bekomme ist ein tiefes Brummen, welches ich eher einen Bären zugeschrieben hätte.
Wir erreichen gemeinsam ihr Zimmer, in dem Linda sich etwas hektisch ein T-Shirt überzieht, als ich den Raum betrete. Ihre Wangen überziehen danach eine leichte Röte und sie schaut angestrengt in eine andere Richtung.
Mal wieder in die Betrachtung des Mädchens, dass ich liebe versunken, bemerke ich nur am Rande, wie sie Fine auf ihre Seite des Bettes wirft.
„Ihr schafft das doch sicher ohne mich.“, grummelt sie kaum verständlich in die Kissen und schläft in der nächsten Sekunde auch schon wieder.
Linda tut ihre, sichtlich unter ihrem erhöhten Alkoholkonsum leidende, Freundin mit einem Schulterzucken ab und folgt mir in den Speisesaal. Wir reden nicht über die letzte Nacht und meine Unsicherheit diesbezüglich wächst. Wie denkt sie darüber? Empfindet sie es heute noch als unglaublich, wie sie es gestern im Bett gesagt hat? Wie fühlt sie jetzt mir gegenüber? Fragen über Fragen und ich finde keine Antwort. Nicht in meinem Kopf, der immer wildere Theorien dazu aufstellt, noch in Lindas Augen oder Verhalten. Sie gibt sich wie immer, als wäre nichts gewesen. Dennoch bemerke ich eine Veränderung an ihr, ihre Augen scheinen heute ehrlicher zu funkeln. Ihre Fröhlichkeit wirkt derzeit weniger aufgesetzt als je zuvor und sie strahlt. Sie sie aus, als würde sie wirklich von innen her leuchten.
All diese Betrachtungen und Erkenntnisse nehme ich vor, während Linda an der Bahn steht und den Kindern erklärt was sie schwimmen sollen. Den ich kann ja aus bekannten Gründen in nächster Zeit nicht an meinem eigenen Training teilnehmen und ich habe keine Ahnung von Kindern, geschweige denn davon ihnen etwas beizubringen, auch wenn Fine es mir anscheinend zutraut. Deshalb sitze ich nur am Rand und kann meinem neusten Lieblingshobby nachgehen. Linda ansehen.
Zwei Stunden des Trainings ist viel Zeit. Viel Zeit mir jedes Detail von ihr in meinem Gehirn zu verewigen. Viel Zeit mir Gedanken über ihre Gefühle zu machen. Viel Zeit unsere kurze, gemeinsame Zeit zu reflektieren und den Wunsch aufkommen zu lassen, dass diese nie endet. So werde ich in den zwei, mir viel zu kurz und gleichzeitig zu lang vorkommenden, Stunden von einem wahren Gefühlschaos überrollt. Da ist einerseits diese tiefe, intensive Liebe zu diesem Mädchen, auf der anderen Seite aber auch dieser Zweifel und die Angst vor der Situation in Deutschland, sowie die Ungewissheit über ihre Gefühle.

 

Wahnsinn wie schnell zehn Tage vergehen können und wie viel in so einer kurzen Zeit passieren kann. Mir kommt es auf der einen Seite so vor, als währen Jahre vergangen. Andererseits wirkt es wie ein Wimpernschlag her, als wir im Bus saßen und hier hergefahren sind.
Ähnlich wie an unserem ersten Tag sitzen wir alle zusammen in der Lobby und Franz hält eine Ansprache. Er scheint bald fertig zu sein. Hoffentlich, denn ich will endlich wieder allein mit Linda sein oder zu mindestens nicht so öffentlich. Auch wenn ich hier in der ‘großen Runde‘ Zärtlichkeiten, Küsse mit ihr austausche, so will ich lieber mir ihr alleine sein.
„Zum Abschluss habe ich noch eine Ankündigung.“, erklärt Franz und schluckt schwer. Es fällt ihm sichtlich schwer zu reden und ich frage mich ob Linda von dieser Ankündigung weiß. Offensichtlich nicht, denn sie versteift sich an meiner Seite, als auch sie bemerkt wie sehr Franz mit sich zu kämpfen hat.
„Wie ihr seht fällt es mir schwer dies hier zu verkünden, aber ich werde mich zurückziehen. Ich werde meine Trainertätigkeit und alle weiteren Aufgaben im Verein abgeben und diesen verlassen…“, berichtet er betrübt. Linda neben mir schluchzt laut auf und ist im nächsten Moment schon im Begriff die Lobby zu verlassen. Ich will ihr hinterher, nebenbei noch, dem traurig hinter Linda hinterherschauenden, Franz meine Meinung erzählen, doch Fine hält mich am Handgelenk fest. Wütend schaue ich ihr in die Augen, versuche ihr damit begreiflich zu machen, dass ich weiß was ich tue und dies unverzüglich ausführen muss. Doch so schüttelt nur den Kopf und deutet mit dem Kinn auf Tom, der ebenfalls den Raum verlässt, den gleichen Weg nehmend wie Linda. Die Eifersucht in mir steigt auf ein neues Höchstmaß, aber Fines Hand um mein Gelenk verhindert, dass ich ihr ungezügelt nachgeben kann.
Bestimmend drückt mich die Physiotherapeutin wieder auf meinen Platz, während sich die anderen unserer ‘Reisegruppe‘ in alle Himmelsrichtungen verteilen. Alle außer die zwei restlichen ‘Beschützer‘, Fine und ich.
Warum beendet Franz sein Trainerdasein? Warum hat er Linda nicht unter vier Augen darauf vorbereitet? Warum hat er sie vor allen so vorgeführt? Wusste Tom davon?
Tom. Der Gedanke daran, dass er da draußen ist, allein mit Linda, lässt mich rasen vor Wut. Mit wenig gezügeltem Zorn mache ich mich von Fine los und begebe mich schnellen Schrittes zur Tür, durch die Tom und Linda geflüchtet sind.
Es braucht eine gefühlte Ewigkeit, bis ich sie auf einer Bank ausgemacht habe und der Anblick lässt mich augenblicklich erstarren. Tom hält die sichtlich heftig weinende Linda in seinen Armen und fährt ihr beruhigend über den Rücken. Wie erstarrt beobachte ich die Situation, will nicht wahrhaben, was da vor meinen Augen geschieht. Denn nun löst sich Tom von Linda und streicht ihr über die tränengetränkte Wange. Ich kann seinen Blick nicht deuten, ist da etwas Berechnendes? Doch als seine Lippen auf ihren liegen, ist auch das egal. Ab diesem Moment sehe ich rot und konnte ich mich grade noch keinen Millimeter bewegen, so stürme ich nun auf die Bank zu, auf der Tom seine Lippen auf Lindas presst.
Völlig außer mir zerre ich diesen Kerl am Kragen seines Shirts von Linda weg und lasse meine Faust in sein Gesicht schnellen. Ich schnaufe wild auf, als er beginnt sich zu wehren, mich gegen die Schulter stößt und etwas nach hinten taumle. Wieder lasse ich meine geballte Hand auf ihn zurasen, als ich mich nach diesem kleinen Zwischenfall wieder gesammelt habe. Doch ich treffe nur seine Schläfe und werde im nächsten Augenblick an meinem Arm festgehalten. In meiner Wut schüttle ich den Störenfried unsanft ab und will mich schon wieder auf Tom stürzten, als der von Fine, Alexander und Sebastian beschützt zurück ins Hotel begleitet wird. Mit einem boshaften Grinsen auf den Lippen bemerke ich das Blut, dass aus seiner Nase läuft, bis er aus meinem Blickfeld verschwindet.
Nur langsam bauen sich die Wut, die Eifersucht und das Adrenalin in mir ab und ich kann meine Umgebung wieder wahrnehmen. Ein leises Schluchzen dringt zu mir durch und ich wende mich um. Linda hockt auf dem Boden hinter mir, das Gesicht in den Händen vergraben und von enormen, ihren Körper schüttelnden Schluchzern geplagt.
Ich mache schnell den Schritt der mich von ihr trennt und hocke mich neben sie. Ich will Linda beruhigend über den Rücken streicheln, sowie es Tom vor wenigen Minuten noch getan hat. Doch sie wehrt meine Hand ab und in dieser Sekunde fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Linda. Sie war es, die mich versucht hat von Tom wegzuziehen. Sie war es, die mich am Arm festgehalten hat. Sie war es, die ich so rabiat abgeschüttelt habe.
Erschüttert lasse ich mich neben sie fallen. Wie konnte ich nur so blind vor Wut sein? Habe ich ihr wehgetan? Körperlich? Emotional auf jeden Fall.
„Warum hast du das getan?“, kommt es irgendwann weinend von Linda und ich hebe den Blick von meiner immer noch geballten Faust. Meine nicht eingegipste Hand, deshalb habe ich ihn leider auch nur leicht und wenig kontrolliert getroffen.
Linda sieht mich nicht an, als ich zu ihr blicke. Sie hält die Knie dicht an ihren Körper gezogen, den Kopf darauf abgelegt und in die entgegengesetzte Richtung blickend.
„Weil er dich geküsst hat.“, bringe ich mit erneuter Wut im Bauch, durch zusammengebissene Zähne hervor.
„Weil ich dich liebe.“, beichte ich kurz darauf leise, weil Linda keinerlei Reaktion zeigt. Das lässt ihren Kopf in meine Richtung schnellen. Ihre Augen sind weit aufgerissen und es schwimmen immer noch Tränen darin. Ungläubigkeit steht in ihrem Gesicht und trotz der gesamten Situation stiehlt sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Ich habe es endlich ausgesprochen, ihr endlich meine Liebe gestanden.
„Ich liebe dich und es macht mich wahnsinnig, dich in seiner Nähe zu sehen und als er dich dann geküsst hat habe ich rot gesehen.“, gestehe ich weiter meine Gefühle, jetzt wo ich es einmal ausgesprochen habe, geht es mir wesentlich leichter über die Lippen. Ich fühle mich regelrecht befreit und würde diese Tatsache nun gern in die Welt hinausschreien, doch ich kann mich grade noch so davon abhalten.
Doch wie reagiert Linda auf mein Geständnis? Wird sie auch die berühmten drei Worte sagen? Allein der Gedanke daran lässt mein Herz ins Stolpern geraten.
„Leon… Du hättest dich trotzdem nicht mit ihm prügeln müssen.“, ist ihre erste Erwiderung, doch ich sehe wie es hinter ihren Augen arbeitet und so lasse ich ihr die Zeit, dass zu sagen, was sie zu sagen hat.
„Ich weiß, ich sollte diese Worte wiederholen. Sollte dir eine ähnliche Liebeserklärung machen, doch ich kann nicht. Nicht nur wegen der Situation eben, auch weil ich nicht weiß wie es weiter gehen soll. Wird es in Deutschland genauso sein? Wie geht es weiter, wenn wir wieder im Alltag sind? Greifst du dann jedes männliche Wesen an, welches sich mir nährt? Oder bin ich dann nicht mehr interessant für dich? Ich habe keine Ahnung und es macht mir Angst.
Zusätzlich kommt noch Franz mit dieser Bombe und ich kann meine Gefühle überhaupt nicht mehr ordnen.
Diese zehn Tage hatten mehr Auf und Ab’s, als mir gut tun. Ich habe das Gefühl, ich bin am Ende meiner Kräfte…“, schluchzt sie, denn mit ihren Worten sind die Tränen zurückgekommen. Auch mir stehen sie in den Augen, da ich nicht nur mit den Augen sehe, wie sich Linda grade fühlt. Ihre ganze Körperhaltung signalisiert Trauer, Schmerz und Verzweiflung. Immer noch hält sie die Knie an ihren Körper gezogen, ihr Griff hat sich aber deutlich verstärkt. Zudem blickt sie schmerzlich aufs Meer hinaus und zittert, was weder an den Temperaturen noch an dem Heulkrampf liegt, zu dem sich Lindas Weinen nun entwickelt.
Ich weiß nicht was ich machen soll, bin mal wieder mit der Situation überfordert. Ich kann es kaum ertragen, die immer so stark erscheinende Linda weinen zu sehen, selbst wo ich weiß, dass ihre Fassade eben dies ist. Eine Maske die sie trägt, um sich vor der grausamen Gesellschaft zu verstecken.
So rücke ich in meiner eigenen Niedergeschlagenheit an sie ran, sodass ich hinter ihr sitze und nehme sie so fest ich kann in den Arm. Linda lässt es zu und ein Teil meiner Anspannung fällt von mir ab, da sie meine Berührungen wieder erträgt.
Lange sitzen wir einfach so da. Die Dämmerung hat sich längst in tiefe Nacht verwandelt, als ich einsehe, dass es doch langsam zu kalt wird. Nicht nur das wir immer noch auf dem Boden sitzen auch die Luft hat sich inzwischen so sehr abgekühlt, das nicht nur Linda eine Gänsehaut auf den Armen hat. Doch ich habe es nicht geschafft sie zu beruhigen. Linda weint noch immer in meinen Armen, obwohl ich merke, dass sie langsam müde wird.
„Wir sollten rein gehen.“, flüstere ich ihr ins Ohr und bekomme als Antwort nur ein zittriges Kopfnicken.
Als wir die Lobby betreten, sehe ich, wie sich Franz aus einer Sofaecke löst, in der auch die ‘Beschützer‘ und Fine sitzen. Mein Blick fällt auf Tom, der sich ein Kühlakku auf die Nase drückt und zu Boden sieht.
Dann steht plötzlich Franz vor uns und auch Linda bemerkt ihn, die bis jetzt nur zu Boden gesehen hat. Sofort verändert sie ihre komplette Körperspannung. Von einem auf den anderen Moment hat ein Gefühl bei ihr die Trauer überlagert. Wut. Sie ist sauer auf Franz und wie ich finde zu Recht. Er hätte durchaus unter vier Augen mit ihr reden können.
„Anja ist krank…“, beginnt Franz, doch Linda fällt ihm sofort ins Wort.
„Ich will nichts davon hören. Du hast mich enttäuscht und… Was hast du gesagt?“, braust sie sich auf und wirkt am Ende etwas verwirrt.
„Anja ist krank.“, wiederholt Franz und auch bei diesem riesigen Mann sind Tränen in den Augen zu finden.
Doch ich kann mich nicht mehr auf den Riesen vor mir konzentrieren, da Linda, der ich bis jetzt einen Arm um die Schulter gelegt hatte, bricht neben mir zusammen. Sie sackt einfach auf die Knie und mein Herz rutscht mir in die Hose.
Ich hocke mich neben sie und betrachte sie eine Sekunde mit tiefer, tiefer Sorge. Denn ihr Weinen ist jetzt nebensächlich, die Tränen kullern nur noch wenig über ihr Gesicht und sind seit einiger Zeit fast erträglich. Was mir Angst macht ist ihr leerer Blick und das beständige ‘Nein‘, dass sie monoton vor sich hin spricht. Dabei wiegt sie sich selbst noch hin und her, was den Eindruck erweckt bei ihr sind ein paar Sicherungen durchgebrannt.
Fine ist sofort an ihrer Seite und mir fällt ein Stein vom Herzen. Wenn ich bis jetzt schon mit einer weinenden Linda nicht umgehen konnte, bin ich jetzt restlos überfordert.
Wir heben sie gemeinsam auf ihre wackligen Beine und harken sie unter den Schultern unter. Zum Glück hat Linda ihre Schulter das Trainingslager gut mitgemacht, sonst könnten wir sie so nun nicht führen.
Franz will noch etwas sagen, als wir Linda an ihm vorbei lenken, doch Fine unterbindet jede Kommunikation mit einem bitterbösen Blick. Sie scheint auch der Meinung zu sein, dass Franz sich in Bezug auf diese Offenbarung Linda gegenüber höchst unfair verhalten hat. Mir will es immer noch nicht aus den Kopf gehen, warum er es ihr nicht unter vier Augen erzählt hat. Er weiß doch wie sensibel sie ist, wie sehr sie ihr sicheres Umfeld braucht und wie sehr die letzten Tage an ihr gezehrt haben.
Wir kommen auch an den ‘Beschützern‘ vorbei, sie blicken alle drei mitfühlend auf die mitleiderregende Gestallt in meinem Arm. Sehe ich da bei Tom salzige Spuren auf der Wange? Ich bilde mir nicht im Geringsten ein, dass sie von unserer kleinen Prügelei herrühren. Nein, auch er hat mit Franz Bekanntgabe zu kämpfen. Sie beide gehen davon aus, wenn er sich aus dem Verein zurückzieht, dass auch ihre private Verbindung abbricht. Wird Franz das zulassen? Wie verhält es sich mit Ina? Sie hängt so sehr an Linda.
Irgendwann erreichen wir das Zimmer der Beiden. Linda murmelt nun nicht mehr diesen monotonen Satz vor sich hin und hat sich offensichtlich auch körperlich soweit gefangen, dass sie alleine laufen kann.
Ich will mich von ihnen verabschieden, in mein eigenes Zimmer gehen, um die letzten Sachen zu packen, die letzten Geschehnisse auch etwas zu verarbeiten. Doch Linda hält mich fest, schaut mir das erste Mal seit gefühlten Ewigkeiten wieder direkt in die Augen und bittet mich stumm zu bleiben. Ich schaue kurz zu Fine, hole mir ihre optische Bestätigung, dass es für sie okay ist, welche ich mit einem Schulterzucken erhalte.
So liegen wir kurze Zeit später zu dritt in dem Doppelbett, Linda in der Mitte. Sie ist schnell eingeschlafen, doch ich habe das Gefühl kein Auge zu tun zu können. Viel zu viele Gedanken kreisen in meinem Kopf. Die gesamten letzten zehn Tage spielen sich vor meinem inneren Auge noch mal ab.
„Können wir irgendwie verhindern, dass es Linda morgen auf der Fahrt wieder so schlecht geht wie auf der Hinfahrt?“, frage ich Fine, da ich merke, dass auch sie nicht schlafen kann.
Sie seufzt vernehmlich auf, fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht, nachdem sie sich auf den Rücken gedreht hat.
„Ich habe Schlaftabletten dabei, vielleicht sollte sie eine nehmen, dass würde ihr nicht nur körperlich helfen. Sie braucht auch mental grade Ruhe. Die letzten Tage waren ein einziges auf und ab und für sie war es sicherlich noch tausendmal intensiver, als für uns.“, flüstert sie in die Dunkelheit, in der man nur Schemen erkennen kann. Aber ich sehe, dass Fine starr an die Decke schaut und ich höre die Niedergeschlagenheit in ihrer Stimme.
Ich sage nichts mehr, mache aber dennoch kein Auge zu in dieser Nacht. Es ist nur ein Grund, warum ich am nächsten Morgen gerädert bin. Weitere sind, dass Linda immer noch nicht wieder spricht. Sie ist in sich gekehrt wie nie und sagt kein Wort. Außerdem hat mir Micha wieder einen Spruch reingedrückt, als ich meine Sachen einfach wild in meine Tasche geschmissen hab. Hat er schon wieder etwas von einer Wette erzählt? Keine Ahnung, ich höre ihm nicht zu und verlasse das Zimmer so schnell es geht wieder.
So sitzen wir schon eine Stunde vor Abfahrt in der Lobby und hängen unseren Gedanken nach. Wir, bedeutet in dem Fall, Sebastian, Fine, Linda und ich. Die restlichen ‘Beschützer‘ packen noch ihre Sachen, wie wahrscheinlich die Übrigen unserer ‘Reisegruppe’. Unsere Taschen sind schon im Bus verstaut und so haben wir genug Zeit uns anzuschweigen. Die Stimmung ist gedrückt, was nur zum geringen Teil daran liegt, dass wir wieder die Rückreise antreten.
Irgendwann betritt Franz mit Ben und Ina die Lobby und sein Blick fällt sofort auf die zu Boden schauende Linda. Wenig sicher bewegt er sich auf uns zu und bleibt vor ihr stehen.
„Können wir reden, bitte.“, bittet er Linda und diese nickt umgehend. Beide entfernen sich etwas und setzten sich in eine andere Sofaecke, sodass ich dem Gespräch unmöglich folgen kann.
Ina setzt sich neben mich, wo eben noch Linda saß, auch sie ist nicht so fröhlich und ausgelassen wie sonst.
Ich beobachte eingehend Franz und Linda, hoffe inständig er macht nicht noch mehr kaputt, als mit seiner Aktion gestern Abend.
„Ich hoffe Linda bleibt meine Trainerin und du natürlich auch Fine“, sagt Ina in die bedrückte Stimmung hinein und lässt uns alle auf, beziehungsweise zu ihr sehen. Warum sollte Linda nicht ihre Trainerin bleiben? Besteht wirklich die Möglichkeit, dass Linda wegen dieser Sache auch den Verein verlässt? Aber der Verein ist doch fast ihre Familie. Eine Familie, die grade zum Teil auseinanderbricht, muss ich mit gerunzelter Stirn erkennen.
Niemand geht auf Ina ein, Fine schenkt ihr nur ein halbherziges Lächeln, was mich mehr verunsichert würde als aufbauen.
Mein Blick wandert wieder zu Linda und Franz. Mittlerweile lehnt sie an seiner Schulter und er hält sie im Arm. Ich habe gemischte Gefühle bei diesem Anblick, ich freue mich, dass Linda scheinbar nicht zu sehr von ihrem Ersatzvater enttäuscht wurde. Andererseits bleibt der bittere Beigeschmack, wie lange sie ihn noch in ihrem engeren Umfeld haben wird.

 

Die Fahrt vergeht rasend schnell, da ich die meiste Zeit schlafe, Linda gebettet auf meinem Schoß ebenfalls. Sie hat ohne zu murren die Tablette von Fine genommen und ist, wie auf der Hinfahrt auf meinem Schoß eingeschlafen.
Dann müssen wir uns trennen. Es fühlt sich eigenartig an, auch nur einen Schritt zu gehen, ohne Linda an meiner Seite. Ich vermisse sie in jeder Sekunde, stelle mir vor was sie tut und möchte wissen wie es ihr geht.
Wir haben uns nicht verabredet, ihre Telefonnummer hab ich auch nicht. Ich könnte zu ihr nach Hause gehen, aber ich traue mich einfach nicht. Es ist nicht so, dass meine Gefühle verschwunden sind, ganz im Gegenteil, ich liebe sie mehr als zuvor. So kommt es mir zumindest vor. Doch nun sind wir wieder in Deutschland, nicht automatisch jeden Tag zusammen und noch mehr Anfeindungen ausgesetzt.
Eine Woche ist vergangen, seit wir wieder da sind und ich habe mich aufgerafft zum Training zu gehen. Auch wenn ich selbst nicht schwimmen kann, kann ich es keine Minute länger ohne Linda aushalten. Meine Sehnsucht ist so enorm groß, dass ich fast körperliche Schmerzen ausstehe, es scheint mich zu zerreißen.
So stehe ich vor der Schwimmhalle und warte, dass das Training beendet ist.
Micha ist natürlich der Erste, der aus den Umkleiden kommt. Wieso sollte mir auch etwas erspart bleiben?
Als er mich bemerkt wird sein Blick verständnislos und er kommt auf mich zu.
„Was machst du denn hier?...“, beginnt er, aber im gleichen Moment wandelt sich sein Blick, von überlegend, zu erkenntnisreich und schlussendlich zu abfällig.
„Dass du das echt durchziehst hätte ich nicht gedacht.“, lacht er laut auf, klopft mir nahezu hysterisch auf die Schulter und wendet sich ab.
Kurz darauf kommt Gott sei Dank Linda mit Sophie, denn mein Wutlevel schwebt schon wieder unter der Decke.
Linda gönnt mir in der ersten Sekunde den gleichen Blick wie Micha, doch ihre Augen wandeln sich nicht in Hohn, sondern zu leichter Freude. Doch zu meiner Enttäuschung bekomme ich weder ein Kuss, noch eine Umarmung zur Begrüßung.
„Hey.“, ist alles, was sie sagt und wirkt dabei schüchtern, wie ein kleines Kind.
„Hey, Sweety.“, sage ich leise und nehme lächelnd war, dass sich ihre Wangen leicht rot färben.
„Hallo Leon, auch schön dich zu sehen. Du kommst doch sicher mit?... Aber sicher wollen wir dich dabei haben… ich spiele doch gern das fünfte Rad am Wagen.“, plappert Sophie drauf los und reißt mich und Linda somit aus unseren Blickkontakt, der seit unserer Begrüßung bestehet. Ich erforsche dabei durch ihre Augen ihr Inneres. Wie geht es ihr? Wie steht sie zu mir? Zu uns? Doch es ist nicht viel, was ich heute aus ihr lesen kann.
Als ich nun zu Sophie sehe verdreht sie lächelnd die Augen, murmelt etwas von verliebten Trotteln und geht uns voran raus aus der Schwimmhalle.
Auf der Straße, dem Weg zur Straßenbahn, nehme ich zögernd Lindas Hand. Ich brauche den Körperkontakt, die sichtbare Verbindung, dass wir zusammengehören. Linda akzeptiert diese Geste sofort, was wiederrum meine Anspannung, die sich die letzten Tage so gewaltig aufgebaut hat, leicht löst.
Wir treffen in der Stadt die ‘Beschützer‘ und es wird ein wirklich netter Abend. Von Minute zu Minute scheint sich Linda wohler zu fühlen, was gleichbedeutend damit ist, dass sie mich an sich ran lässt und auch selbst auf mich zukommt, mich küsst. Wir tauschen Liebkosungen in aller Öffentlichkeit aus, dabei sind meine Bedenken ganz weit in den Hintergrund gerückt. Die schiefen Blicke, die scheinbar dauerhaft auf uns liegen, ignoriere ich kategorisch und fühle mich wohl dabei. Ich bin glücklich. Ich schlendere mit Linda in Arm von Bar zu Bar und wenn wir uns nieder lassen schmiegt sie sich an mich.
Die nächsten Wochen, die Zeitspanne die ich verdammt bin diesen elenden Gips zu tragen, wofür ich mich immer mehr verfluche, vergehen für mich in absoluter Glückseligkeit. Ich treffe Linda. Nicht nur nach dem Training. Wir gehen ins Kino, Essen und haben ganz klassische Dates. Ich lerne so viele neue Seiten an Linda kennen und verliebe mich in jede einzelne. Doch eine Sache versetzt mich in Panik. Micha, Hanna und der Rest dieser Fraktion. Wie wird es laufen, wenn ich wieder schwimmen kann? Kann ich vor ihnen meine Gefühle für Linda genauso offen zeigen, wie ich es in den letzten Wochen so öffentlich getan habe? Werden sie mit höhnischen, abfälligen Kommentaren darauf reagieren? Eine andere Reaktion erwarte ich gar nicht daher ist eher die Frage, wie werde ich mich deswegen verhalten? Ignorieren? Wahrscheinlich die vernünftigste Lösung, doch seit wann verhalte ich mich vernünftig, wenn es um Linda und meine Gefühle zu ihr geht? Meine Wut steigt schon allein wenn ich daran denke. Aber ich kann sie auch nicht behandeln wie vorher, kann nicht mehr verbergen, welch tiefe Gefühle ich für sie habe. Ich bin innerlich zerrissen in diesem Zwiespalt. Schütze ich sie, wenn ich unsere Beziehung vor diesem Angriff, was es mit Gewissheit sein wird, bewahre oder fühlt sie sich dann zurückgesetzt, gedemütigt oder gar ungeliebt?
Diese Gedanken verstärken sich mit jedem Tag, dem sich die Gipsabnahme nähert. Ich versuche mit Linda darüber zu reden, finde aber nicht den Mut, noch die richtigen Worte. Sie wird sich schon, nur wenn ich sie darauf anspreche, minderwertig fühlen und das möchte ich um jeden Preis verhindern.
Auch wenn ich ihn verwünsche, wie nie einen Tag zuvor, ist er doch irgendwann gekommen. Ich kann wieder trainieren.
Es ist ein Freitag und üblicherweise gehen wir nach dem Training in die Stadt. Linda war bei diesen wöchentlichen Ritual selten dabei, nur wenn Sophie sie mit allen was sie hat überzeugen konnte. Die letzten Wochen waren wir freitags mit den ‘Beschützern‘ unterwegs, auch Fine und ab und zu Sophie waren dabei und ich habe mich in dieser Gruppe immer mehr eingefunden. Doch kann ich jetzt einfach so das Lager wechseln? Werde ich, wenn mich jemand fragt Nein sagen können? Und eine Begründung?
All diese Fragen stelle ich mir während des Schwimmens. Den Auftakt habe ich mir erspart, indem ich absichtlich zu spät gekommen bin, sodass alle schon in der Halle waren als ich zu ihnen stieß. Während des Trainings lauern auch keine weiteren Gefahren, soweit ich das einschätzen kann. Allerdings ist Lindas Blick skeptisch bis hin zu argwöhnisch, wenn ich ihm dann doch mal begegne.
Ich überlaste meine Hand und damit meinen Körper nicht, auch wenn ich mal wieder am liebsten nur so durchs Wasser pflügen würde.
Nach dem Training begebe ich mich ohne Zwischenhalt zur Dusche und dann zu den Umkleiden. Erst als ich, augenscheinlich als erster, im Vorraum stehe kann ich nicht mehr flüchten. Flüchten vor Micha, Hanna und ihren Anhängseln, aber auch flüchten vor Linda und meinen Gefühlen.
Nach und nach kommen alle heraus, natürlich sind Hanna und Gina mal wieder die letzten. Linda steht einige Meter entfernt von mir und ich fühle mich in der Zeit zurück versetzt. Alles ist wie vor ein paar Wochen, als ich Linda noch aus der Ferne beobachtet habe, als ich ihr noch nicht meine Gefühle offenbart hatte. Wieder steht sie da, die Haare noch fecht und zu einem unordentlichen Zopf gebunden, aus dem sich schon die ersten Strähnen lösen und ich möchte ihr einfach nur eines dieser Haarbündel hinters Ohr streichen und meine Lippen auf ihre legen. Doch ein Detail hat sich verändert, ein entscheidende Kleinigkeit. Lindas Blick. Damals hat sie mich nicht angesehen. Sie hat entweder auf den Boden gesehen oder sich mit Fine oder Sophie unterhalten und somit ihnen ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Heute liegt ihr Blick ausschließlich auf mir und das liegt nicht nur daran, dass weder Sophie noch Fine da sind.
Sie erforscht jeder meiner Regungen, wägt ab was sie davon halten soll, kommt aber offensichtlich, wie ich, zu keinem Ergebnis.
Wir laufen einfach mit dem Strom, ohne uns auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ich sehe die stummen Bitten an mich, die ihre Augen aussenden und kann nur mit ebenso bittenden antworten. Bitte versteh meinen Zwiespalt, bitte erkenne meine Zerrissenheit.
Als wir endlich ein Lokal erreichen halte ich diese Anspannung, die sich die ganze Zeit aufgebaut hat nicht mehr aus und flüchte mich aufs Klo. Beschwörend betrachte ich mich selbst im Spiegel und spritze mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht.
Während ich mich etwas beruhigen konnte haben die anderen schon ihre Plätze eingenommen, sodass für mich nur ein einziger übrig bleibt. Genau zwischen Hanna und Gina. Was soll denn der Scheiß bitte? Da steckt doch unter Garantie Micha dahinter. Ich suche ihn mit meinem Blick und entdecke ihm, zu meinem Entsetzten neben Linda. Was hat er vor?
In Ermangelung einer Alternative setzte ich mich, da eine Flucht zu viele Fragen der anderen aufwerfen würde. Fragen auf die ich im Moment nicht ehrlich antworten kann, weil ich Linda um jeden Preis schützen will.
Wie Linda vor ein paar Wochen, ertränke ich heute meine Probleme im Alkohol, so bin ich schon kurze Zeit später gut angetrunken und kann meinen Blick von Linda abwenden. Diese schaut mich von Minute zu Minute kälter an. Der Alkohol hilft mir meine Zerrissenheit hinter mir zu lassen und mich vollkommen auf das hier und jetzt zu konzentrieren. Ein hier und jetzt in dem Linda viel zu weit weg ist und sich zusätzlich noch Micha erwehren muss und sie wehrt sich wirklich. Fast mit Händen und Füßen hält sie sich ihm vom Leib, wobei er nicht darauf aus ist, sie für sich zu gewinnen, er will lediglich mich auf die Palme bringen. Das hat er geschafft, mein Wutlevel ist jenseits aller Grenzen und mein Alkoholspiegel veranlasst mich, mich diesem Anblick komplett zu entziehen. Stattdessen beschäftige ich mich mit naheliegenderen Dingen, wie zum Beispiel Gina. Sie ist das genaue Gegenteil zu Linda. Dürr, oberflächlich und vor allem dumm. Sie faselt schon eine ganze Weile über irgendwelche super Klamottenmarken und nun beginne ich halbherzig zuzuhören.
Ich bemerke gar nicht, dass Gina mir den Arm um die Schulter legt. Ich starre stumpfsinnig vor mich her, da mir ihr Gesprächsthema schlicht und ergreifend zu einfältig war, bin ich in Tagträumereien versunken. Vorstellungen von einer glücklichen Zukunft mit Linda.
Erst als jemand hastig und lautstark die Bar verlässt katapultiert mich das wieder in die Realität zurück. Mein Blick fällt sofort auf den Platz, der nun verwaist ist und an dem eben noch Linda gesessen hat. Micha erhebt eine Augenbraue, als ich ihn vernichtend ansehe. Im nächsten Moment bin ich es, der die Bar verlässt. Sogar die Rechnung begleiche ich heute nicht, bevor ich ihr hinterher renne.
Ich brauche nicht lange, um sie zu entdecken. Linda stapft wütend durch die Fußgängerzone und ich hechte ihr, plötzlich ernüchtert, hinter ihr her.
Als ich sie erreiche wirble ich sie ohne Umschweife zu mir herum und presse meine Lippen auf ihre. Wie sehr hat mir das gefehlt, wie sehr wollte ich dieses Gefühl denn gesamten Abend erleben. Sobald ich sie sehe will ich diesem Gefühl nachgeben.
Doch jetzt ist es anders, denn Linda erwidert meinen Kuss nicht. Ganz im Gegenteil, sie schiebt mich, mit den Händen gegen meine Brust gestemmt, von sich weg und ich muss mich unfreiwillig von ihr trennen.
„Ich bin sauer.“, schnaubt sie mir entgegen, sobald mein Mund ihren verlassen hat und ihr Blick ist jetzt nahezu wild.
Meine Gedanken rasen. Es macht mich an, sie so sauer zu sehen, denn es ist nicht nur Wut auf mich, es ist auch Eifersucht, die in ihren Augen lodert und diese Erkenntnis schießt sofort in meine Leisten.
„Dann mach ich dich wieder süß, Sweety.“, säusle ich quasi, was auch Linda ein leichtes Lächeln ins Gesicht zaubert. Sie hat wohl nicht mit so etwas gerechnet, ich allerdings auch nicht. Ich weiß nicht wo ich diesen, an und für sich eigentlich total blöden Spruch her habe, aber er entspannt die Situation etwas. Linda wirkt nun weniger sauer, als eher resignierend.
„Nicht nur auf dich, insbesondere auf Micha. Er hat mir heute vor Augen geführt wie es laufen würde, wenn wir offiziell vor ihnen ein Paar währen. Natürlich gibt es die Gerüchte, Micha hat uns in Kroatien gesehen, aber hier können wir uns so nicht verhalten.
Ich habe deine Angst deswegen bemerkt, aber erst jetzt kenne ich ihr ganzes Ausmaß und es macht mich wütend. Zusätzlich kommt noch Gina hinzu, die fast an dir klebte.“, erklärt sie ihre Wut und zeigt mir wieder mal ihr Einfühlungsvermögen.
Wir gehen nicht wieder in die Bar, stattdessen schlendern wir noch etwas durch die Fußgängerzone. Hand in Hand, aber in eigenen Überlegungen versunken, zu denen wir an diesem Abend und auch in Zukunft keine Lösung finden werden.

 

Der letzte Wettkampf dieses Jahr steht an, danach haben wir noch eine Woche Training und dann ist Weihnachten. Dieser Wettkampf bildet für uns einen Abschluss, wir veranstalten am Abend, in der Turnhalle in der wir übernachten, unsere Weihnachtsfeier. Wir fahren nicht mit dem Bus, auch wenn die Personenanzahl an die 40 Leute geht. Bei solchen Veranstaltungen erklären sich häufig Eltern bereit mitzufahren und auch die Verpflegung von Ort zu übernehmen.
Es ist sehr früh, als wir uns zur Abfahrt treffen. Ich versuche mit Linda in einem Auto zu landen, aber es gelingt mir nicht. Sie fährt bei Sophie, in dem Kleinbus ihres Vaters mit, wie auch Fine, Alexander und Tom. Sebastians Vater fährt ebenfalls, so sitzt er mit drei anderen aus seiner Trainingsgruppe in diesem Auto. Ich lande, wie kann es anders sein, bei Ginas Mutter. Nicht nur sie, was schlimm genug währen, denn sie ist kein Deut besser als ihre Tochter, sondern auch diese, Hanna und Karl sind anwesend.
Von Beginn an tue ich so als würde ich schlafen, sodass ich zwischenzeitlich wirklich einschlafe.
„… eine Wette zwischen Micha und Leon.“, höre ich halb im Schlaf, bin aber im nächsten Augenblick schon wieder eingedöst.
„… mit Linda schlafen.“, dringt es irgendwann wieder zu mir durch.
„Wer will denn schon mit so einer ins Bett?“, fragt eindeutig Karl und nun kann ich nicht mehr schlafen, geschweige denn so tun. Wild reiße ich meine Augen auf und schaue in die Runde. Alle weichen meinem Blick aus und wenige Minuten später verkündet Ginas Mutter, dass wir angekommen sind.
In der Halle halte ich mich wieder bei den ‘Beschützern‘, Fine, Sophie und Linda auf. Bin in ihrer Nähe auch wenn wir keine Küsse oder Liebkosungen offen austauschen.
Der erste Wettkampftag vergeht ohne weitere Zwischenfälle, auch wenn ich nur innerlich mit Linda mitfiebern kann. Zu auffällig wäre es würde ich, wie Fine und Sophie rufen und jubeln.
Nun sind wir in der Turnhalle und nach dem offiziellen Teil, dem Abendessen und Geschenke verteilen, ziehen wir uns als Gruppe (die ‘Beschützer‘, Fine, Linda, Sophie und ich) in einen Nebenraum mit Matten zurück. In der Halle selbst habe ich mir einen Schlafplatz weit ab aller anderen gesucht, sodass keinerlei Gerüchte aufkommen können.
Es fließt eine Menge Alkohol und ich genieße es einfach mal wieder unbeschwert Linda in meiner Nähe zu haben. Wir sitzen auf einer Matte, sie zwischen meinen Beinen an mich gelehnt und ich habe meine Arme fest um sie umschlungen. Meine Lippen gleiten die ganze Zeit irgendwo über Lindas Haut. Ihr Hals, ihr Nacken, ihr Gesicht. Immer wieder kichert Linda verhalten, da ich sie mit meinem Atem und meinen zarten Berührungen kitzle, ein wunderbarer Laut, den sie viel zu wenig von sich gibt.
Der Abend wird richtig gemütlich und ich krieche mit einen glücklichen Lächeln in meinen Schlafsack.
Schon am nächsten Morgen habe ich ein komisches Gefühl im Bauch, dass nicht daher kommt das ich zu viel Alkohol konsumiert hätte. Es ist ein erstes Anzeichen dafür, dass heute etwas passiert, etwas Schlimmes. Ich kann es nicht definieren, aber ich bekomme Angst, die man sogar als Vorstufe der Panik einordnen kann.
Die wirkt sich natürlich auf meine Leistungen beim Wettkampf aus und ich bin von Start zu Start genervter.
Ich sitze wieder bei Lindas, und mittlerweile auch irgendwie meiner Gruppe, als Linda ihren letzten Wettkampf in diesem Jahr antritt. 100 Meter Schmetterling, ihre absolute Paradedisziplin, obwohl es mehr als jede andere Schwimmart die Schulter belastet. Sie hält in dieser Schwimmart alle Vereinsrekorde und auf dieser speziellen Strecke sogar den Landesrekord (Bundesland) in ihrem Jahrgang.
Der Start ertönt und ich verfalle in eine Art Trance, gehe ihre Bewegungen mit, feuere sie mental so gut ich kann an und bin gleichzeitig vollkommen paralysiert von ihren anmutigen, schnellen, kraftvollen Bewegungen. Sie hat einen deutlichen Vorsprung gegenüber ihrer Kongruenz, als sie zur letzten Wende kommt. Plötzlich ändert sich etwas in mein Inneren, ich sehe alles auf einmal wie in Zeitlupe vor mir ablaufen.
Linda schlägt mit beiden Händen gleichzeitig an der Wand an, zieht ihre Beine an den Körper, sucht sich einen Abdruckpunkt und stößt sich mit den Füßen wieder ab. Leicht nach unten, sodass sie die Geschwindigkeit in der Tauchphase optimal ausnutzen kann, dies unterstützt sie zusätzlich mit kräftigen Delphinkicks (gleichzeitigen Beinschlägen).
Doch als sie den ersten Armzug nach dieser Wende ausführt gerät er recht schief. Normalerweise schwingt man beide Arme parallel nach vorne, knapp über der Wasseroberfläche, mit dem Ellenbogen als höchsten Punkt. Doch Lindas rechter Arm schafft es kaum noch aus dem Wasser, er schleift darüber, was Geschwindigkeit und somit Zeit kostet. Allerdings ist das jetzt nicht mein Augenmerk, sie hat offensichtlich ein Problem mit ihrer Schulter und reflexartig springe ich auf. Sie setzt den nächsten Zug an, versucht ihren Arm aus dem Wasser zu schleudern, denn nichts anderes ist es, ein nach vorne werfen der Arme. Aber als ihr rechter Arm das Wasser verlassen will, gelingt es ihr nicht. Ein gewaltiger Ruck geht durch Lindas Körper und ich kann fast das Knirschen und Knacken des Gelenks hören, als es aus seiner Verankerung springt. Ein, durchs Wasser gedämpfter Schrei erfüllt die Schwimmhalle, in der es plötzlich so leise ist, dass man eine Stecknadel fallen hören könnte. Nie habe ich es so ruhig in eine Schwimmhalle erlebt, eben jubelten noch alle, feuerten ihren Favoriten an und jetzt ist jeder verstummt. Die Zeit scheint Ewigkeiten stehen zu bleiben, doch es interessiert mich nicht, da ich mich sowieso im Moment keinen Millimeter bewegen kann. Ich bin festgefroren in meiner starren Position auf der Tribüne, viel zu weit weg, um etwas tun zu können.
Ich merke die Tränen nicht, die stumm beginnen meine Wangen zu benetzen. Die Geschwindigkeit meiner Umwelt scheint sich wieder zu ändern. Nun hat jemand auf vorspulen gedrückt und ich kann es nicht stoppen.
Mit schmerzverzerrten Gesicht versucht Linda sich mühsam über Wasser zu halten, während das Rennen weiter läuft. Einige ihrer Konkurrentinnen bemerken ihre Situation und halten an, aber ein paar bekommen es nicht mit und schwimmen unbeirrt weiter.
Franz ist es, der mich meine Starre lösen lässt. Er springt von seine Position am Beckenrand zu Linda, die mittlerweile von zwei anderen Schwimmerinnen umsorgt und zu m Rand geleitet wird.
Ein Impuls geht durch meinen Körper und ich kann mich endlich wieder bewegen. Doch der lange Weg führt mich von der Tribüne durch die Vorhalle, die Umkleiden und die Duschen bevor ich überhaupt die Halle betreten kann. Viel zu viele Hindernisse stellen sich mir in den Weg und ich habe das Gefühl ich brauche Stunden.
Im Eingang, direkt unter der Tribüne erstarre ich erneut. Kann ich jetzt wirklich zu ihr gehen? Hanna und Gina ihre Show liefern, nach der sie grade zu lechzen? Kann ich Linda so bloß stellen?
Meine Gefühle sagen eindeutig ja, sowie ich sie da auf dem Boden liegen sehe. Doch mein Kopf schreit nein, während Franz ihr schon in einen kräftigen blau anlaufende Schulter wieder in ihre Position verfrachtet.
Fine und Tom erscheinen an Lindas Seite und ich wünscht ich könnte seine Position einnehmen. Warum bin ich schon wieder so feige? Was kümmert es mich, was Hanna und Gina tun oder sagen? Zuviel ist die eindeutige Antwort, denn sonst wäre ich an ihrer Seite.
Der Sprecher, der soeben meinen Namen für den nächsten Start ansagt, reißt mich aus meinen angsterfüllten Gedanken. Ich trotte zur Startbrücke, auf der einen Seite froh einer Entscheidung entkommen zu sein. Auf der anderen Seite wütend und traurig zugleich, dass ich solch ein Feigling bin. Linda hat mich gar nicht verdient, hat es nicht verdient ihre Liebe verstecken zu müssen. Auch wenn ich mir einrede, ich tue es zu ihrem Schutz, ist es doch feige und Verleumdung unserer wahren Gefühle, beziehungsweiße meiner wahren Gefühle, denn Lindas Gefühlen bin ich mir immer noch nicht sicher. Wie auch, wenn ich mich so gebe? Wie kann sie überhaupt mit mir zusammen sein, wenn ich sie so behandle? Aber sie sagte ja selbst, auf eine gewisse Weise versteht sie mich. Sie hat selbst gesehen, wozu Micha, Hanna und Gina fähig sind.
All das geht mir durch den Kopf während ich schwimmen, so miserabel wie nie zuvor. Ich versaue nicht nur den Start, in dem ich viel zu spät los springe. Nein ich mache auch noch die Wende falsch, sodass ich auf Garantie disqualifiziert werde. Toller Jahresabschluss, Leon. Ganz toll.
Sobald ich die Blamage hab über mich ergehen lassen, rase ich in nie gesehener Geschwindigkeit auf die Tribüne schnappe mir meine Sachen und verziehe mich unter die Dusche. Aber auch hier halte ich es nicht lange aus, sodass ich nur wenige Minuten nach meinem Start in die Sammelumkleide stürme, die uns der Veranstalter zugewiesen hat.
Wutentbrannt schmeiße ich meine Sachen in eine Ecke und lasse mich erst einmal auf die Bank fallen, die in der Mitte des Raumes steht. Verzweifelt raufe ich mir die Haare und durch ebenjene Emotion werden auch meine Tränen hervorgerufen. So kann es doch nicht weitergehen.
Eine kalte Hand legt sich auf meine Schulter und ich fahre erschrocken zusammen, da ich wirklich dachte ich bin allein. Erschrocken fahre ich herum und erkenne Linda. Verweint, nur in Unterwäsche und mit einem Schulterverband steht sie vor mir.
Meine Gefühle für dieses Mädchen überrollen mich, ich springe auf und bewege mich auf sie zu. Linda ist sichtlich verwirrt, aber ich dränge sie zurück bis sie die Wand im Rücken hat.
Ungestüm lasse ich meine Lippen auf ihre prallen. Warte, hoffe, dass sie meinen Kuss erwidert und werde nicht enttäuscht auch wenn ich in den Sekunden ihres Zögerns tausend Tote sterbe.
Leidenschaftlich kommt sie mir entgegen, intensiviert unseren Kuss noch und ich lechze dennoch nach mehr. Ich erkunde mit meiner Zunge ihren Mund und schmecke meine Tränen auf unseren Lippen.
„Ich liebe dich so sehr. Es tut mir leid, wie ich mich dir gegenüber verhalte. Ich sehe, dass ich dir wehtue und es schmerzt mich ebenso, aber ich weiß nicht was ich machen soll. Ich versuch doch nur dich zu schützen.“, sage ich in unseren Kuss hinein, ohne dass sich unsere Lippen trennen.
Und ich gehe noch weiter, ehe Linda überhaupt reagieren kann. Sanft beginne ich ihre Brust zu massieren und meine andere Hand gleitet über den Rest ihres Körpers, allerdings ihren rechten Arm weiträumig aussparend. Ich bin so froh in diesem Moment wieder beide Hände benutzen zu können.
Linda seufzt lustvoll, als ich mich mit meinen Lippen von ihrem Mund, über ihren Kiefer bis hin zu ihrem zarten Ohrläppchen voran küsse. Dieses Geräusch, dieses so tiefe, reine, echte Stöhnen bringt mich voll auf Touren. Nicht das unsere Zärtlichkeiten vorher keine Regung provoziert hätten, aber nun ist mein kleiner Freund voll da und drückt sich fest gegen Lindas Bauch, da er von dem Handtuch, das ich lediglich um meine Hüften trage, nicht viel Einhalt bekommt.
Doch Linda scheint sich nicht daran zu stören, ganz im Gegenteil. Mit ihrer nicht in Schlingen liegenden Hand, die bisher in meinen langen Haaren vergraben war, fährt sie hinab bis zu meinem Handtuch. Sie löst es fingerfertig von meinen Hüften und es gleitet lautlos zu Boden. Aber auch wenn es ein Geräusch ausgelöst hätte, so wäre dies unter meinem Stöhnen untergegangen. Sie umfasst meinen steifen Schaft und ab diesen Augenblick sind all meine Gedanken im Nirwana verschwunden, keine rationalen Entscheidungen mehr möglich. Ich kann nicht mal hinterfragen, ob sie das hier wirklich will. Hier mitten in der Öffentlichkeit, in einer frei zugänglichen Großumkleide, während neben an ein Schwimmwettkampf stattfindet.
Alles was ich tun kann, ist ihr ihren Slip herunter zu ziehen, sodass er um ihre Füße liegt.
Triebgesteuert taste ich mich zu ihrem Zentrum hervor und Erinnerungen blitzen auf, als ich ihre warme, feuchte Mitte mit meinen Fingern erkunde. Vorsichtig versenke ich einen meiner Finger in ihr, während ich mich mit den Fingern der anderen Hand in ihren Haaren vergrabe. Meine Lippen prickeln währenddessen auf ihren und sie führt mein Glied, nun da ich sie wieder verlassen habe an ihren Eingang. Mich, mit meinem letzten Funken Verstand, zu Ordnung rufend, gleite ich langsam, quälend in sie hinein.
Linda zischt schmerzlich auf, aber als ich kurz in ihr ruhe wandelt es sich in ein Stöhnen, dass bei mir Mark und Bein erschüttern lässt. Mein nächster Stoß ist weder sanft noch langsam, er ist die ungezügelte Lust, die ich tief in sie vergrabe. Ich lasse meine Hüften kreisen, bevor ich wieder etwas aus ihr hinaus gleite.
„OH, SCHEISSE… SORRY!“, schallt es auf einmal durch den gefliesten Raum und ich pralle hart wieder in der Realität auf. Eine Realität in der ich zwar immer noch in Linda stecke und sie schwer atmend in meinen Armen halte. In der aber auch Sophie in der Tür steht und uns mit großen Augen anstarrt.
Keiner bewegt sich auch nur einen Millimeter, bis sich Sophie sichtlich fängt und fluchtartig das Szenario verlässt. Frustriet von diesem unbefriedigenden Ende, aber auch von meinem ungezügelten, unüberlegten Handeln löse ich mich von Linda und binde mir mein Handtuch wieder um. Auch Linda zieht ihren Slip wieder hoch.
Die Stimmung ist seltsam. Gedrückt, unausgesprochen, aber doch schwingt eine Gewisse Harmonie mit, als ich Linda helfe sich anzuziehen.
Die Rückfahrt verbringe ich mit Linda, in dem Auto von Sebastians Vater. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, Linda hinter ihm und ich dementsprechend hinter dem Fahrer.
Das Wochenende hat uns alle sichtlich geschafft, Sebastian schläft schon eine ganze Weile und auch ich bin müde. Doch ich kann noch nicht schlafen, ich muss erst sicher sein, dass Linda beruhigt im Land der Träume verweilt, dass stellt sich aber als schwieriger heraus als gedacht. Sie findet einfach nicht die richtige Schlafposition. An die Tür kann sie sich nicht lehnen, da das die Seite ihrer verletzten Schulter ist. Sich nach hinten in den Sitz kuscheln, scheint auch nicht zu funktionieren.
So biete ich ihr an, dass sie sich auf meinen Schoß legen kann. Es gestaltet sich zwar etwas schwieriger als im Bus, durch den Gurt, aber auch das Hindernis räumen wir aus dem Weg und so liegt Linda mal wieder auf meinem Schoß und ich streichle ihr sanft über die Wange, bis sie schläft. Allerdings ist für mich an Schlaf jetzt nicht mehr zu denken, da ihre Nähe die unbefriedigt gebliebene Lust in mir wieder anheizt und ich mit jeder ihrer Regungen an meiner Hüfte glaube zu detonieren. Verbissen denke ich an etwas anderes und dieses eine Mal bin ich nicht wütend, dass sich Micha, Hanna und die Probleme die sie mit sich bringen, in den Vordergrund drängen. Auch wenn ich wieder keine Lösung finde.
Linda und ich werden an dem Punkt wieder abgesetzt, an dem wir gestartet sind, von hier aus fahren wir mit der Straßenbahn oder werden von unseren Eltern geholt. Ich weiß, dass Linda von ihrer Mutter abgeholt wird und so warte ich mit ihr, bevor ich mich mit der Straßenbahn auf den Heimweg mache. Ich könnte Linda fragen, ob sie mich mitnehmen, aber ich weiß nicht wie ihre Mutter reagieren würde und so lass ich es.
Wir verabschieden uns intensiv voneinander, küssen uns bis ich meine Umgebung vergesse. Bis mir schon die zweite weibliche Stimme am heutigen Tag die Tour vermasselt. Diesmal ist es allerdings weitaus schlimmer, auch wenn ich das nach heute Nachmittag nicht für möglich gehalten hätte.
„Na, hast du deine Wette schon gewonnen? Hat dich die fette Kuh rangelassen? Wirst du nun endlich wieder normal?“, dringt Hannas Stimme zu mir durch und sofort löst sich Linda von mir. Ihr Blick, der meinen gefangen hält, erzählt von ihren Gedankengängen. Er wandelt sich von liebevoll, über fragend, zu studierend, bis zu wütend in Sekundenschnelle und dann trifft mich ihre flache Hand auf die Wange, sodass mein Kopf etwas zur Seite schleudert. Gleichzeitig fluten Tränen ihre Augen und ein gewaltiger Sturm zieht über dem Meer auf, welcher alles verändern wird. So ein Sturm nachdem nichts mehr ist wie vorher.
Ich bin wie betäubt, nichts dringt zu mir vor. Ich kann weder sprechen, noch mich bewegen. Kann keinerlei Reaktion zeigen, als sich Linda von mir abwendet. Sie weint nun bitterlich und läuft weg. Rennt einfach darauf los und lässt mich hier stehen.
Mein Kopf ist leer, keine Gedanken mehr an Linda, ihre wundervollen Lippen oder ihren einzigartigen Augen. Kein Zwiespalt mehr, der mich innerlich zerreißt, nur noch die absolute Leere.
Der einsetzende kalte Regen löst meine Starre, die nicht nur gefühlte Stunden gedauert hat. Mühsam setzte ich mich in Bewegung und trotte durch den eisigen Niederschlag.
Auf den Weg nach Hause, den ich nun doch nicht mit der Straßenbahn absolviere, lasse ich mir diese so unrealistische Situation noch einmal durch den Kopf gehen. Was für eine Wette? Es gibt keine Wette. Alles fühlt sich vollkommen irreal an, als wäre ich aus einem Alptraum, dem schlimmsten überhaupt, aufgewacht. Die Ereignisse rücken in seltsame ferne je mehr ich darüber nachdenke. Werden ungreifbar, als hätten sie nur in meinem Kopf stattgefunden und nicht in der Realität. Doch meine pulsierende Wange beweist mir in jeder Sekunde, dass alles passiert ist, dass alles genauso stattgefunden hat.
Die einzige bittere Erkenntnis die ich aus meinem Marsch und den letzten Wochen mitnehme ist, dass ich versucht habe, so sehr versucht habe, mit Linda eine normale Beziehung zu führen. Weil ich sie über alle Maßen liebe, habe ich mich darauf eingelassen, obwohl ich wusste wie schwer es würde. Beziehungsweise habe ich es geahnt, mir aber in meinen schlimmsten Alpträumen nicht derart unüberwindbar ausgemalt.
Die Gesellschaft, ich schließe mich da nicht aus, ist gemein und oberflächlich und akzeptiert Menschen wie Linda nur am Rande und ich bin schlicht und ergreifend zu feige mich dagegen zu wehren.
Ich bin nicht wütend, als ich zu Hause unter die Dusche steige, da ich vollkommen durchgefroren bin. Nein, wütend bin ich nicht, da ist kein Verlangen meine Faust gegen die Fliesen zu schlagen, bis der körperliche Schmerz den inneren, der stark aus der Richtung meines Herzen kommt, überlagert. In mir ist lediglich Enttäuschung und eben jener Schmerz, der mein Herz in tausend Stücke reißt.
Ich ergebe mich meinen Tränen, als sie kommen, heiße sie sogar willkommen. Mit ihnen versenkt ich mich total in mein Selbstmitleid und gebe mich ihm hin, wie nie zuvor in meinem Leben. Denn nie zuvor hat mich etwas so sehr verletz, nie zuvor war ich so am Boden, wie jetzt.
Dabei bin ich selbst Schuld dran. Nicht nur, dass ich Hanna und ihre Mitstreiter bei weitem unterschätzt habe. Auch dass ich einfach viel zu feige bin, im Allgemeinen, nicht speziell auf diese Situation bezogen. Ich war zu feige mich der Beziehung mit all ihren Konsequenzen zu stellen. War zu feige meine Gefühle gänzlich zu öffnen und alles andere hinter mir zu lassen. Ich war selbst zu feige an diesem verhängnisvollen Abend diese Lüge aufzuklären. Denn nichts anderes ist es, eine alles zerstörende Lüge. Diese Wette hat es nie gegeben, Micha mag sie ausgesprochen haben, aber ich bin gewiss nie darauf eingegangen. Ich habe seit dem ersten Tag in Kroatien ja nicht mal mehr ein Wort mit ihm gewechselt.

 

Aber ein Gutes hat die ganze Sache, dass versuche ich mir zu mindestens in den nächsten Tagen einzureden. Linda ist nun frei für einen Mann, den sie wirklich verdient hat. Der sie in aller Öffentlichkeit und wie sie es braucht liebt. Ich scheine ja dazu nicht in der Lage zu sein.
Es sind schreckliche Tage, die auf diesen Sonntagabend folgen. Tage, an denen ich zum ersten Mal bewusst und ohne körperliche Unzulänglichkeiten das Training ausfallen lasse, weil ich keinen sehen will. Tage, an denen ich stundenlang vor ihrer Tür stehe und mich doch nicht traue zu klingeln. Tage und Nächte in denen ich weine, da ich meine große Liebe verloren habe. Nächte in denen ich nicht schlafe, da ich mir in jede einzelne von ihnen überlege, wie es anders hätte laufen können. Wie ich anders hätte handeln müssen, um es nicht zu diesem Ende kommen zu lassen.
Freitag, der Tag des letzten Trainings vor Weihnachten. Der fünfte Tag nachdem ich Linda verloren habe. Der Tag von Franzs letzter Trainingseinheit.
Ich raffe mich auf, kratzte all meinen nicht vorhandenen Mut zusammen und mache mich auf den Weg in die Schwimmhalle. Ich muss ihr erklären, dass es nie eine Wette gab. Muss ihr beweisen, dass ich doch kein Feigling bin. Muss ihr zeigen, wie sehr ich sie liebe.
Ich will, muss mit ihr sprechen. Muss sie anflehen, mich entschuldigen für alles was ich ihr angetan habe. Allerdings weiß ich immer noch nicht wie und zusätzlich kommt hinzu, dass ich trotz meines gesammelten Mutes, unendlich feige bin. Tausendmal mehr als vor der Reise nach Kroatien, die jetzt wirkt wie ein anderes Leben. Ein Leben in dem ich wirklich glücklich war. Befreit. Verliebt.
Ich komme als letzter in der Vorhalle an, die anderen haben schon begonnen durch das Drehkreuz zu den Umkleiden zu gelangen. Franz steht wie immer an der Seite, überwacht das Geschehen, bereit sich als Abschluss durch das enge Gitter zu schieben.
Nur er entdeckt mich und kommt ohne Umschweife auf mich zu. Wütend. Hass schlägt mir aus seinen Augen entgegen, aber ich hab mit nichts anderem gerechnet.
„Was willst DU hier?“, fragt er mit mühsam unterdrücktem Geschrei, es müssen ja nicht alle auf uns aufmerksam werden.
„Ich will mit Linda reden!“, bringe ich sicherer hervor, als ich mich fühle. Unter seinem strengen Blick, der so gar nicht zu seinem Charakter passt, verfliegt mein so beschwerlich zusammengesammelter Mut und absolut nichts bleibt übrig.
„Sie ist nicht hier und das ist allein DEIN Verdienst. Sie verpasst meine letzte Trainingsstunde, wegen DIR.“, zischt mir Franz ins Gesicht, ehe er sich umwendet und nun auch das Drehkreuz passiert.
Erschüttert, von dem was mir Franz soeben völlig untypisch für ihn an den Kopf geworfen hat, schaue ich, ohne etwas zu sehen, auf den Eingang zu den Umkleiden.
Sie hat wegen mir wirklich das letzte Training mit Franz sausen lassen? Wie sehr hat sie die Sache von Sonntag wirklich verletzt? Was empfindet sie für mich, wenn sie das so sehr aus der Bahn wirft? Oder hat sie empfunden? Denn jetzt sind alle Empfindungen hinfällig, sie hasst mich und das zurecht.
Ich will grade wieder trübsinnig den Heimweg antreten, habe mich schon dem Ausgang zugewendet, als ich herumgewirbelt werde und ohne jede Vorwarnung eine Faust meinen Kiefer trifft.
„Ich hatte dich gewarnt und du hast es trotzdem gewagt ihr wehzutun.“, erkenne ich Toms Stimme, die neben seinen Fäusten, wie ein Schlag in mich eindringt. War das nicht die ganze Zeit sein Wunsch? Dass sie wieder frei ist für ihn?
„Ich verspreche dir, kommst du ihr auch nur noch einmal zu nahe, wirst du es nicht überleben.“, brüllt er mich weiter an, während er unablässig auf mich ein prügelt. Ich wehre mich nicht, ich habe seine Wut verdient.
Sebastian und Alexander lösen Tom irgendwann unter größten Anstrengungen von mir. Mein Gesicht schmerzt, spannt und blutet an ein paar Stellen, doch es stört mich nur am Rande.
„Er hat es nicht verdient.“, schnaubt Alexander noch verächtlich, als die Beiden Tom an mir vorbei schieben.
Stimmt, ich habe es nicht verdient, weder Toms Wut, noch Lindas Liebe.

Wiedersehen

8 Jahre später

 

 

„Lauf bitte nicht zu weit weg.“, rufe ich meiner Tochter hinterher, die grade dabei ist in den Massen an Menschen zu verschwinden.
Ratlos schaue ich mich selbst an den zahlreichen Bekleidungs- und Spielwarenständen um. Suche nach Schnäppchen, die Lena gefallen könnten.
Solche Tausch- und Trödelmärkte strengen mich unheimlich an. Es sind viel zu viele Menschen an einem Ort, es zu laut und finden tut man auch höchst selten etwas. Aber mein Geldbeutel lässt nicht viel mehr zu und Lenas Mutter liebt diese Märkte.
Ich bin grade im Begriff nach meiner Tochter zu suchen, um mit ihr den Heimweg anzutreten, da spricht mich jemand an.
„Leon? Bist du es wirklich?“, fragt eine Frau ungläubig, an deren Gesicht ich mich entfernt erinnere.
„Ich bin‘s Sophie, aus dem Schwimmverein.“, erklärt sie und meine fragende Mine löst sich in Luft auf. Sophie? Nein, nein, nein. Das kann nicht sein. Acht Jahre habe ich es geschafft, keinen von ihnen zu begegnen, habe alle und alles aus meinem Gedächtnis gelöscht und jetzt steht sie so einfach vor mir und spricht mich an.
„Hey.“, gebe ich mich einsilbig, da alle Erinnerungen nun auf mich einprasseln.
Lena schiebt sich unter meinen Arm und hält sich etwas versteckt hinter meinem Bein, doch schnell kann Sophie sie ein wickeln, mit ihrer Art einfach auf alle zuzugehen.
„Und wer bist du?“, fragt sie an meine Tochter gewandt und strahlt dabei so einnehmend von einem Ohr zum anderen, dass es Lena schwer fällt ihr nicht sofort zu verfallen. Doch ich kenne meine Tochter, sie ist freundlich und auf gar keinen Fall feige, zudem hat sie einen enormen Redebedarf, dass Sophie nicht lange auf eine Antwort warten muss.
„Ich bin Lena und du?“, entgegnet sie mit sicherer Stimme und gibt ihren Schutz, leicht versteckt hinter meinem Bein auf.
„Ich bin Sophie, ich kenne deinen Papa von früher. Wir waren zusammen im Schwimmverein.“, erklärt Sophie und es versetzt mir ein undefinierbaren Stich, als sie mich Papa nennt. Doch ich kann mich nicht darauf konzentrieren, da Lena wahre Freude an diesem Gespräch zu finden scheint. Ganz im Gegensatz zu mir. Zu viele, lang zurückgedrängte Gedanken kommen wieder an die Oberfläche und das ist gar nicht gut.
„Im Schwimmereien? Ich will auch unbedingt schwimmen lernen. Papa hat mir schon ein bisschen was beigebracht, doch er ist kein guter Lehrer. Die in dem Verein, indem ich bin aber auch irgendwie nicht, ich mag die nicht.“, berichtet Lena und zieht widerwillig die Nase kraus. Ja ich gebe es ja zu, ich bin kein besonders guter Trainer, ich habe einfach zu wenig Geduld. Und die sogenannten Trainer, in dem Verein den ich finden konnte ohne auf meinen ehemaligen Verein zu stoßen, sind schlicht und ergreifend unfähig.
„Dann komm doch zu uns.“, bietet Sophie leichtfertig an und ich bergreife sofort, dass ich verloren habe. Doch welches Ausmaß das nehmen wird kann ich jetzt noch nicht ahnen.
„Oh ja. Bitte Papa, ich will nicht mehr zu denen. Bitttttte.“, fleht mich meine Tochter an und ich kann nicht anders als zu kapitulieren, also nicke ich ergeben und sehe wieder zu Sophie. Hinter der taucht grade ein großer, schmächtiger Mann mit einem Baby im Tragetuch um den Bauch auf und drückt ihr einen Kuss auf die Wange.
Ich betrachte die neue Situation mit offenen Mund. Sophie hat eine Familie, ein Baby. Tausend Gedanken prasseln auf mich ein. Fine, Tom, Sebastian, Alexander aber allen voran Linda. Hat sie jemand anderen gefunden? Eine Familie?
„Wie alt bist du?“, fragt Sophie wieder meine Tochter, die ist aber grade abgelenkt von dem Baby. Sie sieht es wie hypnotisiert an und freut sich bei jeder Bewegung des kleinen Wesens.
„Ich bin schon sieben.
Ist das dein Baby?“, gibt sie selbstbewusst, aber mit einem Hauch Ehrfurcht wider.
Ohne etwas zu sagen, geht Sophies Mann? Oder zu mindestens der Vater ihres Kindes auf die Knie, sodass Lena das Kleine ganz genau betrachten und sogar anfassen kann.
„Die Altersgruppe 6-8 trainiert freitags von 17-18Uhr.“, erklärt mir Sophie und reißt mich aus der Betrachtung meiner Tochter, an die ich mich geklammert habe, um grade diesem Gespräch zu entgehen.
Ich nicke nur, kann nicht sagen ob ich je zu dieser Uhrzeit in die Schwimmhalle gehen werde. Ich bin immer noch, nach all den Jahren, ein Feigling. Obwohl ich gar nicht weiß, ob Linda überhaupt noch diese Altersgruppe trainieret oder gar in diesem Verein Mitglied ist.
Als sich Lena endlich von dem Baby lösen kann verlasse ich mit ihr fluchtartig die große Halle. Ich bin aufgewühlt wie ewig nicht und Lena versteht die Welt nicht mehr.
Zu Hause erzähle ich alles haarklein Betty. Sie ist Lenas Mutter und kennt meine Geschichte, sie weiß sogar, dass ich sie nicht liebe, zumindest nicht wie ein Mann eine Frau liebt. Klar hatten wir Sex, aber nur das eine Mal, an dem Abend als ich sie kennenlernte und total betrunken war.
Durch sie konnte ich mich endlich wieder aufraffen, mein Leben in die Hand zu nehmen. Sie hat mich aus dem tiefen Loch des Liebeskummers um Linda geholt und mir in den Hintern getreten. Nur durch sie habe ich eine Ausbildung als Alten- und Krankenpflege gemacht und auch erfolgreich beendet. Sie war und ist an meiner Seite, wir sind über all die Jahre richtig gute Freunde geworden.
Wir wohnen zusammen, doch jeder hat sein eigenes Schlafzimmer. Wir sehen uns eher als WG statt als Paar, zwar mit gemeinsamen Kind, aber wir waren beide entschieden gegen eine Abtreibung. Auch wenn ich damals Panik hatte, eigentlich überhaupt keinen Bezug zu Kindern fand, bin ich in die Rolle hineingewachsen.
Doch es ist die einzige Beständigkeit in meinem Leben. Früher hat mir das Schwimmen, der Verein Sicherheit gegeben. Das Gefühl etwas zu können, in etwas gut zu sein. Ich hatte meinen Platz. Das veränderte sich, als ich die Gefühle für Linda nicht mehr unterdrücken konnte. All diese Strukturen sind aufgebrochen und ich vermisse dieses Gefühl der Gemeinschaft, der Geborgenheit.
Ich habe in den Jahren nach meiner Ausbildung zigmal die Arbeitsstelle und sogar den Job gewechselt. Habe Weiterbildungen gemacht, als Rettungssanitäter gearbeitet, aber nirgends konnte ich dieses Gefühl wiederfinden. Zur Zeit arbeite ich bei der Berufsfeuerwehr, doch ich weiß nicht wie lange noch, dass ist nicht mein Platz. Ich fühle mich getrieben, ohne Anker.
Auch wenn Betty und auch Lena auf ihre Art, eine große Stütze sind kann ich dieses Gefühl der Unzugehörigkeit nicht unterdrücken.
„Du solltest hingehen. Nicht nur um Lenas Willen, beziehungsweiße deinen Antrieb, dass sie vernünftig schwimmen lernt, sondern um sie wieder zu sehen. Eventuell sich mit ihr auszusprechen.“, redet mir Betty am Abend ins Gewissen.
Sie ist das Gegenteil von Linda. Hat Idealgewicht und braucht sich keine Gedanken darum zu machen es zu halten. Sie ist ausgeflippt und weiß immer alles besser. Betty hat dunkle, glatte Haare und ihre Augen sind ebenso tief braun.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich war und bin noch immer ein Feigling.“, entgegne ich niedergeschlagen. Sie hat ja Recht, ich will Linda unbedingt wieder sehen, ihr endlich alles erklären, aber wie? Nach all den Jahren?
Betty bedenkt mich nur mit einer hochgezogenen Augenbraue. Gut ich bin nur in Bezug auf Linda feige und meine Statur lässt heute kaum mehr was von dem alten Leon erahnen, aber ich kann einfach nicht über meinen Schatten springen. Auch wenn ich jetzt mit meinen breiten, gut definierten Schultern, als durchaus starker Mann eingeschätzt werde, in diesen Belange bin ich noch immer, der zwar große aber schmale Junge von damals.
Wir lassen das Thema fallen und ich schaffe es mich sogar wieder auf den Alltag zu konzentrieren, ohne mir viele Gedanken zu machen, ob Linda nun eine Familie hat oder nicht. Ob sie glücklich ist oder nicht. Ob sie an mich denkt, mich gar vermisst oder nicht.
Bis zu dem Freitagnachmittag, ungefähr zwei Wochen nach meinem Zusammentreffen mit Sophie, an dem ich von der Arbeit nach Hause komme und Lena mit einer kleinen gepackten Tasche vorfinde. Ihre Augen leuchten auf, als ich durch die Tür trete und mir schwant nichts Gutes.
„Papa, Papa. Mama hat mich bei Sophie angemeldet wir fahren heute zum Training.“, jubelt sie und klatscht sogar vergnügt in die Hände. Meine Augen weiten sich ungläubig und mein Kopf dreht sich mechanisch in Richtung Küche, in der Betty rumhantiert. Sie zuckt nur mit den Schultern, hat aber ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen und ich bekomme seit lange mal wieder den Drang eine Frau zu schlagen. Doch er verfliegt wesentlich schneller, als damals bei Hanna. Hanna, ist sie auch noch im Verein? Leidet Linda noch immer so unter ihr?
Ich bin auf der Fahrt zur Schwimmhalle mindestens so aufgeregt wie Lena, wenn nicht sogar noch mehr. Wie soll ich ihr gegenübertreten? Wird sie überhaupt da sein?
Ich bete darum sie wiederzusehen und im nächsten Augenblick bitte ich, dass sie nicht da sein wird.
Für meinen Geschmack vergeht die Fahrt viel zu schnell. Ich schleiche hinter meiner Tochter in die Vorhalle und bin gleichzeitig froh und enttäuscht, als ich nur Fine entdecke. Eine deutlich schwangere Fine, wie ich verdutzt feststelle.
Sie steht in einer Gruppe von Kindern, als sie zu uns rüber sieht und erstarrt. Wut erscheint in ihren Augen und ich will schon wieder die Flucht ergreifen, als sie schnellen Schrittes auf mich zukommt. Lena versteckt sich wieder halb hinter meinem Bein und ich würde mich auch so gern verstecken.
„Das ist doch nicht dein Ernst.“, zischt sie böse und ich bin mir sicher, sie beherrscht sich nur, weil so viele Kinder anwesend sind.
„Das ist meine Tochter Lena sie würde gern schwimmen lernen. Ich habe Sophie getroffen und sie hat mir angeboten vorbei zu kommen.“, bringe ich an einem großen Kloß in meinem Hals vorbei. Nach all der Zeit ist sie immer noch so sauer auf mich.
„Hör auf ihn zu bedrängen. Er ist ein Vater, dessen Kind gern in unserer Gruppe schwimmen würde. Nicht mehr nicht weniger.“, höre ich die schönste aller Stimmen, hinter Fine und wage einen Blick über die Schulter, der erbosten Schwangeren vor mir.
Sie sieht aus wie vor acht Jahren. Nein, das stimmt nicht. Absolut nicht. Sie ist dünner, zwar immer noch übergewichtig, aber dennoch irgendwie straffer. Außerdem ist ihr Gesicht nicht mehr das einer 17jährigen, sie ist deutlich gereift, zu einer bildschönen Frau herangewachsen. Wobei ihre Augen nun nicht mehr wie das Meer wirken, zumindest mich betrachten sie kalt, wie ein zugefrorener See im Winter. Zudem sind ihre so vollen Lippen zu einem Strich zusammengepresst. Sie wirkt auf mich traurig, freudlos, wenn nicht sogar abgestumpft.
Mein Blick fällt auf die kleine, fast nicht sichtbare Narbe über ihrer Rechten Augenbraue und ich bin zurückversetzt in der Zeit. Befinde mich wieder in Kroatien, Linda in meinen Armen und mich umhüllt ein Gefühl der Glückseligkeit. Ihr Duft steigt mir in die Nase, ihr Lachen klingt in meinen Ohren und ihre Lippen berühren meine.
Ich wünscht ich könnte an diesen Erinnerungen festhalten und würde nicht dieser so vertrauten und doch neuen Linda gegenüberstehen.
Fine schnaubt, wendet sich dann aber wieder den anderen Kindern zu. Linda kämpft einen Moment mit sich tritt dann aber noch einen Schritt auf mich zu. Doch sie sieht mich nicht mal an, ihre Aufmerksamkeit gehört Lena und um mit ihr auf Augenhöhe zu sein beugt sie sich etwas hinab.
„Und du möchtest schwimmen? Was kannst du denn schon? Wir nehmen ja immerhin nicht jeden.“, erklärt Linda gespielt sachlich, hat dabei aber ein sanftes Lächeln auf den Lippen. So kenne ich sie im Umgang mit den Kindern, liebevoll, verspielt und dennoch bestimmt. Auch sie gewinnt Lena sofort für sich, nur Fine muss noch für ihre Zuneigung arbeiten. Sie hat Lena, mit ihrer Wut auf mich, eindeutig verschreckt.
„Ja, ich möchte unbedingt so gut schwimmen können wie mein Papa. Ich bin übrigens Lena und das ist mein Papa.“, berichtet meine kleine Tochter bereitwillig und schaut dann aufgeregt zu mir herauf. Doch wie schon immer in Lindas Nähe kann ich nicht die Augen von ihr lassen und so entgeht mir nicht, dass sie schwer schlucken muss.
„Ich bin Linda und ich freue mich, dass du so viel Spaß am Schwimmen hast. Magst du mit reinkommen und mir zeigen was du schon alles kannst?“, fragt Linda gefasst und hält Lena ihre Hand hin.
Nun bin ich es der sich zu der Kleinen hinunterbeugt, um mich von ihr zu verabschieden.
„Viel Spaß mein Schatz.“, wünsche ich ihr und sie drückt mir einen feuchten Kuss auf die Lippen, ehe sie Lindas Hand ergreift und, mir wild winken mit, ihr davon geht.
Ich setzte mich in das kleine Restaurant, in dem man durch eine Scheibe das Geschehen in der Halle beobachten kann.
Zu Beginn der Stunde beobachte ich noch Lena, dann gleite mein Blick immer öfter zu Linda und irgendwann versinke ich einfach in Gedanken und Erinnerungen.
Eigentlich hätte ich sie längst vergessen haben sollen und ich habe mir eingebildet, dass es auch so war. Doch habe ich nicht immer an sie gedacht, schwelte nicht immer die Sehnsucht nach ihr in mir?
Ich sollte mich schon lange nicht mehr an ihren Duft erinnern, jede Nuance ihrer Haare bildlich vor mir sehen, als hätte ich sie erst gestern gekämmt. Sollte nicht ihr Lachen in den Ohren haben, mir nicht vorstellen wie sie durchs Wasser schwebt. Doch ich tue es. Das Alles und noch viel mehr, Tag für Tag. Nur habe ich es die letzten Jahre verdrängt, bei Seite geschoben, wie eine lästige Fliege. Habe mir verboten es bewusst zuzulassen.
Ein einziger sinnvoller Gedanke reift in dieser Stunde in mir. Ich will Linda zurück. Will wieder diese Berührungen, diese Küssen, die sich so unsagbar intensiv anfühlen. Ich bin ihr verfallen, mit Haut und Haar.
Ich rede an diesem Abend nicht noch einmal mit Linda. Zu viel Angst habe ich davor etwas Falsches zu sagen. Ich muss erst mit Betty darüber reden, mir einen genauen Plan überlegen. Die völlig aufgedrehte Lena, im Auto auf dem Beifahrersitz, ist dabei nicht grade hilfreich.
„Linda ist toll. Sie weiß so viel. Sie ist so lustig. Ich verstehe es sofort wenn sie etwas erklärt und sie sagt, dass ich schon ganz schön toll schwimmen kann. Ich darf wieder kommen hat sie gesagt. Also fahren wir nächste Woche wieder hin?“, plappert Lena hibbelig darauf los und mit jeden Wort werde ich wütender. Ich weiß nicht warum aber plötzlich kocht eine Wut in mir, die unbedingt raus will.
„Weiß du Papa, Linda…“, setzt Lena schon wieder an, als mir der Kragen platzt.
„ES REICHT!“, brülle ich und haue mit der Hand gegen das Lenkrad. Lena ist sofort verstummt und sieht mich nun mit großen, tränennassen Augen an. Augenblicklich tut es mir leid sie so angegangen zu sein. Ich finde es ja toll, dass sie Linda so sehr mag, ich kann es ihr nicht verdenken. Aber dennoch ist da diese Wut die ich nicht bestimmen kann. Ist es, weil sich Linda ihr gegenüber freundlich verhält? Bin ich neidisch auf meine eigene Tochter?
„Es tut mir leid.“, flüstere ich und kann meinem Kind das erste Mal in ihrem Leben nicht in die Augen sehen, weil ich mich zu sehr schäme die Fassung verloren zu haben.
Lena bleibt für den Rest der Fahrt stumm und kämpft verbissen gegen die Tränen. Als wir halten springt sie ohne auf mich zu warten aus dem Auto und rennt ins Haus.
Ich finde sie in Bettys Armen, weinend. Ihre Mutter wirft mir einen verständnislosen Blick zu der mich fragt was schiefgelaufen ist. Doch ich schüttle nur betrübt den Kopf.
Nachdem Abendessen, als Lena im Bett liegt und schläft erzähle ich Betty was passiert ist und hoffe inständig, dass sie mir hilft.
Sie hat Verständnis für meinen Aussetzer im Auto, aber in der anderen Sache, der viel entscheidenderen für mich, sagt sie nicht viel.
„Ich kann dir nur einen Tipp geben. Geduld. Geh es langsam an, du hast sie verletzt. Sie glaubt heute noch, diese Wette hat existiert.“, ist alles was sie mir zu sagen hat, während ich verzweifelt vor ihr sitze.

 

Wochen vergehen, in denen ich mich anstrenge Linda nicht zu bedrängen. Ich rede äußerst höflich mit ihr, belasse es aber bei Gesprächen um Lena und ihre Fortschritte. Es verlangt alles von mir ab, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen und ihr einfach an den Kopf zu werfen, dass ich sie liebe und das es diese Wette nie gegeben hat. Jeden Freitagabend berichte ich Betty von jeder Kleinigkeit und sie hört mir immer geduldig zu, sagt aber nie auch nur ein Wort.
Heute kann ich ihr von einer winzigen Entdeckung berichten, die ich an Linda bemerkt habe. Ihr Blick mir gegenüber scheint wirklich aufzutauen, er wirkt nicht mehr ganz so kalt und ablehnend, wie bei unserer ersten Begegnung.
Völlig außer mir vor Freude, nach dieser Entwicklung, ruft mich Betty augenblicklich zur Räson.
„Du solltest ausziehen.“, wirft sie dann so einfach in den Raum und ich verstehe gar nichts mehr.
„Wie sieht es denn aus, wenn du mit der Mutter deines Kindes zusammen wohnst? Was soll Linda denken, wenn sie du sie irgendwann mal mitbringst?
Sicherlich wird es für Lena komisch, doch wir waren vor ihr nie ein Liebespaar und die Wohnung sollte möglichst in der Nähe sein.“, erklärt sie mir ihren Vorschlag.
Natürlich! Linda wird denken, ich bin mit Betty zusammen. Sicher wird es für Lena eine Umstellung, aber wir waren nie Mama und Papa, die sich küssen. Sie hat nie gesehen wie wir uns näher gekommen sind, als eine freundschaftliche Umarmung. Denn das ist unsere Beziehung, rein freundschaftlich. Auch Betty hat mittlerweile eingesehen, dass es mit uns als Paar nie geklappt hätte.
So suche ich in den nächsten Wochen eine neue Wohnung und habe das Gefühle, dass ich mich Schritt für Schritt Linda wieder annähre. Als ich einmal so nebenbei eine unverfängliche Anekdote von einem Wettkampf erzählt habe, hat sie sogar mit mir darüber gelacht. Naja eher gelächelt, aber immerhin.
Lena ist mittlerweile ein halbes Jahr im Verein, da steht ihr erster Wettkampf an. Linda meint sie ist bereit dafür, außerdem ist es nur ein kleiner, innerhalb des Vereins.
Das ist der Moment, in dem ich begreife, dass ich sehen werde, ob Hanna, Gina oder Micha noch im Verein sind. Auch werde ich sehe, ob die ‘Beschützer‘ noch in ihrer Rolle existieren. Vielleicht ist dieser Wettkampf für mich auch eine Möglichkeit endlich mit Linda zu reden.
Schon in der Vorhalle treffe ich auf Tom und Alexander, also zweidrittel der ‘Beschützer‘. Tom verfällt sofort wieder in seine alte Rolle und stapft wütend auf mich zu. Mit erhobenen Zeigefinger, der droht in meinem Auge zu landen redet er auf mich ein.
„Ich hatte dich gewarnt, ihr nicht mehr zu nahe zu kommen. Lass sie in Ruhe oder du erlebst dein blaues Wunder. Diesmal wird mich keiner zurückhalten.“, faucht er böse und ist in nächsten Moment auch schon wieder verschwunden.
Lena, die sich bei Toms Angriff gänzlich hinter mir versteckt hat, hüpft fröhlich zu Fine, Sophie, Linda und der Gruppe von Kindern um sie herum. Wieder schießen Erinnerungen auf mich ein, von meinem letzten Wettkampf in dieser Halle. Von Linda, wie Hanna sie mutwillig verletzt und sie trotzdem tapfer schwimmt.
Doch ich muss mich auf das hier und jetzt konzentrieren, darf nicht daran denken, dass ich sie noch an diesem Abend geküsst habe und mir eine Abfuhr von ihr einfing.
Ich besinne mich und trete auch zu der Gruppe, in der mich die drei Frauen so unterschiedlich wie nur irgend möglich ansehen. Fine versucht immer noch mich mit ihren Blicken zu erdolchen. Sophie strahlt über beide Ohren und Linda versucht so unbeteiligt wie möglich zu sehen. Auch ein Fortschritt der letzten Wochen, das Eis ist nun gänzlich verschwunden, aber auch jetzt kann ich ihre Augen noch immer nicht lesen. Kann ihre Gefühle nicht mehr, nur anhand ihrer Augen ablesen, so wie ich es früher konnte.
„Können wir kurz reden?“, frage ich an Linda gewandt, ehe mein Mut endlich mit ihr zu sprechen wieder versiegt. Kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde, wägt sie ab und in diesem Blick erkenne ich die alte Linda. Doch dann verschließt sie sich mir wieder und nickt gleichgültig.
Ich suche mir eine ruhigere Ecke und Linda folgt mir. Als ich eine Stelle abseits des Trubels gefunden habe, stelle ich fest, dass es eben jene ist, von der ich damals Linda und Franz aus beobachtet habe.
„Linda,“, beginne ich und wirble zu ihr herum, da sie hinter mir gelaufen ist. Ihre Augen weiten sich und diesmal bleibt der abschätzende Blick länger und es gibt mir die Entschlossenheit, die ich brauche.
„Linda… ich… es tut mir leid. Alles. Wie es damals gelaufen ist war falsch. Es gab nie eine Wette, du musst mir glauben. Ich hätte dir schon an diesem Abend sagen müssen, dass Hanna lügt, aber ich konnte nicht. Micha hat sich das wahrscheinlich alles ausgedacht. Ich habe keine Ahnung. Alles was ich sagen kann ist, es tut mir leid und ich würde gern wieder Teil deines Lebens werden.
Könnten wir nicht… vielleicht einen… Kaffee trinken… oder so?“, plappere ich wild und für mein Gefühl zusammenhangslos vor mich hin. Nun ist mein Mut am Ende und ich lasse meine Schultern hängen. Ich sehe auf den Boden, will die Ablehnung in Lindas Augen nicht sehen. Ich fahre mir durch die kurzen Haare und seufze leicht. Ja eigentlich ist es ein Frauending, sich nach einer Trennung die Haare abschneiden zu lassen, aber Betty hat mich damals überzeugt auch diesen Schritt zu gehen. Sie sind seit dieser Zeit Finger lang und ich finde es gut. So wirke ich wenigstens etwas erwachsener, auch wenn ich das Gefühl habe immer noch dieser 18jährige Junge zu sein.
„Ich trinke keinen Kaffee.“, antwortet sie, aber es klingt nicht so, als dass sie prinzipiell ein Treffen ablehnt und ich schöpfe neue Hoffnung. Ich sehe sie wieder an, Linda wirkt ernst aber nicht kalt und nun trifft mich diese tiefe Traurigkeit, die ich schon bei unserem Wiedersehen vermutet habe, mit voller Wucht. Ich schlucke unsicher, ich hab diese Niedergeschlagenheit zu verantworten, ich allein.
„Ein Tee währe in Ordnung, ganz unverbindlich versteht sich.“, wird sie wieder sachlich und ich fühle mich vor den Kopf gestoßen. Sie hat zwar einem Treffen zugestimmt, aber die Art und Weise trifft mich tief.
Ich verbringe die meiste Zeit des Wettkampfes auf einer Bank und hänge meinen Gedanken nach, hin und wieder schaffe ich es Lena anzufeuern, aber mehr schlecht als recht.
Irgendwann setzt sich die immer noch strahlende Sophie neben mich und langsam macht mir ihr Dauergrinsen Angst. Muss wohl an den Familienglück oder so liegen versuche ich es abzutun, aber dennoch ist es beängstigend, dass sie dieses Grinsen den ganzen Tag halten kann.
„Ich finde es toll, dass deine Tochter jetzt auch bei uns schwimmt.“, erklärt sie fröhlich und schaut dabei auf Lena, die grade wieder, mit den anderen Kindern um Linda versammelt steht. Sie beten sie an.
„Niemand hat mir erzählt, was damals wirklich von statten gegangen ist. Ich weiß nur, dass du Linda verletzt hast, tief verletzt. Doch du bist jetzt hier und ich weiß, dass sie seit damals nicht wieder richtig glücklich war. Die kurze Zeit, nachdem ihr aus Kroatien wieder da wart, hab ich sie wirklich glücklich erlebt. Das war die wahre Linda und das für einen so langen Zeitraum, dass ich dachte es bleibt für immer so. Ich wünsche mir so sehr, dass sie endlich wieder glücklich wird und ich weiß, du kannst das in ihr hervorrufen.“, sagt sie plötzlich ernst und blickt mir so intensiv in die Augen, dass ich nur eingeschüchtert nicken kann. Lindas Freunden liegt immer noch so viel an ihrem Wohl, jedem auf seine Art und Weise.
Lena ist wirklich gut und sie gewinnt sogar einen Pokal. Stolz zeigt sie ihn zu Hause Betty und ebenso selbstsicher berichte ich ihr von dem anstehenden Treffen mit Linda.
Erst an diesem Abend im Bett fällt mir auf, dass Hanna, Micha und Gina augenscheinlich nicht mehr im Verein sind. Keinen von ihnen habe ich heute gesehen. Und keiner der heute anwesenden Personen hat auf mich den Eindruck gemacht, als sehen sie Linda als minderwertige Person an. Das stärkt mich, auch wenn ich mir fest vorgenommen habe, diesmal alle gesellschaftlichen Normen außer Acht zulassen, egal was kommt.
Es dauert noch eine Weile ehe sich Linda wirklich zu einem Termin für unser Treffen durchringen kann. Erst nach nachdem das neue Jahr schon fast zwei Monate alt ist gehen wir einen Tee trinken. Ich wohne zwischenzeitlich in meiner eigenen Wohnung, Weihnachten habe ich aber natürlich bei Lena und Betty verbracht. Wir sind so verblieben, dass wir je nach meinem Schichtplan, Lena 2 Wochen bei mir und dann Zwei Wochen bei Betty ist. Sie hat in beiden Wohnungen ein voll ausgestattetes Zimmer und auch einen vollen Kleiderschrank, sodass sie nie mit großen ‘Gepäck‘ reisen muss. Meine Wohnung ist auch nur zwei Querstraßen weit weg, sodass bei Notfällen immer die Möglichkeit besteht sich abzusprechen, ohne durch die ganze Stadt zu müssen. Lena selbst, scheint sich ganz gut an die neue Situation gewöhnt zu haben und wir unternehmen trotzdem noch viel zu dritt. Als Familie kann man es nicht bezeichnen, dass waren wir nie.

 

Mit schweißnassen Händen sitze ich also Ende Januar in einem kleinen Café in der Innenstadt, dass Linda ausgesucht hat und versuche meinen Puls wenigstens etwas unter Kontrolle zu bekommen. Ich bin aufgeregter als vor unserem ersten Date, aber damals waren wir ja auch schon zusammen.
Mein Blick ist die ganze Zeit auf die Tür gerichtet, nur ab und an huscht er zur Uhr. Nur um zu erkennen, dass erst ein paar Sekunden seit dem letzten Mal vergangen sind und es immer noch zehn Minuten vor der ausgemachten Uhrzeit ist.
Wie eine Erscheinung steht Linda auf einmal in der Tür und tritt sich etwas den Schneematsch von den Füßen. Wie in Zeitlupe erhebe ich mich, als sie mich entdeckt hat und auf mich zugeht.
Leicht unbeholfen stehen wir dann voreinander und wissen nicht wie wir uns begrüßen sollen. Zur gleichen Zeit, wie Linda ihre Hand aus der Tasche zieht und mir entgegenstreckt, beuge ich mich zu ihr hinab und drücke ihr einen hauchzarten Kuss auf die Wange. Linda zuckt nicht zurück, doch ihre Augen haben sich verengt, als ich mich wieder aufrichte. Allerdings zeugt die leicht Röte auf ihren Wangen, dass es sie doch nicht ganz kalt lässt.
„Setzten wir uns doch.“, bin ich es, der die angespannte, leicht elektrisch geladene Stille durchbricht, ohne es auch nur kontrollieren zu können.
Galant helfe ich Linda aus dem Mantel und rücke ihren Stuhl zurecht, was sie allerdings nur mit einem Augenverdrehen quittiert. Mist, sie erinnert sich, dass ich eigentlich nie ein Gentleman war.
Wir bestellen bei der Kellnerin, ich einen Kaffee und Linda einen Chai Latte und wieder kehrt Stille ein.
Ich nutze die Zeit um Linda ganz genau zu beobachten. Auch sie ist nervös, zuppelt ständig an ihrem Shirt rum und weicht meinem Blick aus. Die Züge um ihren Mund wirken verhärtet, so als lache sie nicht viel, was ich mir nicht vorstellen kann. Früher hatte sie eigentlich immer ein Lächeln auf den Lippen, auch wenn ihre Fröhlichkeit meist gespielt war, dieses Lächeln war es nicht.
Erst als die Kellnerin unsere Getränke gebracht hat beginne ich zu erzählen. Ohne Umschweife und Ausschmückungen berichte ich von den letzten acht Jahren, in denen wir uns nicht gesehen haben. Ich erkläre Linda die Situation mit Betty und wie sehr ich an Lena gewachsen bin. Spreche aber auch von meinem Gefühl der Unzugehörigkeit, grade in Sachen Job.
Linda hört mir geduldig zu, sieht mich sogar die ganze Zeit an. Fast könnte man meinen, sie hängt an meinen Lippen. Aber dieser Einbildung geben ich mich gar nicht hin.
Immer wieder betone ich, dass es diese Wette nie gab und dass Hanna damals gelogen hat. Doch ich befürchte Linda wird mir nie glauben, zumindest ihr Blick zu diesem Thema spricht Bände.
Als ich mit meinen Erzählungen geendet habe kehrt wieder Stille ein. Ich dränge Linda nicht zu erzählen, es ist ihre Entscheidung. Mir war es nur wichtig sie an meinem Leben teilhaben zu lassen und ihr alles weitestgehend zu erklären.
„Du warst damals nochmal in der Schwimmhalle, Tom hat es mir erzählt. Was wolltest du mir sagen?“, fragt sie forschend.
Ich schlucke schwer, zum einen weil ich immer noch genau weiß was ich ihr sagen wollte und zu anderen, weil es jetzt genau der falsche Zeitpunkt ist dies auszusprechen.
„Ich wollte sagen, dass es diese Wette nicht gab und dass ich dich liebe, über alles liebe.“, bringe ich ehrlich heraus und konzentriere mich so sehr ihrem Blick standzuhalten, dass mir noch ein ‘das tue ich bis heute‘, leise herausrutscht.
Linda beginnt nun auch stockend von ihrem Leben zu berichten, sie hat anscheinend meinen unkontrollierten Einwurf nicht gehört oder übergeht ihn schlicht und ergreifend.
Sie erzählt von ihrem Abitur, ihrem Studium und ihrer Arbeitsaufnahme. Sie arbeitet als Erzieherin und ich bin der festen Überzeugung es gab nie eine bessere.
Sie eröffnet mir auch eine feste Beziehung zu Tom gehabt zu haben. Sie waren also wirklich ein Paar, er hat seine Chance bekommen und anscheinend auch nicht genutzt. Ich frage nicht nach warum sie sich getrennt haben, aber sie sind auf jeden Fall nicht mehr zusammen.
Mir entgeht auch nicht, dass Linda ganz bewusst das Thema Franz und allgemein den Verein ausspart, insbesondere auch der weitere Verlauf mit Hanna und Micha, denn das sind Themen die mich wirklich interessieren. Sie brennen mir so sehr unter den Nägeln, das ich mich kaum zurückhalten kann sie anzusprechen.
Es muss irgendetwas vorgefallen sein, dass sie mir verschweigt, denn auch ihr Engagement im Verein hat sich sichtlich gewandelt. Wo sie früher ihr letztes Hemd gegeben hätte, tut sie heute nur noch das nötigste. Klar führen Fine und sie die Gruppe tadellos, aber darüber hinaus bringt sie sich nicht mehr ein.
Vielleicht liegt es auch an ihrer Schulter. Schwimmt sie eigentlich selbst noch? Wie geht es ihrer Schulter?
Alles Fragen, die für mich an diesem Tag offen bleiben und die ich unterdrück, um Linda nicht vor den Kopf zu stoßen, wo wir uns grade wieder annähern.
Als sie damit fertig ist, mir das zu erzählen, was sie preisgeben möchte erklärt sie auch das Treffen für beendet. Natürlich auf ihre immer höfliche Art indem sie angibt noch etwas vor zu haben. Ich lasse es geschehen und begleite sie, nachdem ich die Rechnung beglichen habe, nach draußen.
Wieder entsteht eine unklare Situation. Wir stehen voreinander, wie bei der Begrüßung und wissen nicht wie wir es zu Ende bringen sollen. Als sich eine kleine Schneeflocke auf Lindas Wange legt handle ich rein instinktiv, in dem ich ihr sanft meine Hand auf eben diese Wange lege und sacht mit meinem Daumen den kleinen Wassertropfen wegstreiche, der entstanden ist, als die Flocke auf Lindas erhitzter Wange geschmolzen ist.
Linda bewegt sich nicht, sie schließt sogar die Augen in einer Geste tiefer Emotionen. Plötzlich spüre ich wieder diese Vertrautheit, die sich früher immer eingestellt hat, wenn ich ihre zarte Haut berührt habe. Ich kann es nicht steuern, doch langsam bewege ich mich zu ihr hinab. Der Weg kommt mir ewig vor, bis meine Lippen hauchzart auf ihren liegen. Ihr Duft umhüllt mich und meine Sinne sind gänzlich von Linda umnebelt. Doch es gibt einen Unterschied zu damals und der ist es auch, der mich wieder in die Realität bringt und mich leicht verwirrt. Es liegt keine Spur Chlor mehr in ihrem Geruch. Dieser sonst immer so allgegenwärtige Teil ihres Dufts ist verschwunden und es beweist mir, dass sie auf jeden Fall sehr lange nicht mehr selbst geschwommen ist.
Ich löse mich wieder von Linda und forsche in ihren Augen, wie sie diesen Vorstoß verkraftet hat, doch sie offenbaren mir wieder keine Regung.
„Tschüss.“, sagt sie hastig, dreht sich um und geht. Ich bleibe noch einen Moment stehen und blicke ihr nach.
Betty freut sich mit mir über die langsamen Fortschritte und lobt mich, mit einem Schmunzeln, für meine Geduld und Zurückhaltung. Ja, dass bin eigentlich nicht ich, dass weiß sie genau und es verlangt mir alles ab.
Doch es gibt auch Rückschläge. So verhält sich Linda an diesem Freitag wieder wie immer, als hätte es unser Treffen nie gegeben. Ich bin wieder nur der Vater von Lena.
In den nächsten drei Wochen wird es sogar noch schlimmer. Nun redet sie gar nicht mehr mit mir. Fine hat eine kleine Tochter bekommen und Sophie ersetzt sie jetzt. Sie ist es auch die mich über Lenas Trainingsstand informiert, sodass Linda kein einziges Wort mehr mit mir wechselt. Habe ich irgendetwas falsch gemacht? War der Kuss zu viel? Doch kann etwas so gutes zu viel sein?
Immer verzweifelter beobachte ich Linda von weiten, wenn ich sie wenigsten sehe. Auch Sophie entgeht mein Blick nicht.
„Hast du morgen schon was vor?“, fragt sie mich eines Freitags nach dem Training und reißt mich damit mal wieder aus meinen Betrachtungen von Linda.
„Nein, wieso?“, stelle ich prompt eine Gegenfrage.
„Ich habe Geburtstag und gebe eine kleine Party. Hiermit lade ich dich offiziell ein.“, beschließt sie offensichtlich spontan mit einem Seitenblick auf Linda, die grade in ein Gespräch mit einem anderen Elternteil vertieft ist.
Versucht Sophie jetzt Linda zu Kontakt mit mir zu drängen? Ich weiß nicht ob ich das gut finden soll. Doch mein Plan scheint ja irgendwo gescheitert zu sein. Beziehungsweise ist er zurzeit auf Eis gelegt, da Linda nicht mit mir kommuniziert. Betty kann mit der neuen Situation auch nicht umgehen, zumindest hat sie keine neuen Tipps für mich. Keine Vorschläge wie ich die Lage wieder verbessern könnte.
Vielleicht ist das eine neue Möglichkeit die sich mir grade offenbart und so ganz nebenbei könnte ich auch mal wieder die Gruppendynamik zwischen allen Beteiligten analysieren, da ich den Verdacht habe irgendwas liegt da im Argen. Ich hab seit dem ich wieder zu Linda und dem Verein Kontakt habe nur eine Situation erlebt in der Tom und Linda beide anwesend waren. Sie haben kein Wort, noch nicht mal einen Blick, gewechselt.
Ich willige schnell bei Sophie ein zu kommen und sie gibt mir die Adresse.
Unplanmäßig fahre ich mit Lena bei Betty vorbei und lasse die Kleine gleich bei ihr, nachdem Betty mir noch ein paar Verhaltensregeln eingebläut hat. So soll ich mich unbedingt im Hintergrund halten, nicht zu lange bleiben und mit Tom auf keinen Fall einen Streit vom Zaun brechen.
Am Morgen besorge ich noch ein kleines Geschenk für Sophie, wenn sie mich schon zu ihrem Geburtstag einlädt und mir diese Chance einräumt, kann ich ja nicht mit leeren Händen kommen. Allerdings wird er nur der altbewehrte Gutschein, denn so gut kenne ich Sophie nicht, dass ich weiß was sie mag. Aber ich kaufe noch etwas anderes und hoffe wirklich inständig, dass es je zum Einsatz kommt. Denn wenn Linda mir wirklich irgendwann wieder vertrauen und mich lieben kann, werde ich sie umgehend zu meiner Frau machen. Ich hatte nie das Bedürfnis mich fest zu binden, aber mit Linda kann ich es mir vorstellen. Nicht nur das, es erscheint mir als einzig logische Konsequenz.
Als ich bei Sophie ankomme sind die anderen schon da. Tom mit augenscheinlich seiner Freundin, Alexander, Fine mit Baby und Mann/Freund, Linda und natürlich Sophie ihr Freund und ihr kleines Mädchen.
Die Frauen bedenken mich wieder mit ihren altbekannten Blicken. Fines ist totbringend wie je und je. Lindas fängt sich nach anfänglicher Ungläubigkeit zum teilnahmslosen Ausdruck. Sophie strahlt und begrüßt mich mit Küsschen auf beide Wangen.
Tom beobachtet unterdessen Linda genau. Wo sie sich noch in der Schwimmhalle keinen Blick geschenkt haben, klebt seiner nun praktisch an ihr.
Alexander, Phillip (Sophies Freund und Vater ihres Kindes mit französischer Abstammung) und Thomas (Fines Mann und ebenfalls Vater ihres Kindes) begrüßen mich mit Handschlag, während die nicht erwähnten eine Begrüßung übergehen und mich ignorieren oder mit ihren Blicken töten (Fine).
Der Nachmittag schreitet voran und ich halte mich dezent im Hintergrund, rede nur wenn ich direkt angesprochen werde und versuche Linda nicht zu sehr zu beobachten. Doch auch so entgeht mir nichts. Meine Befürchtungen wegen der Gruppendynamik sehe ich hier bestätigt. Tom, seine Freundin (Lara, wie ich mittlerweile rausgefunden habe) und Alexander bilden eine Gruppe für sich. Wobei mir die Konstellation zwischen den drein nicht so ganz klar ist, es ist bei weitem nicht offensichtlich, dass Lara Toms Freundin ist. Würden sie sich nicht ab und zu küssen, könnte sie ebenso gut Alexanders Begleitung sein. Doch ich versuche erst gar nicht dahinter zusteigen, warum sie sich so verhalten. Währenddessen die drei sich eher für sich und abseits halten, wirft Tom Linda immerzu Blicke zu, die ich als eindringlich oder sogar drohend einschätze. Was ist zwischen ihnen Vorgefallen? Warum verhält er sich so? Früher waren sie wie Geschwister und jetzt das, dass kann doch nicht gut sein. Besonders für Linda, die die Personen in ihrer unmittelbaren Umgebung so sehr braucht.
Aber auch auf der anderen Seite sieht es nicht rosig aus. Linda wirkt wie das fünfte Rad am Wagen. Fine und Sophie haben ihre Männer und Kinder, die perfekten kleinen Familien. Nur was hat Linda?
Sie ist zwar bei ihnen, spielt mit den Babys, nimmt sogar an den Gesprächen teil, was sie ja durchaus kann als Erzieherin, dennoch fehlt ihr die Erfahrung mit dem eigenen Kind, der eigenen kleinen Familie und das sieht man ihr deutlich an. Mit jeder Minute, die sich das Thema nur um die Kinder, das Wickeln, den richtigen Nuckel dreht muss sie stärker, die aufkommenden Tränen unterdrücken.
Alle treten vor mir für sie ein, doch keiner sieht wie schlecht es ihr wirklich geht. Was sie selbst, ihre sogenannten Freunde, ihr antun und nichts dagegen unternehmen. Allein Sophie, die mich versucht immer miteinzubeziehen und unauffällig mit Linda in Berührung zu bringen, scheint im Ansatz eine Ahnung von Lindas Qualen zu haben. Beziehungsweise hat sie zu mindestens erkannt, dass es ihr im Moment nicht gut geht.
Ich beginne mich zu fragen wie lange Linda diese Situation noch aushält, ehe sie daran zerbricht. Denn das wird sie ohne Zweifel, wenn sich an der Situation nichts ändert.
Ein klares Anzeichen dafür ist auch, dass sie sich kurz darauf auf die Terrasse entschuldigt, obwohl es Minusgrade sind ohne eine Jacke. Schnell deute mir Sophie an Linda hinterher zu gehen doch ich kämpfe noch einen Moment mit mir, ehe ich es wirklich tue.
Die eisige Luft empfängt mich, als ich auf die Steinplatten trete, die das Haus vom Garten trennt. Weiße Wölkchen bilden sich vor meinem Mund und frierend reibe ich mir die Oberarme. Es ist wirklich kalt hier draußen.
Ich gebe mir ein paar Sekunden, der stummen Betrachtung dieser gefrorenen Natur, bevor ich mich Linda zuwende, die zitternd an der Rasenkante steht. Als ich zu ihr heran trete, nun direkt hinter ihr stehe, bemerke ich, dass ihr Zittern nicht nur von den Temperaturen herrührt. Linda weint, versucht es zwar immer noch mit aller Macht zu unterdrücken aber sie schafft es nicht.
Sanft drehe ich sie zu mir um und Linda lässt es geschehen, nur ein leises, kaum zu vernehmendes ‘Bitte nicht‘, dass ich gekonnt ignoriere, gibt sie von sich, ehe ich Linda fest in die Arme schließe. Sie beginnt haltlos zu schluchzen und ich drücke sie noch fester an mich. Linda vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust und ich lege meine Wange auf ihre Stirn. Langsam löst sie die vor der Brust verschränkten Arme und ich ziehe sie noch dichter an mich. Nach einiger Zeit, die wir in dieser eisigen Kälte stehen, legt sie sogar vorsichtig ihre Arme um mich.
„Du hast es verdient. Du hast alles verdient, was du dir wünschst und vor allem hast du verdient glücklich zu sein.“, sage ich bedächtig, denn ich bin mir sicher, dass ist es was sie sich einredet. Linda macht sich selbst klein und erkennt nicht, dass das einzig wichtige ihr eigenes Glück ist.
„Es gibt nichts, was man nicht ertragen kann. Nicht glücklich zu sein ist dabei nur eines der geringeren Übel.
Ich sollte gehen.“, schnieft sie an meinem Pullover, der an dieser Stelle schon vollkommen durchnässt ist, aber für Linda ertrage ich selbst das.
„Ich fahre dich.“, biete ich sofort an und hebe gleichzeitig ihr Kinn in die Höhe, sodass ich sie ansehen kann. Verzweiflung, Traurigkeit und tiefe Selbstzweifel blicken mir entgegen. Ich fahre mit dem Daumen über ihre volle, bebende Unterlippe und beherrsche mich, ihre Situation nicht auszunutzen und sie zu küssen, während meine Hose mal wieder eng wird, allein bei diesem Anblick.
Als wir das Wohnzimmer wieder betreten schwelt ein Streit in der Luft, der durch unser Hinzukommen nur unterbrochen wurde. Anhand der Blicke die durch den Raum blitzen erkenne ich sogar zwei Streitpaare. Fine und Alexander, Sophie und Tom. Sie funkeln sich über die Distanz des Raumes an, das man glauben könnte sie wären Paare und ein Ehekrieg hätte begonnen.
Schnell schiebe ich Linda durch das Zimmer und verabschiede mich und sie mit dem hastigen Einwurf, dass ich Linda nach Hause fahre, da es ihr nicht gut gehe, was ja sichtlich auch der Wahrheit entspricht. Noch immer laufen die salzigen Tränen über ihre ebenmäßige Haut und ihrer blassen Haut wirkt nun gänzlich alles Blut entzogen. Sie zittert und schluchzt, kurz vor einem totalen Nervenzusammenbruch.
Wir sitzen eine ganze Weile still im Auto ohne zu fahren, da ich nicht weiß wohin und Linda mit sich kämpft. Sie versucht sich zu fangen und schafft dies, zu meiner großen Erleichterung auch. Nicht, dass ich mich nicht gern um Linda kümmere und ihr zur Seite stehe, aber ein Zusammenbruch ist nun wirklich keinem zu wünschen.
Linda sitzt auf dem Beifahrersitz und versucht durch Atemübungen sich zu beruhigen. Ihr Atem wird gleichmäßiger und die Schluchzer nehmen ab.
„Ich hatte schon ein paar Nervenzusammenbrüche. Danke, dass du mich vor diesem bewahrt hast.“, ist das erste was sie sagt, als sie sich gänzlich beruhigt hat.
Schweigend starte ich den Motor und schaue sie danach wieder erwartungsvoll an, Linda versteht meine Bitte und gibt mir ihre Adresse.
Sie wohnt noch in dem gleichen Viertel, nur ein paar Straßen von dem Ort entfernt, an dem sie aufgewachsen ist.
„Soll ich dich hinauf begleiten?“, frage ich vorsichtshalber, da ich ihre derzeitige Stimmung nicht einschätzen kann. Ich weiß nicht wie weit sie sich schon gefangen hat oder ob gleich der nächste Tiefpunkt droht.
„Nein, nicht nötig.“, entgegnet sie leise, schüttelt gleichzeitig verneinen den Kopf und betrachtet ihre Hände, die in ihrem Schoß verknotet sind.
Wieder drehe ich sie an ihrem Kinn so zu mir, dass ich ihr in die Augen sehen kann. Erneut bilden sich Tränen darin, aber ich erkenne auch, dass kein neuerlicher Zusammenbruch akut ist. Dieses Mal belasse ich es nicht bei einem Streichen über ihre Unterlippe, sondern lege meine Lippen auf ihre, vergrabe sogar meine Hand in ihrem Haar und das erste Mal seit Jahren habe ich wieder das Gefühl angekommen zu sein, zu Hause. Als Linda dann sogar noch diesen Kuss erwidert bin ich im Himmel. Ich intensiviere den Druck, ziehe sie näher an mich obwohl ich weiß, dass ich sie jetzt gehen lassen muss, dass ich sie nicht so sehr bedrängen darf. Doch es fühlt sich einfach viel zu gut an, sie in meinen Armen zu spüren, ihre Lippen, die sich teilen und mich einladen ihren Mund zu erkunden.
Ich löse mich atemlos von ihr, denn sonst könnte ich für nichts mehr garantieren. Meine Hose scheint jetzt schon jede Sekunde zu platzen, sosehr spannt der Jeansstoff über meiner Erektion. Ich habe mich nur wenige Zentimeter von Linda getrennt, nur soweit, dass sich unsere Lippen nicht mehr berühren, aber das ich problemlos in ihren großen Augen lesen kann. Die ersten, wundervollen Sekunden nach unserem Kuss wirkt sie wie verzaubert. Ich erkenne wieder den tiefen, blauen Ozean in ihren Augen, den ich als verschwunden geglaubt habe. Doch dann verschließt sich ihr Blick wieder vor mir und ohne ein weiteres Wort hechtet sie aus dem Wagen und ins Haus hinein. Wie paralysiert bleibe ich noch minutenlang starr im Auto sitzen, in der Hoffnung sie kommt zurück. Im Vertrauen, dass sie mich nicht schon wieder abblitzen lässt. Doch sie kommt nicht wieder und so fahre ich niedergeschlagen in meine Wohnung. Allein. Nie war dieses Gefühl präsenter, es gibt nur einen Zeitpunkt in meinem Leben an dem ich mich ähnlich gefühlt habe. Der Abend an dem ich in der Schwimmhalle war, Linda aber nicht. Nachdem Tom mich zusammengeschlagen hat und ich ziellos durch die Straßen gestreift bin.
Auch heute gebe ich mich wieder dem Alkohol hin. Damals habe ich das exzessiv getan, bis ich auf Betty gestoßen bin. Sie verdränge ich heute Abend, jetzt gebe ich mich gnadenlos meinem Selbstmitleid hin, morgen kann sie mir dann wieder ins Gewissen reden.
Meine Gedanken kreisen um Linda, während ich versuche mit viel Alkohol das Gefühl des Abgewiesen Werdens zu überdecken, oder unterdrück? Ach egal, es soll verschwinden.
Mit steigendem Alkoholspiegel wünsche ich mir mit jeder Sekunde mehr Sophie nie getroffen zu haben. Bete darum, die Zeit zurück zudrehen in der ich mich der Hoffnung hingegeben habe aus mir und Linda könnte wieder ein Paar werden, vielleicht sogar mehr. Bitte, dass ich sie nicht so sehr lieben würde wie ich es tue, um sie endlich vergessen zu können.
Doch all mein Hoffen, Bangen, Bitten und Beten ist sinnlos, denn was wäre mein Leben ohne Linda? Nichts. Einzig Lena und der Gedanke, die nie sterbende Hoffnung auf ein Happy End, mit Linda haben mich über diese acht Jahre gerettet.
Lena. Sie sollte Lindas Tochter sein. Unsere Tochter.
Kurz bevor der Alkohol gänzlich mein Bewusstsein wegspült krame ich mein Handy aus der Hosentasche und schaue mir Bilder an. Von Lena. Von Linda. Auch ein paar gemeinsame von mir und Linda, die es Dank Fine gibt und an die ich nur über Sophie gekommen bin. Sie haben eine schlechte Qualität, da sie damals noch mit Film aufgenommen sind und nun nur mit dem Handy abfotografiert wurden. Eines habe ich sogar ausgedruckt und in der Brieftasche, ganz so als wären wir wirklich zusammen.
Kurz darauf erlischt meine Erinnerung und der Alkohol schafft es mich für kurze Zeit vergessen zu lassen.
Doch auch der nächste Tag kommt, mit ihm alle die Erinnerungen und zusätzlich noch ein gewaltiger Kater. So schlimm bin ich lange nicht abgestürzt. Selbst die Nacht, in der mich Betty aufgegabelt hat, war nicht so elend.
Mein Wecker zeigt kurz vor drei Uhr am Nachmittag, als mich das grelle Sonnenlicht aus meiner Totenstarre löst. Mein Kopf hämmert, meine Zunge ist belegt und ich habe einen grauenhaften Geschmack von Erbrochenen im Mund. Mit Sicherheit habe ich mich übergeben. Zudem sind meine Glieder schwer wie Blei.
Ich bin zwar wach bleibe aber dennoch liegen, da ich keinerlei Veranlassung sehe meinen Zustand durch das Verlassen meines Bettes noch zu verschlimmern. Um mich etwas abzulenken greife ich nach meinem Handy. Sobald ich das Display entsperrt habe, halte ich in meiner Bewegung abrupt inne. Der Anrufverlauf ist geöffnet und zeigt mir an, dass ich in dieser Nacht gegen 4 Uhr Linda angerufen habe. Ich gehe auf den Protokolleintrag und er offenbart mir, dass wir 10 Minuten miteinander gesprochen haben. Gesprochen? War ich dazu überhaupt noch in der Lage? Was habe ich ihr gesagt? Was hat SIE gesagt? Oh mein Gott, ich kann Linda nie wieder unter die Augen treten.

 

Die ganze Woche grüble ich darüber, was ich Linda wohl gesagt haben könnte und komme doch auf keine Antwort. Nur die wie immer aufgedrehte Lena veranlasst mich überhaupt dazu in die Nähe der Schwimmhalle zu kommen. Doch vor Beginn des Trainings traue ich mich nicht in die Vorhalle, ich verabschiede Lena vor der Tür und warte, bis ich durch die Scheibe sehe, dass sie hineingegangen sind. Linda hat sich mit einem komischen Ausdruck ein paar Mal suchend umgesehen aber ist dann doch als letzte durch das Drehkreuz gegangen.
Ich beobachte wie immer die Stunde durch die Glasscheibe, die die Halle von Restaurant trennt und zerbreche mir schon wieder den Kopf darüber, was ich Linda am Telefon wohl gesagt haben könnte.
Brühwarm fällt mir ein, dass Lena morgen Geburtstag hat. Die Feier ist schon geplant und alles ist organisiert, nur wollte ich schon Ewigkeiten Linda nach ein paar Tipps fragen. Lena hat sich eine Feier im Schwimmbad gewünscht und ich hatte vor dies durch geeignete Spiele aufzulockern, doch ich habe es immer wieder vor mir her geschoben und dann war diese Funkstille zwischen uns. Doch die jetzige Situation ist auch nicht besser, ich weiß partout nicht woran ich bei ihr bin, der Anruf hat diesen Zustand nur noch verschlimmert.
Händeringend warte ich im Vorraum auf Lena, einen Geistesblitz oder einfach eine göttliche Fügung. Ja ich bete regelrecht, dass sich irgendwie alles zum Guten wendet. Als dann Lena noch aufgeregter als sonst und mit Linda, die sie hinter sie her zieht aus der Umkleide stürmt, rutscht mir mein Herz bis hinab in die Kniekehlen. Was hat sie angestellt? Warum ist sie so aufgeregt? Wieso zieht sie Linda hinter sich her? Warum schaut Linda so hin und her gerissen? Ihr Blick wechselt in Sekundenbruchteilen zwischen Freude und Verzweiflung, zum Teil mischen sich auch Wut und die bekannte unbeteiligte Mine darunter.
Außer Atem bleibt meine Tochter vor mir stehen und muss erst Mal tief Luft holen, ehe sie reden kann. Während dessen male ich mir die schlimmsten Szenarien aus, die eingetroffen sein könnten.
„Papa, Papa, Papa…“, setzt Lena irgendwann an, muss aber abrechen, da sie immer noch nicht genügend Luft hat, um diesen Satz zu beenden.
„Linda kommt zu meinem Geburtstag. Also ich hab sie gefragt und sie hat ja gesagt. Ist das nicht toll? Das wird der beste Geburtstag aller Zeiten.“, freut sie sich und hüpft sogar auf und ab. Ich hab sie lange nicht mehr so erlebt, sie ist vollkommen außer sich vor Freude und bei dieser Begeisterung muss selbst ich lächeln, auch wenn die Tatsache, dass sie Linda eingeladen hat mich panisch werden lässt.
„Natürlich nur wenn du einverstanden bist.“, schiebt sie nach einer Weile nach, in der ich versucht habe in Lindas Blick zu lesen, was das alles soll. Warum nimmt sie eine solche Einladung an? Aber viel wichtiger, was habe ich am Telefon gesagt? Verdammt!
Bin ich einverstanden? Ich weiß es nicht. Gern hätte ich noch etwas Bedenkzeit, doch wahrscheinlich würden mir Lindas Augen auch in hundert Jahren nicht verraten was sie will und wie die Beziehung zwischen uns zurzeit steht.
Ich reiße meinen Blick los, von einer Linda die von Sekunde zu Sekunde spöttischer auf eine Antwort von mir wartet und wende mich Lena zu, die immer noch begeistert zwischen uns Erwachsenen hin und her sieht.
„Aber natürlich, du kannst einladen wen du willst.“, bringe ich meiner Ansicht nach tapfer heraus und ignoriere dabei sämtliche Abwehrzeichen meines Körpers. Der Kloß in meinem Hals, die heißkalten Schauer auf meinem Rücken und mein verknoteter Magen sind nur die hervorstechendsten.
„Supi,“, jubelt Lena, „ dann kommst du morgen mit ins Spaßbad, dass wird riesig.“, sagt sie an Linda gewandt, während ich sie, um der Situation endlich zu entkommen, schon an der Hand genommen habe und in Richtung Ausgang ziehe. Schnell werfe ich Linda noch die Uhrzeit und den Ort über die Schulter zu und dann habe ich es geschafft, wir stehen auf dem Parkplatz.
Die plappernde Lena kann ich während der Fahrt gut ausblenden, ich bin viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, als das mir Lena ihr ‘Linda hier, Linda da‘ irgendwas anhaben könnte.
Ich fahre zu Betty. Zum einen wollen wir morgen mit Lena gemeinsam verbringen und zum anderen brauche ich sie jetzt unbedingt zum Reden. Ich habe ihr von dem nächtlichen Anruf bei Linda noch nicht erzählt. Wir sind die Woche einfach nicht dazu gekommen und außerdem weiß ich ja gar nicht was ich berichten soll, ich weiß ja nicht was ich gesagt habe.
Als wir schließlich, nach dem Gewaltakt, die restlos entfesselte Lena ins Bett zu bringen, geschafft auf der Couch sitzen und Betty uns einen Wein einschenkt, beginne ich nun meinen Bericht. Beginnend bei Sophies Feier und endend mit Lenas Bekundung, dass sie Linda zu ihrem Geburtstag eingeladen hat.
„Du hast sie betrunken angerufen? Um vier Uhr morgens? Du bist so ein Idiot. Und trotzdem hat sie Lenas Einladung angenommen? Hab ihr sonst noch gesprochen? Hat sie irgendwas zu dem Telefonat gesagt?“, ereifert sich Betty, als ich zum Ende gekommen bin. Sie rauft sich sogar die Haare, so unwirsch habe ich sie selten erlebt. Eigentlich ist Betty eine Person, die alles sehr rational angeht, sicher zeigt sie in den angebrachten Situationen auch Emotionen aber sie ist nie anscheinend grundlos aufgebracht. Wie soll ich ihr Verhalten jetzt verstehen? Ich weiß, dass es ein Fehler war Linda mitten in der Nacht anzurufen, Dass ich ein Idiot bin, aber ich war betrunken und ändern kann ich es jetzt auch nicht mehr.
„Nein, sie hat kein Wort zu mir gesagt und ich war froh, als ich endlich draußen war und sie mich nicht auf diesen Anruf angesprochen hat.“, antworte ich leicht verwundert, ob ihres leichten Ausbruchs.
„Es gibt ein paar Möglichkeiten, wieso sie sich so verhält. Entweder sie konnte Lena einfach nicht absagen, Dackelblick und so, du kennst es.
Oder, sie will etwas damit erreichen. Vielleicht nochmal mit dir sprechen. Über den Anruf.
Möglich wäre aber auch, dass sie, wie du gar nichts mehr von dem Telefonat weiß, weil sie um 4 Uhr morgens einfach nur im Halbschlaf auf annehmen gedrückt hat ohne es wirklich mit zu bekommen.
Wenn sie davon nichts weiß, könnte das Annehmen der Einladung ein Dankeschön dafür sein, das du ihr bei Sophie zur Seite gestanden hast.
Allerdings gehe ich davon aus, dass sie durchaus noch von eurem Gespräch mitten in der Nacht weiß und somit ein nicht bekanntes Ziel verfolgt, in dem sie euch morgen ins Spaßbad begleitet.
Eines dieser unendlich viele Ziel könnte sein, dich Idioten wirklich und ich betone, dass ich das überhaupt nicht verstehen kann, zurück zu wollen. Vielleicht hast du in deinem Alkoholrausch etwas so romantisches gesagt, dass sie gar nicht anders kann, als über all das andere weg zu sehen.
Oder sie will dir vor deinem Kind und deren Freunden final das Messer in die Brust rammen und dich vor allen, mit was auch immer bloß stellen.“, erörtert mir Betty die Lage sachlich, aber ich bin mir sicher an einigen Stellen die Ironie und das Grinsen auf ihren Lippen erkannt zu haben. Doch letztlich hat sie den Nagel wieder mal auf den Kopf getroffen, es gibt tausend verschiedene Möglichkeiten. Das an sich war mir vorher auch schon bewusst, aber der Blick einer Frau zeigt einem Mann so viele andere Perspektiven auf und ich kann nicht sagen, welche ich am meisten fürchte.
Ich schlafe in meinem alten Schlafzimmer, was nun Gästezimmer ist. Wobei von schlafen keine Rede sein kann, denn ich liege wach und sinniere über die unendlichen Eventualitäten, die mir morgen mit Linda auf mich zukommen.
Der Vormittag mit Lena und Betty vergeht wie im Flug und meine Tochter lässt mir kaum Zeit mir Gedanken über irgendetwas zu machen, so ist meine Laune recht gut, als wir am Spaßbad ankommen. Betty ist nicht dabei, sie mag Wasser sowieso nicht besonders und jetzt, da Linda mitkommt, kann es für mich nur von Vorteil sein, meint Betty. Linda. Da sind wieder die Gedanken an sie.
Hier, vor dem Spaßbad treffen wir auch auf Lenas Freunde. Geplant ist, dass wir zwei Stunden darin verbringen und dann wieder nach Hause fahren, wo es für alle Kuchen gibt und noch ein paar Spiele geplant sind. Betty hat mir angeboten den Nachmittag allein zu übernehmen, sollte es mit Linda gut laufen. Ich habe sie nur perplex angeschaut, da ich absolut nicht damit rechne, dass Linda in irgendeiner Weise Zeit mit mir verbringen will, sobald Lenas Party beendet ist.
Doch darüber kann ich mir keine Gedanken machen. Jetzt muss ich 10 aufgedrehte 7 und 8 jährige unter Kontrolle bringen.
Mir wächst es schon über den Kopf, als wir das Spaßbad noch gar nicht betreten haben, doch dann taucht meine Rettung auf. Linda hat sofort alles im Griff und die Kinder sind vom ersten Augenblick an begeistert von ihr, allen voran natürlich Lena. Auch ich vergesse auf einen Schlag alle meine negativen Gedanken und mein Blick hängt wie immer an ihr.
Linda nimmt sofort das Zepter in die Hand und ich bin ihr unendlich Dankbar dafür. So habe ich auch die Zeit sie ein wenig zu beobachten, einzuschätzen welche der tausend Möglichkeiten wohl eintrifft. Welches Szenario am wahrscheinlichsten ist kann ich bis in die Umkleide zwar nicht erörtern, aber die Freude, die Linda heute ausstrahlt fasziniert mich. Ich habe den Eindruck sie nie so gelöst erlebt zu haben, als wäre eine tonnenschwere Last von ihr abgefallen und sie könnte nun befreit leben. Ihre Augen strahlen die Wärme eines tiefen, ruhigen Ozeans aus, ihr Körper scheint zu strahlen und sie gibt sich selbstbewusst wie nie.
Ich habe schon die ganze Zeit, die ich sie jetzt wieder sehe, festgestellt, dass sie selbstbewusster auftritt, sich nicht von Blicken oder Getuschel aus der Ruhe bringen lässt, die sie damals dazu veranlasst haben zu fliehen oder ihren Groll in Alkohol zu ertränken. Ihr Blick ist nicht mehr die meiste Zeit zu Boden gerichtet und doch wirkt sie nicht ansatzweise arrogant.
Sie ist eine starke, junge Frau geworden, die weiß was sie will und dafür auch zu kämpfen bereit ist. Nur hat sie auch Probleme, die sie augenscheinlich nicht mal mit ihren besten Freunden besprechen kann. Sie glaubt immer noch, dass sie nicht gut genug ist glücklich zu sein, grade jetzt, wo ihre zwei besten Freundinnen vor Glück nur so strahlen. Sie war es, die noch selbst ein halbes Kind immer Kinder wollte, die perfekt mit Kindern umgehen kann, trotzdem muss sie nun zusehen, dass diese zwei Frauen Kinder bekommen. Das ich, der sie vor acht Jahren so sehr verletzt hat ein Kind hat, dass ihres sein könnte.
Sie war mit Tom zusammen, doch ich weiß immer noch nicht warum sie sich getrennt haben. Wer von beiden der Grund war, oder was. Hatte sie noch andere Beziehungen in der Zeit? Warum haben sie nicht funktioniert?
All diese Gedanken mache ich mir in der Umkleide und so komme ich als Letzter drinnen an. Linda war mit den Kindern schon duschen und ich beeile mich es ihnen gleich zu tun.
Wir spielen alle gemeinsam ausgelassen im Wasser, Linda kennt wirklich tolle Spiele. Doch nun kommt mir ein weiterer Gedanke, über den ich immer noch nicht Bescheid weiß. Was ist mit Lindas Schulter? Hat sie sich operieren lassen? Kugelt sie immer noch aus? Ein Strandball trifft mich am Kopf und ich beende meine Überlegungen.
Zum Abschluss jagen wir die Kinder noch einmal so richtig durchs Wasser und ich komme dabei selbst aus der Puste. Plötzlich stehe ich so außer Atem, der ebenfalls schwer atmenden Linda gegenüber. Sofort verhaken sich unsere Blicke und eine elektrische Spannung liegt in der Luft. Doch ich bin noch soweit bei Sinnen, dass ich registriere, dass uns alle Kinder, insbesondere Lena, anschauen. Und so besinne ich mich auf meinen letzten Gedankengang und senke meinen Blick auf Lindas Schulter. Tatsächlich ist dort eine Narbe zu sehen, sie ist sogar recht lang aber schon gut verblasst, sodass man sie wirklich nur sieht, wenn man direkt vor ihr steht. Ich kann es nicht verhindern, dass meine Finger über diese sensible Haut streichen, die zarten Unebenheiten ertasten.
„Du hast dich operieren lassen.“, stelle ich wirklich geistreich fest und schaue Linda wieder in die Augen. Sie beißt sich auf die Unterlippe und ich weiß nicht ob es eine erotische oder schmerzhafte Geste sein soll. Dennoch schießt sie mir sofort in die Lenden, während Linda bejahend nickt.
Ich verabschiede mich unter die kalte Dusche während Linda mit den Kindern noch eine Runde rutschen geht.
Ich bin schon fast fertig angezogen, als ich Linda durch die halben Wände der Umkleide höre.
„Ich hoffe ihr hattet alle Spaß und jetzt zieht euch schnell um, bei Lena zu Hause gibt es noch leckeren Kuchen.“, erklärt sie den Kindern und ich höre wie sie sich in die restlichen Umkleidekabinen verteilen.
„Danke, dass du dabei warst, willst du nicht noch mit zu uns kommen? Papa würde sich sicher freuen. Papa mag dich und ich auch.“, erkenne ich Lenas Stimme, die anscheinend nicht wie die anderen schon in der Kabine ist.
„Ich mag dich auch, aber wir sollten lieber deinen Vater fragen, ob es okay ist, ja?“, will Linda wissen und ich kann deutlich das Unbehagen in ihrer Stimme hören.
„Du magst meinen Papa nicht wirklich, kann das sein?“, fragt Lena deutlich traurig und mein Herz setzt aus, während ich auf Lindas Antwort warte.
„Doch ich mag deinen Vater, sehr sogar. Aber er hat mich einmal sehr verletzt und dann haben wir uns so lange nicht mehr gesehen…“, erwidert Linda leise und lässt den Satz offen. Sie mag mich noch, immer noch, nach all den Jahren. Doch die Traurigkeit in ihrer Stimme beweist mir, dass es nicht einfach wird, dass ich zwar schon wieder Teil ihres Lebens bin, aber nicht der, der ich gern sein möchte. Habe ich zu viel kaputt gemacht? Kann man die Schlucht zwischen uns nicht mehr schließen? Haben wir uns zu sehr entfremdet?
Ich habe immer noch keine Antworten, als ich in den Vorraum trete. Ganz im Gegenteil, es nur noch mehr Fragen hinzugekommen, auf die ich keine Antwort weiß.
Wir fahren alle gemeinsam mit der Straßenbahn und ich kann mich nicht mal wundern, warum Lena nicht gefragt hat, ob Linda uns weiter begleiten darf. Doch ich bin froh, dass sie es augenscheinlich tut, denn ich bin viel zu sehr in meinen Gedanken versunken, als das ich auf die Kinder Acht geben könnte.
Vor der Haustür angekommen, fasse ich mir ein Herz. Ich sehe es als letzte Chance, die ich nutzen kann. Wenn Linda nicht einwilligt, werde ich sie nicht mehr behelligen, versuche ich mir einzureden.
„Wollen wir zu mir, einen Tee trinken? Ab hier übernimmt Betty die Quälgeister.“, frage ich Linda, die mit mir am Ende läuft, sodass wir alle im Blick haben und schenke ihr, so hoffe ich, mein einnehmendstes Lächeln.
Da ist er wieder der abwägende Blick meiner Linda. Ja, meiner. So habe ich sie kennen und lieben gelernt und habe ich grade noch gedacht, wenn sie mir jetzt eine Abfuhr erteilt gebe ich den Kampf um sie auf. So kann ich jetzt nur sagen, ich werde immer um diese Frau kämpfen. Mit Leib und Seele.
„Warum nicht!“, ist Lindas knappe Antwort und ich bin für eine Sekunde so verdutzt, dass ich die Frage vergessen habe.
„Warte hier. Ich bring nur schnell die Kinder hoch und bin dann gleich wieder da, sofort.“, hasple ich so schnell dahin, dass ich selbst nicht mitkomme und packe Linda dabei an den Schultern, um ihr zu verdeutlichen, genau hier stehen zu bleiben. Denn wenn sie weg ist, wenn ich wieder komme, bin ich zerstört.
Linda wirkt irritiert, dass bin ich auch, aber sie nickt bedächtig. Im nächsten Moment treibe ich die Kinder im Eiltempo die Treppen hinauf.
„Viel Spaß noch mein Schatz.“, wünsche ich Lena an der Wohnungstür und drücke ihr ein Kuss auf die Lippen. Sie schaut ebenso verwirrt, wie Betty, der ich ebenfalls im Überschwung der Gefühle einen dicken Kuss gebe.
Mein Herz rast vor Aufregung, als ich die Treppen wieder hinabhechte. Vor der Haustür (von innen, sodass es Linda nicht sieht) bleibe ich einen Moment stehen, versuche mein wildes Herz, dass auch meine Atmung beschleunigt hat, zur Räson zu rufen. Doch es ist aussichtslos. Allein der Gedanke daran, dass Linda hinter dieser Tür auf mich wartet, lässt mein Herz wieder doppelt so schnell schlagen wie normal.
Wenn mich nicht alles täuscht hat sich Linda tatsächlich nicht bewegt, als ich aus der Tür trete. Meine Angespanntheit, ist zwar nicht verschwunden, aber nun nach innen gerichtet. Äußerlich bin ich ruhig, aber auch unschlüssig. Wie soll ich mich verhalten? Was soll ich sagen? Soll ich Lindas Hand nehmen? Dieser Drang entsteht, als wir nebeneinander her laufen und die spannungsgeladene Stille von Schritt zu Schritt unerträglicher wird.
Die Spannung hat sich nicht gelegt bis wir in der Wohnung sind, denn es hat auch niemand etwas gesagt. Wir haben kein Wort mit einander gewechselt, dennoch fühle ich mich Linda wieder eine Stück näher. Doch als wir nun so angespannt neben einander sitzen halte ich es nicht mehr aus.
„Es tut mir leid… der Anruf… ich war betrunken… Es tut mir so leid…“, stammle ich vor mich hin und zwinge mich Linda dabei in die Augen zu sehen.
Sie sammelt sichtlich Mut und mir kommt der Gedanke, dass auch sie die Entschlossenheit, die sie meistens an den Tag legt, auch nicht generell in sich hat. Auch Linda muss sich überwinden und das tut sie nun sichtbar für mich.
„Dein Anruf hat mir deine wirklichen Gefühle gezeigt. Du hast zwar auch nüchtern gesagt, dass du mich liebst, aber das Telefonat war anders. Zum Teil hast du sehr gelallt und unzusammenhängende Sachen gesagt, aber dennoch habe ich quasi durchs Telefon deine Emotionen gespürt.“, besiegt sie ihren inneren Schweinehund und atmet danach deutlich auf. Noch mehr, in der nächsten Sekunde ergreift sie so spontan die Initiative, dass nicht nur ich davon durcheinander bin. Sie springt quasi auf mich zu und wirft sich mir an den Hals. Ihre Lippen prallen auf meine und ich kann diesen Kuss gar nicht so schnell erwidern wie ich gerne möchte.
Alle Gedanken warum Linda sich jetzt so verhält und dass sie es sicherlich zeitnah bereuen wird, schiebe ich weit in den Hintergrund. Denn jetzt ist sie da und ich bin glücklicher als je zuvor. Wie könnte ich mir diese Gelegenheit entgehen lassen, auch wenn mir deutlich bewusst ist, dass sie sich dafür hassen wird. Nicht jetzt, aber der Augenblick wird kommen und wenn sie dann noch in meiner Nähe ist, könnten es meine letzten Sekunden auf Erden sein. Denn dann wird sie mich umbringen, dafür, dass ich schamlos meiner Begierde nachgegeben habe, dass ich sie in keiner Weise abgehalten habe.
Ich kann mich nicht erinnern je auf ein Mädchen oder eine Frau in dieser Art und Weise reagiert zu habe. Schon allein die Berührung ihrer Lippen lässt all mein Blut in meine Leisten schießen und ich bin gänzlich verloren.
Ich habe mir bei keiner anderen Frau je gewünscht sie zu küssen, sie zu berühren, so wie ich es bei Linda tue. Ich will ihr zeigen, wie viel sie mir bedeutet, dass dieses profane Wort Liebe, nicht mal im Ansatz meine Gefühle beschreibt. Doch auf der anderen Seite steigt mit jeder Sekunde die Angst, dass sie zur Besinnung kommt oder ich mit einer Unbedachtsamkeit, einem winzigen Fehler, wieder alles kaputt mache. Sie verliere.
Unter all diesen verwirrenden, verstörenden Gedanken habe ich kaum mitbekommen, wie weit Linda die Initiative mittlerweile ergriffen hat. Unsere Sachen liegen wild verstreut um die Couch, wir tragen nur noch unsere Unterwäsche. Diese Erkenntnis treibt mich fast über die Spitze und ich muss mir wirklich schmerzhaft auf die Innenseite der Wange beißen, dass ich nicht augenblicklich komme.
Jetzt bin ich es, der dieses Spiel vorantreibt. Behutsam, auf jede Bewegung achtend, dass ich Linda nicht augenblicklich verschrecke.
Langsam taste ich mich zu ihrem Zentrum hervor, fühle wie nahe auch sie schon einem Orgasmus ist.
Behutsam schiebe ich einen Finger in sie und Erinnerungen blitzen auf, als wir in Kroatien auf dem Bett lagen, in eben so einer Situation. Doch auch Linda hat Erfahrungen gesammelt und überrascht mich, in dem sie meinen schmerzhaft erigierten Penis mit ihren zarten Fingern umschließt und fest daran auf und abfährt. Losgelöst von allem Denken bewegen sich meine Finger schneller in ihr und ich erhöhe den Druck meines Daumens auf ihre Klitoris. In eben jenem Tempo, mir perfekt angepasst, bearbeitet Linda meine Erektion und wir kommen beide nahezu gleichzeitig in einem wahnsinnigen Tempo. Es ist bei uns beiden kein leiser Orgasmus, viel zu lange haben wir das nicht mehr erlebt. Auch wenn alles vorher beinahe lautlos vonstattengegangen ist, so ist das Stöhnen und Keuchen, welches unseren Höhepunkt begleitet umso lauter.
Doch es gibt keine Zeit zu verschnaufen. Allein Lindas fast nackte Präsens lässt meinen Penis wieder erigieren und dieses Mal habe ich den Drang in ihr zu sein. Mich in sie zu versenken, wie ich es nie zuvor getan habe. Die Situation in der Umkleide kann man dabei nicht werten, weil wir schon im Ansatz unterbrochen wurden.
Ohne wirklich auf Linda, beziehungsweise die lauernde Ängste sie könnte jede Sekunde wieder verschwinden, zu achten entferne ich auch die letzten Stoffbarrieren und verlagere uns auf der Couch so, dass Linda unter mir liegt. Ich gebe mir die Zeit sie einige Augenblicke nur zu betrachten und Linda tut es mir gleich. Ich muss feststellen, dass ich mit meiner ersten Intuition Recht hatte. Nicht nur in Klamotten wirkt sie straffer als früher. Jetzt wo ich sie so vor mir liegen sehe, betätigt sich das.
Ich möchte sie streicheln, jeden Zentimeter ihres mir so fremd gewordenen Körpers mit meinen Fingern und meinen Lippen erkunden, doch ich habe Angst.
Ohne weiteres dringe ich in ihre auch erstaunlich bereite Spalte ein und kann ein Stöhnen nicht unterdrücken, als ich mich ganz in sie versenkt habe. Auch Linda keucht und schließt die lustverhangenen Augen.
Sie ist so sexy, so wunderschön und mit jedem Stoß, den ich tiefer in sie einzudringen scheine, wird sie schöner.
Ich möchte ihr sagen wie sehr ich sie liebe, wie sehr sie mir all die Jahre gefehlt hat. Mit meinem Tempo steigert sich auch das Verlangen ihr diese Gefühle immer und immer wieder zu offenbaren. Doch die Angst steigt im gleichen Maße. Ich bringe keinen Ton heraus, kann nicht reden, aus Angst sie würde aufhören mir ihr Becken so begierlich entgegen zu heben und einfach gehen.
Ich habe Angst, dass sie bei jeder zu forschen Berührung zurückzuckt und ihren Fehler erkennt. So stoße ich nur immer wieder in sie hinein, ohne sie weiter anzufassen. Denn das ist das letzte, was von meinem Verstand übrig geblieben ist, das nicht von der Lust weggespült wurde. Die Erkenntnis, dass sie dies hier gewiss als Fehler sieht. Linda ist noch nicht soweit, sich wieder voll und ganz auf mich einzulassen, wie sie es grade tut. Aber ich kann auch nicht mehr klar denken und verhindern, dass ich danach wieder schlechter dastehe als je zuvor. Ich bin auch nur ein Mann, einer, der Linda bei besten Willen nicht wiederstehen kann. Und so steigere ich ungehindert das Tempo und spüre wie mein erneuter Orgasmus naht.
Ehe ich in sie spritze zieht mich Linda zu sich hinab und küsste mich hingebungsvoll. In diesem Kuss liegt alles. Sie hat nie laut ausgesprochen, dass sie mich liebt, aber in diesem Kuss liegt es.
Er treibt mich und auch Linda über den Gipfel und wieder kommen wir fast gleichzeitig zum Höhepunkt. Sie wenige Sekunden vor mir und es gleicht einer Offenbarung, wie sie sich um mich zusammenzieht. Ich breche entkräftet über ihr zusammen. Schwer atmend, immer noch im Rausch des Orgasmus gefangen, schiebe ich mich neben sie und ziehe sie fest in meine Arme. Im verzweifelten Versuch sie noch etwas bei mir zu halten.
Als sich unser Atem langsam beruhigt drehen wir uns, wie auf ein geheimes Zeichen hin, zueinander und betrachten uns schweigend.
„Sweety… ich liebe dich, ich liebe dich so sehr.“, bin ich es, der irgendwann die Stille bricht und scheinbar damit auch allen Zauber, der je existiert hat. Ich kann in Lindas Augen deutlich erkennen, was in ihr vorgeht. Plötzlich kommt die Last wieder, die ich verschwunden geglaubt habe. Mit ihr kommt die Erkenntnis über unsere derzeitige Situation und der eisige Blick erscheint wieder auf der Bildfläche.
Linda windet sich aus meine Armen und ich weiß, dass ich verloren habe. Rasend schnell sammelt sie ihre Sachen zusammen und zieht sich an. Dabei verflucht sie nicht nur mich tausende Male sondern auch sich und ich möchte ihr sagen, dass sie keine Schuld trägt, dass ich ihren ganzen Zorn abbekommen sollte. Aber ich bleibe stumm, unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen. In der Gewissheit, dass nun alles vorbei ist, was je zwischen uns war und das ich es nur schlimmer machen würde, wenn ich etwas sage. Und dann ist sie weg.
Ich denke nicht darüber nach, was ich hätte anders machen können. Warum es schlussendlich so gekommen ist, wie es ist. Ich gebe mich einfach der Leere, dem Verlassen-wurden-sein hin und ergebe mich den Tränen. Heute greife ich nicht auf meinen sonstigen Helfer Alkohol zurück und auch nicht in den nächsten Tagen. Ich gebe auf.

 

Fast sechs Wochen sind seit meiner Kapitulation vergangen und man sieht mir deutlich an, dass ich nicht nur meine Liebe zu Linda aufgegeben habe, den Kampf um sie, sondern auch mich. Ich trage dunkle Schatten unter den Augen, denn ich schlafe kaum noch. Jedes Mal wenn ich die Augen schließe sehe ich sie. Aber auch wenn ich wach auf meinem Bett liege habe ich kaum eine Chance nicht an sie zu denken. Meine Augen sind blutunterlaufen und rot gerändert, weil ich mich immer wieder meinem Selbstmitleid hingebe und keine Veranlassung sehe das zu ändern. Um es schlicht und ergreifend zu sagen, ich sehe scheiße aus, total abgefuckt, so wie ich mich auch fühle.
Weder Betty noch Lena können an diesem Zustand etwas ändern. Betty hat sofort, als sie mich so sah, kopfschüttelnd abgewunken und mir versichert, dass sie ‘diese Frau‘ nicht versteht.
Sie jeden Freitag zu sehen, macht es für mich auch nicht besser. Doch ich kann Lena nicht, wegen meiner Differenzen mit Linda, das Schwimmen nehmen. So muss ich sie nicht nur einmal die Woche sehen, sondern bekomme auch mit, wie schlecht es auch ihr geht. Von Woche zu Woche wird sie blasser, bekommt ähnlich wie ich tiefere Augenringe und wirkt unkonzentriert, rastlos und dünnhäutig. Ich sehe sie in diesen Wochen nicht lächeln, nicht mal den Kindern gegenüber kann sie sich zu einem noch so kleinen Lächeln durchringen. Zum Teil wirkt sie vollkommen abwesend und ich beobachte immer wieder, dass sie unsicher geht und sich an den Kopf fasst, als würde es ihr schwindlig sein. Manchmal muss sie sich sogar festhalten, um nicht umzukippen. Auch Sophie erkennt ihr Veränderung und ihre körperlichen Probleme, doch wie sie mir erzählt lässt Linda mittlerweile keinen mehr an sich ran. Gar keinen.
Mit jedem Mal, dass ich sie in diesem Zustand sehe, steigt meine Sorge um sie. Obwohl ich doch eigentlich mit ihr abschließen will. Doch ich kann meine Gefühle nicht abstellen. Immer weiter schiebt sich der Gedanke, sie zu vergessen in den Hintergrund. Den meisten Platz in meinem, in letzter Zeit immer verquerer werdenden, Hirn nimmt die Sorge um Linda ein. Doch mit ihr steigt auch ein neues Gefühl in mir an. Wut. Wut auf Linda. Darauf, dass sie mir augenscheinlich nicht vertraut. Ich habe ihr mehrmals, gefühlte Millionen Mal, zugesichert, dass diese Wette nie existiert hat. Habe versucht neues Vertrauen zu ihr aufzubauen, was erkennbar funktioniert hat und dennoch bringt sie mir jetzt keines entgegen.
Das Training ist beendet und ich begebe mich von meinem Beobachtungspunkt in die Vorhalle. Wie immer in den letzten Wochen hetzt Linda als erste aus den Umkleiden und will dann sofort aus der Halle flüchten. Doch heute schafft sie es nicht zum Ausgang. In der Mitte des Raumes, umgeben von zahlreichen wartenden Menschen, bleibt sie abrupt stehen und greift sich wieder mal an den Kopf. Ich bemerke, dass sie schwankt und beginne mich, wie von alleine, auf sie zu zubewegen.
Mit jedem Moment, in dem sich ihr Taumeln verstärkt, gehe ich schneller, entferne die Leute, die meinen Weg kreuzen, ungestümer aus meiner Laufstrecke.
Als ich sie erreiche fasse ich sie sofort fest an den Schultern, sodass sie mit Sicherheit nicht umfallen kann. Wild reißt sie in dem Moment meiner Berührung die Augen auf und schaut mich an. Im nächsten Augenblick verdrehen sich ihre übergroßen Augen unnatürlich und sie sackt gegen mich.
Mein Puls rast. Ich blicke mich suchend in der Vorhalle um, doch keiner scheint uns zu bemerken. Panik kriecht mir die Kehle hinauf und scheint diese zuzuschnüren. Doch dann regt sich Linda wieder. Ihr Kopf, der auf meiner Schulter liegt, rutscht noch ein Stück weiter, sodass sie nun gänzlich in meiner Halsbeuge liegt. Ich spüre, wie sie meinen Duft einsaugt und ihr warmer Atem auf meiner Haut treibt mir Schauer über den Rücken.
„Fass mich nie wieder an.“, wispert sie, doch in meinen Ohren dröhnt es wie ein Schrei. Ihr Verhalten und ihre Wort sind in diesem Moment so gegensätzlich, dass ich nun gänzlich an meinem Verstand zweifle. Bilde ich mir ein, dass ihr Körper sich an mich schmiegt?
Rasch schiebe ich sie von mir, halt sie auf Armeslänge von mir weg, immer noch fest an den Schultern gepackt. Ich muss in ihren Augen sehen, was sie wirklich will, ob ihr Verstand, der mich augenscheinlich ablehnt, regiert oder ihr Körper, der sich nach mir sehnt, wie ich mich nach ihr. Aber es gibt nichts zu sehen. Lindas wundervolle Augen sind geschlossen und auch ihr Kopf fällt, nicht ganz bei Bewusstsein, nach vorne.
Bei diesem Anblick kämpft sich in mir wieder die Sorge an die Oberfläche. Linda geht es nicht gut und ich denke nur daran, wie sie fühlen könnte, ob es für uns noch eine Chance gibt.
Vorsichtig geleite ich Linda zu einer Bank und setzte sie darauf ab. Wieder überkommt mich ein Gefühl der Hilflosigkeit, ich konnte noch nie mit Personen umgehen, denen es offensichtlich schlecht geht, egal ob körperlich oder seelisch.
Braucht Linda einen Arzt? Soll ich sie nach Hause bringen? Warten bis Sophie raus kommt?
Eine weitere Entscheidungsfindung wird mir abgenommen, als Lena neben mir auftaucht. Flüchtig halte ich nach Sophie Ausschau, doch sie wird mit den letzten Kindern noch drinnen sein. Ein Trainer bildet bei Hinausgehen immer den Schluss, sodass kein Kind vergessen wird.
„Was ist mit Linda?“, fragt Lena und ich höre allein an ihrer Stimme, denn ich betrachte wieder, die in einem seltsamen Zustand der Bewusstlosigkeit befindliche Linda, dass sie kurz davor ist zu weinen, etwas, dass ich jetzt auch gern tun würde. Die ganze Situation überlastet mich.
„Ihr geht es nicht gut. Wir warten bis Sophie kommt und schauen was wir machen.“, sage ich wesentlich sicherer, als ich mich fühle.
„Sie ist traurig in letzter Zeit. So gar nicht die Linda, die ich kenne und mag. Ich mag sie immer noch, aber… Linda…“, schluchzt sie und bricht nun gänzlich in Tränen aus. Mit einem kleinen Seitenblick nehme ich Lena in meinen rechten Arm, da der andere ja mit Linda besetzt ist und wünsche mir jede Sekunde mehr, dass mich jemand aus dieser Situation erlöst. Mit jeder Sekunde steigert sich das brennen in meinen Augen und ich möchte so schamlos wie Lena einfach nur weinen. Auch bin ich ihr immer noch eine Erwiderung schuldig. Aber was soll ich sagen? Dass ich daran schuld bin, dass es Linda so schlecht geht? Dass sie wegen mir vielleicht nie wieder die Alte wird?
Endlich kommt Sophie aus den Umkleiden und ich würde mich am liebsten in ihre Arme werfen, doch die zwei weiblichen Personen in meinen Armen hindern mich daran.
Sofort stürzt sie auf uns zu und geht vor Linda in die Hocke.
„Linda! Linda!“, sprich Sophie, die Frau in meinem linken Arm an und schüttelt sie leicht an den Schultern. Mit nur geringer Verzögerung hebt sich Lindas Kopf und die Erleichterung überwiegt deutlich den Groll der entsteht, weil mir Linda offensichtlich zumindest eine Zeitlang etwas vorgespielt hat.
„Ich bring dich nach Hause.“, redet Sophie weiter, diesmal deutlich weicher und Linda bringt es sogar auf ein Nicken.
Kurz darauf sind sie weg und ich halte noch immer die weinende Lena im Arm. Jetzt, da mein andere Arm frei ist ziehe ich sie fest an mich und sauge ihren unschuldigen Duft in mich auf, der Lindas nur schwerlich zurückdrängen kann, der seit gefühlten Stunden um meine Nase liegt.
Ich weiß nicht wirklich wie ich es schaffe zu Betty zu fahren, viel zu verwirrt bin ich. Diese Verwirrung scheint sich mit jeder Begegnung mit Linda zu steigern und ich sehe derzeit keine Möglichkeit ihr zu entkommen.
Müde, verwirrt und niedergeschlagen fahre ich mir übers Gesicht und kann dabei ein verzweifelt klingendes Seufzen nicht unterdrücken. Ich fühle mich wie in einer Sackgasse gefangen, dabei habe ich mal nichts mehr als Glück und Liebe gefühlt, wenn ich in Lindas Nähe war.
„Jetzt reicht es aber!“, donnert Betty los und aus meinen melancholischen Gedanken gerissen schaue ich sie entsetzt an.
„Ich hab dir damals in den Hintern getreten, als du dir wegen ihr jeden Abend die Birne weggeschossen hast. Jetzt, wo du dich so komplett anders verhältst, so gänzlich am Boden bist, hatte ich Angst das zu tun. Angst dir würde es noch schlechter gehen, wenn ich die harten Geschütze auffahre, doch ich kann mir das nicht mehr länger ansehen. Leon, ich liebe dich. Nicht wie einen Mann, aber wie einen sehr guten Freund, vielleicht sogar wie ein Bruder.
Du wirst morgen zu dieser Veranstaltung gehen. Linda wird auch da sein und dort stellst du sie zur Rede. Sie soll dir offen ins Gesicht sagen, dass sie dich nicht liebt und dann ist es vorbei oder sie steht endlich dazu, dass auch sie Fehler gemacht hat und vertrauen muss.“, erklärt Betty sachlich weiter und legt mir währenddessen eine Einladung zum Jubiläums des Schwimmvereins vor die Nase. Ich bin total überrumpelt von ihrer Ansage, bisher hat sie sich in Sachen Linda sehr zurückgehalten mit ihrer Meinung und jetzt das.
„Woher hast du die Einladung?“, ist die erstbeste Frage, die ich artikulieren kann, doch weiter tausend stapeln sich in meinem Hirn. Wie soll ich Linda zur Rede stellen? Was soll ich sagen? Wie wird sie reagieren? Was, wenn sie mir wirklich sagt, dass sie mich nicht liebt?
„Sie war vor 4 Wochen in der Post, du hast deine Adresse beim Verein anscheinend noch nicht geändert. Ich hab mit mir gehadert sie dir zu geben, weil du so deprimiert und schlecht auf Linda zu sprechen bist.“, gibt Betty ehrlich zu.
Erst jetzt nehme ich die Einladung zur Hand und blättere darin. Das Jubiläum ist bereits morgen, in einer Dorfhalle etwas außerhalb der Stadt. Soll ich wirklich dahin gehen? Doch wie ich nach einem kurzen Blick auf Betty feststellen kann, würd mir keine andere Wahl bleiben. Zur Not würde sie mich auch an den Haaren dahin zerren. Ich muss wirklich ein miserables Bild abgeben.
Die Nacht vergeht mal wieder schlaflos. So bin ich am nächsten Tag noch gereizter, als in den letzten Wochen ehe schon. Ich verbringe den Vormittag bei Betty, versuche mich abzulenken, Lena hilft mir dabei sehr gut. Doch eine vorrangige Frage schwirrt in meinem Kopf herum und lässt sich dort auch nicht verdrängen. Was wird passieren, wenn ich dort hingehe? Wenn ich Linda sehe und mit ihr rede?
Ich bin viel zu nervös um selber zu fahren und Betty will zu hundert Prozent sichergehen, dass ich wirklich dahin gehe. So fährt mich Betty und Lena sitzt auf der Rückbank. Die Zwei wollen auf den Rummel gehen und je nachdem wie es läuft mich dann wieder mitnehmen, beziehungsweise melde ich mich bei Betty, wenn ich vor 21Uhr abgeholt werden will, ansonsten nehme ich mir ein Taxi.
Die Veranstaltung hat schon begonnen als wir vor der Halle halten. Eine halbe Stunde haben wir bis hier raus gebraucht, um mich abzulenken habe ich jede Minute auf der Uhr verfolgt.
Ich fasse meinen Mut zusammen und verabschiede mich von Lena und Betty, ich muss mich der Situation stellen. Ich muss endlich auch mal Mut in Bezug auf Linda beweisen.
Der Saal ist gut gefüllt, im hinteren Bereich wird grade ein Büffet aufgebaut, währen auf der großen Bühne ein Programm läuft.
Ich halte mich im Hintergrund und suche den riesigen Raum nach Linda ab, wie ich es eigentlich immer mache, wenn ich weiß, dass sie anwesend ist. Ich finde sie direkt neben der Bühne. Auf den ersten Blick wirkt sie angespannt und trotz der schlechten Lichtverhältnisse, da im Moment nur die Bühne ausgeleuchtet ist, scheint sie blasser als je zuvor. Häufig fährt sie sich unter der Brust, über den Magen und verzieht das Gesicht als hätte sie Schmerzen.
Immer wieder verschwindet Linda in einem kleinen Raum, in dem die Vorbereitungen für den jeweils nächsten Programmpunkt durchgeführt werden.
Ehrungen werden vollzogen, eine kleine Bademodenschau aufgeführt, eine Versteigerung von Schwimmbedarf abgehalten und ein paar weitere Highlights. Das ganze zieht sich gut eine Stunde hin, in der ich das Gefühl habe, dass Linda von Minute zu Minute bleicher wird. Meine Angst ihr gegenüber zutreten und eine letzte Erklärung von ihr zu verlangen, wird mal wieder von der Sorge um ihr gesundheitliches Wohl überlagert.
In den kleinen Beobachtungspausen, wenn Linda im Nebenraum verschwindet, entdecke ich Sophie und Fine mit ihren kleinen Familien an einen der Langen Tische. Bei ihnen ist auch Sebastian der, wie ich mittlerweile weiß, in einer anderen Stadt studiert. Ob Linda weiß, dass er hier ist? Er war immer mein Lieblings- ‘Beschützer‘.
Aber ich erblicke auch Personen, die ich nicht erwartet hätte und die blanke Wut in mir hoch kochen lassen. Hanna und Micha. Sie sitzen nicht weit voneinander entfernt reden aber nicht miteinander. Beide scheinen alleine hier zu sein.
Das erste Mal seit Jahren verspüre ich wieder den unbändigen Drang auf etwas oder viel besser jemanden einzuschlagen. Meine Hände ballen sich automatisch und das so fest, dass meine Nägel sich schmerzhaft in meine Handinnenfläche bohren. Doch ich kann dem Impuls wiederstehen, einfach durch den Saal zu stampfen und beiden das Gesicht neu zu strukturieren.
Irgendwann ist der offizielle Teil beendet und das Büfett wird eröffnet. Doch im Gegensatz zu den anderen Gästen strömen weder ich, noch Fine, Sophie oder Sebastian in diese Richtung. Ich könnte nicht einmal einen Bissen herunterbringen wenn ich wollte.
Linda ist im Nebenraum verschwunden und auch die drei anderen streben auf diesen Raum zu. Ich folge ihnen.
Hinter ihnen betrete ich das Zimmer, in dem sich auch Tom und Alexander befinden. Immer noch scheint mich niemand bemerkt zu haben und ich halte mich weiter im Hintergrund, nicht meine ewige Mission vergessend, Linda zu beobachten.
Für einen Moment hellt sich ihre, in den letzten Wochen so traurige und mir gegenüber eisige, Mine auf als sie Sebastian sieht. Sie fällt ihm regelrecht um den Hals und ich sehe Tränen in ihren Wimpern glänzen, da sie die Augen geschlossen hat. Sebastian drückt sie fest an sich und leichte Eifersucht steigt in mir auf. Aber Linda lässt es nicht lange zu, sie beendet die Umarmung und greift sich wieder an den Magen. Ganz tief in meinem Inneren keimt ein Gedanke, aber er kommt nicht an die Oberfläche.
„Du siehst nicht besonders gut aus, Maus.“, sagt Sebastian leise zu Linda und streicht ihr eine verirrte Strähne hinters Ohr. Sie blickt zu Boden, kämpft sichtlich damit nicht zu weinen oder gar wieder zusammenzubrechen.
„Linda, rede mit uns.“, schaltet sich nun Fine ein, doch Linda reagiert nicht.
In einem Moment, einem seltenen in dem mein Augenmerk nicht auf Linda liegt, sehe ich wie bei Tom deutlich die Wut steigt. Wut auf mich? Was wissen sie?
„Wollen wir reden? Unter vier Augen?“, bietet Sebastian an. Ich finde die Idee gut, doch ich weiß nicht was ihm die anderen erzählt haben. Ist er unbefangen? Könnte er wirklich gut mit Linda reden?
Diese Fragen scheint sich auch Linda zu stellen, denn nun sieht sie ihm direkt in die Augen, mit diesem fragenden, kalkulierenden Blick, den auch ich kenne. Doch nach langen, atemlosen Sekunden schüttelt sie den Kopf und senkt den Blick wieder. Alle scheinen in sich zusammenzufallen, so groß war die Anspannung vor dieser Antwort. Alle habe in Sebastian eine Chance gesehen, vielleicht die letzte an Linda heran zu kommen.
„Linda…“, ist es meine Stimme, die als nächstes in diesem Nebenraum ertönt und alle Aufmerksamkeit liegt augenblicklich auf mir. Für gefühlte Stunden bewegt sich keiner, nicht mal zu atmen trauen wir uns.
Linda ist die erst, die eine Reaktion zeigt, außer mich mit zum Teil offenen Mund anzustarren. Sie stürmt aus dem Raum und die Tür knallt lautstark hinter ihr zu.
Ich sehe noch, dass mindestens Fine und Tom zu einer Hasstirade auf mich ansetzten, dann bin ich hinter Linda her gestürzt, grade noch schnell genug, um zu sehen, dass sie zu den Toiletten abbiegt.
Mir ist es egal sollten andere Frauen in dieser Toilette anwesend sein, ich renn Linda hinterher und achte nicht auf links oder rechts.
Außer Atem komme ich bei ihr an. Linda hockt vor der Toilette und übergibt sich. Nicht nur der Anblick ist so quälend, sondern auch die Geräusche. Man hört wie Linda vom Würgen malträtiert wird und es fügt mir, der nur neben ihr steht und mit zitternden Händen über ihren Rücken streicht, Schmerzen zu, sie so zu sehen und zu hören. Nicht das ich wie früher, mich am liebsten selbst übergeben würde, es tut mir einfach weh, wenn es Linda schlecht geht und derzeit scheint ein absoluter Tiefpunkt erreicht zu sein.
Lange würgt Linda, gegen Ende beginnt sie zu weinen und zu schluchzen und ich bin mir sicher, dass es nicht am Übergeben liegt. Sie ist einfach fertig. Körperlich. Psychisch. Und da soll ich ihr noch diese Auseinandersetzung zumuten? Doch nur deshalb bin ich doch überhaupt hier.
Ich helfe ihr auf die zittrigen Beine und Linda spült sich den Mund aus. Wir sagen beide nichts, ich ringe noch mit mir sie wirklich zu konfrontieren, während ich sie nach draußen begleite.
„Können wir reden?“, frage ich, als wir im Gang vor den Toiletten stehen und ich Linda immer noch im Arm habe, sodass sie nicht umkippt, denn das würde sie gewiss tun. Nicht bewusstlos, nur ist sie im Moment so schwach, dass sie ihre Beine nicht tragen würden.
Linda antwortet nicht und so führe ich sie an den erst besten Tisch und setzte sie auf einen Stuhl. Kurz blicke ich mich suchend um, vielleicht in der Hoffnung Sophie oder Sebastian zu sehen, die Linda ein Wasser oder irgendetwas bringen könnten, doch ich entdecke keinen. Darüber bin ich gleichermaßen enttäuscht wie erleichtert, so kann uns wenigstens keiner stören.
„Sweety…,“, spreche ich sie mit meinem Kosenamen für sie an und auch dies versetzt mir einen Stich ins Herz. Linda schaut nur leicht auf. Diese große, starke Frau wirkt momentan wie ein verschrecktes Kleinkind und ich gebe mir die Schuld daran.
„Linda, ich sehe, dass es dir nicht gut geht, mir geht es ähnlich.
Wir können so nicht weitermachen. Siehst du denn nicht was da zwischen uns ist? Vertraust du mir nicht?
Ich kann nicht mehr, Linda. Ich habe versucht um dich zu kämpfen, doch ich bin gescheitert. Ich lasse dich in Ruhe, ich werde dich nicht mehr behelligen. Lena würd den Verein wechseln und ich notfalls umziehen nur um dich zu vergessen. Schau mir in die Augen und sag, dass du mich nicht liebst, dann bin ich weg. Du wirst mich nie wieder sehen.“, stammle ich vor mich hin und höre mich selbst nur aus weiter Entfernung, als wäre es nicht ich der diese Worte sagt. Doch ich bin es, denn auch ich bin es denn Linda mit schreckgeweiteten Augen ansieht, minutenlang. Mit jeder Sekunde steigt die Panik vor ihrer Antwort in mir. Mein überarbeitetes, nahe dem Wahnsinn befindliches Hirn gräbt in diesen gefühlten Ewigkeiten ein Szenario aus, welches ich mir für diesen Abend ausgedacht hatte. Dabei wollte ich Linda in irgendeinem Flur abpassen, sie gegen die Wand drücken, wie man es oft in Hollywood sieht und blaffend von ihr verlangen mir zu sagen, dass sie mich nicht liebt. In meiner Phantasie, der Guten, hätte sie mir die Zunge in den Hals gesteckt und wir wären glücklich geworden. In der negativen Vorstellung, sagt sie eiskalt, dass sie mich nie geliebt hat und ich hätte einen Tritt in die Weichteile bekommen und Linda wäre geflüchtet.
Eine minimale Bewegung von Linda lässt mich zusammenfahren und sofort in die Realität zurückfinden. Sie schüttelt den Kopf, ganz langsame Bewegungen von rechts nach links, die meine Welt augenblicklich zerstören. Es fühlt sich an wie ein Schlag in dem Magen, alle Luft entweicht meinen Lungen.
„Ich kann nicht!“, flüstert sie und überfordert mich damit gänzlich. Was kann sie nicht? Mich Lieben? Oder mir sagen, dass sie mich nicht liebt? Scheiße, ich bin genauso schlau wie vorher. Aber ich kann nicht nachfragen, Linda nicht fragen, wie sie es meint. Denn Plötzlich stehen Fine und Franz neben uns und sobald Franzs sonore Stimme ertönt ist, hängt Linda schluchzend in seinen Armen. Er geleitet sie etwas abseits an einen Tisch und lässt sie eine Weile in seinen Armen weinen.
Ich wende mich von diesem Anblick ab, tief betrübt zwar mein Vorhaben umgesetzt zu haben, aber dennoch keine Lösungen zu kennen. Wie soll ich darauf reagieren? Könnte ich die Stadt wirklich verlassen, wenn Linda mir sagt, dass sie mich nicht liebt? Ich bin hier geboren, aufgewachsen, habe immer hier gewohnt. Lena? Würden Betty und Lena auch diesen Weg mit mir gehen?
Ich zwinge mich nicht an Linda zu denken, die viel zu nahe ist in diesem Moment, während ich an der Bar sitze und im Minutentakt den Whisky kippe, als wäre es Wasser.
Irgendwer setzt sich auf den Barhocker neben mich, aber ich ignoriere denjenigen und trinke das nächst Glas auf ex. Der Barkeeper hat schnell begriffen und schenkt sofort nach.
„Sie war am Boden, komplett zerstört, doch zu ihrem heutigen Zustand war es damals eine kleine Grippe.
Nicht mal die Kinder konnten sie aufheitern. Eigentlich war sie bei den Kindern wirklich glücklich, doch nachdem du… sie war da, aber auch nicht da. 2 Jahre hat sie sich noch gequält, hat die ständigen Spitzen von Hanna, Gina und Micha über sich ergehen lassen. Dann ist sie gegangen, hat den Kontakt zu allen fast gänzlich abgebrochen. Selbst zu Tom, Sophie und mir, wenn sie sich im halben Jahr einmal gemeldet hat war das viel. Jedes Mal habe ich sie bequatscht, auf sie eingeredet, weil ich gesehen habe, dass ihr die Kinder fehlen.
Vor knapp zwei Jahren habe ich es endlich geschafft sie zurückzuholen. Es ist bei weitem nicht wie früher, sie trainiert zwar die Kinder, aber sonst ist da kaum noch eine Bindung zum Verein. Selbst die Gruppe scheint sie nur halbherzig zu führen. Und dann kommst du wieder, tauchst aus dem Nichts einfach wieder auf.
Aber ich gebe nicht mal dir an allem Schuld. Wahrscheinlich lag es damals auch an Franzs Rückzug, Anjas Tot. Aber du hättest in diesen Situationen da sein sollen, hättest an ihrer Seite stehen müssen, um ihr Trost zu spenden, statt abzuhauen.“, erklärt Fine und sieht dabei die ganze Zeit starr vor sich hin.
Ich kippe erneut einen Whisky, bevor ich etwas sage.
„Es gab nie eine Wette. Hanna und Micha haben sich das alles ausgedacht.“, lalle ich leicht und nun sieht Fine mich an, sie nickt sogar bedächtig.
„Ich weiß. Ich habe vorhin mit beiden gesprochen. Sie haben sich irgendwann in den Haaren gehabt und beide den Verein verlassen. Sie haben mir unabhängig voneinander bestätigt, dass es keine Wette gab, doch das kommt fast neun Jahre zu spät. Warum hast du dich nicht damals erklärt?“, fragt Fine und ich sehe keinen Hass mehr in ihren Augen, nur noch die Sorge um Linda, die ich mit ihr teile.
Ich denke lange über eine Antwort nach, mein zunehmend benebeltes Hirn ist dabei nicht sehr hilfreich.
„Ich war feige. Von Anfang an war ich feige. Willst du wissen wie lang ich schon in Linda verliebt war, noch vor Kroatien? Ewig. Doch ich habe mich nicht getraut es zu zeigen, aus Angst vor den Reaktionen. Grade denen von Hanna, Micha und deren Konsorten.
Als ich bei Franzs letztem Training war, hat mich das allen Mut gekostet. Und dann war Linda nicht da, ich wollte ihr alles erklären. Ob sie mir geglaubt hätte wäre eine andere Sache gewesen, aber ich hatte den festen Entschluss ihr die Wahrheit zu sagen. Doch sie war nicht da, stattdessen hat mich Tom verprügelt. Ich habe keinen weiteren Versuch gewagt.
Seit ich sie nun wiedersehe sage ich ihr bei jeder Gelegenheit, dass es nie eine Wette gab, aber wie du schon gesagt hast, es ist zu spät. Es ist zu viel Zeit vergangen.“, neben meiner schweren Zunge bemerke ich deutlich die Resignation in meiner Stimme. Habe ich aufgegeben? Bin ich an den Punkt gelangt, an dem ich nicht mehr kämpfen kann, oder will? Schnell schütte ich noch einen Whisky in mich, ehe diese erschütternden Gedanken überhand nehmen.
„FINE! Komm schnell, Linda ist zusammengeklappt.“, kommt eine atemlose Sophie auf uns zu gerannt und in Sekundenschnelle bin ich auf den wankenden Beinen. Blindlinks folge ich den Beiden und finde mit ihnen eine auf dem Boden liegende Linda vor. Es hat sich bereits eine Menschentraube um sie gebildet. Alle sind anwesend, die ‘Beschützer‘, Sophie, Fine, Franz und auch ich, irgendwie. Wie paralysiert stehe ich in der Menge.
„Wer von euch ist noch nüchtern?“, fragt Fine in die Runde und schaut dabei besonders die ‘Beschützer‘ an.
„Ich.“, meldet sich sofort Tom, der nicht minder wütend ist, als zu dem Zeitpunkt an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe.
„Gut. Bringt sie in Tom Auto, sie kommt umgehend in ein Krankenhaus, ein Rettungswagen braucht zu lange hier raus.“, bestimmt Fine und Alexander und Sebastian kommen umgehend ihrer Anweisung nach. Sekunden später hängt eine bewusstlose Linda zwischen den beiden Männern und mir treten Tränen in die Augen.
„Ich komme mit!“, kann ich mich sagen hören und folge den Beteiligten. Niemand scheint sich daran zu stören, nur Toms Mine verfinstert sich noch ein gewaltiges Stück bevor er vorauseilt, um sein Auto vorzufahren.
Grade als wir aus der Tür treten fährt Tom mit quietschenden Reifen vor. Ohne auf etwas zu achten setzte ich mich auf den Rücksitz, Tom würde mich sicher nicht mitnehmen, wenn ich gefragt hätte. Allerdings müssen Sebastian und Alexander die bewusstlose Linda so nun auf den Beifahrersitz setzten, doch auch das schaffen sie irgendwie.
Bei mir läuft alles in einer eigenartigen Geschwindigkeit ab, der Alkohol setzt mir ganz schön zu.
Wir fahren bereits durch die stockdunkle Nacht, als ich bemerke, dass ich hinter Linda sitze und sie so gar nicht beobachten kann. Ich rücke also rüber, angeschnallt bin ich sowieso nicht. Erst jetzt scheint Tom meine Anwesenheit überhaupt zu bemerken. Mein Glück, sonst hätte er mich rausgeschmissen. So zetert er nur vor sich hin und drück das Gaspedal noch mehr durch. Ich bin mir sicher, dass er die Geschwindigkeitsbeschränkungen bei weitem überschreitet, aber es ist mir egal. Linda soll so schnell wie möglich ins Krankenhaus.
Linda. Sie hängt im Gurt, den Kopf gegen die Schiebe gelehnt und mit jeder Bewegung des Autos träge mitgehend.
Der aufkeimende Gedanke schiebt sich wieder in mein Bewusstsein. Kann es wirklich sein? Sechs Wochen ist es her, auf den Tag genau. Betty hatte damals auch Kreislaufprobleme, bei weitem nicht so schlimm, aber sie stand auch nicht so unter Stress. Kann es wirklich sein, dass Linda schwanger ist? Von mir? Auf Verhütung habe ich nicht geachtet, ich war viel zu sehr damit beschäftigt den Moment auszukosten und Linda keinen Grund zu geben die Situation zu beenden.
Allein der Gedanke, mit Linda ein Kind zu haben, bereitet mir ein warmes Gefühl im Bauch. Doch wird Linda das genauso sehen? Ich sollte erst einmal abwarten, ob Linda wirklich schwanger ist. Doch mein umnebeltes Hirn gibt sich lieber den Tagträumen einer perfekten Familie mit Linda hin.
Ein ohrenbetäubendes Hupen reist mich aus meinen Gedanken und die Umgebungsgeschwindigkeit ändert sich. Konnte ich bei der Abfahrt noch nicht bestimmen, welches Tempo grade vorliegt, ist es jetzt zweifelsfrei Zeitlupe. Wie in einem Traum sehe ich die Lichter des LKWs aufblitzen, bemerke gleichzeitig, dass Tom mit panisch aufgerissenen Augen auf die Straße starrt, weil er weiß, dass er den Aufprall nicht mehr verhindern kann.
Wir befinden uns auf einer Landstraße, kurz vor der Stadt. Die Kreuzung ist nur schwach beleuchtet und ich erinnere mich, dass es hier schon einige schwere Unfälle gegeben hat.
Die Sekunden vor dem Aufprall kommen mir vor wie Stunden. Instinktiv will ich Linda irgendwie schützen, denn der Lastwagen kommt von rechts und wird unsere volle Breitseite treffen, doch ich kann mich nicht bewegen.
Wie gelähmt betrachte ich die Scheinwerfer dieses riesigen Fahrzeugs, die unaufhaltsam auf uns zukommen. Die laute Hupe, das Quietschen der Reifen, im verzweifelten Versuch das unausweichliche doch noch zu verhindern, ist in meinen Ohren nur ein Flüstern. In meiner Welt herrscht atemlose Stille.
Die Lichter sind da, direkt bei uns. Lindas Kopf wird hin und her geschleudert, prallt gegen die Scheibe und hinterlässt eine blutige Spur.
Unwillkürlich halte ich mich irgendwo fest, da ich ja nicht angeschnallt bin. Ich kralle mich in die Polster, während das Auto weiter schleudert.
Unsere Bewegungsrichtung ändert sich, als wir beginnen uns zu überschlagen.
Ich kann mich nicht mehr halten, zu große Kräfte wirken und so pralle ich gegen die Decke. Als ob mein Gehör von dem dumpfen Aufprall wieder funktionstüchtig ist, höre ich erst jetzt das berstende Glas, das verbiegende Metall und das brechende Plastik.
Wir drehen uns weiter, vom Dach auf die Reifen und wieder zurück. Diesmal versuche ich triebhaft meinen Kopf zu schützen, mich mit der Hand abzustützen. Doch das nun entstehende Geräusch ist markerschütternder, als alle vorrangegangenen. Ich höre, wie mein Unterarmknochen bricht, da die Schleuderkräfte viel zu groß sind, als das ich sie abfangen könnte.
Das weiter schleudern lasse ich über mich ergehen ohne einzugreifen. Ich bekomme ein paar Schläge auf den Kopf, doch viel mehr passiert nicht.
Irgendwann kommt das Auto auf den Rädern zum Stehen, doch meine Welt dreht sich weiter. Alles um mich dreht sich und verschwimmt an den Rändern. Mein, vom Alkohol bereits beträchtlich angegriffener, Magen gibt seinen Inhalt von sich. Ich kotze einfach in den Fußraum von Toms Auto, bis sich mein Magen etwas beruhigt hat.
Ich liegt halb auf der Rückbank, den Kopf auf dem Sitzpolster und wünschte es würde so bleiben. Einfach hier liegenbleiben und sterben. Wenigstens ist Linda in meiner Nähe.
Linda! Linda! LINDA! Sie, sie allein, ist der Antrieb für mich, dass ich mich nicht aufgebe, dass ich nicht der unbändigen Müdigkeit nachgebe, die mich einhüllt. Ich muss wach bleiben, ich muss zu Linda, muss sehen, dass es ihr gut geht oder wenigstens, dass sie noch lebt.
Mühsam setzte ich mich auf. Der Schwindel ist noch immer vorhanden, genauso der rebellierende Magen. Doch der Inhalt befindet sich hinter dem Beifahrersitz, sodass ich es ignoriere, da sowieso nichts mehr hoch kommen kann.
Ich will mit meiner linken Hand die Tür öffnen, als ich sicher bin, dass der Schwindel nicht nachlassen wird und ich mich dennoch bewegen kann. Doch ein heftiger Schmerz lässt mich zurück zucken und langsam betrachte ich meinen Arm. Er ist blutverschmiert, bläulich und komisch verdreht. Schaut da sogar etwas Knochen raus? Egal, ich nehme einfach die andere Hand um die Tür zu öffnen.
Ich falle hinaus, auf einen brachen Acker, auf dem wir augenscheinlich gelandet sind. Es fällt mir schwer meine Körperteile zu koordinieren, alles scheint seltsam weit weg. Auch meiner Empfindungen, außer Schmerzen in jeder einzelnen Faser meines Körpers, ist da nichts. Ich fühle mich wie in einer Parallelwelt. Stumpf, leer, müde.
Linda! Ich muss zu Linda, beschwöre ich mich wieder. Ich versuche mich fortzubewegen, doch mit meinem gebrochenen Arm gelingt mir das nicht auf allen Vieren. So stehe ich beschwerlich und schwankend auf. Meine Beine können mich kaum halten, so stütze ich mich am Auto ab, welches erstaunlich intakt aussieht, dafür dass es grade mehrere Überschläge hinter sich hat. Langsam, Schritt für Schritt, taste ich mich am Auto entlang auf die Beifahrerseite. Abrupt bleibe ich stehen, als ich einen ersten Blick auf diese werfen kann. Fast muss ich in die Knie gehen. Das kann Linda nicht überlebt haben. Diese Seite ist quasi nicht mehr vorhanden. Besonders der vordere Teil ist bis zur Unkenntlichkeit verbeult, eingedrückt und verbogen.
Ich versuche mich mental auf das Schlimmste vorzubereiten, als ich weiter humple, bis ich endlich durch das nichtmehr vorhandene Fenster sehen kann.
Linda ist kaum noch zu erkennen, ihr Gesicht ist blutüberströmt und in den Haaren glitzern die Reste der Seitenscheibe. Man erkennt sofort, dass sie eingeklemmt ist und das auch die Tür sich nicht öffnen lassen wird. Zudem habe ich Angst ihr Schmerzen zuzufügen oder sie noch schwerer zu verletzten, wenn ich irgendetwas anfasse. Dennoch kann ich den Drang sie zu berühren nicht wiederstehen. Ich schiebe meine unverletzte Hand in den Innenraum und berühre sanft Lindas Wange. Kalt, sie ist so kalt, dass es mir schaurig den Rücken runter läuft. Instinktiv wandert meine Hand hinab zu ihrem Hals. Ich suche die Hauptschlagader und finde einen schwachen Puls. Sie lebt! Linda lebt! Noch. Wie lange wird sie ohne Hilfe überleben können? Ist Hilfe unterwegs? Ich spüre die Panik, die langsam meine Kehle hinaufkriecht und sogar schon schwarze Punkte vor meinen Augen tanzen lässt, bevor ich sie zurückdrängen kann. Linda wird überleben, sie und unser Kind. Diesen Satz bete ich mantraartig vor mich hin, während ich fieberhaft versuche eine Lösung zu finden.
Tom. Was ist eigentlich mit Tom? Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schießt ist abgrundtief böse und ich erschrecke mich selbst über diesen Gedankengang. Ein kleiner Teil von mir wünscht, dass er es nicht überlebt hat, dass er aus Linda und meinem Leben verschwunden ist. Ich weiß nicht wo dieser Hass, diese so schrecklichen Gefühle auf einmal herkommen und ich verbanne sie in eine finstere Ecke meines Inneren. Man wünscht niemanden den Tod, nicht mal seinem schlimmsten Feind.
Nachdem ich meinen inneren Kampf mit mir selbst überwunden habe, kann ich endlich meinen Blick von der leblosen Linda nehmen und auf den Fahrersitz richten.
Tom sitzt einfach nur da. Fast scheint es als wäre gar kein Unfall passiert. Er hat kaum offensichtliche Verletzungen, hält immer noch das Lenkrad umklammert und starrt durch die gesprungene Windschutzscheibe.
„Tom.“, versuche ich meine Stimme zu bemühen, doch was ich herausbringe ist leiser als ein Windhauch. Hastig schlucke ich, obwohl mein Mund einer Wüste gleicht und versuche es erneut.
„Tom!“, krächze ich nur unwesentlich lauter als zuvor und erhalte keine Reaktion. Ich habe noch nie einen verrückten gesehen, aber ich bin mir sicher Tom ist nahe dran. Er wirkt so total abwesend, dass ich es nur als irren Ausdruck einstufen kann.
Plötzlich zucken bläuliche Lichter durch die Finsternis und ich fühle mich seltsam befreit, leicht. Ich streiche Linda noch einmal über die Wange, ehe alles um mich herum schwarz wird.

 

Dumpfes Grau umhüllt mich, alles ist trübe, doch ich spüre Lindas Anwesenheit. Linda ist bei mir. Ich taste nach ihrer Hand und finde sie auch, es gibt mir Sicherheit. Plötzlich tauchen helle Scheinwerfer aus der Dunkelheit auf und rasen auf uns zu. Linda wird von mir weggerissen.
Panisch reiße ich meine Augen auf, um sie in der nächsten Sekunde wieder zusammen zu kneifen, da mich das helle Licht blendet. Wo bin ich? Was ist passiert? Wo ist Linda? Die ersten Gedanken die mir durch den Kopf schießen, welcher dies mit extremen Schmerzen erwidert. Mein Kopf pocht mit jedem Herzschlag und es kommt mir vor, als wäre mein Schädel ein paar Nummern zu klein.
Stöhnen reibe ich mir über die Stirn und stelle fest, dass ein dicker Verband um meinen Kopf liegt.
Mühsam öffne ich nun doch wieder meine Augen. Ich bin in einem Krankenhauszimmer, einem normalen Zimmer, keine Intensivstation. Doch wie bin ich hier hergekommen? Warum?
Ich bemühe nochmals mein lädiertes Hirn, doch was es ausspuckt lässt mein Herz rasen. Das Jubiläum. Linda. Mein Ultimatum. Franz. Viel Alkohol. Fine. Lindas Zusammenbruch. Toms Auto. Der LKW.
Panisch versuche ich zu ergründen was nach dem Aufprall passiert ist, doch keine weiteren Bilder kommen mir in Erinnerung. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass Linda nichts passiert ist, dass sie noch lebt.
Ich will meine Decke zurückschlagen, doch ein schwerer Gips an meinem linken Arm schränkt meine Bewegungsfähigkeit erheblich ein. Außerdem bemerke ich noch weitere Verbände an meinem Körper und muss feststellen, dass ich mich äußerst schwach fühle. Mist. Ich muss zu Linda. Ist sie auch hier im Krankenhaus? Ist sie schwerverletzt? Was kann ich tun?
Ein Klopfen reißt mich aus meinen verzweifelten Gedanken. Braune Haare schieben sich durch einen Spalt in der Tür und Bettys Gesicht erscheint. Selbst auf die Entfernung kann ich erkennen, dass sie die Nacht nicht geschlafen hat, dass sie sich Sorgen macht.
Langsam tritt Betty an mein Bett heran, Tränen schwimmen in ihren Augen und schüren meine Panik aufs Neue. Was weiß sie? Ich habe Betty noch nie so am Ende gesehen.
Vorsichtig setzt sie sich auf meine Bettkante und schaut mich einen Moment stumm an. Dann legt sie ihren Kopf auf meine Brust und umarmt mich, soweit das möglich ist. Ich bin überfordert mit dieser Betty, die nun auch noch beginnt zu weinen. Dass muss doch das schlimmste bedeuten, Betty würde sich nie so verhalten, wenn nicht jemand gestorben ist. Ich lebe, Tom kennt sie nicht wirklich, also muss Linda tot sein. Linda ist tot. Tot. Linda.
Ich kann nicht sagen, wie ich über diese Tatsache denke oder fühle. Mein Hirn, meine Gedanken, mein ganzer Körper ist überfordert. Steif liege ich in diesem Krankenbett und starre an die weiße Decke, während in meinem Kopf immer wieder der Satz halt. Linda ist tot.
„Ich bin so froh, dass du lebst, dass du wach bist.“, schluchzt Betty irgendwann in meine Decke hinein, doch ich bin nur noch körperlich anwesend. Meine Gefühlswelt, mein Inneres, dass was mich ausmacht, hat sich an der Nachricht über Lindas tot aufgehängt, wie ein Computer. Systemfehler, totaler Absturz ohne Hoffnung auf Neustart.
„Leon?“, versucht Betty nun meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, doch mein Blick haftet weiterhin an der Decke.
„Leon, was ist los mit dir?“, fragt Betty weiter und ich sehe aus dem Augenwinkel, dass sie sich die letzten Tränen von der Wange wischt.
„Linda ist tot.“, sage ich mechanisch und klinge dabei so gar nicht nach mir selbst. Jede Emotion ist aus mir und somit meiner Stimme gewichen.
„Was? Woher willst du das wissen? Keiner darf zu ihr. Sie hat keine Verwandten mehr und keine Patientenverfügung, in der steht wem man Auskunft geben darf. Fine, Sophie, Alexander und Sebastian beißen sich die Zähne an den Ärzten aus.“, sprudelt sie heraus und ist dabei wieder die Betty, die ich kenne. Deshalb glaube ich ihr was sie sagt, Betty würde mich nicht anlügen. Linda ist hier, doch keiner weiß wie es ihr geht. Aber sie lebt. Linda lebt.
Es benötigt enorm viel Zeit bis diese Information zu mir durchgedrungen ist und nochmals eine Ewigkeit bevor ich sie verarbeitet und verstanden habe.
Als dies geschehen ist setze ich mich ruckartig auf, was einen Schwindel verursacht den ich unwirsch zur Seite schiebe. Ich muss jetzt zu Linda.
„Ich muss zu Linda.“, fahrig, aber eindeutig wieder meine Stimme. Mit meinen zurückkehrenden Gefühlen kommen mir auch neue Bilder des Unfalls ins Gedächtnis. Die total ramponierte Beifahrerseite. Lindas blutverschmiertes Gesicht. Toms irrer Blick.
„Das habe ich mir fast gedacht.“, antwortet Betty schon an der Tür, ehe sie auch schon verschwunden ist. Was soll das? Was tut sie? Warum lässt sie mich jetzt allein? Ich will doch zu Linda und in meinem Zustand schaffe ich das unmöglich alleine.
Doch nur wenige Augenblicke später kehrt Betty zurück, mit einem Rollstuhl im Gepäck. Sie hilft mir mich hineinzusetzten und ich benötige die Hilfe dringend. Jeder Knochen tut mir weh und der Schwindel lässt sich an manchen Stellen nur sehr schwer unterdrücken.
Ich bin schweißgebadet, als ich endlich in dem Gefährt sitze und mein eingegipster Arm pocht wild vor sich hin. Doch ich habe ein Ziel, ich muss zu Linda. Das ich nur eines dieser komischen Krankenhaushemdchen trage ist mir egal, ich will zu Linda gleich was es kostet.
Betty schiebt mich und meinen Tropf in den Flur, während ich mich darauf konzentriere, wie ich die Ärzte davon überzeugen könnte mich zu ihr zu lassen.
„Herr Herrmann, sie dürfen ihr Bett nicht verlassen!“, ruft eine Schwester irgendwo hinter mir und ohne mein zutuen beschleunigt Betty ihre Schritte. Die Pflegerin brüllt noch etwas von Konsequenzen und Arzt, aber Betty bringt mich außer Hörweite, Richtung Intensivstation.
Lindas Zimmer erkennt man schon von weiten, denn Fine und Sebastian lungern davor rum. Wenn ich gedacht habe Betty sieht abgespannt und unausgeschlafen aus, revidiere ich nun meine Aussage, denn die zwei sehen tausend Mal schlimmer aus.
Erst als wir direkt vor ihnen sind bemerken sie uns, als würden sie aus einer Starre erwachen. Fine, deren Augen schon ganz verquollen und rot sind, fängt bei meinen Anblick sofort wieder zu weinen an. Sebastian lässt sie an seiner Schulter weinen und betrachtet mich wie einen Geist.
„Ich muss zu Linda!“, flehe ich ihn an, obwohl ich weiß, dass er gar keine Entscheidungsgewalt hat. Sebastian nickt betrübt und schaut in Richtung der Tür, hinter der höchstwahrscheinlich Lindas Zimmer ist. Am liebsten würde ich hineinrennen und mich sofort vergewissern wie es ihr geht, aber ein Blick auf Betty zeigt mir, dass sie mich dabei nicht unterstützen wird. Wie schlimm steht es um Linda? Könnte ich es mit einer unüberlegten Handlung schlimmer machen?
Ein Arzt kommt auf uns zu. Er sieht aufgebracht aus und sein weißer Kittel weht hinter ihm her.
„Gehen sie bitte. Ich sage es ihnen nun zum letzten Mal, ich kann ihnen keine Informationen über die Patientin geben.“, sagt er gebieterisch und blickt dabei besonders Fine an, was ihren Tränenfluss erneut ankurbelt.
„Ich muss zu Linda!“, erzähle ich meinen Standartsatz und mein einziges Ziel das ich verfolge. Wenn dieser Halbgott in Weiß mich nicht zu Linda lässt drehe ich noch durch. Mit jeder Minute die verstreicht und in der ich nicht weiß, wie es Linda geht steigt die Panik in mir.
„Wer sind sie? Es ist kein Verwandter bekannt, keine Person der ich es gestatten würde, die Patientin zu besuchen.“, antwortet Dr. Hochnäsig herablassend.
„Ich bin Leon Herrmann, der Freund der Patientin.“, antworte ich durch zusammengebissene Zähne. Ich habe kaum einen Satz mit diesem Mann gewechselt und trotzdem bin ich unglaublich wütend auf ihn.
„Das ist kein Grund sie zu ihr zu lassen.“, entgegnet mir der Arzt, dessen Namen ich immer noch nicht kenne und wendet sich von uns ab. Das kann ich nicht zulassen, ich muss zu Linda.
„Ich bin der Vater ihres Kindes!“, schreie ich ihm hinterher und nicht nur er schaut mich entgeistert an. Alle Blicke liegen auf mir, selbst Fine hat das Weinen eingestellt, um mich schockiert zu betrachten. Allerdings kann ich den Moment des Triumphes nicht richtig genießen, da mein Brustkorb bei jedem tiefen Atemzug schmerzt.
„Was?... Woher wissen… sie?“, stottert auf einmal der ach so großartige Herr Doktor.
„Ich weiß es, weil ich der Vater bin.“, bin ich es nun, der etwas Hochnäsigkeit versprüht. Die anderen schauen mich immer noch verblüfft an und bekommen die Münder gar nicht mehr zu. Betty ist die Erste, die sich wieder fängt und mir zu Hilfe eilt.
„Sie können ihm nicht den Kontakt zu seiner schwangeren Freundin verwehren. Notfalls hole ich mir das schriftlich, denn ich arbeite in einer renommierten Anwaltskanzlei.“, schaltet sich Betty ein und legt mir eine Hand auf die Schulter, die ich dankend drücke. Dr. Hochnäsig scheint langsam keine Begründung mehr zu finden, mich nicht zu Linda zu lassen.
„Ich werde hineingehen, Fine wird mich begleiten und sie werden uns ihren Zustand erklären. Es werden immer zwei von uns bei ihr sein. Natürlich nicht mehr, um Linda nicht zu überfordern.“, erkläre ich sachlich meine Bedingungen und bin erstaunt, wie einfach ich den Blick des Arztes standhalten kann.
Nach einiger Zeit stummen Abschätzens der Situation, wobei er auch mehrere Sekunden Betty eingehend betrachtet hat nickt der Arzt bedächtig.
Sofort ist Fine auf den Beinen und mit mir an der Tür zu Lindas Krankenzimmer.
„Ich muss sie vorwarnen, der Anblick ihrer Freundin ist nicht sehr schön. Sie hängt an vielen Geräten und es sieht schlimmer aus als es ist. Zurzeit besteht keine akute Lebensgefahr mehr, dennoch halten wir sie im Koma und sie wird beatmet.“, erklärt der Arzt wieder ganz Herr der Lage, allerdings unter meinen Bedingungen, bevor er die Tür öffnet und uns hineinbittet.
Fast kann ich Fines Angst spüren, mit der sie einen Fuß vor den anderen setzt. Langsam tritt sie in das abgedunkelte Zimmer und mir stockt der Atem, als ich sie sehe. Wenn ich nicht schon sitzen würde, nun könnten mich meine Beine nicht mehr tragen. Fine scheint es ähnlich zu gehen, denn sie bleibt mitten im Raum stehen und ihr Griff um den Rollstuhl verfestigt sich.
Das was ich da sehe, ist soweit von Linda entfernt wie die Erde von der Sonne. Ihr rechtes Bein ist dick eingegipst und hängt an einer seltsamen Vorrichtung. Ihre rechte, von jeher lädierte, Schulter ist eng an ihren Oberkörper verbunden. Doch der schlimmste Anblick ist Lindas Gesicht. Ihr Kopf ist von eine Bandage umwickelt, ähnlich der meinen. Außerdem hat sie zahlreiche Schnitt- und Schürfwunden im Gesicht, die es mir schwer machen Linda überhaut als sie zu erkennen.
„Frau Schaller hat einige schwerwiegende Verletzungen. Ihr Unterschenkel ist kompliziert gebrochen, sie hatte einen Einriss in der Milz und Quetschungen der Organe. Mehrere Rippen der rechten Seite sind gebrochen, außerdem ist das künstliche Schultergelenk beschädigt wurden und musste ersetzt werden. Zudem hat sie eine schwere Gehirnerschütterung. Wir konnten alles soweit wie möglich in einer Notoperation versorgen.
Jetzt überwachen wir sie engmaschig, um eine Hirnblutung oder ähnliches zu vermeiden. Morgen werden wir die Sedierung lösen und die Beatmung abstellen, dass ist nochmal ein kritischer Moment, da wir nicht wissen in wie weit ihr Hirn geschädigt wurde. Danach können wir nur hoffen, dass sie wieder aufwacht und sich erholt. Dem Baby geht es dem Umständen entsprechend gut.“, rattert der gekränkte Arzt herunter.
„Haben sie noch Fragen?“, schiebt er hinterher. Tausende, will ich antworten, doch ich verkneife es mir. Er soll so schnell wie möglich den Raum verlassen. Das tut er auch, nachdem Fine und ich seine Frage verneint haben, mit schnellen Schritten.
Fine schiebt mich an Lindas linke Seite, sodass ich ihre Hand nehmen kann. Erst als ich ihre Hand an meine Wange führe merke ich, dass ich weine. Ich lasse es zu, auch wenn Fine mit im Raum ist, ich schäme mich nicht für meine Tränen.
Lange sitzen wir einfach nur da und betrachten Linda. Auch nach einer Ewigkeit kann ich nicht glauben, dass sich hinter den ganzen Geräten und Verletzungen Linda verbirgt. Alles wirkt auf mich wie ein wirklich schlechter Traum, doch meine eigenen Schmerzen beweisen mir, dass alles hier Realität ist.
„Sie hat sich immer Kinder gewünscht.“, bricht Fine die Stille, doch ich sehe sie nicht an. Linda braucht jetzt meine Aufmerksamkeit, so nicke ich nur müde.
„Was ist mit Tom?“, bin ich es, der nun die wieder eingekehrte Ruhe stört, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen will. Tom hat mir, in Bezug auf Linda, so lange das Leben schwer gemacht, was interessiert mich jetzt wie es ihm geht?
„Er ist nahezu unverletzt, nur ein paar Schürfwunden, aber er zerfleischt sich selbst. Er sagt, er hätte Schuld und somit Linda das angetan. Er hat sich selbst in psychologische Behandlung begeben. “, antwortet Fine bedrückt. Ein gewaltiger Teil in mir empfindet Genugtuung. Er hat den Unfall verschuldet und es ist nur fair, dass er jetzt darunter leidet. Meine Wut auf ihn hat neue Dimensionen angenommen und ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn ich ihn wiedersehe. Auf jeden Fall wird er sich Linda nicht mehr nähern, dafür werde ich sorgen.
„Du solltest zu deiner Familie gehen und etwas schlafen.“, bringe ich heraus, obwohl sich grade ein gewaltiger Kloß in meiner Kehle gebildet hat. Dieser kündigt einen baldigen emotionalen Zusammenbruch an und den muss Fine nun wirklich nicht mitbekommen.
Ich fasse mich noch einen Moment, da ich keine Antwort bekomme und sehe Fine an. Sie betrachtet Linda und nickt ebenso schwach wie ich es getan habe, aber es dauert noch fast eine Minute bis sie sich erhebt. Völlig fertig tritt sie zu mir und umarmt mich fest. Sehr fest, und ihre Tränen beginnen währenddessen wieder zu laufen, sodass auch mein Zusammenbruch wieder näher rückt und ich ihn kaum mehr bändigend kann.
Sobald die Tür hinter Fine sich geschlossen hat bin ich es, der die gewaltigen Schluchzer nicht mehr unterdrückt. Ich breche an Lindas Krankenbett völlig zusammen und lege meinen Kopf einfach auf ihre Matratze. „Sweety, ich bin hier… Ich bin bei dir…,“ schniefe ich irgendwann und hoffe zu Linda durchzudringen.
„Ich pass auf dich auf… Ich lasse dich nie wieder allein…, hörst du Sweety?... Nie wieder.“, schluchze ich weiter und drücke ihre Hand.
Ich muss eingeschlafen sein, denn ein Klopfen an der Tür weckt mich auf. Ich schrecke hoch und brauche einen Moment mich zu sammeln, doch ein Blick auf Lindas lädiertes Gesicht ruft mir alles wieder ins Gedächtnis.
Wieder ist es Betty, die ihren Schopf ins Zimmer steckt. Langsam tritt sie an Lindas Bett und betrachtet diese eine Weile stumm.
„Sie ist wirklich schön!“, sagt sie nahezu andächtig und wendet dann ihre Aufmerksamkeit mir zu. Ihre Worte haben mir wieder die Tränen in die Augen getrieben, Betty versucht mich aufzuheitern, aber es gelingt ihr nicht wirklich. Ein einziger Blick reicht, um zu sehen, dass von der schönen Linda zurzeit nicht viel zu sehen ist. Ihre ebenmäßige Haut ist viel zu blass, kaum kann man ihre zahlreichen Sommersprossen erkennen. Zudem sind ihre vollen Lippen aufgesprungen und die blau-grauen Meere liegen hinter geschlossenen Lidern. Linda ist um so vieles schöner, wenn sie nicht nach einem Autounfall im Koma liegt.
„Ich habe dir ein paar Sachen mitgebracht und mit deinem Arzt gesprochen. Er ist wesentlich aufgeschlossener und freundlicher als Lindas Arzt. Er erlaubt dir bei ihr zu bleiben und kommt morgen zur Visite extra hier vorbei. Allerdings sollst du dich unbedingt schonen. Du hast ebenfalls gebrochene Rippen, neben dem eingegipsten Arm. Durch deine Gehirnerschütterung kann es auch bei dir noch zu Komplikationen kommen und du möchtest dich sofort melden, solltest du Übelkeit, Schwindel oder irgendwelche anderen Symptome bemerken.
Auch mit Lindas Arzt hatte ich noch ein kurzes Gespräch. Ich habe ihn nicht gebeten, sondern einfach vor vollendete Tatsachen gestellt, in dem ich ihm berichtet habe, dass du mit sofortiger Wirkung ein Bett in dieses Zimmer bekommst. Er war nicht erfreut, hat es aber abgesegnet.“, berichtet sie äußerst leise und ich bin ihr unendlich dankbar, auch wenn ich wieder nur schwach nicken kann. Ich darf bei Linda bleiben. Normalerweise würde ich Betty um den Hals fallen und ihr, auch wenn ich sie nicht liebe, einen dicken Kuss auf die Wange drücken. Doch die Sorge um Linda überdeckt alles, sie hüllt mich in eine dichte Wolke, die keine anderen Emotionen zulässt. Fast glaube ich, dass wenn ich Lindas Hand loslasse, etwas Schreckliches passiert.
Kurz darauf wird ein weiteres Bett in Lindas Zimmer geschoben, währenddessen hilft mir Betty in eine Jogginghose und ein T-Shirt, sodass ich endlich dieses komische Hemdchen loswerde.
Die Schwestern haben einen Abstand von circa anderthalb Meter zwischen den Betten gelassen, aber ohne mein Zutun ist Betty der Ansicht, sie müsste diese Lücke überbrücken. Sie schiebt kurzer Hand mein Bett einfach an das von Linda, sodass wir quasi ein Doppelbett haben.
Ich liege nicht wirklich in meinem Bett, ich rutsche bis zu Linda heran und befinde mich zum größten Teil auf ihren Bett.
Nachdem Betty gegangen ist kommt Alexander rein und leistet uns Gesellschaft. So wechseln sich Fine, Sophie, Alexander und Sebastian, der seine Abreise auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben hat, ab. Ich bekomme kaum mit wer neben mir und Linda noch im Raum ist, denn ich bin total auf sie fixiert. Gesprochen wird kaum, nur einmal fragt mich Sophie, ob Tom auch kommen dürft. Mein Blick allein hat ausgereicht um sie wieder zum Schweigen zu bringen.
Am nächsten Morgen wird Lindas Narkose langsam gelöst, wie mir ihr Arzt erklärt. Ein kritischer Moment entsteht noch einmal als ich gemeinsam mit den Ärzten auf den einsetzenden Atemreflex warte, denn erst dann kann man eine Hirnschädigung in diesem Bereich ausschließen und Linda kann von der Beatmung getrennt werden.
Doch auch als diese Situation erfolgreich bewältigt ist, wacht Linda nicht auf. Ein paar Geräte wurden nun entfernt und es scheint wirklich so, dass sie nur schläft. Einen langen Schlaf, der mich immer weiter aufreibt. Jede Minute in der ihre Augen geschlossen bleiben wächst meine Angst, sie könnte nie wieder aufwachen. Der Arzt kann mir nur wenig die Bedenken nehmen, hoffen sei das Einzige was man zurzeit tun kann.
Mein Arzt sorgt sich um meinen Gemütszustand, der laut ihm maßgeblich die Heilung beeinflusst. Auch ich bemerke, dass sich mein Zustand eher verschlechtert als bessert. Ich liege eigentlich nur noch apathisch neben Linda und starre auf ihre geschlossenen Lider, Tag und Nacht. Wenn ein Arzt anwesend ist versuche ich diesen Zustand zu verstecken, doch es gelingt mir immer weniger.
Ich würde gern weinen, meinen aufgestauten Gefühlen ein Ventil geben, doch ich kann nicht. Mal wieder fühle ich mich leer, hilflos und allein. Auch wenn ein Dutzend Leute dauerhaft um mich herumwuseln bin ich allein, denn Linda, dass was sie ausmacht, ist nicht bei mir und wird es vielleicht nie wieder sein.
Drei Tage starre ich nun schon Linda an und hoffe auf ein Zeichen von ihr. Sophie sitzt auf einem Stuhl auf der anderen Seite von Lindas Bett.
„Könnte nicht doch…? Tom…? Er war wie ein Bruder für sie…“, haucht Sophie leise und da ich nicht damit gerechnet habe, dass sie etwas sagt und es so leise war, dass ich es kaum verstanden habe brauche ich einen Moment um darauf zu reagieren. Abrupt fahre ich hoch und fixiere sie mit einem wilden Blick, doch diesmal lässt sie sich nicht so einfach abschütteln.
„Er hat sie fast in den Tod gefahren, uns alle. Früher waren sie vielleicht wie Geschwister, aber das ist lange vorbei. Ich weiß nicht was zwischen ihnen vorgefallen ist, aber seit ich wieder da bin, haben sie noch kein Wort miteinander gewechselt. Ich konnte Tom noch nie besonders leiden, aber wie er Linda in dem Jahr behandelt hat und natürlich der Unfall haben meine Abneigung gegen ihn um ein vielfaches gesteigert. Er wird ihr nie wieder zu nahe kommen, dass ist mein letztes Wort.“, schreie ich Sophie völlig überzogen an, doch meine Nerven liegen blank und ich kann meine Emotionen nicht mehr steuern. Mein Puls rast und mein Brustkorb hebt sich schmerzhaft, während ich Sophie immer noch aufgebracht anschaue. Das kann sie doch nicht wirklich ernst meinen, er hat Linda fast umgebracht.
„Er macht sich Vorwürfe, er muss Linda sehen. Er muss sehen, dass er sie eben nicht umgebracht hat, sonst dreht er noch durch.“, erklärt Sophie und beginnt währenddessen zu weinen. Ein schlechtes Gewissen klopft an mein Bewusstsein an und versucht mir zu verdeutlichen, dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Oder ist es die Angst, um den Geisteszustand ihres Freundes?
Ich kann mich nicht länger auf Sophie konzentrieren, da Linda plötzlich Geräusche von sich gibt. Es klingt wie ein sehr leises Stöhnen und ich muss genau hinhören, um es überhaupt zu vernehmen. Ein Blick auf Sophie beweist mir, dass ich nicht begonnen habe zu halluzinieren, dass sie es auch hört. Das Stöhnen wird kräftiger und nun beginnen auch Lindas Lider zu zucken.
„Hol den Arzt!“, befehle ich Sophie recht barsch, aber sie tut es unverzüglich, während Linda immer mehr das Bewusstsein wiedererlangt.
Sie blinzelt einige Male und ich bin so froh diese grau-blauen Meere wieder zu sehen, dass mir die Tränen in die Augen schießen.
Am liebsten würde ich Linda nieder küssen, auf jeden Zentimeter ihres geschundenen Gesichts einen zarten Kuss setzten, doch mein letztes Fünkchen Selbstbeherrschung hindert mich daran. Ich könnte platzen vor Freude, doch nun, nach fast einer Woche des Bangen und Hoffens kommt mir ein grauenhafter Gedanke. Keine einzige Sekunde in den letzten Tagen habe ich darüber nachgedacht, ob Linda mich überhaupt hier haben möchte. Unsere Situation vor dem Unfall war, um es milde auszudrücken, kompliziert. Aber ich habe in meinem, rückblickend betrachtet würde ich es Übereifer nennen, nicht bedacht, dass es sein könnte, dass Linda gar nicht will, dass ich bei ihr bin. Sie hat in letzter Zeit nie von sich aus meine Nähe gesucht und ich dränge mich ihr auf, schlafe sogar mit ihr in einem Bett.
Diese Gedanken lassen mein Glücksgefühl über Lindas Erwachen rasch abflauen und ich sinke resignierend zurück. Was ist aus mir geworden? Ich dringe in die Privatsphäre andere Leute ein ohne auf deren Empfindungen zu achten. Egoistisch habe ich Lindas Situation ausgenutzt, um in ihrer Nähe zu sein und habe dabei meine und womöglich auch ihre Heilung verzögert.
Was hat die Liebe zu Linda aus mir gemacht? Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst, völlig gefangen in der Illusion Linda und ich könnten wieder ein Paar werden. Wie besessen habe ich mich ihr aufgedrängt, sie unter enormen Druck gesetzt, nur weil ich es nicht akzeptieren kann, dass Linda keine Gefühle für mich hat, vielleicht nie hatte. Und wenn doch, ist es ihre Sache, wie sie damit umgeht und nicht meine Aufgabe ihr vor den Kopf zustoßen und ihr etwas abzuzwingen, dass sie nicht will.
Ich muss Linda in Ruhe lassen, muss ihr Freiraum geben sich über ihre Gefühle klar zu werden, vielleicht muss ich mich sogar ganz aus ihrem Leben zurückziehen. Denn, werde ich es je schaffen Linda nur als Freundin zu sehen? Kann ich mit ihr umgehen, ohne mir zu wünschen, sie wäre an meiner Seite? Wie würde ich reagieren, wenn sie einen Partner hat?
Noch bevor Sophie mit dem Arzt wiederkommt und Linda neben mir ihr volles Bewusstsein wiedererlangt und die aktuelle Situation erfasst hat, habe ich einen Entschluss getroffen. Ich werde in mein eigenes Krankenzimmer zurückkehren und Linda in Ruhe lassen, eventuell für immer, aber darüber muss ich erstmal nachdenken.
„L-Le-on…“, krächzt Linda neben mir und reist mich aus meinen Gedanken. Ich gerate in Panik, da ich schon wieder an meinen neuen Vorsätzen zweifle. Sie in diesem Bett liegen zu sehen, zusehen, wie schlachte es ihr geht und zu wissen, dass sie mein Kind in sich trägt, lassen meine, grade so logisch klingenden, Pläne akut wanken. Wie kann ich sie auch nur eine Minute in diesem Zustand aus den Augen lassen? Ich könnte mich nie wieder im Spiegel ansehen, wenn ihr etwas passiert, wenn ich nicht bei ihr bin und es versuche zu verhindern. Selbst in meinem Kopf klingen die Gedanken so verrückt, dass sie mir den Impuls geben aufzustehen und einfach aus dem Zimmer zu gehen.
An der Tür kommen mir grade Sophie und Lindas Arzt entgegen, die mich anstarren wie einen Geist. Auch Alexander, der vor Lindas Zimmer auf der Bank sitzt bekommt den Mund nicht mehr zu.
Ohne ein Wort gehe ich an ihnen vorbei, versuche dabei stolz zu wirken, ein Selbstbewusstsein zu zeigen, was ich nicht habe. Mein innerer Kampf läuft dabei unvermindert weiter. In der einen Sekunde bin ich mir sicher das Richtige zu tun und in der nächsten möchte ich einfach nur wieder zurück in dieses Zimmer und mich an Linda kuscheln, wie ich es in den letzten Tagen oft gemacht habe.
Doch ich komme nicht weit auf meinem Weg, denn plötzlich tanzen schwarze Punkte vor meinen Augen und ich muss schwer Atmen, was mir stechende Schmerzen in meinem Brustkorb beschert. Schwankend halte ich mich an der Wand fest, um nicht umzukippen. Plötzlich fühle ich mich schlapp und müde und meine Muskeln beginnen unkontrolliert zu zucken, ehe ich einfach umkippe. Meine Beine halten mich nicht mehr und mir wird gänzlich schwarz vor Augen.
„Leon!“, ruft mich jemand, tätschelt unsanft meine Wangen und ich schlage flatternd die Augen auf. Ich liege auf dem Krankenhausflur, ein Pfleger hält meine Beine und Alexander hockt neben mir und auch ohne dass ich mich bewege dreht sich alles um mich herum.
Mein Arzt erscheint in meinem Gesichtsfeld und ich werde auf eine Trage gelegt. Die Welt scheint seltsam entfernt, alles läuft wie in einem Film vor mir ab und ich kann und will nicht eingreifen.
Doch nachdem ich augenscheinlich erstversorgt wurde schiebt man mich in Richtung von Lindas Zimmer doch auch wenn ich bei weitem nicht Herr meines Körpers bin hier schreite ich ein, unterdrücke für einen Moment alle Symptome und verlange in mein eigenes Zimmer gebracht zu werden, zwar schwach aber erfolgreich.
Auf dem Weg auf die Normalstation dämmere ich wieder weg. Ist es wieder eine Bewusstlosigkeit oder hat der Arzt mir etwas gegeben? Jedenfalls bemerke ich nur am Rande wie ich in ein Bett gelegt werde, bevor ich in einen traumlosen Schlaf falle.
Ich wache erst auf als mich am nächsten Morgen die Sonne an der Nase kitzelt. Mein erster Griff geht neben mich, da Lindas Hand nicht in meiner liegt. Aber auch dort ist nichts. Verwirrt blicke ich mich um und brauche eine Ewigkeit, um mich zu erinnern, was gestern passiert ist. Sobald ich wieder voll im Bilde bin setzt mein Zwiespalt wieder ein. Wie geht es Linda jetzt? Ich muss unbedingt zu ihr, um es zu erfahren. Aber ich tue ihr und mir damit nicht gut. Will sie mich überhaupt in ihrer Nähe?
Dieses Mal ist es mein grummelnder Magen, der mich zurück in die Realität bringt und meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ich habe aus Sorge um Linda in den letzten Tagen nicht besonders gut gegessen und richtigen Appetit habe ich jetzt auch nicht, aber offensichtlich stört das meinen Bauch nicht.
In Ermangelung einer Alternative drücke ich die Ruftaste für die Schwestern und warte. Nur wenig später klopft es und eine Schwester höheren Alters betritt mein Zimmer.
„Schön sie wieder zu sehen, Herr Herrmann. Wie kann ich ihnen behilflich sein?“, fragt sie und kann die Ironie in ihrer Stimme kaum unterdrücken. Sollte ich das verstehen? Ah, Moment. War sie die Schwester, die mich aufhalten wollte? Die mir hinterhergerufen hat? Möglich. Ob sie Ärger bekommen hat, weil ich unter ihren Augen die Station verlassen habe? Ich habe genug eigene Probleme, um nicht weiter darüber nachzudenken.
„Könnte ich wohl etwas zu essen und Stift und Papier bekommen?“, frage ich mit ähnlich künstlicher Höflichkeit, klinge dabei aber rau und kraftlos.
„Aber natürlich.“, erwidert die ältere Krankenschwester und ist auch schon wieder verschwunden.
Das Essen schmeckt nach Pappe und nach einigen Bissen bildet sich ein großer Klumpen in meinem Magen, der ein Weiteressen unmöglich macht. Da mein Bauch fürs Erste einmal beruhigt ist widme ich mich meinem weiterem Vorhaben, Linda einen Brief schreiben.
Ich brauche nicht lange um die richtigen Worte zu finden, auszudrücken was ich fühle und was ich ihr schon immer sagen wollte.

 

 

Liebe Linda,

 

es tut mir Leid, dass ich gegangen bin aber ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich an der Liebe zu dir zerbreche. Es fügt mir körperliche Schmerzen zu wenn du mich abweist. Aber auch nicht in deiner Nähe sein zu können bringt mich um den Verstand. Ich befinde mich in einem Teufelskreis denn nur ich durchbrechen kann, indem ich wieder aus deinem Leben verschwinde. Es bricht mir das Herz diesen Schritt zu gehen, dich wieder zu verlassen, aber ich sehe keine andere Chance.
Der Unfall, beziehungsweise dein Aufwachen nach dem Koma hat mir die Augen geöffnet. Plötzlich habe ich Panik verspürt, dass ich gar nicht darüber nachgedacht habe, ob du mich an deiner Seite möchtest. Ich habe mich sogar als dein Partner ausgegeben, um jede Sekunde bei dir zu sein, ohne überhaupt zu wissen, ob du das auch möchtest.
Du hast mir, in der Zeit die ich wieder Kontakt zum Verein habe, so viele verschiedene Gefühle entgegengebracht, dass ich nicht weiß, welches deine wahren sind.
Von Woche zu Woche hat mich dein Verhalten mir gegenüber mehr verletzt, aber ich hatte die Hoffnung, dass es sich bessert, dass du mir wieder vertrauen kannst und es wurde ja auch besser. Bis zu jenem Nachmittag bei mir, als du endlich wieder ganz nah bei mir warst. Als wir uns liebten und dabei so etwas Wundervolles entstanden ist. Doch am selben Nachmittag hast du mir auch das Herz aus der Brust gerissen, indem du deinen Eis-Blick ausgepackt hast und gegangen bist. Wenn ich ganz ehrlich bin habe ich darauf gewartet, jede Sekunde habe ich gebangt du könntest dich wieder von mir abwenden. Ich wollte dich berühren, dich küssen, doch ich hatte panische Angst vor deiner Reaktion, befürchtete du könntest aufhören.
Über die ganze Zeit habe ich so gut es ging versucht deine Reaktionen zu verstehen und zu respektieren, neues Vertrauen aufzubauen. Jedoch hast du dich, so empfinde ich es, mit Händen und Füßen gewehrt. Ich weiß, dass mein damaliger Fehler schwer wiegt, doch gibt es irgendeinen Anlass nicht zu vergeben? Zumal ich mich mehrfach entschuldigt habe und selbst Hanna mittlerweile zugegeben hat, dass diese Wette nie existiert hat.
Ich habe dir mein Leben offen gelegt, dir mein Herz erneut geschenkt, zu diesem Zeitpunkt aber kann ich sagen, dass ich verloren habe. Ich habe sogar meine Gesundheit für dich aufs Spiel gesetzt und du hast mir nicht mal die Chance gegeben wieder Teil deines Lebens zu werden.
Was hat dich so verändert? Ich habe dich als loyal, offen, gutmütig und überaus freundlich kennengelernt, doch jetzt sehe ich nicht mehr viel dieser Linda, der Linda in die ich mich verliebt habe. Natürlich liebe ich dich immer noch über alle Maßen, aber auch bei mir hat sich etwas wie Resignation eingestellt.
Ich hatte über die ganze Zeit so viele Fragen an dich, die ich mir nie getraut habe zu stellen und so tue ich es jetzt, egal ob ich je eine Antwort darauf bekomme.
Wie ist es dir ergangen, all die Jahre, emotional? Wie hast du es verkraftet Franz, Anja und deine Mutter zu verlieren? Was ist zwischen dir und Tom vorgefallen? Woran hakt es in eurer Clique und was war der ausschlaggebende Punkt? Was läuft zwischen Alexander und Toms Freundin? Was macht das alles mit dir? Warum behandelst du mich so? Liebst du mich noch?
Diese Frage habe ich dir auch auf der Feier, vor diesem unsäglichen Unfall gestellt. In einer etwas anderen Form aber im Prinzip dieselbe Frage, doch ich kann mich deiner Antwort nicht umgehen. Was hat es zu bedeuten? Was kannst du nicht? Mich lieben? Mir sagen, dass du mich nicht liebst? Ich weiß es einfach nicht. Viele Fragen, wobei ich nicht mal darauf hoffe eine Antwort zu bekommen.
Hätte Betty mich nicht unterstützt und gäbe es Lena nicht wäre ich schon längst verzweifelt. Du kennst meine Verbindung zu Betty und ich hoffen nicht, dass sie der Grund für dein Verhalten ist, denn dies wäre nicht nur äußerst kindisch sondern auch noch dumm und da ich weiß, dass du nicht dumm bist…
So bleibt mir nur noch eines zu sagen. Ich werde nie eine andere Frau lieben, so wie ich dich liebe. Nie könnte ich dich je vergessen und du wirst immer in meinem Herz sein.
Ich will nur das du weiß, dass ich dich liebe, immer.

Leon

P.S. Natürlich werde ich finanziell für unser Kind aufkommen, vielleicht kann man eine Regelung über Betty oder Sophie treffen, denn ich werde den Kontakt zu dir nicht mehr suchen.


Ein seltsames Gefühl stellt sich bei mir ein. Lautlos rinnen Tränen hinab auf das Papier, dennoch fühle ich mich seltsam befreit, erleichtert.
Ich falte den Brief und lege ihn zur Seite. Ich werde Betty fragen ob sie ihn zu Linda bringt, ich gehe nicht davon aus, dass einer der anderen hier auftauchen wird.
Ich esse die Reste des längst kalten Mittags und lehne mich durchaus zufrieden zurück. Hätte ich diesen Schritt schon viel eher gehen sollen? Nein, definitiv nicht. Besonders nicht, nachdem wir miteinander geschlafen hatten.
Betty kommt noch am gleichen Nachmittag zu Besuch. Sie ist verwirrt mich hier zu finden, verabschiedet sich aber mit den Worten, dass ich das Richtige gemacht habe und verspricht mir den Brief weiter zu leiten. Außerdem freut sie sich, dass jetzt auch Lena mich besuchen kann, was auch mich strahlen lässt. Gefühlte Ewigkeiten habe ich Lena nicht mehr gesehen. Wie schwer muss es für sie sein ihren Vater nicht besuchen zu können? Wie sehr hat sie dieser Unfall getroffen?
Ich mache mir nicht allzu viele Vorwürfe, da ich weiß, dass Betty sich hervorragend um sie gekümmert hat, doch nun möchte ich ihr persönlich erklären was passiert ist und fiebere auf ihren Besuch hin.

 

Mein Gesundheitszustand hat sich in den letzten zwei Tagen sichtlich gebessert und das ist nicht allein meiner Tochter zu verdanken, die mich seit langem Mal wieder zum Lachen bringt. Ich esse und schlafe gut und schaffe es schon eine Spaziergang im Klinikgelände zu unternehmen. Natürlich habe ich dabei tunlichst vermieden auch nur in die Nähe der Intensivstation zu kommen und auch die Cafeteria nur Besucht, wenn ich keine mir bekannte Person sichten konnte. Mein Arzt hat mir bescheinigt, wenn meine Heilung weiter so voran schreitet, dass ich in wenigen Tagen entlassen werden kann.
Vor wenigen Minuten haben sich Betty und Lena verabschiedet und ich will grade ein Buch aufschlagen, als es erneut klopft. Mir schießt eine witzige Bemerkung durch den Kopf, dass Lena wohl keine zwei Sekunden mehr ohne mich aushält, doch ich verschlucke mich an meinen eigenen Worten. Es ist nicht Lena und auch nicht Betty, es ist Linda, die von Sebastian in den Raum geschoben wird. Ihr eingegipstes Bein lagert hoch auf dem Rollstuhl und macht jedes Manöver zur Millimeterarbeit, ihr Arm ist immer noch an ihren Oberkörper gebunden, nur der Verband um den Kopf wurde durch ein Pflaster ersetzt.
Nach dieser kurzen Bestandsaufnahme sehe ich ihr ins Gesicht. Linda weint, doch es sind keine Tränen der Trauer, sie ist wütend, fuchsteufelswild. In ihren zitternden Händen hält sie ein Blatt Papier, dass einmal mein Brief gewesen sein könnte, doch nun muss es jede Sekunde darum bangen in Tausend winzig kleine Schnipsel zu zerfallen.
Sebastian stellt den Rollstuhl neben meinem Bett ab und zieht sich dann zurück bleibt aber im Raum. Wenn will er schützen?
„DU MIESES KLEINES ARSCHLOCH…,“, beginnt Linda lautstark sich Luft zu machen und ich schrecke zusammen. So habe ich sie noch nie erlebt und ich beschließe kurzer Hand alles über mich ergehen zu lassen, ihr nicht ins Wort zu fallen, um sie nicht noch wütender zu machen, falls das überhaupt möglich ist.
„ICH WILL DEIN VERDAMMTES GELD NICHT, DASS KANNST DU DIR SONST WOHIN STECKEN. WIE KANNST DU ES WAGEN, MIR VORZUWERFEN, DASS DU DICH AN DER LIEBE ZU MIR KAPUTT MACHST? WIE KANNST DU ERST TAGELANG NEBEN MIR, BEI MIR SEIN UND DANN EINFACH VERSCHWINDEN?“, Linda muss tief Luftholen, was ihr ein gequältes Stöhnen entweichen lässt. Ihr Tränen sind versiegt und in dieser kurzen Pause wandelt sich ihr Bild, sie wirkt nun weniger wütend, als hätte sie mit diesen Worten ihre ganze Wut hinausgeschrien, um nun sachlich fortzufahren.
„Ich werde dir deine Fragen beantworten und dir auch so einiges mehr erzählen.“, erklärt sie und faltet das zerknitterte Blatt auseinander.
„Wie es mir ergangen ist, emotional? Miserabel, erbärmlich, ich war am Boden, aber es war nichts zu dem Chaos, was du ausgelöst hast. Als du wieder aufgetaucht bist. Ich wurde von meiner ersten großen Liebe verarscht, zumindest habe ich das geglaubt, aber dazu später mehr. Jeden, der in irgendeiner Weise Interesse an mir gezeigt hat, habe ich mit dir verglichen und alle haben den Kürzeren gezogen, bei keinem habe ich mich gefühlt wie bei dir. (Linda schaut auf die Finger ihres gesunden Armes, mit denen sie den Saum ihres T-Shirts nachfährt) Doch wie man so schön sagt, Zeit heilt alle Wunden, ich habe versucht dich zu vergessen, mir ein Leben ohne dich aufzubauen und von Tag zu Tag ist es mir mehr gelungen. Ich bin nicht mehr die Linda von früher, ich bin deutlich realistischer geworden. (Bei diesen Worten blickt sie mir so intensiv in die Augen, dass mir ein Schauer den Rücken hinunter läuft)
Kurz bevor du wieder aufgetaucht bist habe ich mich wieder gefestigt gefühlt, wenn ich auch nie die alte Verbindung zum Verein wiedergefunden habe, aber daran bist nicht allein du Schuld und das bringt mich zu deiner nächsten Frage.
Wie habe ich es verkraftet Franz, Anja und meine Mutter zu verlieren? Jeder einzelne Verlust, wobei ich Franz natürlich nur im übertragenen Sinne verloren habe, hat mich enorm getroffen. Doch das schlimmste war, dass ich keinen an meiner Seite hatte. Als Anja starb war Franz natürlich viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mir Halt geben zu können und dann war er auch ganz aus meinem Leben verschwunden. (Linda ringt mit der Fassung, kann aber die Tränen zurückdrängen, während ich weine. Nicht um Linda Verluste, eher um meinen eigenen mit Linda) Der Tod meiner Mutter hat mich weniger getroffen. Ich weiß nicht, ob ich über die Jahre einfach abgestumpft bin oder es viel mehr daran lag das wir uns über die Zeit mehr und mehr entfremdet haben, aber ich habe nicht mal eine Träne wegen ihr vergossen.
Klar waren meine Freunde immer bei mir, haben versucht mich zu unterstützen doch jemand hat gefehlt und ich weiß ganz genau, dass es niemand anderes sein konnte als du. Du hast mir immer das Gefühl gegeben, dass du auch meine verrücktesten Gedanken verstehst, dass du egal was kommt an meiner Seite bist, doch du warst nicht da… (Wieder schwimmen Tränen in ihren Augen, als sie mich direkt ansieht und nun kann sie nicht verhindern, dass die salzige Spur auf ihren Wangen neu befeuchtet wird)
Weiter.
Was ist zwischen mir und Tom vorgefallen? Du weißt bereits, dass wir eine Zeit lang ein Paar waren. Eigentlich war es von meiner Seite aus eher ein Nachgeben, Tom hat mich immer mehr bedrängt es doch mit ihm zu probieren und ich habe mir eingeredet, dass ich ihn ja schon liebe, zwar wie einen Bruder aber vielleicht könnte sich etwas entwickeln. Es hat sich nichts entwickelt. Ich habe mit ihm geschlafen, als letzten Test sozusagen, um zu sehen ob es so ist wie mir dir doch es war ein totaler Reinfall. (Meine Hände balle sich bei ihren Reden über Tom automatisch zu Fäusten. Dieser Arsch hat also wirklich mit Linda geschlafen) Ich habe mich von Tom getrennt und er ist ausgeflippt. Er hat mich angeschrien, dass ich immer noch an dir, einem miesen Schwein mit übertriebenen Drang zu Gewalt, hängen würde, was zu dem Zeitpunkt auch noch so war, heute noch so ist, aber natürlich habe ich das vor ihm nicht zugegeben. (Am liebsten würde ich sofort aufspringen, Tom in seiner Klappsmühle, in der er hoffentlich immer noch schmorrt, besuchen und ihm zeigen wie übertrieben meine Gewaltbereitschaft ist) Wir haben uns Ewigkeiten nicht gesehen, erst als du wieder da warst hat er davon wahrscheinlich Wind bekommen und hat wieder Kontakt gesucht. Ich bin mir nicht mehr sicher in welcher Beziehung wir zueinander stehen, aber ich gebe ihm nicht die Schuld an dem Unfall. Fine hat mir erzählt was passiert ist und da ich Tom kenne kann ich nicht glauben das es seine Absicht war uns, beziehungsweise mich, in Gefahr zu bringen. Tom würde mir nie bewusst Schmerzen zufügen und ich bin sauer, dass du dir herausgenommen hast zu untersagen, dass er mich besuchen darf. Eure Hahnenkämpfe könnt ihr unter euch austragen, aber nicht mit mir. (Und ich bin sauer das sie ihn immer noch schützt)
Nächste Frage. Woran ‘hakt‘ es in der Clique? Wir sind erwachsen geworden würde ich sagen. Dass bringt so einige Differenzen mit sich, die es im Jugendalter vielleicht noch nicht gab. Sophie und Fine haben Familien gegründet, Sebastian studiert am anderen Ende des Landes, Tom hat seinen Weg meiner Meinung nach noch nicht gefunden und Alexander? Alex, ist halt Alex. Ich hoffe, dass wir uns nicht noch weiter voneinander entfernen, denn das würde uns gänzlich zerreißen und ich bin die Einzige in dieser Konstruktion, die dann keinen mehr hat, die alleine bleibt… (Ich bewundere ihre Offenheit und die enorme Eigenreflexion die sie an den Tag legt, doch eines gibt sie nicht zu. Ihren Neid auf Fine und Sophie, dass sie bereits die Kinder haben, die sich Linda schon so lange wünscht. Doch vielleicht ist dieser Neid auch schon verflogen, nachdem sie erfahren hat, dass sie schwanger ist?)
Was läuft zwischen Alexander und Toms Freundin? (Linda lacht leise, als wüste sie genau was ich meine und findet die Situation genauso seltsam) Ich habe keine Ahnung, aber auch mir ist es nicht entgangen. Ich bin sehr verwirrt, zumal Alexander auch eine Freundin hat, diese aber nur sehr selten mitbringt. Ich weiß also nicht mehr als du, bin aber daran interessiert dahinter zu kommen. (Ist das ein Angebot mit ihr gemeinsam dieses Geheimnis zu erforschen? Ihr Blick ist offen, vielleicht sogar ein bisschen frech und bringt mein Herz zum stolpern)
Was macht das alles mit mir? Hier würde ich nun gern zum Thema Wette zurückkehren. Die einfachste Antwort auf deine Frage wäre, es verwirrt mich, zutiefst. Schon damals war ich zwar schmerzlich gekränkt und verletzt, aber auch verwirrt. Ich habe dir einfach nicht zugetraut, dass du so etwas tuen würdest und doch sprach alles gegen dich. Diese Verwirrtheit hat sich auch wieder eingestellt als du aufgetaucht bist, gemeinsam mit Wut. Wut auf dich, dass du damals nicht hartnäckiger gewesen bist, dass du nur diesen einen Tag in der Schwimmhalle mit mir reden wolltest. Wut auf mich, dass ich dich über all die Jahre nicht vergessen konnte. Ich war hin und her gerissen zwischen meinen Gefühlen, auf der einen Seite wollte ich dir glauben, dass es dir leid tut und das alles anders war als geglaubt. Aber auf der anderen Seite habe ich versucht dich zu vergessen und hatte ein Leben ohne dich aufgebaut.
Ich ließ es dich spüren und dennoch hast du weiter gekämpft, doch mein Vertrauen zu dir war tief erschüttert. Mein Kopf sagte mir es ist falsch, doch mein Köper wird von deinem scheinbar magisch angezogen. Als wir mit einander geschlafen haben fühlte ich mich seit lange mal wieder geborgen, zu Hause. Ein Gefühl, dass ich nur in deinen Armen habe. Ich kann selber nicht genau bestimmen was mich zur Flucht veranlasste, aber ich brauchte diesen Abstand. (Warum redet sie nicht über die Schwangerschaft? Weiß sie es noch nicht? Aber es steht doch in meinem Brief, ich bin völlig durcheinander)
Das ist auch der Grund warum ich mich dir gegenüber so ambivalent verhalten habe, um zur nächsten Frage zu kommen. Ich habe das nicht immer bewusst gesteuert und es tut mir leid, wenn ich dich mit meinem Verhalten verletzt habe.
Zur letzten und bei weitem schwierigsten Frage, ob ich dich noch liebe. (Linda holt tief Luft und ich halte meinen Atem an) Wie könnte ich dich nicht lieben? Ich habe es damals getan und nie damit aufgehört. Doch was nützt diese Liebe, wenn wir nicht zusammen sind? Dass ist auch die Antwort darauf, was meine Erwiderung am Unfallabend bedeutet. Ich kann dir nicht sagen, dass ich dich nicht liebe, denn das wäre gelogen und eines habe ich nie getan dich angelogen.“, damit schließt Linda ihren Monolog und deutet Sebastian, der die gesamte Zeit bewegungslos aber mit deutlicher Anteilnahme in der Mimik an der Seite stand, sofort an sie hinauszuschieben, doch ehe er ihrer stummen Bitte nachkommt sieht er mich eindringlich an. Jetzt ist es an mir über meinen Schatten zu springen, dass ist vielleicht meine letzte Chance bei Linda.
„Geh nicht! Bitte!“, flehe ich regelrecht und meine Pläne mich aus Lindas Leben zurückzuziehen lösen sich in Luft auf.
„Könnten wir uns noch kurz unterhalten? Ehrlich gesagt habe ich nicht damit gerechnet, dass du auf meinen Brief reagierst. Wie du schon gesagt hast, hast du dir mir gegenüber sehr konträr verhalten und ich wusste nicht wie du auf meine Worte eingehst. Natürlich habe ich geschrieben, dass ich deine Nähe nicht mehr suchen werde, aber wie soll ich das nach diesem Geständnis tun? Wie soll ich dir fern bleiben, wo nun endlich alles offen liegt und nichts mehr zwischen uns steht?
Wir lieben uns, wir bekommen ein gemeinsames Kind. Ich will dich nicht noch einmal verlieren, wir haben genug Zeit vergeudet.“, erkläre ich und es fühlt sich an, als würde ich ein Plädoyer für unsere Liebe halten und Linda ist der Richter.
Wieder laufen ihr stumme Tränen über die Wange und ich weiß nicht was sie zu bedeuten haben, da sie den Kopf gesenkt hat und ich ihre Augen nicht sehen kann.
Da fällt mir wieder die kleine Samtschatulle in meinem Nachttische ein und ich setzte alles auf eine Karte.
Langsam stehe ich auf, nehme das Kästchen heraus und hocke mich neben Linda. Nun kann ich ihre Augen sehen, sehe den Kampf den sie aufträgt und hoffe, dass ich nicht zu hoch pokere.
„Linda, ich liebe dich über alle Maßen und ich liebe auch unser Kind jetzt schon, allein nur weil es unser Kind ist.
Sweety möchtest du meine Frau werden und mich damit zum glücklichsten Menschen im Universum machen?“, frage ich grade heraus, kann dabei aber nicht verhindern, dass meine Stimme Zittert. Wie vom Blitz getroffen fährt Linda Kopf zu mir herum, ihre Tränen versiegen für einen Moment im Schock, um dann mit einem heftigen Schluchzen erneut los zu brechen.
Wie schon vor mehr als einer Woche, als ich auf eine Antwort von ihr gewartet habe, rutscht mir mein Herz in die Hose und die Sekunden kommen mir wie Stunden vor. Ich will mich schon betrübt abwenden, da mein Herz, was in letzter Zeit nie wirklich komplett war, droht in winzig kleine Splitter zu zerbersten.
„Ja.“, es ist nur ein Hauch, doch ein leichtes Kopfnicken dazu beweist mir, dass es eine positive Antwort ist.
Ohne auf Lindas oder meine Schmerzen zu achten schließe ich sie fest in meine Arme und bedecke ihr geschundenes Gesicht mit tausend kleinen Küssen, ehe ich zu ihren Mund vordringe und sie leidenschaftlich küsse. Gierig sauge ich ihren Duft in mich ein und fühle mich wie im Himmel. Ich bin am Ziel meiner Träume.

Epilog

7 Monate später Linda

 

 

„Du musst die Beine schneller einsetzten. Sie sind bei Kraul und auch bei Rücken dein Motor.“, erkläre ich Lena. Sie nickt kurz und schwimmt dann weiter.
Ich schaue ihr noch einen Moment nach, um zu sehen, ob sie meine Anweisungen umsetzt. Doch plötzlich wird mein Bauch von einem heftigen Schmerz durchzogen, welcher mich dazu veranlasst mich auf den nassen Startblock zu setzten. Ich reibe über meinen runden Schwangerschaftsbauch und atme tief ein. Ich hatte schon in den letzten Tagen Senkwehen, der Geburtstermin ist ja auch schob übermorgen.
So schnell wie sie gekommen sind, sind sie auch schon wieder weg. Dennoch habe ich die Aufmerksamkeit von Fine und Sophie erregt, die sich seitdem, ich aus dem Krankenhaus entlassen bin, wie Glucken um mich kümmern, und nun zu mir eilen.
„Was ist los? Ist alles gut?“, bestürmt mich sogleich Fine mit Fragen, die mit ihren 5 Jahren mehr Lebenserfahrung die Mutterrolle für uns alle eingenommen hat.
„Alles okay nur Senkwehen, der kleine kommt nicht in einer Schwimmhalle zur Welt, auch wenn das mein zweites zu Hause ist.“, lache ich und dränge mich an den Zweien vorbei, um den Kindern, die auf der anderen Seite warten neue Anweisungen zu geben.
Nach der Stunde, in der Umkleide habe ich wieder diesen ziehenden Schmerz und langsam kommen mir Zweifel, ob es wirklich nur Senkwehen sind.
„Wie lief eigentlich gestern das Gespräch zwischen Tom und Leon? Gab es überlebende?“, will Sophie wissen, während sie sich auf den Platz neben mir fallen lässt, auf dem ich auf Lena warte.
„Sie sind sich nicht an die Gurgel gegangen, aber beste Freund werden sie wohl nie. Ich hoffe, dass sie sich wenigstens irgendwann respektieren können. Tom hat sich verändert nach dem Unfall und das sieht auch Leon und kann einen Schritt auf ihn zu gehen, mir zu liebe.“, seufze ich, in Erinnerung an das zähe Gespräch am Vortag.
Lena kommt aus den Umkleiden und baut sich vor uns auf.
„Bald bin ich schneller als Papa, mein Motor funktioniert super. Bald holt mich keiner mehr ein.“, strahlt sie uns entgegen und ich kann bei so viel kindlicher Zuversicht nur schmunzeln. Das ist einer der Millionen Gründe warum ich Kinder so liebe. Doch auch wenn ich nun bald selbst Mutter bin, schwingt etwas Wehmut bei mir mit, denn als Erzieherin habe ich seit bekannt werden der Schwangerschaft ein Beschäftigungsverbot. Ich vermisse ‘meine‘ Kinder und bin traurig, dass ich sie nicht weiter begleiten kann.
„Können wir nun nach Hause? Ich hab einen Bärenhunger.“, fragt Lena ungeduldig und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Natürlich.“, lächle ich ihr entgegen und erhebe mich schwerfällig von der Bank.
„Ruf an, wenn irgendwas ist.“, beschwört mich Sophie, während sie mich in ihre Arme zieht und ich nicke an ihrer Schulter.
Lena hüpft vor mir her zum Auto und ich frage mich, ob ich damals auch so viel Energie hatte. Diese Woche ist sie bei Leon und mir, am Sonntag kommt Betty zu uns. Wir verbringen dann meist den ganzen Tag miteinander und abends nimmt Betty sie wieder mit. Sie ist mittlerweile auch für mich eine Freundin geworden, auch wenn sie mir den Kopf gewaschen hat, nachdem ich entlassen wurde. Sie hat mir einen ganz neuen Blickwinkel auf Leons Gefühle eröffnet und ich bin ihr dankbar dafür, dass sie so ehrlich ist und Leon beschützt.
Im Auto überrollt mich eine neue Wehe und ich werde mir immer sicherer, dass es losgeht. Doch ich weiß, dass es sich grade bei der ersten Geburt in die Länge ziehen kann und die Abstände sind noch sehr groß, sodass ich mit Lena nach Hause fahre. Leon hat ein kleines Häuschen gemietet, in dem Stadtteil, in dem wir beide aufgewachsen sind und nur ungefähr 10 Gehminuten von Bettys Wohnung entfernt.
Ich mache Lena und mir ein kleines Abendessen und nachdem wir gemeinsam einen Disney-Film angesehen haben bringe ich sie ins Bett. In der Zeit werden die Abstände zwischen den Wehen stetig kürzer und ich hoffe, dass Leon pünktlich Feierabend machen kann.
Ich sitze auf der Kante von Lenas Bett und drücke ihr ein Kuss auf die Stirn.
„Guten Nacht Maus.“, sage ich leise und ziehe ihre Decke noch etwas hoch.
„Ich hab dich ganz doll lieb Linda und ich bin froh, dass du Papa auch lieb hast. Er war traurig und ich glaube eigentlich wollte er manches Mal nicht mit mir in die Schwimmhalle, weil er dich dann gesehen hat.“, beichtet mir Lena und treibt mir damit Tränen in die Augen.
„Ich weiß Maus.“, seufze ich und mache die kleine Nachtischlampe aus. Ich stehe auf und geh zur Tür, bleibe aber noch einen Moment stehen und betrachte Lena, die sich nun auf die Seite gedreht hat und die Augen geschlossen hält. Ich liebe dieses Mädchen, sie ist so ehrlich und offen wie ihre Mutter und ich liebe ihren Vater.
Ich mache den Abwasch und kontrolliere nochmal, ob auch wirklich alles in der Tasche fürs Krankhaus ist. Dann rufe ich Betty an, erkläre ihr die Lage und bitte sie vorbei zu kommen, was sie unverzüglich versichert.
Ich fühle mich getrieben und so laufe ich durchs Haus, in das neu eingerichtete Kinderzimmer, dass nun bald bewohnt sein wird. Ich mache erneut Halt an der Tür zu Lenas Zimmer, sie ist nur angelehnt, sodass ein schmaler Lichtstreifen in das Zimmer fällt und mir einen Blick auf das schlafende Mädchen gewährt. Ihre Worte von vorhin fallen mir wieder ein und die ganze damalige Situation überrollt mich. Ich war so verwirrt, gekränkt und auch ein bisschen trotzig. Ich wollte einfach nicht noch einmal verletzt werden, habe aber dabei meine Gefühle verleugnet und Leon wehgetan.
Stumme Tränen laufen mir über die Wange, als sich starke Arme um meine Taille schieben und auf meinem Bauch zum Liegen kommen. Der Geruch von Ruß steigt mir in die Nase und obwohl es ein anderer ist, als der in den ich mich als Teenager verliebt habe, gibt er mir das Gefühl sicher und beschützt zu sein.
„Ich liebe dich, Sweety.“, haucht er mir ins Ohr und eine Gänsehaut bildet sich an meinem gesamten Körper, währen heiße und kalte Schauer meinen Rücken hinab laufen.
„Und ich liebe dich.
Betty kommt gleich vorbei und kümmert sich um Lena, während wir ins Krankenhaus fahren.“, erkläre ich und lasse mich gegen seine Schulter sinken. Ich merke, wie Leon sich kurz versteift, ob der Neuigkeit die ich soeben habe fallen lassen, doch sofort entspannt er sich wieder und drückt mir einen langen Kuss auf die Lippen.
„Schaffe ich es noch zu duschen?“, fragt er schmunzelnd und löst sich von mir, sodass ich im fahlen Flurlicht die dunklen Flecken auf seinem Gesicht sehen kann.
„Natürlich, die paar Minuten machen nun auch nichts mehr aus, nachdem ich seit der Schwimmhalle Wehen habe.“, gebe ich zu und Leons Augen weiten sich ungläubig. Ich weiß was er mir vorwerfen möchte, ich achte zu wenig auf mich, ich hätte ihn anrufen müssen und so weiter und sofort. Um den zu entgehen schiebe ich ihn in Richtung Badezimmer, drücke ihm ein Kuss auf, bevor ich die Tür schließe und ihn damit einsperre.
Sekunden später vibriert mein Handy auf dem Tisch und ich öffne Betty die Tür.

 

Am nächsten Morgen, grade als die ersten Sonnenstrahlen sich über den Horizont schieben, halte ich meinen Sohn, Finn, in den Armen und mein Herz scheint vor Glück überzulaufen, da auch Leon bei mir ist, mich fest im Arm hält und ebenso verträumt unseren Sohn betrachtet.
Früher, damals in Kroatien war ich verliebt schwebte auf Wolken, heute ist dieses Gefühle tausend Mal tiefer. Ich bin angekommen, zu Hause. Ich bin am Ziel meiner Träume.

Impressum

Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meinem Verein (ja ein Schwimmverein), dem ich seit 20 Jahren treu bin.

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