Warum ist es so dunkel um mich? Wo bin ich?
Alles ist schwarz. Ich kann nicht einmal die Hand vor meinen Augen sehen.
Plötzlich durchzucken Lichtblitze die Dunkelheit. Ein gleisendes Licht blendet mich immer und immer wieder. Aber ich kann trotz des Lichts nichts um mich herum erkennen.
So schnell wie sie angefangen haben enden die Blitze auch wieder. Das schwarz hat sich in ein dunkles grau verwandelt.
Nichts. Auch in dem gräulichen Schein, ist nichts zu erkennen. Meine Hand, die ich mir vor Augen halte erscheint fast durchsichtig.
„Liebling, du musst kämpfen!“, höre ich eine Stimme aus sehr weiter Ferne. Sie kommt mir seltsam bekannt vor.
„Du darfst nicht aufgeben!“, ertönt es nun direkt neben meinem Ohr und ich drehe mich erschrocken um. Doch es ist niemand da. Mein Puls beginnt zu rasen und meine Umgebung verdunkelt sich wieder.
Ein erneuter Lichtblitz bringt das grau wieder.
Ich versuche mich ganz auf meinen Körper zu fixieren, da mir der nähere Umkreis keine Anhaltspunkte zu geben scheint.
Ist es normal, dass ich mich so leicht fühle? Mein Körper erscheint mir so leicht, dass ich mit einem kleinen Hüpfer davon schweben könnte. Doch ich kann mich nicht bewegen. Meine Beine fühlen sich an, als wären sie am Boden festgeklebt. Aber ich stehe gar nicht. Ich liege flach auf dem Boden. Ich kann nicht aufstehen, nur meinen rechten Arm kann ich bewegen.
„Kämpfe!“, wieder diese Stimme, doch nun erkenne ich sie. Die Stimme meiner Mutter. Aber wie kann das sein? Meine Mutter ist tot. Ich versuche mich zu erinnern wie sie gestorben ist, doch es geht nicht. Mein Kopf ist wie leer gefegt, da ist nur die Gewissheit, dass sie tot ist.
Was ist hier los? Warum höre ich meine tote Mutter? Warum kann ich mich nicht mehr erinnern wie sie gestorben ist?
Irgendwie kann ich mich an gar nichts mehr erinnern. Ich konzentriere mich auf die einfachste Frage der Welt. Wie heiße ich? Doch mein Gehirn spuckt nichts aus. Absolute Leere.
Das grau wird immer heller. Wieviel Zeit ist vergangen? Ich weiß es nicht. Es könnten Minuten, Stunden, Tage, Wochen, aber auch Jahre sein.
Mittlerweile kann ich mich deutlich sehen und bewegen. Ich bin aufgestanden.
Aus dem nichts erscheint plötzlich eine Tür. Langsam bewege ich mich darauf zu. Was wohl dahinter ist? Doch etwas hält mich ab. Ich höre Stimmen. Nicht die meiner Mutter. Sie kommen von der anderen Seite der Tür.
„Was sehen sie für weitere Behandlungsmöglichkeiten, meine Damen und Herren?... Niemand? Sie haben Recht. Wir haben alles ausgeschöpft. Wir können nur noch hoffen, dass sie von alleine aufwacht. Solche Fälle sind sehr interessant, aber sie gehen nicht immer gut aus.
Dr. Green möchten sie als behandelter Arzt noch etwas hinzufügen?“, sagt eine alte, raue Männerstimme und mein Puls beschleunigt sich unkontrollierbar.
„Wenn sie nicht in ein paar Wochen aufwacht, müssen wir sie leider in ein staatliches Pflegeheim geben. Da sie keinerlei Papiere bei sich hatte behandeln wir sie hier probono, aber der Vorstand lässt das nicht ewig mit sich machen. Sie kommt dann in die Obhut des Staates.“, dieser Mann klingt deutlich jünger und irgendwie mag ich diese Person nur anhand ihrer Stimme.
Was reden die da? Und über wen? Dieser Person scheint es nicht gut zu gehen.
Ich entferne mich wieder von der Tür, da ich eine unbestimmte Angst verspüre. Angst, dass sie über mich reden? Vielleicht. Ich weiß immer noch nicht wo ich hier bin. Kann es sein, dass ich im Koma liege? Oder gar tot bin? Fühlt sich so der Tot an?
„Du musst wach werden. Sie müssen dich verlegen, wenn du nicht aufwachst. Und mit wem soll ich dann lästern? Wer hört mir dann zu? Bitte, wach auf. Ich würde dich so gern kennen lernen. Viele hier würden das gern, aber ich will dich als Menschen und nicht als Patienten sehen.“, sagt eine weibliche Stimme, als ich mich wieder der Tür nähere. Plötzlich streift etwas sanft meinen Arm. Doch wie schon bei der Stimme meiner Mutter, ist niemand hier.
Ich bin allein. Wie lange bin ich schon hier? Wie lange bin ich schon allein? Ich habe das Gefühl mein ganzes Leben allein gewesen zu sein. Doch diese Einsamkeit kann ich nicht länger ertragen.
Immer mehr zieht mich die Tür an sich. Ich stehe vor ihr. Ein kleines Bullauge lässt mich einen Blick in den Raum dahinter werfen.
Ein kleines Zimmer, dominiert von einem großen Bett. Darin liegt eine blasse Frau. Sie ist hübsch, schießt es mir durch den Kopf, aber ich kenne sie nicht. Einige medizinisch aussehende Geräte stehen um das Bett. Das Zimmer ist dunkel, viel dunkler als meine Welt hier. Kein Fenster lässt einen Blick nach draußen zu.
Der kleine Tisch mit den zwei Stühlen scheint noch nie benutzt wurden zu sein. Keine Bilder hängen an den Wänden.
Eine Traurigkeit überkommt mich, die ich nicht einordnen kann.
Ich greife nach der Klinke. Sie ist kalt und glatt. Langsam drücke ich sie herunter und schiebe die Tür auf.
Ein gleisendes Licht empfängt mich und ich kneife die Augen zusammen.
Fest presse ich die Augen aufeinander, als könnten sie durch das Licht verbrennen. Langsam nimmt die Helligkeit wieder ab und ich entspanne meine Lider.
Zaghaft öffne ich meine Augen.
Wo bin ich? Dieses Zimmer kommt mir bekannt vor, aber es scheint wie aus einem Traum. Ein unklares Déjà-vu.
Ich liege in einem großen Bett, piepende Gerät um mich herum. Es ist dunkel, nur wenig Licht scheint durch das Fenster in der Tür mir gegenüber.
In der Ecke steht ein Tisch mit zwei Stühlen. Alles sieht sehr steril, nahezu unbenutzt aus. Die Wände sind hell gestrichen, aber ohne weitere Dekoration.
Mein Körper fühlt sich schwer an, als würden meine Glieder aus Blei bestehen. Bin ich in einem Krankenhaus? Aber Warum? Was ist passiert?
Ich horche angestrengt in mich hinein, aber bekomme keine Antwort. Mein Kopf ist leer. Ich versuche mich an irgendetwas zu erinnern, doch es gelingt mir nicht. Ich strenge mich an eine Erinnerung abzurufen, nur ein kleines Zeichen, aber anstelle etwas aus meiner Vergangenheit zu erfahren wird mir schwindlig und mein Kopf beginnt zu hämmern.
Eines der Geräte um mich fängt laut an zu piepen.
Plötzlich öffnet sich die Tür und das Licht wird eingeschaltet. Schnell kneife ich meine Augen zusammen, da mich die Helligkeit blendet.
Ein seltsamer Laut entfährt mir. Wollte ich etwas sage? Kann ich reden?
„Du bist wach!“, erklingt eine erschrockene Stimme neben mir und das Piepen endet abrupt. Langsam öffne ich die Augen wieder und sehe eine junge Frau mich seltsam anschauen. Sie wirkt ängstlich, fröhlich und aufgeregt. Warum drückt sie so gegensätzliche Gefühle aus? Was ist mit mir? Bin ich vielleicht entstellt?
Panik steigt in mir auf und meine Augen fixieren die Frau weit aufgerissen. Wieder fängt eines der Geräte an zu piepen.
„Beruhige dich. Alles ist gut. Ich bin Schwester Ann.“, redet sie auf mich ein und streichelt sanft über meinen Arm. Wieder habe ich dieses Déjà-vu-Gefühl und ich beruhige mich tatsächlich etwas. Ihre Stimme und diese Berührung kommen mir so bekannt vor, doch ich kann mich einfach nicht erinnern.
„W… Was…“, krächze ich, bei meinen Versuch zu reden. Mein Hals ist trocken und es strengt mich an zu sprechen. Aber ich kann es anscheinend noch.
„Nicht reden. Ich werde jetzt Dr. Green holen.“, sagt sie sanft und drückt kurz meine Hand ehe sie den Raum verlässt.
Was soll das alles? Warum bin ich im Krankenhaus? Warum kann ich mich an nichts mehr erinnern? Mehr, als diese wenigen Gedanken, ist nicht in meinem Kopf.
Ich bin müde. Wie lange war ich wach? Doch nicht länger als eine halbe Stunde, aber ich fühle mich, als wär ich Tage lang wach gewesen. Immer wieder fallen mir die Augen zu, aber ich versuche wach zu bleiben, denn die Schwester wollte einen Arzt holen, vielleicht weiß er ja was mit mir passiert ist.
Ich bin wohl doch eingeschlafen, denn als mir etwas über den Arm streicht wache ich erschrocken auf.
Schwester Ann steht wieder neben meinem Bett und nimmt liebevoll meine Hand, nachdem sie meinen panischen Gesichtsausdruck bemerkt hat. Dann wendet sie ihren Blick von mir ab und sieht erwartungsvoll auf die andere Seite des Bettes. Ich folge ihren Blick und fange aus mir nicht bekannten Gründen an zu zittern, als ich den jungen Mann bemerke, der dort steht. Er wirkt enorm groß und muskulös. Sein Gesicht ist markant und seine dunklen Haare fallen ihm wirr ins Gesicht. Ich habe keine Ahnung warum, aber eine Welle der Panik überkommt mich, als er seine Hände aus den Kitteltaschen zieht.
„Hallo mein Name ist Dr. Julian Green, ich bin ihr behandelnder Arzt. Würden sie mir ein paar Fragen beantworten?“, fragt er und seine Stimme löst dabei einen Schauder auf meinem Rücken aus. Sie klingt so beruhigend, aber gleichzeitig sicher und bestimmt.
Mein Blick klebt quasi an ihm und ich kann nur nicken. Doch auch diese Bewegung strengt mich stark an und mein Nacken gibt ein komisches Knirschen von sich.
Die Panik fängt an meinen Körper zu beherrschen und ich kralle meine Hände in das Laken.
„Hast du Schmerzen?“, will er besorgt wissen. Tut mir etwas weh? Ich bin mit der Situation überfordert und muss deshalb auch für diese einfache Frage eine Zeit in mich hinein horchen. Nein. Ich fühle mich zwar nicht wirklich gesund, aber richtige Schmerzen haben ich nicht, denke ich und so schüttle ich nur den Kopf.
„Gut. Könntest du uns sagen wie du heißt?“, fordert er nun. Nein kann ich nicht! Aber will er das nur wissen um mich quasi zu prüfen oder wissen sie es selber nicht? Wissen sie auch nicht wer ich bin? Tränen schießen mir in die Augen und beginnen zu fließen. Die Verzweiflung nimmt den Platz der kehlenzuschnürenden Angst ein und ich gebe mich ihr hin.
„Nein.“, krächze ich und werde von großen Schluchzern geschüttelt.
„Nein ich weiß gar nichts mehr.“, versuche ich zu schreien, aber meine Stimme versagt und so ist es nur ein gequältes Flüstern, dass ich zustande bringe.
„Es ist okay. Mach dir keine Sorgen.“, redet Ann beruhigend auf mich ein und streicht mir wieder über den Arm. Diese Geste ist so gefühlvoll und sie legt so viel Liebe hinein, dass ich mich tatsächlich etwas entspanne.
„Was ist passiert?“, höre ich mich heiser fragen und wende meine Blick wieder zu Dr. Green.
„Sie hatten einen schweren Autounfall. Vor ungefähr 9 Monaten wurden sie von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Es sah wirklich nicht gut aus. Wir mussten sie in ein künstliches Koma versetzten, aber auch als wir die Anästhesie lockerten, sind sie nicht aufgewacht. Sie haben sich sehr viele Knochen gebrochen, unter anderen auch ihre Schädelbasis.“, erklärt er mir langsam. Seine warmen braunen Augen bohren sich dabei in meine und auch wenn ich es wollte, ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden.
„Warum…?“, meine Stimme bricht und nun fange ich wirklich haltlos an zu weinen. Gewaltige Schluchzer pressen sich aus meiner Kehle und meine Tränen fließen unaufhörlich. Ich spüre wie Schwester Ann meine Hand nimmt und sie drückt. Ich würde mich am liebsten auf den Bauch drehen, um meinen Kopf in das Kissen zu versenken, doch ich habe keine Kraft mich zu bewegen.
Ich lag neun Monate im Koma. Diese Worte dringen nun sehr langsam in mein Gedächtnis vor. Ich wär bei einem Autounfall fast gestorben und weiß absolut nichts mehr aus meinem Leben.
„Ich spritze ihnen jetzt ein Beruhigungsmittel, sie sollten noch etwas schlafen. Die nächste Zeit wird anstrengend.“, höre ich Dr. Green neben mir sagen, aber ich kann nicht darauf reagieren.
Kurze Zeit später bin ich wieder alleine. Immer noch weine ich, aber mein Heulkrampf hat sich zu einem leisen, wimmernden Weinen abgeschwächt. Nun kreisen in meinem Kopf unzählige Gedanken. Mein Kopf hämmert wie wild und mir wird wieder schwindlig. Ich schließe meine Augen. Schnell falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Eine geballte Faust fliegt auf mein Gesicht zu. Ängstlich schließe ich die Augen, in stummer Erwartung des Schmerzes. Meine Nase gibt ein unheilvolles Knirschen von sich als die Faust sie frontal trifft. Die Wucht lässt mich nach hinten taumeln. Ich habe immer noch die Augen geschlossen, als mich ein weiterer Schlag in den Magen erwischt. Alle Luft wird aus meiner Lunge gepresst und ich falle vornüber auf den Boden.
Hier unten ist es nun ein großer Fuß, der mit einem schweren Stiefel ausgestattet ist und auf mich einprügelt. Nach einem Treffer am Kopf merke ich, wie mir warmes Blut aus der Schläfe läuft und sich mit meinen Haaren verklebt.
Als die Schmerzen so groß sind, dass ich mich nicht mehr rühren kann wird von mir abgelassen. Doch nur wenige Sekunden später spüre ich widerliche schweißnasse Finger an meinem Hosenbund herum nesteln. Ruppig werde ich von meinen Kleidungsstücken befreit und nur Augenblicke danach dringt ohne weitere Berührungen jemand in mich ein.
Panisch reiße ich die Augen auf. Hektisch versuche ich genügend Luft in meine Lungen zu bekommen. Schweiß fließt in Strömen von meiner Stirn in das weiche Kissen. Geräte um mich herum piepen lautstark. Angsterfüllt versuche ich auszumachen wo ich bin, doch als ich versuche meinen Kopf zu drehen gelingt es mir nicht so wie ich es mir vorgestellt habe. Meine Wirbel knirschen und ich schaffe es nur meine Kopf wenige Zentimeter zu drehen. Ich erblicke die piependen Geräte um mich herum und beruhige mich etwas, als mir bewusst wird, dass ich noch im Krankenhaus bin.
Was habe ich geträumt? Was hat mich so in Panik versetzt?
Mit einem Ruck wird die Tür aufgerissen und eine gestresst wirkende Schwester steht am Fußende meines Bettes.
„Geht es ihnen gut?“, fragt sie in Eile, während sie an ein paar der Gräte herum hantiert.
„Ich hatte einen Alptraum, glaub ich.“, gebe ich leise zurück.
„Soll ich ihnen etwas geben, das sie weiter schlafen können?“, will sie wissen und steht schon wieder in der Tür.
Schüchtern schüttle ich den Kopf. Ich will nicht wieder einschlafen. Will nicht wieder träumen.
So lieg ich, nachdem die Schwester mein Zimmer wieder verlassen hat, reglos auf dem Bett und starre an die Decke.
Wer war ich? Wer bin ich? Was mache ich beruflich? Wo wohne ich? Bin ich in meinem Wohnort? Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass ich nicht zu Hause bin. Nicht in der Nähe meiner Heimat.
Um die Gedanken, die mich sowieso nicht weiter bringen abzuschütteln, konzentriere ich mich auf meinen Körper. Kann ich mich noch bewegen?
Ich sammle all meine Kraft und fokussiere mich auf meine Beine. Erwartungsvoll blicke ich auf sie hinab und warte auf eine Bewegung.
„Wackle mit den Zehen.“, bete ich mantraartig vor mich hin. Ich weiß nicht wie lange ich es probiere. Mein Zeitgefühl habe ich anscheinend mit meinem Gedächtnis verloren. Doch nach einer mir erscheinenden Ewigkeit bewegt sich etwas unter meiner Decke und ich kann ausmachen, dass es meine Füße sind, die die Decke leicht ruckeln lassen.
Mir stehen Scheißperlen auf der Stirn, als ich mich geschafft aber zufrieden zurück in das Kissen fallen lasse. Ich kann mich bewegen!
Über die anstrengende Versuch meinen Körper zu bewegen und die Erleichterung, dass es geklappt hat schlafe ich wieder ein. Ein tiefer, ruhiger, traumloser Schlaf.
„Sie sieht nicht aus als wäre sie aufgewacht. Sie sieht aus wie immer. Chris wollte dich bestimmt nur verarschen.“, höre ich eine quietschend weibliche Stimme flüstern.
„Aber Dr. Green persönlich hat es doch Prof. Burk erzählt und Chris hat es mitbekommen.“, erklärt eine ebenfalls weibliche Stimme leise.
Ich öffne meine Augen um zu sehen von wem die Stimmen kommen und sehe mich zwei jungen Frauen in grünen Arztkitteln gegenüber. Beide schauen mich erschrocken an.
„Entschuldigung!“, geben die zwei gleichzeitig von sich und verlassen fluchtartig das Zimmer.
Was war das denn? Bin ich eine Art Attraktion? Bin ich etwa doch entstellt?
Beschwerlich betaste ich mein Gesicht, kann aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Alles scheint an seinem Platz zu sein.
Doch immer noch kann ich mich nicht wirklich beruhigen. Die Gedanken fangen wieder an in meinem Kopf zu kreisen.
Wie sehe ich aus? Bin ich ein guter Mensch?
Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass in meinem Leben nicht besonders glücklich war, aber ich weiß nicht warum. Meine Gedanke und die nicht greifbaren Gefühle stürzen immer mehr auf mich ein und die Tränen beginnen wieder zu laufen.
Mehr und mehr versinke ich in meinem Selbstmitleid und nehme meine Umwelt gar nicht mehr richtig wahr.
Erst als eine Hand über meinen Arm streicht und danach sanft meine Hand hält bekomme ich wieder etwas mit.
„Ganz ruhig. Was ist denn los?“, höre ich Schwester Ann fragen, denn sehen kann ich sie durch meinen Tränenschleier nicht.
„Wer bin ich? Was bin ich für ein Mensch?“, schluchze ich eher zu mir.
„Du bist eine wunderschöne junge Frau und dass du dir solche Gedanken machst zeigt mir, dass du klug und gefühlvoll sein musst.
Leider wissen wir auch nichts über dich, aber du bist sicher kein schlechter Mensch. Ich habe eine sehr gute Menschenkenntnis und die sagt mir, dass du nett bist. Denkst du ich hätte dir sonst meine Beziehungsprobleme anvertraut.“, sagt sie und zwinkert mir zu.
„Du hast mit mir geredet?“, frage ich leicht verdutzt. Kommt daher die Vertrautheit ihrer Stimme?
„Ja, immer wenn ich Dienst hatte, habe mir mindestens fünf Minuten Zeit genommen und mit dir geredet. Anfangs eher über aktuelle Nachrichten, aber irgendwann habe ich trotz deines Zustandes Vertrauen zu dir aufgebaut und hab dir auch private Sorgen anvertraut.“, gibt sie leise zu. Die leichte Röte, die auf ihren Wangen entsteht lässt mich trotz Tränen leicht lächeln. Auch wenn ich mich daran nicht erinnern kann, spüre ich doch eine Verbundenheit zwischen uns.
„Danke.“, seufze ich und wische mir die letzten Tränen bei Seite. Ann hält immer noch meine Hand und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht. Ich habe dunkelblonde Haare, das hab ich schon gestern bemerkt, aber mehr weiß ich immer noch nicht über mich.
In einvernehmlicher Stille sitzt sie auf meiner Bettkante und ich liege darin und betrachte sie. Schwester Ann scheint um die 30 zu sein. Wie alt bin ich? Sie hat gesagt ich sei jung, aber wie alt bin ich wirklich?
Sie hat blonde Locken, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden trägt. Außerdem ist sie zierlich, was auch an ihrer eher geringen Körpergröße liegen mag.
Ein leises Klopfen an der Tür reißt uns beide aus unseren Gedanken. Nur Sekunden später steht Dr. Green neben meinem Bett und betrachtet mich mit einem kleinen Lächeln. Wieder kann ich meinen Blick einfach nicht von ihm abwenden.
„Wie geht es ihnen heute?“, fragt er und ich habe das Gefühl er schaut mir tief in die Seele.
„Ganz gut, denke ich.“, gebe ich zurück.
„Sind sie bereit für ein paar Untersuchungen?“, möchte er nun wissen und ein Grübchen bildet sich auf seiner Wange als er seinen Mundwinkel hochzieht und mich schief an grinst.
Verunsichert schaue ich zu Ann und sie schenkt mir ein zustimmendes Nicken, also nicke auch ich, als ich Dr. Green wieder ansehe.
„Erst einmal werde ich ihnen ein paar Fragen stellen. Bitte seien sie nicht traurig, wenn sie sie nicht beantworten können. Ich weiß, dass die Situation schwer für sie ist, aber ich muss ihnen diese Fragen stellen.“, bittet er mich.
„Du.“, sage ich sicher.
„Was?“, fragt er perplex, scheint als hätte ich ihn aus dem Konzept gebracht.
„Sagen sie du zu mir. Anscheinend kennen wir uns schon einige Zeit und ich denke ich bin nicht so alt, dass man mich aus Respektsgründen siezt.“, erwidere ich sicher. Das ist das erste wo ich mir wirklich sicher bin. Es fühlt sich einfach komisch an von ihm gesiezt zu werden. Schwester Ann tut es doch auch nicht.
„Okay, aber dann sag du bitte auch Julian zu mir.“, verlangt er im Gegenzug.
„Und du nennst mich…“, setzte ich an, aber ich kenne meinen Namen ja gar nicht, „… nenn mich wie du möchtest.“, biete ich großzügig und mit belegter Stimme an und versuche ein Lächeln, was aber gewaltig schief geht.
„In den Akten heißt du Emily Doe, wir fanden Jane nicht passend.“, schaltet sich nun auch Ann wieder in das Gespräch ein.
„Emily.“, sage ich tonlos und warte auf eine Reaktion meines Gehirns. Doch es gibt mir kein Zeichen, ob es nun mein richtiger Name ist oder nicht.
Ann schaut mich erwartungsvoll an, ich kann aber nur mit den Schultern zucken.
„Es ist ein sehr schöner Name.“, schiebe ich schnell hinterher, da sie etwas traurig wirkt. Sie drückt meine Hand, die immer noch in ihrer liegt, leicht und schenkt mir ein Lächeln, welches ich erwidere.
„Also gut Emily, wie gesagt ich muss dir diese Fragen stellen. Kannst du mir sagen wie du heißt?“, fragt er vorsichtig.
„Emily Doe.“, sage ich, obwohl ich weiß, dass das nicht die Antwort ist die er hören möchte. Ann neben mir prustet laut los und auch Julian kann sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Du bist echt gut.“, Ann hat sich wieder gefangen und schaut mich belustigt an.
„Weißt du wo du wohnst?“, will Julian jetzt wieder ernst wissen und von einem auf den anderen Moment ist die gute Stimmung verpufft.
Sofort schießen mir wieder die Tränen in die Augen, aber ich schlucke sie tapfer herunter.
„Nein.“, antworte ich so fest ich kann, dennoch gleicht es einem heißeren Flüstern.
„Welches Datum haben wir heute?“, befragt er mich unbeirrt weiter.
„Ich hab keine Ahnung.“, gebe ich erstickt zurück, weil ich kaum noch die Tränen zurückhalten kann.
„Verdammt, ich weiß ja nicht mal welches Jahr es ist.“, schrei ich nun und bin selber über die stärke in meiner Stimme überrascht. Ann drückt meine Hand nun wieder etwas fester und mein kleiner Wutausbruch ebbt schnell wieder ab.
„Darf ich auch etwas fragen?“, will ich zaghaft wissen, als eine unangenehme Stille entsteht und ich mich wieder etwas gefangen habe.
„Natürlich. Alles was du möchtest.“, antwortet mir Ann leicht entrüstet.
„Wo bin ich. Welches Datum haben wir? Wie alt bin ich? Wie sehe ich aus?“, sprudeln die Fragen nur so aus mir heraus und ich hab noch 1000 andere, aber die sollten erstmal reichen.
„Du bist im Rock County Hospital Bassett, Nebraska, USA. Wir haben den 15.04.2008, dein Unfall war am 25.07.2007, dieses Datum steht in den Unterlagen als dein Geburtstag.“, berichtet mir Ann. Wieder lasse ich diese Informationen in meinem Gehirn nachwirken und wieder spuckt es nichts aus. Ich kann nicht einmal bestimmen, ob ich aus den USA komme oder nicht.
„Medizinisch kann ich sagen, dass du zwischen 26 und 30 bist, in der Akte steht natürlich 26. Du bist eine Frau, hast keine Kinder und bist unverheiratet.“, redet nun Dr. Green weiter. Unverheiratet? Woher wissen sie das? Stirnrunzelt schaue ich ihn an und ein kleines Lächeln bildet sich auf seinem Gesicht.
„Wir haben keinen Ring gefunden.“, flüstert mir Schwester Ann ins Ohr und ich merke wie mir sofort Blut in die Wangen schießt. Wie blöd bin ich denn? Natürlich, ich trage keinen Ring.
„Konnten sie körperlich sonst irgendwelche Auffälligkeiten feststellen?“, frage ich sachlich, um über meine eigene Dummheit hinwegzutäuschen.
„Du hast einige Narben an Rücken, Bauch und Beinen, die nicht vom Unfall herrühren, aber wir können nicht genau bestimmen wie sie entstanden sind.“, schildert mir Julian ebenso distanziert, dabei umspiel aber ein kaum sichtbares Lächeln seinen Mundwinkel und schon wieder steigt mir die Röte ins Gesicht.
„Gut Emily. Ich werde dich nun körperlich untersuchen.“, sagt Julian unbeeindruckt und schon im nächsten Moment leuchtet er mir mit einer kleinen Lampe in die Augen.
Dann nimmt er meine freie Hand und bitte mich zuzudrücken. Im Anschluss fordert er, dass ich meine Füße bewege und ich folge all seinen Anweisungen.
„Kann es sein, dass da jemand heimlich geübt hat?“, fragt er, als er die Bettdecke wieder über meine Füße schlägt.
„Ja. Ich musste mich ablenken.“, gebe ich zu und merke wie sofort meine Wangen wieder beginnen zu glühen.
„Du brauchst dich nicht zu schämen, das ist gut. Du bist eine vorbildliche Patientin.“, lobt er mich und meine Wangen glühen noch mehr.
„Morgen werden wir mit der Physiotherapie beginnen.“, druckst er etwas herum. Ich sehe ihn fragend an, da ich merke, dass da noch mehr ist.
„Du wirst außerdem mit einem Psychologen und der Polizei reden müssen.“, gibt er stockend wieder und ich zucke mit den Schultern. Warum macht er daraus ein so großes Geheimnis? Gehört das nicht zur normalen Prozedur, wenn jemand aus dem Koma aufwacht? Aber warum sollte ich mit ihnen reden, wenn es nicht zum normalen Ablauf gehört?
Julian wirf einen hilfesuchenden Blick zu Schwester Ann und sie drückt wieder leicht meine Hand.
„Wenn es dir zu viel wird, sagst du es. Ich oder Julian werden immer dabei sein. Du brauchst keine Angst zu haben.“, sagt sie liebevoll und steht dann von meiner Bettkante auf.
„Danke.“, flüstere ich, als beide den Raum verlassen und Ann die Tür schließt. Kurz hält sie in ihrer Bewegung inne, dreht sich zu mir um und schenkt mir ein Lächeln das so strahlend ist, dass es das ganze Zimmer erhellt.
Dann bin ich wieder allein mit meinen Gedanken, aber ich lasse nicht zu, dass sie über mich bestimmen. Die Fragen, die mir im Kopf rumschwirren kann ich mir sowieso nicht beantworten, also lenke ich mich ab indem ich weiter daran arbeite meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch schon nach kurzer Zeit bin ich wieder so erschöpft, dass ich einschlafe.
Ich renne, renne weg vor IHM. Doch die Wohnung bietet mir keine ausreichenden Fluchtmöglichkeiten. Irgendwann schafft ER es und drängt mich in eine Ecke. Ich verschließe die Augen. Will SEIN hämisches Grinsen nicht sehen. Will nicht sehen wie SEINE Faust auf mich zu fliegt. Will nicht sehen wie ER mich heute wieder quält.
Plötzlich wird mein Kopf von etwas getroffen, aber es ist nicht SEINE Faust. Es ist nicht knöchern und auch nicht so hart wie sonst. Ein peitschendes Geräusch folgt dem Treffer und ich weiß was es ist. SEIN Gürtel. Wieder trifft mich ein Hieb und ich merke, dass ER beim ersten Schwung wohl abgerutscht ist, denn jetzt trifft mich die volle Kraft des Leders und ich bemerke sofort, dass es eine große Platzwunde auf meinem Kopf reißt. Ich versuche meinen Kopf vor weiteren Angriffen zu schützen, doch die Schmerzen, die SEIN Gürtel an meinem Rücken oder meiner Brust auslösen sind nicht geringer.
Irgendwann liege ich auf dem Boden und krümme mich qualvoll vor Schmerzen. Ich habe meine Augen noch immer fest verschlossen, doch ich kann mir denken wie es um mich herum aussieht. Durch zahlreiche Wunden sickert Blut auf den Boden und die Lache um mich wird wohl immer größer.
Ein Wunsch setzt sich in mir durch. ER soll es endlich zu Ende bringen. ER soll mich doch endlich töten. Doch das tut ER nicht. ER lässt mich einfach hier liegen und irgendwann werde ich bewusstlos, aber in der Gewissheit, nicht zu sterben.
Schweißgebadet schrecke ich hoch und sitze senkrecht im Bett. Krampfhaft versuche ich Luft in meine Lungen zu bekommen, doch es will mir einfach nicht gelingen. Mein ganzer Körper zittert und die Geräte um mich herum schlagen Alarm.
Ich kann mich nicht rühren, die Panik unterbindet alle meine Handlungsmöglichkeiten. Mein Atem geht schnell und flach und noch immer kann ich nicht genügend Luft in meine Lungen bringen.
Ich zucke zusammen, als Bilder von einem auf mich zu schnellenden Gürtel in meinem Gedächtnis aufblitzten. Immer wieder schlägt jemand mit einem Gürtel auf mich ein und ich kann den Schmerz fast körperlich spüren.
Ich nehme meine Umgebung nicht wahr. Die Angst lässt nichts weiter übrig als die Gürtelhiebe und die Atemnot.
Plötzlich verändert sich etwas, ich kann aber nicht bestimmen was. Eine seltsame Ruhe legt sich über mich und ich bekomme mit wie ich sanft zurück in die Kissen gedrückt werde und über meinen Arm gestreichelt wird.
„Beruhige dich Emily. Alles ist gut, ich bin da.“, höre ich die einfühlsame Stimme von Schwester Ann zu mir durchdringen. Und es klappt wirklich, ich komme langsam in einen normalen Atemrhythmus zurück und auch die peinigenden Gedanken an diesen Gürtel entfernen sich allmählich.
Mit Schwester Anns stetigen Streicheln über meinen Arm, schlafe ich schnell wieder ein. Hat sie mir etwas gegeben?, ist mein letzter Gedanke bevor ich endgültig in einen traumlosen Schlaf trifte.
Als ich wieder aufwache fühle ich mich erstaunlich erholt, ich habe das Gefühl endlich mal wieder richtig geschlafen zu haben, obwohl ich ja quasi die letzten 9 Monate nichts anderes gemacht habe.
Ich vertreibe mir ein wenig die Zeit damit meinen Körper zu trainieren. Die Bewegungen sind anstrengend, aber ich merke, dass es mir leichter fällt als noch gestern.
Irgendwann öffnet Ann nach einem leisen Klopfen die Tür. Sie wirkt bedrückt, als sie mir das Essen durch die Sonde drückt und mir danach hilft etwas Wasser zu trinken.
„Was ist mit dir?“, frage ich vorsichtig. Ihre Stimmung passt so gar nicht zu der Krankenschwester die ich kennengelernt habe und das macht mich traurig. Sie war und ist da wenn ich sie brauche und so will ich es auch für sie sein. Ich will eine Freundin für sie sein.
„Ach nichts. Wie geht es dir? Was war heute Nacht bei dir los?“, winkt sie schnell ab und versucht das Thema zu wechseln.
„Ich hatte einen Alptraum. Danke, dass du da warst. Aber lenk nicht von dir ab. Ich sehe, dass dich etwas bedrückt, also sag mir was es ist. Du hast erzählt, dass du als ich im Koma lag mir vieles anvertraut hast, wieso also jetzt damit aufhören?“, gehe ich sanft auf sie ein und sehe wie sie mit sich kämpft. Um ihr den letzten Schubs zu geben versuche ich ein Lächeln, was aber gewaltig schief geht, denn Ann bricht in schallendes Gelächter aus.
„Entschuldige, aber wenn das ein Lächeln werden sollte, dann müssen wir das aber noch mal üben.“, bringt sie um Luft ringend hervor.
Bis sie sich endgültig wieder beruhigt hat kehrt eine einvernehmliche Stille ein. Ich fühle, dass sie diese Zeit braucht um sich zu sammeln.
„Ich habe mich von Greg getrennt.“, flüstert sie dann, schaut bedrückt zu Boden und knetet ihre Hände.
„Du weißt es nicht mehr, aber ich habe dir erzählt, dass er sich verändert hat in letzter Zeit. Er ist einfach nicht mehr der in den ich mich verliebt habe. Immer öfter haben wir uns gestritten und er ist sehr ausfallend geworden, gestern ist es dann eskaliert. Er hat mich hier abgeholt, es ist aber mal wieder etwas später geworden und noch auf der Station hat er mich angeschrien. Die ganze Fahrt nach Hause hat er gewütet wie ein wild gewordener Stier, ich hab überhaupt nicht darauf reagiert und ihn einfach machen lassen. Während ich mich gefragt habe, wann und warum er sich so verändert hat und ob ich ihn noch liebe. In unserer Wohnung habe ich ihm dann sachlich erklärt, dass ich mich von ihm trenne.
Seine Augen sind ihm fast rausgefallen und für einen Moment hatte ich echte Panik, dass er mich schlägt, aber dann hat er nur die Vitrine im Wohnzimmer zerlegt, hat seine Sachen gepackt und ist gegangen.“, berichtet sie mit zitternder Stimme und leise Tränen fließen ihr über die Wange.
Ich suche nach ihrem Arm, versuche mit aller Kraft die ich aufbringen kann sie an mich zu ziehen, um sie in den Arm zu nehmen. Bereitwillig hilft sie mir und schluchzt an meine Schulter.
„Geht es dir jetzt wenigsten besser, wo er weg ist?“, frage ich, als Schwester Ann sich einiger Maßen beruhigt hat.
„Ja, ich fühle mich richtig befreit, aber die Trennung zieht noch so einiges nach sich. Wir haben zusammen gewohnt. Ich brauche einen Untermieter oder muss mich um eine kleinere Wohnung kümmern. Er muss sein Möbel abholen und, und, und.“, seufzt sie und macht sich liebevoll von mir los.
Grade als sie sich die letzten Tränen von der Wange wischt klopft es erneut und eine älter Frau betritt mein Zimmer.
„Emily, das ist Clear, deine Physiotherapeutin.“, stellt mir Ann die Frau vor und drückt meine Schulter.
„Hallo Emily, ich hab schon so viel von dir gehört. Julian redet nur gut von dir.“, begrüßt mich Clear und schenkt mir ein strahlendes Lachen. Ich erwidere es und hoffe, dass es nicht so ein Reinfall wird wie vorhin.
„Na dann lass ich euch Zwei mal arbeiten, für mich gibt es bestimmt auch noch genug zu tun.“, bestimmt Ann und steht von der Bettkante auf.
„Danke. Du bist wirklich ein wundervoller Mensch.“, flüstert sie mir noch ins Ohr, als sie sich zu mir herunterbeugt. Danach verlässt sie eiligen Schrittes das Zimmer.
Clear ist nett. Sie lobt mich viel, aber die Übungen sind wirklich anstrengen. Nach einer halben Stunde liege ich wie erschlagen in meinem Bett und wische mir den Schweiß von der Stirn.
„Ruh dich aus. Wir sehen uns morgen wieder.“, winkt mir Clear von der Tür entgegen und kraftlos erwidere ich ihre Geste.
Ausgepowert döse ich vor mich hin und versuche die quälenden Gedanken mich nicht zu sehr einnehmen zu lassen.
Plötzlich öffnet sich die Tür, ohne vorrangegangenes Klopfen. Irritiert beobachte ich die Person, die sich in mein Krankenzimmer schiebt und sich suchend nach allen Seiten umschaut.
Es ist ein Mann und unkontrollierbar beschleunigt sich mein Puls. Was will dieser Kerl hier? Nachdem er die Tür leise hinter sich geschlossen hat, tritt er mit zügigen Schritten auf mein Bett zu und mein Herzschlag erhöht sich noch mehr. Ich versuche so weit wie möglich von ihm wegzurücken, doch mein kraftloser Körper lässt es nicht zu.
Die Person ist deutlich untersetzt und scheint auch das beste Alter bereits hinter sich zu haben, dennoch ist er groß und wirkt einschüchternd.
Panik ergreift langsam Besitz von mir und schnürt mir mehr und mehr die Kehle zu.
„Ich weiß sie kennen mich nicht, aber ich bin hier um mich bei ihnen zu entschuldigen.“, beginnt er hektisch und schaut sich immer wieder zur Tür um. Ich kann nicht reagieren, konzentriere mich vollkommen darauf genügend Luft in meine Lungen zu bekommen.
Die Maschinen neben meinem Bett piepen mal wieder lautstark.
„Ich habe sie angefahren und es tut mir unendlich leid. Ich mache mir seitdem Vorwürfe, ich hätte besser aufpassen müssen, aber sie sind einfach so auf die Straße gelaufen. Ich konnte gar nicht reagieren.“, berichtet er weiter. Die Panik schickt eine erneute Welle über mich, das Blut rauscht mir in den Ohren, mir wird schwindlig und mein Kopf beginnt zu dröhnen. Krampfhaft sauge ich die Luft in mich auf, aber es ist nicht genügend. Meine Atmung beschleunigt sich und immer mehr Geräte machen auf sich aufmerksam.
„Sie sind einfach auf die Straße gelaufen, ich konnte gar nichts tun.“, wiederholt er immer und immer wieder verzweifelt.
Im meinem Kopf drehen sich die Gedanken. Das was dieser Mann gesagt hat sickert langsam in mein Gedächtnis. Ich bin einfach aus die Straße gelaufen, aber warum? Ein ungutes Gefühl macht sich in meinem Magen breit. Wollte ich nicht mehr leben?
Plötzlich ist der unbekannte Mann verschwunden und Stimmengewirr bildet sich um mich herum, doch ich kann nicht reagieren. Dann wieder dieses Gefühl der Losgelöstheit, die schnell in Schlaf übergeht.
Ich sitze in der Küche und stütze meinen Kopf in die Hände. Vor mir liegt ein Schwangerschaftstest, der mir meine Vermutung der letzten Tage betätigt hat.
Erste stumme Tränen tropfen auf die Tischplatte. Ich wollte immer Kinder, aber nicht so. Nicht von so einem Mann. Nicht von IHM.
Gedanken schwirren wild in meinen Kopf umher und wie so oft in den letzten Tagen steigt Übelkeit in mir auf. Irgendwann musst es ja so weit kommen, ER verhütet ja nicht.
Verzweifelt lasse ich meinen Kopf auf den Tisch sinken und zermartere mir diesen, wie es weiter gehen soll und was ER mit mir anstellen wird, wenn ER es herausfindet.
Ein Schlüssel in der Wohnungstür lässt mich hochschrecken. Was macht ER denn jetzt schon hier? Sonst kommt ER doch erst viel später.
Hastig suche ich nach einer Möglichkeit, den Test zu verstecken. Doch da steht ER schon in der Küchentür.
Bestimmt tritt ER auf mich zu und verdreht mir schmerzhaft den Arm, um an das zu kommen, was ich hinter meinem Rücken verstecke.
SEINE Augen weiten sich ungläubig und im nächsten Moment trifft mich SEINE flache Hand derart heftig im Gesicht, dass ich vom Stuhl falle und auf dem Boden lande. Tritte folgen. Alle genau auf meinen Bauch ausgerichtet. Ich lasse es geschehen. Schütze mein Kind nicht vor SEINEN Angriffen.
Eine Welle der Übelkeit überkommt mich und ich übergebe mich. ER unterbricht nicht einen Moment in SEINEM Handel, während ich immer heftiger würge.
Plötzlich verändert sich etwas in mir und schlagartig wird mir bewusst, dass mein Kind tot ist. Kurz darauf färbt sich meine Hose blutrot und ER lässt mit einem letzten kräftigen Tritt von mir ab.
Mein Bauch fühlt sich an als würde darin flüssige Lava umherschwappen und mühsam kauere ich mich aus dem Boden zusammen. ER hat mein Kind getötet. Wann tötet ER endlich mich? Wann?
Mal wieder schrecke ich schweißgebadet auf. Meine Hand wandert sofort schützend auf meinen Bauch, aber warum? Schon wieder habe ich etwas Schreckliches geträumt und kann mich nicht mehr daran erinnern.
Ein Schwangerschaftstest blitzt vor meinem inneren Auge auf. War ich schwanger? Aber Julian hat doch gesagt, dass ich keine Kinder habe. Was geht hier nur vor sich?
Eine Weile hänge ich meinen Gedanken nach. Ich wünsche mir wieder die wenigen Augenblicke nach meinem Aufwachen zurück, als ich mir keine Gedanken gemacht habe. Als ich noch nicht wusste, dass ich bei einem Autounfall mein Gedächtnis verloren habe und mich noch keine Alpträume quälten, an die ich mich nicht erinnern kann.
Bestimmt klopft es an der Tür und nur wenige Sekunden Später stehen einige Ärzte um mein Bett herum. Mein Puls schnellt wieder in die Höhe und ich verkrampfe mich. Mit aufgerissen Augen suche ich nach Julian oder Ann, nach einem bekannten Gesicht, aber die beiden sind nicht unter den Anwesenden.
Mein Herzschlag beschleunigt sich noch mehr und ich beginne unkontrolliert zu zittern. Die medizinischen Geräte um mich geben ihren bekannten Warnton von sich.
„Wie sie sehen, ist die Patientin aufgewacht. Es grenzt an ein Wunder.
Was muss nun beachtet werden?“, fragt ein älterer Arzt und schaut in die Runde.
„Eine engmaschige Beobachtung und Überwachung der Vitalfunktionen. Physiotherapie zum Entgegenwirken der Dystrophie und Beginn einer Psychotherapie, da von einem Selbstmordversuch ausgegangen wird.“, antwortet einer der Anderen und mein Herz setzt einige Schläge aus, um dann noch schneller weiter zu hämmern. Selbstmordversuch? Habe ich wirklich versucht mich selbst umzubringen?
Krampfhaft probiert meine Lunge der Arbeit meines Herzens zu folgen, aber ich kann gar nicht so viel Sauerstoff in mich aufnehmen, wie nötig ist. Meine Kehle wirkt auf einmal wie zugeschnürt und ich vergrabe meine Hände verkrampft in die Laken.
Warum helfen sie mir nicht? Sehen sie nicht wie es mir geht? Hören sie denn nicht die Geräte?
Wieder öffnet sich die Tür, doch ich kann mich nicht darauf konzentrieren wer nun den Raum betreten hat, viel zu sehr bin ich damit beschäftig meine immer stärker werdende Panik in den Griff zu bekommen.
„Was soll das? Hatte ich sie nicht gebeten, nie ohne mich oder Schwester Ann eine Visite bei dieser Patientin durchzuführen?“, sagt Julians sonst so liebevolle Stimme barsch.
„Ganz ruhig atmen. Emily, was ist los?“, fragt er mich nun besorgt und sieht mich mitleidig an. Kurz drückt er auf den Geräten herum, dann nimmt er zaghaft meine Hand und wendet sich dann wieder den anderen zu. Langsam löst der Knoten in meinem Hals sich auf und auch mein Herzschlag findet in einen normalen Rhythmus zurück.
„Es sind so viele Ärzte in diesem Raum und sie merken nicht, dass die Patientin eine Panikattacke hat? Emily ist kein Ausstellungsstück. Ich hätte einiges von ihnen erwartet Prof. Burk, aber nicht das ihnen das wohl der Patienten so egal ist. Und jetzt verlassen sie alle dieses Zimmer, Emily braucht Ruhe.
Ach und Prof. Burk, die Veröffentlichung dieses Falls können sie sich abschminken, ich bin ihr behandelnder Arzt und ich werde es zu verhindern wissen.“, man merkt ihm die Enttäuschung deutlich an und alle verlassen den Raum.
Immer noch hält Julian meine Hand und nun sieht er wieder mich an und es liegt so viel Bedauern in seinem Blick, dass mir die Tränen in die Augen schießen.
„Es tut mir so leid. Eine solche Situation hätte nicht entstehen dürfen, du brauchst Ruhe und das müssten sie eigentlich wissen.“, sagt er leise und drückt meine Hand etwas fester bevor er sie loslässt.
Mir endlos erscheinende Augenblicke schauen wir uns einfach nur an, dann räuspert sich Julian kurz, als hätte ihn etwas irritiert.
„Ich würde dir gern Dr. Frank Randl vorstellen, er ist unser Psychologe. Aber wenn du denkst du bist zu erschöpft können wir das auch auf morgen verschieben.“, fragen hebt er eine Augenbraue.
„Hast du mir nicht eben ein Beruhigungsmittel gegeben? Die letzten Male bin ich dann immer sehr schnell eingeschlafen.“, entgegne ich verwirrt. Wie hätte ich mich sonst beruhigen sollen?
„Nein, wir dürfen deinen Körper nicht zu sehr daran gewöhnen und scheinbar hast du deine Panikattacke selbst ganz gut in den Griff bekommen.“, erwidert Julian und sieht mich weiterhin fragend an.
Er hat mir nichts gegeben, aber wie konnte ich mich dann beruhigen? Fieberhaft denke ich darüber nach kann aber keine logische Erklärung finden.
„Ich rede heute noch mit ihm.“, sage ich abwesend, da ich noch immer darüber nachdenke, wie ich diese Panik überwinden konnte.
„Soll Schwester Ann dabei sein?“, will er noch von mir wissen, als er schon an der Tür steht und ich nicke.
Zwischenzeitlich war Clear wieder bei mir. Die Übungen fallen mir immer leichter und sie verspricht mir, dass ich bald wieder alleine sitzen kann und zum Laufen sei es dann nicht mehr weit.
Nun ist Ann bei mir. Sie drückt mir grade mal wieder die Sondennahrung durch den Schlauch und reicht mir ein Glas Wasser.
„Spätestens Morgen wird die Sonde gezogen und wir können dich wieder an feste Nahrung gewöhnen. Das wird zwar erstmal auf püriertes aller Art hinauslaufen, aber allemal besser als durch einen Schlauch zu essen.“, grinst sie mir entgegen, ihre bedrückte Stimmung vom Vortag ist verschwunden und die unbeschwert fröhliche Schwester Ann betreut mich wieder.
„Wann komme ich eigentlich in ein anderes Zimmer? Ich hätte so gern ein Fenster. Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl, ich weiß nicht mal ob es Tag oder Nacht ist.“, frage ich sie leichthin, aber im selben Moment fällt mir ein, dass sie dann ja gar nicht mehr auf der Station ist und ich sie wahrscheinlich nicht mehr sehen werde. Also scheibe ich schnell etwas hinterher.
„Ach auch egal, ich bleib einfach hier bei dir. Fenster werden eh überbewertet.“, versuche ich locker zu sagen, aber die Angst in meine Stimme lässt sich nicht verbergen.
„Du sollst, solange es ruhig bleibt, morgen verlegt werden. Auf Normalstation hast du dann auch ein Fenster. Ich hab dir sogar eins mit besonders schöner Aussicht besorgt.“, erklärt sie mir und hantiert äußerst beschäftigt an den Gerätschaften herum.
„Wie wird es dann weiter gehen?“, erkundige ich mich zögerlich weiter. Wie soll ich ihr erklären, dass ich nicht auf sie verzichten möchte?, dass ich lieber hier auf der Intensivstation bleiben würde, ohne Fenster und auch mit Sondennahrung.
„Naja, Dr. Randl und Clear werden dich wieder richtig aufpäppeln und dann kannst du hoffentlich so schnell wie möglich, als vollkommen gesunde Frau das Krankenhaus verlassen.“, beantwortet sie meine Frage, aber langsam kommt es mir doch etwas komisch vor. Sie hat ein seltsames Glitzern in den Augen und auch, dass sie überhaupt nicht auf sich selbst eingeht ist seltsam. Irgendwas führt sie doch im Schilde.
„Und du wirst mich gar nicht vermissen? Nicht mal ein bisschen?“, versuche ich es nun auf diese Weise. Lasse meine Stimme zittern und auch eine Träne kann ich hervorbringen, denn ich habe sie durchschaut. Sie weiß etwas, will es mir aber nicht sagen.
Plötzlich verändert sich ihr vorher unschuldiger Ausdruck in Angst. Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie mich an und echte Tränen fluten ihre Augen.
„Nein, nein. Ich habe darum gebeten für die Zeit deines Aufenthaltes versetzt zu werden und man hat es gestattet. Ich werde dich auf die Normalstation begleiten. Es tut mir so leid, ich wollte dich nur ein bisschen ärgern. Bitte weine nicht.“, sagt sie hastig und weint nun richtig.
„Ich wollte dich auch nur ärgern. Ich hab dich doch längst durchschaut und nun wisch dir deine Tränen ab und nimm mich in den Arm.“, verlange ich lächelnd und Ann kommt umgehend meiner Bitte nach.
„Du bist unmöglich. Ich dachte keiner kann mich toppen darin kleine Streiche zu spielen, aber da hab ich dich wohl unterschätzt.“, lacht sie mir ins Ohr bevor sie sich wieder los macht.
Wir plänkeln noch einige Zeit so dahin. Ann berichtet mir, dass ich unbedingt mit ihr in den Klinikpark gehen muss wenn ich wieder laufen kann und, dass Julian sich heute Morgen noch richtig mit Prof. Burk gestritten hat.
Dann durchbricht ein eindringliches Anklopfen unsere Unterhaltung und ein hagerer, großer Mann mittleren Alters betritt mein Zimmer. Mein Puls beschleunigt sich schon wieder und langsam nervt es mich wirklich. Warum verhält sich mein Körper ständig so? Bei Clear habe ich mich auch nicht so aufgeführt, als ich sie das erste Mal gesehen habe.
Auch das Zittern setzt wieder ein, als er einen Stuhl nimmt und sich meinem Bett nähert. Doch es ist nicht so schlimm, wie bei Julian oder gar dem unbekannten der mich angefahren hat. Ann erkennt scheinbar dennoch die Situation und nimmt meine Hand. Sofort entspanne ich mich und das Zittern ebbt ab.
„Hallo Emily, ich bin Frank. Ich würde mich gern mit dir unterhalten.“, beginnt er und blickt mir offen und erwartungsvoll in die Augen, sodass ich mich gänzlich lockere und das Piepen des Herzmonitors wieder einen Normalrhythmus anzeigt.
Erst jetzt betrachte ich ihn richtig. Er ist sehr groß, größer als Julian allemal, doch er ist auch sehr dünn um nicht dürr zu sagen. So wirken seine Gliedmaßen noch länger, drahtig.
Dann fängt er mit einer ruhigen, tiefen Stimme an zu reden und ich entspanne mich immer mehr.
Eigentlich ist es ein gewöhnliches Gespräch, das wir führen. Ich habe nicht das Gefühl, dass er mich irgendwie unterbewusst beeinflusst oder so etwas. Sollten Psychologen nicht die tiefsten Ängste und Gefühle ihres Gegenübers ergründen? Wahrscheinlich kommt das noch in den nächsten Wochen, denn Frank meint wir werden uns alle zwei Tage sehen und reden.
Ich bekomme ein komisches Gefühl, bei den Gedanken daran, er könnte meine Vergangenheit aus mir heraus bekommen, schiebe es aber, als er mir zum Abschied entgegen lächelt, sofort wieder bei Seite.
„Das war doch gar nicht so schlecht für den Anfang. Ich werde jetzt Julian holen und wir entfernen dir die Sonde.“, freut sich Ann und ist auch schon verschwunden.
Ich bin müde, der Tag hat mich wirklich geschafft und in der nächsten Zeit wird es wohl nicht weniger anstrengend. Aber es ist ja zu meinem Besten, damit ich wieder auf die Beine kommen und mir ein neues Leben aufbauen kann, solange mein altes verschüttet irgendwo in den tiefen meines verdrehten Verstandes liegt und nicht daran denkt raus zu kommen.
Mein Herzschlag beschleunigt sich leicht, als Julian und Ann mit einigem an medizinischem Zeugs mein Zimmer betreten. Tut das weh? Ich habe Angst vor den Schmerzen, richtig Angst. Woher kommt nur schon wieder diese Furcht? Das kann doch nicht normal sein, dass ich vor allem und jedem Angst habe.
„Leider kann ich dir kein Beruhigungsmittel geben, da du uns sagen musst ob du Schmerzen hast oder sich irgendetwas seltsam anfühlt.“, erklärt mir Julian und ich bilde mir ein echtes Bedauern in seiner Stimme zu hören. Trotzdem beschleunigt sich mein Puls weiter.
„Keine Angst ich bin die ganze Zeit über hier und werde deine Hand halten, wenn doch etwas sein sollte brechen wir sofort ab.“, versucht Ann mir Mut zu machen und nimmt auch umgehend meine Hand.
Still arbeiten die zwei vor sich hin, als Julian dann das Pflaster über der Sonde entfernt, steigt die Panik wieder in mir auf und ich drücke so fest Anns Hand, dass sie kurz aufschreit.
Julian lässt sich nicht beirren und geht weiter seiner Arbeit nach, ich beobachte jeden einzelnen seine Handgriffe genau.
„Tief einatmen und wenn ich jetzt sage ausatmen.“, verlangt er und ich komme zittrig seiner Anweisung nach. Jetzt nimmt er sich eine Zange und setzt das kalte Metall an meine Haut. Unwillkürlich bekomme ich eine Gänsehaut.
„Jetzt!“, sagt er hochkonzentriert und ich atme langsam die eingeatmete Luft wieder aus. Es fühlt sich eigenartig an, wie ein Wurm im Bauch. Übelkeit steigt in mir auf und ich hab das Gefühl mein sämtliches Blut weicht aus meinen Körper. Ann bemerkt meinen Zustand und hält mir geistesgegenwärtig eine Nierenschale unter den Mund bevor ich mich übergebe. Jetzt ist es Julian der mich leicht panisch beobachtet.
„Bitte lass kein Blut dabei sein.“, murmelt er leise vor sich hin und ich stelle erstaunt fest, dass es ihm gar nichts auszumachen scheint, mein Erbrochenes genau zu inspizieren. Allein der Gedanke daran lässt mich erneut würgen.
Als meine Übelkeit vom einen auf den anderen Moment verfliegt, lasse ich mich zurück in mein Kissen fallen und atme schwer ein und aus.
Ein leises ‘Gott sei Dank‘ ist von Julian zu hören.
„Das hast du gut gemacht Emily, ich bin stolz auf dich.“, ermuntert mich Ann und schenkt mir ein strahlendes Lächeln, welches ich geschafft erwidere.
Julian sammelt alle Materialien mit einem erleichterten Grinsen zusammen und verlässt mit ihnen, nach einem kurzen Gruß, den Raum. Auch Ann wendet sich zur Tür, doch ich halte sie am Arm zurück.
„Könntest du hier bleiben, bis ich eingeschlafen bin.“, bitte ich sie leise, denn ich weiß noch nicht ob ich meinem Körper wirklich trauen kann und ihre Anwesenheit beruhigt mich einfach.
„Na klar.“, antwortet sie sorglos und schnappt sich einen der zwei Stühle.
„Morgen sehen wir dann mal, was dir so schmeckt und was nicht.“, flötet sie aufgeregt, aber mein Magen scheint davon nicht sonderlich begeistert, denn er gibt ein komisches Grummeln von sich.
Immer wieder fallen mir die Augen zu. Es ist aber auch zu schön, wie mir Ann gedankenverloren über den Kopf streicht und dazu leise summt. Entspannt lasse ich mich einfach davon tragen und schlafe ein.
Der neue Tag beginnt wie der andere geendet hat. Mit Ann an meiner Seite. Und ich beginne mich zu fragen, ob sie überhaupt noch nach Hause geht.
Sie hat ein großes Tablett vorbereitet mit allerlei Essen, welches ich probieren soll.
„Das ist Erdbeermarmelade.“, erklärt sie und reicht mir die kleine Ecke Toast, die sie mit eben dieser beschmiert hat. Zögerlich schiebe ich sie mir in den Mund und muss feststellen, dass es erstaunlich gut schmeckt. Dies signalisiere ich ihr mit einem erhobenen Daumen.
„Toast mit Truthahnbrust.“, reicht sie mir das nächste Häppchen. Auch hier kann ich nur eine positive Resonanz ziehen.
„Jetzt der Käse. Camembert.“, und schon bekomme ich erneut ein Stück Brot gereicht. Allerdings habe ich es kaum im Mund, da merke ich, dass ich diesen Käse anscheinend nicht mag. Schmecken so alte Socken? Ich glaube schon. Ersetzt starre ich Ann an, da ich nicht weiß was ich nun mit dem Inhalt meines Mundes machen soll. Runterschlucken tue ich das ganz bestimmt nicht.
Schmunzelnd reicht mir Ann die bereitgestellte Nierenschale und ich spucke es hinein.
„Bleibt mehr für mich.“, grinst sie und steckt sich ein großes Stück des Camemberts in den Mund.
Nachdem Ann mir noch ein Marmeladenbrot geschmiert hat, räumt sie alles zusammen und lässt es verschwinden.
Als sie zurückkommt hat sie Clear dabei.
„Na bereit für deine große Reise?“, fragt sie mich freudig, doch ich kann ihr Lächeln nicht erwidern, da ich nicht genau weiß, was auf mich zukommt.
Langsam hilft mir Clear mich aufzusetzen, dabei bemerke ich, dass das Krankenhaushemdchen das ich trage hinten offen ist. Und so soll ich jetzt durch die Klink in mein neues Zimmer?
„Ähm, soll ich wirklich so durch das ganze Krankenhaus?“, will ich schüchtern wissen und schaue verdeutlichend auf meine Kleidung hinab.
„Wäre jedenfalls ein erfreulicher Anblick für die Männerwelt. Warte kurz ich hol dir was.“, entgegnet mir Ann und treibt mir damit die Röte ins Gesicht.
Während sie weg ist rutsche ich vorsichtig vor bis zur Bettkante, sodass meine nackten Füße das kalte Linoleum berühren. Clear stützt mich unter einem Arm und ich bin erstaunt, dass es außer einem leichten Schwindel alles gut funktioniert.
Ann betritt mit einer Hand voll blauer Sachen den Raum.
„Hier das kannst du anziehen. Ich hab aus meinem Spind noch meine Wechselunterwäsche mitgebracht, wenn es dir nichts ausmacht, kannst du die auch anziehen.“, berichtet sie wie immer fröhlich und legt die Sachen neben mich.
Schon kurz danach habe ich mit Anns und Clears Hilfe die OP-Kleidung und Unterwäsche an, allerdings musste ich auf einen BH verzichten, da mir der von Ann einfach zu klein war.
Jetzt stehe ich auf wackligen Beinen, auf beiden Seiten unter den Armen gehalten, neben meinem ehemaligen Bett.
„Alles okay?“, fragt mich Clear leicht besorgt. Ich verstehe ihre Besorgnis, denn wieder scheint meinem Gesicht sämtliches Blut entzogen zu werden und der Schwindel hat sich verstärkt. Doch ich habe mir fest vorgenommen die zwei Schritte zum Rollstuhl zu schaffen. Auch wenn eher Ann und Clear mich tragen, will ich einen Fuß vor den anderen setzten und so wenigstens für mich das Gefühl bekommen, das ich noch laufen kann.
„Ja.“, hauche ich deswegen und bewege mich wirklich vorwärts.
Ich brauch zwar für diese kurze Strecke gefühlte tausend Schritte, aber ich schaffe es und lasse mich erledigt in den Rollstuhl sinken.
Langsam schiebt mich Clear durch die Gänge des Krankenhauses, während ich Anns Hand halte, weil ich schon wieder einen Anflug von Panik hatte, als uns einige Männer auf dem Flur entgegengekommen sind.
Nun kann ich Julian ausmachen, der im Gang vor einer Zimmertür steht und uns entgegen lächelt.
„Da ist ja meine Vorzeigepatientin. Wie ich gehört habe magst du kein Camembert, dass verstehe ich vollkommen. Wer isst schon gern alte Socken?“, fragt er gut gelaunt und zwinkert in Anns Richtung, die ein lautes Schnauben von sich gibt. Auch ich muss lachen, kann aber die Röte, die mir mal wieder durch sein Kompliment ins Gesicht steigt, nicht verhindern.
„Die neusten Heldentaten deiner Lieblingspatientin kennst du noch gar nicht. Sie hat schon gestützt gesessen und ist auch schon ihre ersten Schritte gelaufen, denn sie hat es sich nicht nehmen lassen selbst in den Rollstuhl zu steigen. Allerdings sollten wir das jetzt unterlassen, da sie schon auf der Intensivstation reichlich blass um die Nase war.“, berichtet Clear und meine Wangen glühen noch mehr. Wenn ich jetzt nicht wie eine Tomate aussehe…
„Na dann kommt mal rein.“, verlangt Julian und öffnet die Tür hinter sich. Bevor er hineingeht wirft er mir noch einen besorgten Blick zu, welchen ich fragend erwidere.
Dieses Zimmer ist tausend Mal schöner, als das auf der Intensivstation. Es ist in Terrakottatönen gestrichen und Landschaftsbilder hängen an den Wänden. Ein einzelnes Bett steht an der Wand und einer Ecke befindet sich eine Sitzgruppe. Doch das allerschönste ist, die Stirnseite besteht nur aus Glas und gibt einen atemberaubenden Blick in den Klinikpark frei. Die Sonne strahlt vom Himmel und glitzert auf dem kleinen Teich. Einige große Trauerweiden versprühen einen verträumten Charme und die geschwungenen Kieswege laden nur so zum Spazieren ein.
Mein Blick wird von diesem Ausblick weggerissen, als Clear mich zu einer weiteren Tür im Raum schiebt.
Dahinter befindet sich ein geräumiges Bad. Mein Blick schweift auch hier umher und bleibt an dem Spiegel über dem Waschtisch hängen.
„Könntest du mich ans Waschbecken fahren?“, bitte ich Clear und sie manövriert mich dahin.
So sehe ich also aus. Dunkelblonde Haare wellen sich um mein blasses Gesicht und reichen mir bis zu den Ellenbeugen. Meine Gesichtszüge sind weich und meine kleine Nase wirkt schon fast ein bisschen kindlich. Blaue Augen schauen mir forschend entgegen, aber auch solange ich mich anstarre mein Hirn spukt nichts aus. Es ist als würde ich die Frau da im Spiegel, mich selbst, nicht kennen. Tränen fluten meine Augen und laufen lautlos meine Wangen hinab.
„Vielleicht hätten wir sie doch noch ein paar Tage auf der Intensivstation lassen sollen. Sie sieht sehr blass aus heute.“, höre ich Julian besorgt flüstern. Redet er über mich?
„Ja sie ist heute blass, aber das muss gar nichts heißen. Du kennst die Vorschriften. Sie war schon länger nach dem Aufwachen dort, als normale Patienten und sie kann nicht ewig dort bleiben nur weil du deine professionelle Distanz nicht mehr wahren kannst. Sie hat mich quasi angefleht, endlich aus einem Fenster schauen zu können.“, zischt Ann leise zurück. Julian kann seine professionelle Distanz nicht wahren? Was soll das heißen?
„Ich wahre meine Distanz, aber sie lag 9 Monate im Koma, da möchte ich gern Komplikationen oder Folgeschäden ausschließen.“, entgegnet er immer noch wispernd.
„Nennst du es professionelle Distanz, dass du ihre Krankenhauskosten übernimmst und dass du dich wegen ihr mit Prof. Burk streitest? Oder nennst du es professionelle Distanz, dass du dem Autofahrer ein Veilchen verpasst hast und die Polizei, die sie vernehmen will, von ihr fernhältst?“, faucht Ann böse zurück. Die zwei streiten sich wegen mir, dass kann ich nicht länger mit anhören und so bitte ich Clear mich wieder ins Zimmer zu fahren, sodass ich mich hinlegen kann.
Als wir mein neues Krankenzimmer betreten herrscht eisiges Schweigen zwischen den Zweien. Ann wirft Julian bitterböse Blicke zu, doch der schaut nur mich kurz an. Sein ganzer Körper scheint zum Zerreißen gespannt und er hat seine Hände zu Fäusten geballt. Dieser Anblick lässt meinen Puls sofort wieder in die Höhe schnellen. Julian hat mir bis jetzt keinen Anlass gegeben vor ihm Angst zu haben, aber jetzt wo ich sehe wie seine Kiefermuskeln mahlen, beginnt mein Körper zu zittern und meine Atmung wird flach.
„Soll ich sie ins Bett legen?“, fragt er durch zusammengepresste Zähne.
„Das finde ich keine gute Idee. Clear und ich schaffen das schon.“, kontert Ann mit einem drohenden Unterton.
Mühsam seine Wut im Zaum haltend verlässt Julian das Zimmer, aber nicht ohne die Tür hinter sich lautstark zu schließen. Jetzt wo er weg ist habe ich meinen Körper schnell wieder unter Kontrolle.
Ohne ein weiteres Wort heben mich Clear und Ann ins Bett und verlassen dann auch das Zimmer. Ich bin allein und so fühle ich mich im Moment auch. Ich weiß nicht viel, aber weiß, dass ich es nicht mag wenn sich zwei Leute wegen mir streiten. Besonders wenn es die derzeitig zwei wichtigsten Menschen im meinem Leben sind.
Ich höre noch immer deutlich ihre Worte in mir nachklingen. Julian macht sich Sorgen um mich und will Komplikationen und Folgeschäden ausschließen. Ist es normal, dass sich ein Arzt solche Gedanken um seine Patienten macht? Sollte es nicht so sein? Was für Komplikationen oder Folgeschäden meint er? Was kommt in dieser Hinsicht noch auf mich zu?
Ann ist sauer auf ihn, weil er wie sie sagt seine professionelle Distanz nicht wahrt. Was macht diese Distanz aus? Was hat sie noch gesagt? Krankenhauskosten. Julian bezahlt meinen Krankenhausaufenthalt? Warum sollte er das tun? Ist so eine Behandlung nicht sehr teuer? Ich möchte nicht, dass er Geld für mich ausgibt, aber ich weiß ja nicht mal, ob ich es mir leisten könnte.
Den Streit mit Prof. Burk habe ich ja zum Teil selbst mitbekommen, aber Ann hatte mir gesagt, dass sie sich danach noch weiter gestritten hätten. Ist Prof. Burk Julians Chef? Wenn ja, sollte er sich nicht wegen mir mit ihm streiten.
Dann hat Ann doch noch den Autofahrer erwähnt. War das dieser Mann, der letztens in meinem Zimmer war? Der, der gesagt hat ich wäre einfach auf die Straße gegangen? Warum hat Julian ihm ein Veilchen verpasst? Warum streitet sich Julian mit so vielen Leuten nur wegen mir?
Von der Polizei hat sie auch geredet, dass er sie von mir fernhält. Darüber bin ich irgendwie erleichtert. Ich will nicht noch mehr Menschen um mich herum haben. Was soll ich denen auch schon erzählen? Auf der anderen Seite wolle die Beamten wahrscheinlich auch nur ihre Arbeit machen und ein Teil davon ist, diesen Unfall oder was es auch war aufzuklären. Wenn Julian dies mutwillig verhindert macht er sich sogar strafbar. Warum verhält er sich also so?
So viele Fragen schwirren in meinem Kopf umher und ich muss mal wieder resigniert feststellen, dass ich einfach keine Antworten darauf finde.
Ich drehe mich unglücklich auf die Seite und schaue aus dem Fenster. Langsam komme ich zur Ruhe und die Strapazen des Morgens lassen mich in einen unruhigen Schlaf fallen.
Ich stehe in der Küche und rühre in den Kochtöpfen, als ein Schlüssel in der Tür mir SEINE Ankunft signalisiert. Ohne eine Begrüßung betritt ER die Küche. Mit einem unergründlichen Blick schaut ER in die Töpfe und schiebt sie von den heißen Platten. Ich wage es nicht etwas zu sagen, wage es nicht IHM Wiederstand zu leisten. ER schaltet den Herd ab und wendet sich dann mir zu.
„Wirst du dich wehren, Schätzchen?“, fragt ER mich. Nein ich habe gelernt, dass es nur schlimmer wird wenn ich mich gegen IHN stelle. So schüttle ich den Kopf und senke meinen Blick zu Boden. Hart packt ER mich am Oberarm und führt mich gewaltsam in unser Schlafzimmer. Hier schleudert ER mich aufs Bett und ehe ich mich versehe ist ER schon über mir. ER hat ein irres Grinsen auf den Lippen und mein Puls beginnt zu rasen. So hab ich IHN noch nie gesehen. ER hat mir schon einiges angetan, aber dieses verrückte Lächeln versetzt mich in Panik. Doch auch ein kleines Stück Hoffnung keimt in mir. Könnte es sein, dass ER es endlich zu Ende bringen will?, dass ER mich nun doch von meinen Qualen erlöst und mich tötet?
Über meine Gedanken habe ich nicht bemerkt, wie ER mich bereits mit einer Hand an dem Pfosten des großen Bettes festgebunden hat. Schweigend und mich zur Ruhe ermahnend lasse ich es auch noch über mich ergehen, dass ER meine weiteren Extremitäten ebenso befestigt. Als ER fertig ist fühle ich mich als würden mir jeden Moment Arme und Beine ausgerissen werden. IHM vollkommen ausgeliefert liege ich auf dem Rücken in mitten unseres Betts.
Mit einem leisen ‘Mist‘ verlässt ER nun das Zimmer, um nur Sekunden später mit einen Schere in der Hand zurück zu kommen. Brutal schneidet ER mir die Kleider vom Leib und achtet dabei nicht darauf meine Haut zu verschonen, sodass ich einige blutende Schnitte zurück behalte.
Jetzt liege ich komplett nackt vor IHM und ER schaut mich lüstern an. Mit der Schere schneidet ER mir immer wieder kleine Wunden ins Fleisch, während ER erbarmungslos in mich eindringt. Mein schon vorher zum Zerreißen gespannter Körper wird mit jedem Stoß noch heftiger auf die Probe gestellt. Tränen beginnen zur fließen, ich kann sie nicht aufhalten meine Schmerzen sind einfach zu groß. Gern würde ich sie vor IHM verbergen, da ich weiß, dass es IHN noch mehr anmacht.
Nachdem ER schnaufend SEINEN Höhepunkt erreicht hat lässt ER von mir ab. Eine ganze Zeit lang bleibe ich allein, bis ER gemütlich mit einem dampfenden Teller wieder kommt und sich in den Sessel in der Ecke setzt. Genüsslich vertilgt ER das Essen, dabei haftet SEIN gieriger Blick die ganze Zeit auf mir.
Als ER fertig ist bemüht ER sich nicht mal den Teller zurück in die Küche zu bringen. Einfach bei Seite gestellt ignoriert ER ihn und wenden sich wieder mir zu.
ER setzt sich auf mich und SEIN Gewicht drückt mich tief in die Matratze und lässt die Fessel sich tief in mein Fleisch schneiden. Wieder nimmt ER die Schere zur Hand und das Spiel beginnt von neuem…
„NEIN!“, höre ich jemanden laut schreien und brauche einen Moment um mich zu orientieren, bis ich feststelle, dass ich es bin die schreit.
Meine Wangen sind von Tränen feucht und mein Puls und meine Atmung liefern sich ein Rennen.
Schon wieder hatte ich einen Alptraum, aber diesmal ist etwas anders. Ich kann mich daran erinnern, zumindest schemenhaft. Ich sehe mich gefesselt auf einem Bett liegen. Ich sehe wie mir jemand mit einer Schere ins Fleisch schneidet, aber ich kann sein Gesicht nicht erkennen. Wer hat mir so etwas angetan? Wollte ich es? Nein, sonst hätte ich nicht geweint und wäre nicht so in Panik ausgebrochen.
Unbewusst betaste ich meine Handgelenke, als mir ein Bild von viel zu straffen Fesseln in den Kopf schießt.
Plötzlich scheint mich die Stille zu erdrücken. Ich habe das Gefühl nicht eine Sekunde länger alleine sein zu können. So drücke ich angsterfüllt den Rufknopf für die Schwestern und hoffe inständig Ann kommt, während ich versuche meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Um mich zu beruhigen drehe ich mich dem Fenster zu und stelle erstaunt fest, dass es bereits dämmert.
„Na Dornröschen ausgeschlafen? Ich hab hier püriertes aller Art für dich.“, ertönt Anns fröhliche Stimme hinter mir und langsam drehe ich mich um. Als sie bemerkt, dass mir die Tränen in den Augen stehen, lässt sie sofort den Servierwagen stehen und setzt sich auf meine Bettkante.
„Was ist denn los Kleine.“, fragt sie besorgt und streicht mir über die Haare.
„Ich hatte einen Alptraum.“, gebe ich leise zu. Soll ich ihr davon erzählen? Ihr meine zwar bruchstückhaften, aber verstörenden Traumfetzen anvertrauen? Nein, erst einmal sollte ich für mich herausfinden was wirklich dahinter steckt.
„Aber es war nur ein Traum, jetzt ist er vorbei und du bist hier.“, scheibe ich eilig hinterher.
„Okay, reichlich blass bist du aber immer noch.“, gibt sie nicht ganz überzeugt zurück und betastet liebevoll meine Stirn und Wange. Dann steht sie wieder auf und sagt mit einem betont fröhlichen Lächeln, welches nicht ihre Augen erreicht.
„Hoffentlich hast du Hunger, ich stand stundenlang in der Küche und habe alles püriert.“, zwinkert sie mir zu.
Ich habe nicht wirklich Hunger, schenke ihr aber ein kleines Lächeln um sie zu beruhigen.
Ich koste allerlei Sachen und wir stellen fest, dass ich weder Pilze noch Rosenkohl mag. Dafür aber Erbsen und Blumenkohl mir schmecken. Zum Abschluss reicht mir Ann eine kleine Schüssel mit Vanillepudding und schaut mich erwartungsvoll an.
Langsam schiebe ich mir einen Löffel in den Mund und verziehe leicht das Gesicht. Es ist nicht so, dass er nicht schmeckt viel mehr macht mir die Konsistenz zu schaffen. Wenn alles püriert ist bekomme ich irgendwie kein richtiges Essgefühl, man kaut ja nicht.
Ann missdeutet meinen Blick und senkt enttäuscht den Kopf.
„Er schmeckt wirklich gut. Es ist nur dieses breiige, pürierte, ich möchte endlich wieder kauen.“, sage ich hastig. Sie schenkt mir ein schiefes Grinsen, was aber wieder nicht ihre Augen erreicht.
Wir unterhalten uns noch eine Zeit lang und wieder bemerke ich traurig, dass sie etwas bedrückt. Ich spreche sie nicht darauf an, da ich glaube es ist der Streit zwischen ihr und Julian und da es um mich geht will ich mich nicht einmischen oder auf eine Seite stellen.
„Morgen hab ich eine Überraschung für dich, ich hoffe du freust dich. Aber jetzt solltest du erstmal schlafen und dir ein bissen Farbe zulegen, du bist immer noch so blass.“, verabschiedet sich Ann und drückt mich an sich.
Eine starke Müdigkeit ergreift mich. Ich bin verwundert, da ich doch den ganzen Nachmittag geschlafen habe, aber ich schiebe es auf meinen noch nicht so guten Allgemeinzustand und schlafe schnell ein.
Am nächsten Morgen weckt mich ein Klopfen und kurz darauf steht Ann neben meinem Bett. Sie hat wieder den Servierwagen dabei und Grins übers ganze Gesicht.
„Wie geht es dir? Freust du dich auf deine Überraschung?“, sprudelt sie heraus und ich wundere mich über ihre wieder so fröhlich Art. Hat sie sich mit Julian vertragen?
„Irgendwie bin ich immer noch müde, aber zeig mal her was du für mich hast.“, fordre ich und setzte mich auf. Ein leichter Schwindel überkommt mich und ich schließe kurz meine Augen.
„Zuerst wird gegessen. Heute habe ich schön weiches Sandwiches für dich, damit du was zu kauen hast.“, sagt sie energisch, lüftet eine Cloche und ein Teller mit zahlreichen kleinen Sandwiches erscheint.
„Schinken mit Käse, aber diesmal Emmentaler.“, reicht sie mir das erste und ich knabbre zaghaft daran.
„Mmh.“, gebe ich von mir, dieser Käse schmeckt wirklich gut.
„Gut, jetzt Thunfisch mit Olive.“, drückt sie mir ein weiteres Sandwich in die Hand, als ich noch am letzten Bissen vom dem mit Käse und Schinken kaue.
Diesmal beiße ich herzhaft hinein und muss schnell feststelle, dass es ein großer Fehler war. Zum einen hat es eine extrem eklige Konsistenz und zu anderen scheint es immer mehr zu werden in meinem Mund. Hastig winke ich Ann zu und bedeute ihr so mir die Nierenschale zu reichen. Schmunzelnd kommt sie meiner unausgesprochenen Bitte nach und ich werde dieses eklige Zeug los.
„Hier das du den Geschmack los wirst.“, hält mir Ann ein Glas Wasser entgegen. Dankbar nehme ich ein paar Schlucke.
„Noch ein Versuch mit Frischkäse und Salami?“, fragt sie mich und schon erscheint ein neues Sandwich in meinem Blickfeld.
Ich ziehe die Augenbrauen nach oben und überlege, ob es so eine gute Idee ist. Mich selbst überwindend greife ich dann aber doch danach und schiebe es mir vorsichtig in den Mund. Da bleibt es auch, dann es schmeckt ausgesprochen gut.
„Nun werde wir testen, ob du ein Kaffee- oder ein Teetrinker bist.“, erklärt sie mir und zeigt auf zwei Tassen.
Ich nehme mir selbst die erste und begutachte erst einmal ausgiebig den Inhalt. Eine schwarze Flüssigkeit, leicht rieche ich daran und rümpfe sogleich die Nase. Wer trinkt denn bitte sowas?
Unangetastet stelle ich die Tasse zurück und greife nach der nächsten. Hierin befindet sich ein braunes, wässriges Getränk. Auch hier schnuppere ich kurz und bekomme wieder dieses seltsame Déjà-vu-Gefühl und weiß sofort, dass es Pfefferminztee ist. Nach kurzen Pusten nehme ich einen Schluck und der warme Tee fliest wohltuten meinen Hals hinab.
„Eine Teetrinkerin.“, Ann schüttelt scheinbar verständnislos den Kopf und räumt dann wieder alles auf den Servierwagen.
„Was ist jetzt eigentlich die Überraschung?“, will ich neugierig wissen. Erst erzählt sie mir davon, als würde es die Welt verändern und dann zeigt sie es nicht.
Ann greift auf den zweiten Boden des Servierwagens, der von einem Tischtuch verdeckt war und zieht eine große Reisetasche hervor.
„Hier.“, sagt sie lapidar und stellt mit die schwere Tasche auf die Beine. Irritiert schaue ich sie an, nicht verstehend was das soll.
„Na mach schon auf.“, drängt sie und verdreht gespielt genervt die Augen.
Unsicher schiebe ich den Reisverschluss des Gepäckstückes auf und kann nach einem kurzen Blick hinein wieder nur ratlos Ann ansehen.
„Das sind Sachen für dich, damit du nicht bis in alle Ewigkeit in OP-Klamotten rum rennen musst. Ich hab rumgefragt, wer was hat und alle haben etwas gegeben. Natürlich habe ich darauf geachtet, dass es in erster Linie praktisch ist und die Modesünden hab ich sofort aussortiert.“, erklärt sie mir entrüstet, verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt schmollend ihre Unterlippe vor.
Sie hat Sachen für mich besorgt? Nein, sie hat sie nicht nur besorgt. Sie hat darauf geachtet, dass sie meiner Situation entsprechend zweckmäßig sind und auch peinliches gleich eliminiert. Sie ist so süß zu mir. Tränen der Rührung schießen mir in die Augen.
„Danke.“, gebe ich erstickt wieder und erschrocken blickt sie auf. Nun füllen auch ihre Augen sich mit Tränen und im nächsten Moment liegen wir uns weinend in den Armen.
„Ihr seid alle so gut zu mir und ich kann euch gar nicht dafür danken.“, sage ich leise, als ich mich wieder einiger Maßen beruhigt habe.
„Du brauchst dich nicht zu bedanken, wir machen das alle gerne.“, erwidert Ann und wischt sich die letzten Tränen von der Wange.
„Ich werde jetzt Clear holen, dass wir hier nicht den ganzen Tag liegen und heulen.“, bestimmt sie und macht sie ganz von mir los.
Schon kurz nachdem Ann mein Zimmer verlassen hat kommt Clear herein, im Schlepptau einen Rollstuhl.
„So, auf geht’s!“, freut sie sich und tritt an mein Bett.
„Könnten wir unsere Übungszeit zum Duschen nutzten?“, frage ich unsicher, denn ich weiß nicht wie lange meine letzte Dusche her ist und deshalb fühle ich mich unbehaglich.
„Natürlich, ich hatte zwar eine Lehrstunde in Rollstuhlfahren geplant, aber duschen ist auch in Ordnung.“, antwortet sie etwas perplex und stellt denn Rollstuhl an die Seite.
„Denkst du, du schaffst es mit Hilfe ins Bad? Oder nehmen wir doch den Rollstuhl?“, forscht sie nach.
„Ich probiere es so.“, sage ich erstaunlich sicher.
Mit Clears Hilfe setzte ich mich auf die Bettkante und muss hier wieder kurz die Augen schließen, da der Schwindel zurückgekehrt ist.
„Ann hat mir Sachen gebracht. Kannst du eine Hose, ein Shirt und Unterwäsche raussuchen und schon mal ins Bad legen.“, bitte ich Clear und zeige auf die Tasche die vor dem, in die Wand eingebauten, Kleiderschrank steht.
Wortlos kommt sie meiner Bitte nach und nachdem ich die Sachen, die sie kurz hochgehalten hat, abgenickt habe bring sie sie ins Bad.
„Jetzt langsam aufstehen.“, fordert sie, nachdem sie wieder neben mich getreten ist und mich unter einem Arm stützt. Vorsichtig stoße ich mich vom Bett ab und richte mich auf. Sofort ist der Schwindel wieder da und ich schwanke bedenklich.
„So wird das nichts. Du klappst mir hier ja gleich um.“, mütterlich betrachtet mich Clear und drückt mich zurück aufs Bett.
Mit drei großen Schritten ist sie an der Tür und ruft laut in den Gang nach Ann. Sekunden später steht sie mit panisch aufgerissenen Augen im Zimmer und schaut mich an. Ich versuche ein schiefes Lächeln um ihr zu zeigen, dass es mir gut geht, aber es misslingt wieder mal.
„Was ist denn los?“, fragt sie Clear abgehetzt.
„Emily möchte duschen, ist aber schon beim Aufstehen fast umgeklappt und sehr blass ist sie auch immer noch.“, flüstert sie, aber ich kann sie verstehen. Ann nickt kurz um zu signalisieren, dass sie verstanden hat und hockt sich dann mit besorgter Miene vor mich.
„Was ist los? Hast du Beschwerden?“, will sie nun von mir wissen und tastet ohne denn Blick von meinem Gesicht zuwenden nach meinem Puls.
„Nur ein bisschen schwindlig.“, gebe ich wahrheitsgemäß zurück. Fühle mich im gleichen Moment aber auch schon wieder unsagbar müde.
Bedrückt und schweigend heben mich die zwei in den Rollstuhl und im Bad auch auf die Duschhilfe. Abwesend lasse ich es über mich ergehen, dass mich beide ausziehen, duschen, abtrocknen, anziehen und zurück ins Bett bringen. Hier schlafe ich fast Augenblicklich ein.
„Du solltest Julian davon erzählen.“, höre ich Clear noch leise sagen, ehe ich in einen traumlosen Schlaf falle.
„Emily? Emily, wach auf.“, weckt mich Franks Stimme und mühsam öffne ich die Augen.
„Was machst du denn hier?“, frage ich verschlafen und komme ein bisschen hoch.
„Wir haben einen Termin.“, erwidert er unbeeindruckt von der Tatsache, dass ich bis vor wenigen Sekunden noch geschlafen habe und rückt sich einen Stuhl an mein Bett.
Wieder unterhalten wir uns einfach nur, aber ich habe das Gefühl, dass sich eine gewisse Vertrautheit aufbaut.
Als Frank grade geht, kommt Ann mit einem Tablett herein.
„Dein Abendessen. Geht es dir wieder besser?“, fragt sie besorgt und stellt das Tablett auf den Nachttisch.
„Ja. Was hast du denn für mich?“, antworte ich wahrheitsgemäß. Müde bin ich zwar immer noch, aber der Schwindel hat sich bisher nicht wieder gezeigt.
„Kartoffeln mit Erbsen und Fisch. Fleisch ist leider noch zu fest und ich bitte dich langsam zu essen.“, sagt sie eindringlich und klappt den Tisch vor mir aus.
Der Fisch schmeckt richtig gut, aber ich kann mein Essen gar nicht richtig genießen. Ann schaut mich die ganze Zeit forschend von der Seite an, sagt aber kein Wort. Was ist denn los? Hab ich ein Pickel auf der Stirn? Oder eine Erbse in der Nase?
Als ich fertig bin ringe ich damit sie darauf anzusprechen, kann mich aber irgendwie nicht dazu überwinden.
Die Stimmung zwischen uns ist irgendwie komisch, eine eigenartige Spannung liegt in der Luft. Immer hatten wir Gesprächsthemen und nie war Stille in ihrer Gegenwart seltsam, aber heute ebben kurze Gespräch gleich wieder ab und eine unangenehmes Schweigen tritt ein.
Ich döse schon leicht vor mich hin, als Ann wie von der Tarantel gestochen aufsteht und nahezu fluchtartig das Zimmer verlässt.
Noch lange denke ich über ihr Verhalten nach, nicke dann aber ohne auf eine logische Erklärung gekommen zu sein ein.
Ich träume nicht diese Nacht, habe aber zwischendurch das Gefühl beobachtet zu werden und drehe mich unruhig hin und her. Unterbewusst schießt mir durch den Kopf, dass ich Julian heute gar nicht gesehen habe und eine drückend Traurigkeit legt sich auf mich, ehe ich wieder vollends einschlafe.
Ein leises Klopfen weckt mich am nächsten Morgen und der ältere Arzt, mit dem sich Julian gestritten hat, schiebt seinen Kopf durch die Tür.
„Dürfte ich wohl reinkommen?“, fragt er kleinlaut.
Ich nicke, kann aber kaum die Augen offen halten. Was soll das den jetzt schon wieder? Ich hab doch die ganze Nacht tief und fest geschlafen. Warum bin ich also immer noch so müde?
Als ich wieder mühsam die Augen öffne steht der Mann am Fußende meines Bettes. Die Ärzte, die ihn schon vor drei Tagen begleitet haben, neben ihm. Julian steht auch bei ihnen, doch er scheint distanzierter als die anderen Tage.
„Ich muss mich bei ihnen entschuldigen Miss Doe. Mein Verhalten vor ein paar Tagen war unangebracht und überheblich. Ihre Situation hätte mir auffallen müssen und ich hätte darauf reagieren sollen. Es tut mir außerordentlich leid und ich hoffe sie können über mein Fehlverhalten hinwegsehen.“, entschuldigt er sich hochtrabend und wirft Julian einen ärgerlichen Blick zu. Ich kann wieder nur nicken.
„Wie geht es ihnen denn heute?“, will er nun wissen und in seiner Stimme klingt ein deutlich genervter Unterton mit.
„Ich bin müde und mir ist auch ein bisschen schwindlig.“, gebe ich wie immer wahrheitsgemäße Auskunft über meinen Gesundheitszustand.
„Dr. Green wird sich darum kümmern. Ich wünsche ihnen noch einen schönen Tag.“, verabschiedet er sich und schon im nächsten Moment sind er und sein Gefolge verschwunden, nur Julian ist noch da.
Er tritt neben mich und betrachtet mich einige Zeit schweigend. Ein komisches Gefühl steigt in mir auf. Unter seinen Blick wird mir seltsam warm und ein Schauer läuft mir über den Rücken.
„Ich werde Ann holen. Wir müssen dir Blut abnehmen, du siehst überhaupt nicht gut aus.“, sagt er leise und seinen Miene wird noch etwas besorgter.
„Na, danke auch.“, bringe ich heraus und versuche mich mal wieder vergeblich an einem Lächeln.
Ich habe nicht mitbekommen wie Julian gegangen ist, doch scheinbar ist er jetzt mit Ann wieder da.
„Leg ihr bitte einen Zugang, ich denke Infusionen sollt sie auf jeden Fall wieder bekommen. Und dann nimm ihr auch gleich Blut darüber ab, ich will wissen ob etwas nicht stimmt.“, trägt er Ann auf und sie macht sich sofort an die Arbeit. Na toll, schon wieder eine Nadel im Arm, als wäre ich die nicht erst vor zwei Tagen losgeworden.
Immer wieder dämmere ich weg, kann die Augen gar nicht mehr öffnen und trotzdem scheint sich alles um mich herum zu drehen.
„Mir ist so schwindlig.“, kann ich mich leise sagen hören.
„Emily, mach bitte die Augen auf.“, verlangt Julian eindringlich von mir und rüttelt mich an den Schultern. Flatternd schaffe ich es die Augen zu öffnen und sehe, wie mir Ann grade das Blut aus dem Arm entnimmt. Sollte das nicht sprudeln, wie ein Springbrunnen? Doch mein Blut kämpft sich nur träge und zähflüssig aus meinem Arm.
Ann wirft Julian einen panischen Blick über mein Bett zu und er erscheint mir plötzlich etwas blass um die Nase.
„Eine Anämie, aber warum?“, flüstert er leise.
„Häng ihr gleich zwei Infusionen an. Ich bringe die Blutprobe sofort selbst ins Labor.“, bestimmt er herrisch und reißt Ann quasi das Röhrchen aus der Hand.
Wieder scheine ich weggedöst zu sein, denn nun ist es Ann die an meinem Arm rüttelt.
„Bitte Emily, du musst wach bleiben. Unterhalte dich mit mir.“, fordert sie mich auf und schließt die Infusionsbeutel an mich an. Träge befeuchte ich meine Lippen und versuche ein geeignetes Thema zu finden, aber in meinem Kopf dreht sich alles und die Müdigkeit vernebelt meine Gedanken zusätzlich.
„Ich bin so müde und alles dreht sich. Was ist nur los?“, frage ich leise und zittrig, sodass es nicht mehr als ein Hauchen ist.
„Du hast eine Anämie. Dein Blut ist viel zu dick und wahrscheinlich hast du auch zu wenig in deinem Kreislauf, wir verdünnen es jetzt und hoffen, dass Julian einen Grund dafür findet.“, antwortet sie aufgeregt und laut, dabei ruckelt sie die ganze Zeit an mir herum, weil ich meine Augen einfach nicht aufhalten kann.
„Warum hast du Streit mit Julian?“, will ich müde wissen, die Frage schießt einfach so aus mir raus ich kann gar nichts dagegen tun.
„Das sollte ich nicht mit dir besprechen.“, wiegelt sie hastig ab und ich sehe, durch meine halbgeöffneten Augen, wie sie die Lippen aufeinander presst. Der Streit nagt an ihr und scheinbar auch, dass sie mit keinem darüber reden kann.
Ich will grade zu einem Versuch ansetzten sie zu überzeugen, da reißt Julian die Tür auf und tritt mit drei großen Schritten an mein Bett. Er hat eine Spritze in der Hand und bedeutet Ann wortlos denn Platz neben mir zu räumen, um an meinen Zugang zu kommen.
Ann stellt sich auf die andere Seite des Bettes, nimmt liebevoll meine Hand und schenkt mir ein unglückliches Lächeln.
Julian drückt den Inhalt der Spritze in eine der Öffnungen und atmet hörbar aus.
„Ein Eisenmangel. Da hat wohl jemand nicht darauf geachtet was sie der Patienten zu essen gibt!“, spuckt Julian grade so heraus und funkelt Ann böse an. Ihr steigen die Tränen in die Augen und nun bin ich es, die ihre Hand drückt. Soll sie wirklich daran schuld sein, dass ich diese Anämie habe? Und wenn schon, sie hat es sicherlich nicht mit Absicht gemacht und verdient es auch nicht im Geringsten, dass Julian sie hier so anblafft.
„Du kannst sie ruhig Emily nennen, immerhin ist sie im selben Raum falls es dir aufgefallen ist.“, erwidert Ann bemüht ihre Tränen, aber auch die Wut zu unterdrücken.
„Damit du mir dann wieder vorwerfen kannst, meine professionelle Distanz nicht einzuhalten? Wer ist es denn, der nicht mehr nach Hause geht und ihre Gesundheit wegen persönlichen Dingen vergisst?“, fragt er ungehalten und seine Stimme bebt unter der Lautstärke. Nun ist es um Anns Beherrschung vollends geschehen und sie bricht haltlos in Tränen aus.
„Es reicht jetzt!“, sage ich erstaunlich fest und beide sehen mich verblüff an. Da ich jetzt ihre Aufmerksamkeit habe, kann ich ja weiter machen.
„Eigentlich dachte ich ihr seid Freunde. Es ist unsinnig sich hier gegenseitig Vorwürfe zu machen. Ihr kümmert euch beide rührend um mich und solltet euch deswegen nicht gegenseitig fertig machen. Ich weiß nicht genau was euer Problem ist, aber ihr solltet darüber reden. Es fällt mir zwar schwer, aber eher möchte ich euch nicht wiedersehen. Beide.“, bringe ich mein Anliegen vor und sehe Ann entschuldigend an, da ich glaube, dass ihr mein Ultimatum am schwersten fällt.
Sie schnieft noch einmal kräftig, nickt zögerlich und geht dann. Traurig schaue ich ihr nach. War es vielleicht doch ein Fehler, ihr diese Bedingung zu stellen?
Julian steht noch eine Weile neben meinem Bett und betrachtet mich mit einen undefinierbaren Blick. Es ist mir unangenehm so von ihm betrachtet zu werden und ich kann seinem Blick nicht standhalten. Vorsichtig, um nicht die Kanüle in meinen Arm und die Schläuche die daran hängen zu verheddern, drehe ich mich zum Fenster und döse vor mich hin. Immer noch spüre ich seinen Blick auf mir, bis irgendwann die Tür leise ins Schloss fällt.
Ich beschließe etwas zu schlafen, die drückend Müdigkeit ist zwar weg aber dennoch fühle ich mich schlapp und ausgelaugt.
Ich schrecke hoch, als es an der Tür klopft. Hatte ich schon wieder einen Alptraum? Meiner schnellen Atmung und meinem hämmernden Puls zu folge schon. Aber ich kann mich nicht lange darauf konzentrieren, denn Clear steht mit einem Tablett neben meinem Bett.
Was soll das denn jetzt? Warum bringt mir meine Physiotherapeutin mein essen?
„Ich bring dir dein Essen. Ann meint sie dürfte dich nicht sehen. Was hast du mit den zweien gemacht? Julian und Ann laufen durch die Klinik, wie getretene Hunde.“, entgegnet Clear fröhlich meinem fragenden Blick. Ich kann als Antwort nur mit der Schulter zucken, das haben die zwei sich selbst eingebrockt und müssen es nun auch unter sich klären.
Wir unterhalten uns ganz gut während ich mein Essen vertilge und erstaunt feststelle, dass ich weder müde bin, noch irgendein Schindelgefühl habe.
„Machen wir heute noch was? Wolltest du nicht mit mir Rollstuhlfahren üben?“, frage ich gut gelaunt, weil ich mich wieder so gut fühle.
„Eigentlich hat Julian die Therapie für heute ausgesetzt, wegen deiner Anämie, aber wenn du dich gut fühlst, warum nicht? Und du siehst auch viel besser aus, als die letzten Tage, endlich hast du Farbe im Gesicht.“, meint sie mütterlich und sieht mich an als wäre ich 3 und man hätte mir meinen Lolly weggenommen.
Nachdem Clear einen Rollstuhl besorgt hat, hilft sie mir mich aufzusetzen. So sitze ich auf der Bettkante, auf der einen Seite Clear, die mich stütz auf der anderen der Infusionsständer an dem ich mich abstütze. Eine Energie durchströmt mich, die ich seit meinem Erwachen nicht gespürt habe und entschlossen stehe ich auf. Eine Sekunden bleibe ich reglos stehen, warte auf den Schwindel oder ein anderes negatives Zeichen meines Körpers, aber es bleibt aus. Außer, dass sich meine Beine nicht wirklich kraftvoll anfühlen, kann ich nichts feststellen.
„Gut. Jetzt einen Schritt und dann langsam hinsetzten.“, weißt mich Clear an und ich komme dem ohne Probleme nach.
Clear baut irgendwie den Infusionsständer um sodass er jetzt am Rollstuhl befestigt ist und schiebt mich dann in den Flur.
„So nun du.“, verlangt sie und tritt neben mich.
Beschwerlich versuche ich die Räder dieses Gefährtes zu bewegen und kurze Zeit später rolle ich durch die Gänge. Zwar noch etwas unbeholfen und mit einigen Remplern an alles was mir im Weg steht, aber selbstständig.
Als wir zurück in den Gang kommen, in dem sich mein Zimmer befindet, möchte Clear, dass ich noch ein paar Mal hin und her fahre und dabei die Kurven so eng wie möglich nehme.
Ich bin am Fenster, am Ende des Flurs angekommen, als ich mich beobachtet fühle. Es ist nicht der Blick von meiner Physiotherapeutin, der auf mir liegt und so sehe ich mich verwirrt um.
Julian lehnt am anderen Ende des Flurs an der Anmeldungstheke und sieht zu mir. Ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen und diese seltsame wärme durchfährt mich wieder. Zusätzlich breitet sich dieses Mal noch ein Kribbeln in meinem Inneren aus und ich kann mich gar nicht mehr aus das Rollstuhlfahren konzentrieren.
Zurück in meinem Zimmer hilft mir Clear wieder ins Bett und erst hier merke ich, wie anstrengend es eigentlich war.
Doch auch als mich meine Physiotherapeutin wieder verlassen hat will ich mich nicht ausruhen. Ich habe den Entschluss gefasst, in Badezimmer zu gehen und mich nochmal genau im Spiegel anzusehen, vielleicht spuckt ja mein Gehirn doch etwas aus.
So schwinge ich schon wieder meine Beine aus dem Bett. Jetzt, nur mit dem Infusionsständer als Stütze, ist es deutlich schwieriger aufzustehen, doch nach ein paar Anläufen gelingt es mir.
Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und hoffe, dass meine Wackelpuddingbeine nicht nachgeben. Vielleicht hätte ich noch einen Tag warten sollen, aber nun bin ich einmal so weit, dann bringe ich es auch hinter mich.
Nach einer gefühlten Ewigkeit komme ich im Bad an und stütze mich schwerfällig am Waschbecken ab. Nachdem ich mich etwas gesammelt habe, blicke ich auf und schaue mich selbst forschend an. Clear hatte Recht, ich habe wieder mehr Farbe im Gesicht bekommen.
Immer mehr konzentriere ich mich auf mein Ebenbild und versuche irgendeine Information aus meinem Gehirn abzurufen. Zeitverloren sehe ich quasi durch mich durch und bin so in Gedanken versunken, dass ich meine Umwelt gar nicht mehr wahrnehme. So merke ich nicht wie die Tränen beginnen zu laufen oder es an der Tür klopft.
„Emily.“, flüstert jemand leise in mein Ohr und ich schrecke aus meiner Abwesenheit auf. Ich erschrecke so sehr, dass ich denn Halt verliere und ins straucheln komme. Hätte mich nicht ein kräftiger Arm umschlossen, wäre ich sicherlich gestürzt.
Schon im nächsten Augenblick finde ich mich Julian gegenüber, er hält mich eng an sich gepresst und schaut mich einfach nur an. Ebenso blicke ich zurück und versinke in seinen dunklen, warmen Augen.
Minutenlang stehen wir uns so gegenüber ohne uns zu bewegen. Mein Puls rast, aber es ist nicht das unangenehme Gefühl als ob ich Panik bekommen. Mir wird warm und das Kribbeln breitet sich, ausgehend von meinem Bauch, in meinem ganzen Körper aus.
Langsam bewegt sich Julians Gesicht auf mich zu und ich frage mich, ob er mich küssen will. Wie werde ich auf einen Kuss reagieren? Wurde ich schon oft geküsst? Wie ist es zu küssen?
Ich weiß es nicht und nun steigt doch etwas Panik in mir auf. Will ich überhaupt, dass Julian mich küsst? Geht das nicht deutlich zu weit über ein normales Arzt-Patient-Verhältnis hinaus?
Immer näher kommen seine Lippen meinen und ich befinde mich im Zwiespalt der Gefühle, als mich ein energischen Klopfen und die fröhliche Stimme von Clear aus dieser Situation reißt.
„Emily ich hab hier noch ein Übungsgerät für dich!... Emily? Wo bist du?“, fragt sie verwundert und schaut schon kurz darauf um die Ecke ins Badezimmer.
Verwirrt schaue ich zwischen Julian und Clear hin und her. Julian hat seinen Blick immer noch auf mir geheftet und mir steigt, unter dieser intensiven Musterung, wieder das Blut in die Wangen.
„Du solltest noch nicht alleine aufstehen!“, sagt Clear maßregelnd und stützt, auf ihre Art erzürnt, die Hände in die Hüfte. Sie wirkt in diesem Moment, wie eine Mutter, die mit ihrem unartigen Kind schimpft.
Ich kann nichts darauf erwidern, bin noch immer in meinen aufwühlenden Gefühlen gefangen. Was wäre passiert, wenn Clear uns nicht gestört hätte? Hätte Julian mich geküsst? Wie hätte ich darauf reagiert? Soll ich froh oder traurig darüber sein, dass sie hereingeplatzt ist? Ich weiß es einfach nicht und bleibe einfach wie gelähmt stehen, meinen Blick immer wieder leicht verzweifelt zwischen den Zweien hin und her werfend.
„Sie ist nicht alleine aufgestanden, ich habe ihr geholfen. Sie wollte unbedingt in den Spiegel schauen.“, antwortet nun Julian für mich, aber ohne seinen Augenkontakt zu mir zu lösen. So sehe ich, dass er mir zu zwinkert und sich ein jungenhaftes, schelmisches Grinsen auf seinem Gesicht ausbreitet, was seine Grübchen noch mehr betont. Clear kann seine Mimik hingegen nicht verfolgen, da er mit dem Rücken zur Tür gewandt ist.
„Oh, okay. Aber du weißt auch, dass sie Ruhe braucht. Emily hat heute schon eine anstrengende Physiotherapiestunde hinter sich.“, redet sie jetzt deutlich versöhnlicher weiter.
„Ich bringe sie gleich wieder ins Bett. Was hast du ihr den mitgebracht?“, fragt Julian sachlich, aber sein Gesicht zeigt immer noch sein Belustigung.
„Ein Mini-Indoor-Fahrradtrainer, damit kann sie im Bett ein paar Beinübungen machen.“, erklärt sie kurz und haftet ihren Blick forschend auf Julians Rücken.
„Danke. Dein nächster Patient wartet bestimmt schon.“, redet er schnell weiter und kann kaum noch das Vergnügen in seiner Stimme unterdrücken.
„Bis morgen Emily. Auf Wiedersehen Dr. Green.“, verabschiedet sich Clear, bei mir freundlich und wie immer mütterlich, aber bei Julian mit deutlich ironischem Unterton. Und schon in der nächsten Sekunde ist sie wieder verschwunden.
Nun sind Julian und ich wieder alleine im Bad. Da ich mich wieder voll auf ihn konzentriere, versinke ich wieder in seinen braunen Augen, die jetzt vergnügt funkeln. Ich versuche in seinem Gesicht genau zu erforschen, ob er mich küssen wollte oder ob ich es mir nur eingebildet habe. Doch weder seine schmale Nase, noch die geschwungenen Lippen verraten mir etwas und dann verliere ich auch noch den Augenkontakt, als er sich zur Tür herumdreht.
„Clear hat Recht, du solltest wieder ins Bett. Komm ich helfe dir.“, verlangt er und auf einmal ist seine Stimmen nachdenklich und gedankenverloren.
Kurze Zeit später liege ich wieder alleine in meinem Bett. Julian hat kein Wort mehr verloren, wirkte abwesend, in Gedanken versunken.
Auch ich danke nach, wie schon die ganze Zeit. Über die Begegnung mit ihm im Bad. Wollte er mich küssen? Immer wieder schwirren mir die Gedanken durch den Kopf, aber die vorrangige lautet: Warum? Wenn er mich küssen wollte, warum? Warum war er überhaupt gekommen? Warum war er so in Gedanken nach dem Clear gegangen ist? Fragen, so viele Fragen und ich finde wie immer keine Antwort.
Ich versuche die mich nahezu quälenden Gedanken abzuschütteln, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Die letzten Tage ist mir das besser gelungen, da war ich jedes Mal so müde, dass ich schnell eingeschlafen bin. Aber jetzt bin ich hell wach und weiß nichts mich mir anzufangen.
Ich entscheide ich spontan den Fernseher einzuschalten, bereue es aber schnell da ich Kopfschmerzen bekomme und so mache ich ihn nach wenigen Minuten wieder aus.
Darauf achtend meine in mir hängenden Schläuche nicht zu verheddern, drehe ich mich zum Fenster und schaue in die Natur hinaus. Vielleicht kann ich Morgen mit Ann einen Spaziergang machen. Mit Rollstuhl natürlich, denn schon der kurze Weg ins Bad hat mir gezeigt, dass ich am Laufen noch etwas üben sollte. Ann. Mist. Ich kann nicht mit ihr spazieren gehen, wenn sie nicht vorher mit Julian gesprochen hat. Ich selbst habe diese Bedingung aufgestellt. Haben sie schon miteinander geredet? War Julian deswegen hier? Warum sollte er sonst gekommen sein? Auch er hatte die klare Anweisung, erst wiederzukommen, wenn sie sich ausgesprochen haben.
Plötzlich bildet sich auf dem Flur ein Tumult, der meine Aufmerksamkeit erregt, weil ich deutlich Julians Stimme erkenne.
„Sie werden uns mit der Patienten sprechen lassen.“, donnert eine Männerstimme laut, scheinbar direkt vor meine Zimmertür.
„Nein. Wie ich ihnen schon einmal gesagt habe, ist die Patientin noch nicht vernehmungsfähig. Ich bestimme wann sie mit ihr sprechen.“, erwidert Julian ebenso ungehalten.
„Die Patientin befindet sich auf Normalstation, schon seit 3 Tagen und wir können sie verhören wenn wir es für richtig halten.“, schaltet sich eine dritte Stimme, deutlich ruhiger ein.
„Die psychische Verfassung der Patientin lässt dies aber nicht zu.“, entgegnet Julian und ich kann förmlich sehen, wie er die Zähne aufeinanderpresst, genau wie bei dem Streit mit Ann hier in meinem Zimmer.
„Wenn es nach ihnen geht, Dr. Green lässt die Verfassung der Patientin wohl nie eine Vernehmung zu.“, sagt der Erste, äußerst ironisch.
„Julian ich mach das. Bitte geh jetzt.“, höre ich nun Ann eindringlich auf ihn einreden.
Dann ist es eine Weile Still und so sehr ich mich anstrenge, ich höre keinen Mucks. Aber nur kurz darauf klopft es an der Zimmertür und Ann steckt zögernd ihren Kopf hinein.
Abschätzend mustert sie mich und tritt dann mit besorgter Miene an das Ende meines Bettes.
„Die Polizei würde gern mit dir reden. Denkst du, du bekommst das hin? Julian oder ich werden natürlich dabei sein.“, fragt sie leise und zögerlich. Ich nicke, ängstlich bei dem Gedanken die zwei Männer vom Flur hier in meinem Zimmer zu haben.
Ann geht wieder hinüber zur Tür und lässt die Männer in Uniform eintreten, auch Julian kommt mit herein stellt sich aber direkt hinter die geschlossene Tür und verschränkt die Arme vor der Brust. Er sieht wütend aus, verärgert.
„Hallo Emily, wir würden ihnen gern ein paar Fragen bezüglich ihres Unfalls stellen.“, sagt der deutlich jüngere Polizist, lächelt mich vorsichtig an und reißt mich aus meinen Gedanken. Wieder spüre ich die Panik in mir aufsteigen. Mein Puls beschleunigt sich, meine Atmung wird flach und meine Hände beginnen zu zittern.
„Zu Beginn sollten wir erst einmal festlegen, wer von uns hierbleibt.“, schaltet sich Julian kühl ein und ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Hilfe suchend werfe ich einen Blick zu Schwester Ann, da ich mit Julian in dieser Situation nicht klarkomme. Durch unser Zusammentreffen im Bad und seine Reaktion auf die Beamten, glaube ich er wird mir grade keine große Hilfe sein.
Beide, Ann und Julian, verstehen meinen Blick sofort. Während die Krankenschwester an meine Seite tritt und meine Hand liebevoll nimmt, knallt die Tür hinter dem aufgebrachten Arzt zu und man hört nur noch, wie er anscheinend auf dem Gang etwas wütend umschmeißt. Ich zucke unter der Lautstärke zusammen und Ann fast meine Hand etwas fester.
„Mein Name ist Lieutenant Kramer und das ist mein Kollege Detektiv Atkins. Wir sind hier wegen ihres Unfalls am 25.07 letzten Jahres.“, stellt der ältere Beamte sich und seinen Partner vor. Seine Stimme ist tief, rauchig und bestimmend, sodass sich meine Panik sofort verstärkt.
Ann versucht mich zu beruhigen, aber die zwei unbekannten Männer im Raum scheinen es mir unmöglich zu machen. Sie wirft einen bittenden Blick zu dem jungen Polizisten und er legt seinem Kollegen einen Arm auf die Schulter und flüstert ihm etwas ins Ohr, was ich nicht verstehe. Daraufhin verlässt der ergraute Beamte mit einem Kopfnicken mein Zimmer und schlagartig verlangsamt sich mein Puls, doch gänzlich beruhigt bin ich noch nicht, da ja immer noch ein mir unbekannter Mann im Raum steht, der mich befragen will.
„Ich bin Mike. Ich weiß von Dr. Green, dass sie eine Amnesie haben und sich an nichts erinnern können, trotzdem muss ich ihnen ein paar Fragen stellen. Ist das in Ordnung für sie?“, fragt er einfühlsam und setzt sich langsam in die Sitzecke, sodass ich ihm genau im Blick habe. Er müsst in meinem Alter sein, vielleicht so alt wie Ann und Julian. Er ist groß und unter seiner Uniform zeichnen sich deutlich seine Muskeln ab. Sein Körper wirkt bedrohlich, aber das macht sein Gesicht wieder wett. Ein gutmütiges Lächeln umspielt seinen Mund und seine Augen strahlen so viel Wärme aus, dass sich mein Puls wieder dem Normalrhythmus anpasst.
„Ja.“, will ich sicher sagen, aber auf einmal überfluten mich wieder meine Gefühle, meine Angst, meine Verzweiflung und ich bringe nicht mehr als ein Flüstern zustande. Tränen füllen meine Augen und ich versuche sie so gut wie möglich weg zu blinzeln.
„Können sie mir sagen wie sie heißen und warum sie hier in Bassett sind?“, verlangt er sanft, aber ich kann nur mit einem Kopfschütteln antworten, da ich immer noch mit den Tränen kämpfe.
„Wissen sie wie es zu diesem Unfall gekommen ist?“, will er nun wissen.
„Ich bin auf die Straße gelaufen… ich bin einfach drauf los gelaufen.“, erwidere ich tränenerstickt. Ann wirft dem Beamten einen verwirrten Blick zu, der diesen ebenso irritiert beantwortet.
„Woher wissen sie das, Emily?“, erkundigt sich Mike perplex.
„Der Mann… ein Mann war hier… er hat gesagt, ich sei ihm… ihm vors Auto gelaufen. Einfach auf die Straße gelaufen. Er hat… hat immer wieder gesagt… er konnte nichts tun… ich sei einfach auf die Straße und er konnte nichts machen.“, stottere ich mit bebender Stimme vor mich hin. Zurückversetzt in die Situation, beschleunigt sich mein Puls erneut und meine Kehle scheint sich zuzuschnüren. Die Panik kommt zurück und mein Körper beginnt zu zittern.
Ann streichelt meinen Arm, wie sie es schon so oft gemacht hat, aber die sonst beruhigende Wirkung bleibt aus.
Der Beamte springt auf. Die schnelle, unerwartet Bewegung lässt mein Herz noch schneller rasen. Energisch tritt er auf die andere Seite des Bettes und schaut Ann fest an.
„Mister Leads war hier?“, fragt er an Ann gewandt und legt mir eine Hand auf die Schulter ohne mich anzusehen.
Ann nickt stumm, ähnlich eingeschüchtert von dieser Situation wie ich. Doch irgendwie schafft es seine Berührung meine Panik wenigstes etwas zu unterdrücken.
„Warum hat uns keiner darüber informiert? Warum haben sie das nicht verhindert?“ zischt er aufgebracht, schaut dabei zwar zu Ann, wirkt aber in Gedanken versunken. So bleibt er eine ganze Zeit stehen, während er unbewusst meine Schulter leicht massiert.
Dann schreckt er hoch als wäre er aufgewacht. Der Beamte geht bestimmt hinüber zu Ann und flüstert auch ihr ins Ohr. Ich beobachte genauestens ihre Reaktion und bin verwundert, als sie leicht rot wird und ein hingerissenes Lächeln auf ihren Lippen erschein. Sachte zieht Mike sie in die Ecke des Raumes und redet leise mit ihr, aber laut genug dass ich jedes Wort verstehen kann.
„Wie ist ihr Gesundheitszustand wirklich? Dr. Green hat mit Sicherheit übertrieben aber sie scheint mir psychisch doch angeschlagen.“, fragt er sichtlich interessiert und fährt dabei zart über Anns Arm.
Wieder sehe ich, wie sich ihre Wangen rot färben. Um es ihrem Gegenüber nicht zu zeigen senkt sie den Kopf und nickt nur bedrückt. Erst als sie sich wieder gefangen hat schaut sie ihm erneut an und setzt zu einer Antwort an.
„Julian, Dr. Green, wollte sie schützen. Emily zeigt panische Reaktionen auf Männer. Sie haben es ja eben selber erlebt. Als Mister Leads hier war hatte sie eine ausgewachsene Panikattacke und wir mussten ihr Beruhigungsmittel geben. Langsam scheint sie es besser in Griff zu bekommen, aber auch unser Psychologe kann nicht bestimmen woher diese Angst vor Männern kommt.
Weiterhin hat Emily natürlich mit den Nebenwirkungen der Amnesie zu kämpfen. Sie macht sich Vorwürfe und Gedanken, wie sie wohl war. Keine Erinnerungen zu haben kann jemanden innerlich auffressen. Zumal Emily auch unbestimmte Alpträume hat.
Die Gesamtsituation ist schwierig, aber wir alle versuchen ihr zu helfen.“, sagt sie leise, wirft mir aber einen entschuldigenden Blick zu, da sie weiß, dass ich alles mitgehört habe.
Jetzt ist es amtlich, ich bin ein psychisches Wrack. Ann hat es zwar blumig verpackt, aber nichts anderes heißt es.
Tränen fluten meine Augen, meine Verzweiflung holt mich ein. Wie soll es weiter gehen? Werde ich je wieder ein normales Leben führen? Habe ich je ein normales Leben geführt? Wieder nur Fragen auf die ich keine Antwort weiß und nicht weiß, ob ich sie je finden werde. Was wenn ich mein Gedächtnis nie wieder bekomme? Wie soll ich Geld verdienen? Mir ein neues Leben aufbauen?
Ich bin so in meinen Gedanken versunken, dass ich das restliche Gespräch nicht mitbekomme. Erst als sich Mike verabschiedet, kann ich kurz die quälenden Fragen in meinem Kopf abstellen.
„Tschüss Emily, ich hoffe, dass es ihnen bald wieder besser geht. Ein paar Fragen sind noch offen und ich werde sie leider noch einmal besuchen müssen.“, verabschiedet er sich nachdenklich und klingt ehrlich mitgenommen.
„Danke.“, bringe ich grade so hervor, bevor der Kloß in meinem Hals mir die Kehle vollends zuschnürt und ich beginne haltlos zu weinen. Grade bricht meine kleine, mir bekannte Welt, über mir zusammen und ich fühle mich hoffnungslos, zukunftslos, verloren.
Ann steht etwas verloren im Raum herum und weiß anscheinend nicht wie sie mit der Situation umgehen soll.
Ich brauche sie jetzt, brauch einen Menschen der für mich da ist, der mich hält. So übergehe ich meine eigene Anordnung und breite meine Arme aus, um sie einzuladen mich in den Arm zu nehmen. Doch sie scheint mit sich zu kämpfen.
„Bitte!“, kann ich tränenerstickt hauchen und sie überwindet ihre Zweifel und wirft sich mir in die Arme. Sie hält mich ganz fest, doch ich versuche sie noch fester an mich zu pressen, da ich das Gefühl habe in tausend Teile zu zerspringen.
Als ich mich etwas beruhigt habe merke ich, dass auch Ann weint. Sie gibt immer vor diese fröhliche, unbeschwerte Krankenschwester zu sein, aber auch wenn ich sie erst kurz kenne weiß ich, dass sie das nicht ist. Zumindest nicht immer. Ann ist gefühlvoll, sensibel und eine wahre Freundin. Sie an seiner Seite zu haben ist ein großes Geschenk und ich habe diese zerbrechliche Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. Nicht nur unsere Freundschaft, auch die zwischen Ann und Julian.
„Es tut mir unendlich leid. Ich hätte nie eine solche Forderung stellen dürfen. Es ist eure Sache, ob ihr miteinander redet und ich habe mich da nicht einzumischen.“, flüstere ich und mache mich leicht von ihr los, um ihr in die Augen sehen zu können. Immer noch stehen Tränen darin, aber ein kleines Lächeln umspielt ihre Mundwinkel und sie schüttelt beharrlich den Kopf.
„Nein, Emily. Du hast genau richtig gehandelt. Julian und ich sind schon einige Zeit befreundet. Wir haben uns noch nie wirklich gestritten und konnten beide nicht damit umgehen. Wir mögen dich beide sehr und deine Ansage heute Morgen war genau das richtige. Wir haben uns ausgesprochen, wenn wir beide an einem Strang ziehen und uns nicht gegenseitig das Leben schwer machen, können wir uns viel besser um dich kümmern und das ist es was zählt.“, erklärt Ann mir sanft und streicht mir eine Strähne hinters Ohr.
„Worum genau ging es eigentlich? Ich habe das Gefühl, es geht um mehr als nur die Anämie und die persönliche Distanz.“, will ich vorsichtig wissen, weil ich wirklich dieses Bauchgefühl habe seit der Situation mit Julian im Bad.
Ann holt sichtlich tief Luft und ringt eine Weile um die richtigen Worte.
„Vielleicht sollest du das besser Julian fragen.“, antwortet sie mit gesenktem Kopf und einem Hauch Wut in der Stimme. Ist sie immer noch böse auf ihn? Warum? Ich denke sie haben sich ausgesprochen.
Augenblicke später hebt sie ihren Blick wieder und schenkt mir ein schiefes Lächeln, welches ich erwidern muss, so wunderbar ist es.
„Zeit fürs Abendessen. Deine Mahlzeiten sind etwas umgestellt und somit eisenhaltiger, dennoch bekommst du weiterhin ein Eisenpräparat und die Infusion, beziehungsweise der Zugang bleibt noch ein paar Tage, damit wir deine Werte engmaschig überwachen können.“, erklärt mir Ann auf dem Weg zur Tür, durch die sie auch schon im nächsten Moment verschwunden ist.
Das Essen verläuft angenehm, Ann und ich haben unsere alte Vertrautheit wieder gefunden. Wir unteralten uns und albern etwas herum. Es tut wirklich gut mit ihr zu Lachen.
Nachdem ich aufgegessen habe und wir noch einige Zeit geredet haben, lässt Ann mich alleine.
Draußen ist die Dämmerung schon weit fortgeschritten und nur noch vereinzelte Sonnenstahlen bahnen sich einen Weg.
Jetzt wo ich wieder alleine bin kommen auch die Gedanken zurück. Gedanken an meine Vergangenheit, meine Zukunft. Gedanken an meine Alpträume, an den Streit zwischen Ann und Julian.
Ich habe ihn nach seinem wütenden Abgang vorhin nicht mehr gesehen und irgendwie macht es mich traurig.
All diese Gedanken schüren meine Traurigkeit und ich gebe mich ihr mal wieder hin. Zusammengerollt drehen ich mich zum Fenster und weine leise vor mich hin. Werden diese Sorgen je vergehen?
Irgendwann falle ich in einen unruhigen Schlaf, ich träume von Fäusten die auf mich zufliegen, von einem Mann der mich verprügelt. Doch ich erkenne sein Gesicht nicht.
Ich wälze mich in meinem Bett hin und her, versuche den Schlägen auszuweichen, im Bewusstsein nicht richtig zu schlafen, aber auch nicht wirklich wach zu sein.
Plötzlich verändert sich der Traum. Ich erkenne sein Gesicht, das Gesicht des Mannes der mich so sehr quält. Julian. Ich sehe ganz deutlich Julians Gesicht vor mir, seine Fäuste, die auf mich zu schnellen.
„NEIN!“, schreie ich, als ich endlich aus diesem Alptraum aufwache. Schweiß läuft mir den Rücken hinab, mein Puls und meine Atmung liefern sich einen erbitternden Kampf, wer schneller ist.
„Ganz ruhig, Emily. Alles ist gut, es war nur ein schlechter Traum.“, höre ich Julians Stimme in der Dunkelheit und in der nächsten Sekunde spüre ich, wie er mir behutsam über den Kopf streicht.
Panik steigt in mir auf. Er hat mich geschlagen, hat mir fürchterliche Sachen angetan.
Ich versuche mich von ihm weg zu bewegen, will möglichst viel Abstand zu ihm gewinnen, doch ich schaffe es nicht. Mein Körper ist zu sehr damit beschäftigt, die Panik zu unterdrücken und meine lebensnotwendigen Funktionen aufrecht zu erhalten.
„Fass… mich… nicht… an!“, kann ich krampfhaft hervorbringen und versuche seine Hand von mir weg zu schlagen, doch ich bin zu kraftlos. Zu sehr damit beschäftigt endlich meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen, denn lange halte ich das nicht mehr durch. Ich sehe schon schwarze Punkte vor meinen Augen tanzen.
Trotzdem lässt er nicht von mir ab und versucht immer noch mich zu beruhigen. Als er andeutet mich in den Arm nehmen zu wollen, sehe ich rot und mache eine hastige Bewegung von ihm weg. Doch das Bett ist nicht groß und so falle ich auf der anderen Seite auf den Boden. Meine Ellenbogen und Knie brennen vor Schmerz, als ich auf dem harten Linoleumboden aufkomme. Sofort schießen mir die Tränen in die Augen und ich kann einen schmerzverzerrten Aufschrei nicht unterdrücken.
Augenblicklich spüre ich wieder Julians Hände auf mir und beschließe mich meinem Schicksal zu ergeben. Soll er mich doch wieder schlagen, schlimmer kann es doch sowieso nicht mehr werden.
Behutsam zieht er mich auf seinen Schoß und wiegt mich hin und her. Ich weine bittere Tränen, weil ich mich nicht gegen ihn wehren kann und weil mir alles weh tut. Mein Kopf pocht, meine Lunge brennt und meine Elenbogen und Knie pulsieren im schnellen Rhythmus meines Herzen.
Eine einzige Frage lässt mein Kopf zu. Warum? Warum hat Julian mich geschlagen?
„Warum?“, wimmere ich dann auch, nicht fähig es aufzuhalten.
„Warum was?“, fragt Julian sorgsam zurück und streicht mir eine Strähne hinters Ohr, danach lässt er seine Hand auf meiner tränengetränkten Wange liegen, was mich unwillkürlich zusammenzucken lässt.
„Warum schlägst du mich?“, präzisiere ich meine Frage leise, nun endlich meinen Körper wieder unter Kontrolle bringend.
Von einer auf die andere Sekunde lässt er meine Wange los, als hätte er sich verbrannt.
Die ganze Zeit habe ich einen imaginären Punkt an der Wand fixiert, doch jetzt hebe ich meinen Blick, um Julian anzusehen, denn seine Augen scheint mich zu durchbohren.
Soweit ich seine Züge in der Dunkelheit erkennen kann, ist seine Stirn tief gefurcht und seine Kinnlade hinuntergeklappt.
„Ich habe dich nie geschlagen!“, flüstert er entsetzt und schluckt schwer.
Damit bin ich überfordert. Er hat mich nicht geschlagen? Aber warum dann mein Traum? Wie ist das möglich?
Eine bleierne Stille legt sich auf die Situation, während ich zu ergründen versuche, wer nun die Wahrheit sagt. Lügt Julian?, oder hat mir mein Traum einen Streich gespielt?
„Wie kommst du darauf, Emily?“, will Julian nach einer Weile wissen.
„Ich… ich habe es geträumt. Zuerst konnte ich das Gesicht nicht richtig erkennen. Konnte nicht sehen, wer mich verprügelt, aber dann hab ich deutlich dein Gesicht erkannt.“, erwidere ich immer noch flüsternd und komme mir unsagbar dumm vor. Wie komme ich darauf, dass Julian mich schlägt? Wir kannten uns doch vor meinem Unfall gar nicht? Oder doch?
„Emily, bitte glaub mir, ich habe dich nie geschlagen und würde dich nie schlagen. Männer die Frauen so etwas antuen verachte ich zutiefst. Ich hatte, in der Notaufnahme, schon mit Frauen zu tun, die angeblich die Treppe runtergefallen oder blöd gestürzt sind. In den meisten Fällen habe ich ihren Männern deutlich klar gemacht was ich von ihnen halte.
Ich würde nie eine Frau schlagen, schon gar nicht dich.“, redet er verzweifelt auf mich ein und ich glaube ihm. Glaube ihm aufrichtig.
„Ich weiß. Ich war so dumm. Wir kannten uns ja nicht einmal, vor meinem Unfall, wie sollst du mich dann geschlagen haben?“, murmle ich unsicher an seine Schulter und vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge. Meine Wangen werden erneut feucht, als mich die ganzen Gefühle der Situation überrollen. Die Angst aus meinem Traum, die Panik, Julian könnte mich geschlagen haben. Die Verzweiflung meiner gesamten Situation. Die Erleichterung, dass mein Traum nicht Wirklichkeit ist. Das warme Kribbeln in meinem Bauch, das sich jetzt wieder bei Julians Berührungen einstellt.
„Shhh. Nicht weinen, alles ist gut. Ich bin bei dir.“, tröstet mich Julian ruhig und ich klammere mich wie eine Ertrinkende an ihn.
Lange sitzen wir einfach so da, Julian wiegt mich in seinen starken Armen und ich gebe mich meinem Gefühlschaos hin.
„Du solltest wieder ins Bett.“, bricht Julian, nach gefühlten Stunden, die Stille. Er löst sich leicht von mir, um mir ins Gesicht zu schauen, weil ich nicht reagiere. Leicht nicke ich und er hebt mich mit einer fliesenden Bewegung an und legt mich auf dem Bett ab.
Nachdem er mich behutsam zugedeckt hat, setzt er sich mich bedrückter Mine auf die Bettkante und sieht mir in die Augen.
Warum schaut er so? Was geht in ihm vor? Geht es um den Streit mit Ann?
„Was ist los? Ist es wegen deinem Streit mit Ann?“, hauche ich, da ich nun die Anstrengung der letzten Stunden merke und sich eine schwere Müdigkeit auf mich legt.
Schwach schüttelt er den Kopf und senkt seinen Blick auf meine Bettdecke.
„Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll, aber wir haben uns schon einmal getroffen.“, beginnt er leise und seine Anspannung ist quasi greifbar.
Wir kennen uns doch? Aber warum kennt er dann nicht meinen richtigen Namen? Wie gut kennen wir uns? Wie passt das alles zusammen? Tausende Fragen schießen mir in den Kopf und ich bekomme sie nicht sortiert, um sie formulieren zu können.
„Es war einen Tag vor deinem Unfall. Ich war joggen, meine übliche Runde durch den Park, als ich dich auf einer Bank sitzen sah. Du sahst so unsagbar traurig aus, dass ich dich ansprechen musste. Mein Ziel war es dieser hübschen, unglücklichen Frau ein Lächeln abzugewinnen. Ich liebe Herausforderungen und so ging ich hochmotiviert auf dich zu.
Ich habe mich einfach neben dich gesetzt, du hast überhaupt nicht auf mich reagiert. Erst als ich dich angesprochen habe, konntest du, aus deinen Gedanken in die du versunken warst, auftauchen.
Erst schien es, als würdest du die Flucht ergreifen wollen, doch dann bist du doch nur bis zur äußersten Kante der Bank vorgerückt, jeder Zeit dazu bereit aufzuspringen.
Unverfänglich habe ich dich in ein Gespräch verwickelt, aber du bist nicht wirklich darauf eingegangen. Als ich mich verabschieden musste, weil ich meinen Dienst anzutreten hatte, hatte sich deine Laune scheinbar kaum geändert. Aber innerlich fühlte ich, dass ich dir wenigstens etwas deiner gewaltigen Last abnehmen konnte. Und nach der wirklich ernst gemeinten Floskel ‘Vielleicht sieht man sich ja mal wieder‘, konnte ich dir doch noch ein kleines Lächeln abringen und du sagtest es würde dich freuen.
Dass ich dich so schnell und auf diese unerfreuliche Weise wiedersehen würde, hätte ich nicht gedacht.
Es tut mir so leid. Alles.“, berichtet mir Julian bekümmert. Während er erzählt hat, habe ich seine Hand genommen, da ich gemerkt habe wie schwer es ihm gefallen ist.
„Du hast mir nicht mal deinen Namen verraten und als ich dich da auf dieser Trage erkannt habe, mehr tot als lebendig…“, seine Stimme bricht und so bleibt der Satz, den er eigentlich mehr zu sich selber gesagt hat als zu mir, unvollendet.
„Nein, mir tut es leid. Du machst dir Sorgen um mich, ihr alle sorgt euch um mein Wohl und ich beschuldige dich solche Dinge getan zu haben, obwohl ich es besser wissen müsste.“, entschuldige ich mich aufrichtig. Ich meine es vollkommen ernst was ich sage, alle hier machen sich die größten Sorgen um mich und kümmern sich so liebevoll und ich bringe sie zum Streiten und halte ihnen meine Hirngespinste vor.
Die Müdigkeit übermannt mich. ‘Bitte las mich nicht wieder einen Alptraum haben, bitte las mich mal wieder in Ruhe schlafen‘, bete ich stumm vor mich hin.
Was wollte Julian eigentlich mitten in der Nacht in meinem Zimmer?, ist mein letzter Gedanke bevor ich wieder einschlafe. Einen ruhigen, erholsamen Schlaf, mit dem guten Gefühl von Julians Anwesenheit.
Ich werde wach, als die Tür leise ins Schloss fällt.
Wer war das? Ich bin alleine. War Julian nicht da, als ich eingeschlafen bin? Ist er jetzt erst gegangen?
Draußen kann ich am Horizont den anbrechenden Tag erkennen. Saß er bis eben an meinem Bett?
Immer noch schlaftrunken kuschle ich mich in meine Kissen und schließe wieder die Augen, in der Hoffnung an meinen Traum anknüpfen zu können. Natürlich gelingt mir das nicht, aber dennoch schlafe ich nochmals ein.
Ich sitze allein auf einer Parkbank. Ich bin allein. Einsam. Wo ist der nette Mann von gestern? Er hat versucht mich aufzumuntern, etwas ist es ihm auch gelungen. Für einen winzigen Moment habe ich meine Probleme vergessen. Doch heute sind sie umso deutlicher. Ich habe kein Zuhause mehr, habe kein Geld, kein Essen, nichts. Ich habe nichts und bin nichts, seit ich vor IHM geflüchtet bin. Warum? Warum bin ich gegangen? Die letzten vier Jahre bin ich durch die Hölle gegangen, doch jetzt konnte ich einfach nicht mehr. Jeden Tag quält ER mich, quält mich bis an die Grenzen meines körperlichen, seelischen und emotionalen Vermögens. Jeden Tag frage ich mich, wann ER es endlich zu Ende bringt. Mich endlich tötet, doch das tut ER nicht. ER lässt mich am Leben, sodass ER jemanden zum Quälen hat.
Doch geht es mir jetzt besser, ohne IHN? Nein, ich bin ein Wrack. ER hat mich zu einem gemacht, auf alle erdenklichen Weisen.
Ich weiß nicht was ich noch machen soll, was mir noch etwas bedeuten sollte auf dieser Welt. Kein Mensch würde mich vermissen, keinen würde es interessieren, wenn ich nicht mehr da wäre. Außer, außer IHM. Doch zu IHM will ich auf keinen Fall zurück, eher setzte ich meinem Leben selbst ein Ende.
Ich habe schon oft an Selbstmord gedacht, doch bei IHM war es unmöglich. ER hat mich überwacht, alle gefährlichen Gegenstände außerhalb meiner Reichweite aufbewahrt. Doch jetzt ist es eine Perspektive, meine Einzige. Meine Letzte.
Beschwerlich erhebe ich mich von der Bank. Mir ist schwindlig, seit fünf Tage habe ich nichts mehr gegessen. Mein letztes, einziges Geld habe ich für ein Busticket ausgegeben. Ein Ticket, was mich so weit wie möglich von IHM wegbringt. Bassett. Die Strecke zwischen New York und Bassett konnte ich mir mit meinen 45Dollar und 84Cent leisten.
Ich komme an meinem Ziel an, die gut befahrene Hauptstraße von Bassett. Am Rand stehen viele parkende Autos, im Schutz zweier großer Pickups kann ich bis an die Straße treten, ohne von den Autofahrern bemerkt zu werden.
Ich mache einen letzten tiefen Atemzug und gehe den letzten Schritt auf die Fahrbahn.
Ich höre ein lautes Hupen, quietschende Reifen und spüre Sekundenbruchteile später einen dumpfen Aufprall. Doch ich spüre keinen Schmerz, nur unendliche Erleichterung und dann wird alles schwarz.
Ich schrecke hoch. Ich habe wieder geträumt, doch es war kein Alptraum. Ich weiß noch genau was ich geträumt habe. Erinnere mich noch genau an die Erleichterung, die ich nach dem Aufprall gespürt habe.
Ich wollte wirklich meinem Leben ein Ende setzten, aber warum? Was hat mein Leben zu dem gemacht? Wieso sah ich keinen anderen Ausweg mehr?
Die nächsten Wochen vergehen wie im Flug. Mit Hilfe von Ann, Julian, Frank und Clear komme ich wieder gut auf die Beine. Doch meine Alpträume bleiben. Ann und Julian wissen davon, denn sie sind es die mich beruhigen, wenn ich schweißgebadet hochschrecke. Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie sich nur noch im Krankenhaus aufhalten und gar nicht mehr nach Hause gehen.
Körperlich bin ich wieder fit und kann alles machen, was ein normaler Mensch kann. Doch psychisch bin ich doch sehr angegriffen, meine Gedanken quälen mich jede Nacht. Am Tage kann ich sie hinter meiner selbst erbauten Schutzmauer verstecken, aber abends und nachts habe ich keine Chance mich gegen sie zu wehren. Vor den anderen gebe ich mich fröhlich und interessiert, aber innerlich versuche ich mich zu schützen, in dem ich niemanden zu nah an mich ran lasse. Ich selbst habe das Gefühl ich bin etwas gefühlskalt geworden, aber ich weiß mir nicht anders zu helfen. Auch weiß ich nicht, wie lang ich das alles aufrechterhalten kann. Es scheint mir einfach nicht zu liegen, meine Gefühle zu verstecken und von Tag zu Tag muss ich mehr mit mir kämpfen.
Frank weiß nichts von meinen schlechten Träumen geschweige denn von meinen qualvollen Gedanken, zumindest nicht von mir. Allerdings hat Ann ihm von meiner Angst gegenüber Männern erzählt, aber ich rede mit ihm nicht darüber. Was soll ich auch sagen? Ich hab ja selbst keine Ahnung woher diese Panik kommt. Er hat bisher dieses Thema auch nicht angeschnitten.
Clear hat mich wirklich gut unterstützt und auch wenn ich manchmal kurz davor war zu verzweifeln hat sie mich mit ihrer mütterlichen Art motiviert, alles zu schaffen.
Wie wird es nun weiter gehen? Wo soll ich wohnen? Wovon soll ich leben?
Morgen kommt Detektiv Atkins noch einmal vorbei, um genau darüber mit mir zu reden. Er bringt einen Sozialarbeiter mit, der mit mir gemeinsam eine geeignete Lösung finden soll.
Grade findet die wöchentliche Chefarztvisite statt. Prof. Burk erzählt seinem Gefolge etwas über meine Chancen mein Gedächtnis wiederzuerlangen, dann verabschieden sie sich freundlich aber distanziert. Ich bekomme durch seine Anwesenheit zwar keine Panikattacke mehr, aber leiden kann ich ihn immer noch nicht.
Julian bleibt zurück und setzt sich auf meine Bettkante.
„Wie geht es dir heute, Emily?“, fragt er mit einem Lächeln auf den Lippen, welches seine Grübchen noch mehr betont. Mir steigt das Blut in die Wangen und das mir in letzter Zeit zu gut bekannte Kribbeln in meinem Bauch setzt wieder ein.
„Gut, Dr. Green. Wirklich gut.“, lächle ich zurück. Das ist zwar nicht ganz die Wahrheit, aber das was ich allen erzähle. Ich möchte ihnen nicht, jetzt wo es mir körperlich so gut geht, Sorgen wegen meiner Gedanken machen. Tagsüber kann ich gut meine eigens aufgebaute Schutzwand mit vorgetäuschter guter Laune verstecken, aber abends überrollen mich immer wieder meine Gefühle, Gedanken, Ängste und Verzweiflung.
Gespielt beschwingt stehe ich auf und gehe ins Bad. Ann hat heute einen langen Spaziergang durch den Klinikpark geplant und ich will mich darauf vorbereiten.
Ich stehe am Spiegel und bürste mir die Haare. Ann hat mir alles besorgt, was man so an Hygieneartikeln benötigt.
„Ich glaube dir nicht.“, höre ich Julian leise hinter mir sagen und begegne seinem Blick im Spiegel. Was soll ich darauf antworten? Hat er mein Schauspiel durchschaut? Was erwartet er von mir?
Scheinbar unbekümmert zucke ich mit den Schultern.
„Das ist nicht mein Problem.“, gebe ich lapidar zurück. Ich weiß, dass ich den anderen mit meiner neuen, kühleren Art wehtue, aber ich weiß nicht wie ich es anders machen sollte. Ich kann niemanden zu nah an mich heran lassen, dass hält meine Schutzmauer noch nicht aus.
„Emily, wir sind deine Freunde, rede mit uns. Rede mit Frank, rede mit wem du willst, aber rede. Wenn du so weiter machst gehst du kaputt und das können wir uns nicht mit ansehen.
Was passiert in deinen Alpträumen? Warum wachst du fast jede Nacht panisch auf?“, redet er verzweifelt auf mich ein und ich kann seinen durchdringenden Blick nicht mehr standhalten.
Tief Luft holend stütze ich mich am Waschbecken ab und versuch mit geschlossenen Augen mich auf meine Gedanken zu konzentrieren. Die Risse, die seine Worte in meiner Schutzmauer erzeugen, notdürftig zu flicken und mir eine geeignete Antwort einfallen zu lassen.
„Ich kann nicht.“, flüstre ich leise und tränen fluten meine Augen. Meine Mauer bröckelt immer mehr, ich bin einfach nicht genug geübt darin meine wahren Gefühle zu verstecken. Langsam tritt Julian an mich heran und legt mir von hinten die Hände auf die Schultern.
„Ich bin immer für dich da. Immer.“, haucht er mir ins Ohr, ich spüre seinen warmen Atem auf meiner Haut und ein Schauer überläuft mich. Meine Beine verwandeln sich in Sekundenschnelle in Wackelpudding und wenn ich mich nicht abstützen würde müsste ich wohl in die Knie gehen. Warum hat er so eine Wirkung auf mich?
Grade hat er mich mit seiner puren Anwesenheit und seinen wenigen Worten weichgekocht und ich bin gewillt ihm alles zu erzählen, als es an der Tür klopft und eine fröhlich plaudernde Schwester Ann Bruchteile von Sekunden später mein Zimmer betritt.
Sofort weicht Julian von mir zurück und ein wütendes Schnaufen zeugt mir, genauso wie sein Blick im Spiegel, dass er über Anns Erscheinen gar nicht erfreut ist. Ich hingegen bin ihr unendlich dankbar, dass sie mich ungewollt aus dieser Situation befreit hat.
„Bist du im Bad?“, höre ich sie aufgeregt fragen und sehe sie im nächsten Moment schon im Spiegel.
„Julian, was machst du denn hier?“, will sie erstaunt wissen, als sie ihn entdeckt.
„Ich bin von der Visite übrig geblieben.“, versucht er einen Scherz, aber keiner von uns lacht. Ann scheint etwas verwirrt, schüttelt dies aber schnell ab.
„Bist du fertig? Ich muss unbedingt mit dir reden.“, fragt sie nun wieder an mich gewandt.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel und stelle fest, dass es höchstwahrscheinlich nicht besser wird und nicke Ann zu.
„Dann komm!“, fordert mich die Krankenschwester auf und streckt mir ihre Hand entgegen. Da Julian keinerlei Anstalten macht sich von der Stelle zu bewegen, kämpfe ich mich an ihm vorbei und jede Stelle, wo mein Körper seinen berührt, prickelt.
Bei Ann angekommen nimmt sie sofort meine Hand und zieht mich beschwingt hinter sich her. Ich werfe noch einen kurzen Blick zurück und erkenne, dass Julian jeder meiner Bewegungen folgt, dabei hat er einen unergründlichen Ausdruck im Gesicht und ich weiß beim besten Willen nicht was ich von seinem Verhalten halten soll. Er verwirrt mich und macht es mir sehr schwer meine Gefühle und Ängste zu verbergen.
Im Park hüpft Ann aufgeregt neben mir her, doch ich habe gar keinen Blick für sie, zu sehr bin ich noch damit beschäftigt meine Mauer wieder etwas aufzubauen.
Erst als sie mich fast gewaltsam auf eine Bank drückt nehme ich meine Umgebung wieder war.
Es ist ein wunderschöner Frühsommertag. Die Sonne strahlt vom wolkenlosen Himmel und wärmt angenehm.
Ich lasse meinen Blick über das strahlend grüne Gras schweifen, bis hin zu dem kleinen Teich, auf dem sich die Sonne glitzernd spiegelt. Ich hebe mein Gesicht der Sonne entgegen, schließe meine Augen und sauge den Duft von Weiden und frischem Gras in mich auf. Ein trauriges Gefühl überkommt mich, dass Gefühl eine solche äußerliche Ruhe und Freiheit in meinem früheren Leben nicht gehabt zu haben. Dieses Empfinden beendet meine kurze Zufriedenheit und hinterlässt einen komischen Nachgeschmack.
Ich senke meinen Blick auf meine verknoteten Hände und seufze.
„Was ist los mit dir in letzter Zeit? Du hast dich verändert.“, zieht Ann wieder meine Aufmerksamkeit auf sich und ich sehe in ihre gütigen grauen Augen. Sie sehen mich fragend, mitleidig und traurig an und ich weiß diese Frage liegt ihr schon lange auf der Zunge, aber sie hat sich zurückgehalten. Still danke ich ihr dafür, verfluche sie aber im nächsten Augenblick, dass sie jetzt grade fragt, wo mich Julian mit dem Erforschen meines Gefühlslebens schon so ins Wanken gebracht hat.
Einige Zeit schweige ich, denke angestrengt darüber nach, was ihr sagen könnte. Kann ich ihr vertrauen? Kann ich ihr meine Alpträume anvertrauen? Mein Panik vor allen Männern die meinen Weg kreuzen? Ich weiß es nicht, auch diesbezüglich ist mein Kopf wie leergefegt und so bleiben meine Lippen geschlossen.
Ich sehe sie an und Tränen fluten meine Augen. Stumm bitte ich sie, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen und ich sehe wie sie einige Zeit mit sich hadert.
„Ich werde jetzt nicht weiter darauf eingehen, aber eine Bitte habe ich.“, redet Ann weiter. Forschend sieht sie mich an, nicke leicht und muss meinen Blick von ihr abwenden, denn ich kann meine Gefühle einfach nicht unter Kontrolle halten. Sie haben es nicht verdient, dass ich so mit ihnen umgehe.
„Bitte, ich bitte dich aus tiefstem Herzen, weil du meine Freundin bist und ich dich liebe. Bitte, sag jemandem was dich bedrück. Ich bin nicht böse, wenn du es Frank oder Julian sagst, egal wem, rede. Bitte.“, offenbart mir Ann. Ich höre das Zittern in ihrer Stimme und auch wie sie schwer Schluckt.
Meine Tränen tropfen auf meine graue Jogginghose und hinterlassen dunkle Flecken.
„Ich liebe dich auch, aber ich kann einfach nicht.“, kann ich mit meinem letzten Funken Selbstbeherrschung zurückgeben.
Ich ziehe meine Knie an meinen Körper und umschlinge sie mit meinen Armen. Wie soll ich nur weiter meine Mauer aufrecht halten? Wie kann ich damit klarkommen? Ich kann ihnen meine wirren Gedanken einfach nicht erklären, kann ihnen nicht noch mehr meiner Probleme aufbürden.
Ann schließt ihre Arme fest um meinen zusammengekauerten Körper und ich weine bittere Tränen. Es tut gut so von ihr gehalten zu werden, denn ich habe das Gefühl ich zerbreche in tausend kleine Teile.
Der Gedanke an meinen Traum, als ich vor das Auto gelaufen bin kommt mir wieder in den Sinn und ich verstehe wie ich damals gefühlt habe. Jetzt grade erscheint mir diese Lösung wieder hilfreich. Alle meine Probleme würden sich mit einmal auflösen, ich wäre befreit von meinen Gefühlen, Ängsten und Selbstzweifeln.
Doch etwas hindert mich daran diese Phantasie zu vertiefen. Die so wunderbaren Menschen, die mich aufgenommen haben. Die 4 Menschen, die mir versuchen zu helfen und denen ich so sehr wehtue. Die Gedanken an Ann, Frank und Clear lassen die Idee meines Freitodes verblassen, aber ein einziger Gedanke an Julian flutet meinen Körper mit einem Kribbeln und schafft es, dass ich mich beruhige.
Wie lange halte ich das noch durch? Was tue ich mir und vor allen den anderen damit an? Ich bin so ein Feigling, ich belüge dich Menschen, die mir am meisten bedeuten. Denn wenn ich auch nichts mehr aus meiner Vergangenheit weiß, ich fühle, dass ich selche Menschen früher nicht um mich hatte.
Irgendwann schaffe ich es ein Lächeln aufzusetzen und mache mich leicht von Ann los. Wir sind hier, weil sie mir etwas zu erzählen hat und das soll sie jetzt auch tun. Vielleicht lenkt es mich ja etwas von meinem Gefühlschaos ab.
„Nun erzähl schon, warum warst du vorhin so aufgeregt?“, frage ich betont fröhlich, muss aber einen Schluchzer unterdrücken.
Einige Sekunden betrachtet mich Ann skeptisch. Fast scheinen wir ohne Wort nur mit unseren Blicken zu kommunizieren. Nachdem ich ihr versucht habe mit meinen Augen zu vermitteln, dass es okay ist, tritt ein leichtes Grinsen auf ihr Gesicht.
„Ich habe einen Plan.“, sagt sie verschwörerisch und zieht eine Augenbraue nach oben, was sie noch geheimnisvoller wirken lässt.
„Wofür?“, will ich verständnislos wissen. Hab ich irgendeine Information verpasst? Muss ich verstehen was sie versucht mir zu sagen?
„Für mein Mitbewohner-Problem.“, antwortet sie beschwingt und ich sacke förmlich in mir zusammen. Das will sie mir erzählen? Deshalb tut sie so geheimnisvoll?
Ich zucke mit den Schultern, denn wer Anns neuer Mitbewohner wird interessiert mich nun wirklich nicht. Sie liegt mir damit zwar schon seit ihrer Trennung von Greg in den Ohren, aber ich hab ehrlich andere Probleme.
„Ich habe die ideale Mitbewohnerin gefunden. Ich kenn sie zwar noch nicht so lange aber ich finde wir sind in der kurzen Zeit schon richtig gute Freunde geworden. Sie hat eine schwere Zeit hinter sich und fängt quasi wieder bei null an.“, plappert sie weiter drauf los. Ich hör ihr schon gar nicht mehr richtig zu, ihre Erzählungen führen mir wieder einmal vor Augen, dass ich in wenigen Tagen auf der Straße sitze, wenn wir morgen keine geeignete Lösung finden.
„Hey Emi, du freust dich ja gar nicht.“, Ann stößt mich leicht an und ich komme wieder in die Realität zurück.
„Klar freu ich mich für dich.“, winke ich schnell ab und versuche mich an einem aufrichtigen Lächeln.
„Für mich? Du bist aber auch schwer von Begriff…“, sie seufzt tief, „… du wirst meine neue Mitbewohnerin. Vorausgesetzt du möchtest.“, erklärt sie verlegen und mir klappt der Mund auf. Ich brauche eine ganze Weil, bis das Gesagte in mein Gehirn vordringt. Ich soll zu Ann ziehen? Ich soll ihrer Mitbewohnerin werden? Das klingt super. Ich freu mich wirklich, aber schnell schieben sich negative Gedanken in meine Freude. Wie soll ich das bezahlen? Ann ist auf den Mietanteil angewiesen.
Wie soll ich, wenn ich sie den ganzen Tag um mich habe meine Gefühle verstecke? Wie lang kann ich das aushalten?
Ich starre sie einfach ungläubig an, während diese Gedanken sich in meinem Kopf überschlagen und ich fieberhaft nach einer Lösung suche.
„Aber… Wie?... Ich kann doch nicht…“, stottere ich vor mich hin, nicht im Stande einen anständigen Satz zu bilden.
„Kein aber. Na klar kannst du. Natürlich müssen wir das morgen noch mit Mike und dem Sozialarbeiter absprechen, aber ich hab alles schon geplant. Möbel brauchst du nicht, das Zimmer ist eingerichtet. Einen kleinen Job findest du bestimmt schnell und bis dahin kann ich noch auf die Miete verzichten. Wir alle werden dich unterstützen.
Wenn alles gut läuft wohnst du in 3 Tage bei mir. Ich hab dann ein paar Tage frei, bis du dich eingelebt hast. In der Zeit helfe ich dir auch eine Arbeitsstelle zu finden. Wie klingt das für dich?“, malt sie ihr Vorhaben in den buntesten Farben aus. Mir steht immer noch der Mund offen, wie hat sie das so schnell aus den Hut gezaubert? Denn eins hab ich gelernt in der letzten Zeit, Ann kann nicht lange etwas für sich behalten.
„Okay.“, sage ich langgezogen und hoffe einfach mal darauf, dass alles gut geht, denn eine andere Lösung habe ich auch nicht.
Beschwingt zieht mich Ann in ihre Arme und drückt sich fest an mich. Ich kann immer noch nicht reagieren. Habe ich grad wirklich zugestimmt zu ihr zu ziehen? Ist das wirklich richtig? Aber was wäre die Alternative?
Ich kann keinen Gedanken wirklich fassen, aber ein gutes hat es jetzt schon mal, es lenkt mich von meinem Gefühlschaos ab und lässt mir Zeit im Hintergrund meine Schutzmauer wieder aufzubauen.
Ann plappert immer weiter wie toll es werden wird und dass wir bestimmt eine lustige WG werden, aber ich höre ihr nicht richtig zu. Ich nicke nur ab und zu oder gebe ein als Zustimmung einzuschätzendes Brummen von mir.
Der restliche Tag vergeht wie im Flug, denn ich bin vollends damit beschäftigt meine Gefühle, Gedanken und meine Schutzmauer unter einen Hut zu bringen.
Nun liege ich mal wieder in meinem Bett und versuche nicht einzuschlafen. Ein paar Stunden geht es meistens gut, aber da mein Körper den Schlaf immer noch braucht, holt er ihn sich auch und ich verliere den Kampf jede Nacht.
Wann hören diese Alpträume endlich auf? Was haben sie zu bedeuten? War ich mit diesem Mann, der mich Nacht für Nacht verprügelt, zusammen? Habe ich ihn einmal geliebt? Wie sieht er aus? Denn das ist eine Sache, die sich mir immer noch entzieht. Ich kann mich an viele Details erinnern, aber sein Gesicht sehe ich nicht. Ist das alles wirklich passiert? Gibt es diesen Mann der mich verprügelt und vergewaltigt hat wirklich? Denn mein Gehirn hat mir auch vorgegaukelt, Julian hätte mich geschlagen. Was kann ich glauben?
Meine Gedanken verwirren mich. Und diese schemenhaften, unklaren, diffusen Hirngespinste soll ich jemanden erzählen? Frank würde mich doch sofort einweisen lassen. Auf die geschlossene Station, ohne Aussicht auf Entlassung.
Auch über meine Gedanken hinweg verliere ich irgendwann den Kampf gegen meine Müdigkeit, auch diese Nacht.
Ich muss hier weg, halte es bei IHM keinen Tag länger aus. Meine Hoffnung, ER könnte mich irgendwann von meinem Leid erlösen, trage ich nun schon drei Jahre mit mir. 4 Jahre bin ich schon bei IHM. Anfangs dachte ich wirklich ER liebt mich, aber wie so vieles in Bezug auf IHN, hat sich das als Trugschluss heraus gestellt. Kann man den Menschen, den man Tag für Tag quält, lieben? Kann man den Menschen lieben, der einem diese Qualen zufügt? Ich kann es nicht mehr. War es Liebe? Habe ich je Liebe für IHN empfunden? Ich kann es nicht sagen. Nicht mehr. Das einzige Gefühl, dass ich noch habe wenn ich IHN anschaue ist Abscheu. Abgrundtiefer Hass. Ich hasse IHN dafür, was ER mir tagtäglich antut. Ich hasse mich dafür, dass ich nicht stark genug bin mich gegen IHN zu wehren.
Endlich konnte ich alles an Mut zusammenkratzten, was der klägliche Rest meines Körpers noch zu geben hatte. Ich habe einen Plan. Einen Plan, der mich von IHM wegbringt. Seit 6 Monaten spare ich die wenigen Dollar- und Centbeträge, die von dem Geld, das ER mir zum Einkaufen gibt übrig bleiben. Knapp 46 Dollar konnte ich vor ihm verstecken.
Heute nun präpariere ich sein Essen mit Alkohol, geringe Mengen, aber der stärkste den man frei zu kaufen bekommt. Unter der guten Würze des Essens wird der Geschmack hoffentlich unter gehen.
Mein Plan steht. Ich bin entschlossen. So entschlossen wie nie zuvor.
ER kommt, ich höre SEINEN Schlüssel in der Tür. Showtime…
Panisch reise ich die Augen auf. Mein Puls und meine Atmung rasen, aber es ist ein bekanntes Gefühl, schon fast erforderlich mir bewusst zu machen, dass ich noch lebe. Das mein Herz noch schlägt, dass meine Lungen noch mit Luft gefüllt sind. Denn innerlich fühle ich mich leer, eine Folge meiner Schutzmauer, dass ich keine Gefühle an mich heranlasse. Aber was wäre die Alternative?
Heute habe ich nicht geschrien, sodass keiner meinen neuerlichen Alptraum bemerkt hat. Draußen bricht grade ein neuer Tag an und mal wieder frage ich mich, wie lang es noch so gehen wird. Wann hören diese Alpträume endlich auf? Warum quälen sie mich Nacht für Nacht?
Ich bin müde, weil mein Schlaf, wie immer in letzter Zeit, zu wenig und bei weitem nicht erholsam war. Diese Tatsachen sieht man mir auch deutlich an, als in den Badezimmerspiegel sehe, um mich fertig zu machen. Dunkle Augenringe werfen tiefe Schatten und werden durch einen blassen Teint verstärkt.
Ann hat ab heute zwei Wochen Urlaub, sodass mir eine andere Schwester mein Frühstück bringt.
Ich habe nicht wirklich Appetit und die wenigen Bisse liegen mir schwer im Magen. Ich fühle mich immer schlechter, bei den Gedanken den anderen weh zu tun. Vielleicht sollte ich einfach gehen und sie nicht noch mehr mit meinen Problemen belasten.
Der Gedanke verschiebt sich in den Hintergrund, als es an meiner Tür klopft und Mike seinen Kopf durch den Spalt steckt.
„Guten Morgen Emily. Darf ich rein kommen?“, fragt er freundlich und lächelt dabei so einnehmend, dass sich auch meine Mundwinkel leicht nach oben bewegen.
„Klar.“, antworte ich knapp und mein Plus steigt. Ich bin gespannt auf dieses Gespräch. Werde ich wirklich zu Ann ziehen können? Will ich das überhaupt? Ja. Im Moment schon, bis ich einen anderen Plan gefunden habe, wird das meine einzige Lösung sein.
Detektiv Atkins öffnet die Tür vollständig und deutet jemanden an mein Zimmer zu betreten. Mein Herzschlag beschleunigt sich noch mehr, als ich den fremden Mann sehe der flotten Schrittes mein Zimmer betritt. Mein Körper beginnt zu zittern und ich verkrampfe meine Hände in der Lehne des Sessels, auf dem ich sitze.
„Guten Tag Emily. Ich bin Sam Roden, der Sozialarbeiter der Stadt Bassett. Wir werden heute versuchen eine Lösung dafür zu finden, wie es nach ihrer Entlassung weiter geht.“, stellt sich mir der große, leicht übergewichtig, Mann mittleren Alters mit dem schütteren Haar vor und streckt mir seine Hand entgegen.
Meine Atmung geht stockend und wenn nicht bald etwas passiert, wird das hier in einer ausgewachsenen Panikattacke enden.
„Tag.“, kann ich mit größter Anstrengung hervorbringen und sehe panisch zu Mike. Er weiß doch von meiner Panik, hat sie doch selbst schon miterlebt.
Kurz schaut er mich verwirrt an, doch dann scheint ihm ein Licht aufzugehen, denn er schiebt Mr. Roden Richtung zweiten Sessel und bittet ihn höflich doch Platz zu nehmen. Etwas verdutzt lässt der Sozialarbeiter sich auf der Sitzgelegenheit nieder und die Panik rückt etwas in den Hintergrund. Doch ich bleibe angespannt, fast so als könnte jede Sekunde eine neue Panikattacke starten.
„Ich habe mir schon einiges überlegt, aber zuerst möchte ich von ihnen wissen, was sie sich vorgestellt haben.“, beginnt Mr. Roden und lehnt sich zu mir herüber, was meinen Herzschlag erneut beschleunigt. Er macht mir Angst, wie alle Männer, doch bei ihm scheint es noch etwas stärker zu sein. Warum? Ich kann es nicht sagen, ich weiß nur, dass mein Körper besonders stark auf ihn reagiert.
Krampfhaft damit beschäftigt meinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen, bin ich nicht in der Lage ihm zu antworten.
Einige Zeit vergeht und ich sehe, da ich Mr. Roden keine Sekunde aus den Augen lassen kann, dass er langsam aber sicher wütend wird.
„Emily sie sollten mit uns kooperieren, sonst können wir ihnen nicht helfen.“, sagt er und kann seinen scharfen Unterton nicht verbergen.
Wieder werfe ich einen hilfesuchenden Blick zu Mike, aber er erwidert ihn nur mitleidig und nimmt meine Hand in seine. Etwas beruhigt mich diese Geste zwar, aber sobald ich den Sozialarbeiter wieder ansehe beschleunigt sich meine Atmung und meine Muskeln zittern.
„Wenn ich erst einmal das Wort ergreifen darf?“, fragt Mike an Mr. Roden gewandt. Dieser nickt resignierend und lässt sich zurück in die Polster sinken.
„Wir haben leider immer noch keine Hinweise auf deine Herkunft. Keine Vermisstenmeldung passt mit dir überein. Wir haben auch international gefahndet, aber weder bist du als vermisst gemeldet noch von der Polizei gesucht.“, redet Mike sanft auf mich ein und versucht meine Aufmerksamkeit auf ihn zu fixieren. Das gelingt ihm allerdings nicht, da mein Blick immer noch an Mr. Roden klebt. Ich muss einfach jede seiner Bewegungen verfolgen, muss wissen was er macht.
Mein Körper möchte flüchten, einfach weg von diesem Mann. Doch das geht nicht und unter größter Anstrengung versucht mein Kopf meinem Körper davon zu überzeugen, dass ich diese Situation überstehen werde.
„Das ist nicht dein Ernst?“, höre ich vom Flur eine aufgebrachte Stimme und kann sie mit Julian in Verbindung bringen. Warum ist er denn schon wieder so sauer und auf wen?
„Was? Was willst du von mir? Ja, ich hab verschlafen. Ja, ich bin zu spät. Na und? Was willst du deswegen tun?“, kommt es ebenso lautstark von Ann. Anscheinend streiten sich die Zwei mal wieder und das direkt vor meiner Tür.
„Emily ist da drin mit zwei ihr fremden Männern. Du solltest dabei sein, du weißt ganz genau, wie sie auf Männer reagiert.
Ich dachte du wärst dabei, sonst hätte ich sie doch nie zu ihr rein gehen lassen.“, antwortet mein behandelnder Arzt wütend und ich kann dabei förmlich seine Gestik vor mir sehen. Anfangs schien er die Zähne aufeinandergebissen zu haben, um nicht noch mehr aus der Haut zu fahren, doch dann klang er etwas versöhnlicher und ist sich vermutlich durch die Haare gefahren.
„Es tut mir ja leid, aber so kann es doch nicht weitergehen. Es kann doch nicht ständig einer von uns bei ihr sein, wenn sie eventuell fremden Männern begegnen könnte.“, erwidert Ann resignierend, in normaler Lautstärke, sodass ich es kaum verstehen kann.
Während des Streites habe ich wie gebannt auf die Tür gestarrt, fast vergessen, dass dieser Mann in meinem Zimmer ist. Doch als er sich nur leicht nach vorne beugt, beschleunigt sich mein Herzschlag auf ein Neues und meine Fingerkuppen graben sich tief in das weiche Leder der Lehne.
„Emily…“, setzt Mr. Roden erneut an und beugt sich mir entgegen, wird aber von einem Klopfen unterbrochen.
Mein panischer Blick haftet wieder auf ihm, meine Atmung wird flach und ich spüre jeden meiner schnellen Herzschläge in meinen Schläfen. Ich kann nicht sehen wer das Zimmer betritt, hoffe aber, dass es Ann oder Julian ist, denn ich halte es keine Minute länger aus.
Augenscheinlich ist es wirklich Ann, da sie sich jetzt in mein Gesichtsfeld schiebt und Mr. Roden freundlich begrüßt und sich für ihre Verspätung entschuldigt.
Tränen der Erleichterung sammeln sich in meinen Augen und ich Atme tief aus. Etwas Entspannung stellt sich ein, aber allein die Anwesenheit des Sozialarbeiters belässt meinen Körper in Alarmbereitschaft.
Auch Mike begrüßt sie. Sie umarmen sich kurz und er drückt ihr einen kleinen Kuss auf die Wange, aber ich kann mich gar nicht darüber wunder, da ein großer gutaussehender Arzt meine Aufmerksamkeit fordert. Julian hockt vor meinem Sessel und sieht mich besorgt an. Ohne seinen forschenden Blick von meinem Gesicht zu lösen, tastet er nach meinem Puls, aber allein diese Berührung scheint ihn wieder schneller schlagen zu lassen.
Als er fertig ist, löst er meine verkrampften Hände von den Polstern und legt sie sanft in seine, bevor er aufsteht.
„Du bekommst das hier doch sicher alleine hin?“, fragt Julian mit einem scharfen Unterton und sein Kopf schnell dabei Richtung Ann.
Sie wirkt überrascht, was daran liegen könnte, dass ihre volle Aufmerksamkeit grade noch bei Mike lag, fängt sich aber schnell wieder und nickt ihm, mit einen meiner Meinung nach ironischen Grinsen, zu.
Ohne eine Verabschiedung zieht mich Julian schnellen Schrittes auf meinem Krankenzimmer hinaus auf den Flur. Nachdem er lautstark die Tür hinter uns zugeschlagen hat zerrt er mich vorbei an Schwestern, Ärzten und Patienten hinaus in den Park. Die Sonne blendet mich für einen Moment, doch Julian läuft unbeirrt weiter, sodass ich ins Stolpern gerate.
„Julian!“, rufe ich verzweifelt, um ihn auf meine Situation aufmerksam zu mache und wie aus einer Trance erwacht bleibt er einfach stehen und ich falle einfach auf ihn drauf.
Ich habe die Augen geschlossen und auf den Schmerz gewartet, doch er stellt sich einfach nicht ein, auch nach ein paar Sekunden kann ich nicht feststellen, dass mir etwas wehtut. Aber ich bin doch auf den Boden gefallen, oder?
Mit immer noch geschlossenen Augen ertaste ich den Untergrund. Warm und muskulös, auf keinen Fall der raue Kiesweg den ich erwartet habe.
Ein leises, schmerzvolles Stöhnen lässt mich nun doch die Augen öffnen und ich blicke direkt in ein Paar warme braune Gegenstücke.
„Julian.“, kann ich mich erschrocken sagen hören und versuche mich aufzusetzen, aber etwas hindert mich daran. Julian. Julians Arme umfassen mich wie Tentakeln und pressen mich fest an ihn.
„Emily.“, haucht er sanft und bringt damit das Kribbeln zurück in mein Inneres.
Nur zögerlich gibt er mich frei und wir setzten uns für einen Moment nebeneinander auf den kiesbedeckten Weg.
„Entschuldigung, ich wollte dich nicht umrennen.“, entschuldige ich mich verlegen.
„Nein, es war meine Schuld. Ich hätte dich nicht zu hinter mir her ziehen dürfen, aber ich war einfach so aufgebracht. Ann… ich… Es tut mir leid.“, erwidert er zerknirscht und fährt sich dabei, wie vorhin in meiner Fantasie, durch die Haare.
Wieder hält er mir seine Hand hin, nachdem der sich von dem unbequemen Boden erhoben und leicht den Staub von seinem Arztkittel geklopft hat.
Behutsam hilft er mir auf die Beine und wir schlendern eine Weile schweigend durch den Park. Gemächlich laufen wir Seite an Seite durch die geschwungen Wege und genießen die Natur.
Es ist sehr warm heute und die Sonne brennt auf uns herab. Wie schön würde es jetzt sein sich unter eine große Trauerweide zu setzen und auf den Teich zu sehen?
Ohne etwas zu sagen verlasse ich den vorgegebenen Weg und entferne mich somit auch von Julian. Der riesige Baum mit den bis auf den Boden reichenden Ästen ist mein Ziel. Er erscheint wie ein Kokon, mit dem geschlossenen Blättervorhang kann man sich regelrecht in eine andere Welt fliehen. Ich war einige Male hier in letzter Zeit, allein, habe nachgedacht, gezweifelt, überlegt.
Ich setzte mich einige Meter vom Ufer in das kühle Gras. Die langen Äste schaukeln gemütlich auf dem trägen Wasser hin und her und trotz des Schleiers aus Blättern und Zweigen kann man die Sonne auf dem Teich tanzen sehen.
„Du hattest wieder eine Panikattacke.“, höre ich Julian leise sagen und blicke auf. Er steht dicht bei mir und schaut traurig auf mich hinab. Ich nicke still und er setzt sich neben mich.
„Hättest du sie selber unter Kontrolle bringen können?“, fragt er und zupft dabei an dem Gras um ihn herum. Zurückversetzt in die Situation kann ich nur gedankenverloren den Kopf schütteln. Tränen fluten meine Augen, ich fühle mich immer noch genauso hilflos wie nach meinem Erwachen. Ich bin keinen Schritt weiter. Aber, Warum? Ich dachte ich habe es mittlerweile besser unter Kontrolle. Bei anderen Männern ist es auch so. Pflegern, Ärzten oder anderen Männern, denen ich im Krankenhausflur oder hier im Park begegne trete ich nicht so panisch gegenüber, wie Mr. Roden. Selbst als mich letzte Woche eine älterer Mann angesprochen hat, weil er die Chirurgie suchte, konnte ich die aufsteigende Panik gut zurückhalten und habe ihm freundlich den Weg gewiesen. Was ist an der Konstellation mit dem Sozialarbeiter anders? Warum kann ich bei ihm meine Panik nicht unterdrücken? Warum muss ich jeden Augenblick, den ich mit ihm in einem Raum verbringe, wissen was er macht? Warum bekomme ich Schweißausbrüche, allein bei dem Gedanken er könnte mich berühren?
Nachdenklich schniefe ich, als sich noch mehr salzige Tränen in meine Augen drängen.
Plötzlich legt sich eine Hand um meine Wange und zieht mich sanft in die Richtung ihres Besitzers. Julian schaut mir tief in die Augen und bei meinem nächsten Wimpernaufschlag lösen sich die Tränen, rinnen meine Wangen hinab.
Vorsichtig wischt Julian sie von meiner Wange, er bewegt sich langsam auf mich zu und ich starre ihn wie gebannt in die Augen. Das Kribbeln in meinen Magen nimmt mit jedem Zentimeter den er mir näher kommt noch mehr zu. Kurz bevor sich unsere Nasen berühren würden löst sich mein Blick unwillkürlich von seinen Augen und legt sich auf seine geschwungen vollen Lippen, die kurz darauf über meine streifen. Es ist nur ein Hauch einer Berührung, nur die Ahnung eines Geschmacks aber es löst in meinem Inneren ein Feuerwerk aus und treibt eine mir bisher unbekannte Hitze durch meinen Körper.
Nichtsdestotrotz fliesen meine Tränen unablässig und ich kann eine leichte Panik nicht leugnen. Immerhin ist er ein Mann und rein körperlich dazu fähig mir weh zu tun.
Ich bin hin und her gerissen zwischen meinen Gefühlen. Dieser Kuss ist das schönste, an das ich mich erinnern kann und etwas sagt mir, er ist auf jeden Fall auch in meinem gesamten Leben auf den vorderen Platzierungen der schönsten Momente. Aber die Angst, mir könnten körperliche oder seelische Schmerzen zugefügt werde, lässt mich in meiner Bewegung verharren, denn mittlerweile habe ich den Kuss erwidert.
Julian merkt mein Stocken und löst sich von mir. Lange betrachtet er mich, sucht in meinen Augen nach irgendetwas, sagt aber nichts.
Ein Gedanke schießt mir durch den Kopf, ich hatte ihn schon ein paar Mal in solchen Situationen, in denen mich Julian beinahe geküsst hätte. Warum? Warum will er mich küssen oder küsst er mich? Was fühlt er für mich? Ist er verliebt in mich? Wie fühlt sich sowas an? Liebe? Bin ich verliebt? Liebe ich Julian? Ich mag ihn das will ich gar nicht leugnen, aber ist das schon Liebe?
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen als Julian ansetzt, um etwas zu sagen.
„Emily, ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll…“, versucht er mir etwas zu erklären, wird aber durch eine Stimme, die ihn ruft, unterbrochen.
Als einen Augenblick später eine hektische Schwester sich einen Weg durch das Geäst zu uns bahnt, lässt er enttäuscht den Kopf sinken.
„Dr. Green ein Notfall!“, erläutert die junge Schwester ihr Erscheinen und bleibt abwartend stehen.
„Ich komme.“, antwortet der Arzt, ohne seinen Blick zu heben und ich meine etwas Verzweiflung aus seiner Stimmer heraus zu hören.
Die Schwester steht noch einen Moment unschlüssig herum, ehe ihr Julian einen bösen Blick zuwirft und sie hastig unsere abgeschirmte Zuflucht verlässt.
„Es tut mir leid.“, sagt er mit einem so entschuldigenden aber gleichzeitig auch verschmitzten Grinsen, dass auch meine Mundwinkel zucken und ich verlegen zu Boden schaue.
Julian hebt mein Kinn wieder an und drückt mir dann einen langen Kuss auf die Stirn, bevor er sich erhebt und diesen magischen Ort verlässt ohne mir erneut einen Blick zu schenken.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen, denn ich möchte Mr. Roden nicht noch einmal über den Weg laufen. Verträumt beobachte ich die leichten Wellen, die ans Ufer schwappen und leise plätschern. Meine Gedanken wandern einfach hin und her, ohne dass ich es steuere.
Werde ich ihnen irgendwann von meinen Träumen erzählen können? Werde ich irgendwann ehrlich zu ihnen sein können? Werde ich irgendwann meine Erinnerung zurückbekommen? Was passiert dann? Was passiert, wenn ich ihnen von meinen Träumen, meiner Angst erzähle? Wenn ich ehrlich, offen zu ihnen bin, wie sie zu mir? Wenn ich mich erinnern kann? Was hat meine Vergangenheit mit meinen Träumen zu tun? Habe ich früher so gelebt?
Meine Schutzmauer ist immer noch brüchig und hält wahrscheinlich nicht noch so einen Tag, wie gestern durch. Was wenn sie wieder, weiter fragen? Wenn ich noch nicht bereit bin ihnen alles zu sagen? Ich sollte von hier weg gehen, kein Risiko eingehen. Hier einfach alles hinter mir lassen und irgendwo neu anfangen. Aber habe ich das nicht schon einmal probiert und bin hier gelandet? Und jetzt? Sind meine Vorzeichen nicht noch schlechter? Ich habe weder Geld, noch sonderlich viel Kleidung, geschweigenden einen richtigen Plan oder ein Ziel.
Ich habe schlicht und ergreifend keine Ahnung wie es weiter gehen soll. Nur eins kann ich mit Sicherheit sagen, diese Situation halte ich nicht mehr lange aus. Denn ob ich will oder nicht Ann und Julian stehen mir einfach schon viel zu nahe, als das ich ihnen lange meine Gefühle verbergen könnte.
Ich merke, dass ich so nicht weiterkomme. Ich bin in einer Sackgasse angekommen und finde keinen Weg hinaus.
Mit dieser Erkenntnis raffe ich mich auf und verlass meine Zuflucht. Immer noch meinen Gedanken nachhängend schlendere ich zurück zu meinem Zimmer.
In der Erwartung ein leeres Zimmer vor zu finden betrete ich den Raum und merke im ersten Moment gar nicht, dass ich nicht alleine bin. Erst als ich ein Schmatzen aus Richtung der Sitzgruppe höre erstarre ich in meiner Bewegung und kann einen Augenblick nicht glauben was ich sehe. Ann sitzt neben Mike auf dem Sofa, genauso wie in dem Moment als ich das Zimmer verlassen habe, aber da haben sie sich noch nicht gegenseitig die Zunge in den Hals gesteckt. Völlig versunken in ihren Kuss bekommen sie nicht mit wie ich sie anstarre. Was hab ich denn verpasst? Ich dacht sie haben sich erst vor 4 Wochen, als Mike mich verhört hat, kennengelernt. Ich bin verwirrt, kann mich aber schnell wieder fassen, denn die Zwei sind einfach ein süßes Paar.
Als sie mich nach ein paar Minuten immer noch nicht bemerkt haben räuspere ich mich leicht und setzte dann eine kleine Stichelei an.
„Ein Zimmer scheint ihr ja gefunden zu haben, aber eigentlich dachte ich es wäre meins.“, erkläre ich sachlich, kann mir aber bei dem erschrockenen Gesicht von Ann ein Grinsen nicht verkneifen.
Sie brauchen einen Moment um alles zu realisieren, haut aber dann Mike vorwurfsvoll aufs Knie und funkelt ihn böse an.
„Ich hab gesagt, wir sollten das hier nicht machen und sie könnte jeden Moment wieder kommen.“, zischt sie ihn verlegen an und wendet sich dann mir zu.
„Emily es tut mir leid. Ich wollte es dir sagen, aber…“, bricht sie ab und lässt die Schultern sinken.
„Was aber? Es ist dein Leben, damit hab ich nicht viel zu tun. Du bist erwachsen und kannst machen was du willst, allerdings muss ich sagen, dass es mir gefällt.
Werde glücklich. Und bei dem was ich über Greg weiß ist Mike allemal besser.“, zwinkere ich ihr zu und erleichternd ausatmend steht sie auf und nimmt mich in den Arm.
„Und es stört dich auch nicht, wenn er häufiger bei uns ist? Ich meine wegen deiner Angst.“, flüstert sie mir leise ins Ohr und sieht mich dann besorgt an.
„Nein, ich mag ihn.“, vehement schüttle ich den Kopf und schenke Mike ein breites Lächeln, da ich weiß er hat mich gehört. Er erwidert es strahlend, steht dann auf und schlingt einen Arm um Anns Taille.
„Wir sehen uns morgen.“, verabschiedet er sich in die Runde und drückt der Krankenschwester noch einen Kuss auf, ehe er geht.
„Was heißt hier eigentlich bei uns? Darf ich offiziell bei dir wohnen?“, frage ich verblüfft, als ich mir das Gespräch nochmal durch den Kopf gehen lasse. Gut es ist schon ein paar Minuten her und wir haben uns schon gemeinsam auf die Couch gesetzt und ich bin grade fertig mein Mittag zu vertilgen, aber dieses kleine Pronomen fällt mir jetzt erst auf.
„Na klar! Entschuldigung ich war wohl etwas abgelenkt, aber ja, Mr. Roden hat nichts dagegen.
Du bekommst vom Staat ein kleines Startgeld und dann hoffen wir, dass du schnell eine Arbeit findest.“, gibt sie etwas beschämt zu, aber ich winke schnell ab, weil ich die beiden wirklich süß finde.
„Morgen kommst du endlich hier raus und dein neues Leben startet. Mike und Julian kommen zum Abendessen, vielleicht können wir ausprobieren, ob du kochen kannst.“, plappert Ann dann auch gleich weiter und verfällt in ihre alten Gewohnheiten.
Erst kurz vor dem Abendessen verabschiedet Ann sich und ich bleibe allein zurück.
Diese Nacht habe ich keinen Alptraum, dennoch wälze ich mich im Bett hin und her, weil ich nur wirres Zeug träume. Es sind immer nur kurze Sequenzen ohne Zusammenhang.
Ich, wie ich immer gefühlskälter werde. Ann, die vor Verzweiflung weint. Julian, der sich ratlos die Haare rauft. Ich, wie ich Julian von mir stoße. Ich wie ich weinend zusammenbreche. Julian und Ann, die mich anflehen. Frank, der einfach nicht mehr weiter weiß. Ich, die alles hinter sich lässt und geht. Ich, die alleine auf der Straße sitzt. Ich, die oben auf einer Brücke steht.
Dieses Bild lässt mich aufwachen und ich frage mich, ob es wieder soweit kommt. Muss ich erst wieder an diesen Punkt kommen? Reicht es nicht, dass ich schon einmal so weit war? Wie kann ich es ändern?
Die fast vor Fröhlichkeit hüpfende Ann lenkt mich von meinen Gedanken ab und ihre heitere, offene und etwas verrückt Art bringt mich des Öfteren zum Schmunzeln.
Die letzte Chefarztvisite war so schnell vorbei, dass ich Prof. Burk gar nicht richtig gesehen habe, aber es stört mich nicht. Im Gegenteil, ich danke Ann dafür, dass sie ihn scheinbar vergrault hat.
Frank, Clear und Julian sind ebenfalls zu meiner Verabschiedung gekommen und nun stehe ich ihnen Gegenüber und kämpf mit meinen Gefühlen. Sie haben so viel für mich getan, aber ich schaffe es meine Empfindungen hinter die Schutzmauer zu verbannen und meine Physiotherapeutin in den Arm zu nehmen.
„Pass auf dich auf Kindchen.“, flüstert sie mir wie immer mütterlich zu und packt mich noch etwas fester.
„Das werde ich.“, verspreche ich ihr halbherzig, da meine Schutzmauer schon wieder bedenklich wackelt.
Auch Frank nimmt mich in seine drahtigen Arme, entlässt mich aber schnell wieder, um mir eindringlich in die Augen zu sehen, seine Hände liegen dabei fest auf meinen Schultern und unwillkürlich muss ich schwer Schlucken. Was kommt den jetzt? Bringt er meine Schutzmauer endgültig zum Einsturz?
„Wir sehen uns, wie besprochen, zwei Mal wöchentlich. Und, Emily, ich hoffe du vertraust mir irgendwann, denn ohne Vertrauen ist meine Arbeit sinnlos.“, sagt er fest und ich spüre das Kribbeln in meiner Nase, welches mich unmissverständlich darauf hinweist, dass sich meine Augen gleich mit Tränen füllen werden. Doch in der nächsten Sekunde habe ich mich auch schon wieder gefasst und blinzle schnell um alle überschüssige Flüssigkeit aus meinen Augen zu entfernen. Es hat nichts mit Vertrauen zu tun, ich würde ihnen allen auf der Stelle mein Leben anvertrauen, aber ich kann es ihnen einfach nicht sagen.
Ich nicke nur knapp, da ich nicht weiß wie fest meine Stimme im Moment ist und ob sie meinen kleinen Ausbruch verraten würde.
Nun ist es Julian der mich fest in seine Arme zieht und das bekannte Kribbeln flutet meinen Körper. Es reicht von der kleinen Zehe bis in die letzte Haarwurzelspitze und der warme Schauer lässt mich erschaudern.
Ich genieße diese Umarmung, lehne meinen Kopf gegen seine Schulter und schließe die Augen. Möchte, dass die Zeit stehen bleibt, dass dieser Moment nie vergeht. Ich habe das Gefühl, dies ist der einzig sichere Ort auf der Welt, in Julians Armen.
Trotzdem, irgendetwas scheint Julian in die Realität zurück zu bringen, denn viel zu schnell löst er sich wieder von mir. Als ich mich umsehe erkenne ich auch den Grund dafür, denn Ann scheint Blitze aus ihren Augen auf ihn zu schießen.
„Wir sehen uns heute Abend.“, haucht er mir ins Ohr und drückt mir dann einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor er ohne weiteres den Raum verlässt. Unterdessen quält mich eine Gänsehaut, die sein warmer Atem ausgelöst hat und mein Gesicht glüht förmlich vor Scham.
Doch ich kann diesen Augenblick gar nicht schnell genug erfassen, denn Ann schnappt sich meine gepackte Tasche vom Bett, harkt mich unter und verlässt ebenso mein ehemaliges Krankenzimmer.
Sie zerrt mich regelrecht hinter sich her und ich beginne mich zu fragen, warum sie auf die, wie auch immer geartete Beziehung, zwischen mir und Julian so reagier. Was stört sie daran? Will sie mich vor ihm beschützen, oder anders herum? Hat sie allgemein etwas gegen diese Verbindung, oder stört es sie, dass ich mich in ihre Freundschaft dränge? Aber das will ich gar nicht. Ein weiteres pro auf der Liste zu gehen. Ja, mittlerweile habe ich mir eine pro und kontra List erstellt, im Moment überwiegen aber die Gegenpunkte zu einer Flucht und ich glaube mit jeden Tag den ich hier mehr verbringe neigt sich die Waage mehr in Richtung bleiben. Dies bringt aber wieder meine Schutzmauer ins Wanken.
Ich werde abrupt aus meinen Gedanken gerissen, als mich Ann ziemlich unsanft auf den Beifahrersitz ihres Autos drückt.
„Aua!“, bringe ich erschrocken hervor und reibe mir meinen Oberarm.
„Sorry, aber da du in deiner eigenen Welt versunken warst und auf mein Bitten nicht reagiert hast, sah ich keine andere Lösung.“, gibt Ann achselzuckend zurück und setzt sich selbst hinter das Steuer.
Wir halten unterwegs an einem Supermarkt und ich darf entscheiden was wir kochen. Ich hab sehr starke Déjà-vu-Momente, Kopfschmerzen setzten ein und ein leichter Schwindel überkommt mich, aber ich kralle mich am Wagen fest und überspiele die Situation. Gemeinsam entscheiden wir uns schließlich für bunten Gemüsereis mit Hähnchen und kaufen alles Nötige.
Immer wieder überkommt mich dieses eigenartige Gefühl, dass alles schon mal gemacht, gesehen oder erlebt zu haben. Aber es bleibt bei dem Gefühl, keine Bilder blitzen vor mir auf oder Erinnerungen prasseln auf mich ein. Nichts. Mein Kopf bleibt leer. Mein bisheriges Leben bleibt mir weiterhin verschlossen.
Durch meine körperlichen Beschwerden und die mentale Leere, welche mir neuerlich vor Augen geführt wird, sinkt meine Laune rapide ab und ich kann nicht mal mehr ein Lächeln für die noch immer quirlige Ann auf meine Lippen bringen.
Irgendwann scheint auch Ann meine Gemütsverfassung zu registrieren, denn sie hört auf zu plappern und beobachtet mich mit Argusaugen. Zu meiner großen Verblüffung sagt sie aber nichts, stellt keine Fragen, wie es mir geht oder was mit mir los ist.
So betreten wir wenig später ihre Wohnung und ich schaue mich etwas um, nachdem sie mir wortlos, aber unverhohlen traurig das Gästezimmer gezeigt hat.
Die Wohnung ist recht klein, drei Zimmer Küche und Bad, aber sehr gemütlich. Ich fühle mich sofort aufgenommen und heimelig, was meine Laune etwas steigen lässt.
Im Bad entdecke ich eine Badewanne und komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Wie lange war ich nicht mehr in einer Badewanne? Die Frage erübrigt sich, da ich mich an nichts erinnern kann, aber ich kann förmlich das Wasser spüren, welches mich umgibt wenn ich mich in sie hineinsetzte.
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr und einer Absprache mit Ann, welche sie mit einem zufriedenen Grinsen hinnimmt, gleite ich auch schon in die wohltuende Wärme, des meinen Körper umschließenden Wassers. Sofort fühle ich mich wie ein kleines Kind und bemerke, dass ich wohl auch in den letzten Jahren meines Lebens nicht in den Genuss einer Badewanne gekommen bin.
Ich lasse mich gänzlich hinab rutschen, sodass nur noch mein Kopf aus dem Wasser ragt und schließe seufzend die Augen. All meine Probleme und Ängste scheinen auf einmal so weit weg, als könnten sie nicht die Wasseroberfläche durchbrechen und an mich herankommen.
Doch auch dieses Gefühl vergeht irgendwann und was zurückbleibt ist Kälte. Mir ist kalt und das liegt nicht nur an dem längst abgekühlten Wasser. Allein der Gedanke daran, dass ich keinen Plan habe wie es weiter gehen soll, treibt mir Eisschauer über den Rücken. So schnell mein Hochgefühl gekommen ist, so schnell verlässt es mich auch wieder und ich muss resignierend feststellen, dass es eine Sehnsucht hinterlässt, die ich vorher nicht gespürt habe. Sehnsucht nach etwas beständigen in meinem Leben. Sehnsucht nach einer Lösung für meine Probleme. Sehnsucht nach Menschen, denen ich vertrauen kann. Sehnsucht nach Liebe.
Langsam steige ich aus der Wanne und betrachte meinen Körper im Spiegel. Wird mir dieser Anblick irgendwann sagen, wer die Frau hinter diesen Augen ist? Werde ich je wissen, wer ich mal war? Werde ich irgendwann im Spiegel nicht mehr diese fremde Frau sehen?
Ich verschiebe diese Fragen in den Hintergrund und betrachte meinen Körper genauer. Er ist übersät mit zahlreichen Narben, doch nur zwei davon rühren von meinem ‘Unfall‘ her. Gedankenverloren streiche ich über einige von ihnen und betaste einzelne schlecht zusammengeheilte Stellen, die jetzt leicht wulstig sind.
Erst ein Klopfen bringt mich in die Realität zurück, in der ich mit einer Gänsehaut durch die Kälte, blass vor einem Spiegel stehe.
„Emily? Alles gut bei dir? Wir sollten mit dem Essen anfangen, Mike und Julian kommen in einer halben Stunde.“, höre ich durch die Tür, Ann fragen.
„Ja, alles gut. Ich komme sofort.“, gebe ich überrumpelt zurück und beeile mich in die bereit liegenden Sachen zu schlüpfen.
Als ich aus der Tür trete, steht Ann noch immer davor und betrachtet mich mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ich schiebe mich schnell an ihr vorbei und suche mir geschäftig in der Küche die Sachen zusammen, die ich denke zu brauchen. Ich spüre wie Anns Blick auf mir liegt und als ich kurz zu ihr schaue bestätigt sich mein Verdacht. Sie steht mit verschränkten Armen im Rahmen der Küchentür und beobachtet mich genau, doch ich vertiefe mich weiter in die Zubereitung des Essens und versuche sie so gut wie möglich zu ignorieren.
Irgendwann gibt sie ein Schnaufen von sich, stößt sich von der Tür ab und murmelt etwas wie ‘ich kann sie nicht zum reden zwingen‘ und hilft mir beim Kochen.
Ann scheint nicht sonderlich viel oder gern zu kochen, denn schon am Gemüseschnippeln scheitert sie und überlässt mir den Herd, während sie den Tisch vorbereitet.
Ich finde mich erstaunlich gut zurecht, rein intuitiv würze ich das Essen und denke gar nicht wirklich über meine Handgriffe nach.
Meine Laune steigert sich von Minute zu Minute, da ich richtig Spaß am Kochen habe. Es fällt mir leicht und ich kann abschalten. Meine Gedanken, Zweifel und Problem lassen sich besser verdrängen, als durch mein Bad. Irgendwann fange ich sogar leise an zu summen, weil ich mich so gut fühle, so entspannt habe ich mich seit meinem Erwachen nicht gefühlt. Wahnsinn, was in den letzten 5 Wochen alles passiert ist.
Meine nahezu freudige Stimmung wird abrupt durch ein Klingeln gestört. Unwillkürlich beschleunigt sich mein Herzschlag und meine Hände beginnen zu zittern, wie üblich bei meinen Panikattacken. Aber wieso bekomme ich eine? Ich weiß doch, dass es nur Julian und Mike sind, vor ihnen habe ich doch keine Angst.
Bilder schießen mir durch den Kopf. Ich habe davon geträumt. Ich stand am Herd und nur wenige Minuten später lag ich gefesselt auf einem Bett, wurde gefoltert, vergewaltigt.
Mein Puls beschleunigt sich, bei dieser Erinnerung weiter und mein Atem wird hektischer, flacher. Ich lassen den Kochlöffel sinken und versuche mich mühsam an der Arbeitsplatte festzuhalten, da meine Beine drohen unter meinem Zittern nachzugeben.
Das Ann im Flur ihre Gäste mit einem lauten ‘Hallo‘ begrüßt bekomme ich nur am Rande mit, denn mein Blut rauscht mir so laut in den Ohren, dass ich nicht viel anderes höre.
Weiter Bilder, des Traumes, prasseln auf mich ein. Eine glänzende Schere, die mir Schnitte zufügt. Ein Mann der mich von einem Sessel aus beobachtet. Fesseln, die sich schmerzhaft in das Fleisch an meinen Gelenken graben.
Ich gehe in die Knie, da meine verzweifelten Versuche diese Panikattacke zu unterdrücken, nicht erfolgreich sind und sich schon schwarze Punkte vor meinen Augen ausbreiten. Meine Atmung wird immer hektischer, da ich das Gefühl habe, dass ich einfach nicht genügend Sauerstoff in meine Lungen bringen kann.
„Emily!“, höre ich jemanden panisch rufen, doch ich kann nicht reagieren.
Mein Körper hat keine Kraft mehr, alles scheint auf einmal wie verpufft und so lasse ich mich kraftlos zu Seite fallen. Doch ehe ich die kalten Fliesen unter mir spüre, haben mich zwei Arme fest gepackt und heben mich hoch. Ich werde getragen, kurz, bis sich die Person mit mir offenbar auf die Couch setzt.
„Emily, beruhige dich. Alles ist gut. Niemand tut dir etwas. Ich bin bei dir.“, redet jemand leise auf mich ein und nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich immer noch gegen meine Panik kämpfe, erkenne ich Julians Stimme. Schlagartig setzt das Kribbeln ein und meine Angst ebbt etwas ab.
Sofort, als ich meinen Körper wieder ausreichend unter Kontrolle habe, schießen mir die Tränen in die Augen. Eine solch heftige Panikattacke hatte ich schon lange nicht mehr und eigentlich dachte ich, dass ich diese Heftigkeit hinter mir gelassen habe, aber anscheinend ist dem nicht so. Wie kann allein die Erinnerung an einen Traum mich so fertig machen?
Leise weine ich an Julian Schulter, während er mir immer wieder kleine Küsse auf die Stirn drückt.
Irgendwann schaffe ich es mich ganz zu beruhigen und erst dann schaue ich auf in seine liebevollen, forschenden braunen Augen.
„Danke.“, schniefe ich und wische mir die letzten Tränen von der Wange. Ich versuche mich aus seiner Umarmung, die mich auf seinem Schoß hält, zu entwinden, denn wenn ich ihn noch länger ansehe stürzt meine Mauer ein, sie ist jetzt schon wieder sehr ramponiert und ich kann nicht zulassen, dass sie zusammenfällt. Doch Julian entlässt mich nicht aus seiner Umarmung und als ich mich immer mehr winde nimmt sie fast schraubstockartige Maße an. Ich ergebe mich meinem Schicksal und lasse mich von ihm nachdenklich beobachten, doch ich weiche seinem Blick aus, sodass er nach ein paar Minuten aufgibt.
Als Julian mich nun doch frei gibt beschließe ich den Abend so gut wie möglich hinter mich zubringen und mich in den nächsten Tagen gänzlich darauf zu beschränken meine Schutzmauer weiter auszubauen.
Auf immer noch wackligen Beinen gehe ich zurück in die Küche und stelle erstaunt fest, dass weniger Zeit vergangen ist als ich gedacht habe.
Dem Essen hat dieser kleine Zwischenfall nicht geschadet, denn auch wenn Ann augenscheinlich nicht kochen kann, warmhalten kann sie auf jeden Fall.
Mike und Ann werfen mir ähnlich nachdenkliche Blicke zu wie Julian, aber ich ignoriere sie einfach, als ich das Essen auf den gedeckten Tisch stelle.
Ich setzte mich Ann gegenüber und schenke ihrem weiterhin bittenden Augenpaar keine Beachtung. Als sich keiner regt und Julian noch immer nicht wieder aus dem Wohnzimmer aufgetaucht ist, tue ich mir einfach eine Portion auf den Teller. Doch ich hadere noch mit mir, denn es ist mir durchaus bewusst, dass es unhöflich ist einfach mit dem Essen zu beginnen, grade wenn man Gäste hat.
Noch mit meinem Anstand kämpfend steht plötzlich Julian in der Küchentür und betrachtet einen Augenblick die Runde, ehe er sich setzt und ebenfalls seinen Teller mit Essen füllt. Sich sichtbar überwindend tuen ihm es Ann und Mike nach und wir beginnen schweigend zu essen.
Viel habe ich noch nicht gegessen, als sich ein Knoten in meinem Magen zu bilden scheint, der jede weitere Nahrungsaufnahme unmöglich macht. Ein Gefühl steigt in mir hoch, dass ich so nicht kenne. Wut. Ich bin wütenden auf die anwesenden Personen, darauf, dass sie mich immer so mitleidig anschauen. Darauf das ihre Blicke sagen ‘sie muss reden sonst dreht sie noch durch‘. Ich bin wütend darauf, dass sie mich nicht einfach in Ruhe lassen, dass sie es schaffen allein mit ihren Blicken und Fragen meine Schutzmauer in einen Schweizer Käse zu verwandeln. Aber ich bin auch auf mich wütend. Wütend darauf, dass ich mich nicht besser unter Kontrolle habe, dass ich bei jedem kleinen bisschen in Panik verfalle.
Ich versuche den Knoten mit etwas Wein hinunter zu spülen und bin erstaunt wie sich eine mollige Wärme in mir ausbreitet.
Als ich einen Blick in die Runde wage stelle ich fest, dass alle mit einem genussvollen Lächeln und im zügigen Tempo ihre Teller leeren.
„Das ist echt lecker. Du kannst wirklich gut kochen.“, bricht Mike die eingekehrte Stille mit vollem Mund und angelt sich im nächsten Moment den Löffel, um sich erneut aufzutun. Dabei hat er Glück, denn nur eine Sekunde später hat Julian den gleichen Impuls und greift nach der Kelle.
Ann beginnt zu schmunzeln und ich merke wie auch meine Mundwinkel zucken. Die benehmen sich wirklich, wie die wilden Tiere.
„Lass mir aber auch noch was übrig!“, fordert Julian und wirft einen misstrauischen Blick in den Topf, worauf hin Ann lautstark losprustet.
Es erscheint wie ein stillschweigendes Abkommen, den Vorfall zu vergessen und die Stimmung löst sich etwas, auch wenn ich nur mit aufgesetzter Freude an dem entstandenen Gespräch teilnehme.
Nachdem alle Töpfe geleert sind erklären Ann und Julian sich bereit den Abwasch zu übernehmen, während ich und Mike die Gläser und den Wein ins Wohnzimmer tragen, sodass wir es uns hier gemütlich machen können.
Ich setzte mich auf eine der beiden Zweiersofas und Mike sich auf das andere. Ich spüre, dass auch ihm einige Fragen auf der Zunge liegen, aber ich bemühe wieder mein Ignorazionstaktik und er scheint dies zu respektieren. Stille entsteht, die Mike wohl nicht sehr angenehm ist, da er nervös auf seinem Platz hin und her rutscht bevor er sich auf Toilette entschuldigt.
Nur noch das Ticken der Wanduhr und das Klappern der Teller aus der Küche sind zu hören. Ich drehe das Weinglas in meinen Händen und nehme einen tiefen Schluck, als ich nun auch Stimmen aus der Küche höre.
„Julian, ich weiß, wir hatten dieses Gespräch schon einmal, aber was wird das zwischen dir und Emily? Ich kann mir das einfach nicht mehr stillschweigend ansehen.“, geht Ann Julian gereizt an.
„Ja, dieses Gespräch hatten wir schon und ich kann mich erinnern, dass ich dir gesagt habe dass es dich nichts angeht.“, gibt Julian mal wieder mit zusammengepressten Zähnen zurück.
„Es geht mich sehr wohl etwas an.“, braust sich die Krankenschwester laut auf, um danach sehr leise weiter zu sprechen.
„Julian, siehst du nicht wie kaputt sie ist? Glaubst du wirklich du kannst den Retter in der glänzenden Rüstung spielen? Du? Der eigentlich größte Playboy im ganzen Bundesstaat? Und was ist, wenn sie sich irgendwann erinnert? Wenn sie deine angeblichen Gefühle gar nicht erwidert? Sie hat so viele Probleme mit ihrer Vergangenheit, ihren Gefühlen, wie kann sie sich da in jemanden verlieben? In dich verlieben?
Das alles kann doch nur in einer Katastrophe enden. Soll ich mich irgendwann zwischen euch entscheiden müssen? Willst du mich wirklich vor die Wahl stellen?“, ich höre wie Ann leise beginnt zu weinen.
„Puuhhh.“, sie scheint tief durchzuatmen, um sich zu sammeln.
„Eine Frage habe ich. Nur eine die du mir wirklich beantworten musst. Was fühlst du für sie? Liebe? Oder, ist es nur der Reiz des Unbekannten? Wirst du mit ihr spielen?“, endet Ann ihren Vortrag, wobei ich nicht herausfinden konnte, ob sie mich oder Julian schützen will.
Ich kann Julians Antwort leider nicht verstehen, da im Bad grade die Spülung betätigt wird. Beunruhigt, weil sich die Zwei schon wieder wegen mir streiten, kippe ich den restlichen Inhalt meines Weinglases hinunter und schenke mir neu ein.
Wenige Momente später sitzen wir alle auf den Sofas und nippen an unsern Gläsern. Ann sieht man deutlich an, dass sie grade noch geweint hat und auch wenn ich nicht weiß wie viel Mike von dem Streit in der Küche mitbekommen hat, tröstet er sie liebevoll. Julian sitzt neben mir, doch unter den warnenden Blicken, die ihm Ann zuwirft, mit gehörigen Sicherheitsabstand.
Wieder ist Stille eingekehrt, diesmal ist sie auch mir unbehaglich, weil sie beweist, dass jeder die Auseinandersetzung in der Küche mitbekommen hat. Ich halte mich an meinem Wein fest und leere ihn erneut.
Als mir Julian grade nachschenken will, erhebt Ann die Stimme.
„Wir wissen nicht wie viel sie verträgt. Sie sollte nicht so viel trinken.“, geht sie Julian zickig an.
„Du kannst sie ruhig Emily nennen, immerhin ist sie im selben Raum falls es dir aufgefallen ist.“, äfft er Ann nach.
„Emily ist erwachsen und trinkt zwei Gläser Wein, ich pass schon auf, dass sie keine Alkoholikerin wird.", spöttelt er weiter.
Ich will diesem Zwist entkommen, in dem ich das Hauptobjekt darstelle und versuche aufzustehen doch Julian hindert mich daran. Er hält mich am Arm zurück und liefert sich mit Ann ein erbittertes Blickduell. Scheinbar gewinnt Julian den Kampf, denn Ann lässt sich irgendwann resignierend zurücksinken.
Die Krankenschwester findet sich schnell mit der Situation ab und beginnt sich leise mit Mike zu unterhalten während sie sich immer wieder küssen und streicheln.
Der Arzt gibt ein Schnaufen von sich und lenkt so meine Aufmerksamkeit auf sich. Nachdem er sich dieser sicher ist, hebt er mir fragend die Weinflasche entgegen und ich halte ihm wortlos mein Glas hin.
Ich blicke mich immer noch verwirrt im Raum um, als Julian beginnt von sich zu erzählen. Er berichtet wie er aufgewachsen ist, von seinem Studium, von der schweren Zeit, als seine Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen und er dennoch weiter studiert hat. Er beichtet mir, dass er ein sehr beliebter Junggeselle hier in der Gegend ist und er auch in bestimmten Kreisen als Playboy gilt. Dabei wirft er Ann einen Blick zu, welche diesen aber gar nicht bemerkt. Weiter erklärt er, dass er seit einer geraumen Weile keine weiblichen Bekanntschaften mehr pflegte. Dieser Satz bringt mein Herz aus dem Takt und das Kribbeln nimmt deutlich zu. Ich beiße mir auf der Unterlippe herum, um mir die Frage nach dem Warum zu verkneifen. Es liegt mit Sicherheit nicht an mir.
Immer weitere Geschichten erzählt er von sich und seiner Vergangenheit. Manche lustig, sodass selbst ich mir ein Lachen nicht verkneifen kann. Manche tief traurig, dass ich mit den Tränen kämpfe, besonders wenn er von seinen Eltern erzählt. Aber auch seine Erzählungen über sein Verhältnis zu Ann sind bewegend. Ich spüre, dass sie ihm wichtig ist, so wichtig wie eine Schwester.
Was ein Wortwitz. Unvermittelt beginne ich zu kichern und nicht nur das es wird ein richtig schallendes Lachen, sodass ich bald die gesamte Aufmerksamkeit auf mir habe.
Als ich mich langsam beruhige bemerke ich den bösen Blick von Ann, doch er gilt nicht mir, sondern Julian. Aber warum ist sie jetzt schon wieder sauer auf ihn? Ich versuche die Situation zu analysieren, was sich als schwieriger erweist als angenommen, da mein Kopf reichlich benebelt ist.
Also zu den Fakten. Ich sitze immer noch mit Julian auf der Couch. Er ist näher heran gerückt und hat seinen Arm auf der Lehnen hinter meinem Rücken ausgestreckt. Ich liege mit meinem Kopf an seiner Schulter und kuschle mich sogar etwas an ihn. Mist! Wie ist das den passiert?
So schnell wie möglich muss ich dieser Situation entkommen, spuckt mein angetrunkenes Hirn aus.
Abrupt stehe ich auf, doch jetzt zeigt sich, dass ich scheinbar nicht nur angetrunken bin, denn plötzlich dreht sich die Welt und ich suche wild fuchtelnd nach Halt. Nach einem gefluchten ‘Oh Mist‘ aus Julians Richtung befinde ich mich auch schon wieder in seinen Armen. Er hebt mich hoch und lässt Ann und Mike wissen, dass er mich ins Bett bringt.
Seine plötzliche Nähe lässt die Schmetterlinge in meinem Magen wieder wilde Tänze vollführen, doch im Flur bemerke ich, dass es sich wohl nicht nur um Schmetterlinge handelt.
„Bad… Schnell.“, kann ich noch hervorbringen ehe ich mir die Hand vor den Mund halten muss.
Blitzschnell reagiert Julian und so schaffe ich es mich in die Toilette zu übergeben und nicht noch eine riesige Sauerei zu verursachen. Liebevoll hält Julian mein Haar und streicht mir über den Rücken, doch seine Gesten wirken weniger gefühlvoll wenn man sein Zetern vernimmt. Von ‘Verdammt, Ann hatte Recht‘ bis ‘ Ich bin so ein verdammter Idiot‘ ist alles dabei, doch es tangiert mich nicht. Ich spüre nur seine warmen Berührungen und merke, wie die Übelkeit abebbt.
Als sie gänzlich verschwunden ist lasse ich meinen Kopf müde auf die Klobrille sinken und atme tief durch. Sekunden später hebt Julian mich erneut in seine Arme und legt mich behutsam auf mein neues Bett, nachdem er mich in mein Zimmer getragen hat.
Ich habe die Augen geschlossen und bin schon fast eingeschlafen, doch ich spüre immer noch seinen Blick auf mir. Er scheint unentschlossen.
„Darf ich dich ausziehen? Nur die Hose und die Schuhe.“, fragt er mit etwas Angst in der Stimme und wenn ich meine Augen öffnen könnte, würde ich bestimmt eine gewisse Röte auf seinen Wangen erkennen. Doch ich bin viel zu Müde und so nicke ich nur schwach und bin im nächsten Augenblick auch schon eingeschlafen.
Oooohhh! Kann nicht einer das Licht ausstellen? Warum ist es denn hier nur so hell? Igitt! Was ist denn passiert, dass ich diesen ekelhaften Geschmack im Mund habe? Aua! Warum dröhnt denn mein Kopf so?
Ich ermahne mich selbst zur Ruhe und versuche erst einmal die Fakten zu ermitteln. Ich liege in einem Bett, aber es ich nicht das Krankenhausbett, an das ich mich erinnere. Nein, es ist mein neues Bett in Anns Wohnung. Oh Mist, langsam erinnere ich mich wieder an gestern Abend und ich wünsche mir sofort die Erinnerung wieder löschen zu können.
Habe ich wirklich in Julians Armen auf der Couch gelegen? Musste er mich wirklich tragen? Habe ich wirklich so viel Wein getrunken, dass ich mich übergeben habe? Was war dann? Julian hat mich ins Bett gebracht, aber er hat mich doch auch noch etwas gefragt? Oh nein! Er hat gefragt, ob er mich ausziehen darf. Hat er mich ausgezogen?
Langsam befühle ich meinen Körper, denn meine Augen zu öffnen erscheint mir unmöglich. Ja, meine Hose fehlt und meine Schuhe habe ich mit Sicherheit auch nicht alleine ausgezogen.
Ein dringliches Bedürfnis zwingt mich dazu mich zu bewegen, ich hatte gehofft für heute einfach im Bett zu bleiben und mich meinem Selbstmitleid hinzugeben, aber was sich nicht ändern lässt…
Meine Augen sind immer noch geschlossen, da selbst die Helligkeit die durch meine Lider dringt einfach zu viel ist. So setzte ich mich vorsichtig auf und halte mir einen Moment den schmerzenden Kopf. Behutsam stehe ich auf und taste mich blind Schritt für Schritt nach vorne. Doch natürlich machen meine Füße schon bald Bekanntschaft mit einem harten Gegenstand und ich fluche die Schmerzen in einer Lautstärke weg, die mein Kopf zulässt.
Nun bin ich doch gezwungen meine Augen einen Spalt weit zu öffnen, um irgendwann ins Bad zu gelangen. Langsam tapse ich mit mehr oder weniger offenen Lidern in Richtung dieses Zimmers und bemerke nebenbei, dass irgendjemand in der Küche mit Geschirr hantiert.
Nachdem ich meine Notdurft verrichtet habe begebe ich mich in eben jene und erwarte Ann vorzufinden, doch Mike betrachtet mich, als ich im Türrahmen erscheine.
Schlagartig wird mir meine Aufzug bewusst und meine Wangen beginnen zu glühen. Ich stehe hier, nur mit Shirt und Unterwäsche bekleidet, vor dem Freund von Ann. Doch Mike scheint sich nicht viel daraus zu machen, beschäftigt stellt er ein Glas Wasser auf den Tisch, legt zwei kleine Tabletten hinzu und betätigt sich dann weiter am Herd, auf dem eine Pfanne mit Pfannkuchen vor sich hin brutzelt.
Der Anblick und der Geruch der mir soeben in die Nase steigt, lässt meinen Magen eine Umdrehung machen und ich beschließe mich heute auf ein wenig Flüssignahrung zu beschränken.
Immer noch leicht beschämt setzte ich mich an den Tisch und nehme die bereit gelegten Tabletten. Erschöpft lasse ich meinen Kopf auf die, auf dem Tisch verschränkten, Arme sinken und seufze leise.
„Ann liegt sehr viel an deinem Wohl.“, beginnt Mike auf einmal und ich erschrecke mich, weil ich wirklich nicht damit gerechnet habe. Schnell beruhige ich mich aber wieder und verharre weiter in meiner Position.
„Wir haben gestern noch lange geredet, auch mit Julian. Ich glaube sie sehen es ein, dass streiten nichts bringt. Beide… nein, wir alle wollen nur dein bestes. Wir mögen dich wirklich, nur du musst uns vertrauen. Sie könnten dir helfen, Frank, Julian und auch Ann wenn du ihnen vertrauen würdest.“, spricht er leise weiter und ich spüre wie sich schon wieder Tränen in meinen Augen sammeln.
Wie kann ich ihnen vertrauen? Frank hat gestern auch von Vertrauen gesprochen und ich dachte ich tue es, aber es ist nicht so. Sicher, dass sie mir keine körperlichen Schmerzen zufügen würde glaube ich, dass sie mich versuchen zu schützen, aber ich kann ihnen einfach nicht meine Qualen anvertrauen. Ich würde mich verletzbarer machen, als ich ohnehin schon bin. Sie würden mich für verrückt halten, sich von mir abwenden und ich brauche sie doch so sehr. Es ist ein verdammter Teufelskreis, denn auch wenn ich es schaffe meine Ängste vor ihnen zu verstecken werden sie sich von mir abwenden, da ich nicht ehrlich zu ihnen sein kann. Alles läuft am Ende darauf hinaus, dass ich alleine bin.
Leise tropfen die Tränen der Verzweiflung auf den Küchentisch und ich schniefe. Kurz darauf spüre ich eine große warme Hand auf meinen Rücken und merke, wie sich Mike neben mich hockt.
„Emily, nichts kann so schlimm sein, dass du dich deswegen kaputt machst. Es geht dir nicht gut, dass sieht ein Blinder, aber nur du kannst im Moment an dieser Situation etwas ändern.“, flüstert er und streicht mir behutsam über den Rücken.
Ich drehe meinen Kopf, um ihn anzusehen. Mike betrachtet mich ernst und immer mehr Tränen laufen meine Wangen hinab. Selbst er, der mich nur sehr wenig kennt, macht sich sichtbar Sorgen um mich. Doch alles was ich tue ist mein Kopf zu schütteln und ein ersticktes ‘Ich kann nicht‘ von mir zu geben, ehe ich haltlos in meinen Tränen versinke. Ich kann nicht, ist alles was ich ihnen sage kann, Julian, Ann und nun auch Mike haben es nun schon zu hören bekommen. Ich habe einfach nicht genügend Mut, ich bin ein Feigling. Aber wie lange kann ich das noch durchhalten? Denn Mike hat Recht, ich mache mich kaputt. Ich bin unnatürlich blass und das liegt diesmal nicht an einem Eisenmangel. Ich quäle mich seit neusten nicht nur mit Alpträumen, in denen mich ein Verrückter verprügelt und misshandelt, sondern auch damit, von denen mir lieb gewordenen Personen verlassen zu werden. Die gesamte Situation zerrt so an meinen Nerven, dass sie ständig zum Zerreisen gespannt sind und ich eigentlich ständig heulen will. Von meiner Panik ganz zu schweigen. Mein Appetit ist in letzter Zeit auch nicht sonderlich gut ausgeprägt und wenn mich Julian und Ann nicht ständig beäugen würden, würde ich gar nicht mehr essen, denn jeder Bissen liegt mir schwer im Magen. Meine Schutzmauer gleicht einem Witz und ich bin einfach nicht in der Lage sie zu verstärken, ich habe mich jetzt einige Zeit dahinter versteckt und mit meiner aufgesetzten Fröhlichkeit auch mir etwas vorgemacht, aber mir jetzt alles so vor Augen zu führen schockiert mich wirklich. Doch wäre es damit getan mit Julian, Ann oder Frank zu reden? Verpuffen dann meine Probleme alle auf magische Weise? Nein, mit Sicherheit nicht und ehe ich keine geeignete Lösung gefunden habe, kann ich es schlicht niemanden sagen.
Ich bin so sehr in meiner Verzweiflung versunken, dass ich gar nicht merke, wie Mike versucht mich zu beruhigen und langsam immer hilfloser wird. Erst jetzt, wo ich mir mal wieder sicher bin, erst selbst eine Lösung finden zu müssen, nehme ich die Realität wieder wahr.
Mike hält mich unbeholfen im Arm und redet verzweifelt auf mich ein. Nun erlöse ich ihn endlich, straffe meine Schultern und schaffe es meinen Tränen Einhalt zu gebieten.
Als ich mich sanft aus seiner Umarmung befreie höre ich ihn erleichtert aufatmen und schenke ihm ein kleines Lächeln, weil er mich wieder sorgenvoll betrachtet.
„Wo ist Ann eigentlich?“, will ich so beiläufig wie möglich wissen, um die angespannte Situation zu lockern. Doch als Mike meinen Blick sucht merke ich, dass es wohl das falsche Thema für dieses Vorhaben ist.
„Sie ist bei einer Bekannten…“, druckst er rum und studiert jede meiner Regungen genau, „…wegen eines Jobs für dich…“, da immer noch keine Reaktion von mir kommt redet er weiter, „… wir haben uns gedacht, dass es vielleicht ratsam wäre, wenn du nicht allzu oft mit Männern in Kontakt kommst…“, etwas verwirrt nicke ich, „… deshalb ist Ann bei Jodie. Sie betreibt die örtliche Wäscherei, dort arbeiten nur Frauen und nur in der Waren An- und Abgabe wärst du mit Männern konfrontiert, aber das kann man umgehen.“, sprudelt er nun heraus, um endlich zu Ende zu kommen.
Ich weiß nicht was er für eine Reaktion von mir erwartet. Soll ich ihm vor Freude um den Hals fallen? Oder sollte ich eine Panikattacke bekommen, weil es möglich wäre Männern zu begegnen? Da diese Möglichkeit immer besteht konnte ich mich schon einigermaßen darauf einstellen und so zucke ich nur unbeteiligt mit den Schultern.
Der restliche Tag vergeht für mich recht ereignislos auf der Couch. Ich pflege die Folgen meines erhöhten Alkoholgenuss und arbeite an der Verstärkung meiner Gefühlsabwehrmauer. Als Ann wiederkommt berichtet sie mir fröhlich, aber mit Argwohn, dass ich ab Montag, also in vier Tagen, in der Wäscherei anfangen kann. Ich soll eingearbeitet werden, da ja niemand weiß, ob ich so etwas schon mal gemacht habe.
Ich liege auf dem Sofa und irgendwann döse ich auch ein…
„Wenn du mir nicht vertrauen kannst ist unsere Therapie sinnlos. Ich kann dir nicht helfen.“, mit diesen Worten wendet sich Frank von mir ab und geht einfach. Ich sehe ihm nach und in meinem Kopf schreit es ‘Ich vertraue dir doch, ich vertraue dir‘ doch mein Mund bleibt verschlossen. Heise Tränen rollen meinen Wangen hinab und ich wende mich der nächsten Person neben mir zu. Mike.
„Wir können nicht mehr auf dich warten. Wir sind es leid zu warten. Du machst dich kaputt und wir können nur zusehen, da du unsere Hilfe nicht willst. Ich kann das nicht mehr.“, auch Mike entfernt sich von mir. Ich blicke ihm solange nach, bis der letzte Punkt am Horizont verblasst ist. Mein Kopf sagt nichts dazu, hat ihm nichts zu erwidern, denn er hat Recht. Mike hat genau ins Schwarze getroffen. Meine Tränen werden nun von leisen Schluchzern begleitet.
Ann, auch sie steht neben mir und hat mir etwas Letztes zu sagen.
„Emily, du bist die Schwester die ich nie hatte, meine beste Freundin, aber du verschließt dich vor uns und das kann eine Freundschaft nicht aushalten. Eine Freundschaft braucht Vertrauen, Offenheit, Wahrheit, all das scheinst du mir nicht geben zu können.“, betrübt schüttelt sie den Kopf. „Es macht mich traurig und tut mir unendlich weh dir bei deiner Selbstzerstörung zuzusehen, denn nichts anderes betreibst du. Ich liebe dich, aber ich muss gehen, sonst macht es nicht nur dich sondern auch mich kaputt.“, endet sie. Ein letztes Mal streicht sie mir über die Wange und zieht mich in eine Umarmung, ehe sie den gleichen Weg wie Frank und Mike einschlägt.
Ich kann nicht mehr denken, da ich viel zu sehr damit beschäftigt bin nicht zusammenzubrechen, denn eine Person wartet noch auf mich. Julian.
Als ich mich zu ihm drehe kann ich ihn einfach nicht ansehen, zu groß ist der Schmerz. Doch mit nur einen Finger unter meinem Kinn zwingt er mich in seine Augen zu blicken und im nächsten Moment liegen seine Lippen auf meinen. Dieser Kuss ist so völlig anders, als unser erster. So voller Leidenschaft, voller Liebe, aber auch Verzweiflung.
Viel zu schnell beendet Julian den Kuss und zwingt mich wieder ihn anzusehen.
„Emily, ich weiß es ist nicht richtig, aber ich liebe dich. Ich habe mich schon an dem Tag im Park in dich verliebt und mit jeden Tag deines Komas wurde es mehr, ganz zu schweigen davon als du dann endlich aufgewacht bist. Aber grade weil ich dich liebe kann ich nicht bei dir bleiben, bitte versteh das.“, ohne sich nochmals umzudrehen geht auch Julian.
Ich bin alleine. Einsam. Haltlos. Ich weine, all meine aufgestauten Gefühle müssen raus, sodass ich im Nächsten Moment aus Leibeskräften schreie.
„NEIN!“, ich schreie so laut ich kann, doch niemand hört mich. „Nein, verlasst mich nicht!“, krächze ich nun, da mein Hals von dem ersten Schrei brennt.
„Emily!“, höre ich entfernt jemanden rufen, doch ich bin zu verzweifelt um zu reagieren.
„Nein, ich vertraue euch doch und ich liebe euch so sehr, bitte geht nicht.“, wimmere ich und habe mich mittlerweile auf dem Boden zu einer kleinen Kugel zusammengerollt.
„Emily, wach auf, du hast nur schlecht geträumt. Niemand wird dich verlassen.“, kann ich nun Anns Stimme erkennen und schlage erschrocken meine Augen auf.
Ich liege auf der Couch, zusammengerollt wie in meinem Traum. Meine Wangen sind tränennass und mein Körper bebt unter großen Schluchzern.
Wie ein kleines Kind zieht mich Ann auf ihren Schoß und wiegt mich hin und her, dazu summt sie leise eine beruhigende Melodie. Ich klammere mich an sie, nicht fähig sie je wieder los zu lassen, aus Angst sie könnte mich wirklich verlassen.
Irgendwann schaffe ich es doch mich soweit zur beruhigen, dass ich mich von Ann lösen kann. Wie schon so lange betrachtet sie mich bittend, mitleidig, aber wie immer bin ich einfach nicht bereit dazu. Bedauernd schüttle ich den Kopf und stürze, schon wieder tränenblind, in mein Zimmer.
Ich halte das nicht mehr lange aus. Bald wird alles aus mir heraus platzen und ich werde es nicht verhindern können. Doch was dann? Was passiert denn? Wie geht es weiter?
Die halbe Nacht liege ich wach und grüble über dieser einfachen Frage, dass sie mich vom Schlafen abhält ist ein willkommener Nebeneffekt. Und ich schaffe es, ich finde eine, für mich absolut logische und vertretbare Lösung.
Sollte ich ihnen irgendwann von meinen Träumen, meiner Panik erzählen, dann allen gemeinsam, ich möchte nicht, dass es jemand aus zweiter Hand erfährt und dann. Dann werde ich gehen. Ich werde meine Sachen packen und verschwinden, da sie mich dann sowieso nicht mehr wollen. Ja, so wird es laufen.
Am nächsten Tag bekomme ich schnell die Quittung für meinen Schlafmangel, denn übermüdet kann ich meine Gefühle noch weniger unter Kontrolle halten.
Allein Anns Anblick, wie sie das Frühstück zubereitet, als ich in die Küche trete, treibt mir die Tränen in die Augen. Tapfer schlucke ich sie runter und zwinge mich etwas zu essen. Danach verkrieche ich mich sofort wieder in meinem Zimmer.
Ich habe die Tür nur angelehnt, da ich mir komisch vorkomme Ann in ihrer Wohnung ein Zimmer zu versperren. So merke ich, wie oft ihr Blick auf mir liegt, wenn sie an der Tür vorbeigeht. Ich höre auch wie sie telefoniert. Nach einiger Zeit des Gesprächs glaube ich zu wissen, dass sie mit Julian redet.
„Was hältst du davon morgen vorbei zu kommen? Wir machen eine kleine Feier, als Einstand für Emily.“, fragt sie gedämpft in den Apparat.
„Nein, ich hab sie noch nicht gefragt, sie zieht sich immer mehr zurück. Sie braucht Ablenkung.“, langsam schleicht sich Wut in ihre Stimme.
„Julian, jetzt hör mir mal zu. Nachdem Emily am Mittwoch allein durch das Klingen eine Panikattacke bekommen und danach zu viel Wein getrunken hat. Ist sie gestern Morgen vor Mike zusammengebrochen und am Nachmittag bei mir noch einmal nach einem Alptraum. Wir müssen ihr helfen, sie braucht uns. Sie hat mir zwar nichts von ihrem Traum erzählt, aber ich habe sie gehört. Emily hat gewimmert, wir möchten sie doch bitte nicht verlassen. Sie hat Angst. Angst, dass wir sie alleine lassen mit ihren Problemen.
Heute versteckt sie sich schon den ganzen Tag in ihrem Zimmer.“, beendet sie ihren Lagebericht und ein verbittertes Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht, denn genau das ist es. Sie gibt dem Arzt einen Bericht über den Geisteszustand seiner Patientin. Mal abwarten, ob sie gleich noch Frank anruft und ihm von den letzten Ereignissen erzählt.
Doch das tut sie nicht. Ich höre lediglich noch ein paar ‘Hmmm‘ und dann ein ‘Tschüss bis morgen‘, ehe sie auflegt und kein weiteres Telefonat mehr führt.
Zum Abendessen ist auch Mike wieder da, trotzdem herrscht drückende Stille in der gesamten Wohnung.
Ich bemühe mich ein paar Bissen zu essen, um dann so schnell wie möglich wieder in mein Zimmer verschwinden zu können, doch dann beginnt Ann doch noch ein Gespräch.
„Ich habe für morgen Abend ein paar Leute eingeladen.“, wirft sie in den Raum und studiert genau meine Reaktion. Da ich ihr Gespräch mit Julian mitgehört habe weiß ich ja bereits davon und zucke nur uninteressiert mit den Schultern.
„Nur ein ungezwungenes Beisammensein. Vielleicht knüpfst du ja neue Kontakte, hast ein bisschen Spaß. Quasi als Einstand in unserer Wohnung.“, redet sie weiter auf mich ein, wird aber mit jedem Satz verzweifelter, weil ich nicht reagiere. Ich weiß nicht was ich sagen soll, habe das Gefühl, wenn ich meinen Mund öffne wieder zusammenzubrechen, also schweige ich.
Als ich kurz danach meinen noch fast vollen Teller wegstelle und mich zum Gehen wende, höre ich wie Ann leise beginnt zu weinen, dass lässt auch bei mir wieder alle Dämme brechen und ich stürzt in mein Zimmer.
„Ich will dir doch nur helfen, Emily. Bitte, lass mich dir doch helfen.“, ruft mir Ann noch unglücklich hinterher, ehe ich meinen Kopf in den Kissen versenke und wieder haltlos weine.
Der Tag fliegt an mir vorbei und ich weiß nicht wie ich ihn überstehe, auch wenn ich nur auf dem Bett liege und mich verkrieche. Alles läuft viel zu schnell ab, mein Kopf schwirrt weil sich meine Gedanken und Gefühle überschlagen. Am liebsten würde ich die Zeit anhalten, bis ich wieder fähig bin einen klaren Gedanken zu fassen, doch das geht nicht. Die Welt dreht sich ebenso weiter, wie mein Kopf.
Den ganzen Tag habe ich mich erfolgreich verkrochen, Ann und Mike ließen mich in Ruhe, doch jetzt kommen die Gäste und ich weiß nicht was ich tun soll. Ich sitze unentschlossen auf meinem Bett. Gern würde ich Ann diesen kleinen Gefallen tun, aber wie reagiere ich heute auf fremde Männer? Wie auf Fragen wie es mir geht? Oder schlimmer, wer ich bin, woher ich komme, oder die einfache Frage wie ich heiße? Allein diese Frage könnte einen erneuten Zusammenbruch auslösen, davon bin ich fest überzeugt.
Noch mit mir selbst ringend Klopft es plötzlich leise an der Tür und ich fahre erschrocken zusammen. Als ich aufblicke schiebt Julian seinen Kopf durch den Spalt und lächelt kurz, ehe er hereinkommt, die Tür wieder schließt und sich neben mich setzt.
Mauer! Mauer! Mauer! Beschwöre ich mich, als meine Nase beginnt zu jucken und die ersten Tränen in meinen Augen brennen.
„Willst du nicht zu uns kommen?“, fragt er leise, sieht mich aber nicht an. Darüber bin ich ernsthaft verwundert, da mich doch alle in den letzten Tagen immer so sorgenvoll und mitleidig betrachten. Sie können scheinbar gar nicht genug davon bekommen.
Als sich meine Verwirrung über sein untypisches Verhalten gelegt hat beischließe ich ihm doch zu antworten.
„Wozu sollte ich?“, stelle ich eine Gegenfrage. Mein Ton ist kalt und unbeteiligt und ich froh, dass meine Mauer endlich zu funktionieren scheint.
„Neue Leute kennenlernen? Quatschen? Spaß haben?“, zählt er auf und zuckt gespielt unbeteiligt mit den Schultern. Ich hab ihn durchschaut, dass ist ihre neue Masche mich von etwas zu überzeugen. Mich Julian, Anns oder auch Mikes Willen zu beugen, mal sehen wie weit er geht.
„Warum sollte ich?“, will ich nun wissen und sehe ihn gespannt an, doch er schaut noch immer zu Boden.
Julian stößt lautstark die Luft aus seinen Lungen, scheinbar kämpft er mit seinem Plan.
„Weil du dich kaputt machst.“, beantwortet er meine Frage durch zusammengepresste Zähne. Aha, so schnell als kommt der wahre Julian wieder zum Vorschein. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass damit auch das Kribbeln in meinem Inneren wieder einsetzt. Meine Mauer bröckelt.
„Was wenn ich Panik vor den Männern bekomme? Was wenn sie mich etwas Fragen, worauf ich keine Antwort weiß?“, spreche ich meine Ängste aus und klinge nun kleinlaut, verzweifelt und blicke zu Boden.
Julian rückt etwas zu mir, nimmt meine Hände in seine und zwingt mich ihn anzusehen.
„Wir haben uns erlaubt ihnen von dir zu erzählen. Keiner wird Fragen stellen, die zwei Männer die du noch nicht kennst werden sich zurückhalten und notfalls gehen. Außerdem sind Frank und Clear auch da.“, erklärt er mir ernst und ich sehe die Hoffnungslosigkeit in seinem Blick. Ich gebe mich geschlagen, gegen Julian habe ich einfach keine Chance. Langsam nicke ich, muss aber im gleichen Moment auch wieder gegen die Tränen kämpfen.
Julian zieht mich auf die Beine und in seine Arme.
„Du bist so stark Emily. Du schafft das.“, spricht er mir gut zu, ehe er mich am Handgelenk hinauszieht.
Ich habe mich damit abgefunden an dieser Veranstaltung teilzunehmen, doch sitze ich nur anteillos auf dem Sofa. Alle, bis auf die zwei mir unbekannten Männer, haben versucht mit mir ein Gespräch anzufangen, aber ich hab sie ignoriert oder höflich gebeten mich in Ruhe zu lassen. Bei Frank, Clear und Mike, war das gar nicht so einfach.
Die zwei Männer, haben meinen Puls nicht allzu sehr in die Höhe getrieben, was mich wieder auf die Frage gebracht hat, warum ich auf Mr. Roden so sehr reagiert habe.
Langsam aber sicher verabschieden sich alle und ich helfe Ann beim Aufräumen, um mich so schnell wie möglich in mein Zimmer zurückziehen zu können.
Nur noch der Psychologe, die Physiotherapeutin, der Polizist, der Arzt und die Krankenschwester sind da, als ich mit einer Schüssel und ein paar Gläsern in die Küche gehe. Ich höre, dass mir jemand folgt und gehe davon aus, dass es Ann ist, aber als ich die Küche betrete sehe ich im Augenwinkel Julian hinter mir.
Ich trete an die Arbeitsfläche und stelle alles darauf ab, als ich merke, dass sich Julian sehr dicht hinter mich drängt und auch ein paar Teller abstellt.
Sein Körper ist meinem so nah, dass ich seine Wärme spüre, merke wie sich bei jedem Atemzug seine Brust hebt und senkt und natürlich fühle ich seinen Atem in meinem Genick. Kalte und warme Schauer durchlaufen meinen Körper und das Kribbeln ist mit aller Heftigkeit zurück. Ich bin hin und her gerissen zwischen meinen Empfindungen. Einerseits kann ich ihn nicht an mich ran lassen, um nicht Gefahr zu laufen meine Mauer nicht aufrechterhalten zu können. Andererseits genieße ich das Kribbeln, seine Nähe, sehne mich danach, will unseren Kuss wiederholen.
„Bitte.“, haucht er mir ins Ohr und ich bin verwirrt was er von mir will, doch gleichzeitig schließe ich genießerisch die Augen, weil mir seine Stimme eine angenehme Gänsehaut beschert.
Julian dreht mich sanft zu sich herum. Seine Arme stütz er auf der Arbeitsfläche ab und lässt mir so keine Fluchtmöglichkeit. Mein Puls und meine Atmung beschleunigen sich, allerdings kann ich nicht bestimmen, ob es ein gutes Zeichen ist oder ein schlechtes.
Er ist mir so nah, viel näher als unter der Trauerweide und plötzlich liegt mein Blick unfreiwillig auf seinen Lippen. Diesen vollen, weichen Lippen, welche sich so gut auf meinen anfühlen. Auch wenn es vor ein paar Tagen nur ein Hauch einer Berührung war, kann ich sie immer noch spüren.
Wie von Sinnen umschließe ich seinen Nacken mit meinen Armen, überbrücke so die letzte Distanz zwischen uns und klammere mich wie eine Ertrinkende an ihn. Dieser Kuss ist so vollkommen anders, als unser erster. So voller Leidenschaft, voller Verzweiflung. So stürmisch, so hart. Wenn es unter diesem riesigen Baum im Krankenhauspark nur eine Ahnung eines Geschmacks war, ist es jetzt eine Geschmacksexplosion, denn meine Zunge erobert seinen Mund und ich koste kräftig von Julian.
Ich spüre meine Tränen nicht, merke nicht wie ich mich immer hilfloser an Julian dränge, höre mein wehmütiges Seufzen nicht. Ich spüre nur Julian, seine Lippen, die meinen Kuss so willig erwidern, seine Hände, die sich vorsichtig an meinem Körper entlangtasten. Höre seinen schnellen Atem in meinen Mund.
Doch irgendetwas, ich kann nicht bestimmen was, lässt mich zusammenfahren und den Kuss abrupt beenden. Es ist als hätte sich ein Schalter in meinem Kopf umgelegt, der mich nur noch mechanische reagieren lässt. Plötzlich muss ich es ihnen erzählen sofort. Alle sind hier und jetzt auch der unbändige Drang ihnen die Wahrheit zu sagen. Danach werde ich gehen. Ja, so wird es ablaufen.
Mit schnellen Atem steht Julian vor mir und betrachtet mich verwirrt, ich gehe nicht weiter auf ihn ein und setze mich Richtung Wohnzimmer in Bewegung.
„Emily?“, ruft er mich und ich verharre wie festgefroren in meiner Position. Als er merkt, dass nicht mehr Aufmerksamkeit, geschweige denn einen Blick von mir bekommt, redet er weiter.
„Was ist los?“, will er sorgenvoll wissen und wirft mir einen kritischen Blick von der Seite zu.
„Ich will reden.“, antworte ich gefühllos und setze meinen Weg fort. Auf einmal habe ich keine Probleme mehr damit meine Gefühle zu verbergen, sie scheinen nicht mehr vorhanden zu sein. Nur die salzigen Spuren auf meinen Wangen zeugen noch davon das ich ein fühlender Mensch bin und keine empfindungslose Maschine.
Im Wohnzimmer setze ich mich in einen Sessel und warte stumm, bis ich die Aufmerksamkeit aller anwesenden habe. Dass dauert nicht allzu lange, denn Julian berichtet ihnen argwöhnisch von meinem Vorhaben. Besonders Frank wirft mir sorgenvolle Blicke zu. Ich fühle mich wie in einer Parallelwelt, ohne Gefühle und mit klaren Gedanken.
Auf der Suche nach einer geeigneten Sitzposition lege ich meine Arme zwischen die Beine, sodass ich meine Hände auf Kniehöhe ineinander verschlingen kann. Leicht wippe ich nach vorn und hinten, mir nicht bewusst warum, aber es beruhigt mich, gibt mir Sicherheit.
Und dann. Dann beginne ich zu erzählen. Ich breite all meine Empfindungen, Gedanken, Ängste und Probleme, die ich seit meinem Erwachen hatte, vor ihnen aus. Vollkommen unbeteiligt berichte ich ihnen von meinen Alpträumen, von meinen Panikattacken, vor der Angst vor Männern. Aber auch meine Gefühle gegenüber Julian lasse ich nicht unter den Tisch fallen. In all meinen Erzählungen wirke ich distanziert, gefühllos und abgestumpft, als wäre es nicht meine Gefühlswelt, nicht mein Leben. Aber ist es das den jetzt noch? Mein Leben? Jetzt, wo ich einen Schlussstrich ziehe und gehe? Wo ich dieses Leben hinter mir lasse? Kann ich das? Werden meine Panik, meine Alpträume jetzt ein Ende haben? Ich weiß es nicht, aber ich muss hier weg, muss sie hinter mir lassen. Denn jetzt wo sie alles wissen wollen sie doch sowieso nichts mehr mit mir zu tun haben, außer mich vielleicht einweisen zu lassen.
Als ich geendet habe wage ich einen Blick in die Runde. Mike und Clear schauen mich entsetzt an, die Physiotherapeutin hat sogar Tränen in den Augen. Ann weint haltlos, schüttelt heftig den Kopf und murmelt unverständliche Sachen. Julian ist blass, hat die Augen weit aufgerissen und sein Blick wirkt glasig. Nur Frank hat sich zurückgelehnt und scheint eindeutig nachzudenken.
Nach ein paar Minuten der stummen Betrachtung stehe ich auf und gehe in mein Zimmer um zu packen. Ganz ohne Eile, da ich davon überzeugt bin, dass sie mich nicht aufhalten werden.
Schon kurze Zeit später stehe ich mit meiner kleinen Tasche in der Tür. Ich ringe mit mir sie zu verabschieden, ich fühle mich zwar immer noch wie ferngesteuert, weiß aber nicht, ob ich das überstehen würde.
„Ich geh dann.“, bringe ich erstickt heraus, da meine Gefühle nun doch zurück sind. Es war ein Fehler, aber was hätte ich sonst tun sollen?
Langsam wende ich mich zur Tür, als Plötzlich ein Schrei ertönt, den ich zuerst nicht zuordnen kann.
„Nein!“, hallt es durch den Raum und erst als ich mich wieder umwende sehe ich wer es war. Frank. Er ist aufgesprungen und betrachtet mich panisch, auch die anderen scheint er mit seinem Ausbruch in die Realität zurückgeholt zu haben, denn sie schauen verwirrt zwischen mir und dem Psychologen hin und her.
„Wo willst du hin?“, fragt er lauernd und scheint sich wieder etwas beruhigt zu haben.
„Weg.“, antworte ich lapidar und werfe einen flehenden Blick in die Runde. Wollen sie es mir jetzt noch schwerer machen? Können sie mich nicht einfach gehen lassen? Dann können sie ihr altes Leben weiterleben und müssen sich nicht noch mit meinen Problemen rumschlagen.
„Warum?“, erforscht er weiter und ich hasse es, dass er sich zum Redeführer ernannt hat, denn gegen seine Psychologenlogik bin ich machtlos.
„Weil ihr mich für verrückt haltet.“, gebe ich eingeschüchtert zurück und fühle mich dabei wie ein kleines Kind. Im Gleichen Moment weiß ich, dass er mich nicht weg lassen wird, er würde mich eher einweisen, denn ich habe schon einen Selbstmordversuch hinter mir und bin so eine Gefahr für mich selbst.
Hastig stürzte ich zur Tür, denn in eine Gummizelle will ich auf keinen Fall enden. Die Tür ist schon einen Spalt weit offen, als sich eine Hand um mein Handgelenk legt. Das Kribbeln in meinem Körper verrät Julian und ohne ihn anzusehen schlage ich auf ihn ein. Ich will mich aus seinem Griff lösen, fliehen, aber er lässt es nicht zu. Wild schlage ich auf ihn ein und Julian lässt es geschehen. Als ich keine Kraft mehr habe breche ich haltlos weinend zusammen, doch ehe ich auf Boden aufschlagen kann hält mich Julian und bringt mich zurück ins Wohnzimmer. Er setzt sich mit mir auf dem Schoß in den Sessel und küsst meine Stirn.
Leise beginnen sich die anwesenden zu unterhalten, aber in klinke mich vollkommen aus. Warum sollte ich ihnen zuhören? Ich werde auch so schnell genug erfahren in welche Nervenklinik sie mich bringen und wie sie sich von mir abwenden.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn erst als Julian mit mir auf dem Arm aufsteht wache ich leicht auf. Nicht genügend um mich zu bewegen oder über irgendetwas nachzudenken, aber genügend um seinen Duft in mich aufzunehmen und mich unwillkürlich an ihn zu kuscheln. Behutsam legt er mich auf dem Bett ab und deckt mich zu, dann drückt er mir einen langen Kuss auf die Stirn. Sehnsuchtsvoll seufze ich, als ich seine Nähe nicht mehr spüre, doch schon im nächsten Augenblick senkt sich die Matratze hinter mir und starke Arme halten mich fest.
„Du bist nicht verrückt.“, höre ich ihn leise murmeln, ehe ich wieder ganz in meiner Traumwelt versinke.
Diese Nacht habe ich keinen Alptraum. Ich träume von Julian und mir, von einer glücklichen Beziehung. Dennoch wache ich mit tränennassen Wangen auf, weil ich unterbewusst weiß, dass es nicht funktioniert, nicht funktionieren kann.
Es hat grade begonnen zu dämmern, als ich mich aus Julians Armen löse und aufstehe. Einen Moment lausche ich in die Wohnung und höre nichts. Alle schlafen noch, der ideale Zeitpunkt zu verschwinden.
Die Tasche steht, noch immer gepackt, neben dem Bett und angezogen bin ich ja auch noch. Für Nebensächlichkeiten, wie Körperhygiene fehlt mir die Zeit.
Mich selbst überwindend stehe ich vor dem Bett und beuge mich zu dem friedlich schlafenden Julian hinab.
„Ich liebe dich, es tut mir leid.“, flüstere ich und hauche ihm ein Kuss auf die Wange, als er beginnt sie zu regen, werde ich abrupt aus meinen viel zu sentimentalen Gedanken gerissen und schnappe hektisch die Reisetasche.
An der Zimmertür höre ich ihn leise meinen Namen nuscheln und nehme die Füße in die Hand. Die Wohnungstür fällt lautstark hinter mir ins Schloss, aber jetzt ist es egal ob sie wach werden, ehe sie bereit sind mir zu folgen, bin ich über alle Berge, so hoffe ich zumindest.
Aber schon an der Haustür angekommen werde ich von mir selbst ausgebremst, da ich nicht weiß wo ich hin soll. Ich habe keinen Plan wo ich bin, geschweige denn wo ich hin will. Ich kenne mich ja nicht mal in dieser Stadt aus.
Blindlinks laufe ich einfach los, Renne so schnell ich kann einen mir unbekannten Ziel entgegen. Doch ich bin nicht trainiert, habe keine Kondition für eine lange Flucht. Schnell beginnt meine Lunge zu brennen, meine Beine fangen an zu zittern, nichtsdestotrotz laufe ich weiter. Lauf nicht nur vor Julian, Ann oder Frank davon, nein ich bin auf der Flucht vor meiner Panik, meinen Ängsten. Auf der Flucht vor mir selbst.
Als mein Körper gänzlich unter der Belastung zusammenbricht, nehme ich meine Umgebung wieder war. Ich habe keine Ahnung wo ich bin, doch wie gestern ist plötzlich ein klarer Gedanke in meinem Kopf. Jetzt wo Julian, Ann, Mike und all die anderen weg sind ist es die ultimative Lösung. Mein Ausweg, der Einzige, der Letzte.
Doch ich brauche einen neuen Plan, denn sich vor ein Auto zu werfen scheint nicht tödlich genug, zu hohe Überlebenschancen.
Hastig blicke ich mich um und finde einen geeigneten Punkt. In einiger Entfernung kann ich eine Eisenbahnbrücke ausmachen, die Lösung für all meine Probleme.
Auf zittrigen Beinen, die immer wieder unter mir nachgeben, begebe ich mich zu besagter Brücke. Es ist weiter, als ich angenommen habe und die Sonne steht schon sehr hoch als ich endlich angekommen bin. Die Brücke scheint schon einige Jahre unbenutzt, die Natur hat sie sich zum Teil schon zurück erobert und ein paar Bahnschwellen scheinen morsch.
Nun kann ich auch sehen, was diese Brücke überspannt. Es ist ein Fluss, wohl eher ein Bach, denn in den Sommermonaten scheint er ausgetrocknet zu sein. Jetzt fliest noch ein kleines Bächlein am Rande und gibt somit den Blick auf die großen Steine, im Flussbett frei. Die Brücke ist ungefähr 10 Meter vom Flussbett entfernt, nicht allzu viel aber ausreichend.
Vorsichtig trete ich von Schwelle zu Schwelle, um in die Mitte, den höchsten Punkt, zu gelangen. Einige der Holzbohlen knarzen unheilvoll unter meinem Gewicht, doch ich schaffe es bis in die Mitte.
Ich stehe am Rand, nur Zentimeter vom Abgrund entfernt, als ich einen Blick hinunter wage. Verdammt! So hoch hätte ich es nicht eingeschätzt. Ein leichtes Schwindelgefühl überkommt mich und ich hocke mich für einen Moment hin.
‘Es ist nur ein Schritt, ein winziger Schritt. Du musst nicht mal deine Füße bewegen, lass dich einfach fallen!‘ beschwöre ich mich selbst.
Tiefluftholend stehe ich wieder auf und straffe meine Schultern, mit geschlossenen Augen beuge ich mich nach vorne und gebe mich der Freiheit hin.
„Ich liebe dich auch!“, höre ich jemanden rufen und werde damit aus meiner Konzentration gerissen. Ich habe mein Gleichgewicht noch nicht eingebüßt, sodass ich den Vorgang jäh abbreche und in die Richtung schaue, aus der ich gekommen bin.
Julian kommt mit schnellen Schritten auf mich zugeeilt, in seinem Rücken stehen einige Polizeiwagen und ich kann auch Frank und Ann an einen von ihnen erkennen.
„STOP!“, rufe ich, plötzlich von einer mir unbekannten Angst gepackt und meinen Plan vollends vergessend. Julian bleibt abrupt in seiner Bewegung stehen, nur wenige Schritte von einer Schwelle entfernt, die allein unter meinem Gewicht fast nachgegeben hätte. Ich habe Angst um Julian, schießt es mir durch den Kopf. Panische Angst ihm könnte etwas passieren, er würde verletzt werden.
Was soll ich denn jetzt machen? Wenn ich meinen Plan weiter verfolge wird Julian versuchen mich zu retten und durch die Bohle brechen. Aber wenn ich aufgebe bin ich keinen Schritt weiter. Sie werden mich nur noch sicherer in eine geschlossen Psychiatrie einweisen lassen. Als Julian sich weiter in meine Richtung bewegen will, wird mir meine Entscheidung abgenommen, da ich reflexartig handle, vollkommen losgelöst von meinen Gedanken und Zweifeln.
„Bleib stehen, Julian. Ich komme zu dir, aber bleib stehen!“, flehe ich ihn regelrecht an und setze mich auch schon in Bewegung. Getrieben von der Angst, er könnte sich doch meiner Anweisung wiedersetzen, laufe ich viel zu schnell. Ich übersehe besagte Schwelle, weil ich mich nur noch in Julians Arme werfen will. Natürlich gibt sie unter mir nach und mein Bein versinkt in der Tiefe, doch der Zwischenraum ist zu klein, ich rutsche nicht hindurch.
Mit zwei großen Schritten ist Julian bei mir und hilft mir wieder auf die Beine, doch sie wollen mich nicht mehr halten. Auf einmal zittere ich am ganzen Körper und schaffe es nicht dies unter Kontrolle zu bringen, ich weiß ja nicht einmal warum ich so reagiere. Schock? Erschöpfung? Überforderung?
Der Arzt, bei dem mein Herz regelmäßig aus den Takt kommt und in dessen Nähe tausende Schmetterlinge in meinem Inneren tanzen, hebt mich in seine Arme und trägt mich in Richtung der Polizeiwagen.
Auch ein Rettungswagen ist darunter, im Inneren befindet sich eine Trage, auf die er mich behutsam setzt. Ein Sanitäter will an mich heran treten, mich wahrscheinlich untersuchen, aber Julian weißt ihn hinaus und schließt die Tür hinter ihm. Ich habe nicht einmal die Chance, wegen des unbekannten Mann Panik zu bekommen.
Dann beginnt er mich abzutasten, jede Stelle meines Körpers untersucht er mit höchster Konzentration und verarztet ein paar kleine Schürfwunden an meinem Bein.
Während jede Stelle meines Körpers unter seinen Berührungen zu brennen schein, lasse ich mir die ganze Situation noch einmal durch den Kopf gehen.
Was hat er gerufen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen? Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, ich weiß nur, dass es mich aus dem Konzept gebracht hat, genau wie die plötzliche Angst um ihn.
Verbissen grüble ich darüber nach, was er nun gesagt hat und komme doch zu keinem Ergebnis.
Julian misst grade meinen Blutdruck, als ich mich überwinde ihn zu fragen. Ja ich muss mich überwinden, da im Moment eine seltsame Spannung zwischen uns herrscht, die ich nicht verstehe. Zu viele Gefühle kämpfen in mir um die Vorherrschaft.
„Was hast du vorhin gesagt? Du hast irgendwas gerufen, aber ich habe es nicht verstanden.“, erkläre ich verwirrt und beobachte seine Regungen. Eine leichte Röte legt sich auf sein Gesicht und ein verschmitztes Grinsen, welches seine Grübchen betont, legt sich auf seine Lippen.
Weiterhin seine medizinischen Untersuchung nachgehend, legt er seine Finger um mein Handgelenk und ertastet meinen Puls.
„Ich habe gesagt, dass ich dich auch liebe.“, sagt er bemüht beiläufig zu klingen und mein Herz setzt einen Schlag aus, um dann im doppelten Tempo weiter zu schlagen.
Was hat er da gesagt? Er liebt mich? Aber wie kann das sein? Wie kann man mich lieben? Wie kann er mich lieben, wo er alles von mir weiß? Hat er mich heute Morgen gehört? Hat er damit nur versucht mich von meinem Vorhaben abzubringen? Fragen über Fragen und zu keiner einzigen habe ich eine Antwort. Alles was ich weiß ist, was ich empfinde. Das Kribbeln, der erhöhte Puls, die Sehnsucht nach seiner Nähe, das Feuerwerk bei unseren Küssen, das Brennen meiner Haut wenn er sie berührt. Ist das Liebe? Liebe ich Julian? Ich weiß, dass ich es heute Morgen schon gesagt habe, aber da dachte ich er hört mich nicht, es war eine Übersprunghandlung. Oder doch meine wahren, tiefen Gefühle?
„Schon an dem Tag, als ich dich im Park kennengelernt habe, habe ich mich in dich verliebt. Seitdem sehe ich andere Frauen überhaupt nicht mehr. Ich habe sowas noch nie gefühlt. Ich hab fast körperliche Schmerzen, wenn ich dich sehe und dich nicht berühren kann. Es tut mir weh, wie du dich immer mehr zurückziehst und dich verschließ, doch dein mechanisches, kaltes Ich gestern Abend hat mir fast den Rest gegeben. Du hast es nicht mitbekommen, weil du mit dir selbst zu kämpfen hattest, aber ich bin nahezu durchgedreht, habe gebrüllt, geweint und hätte ich dich nicht auf dem Schoß gehabt, hätte ich die Einrichtung zerlegt.
Es war so wundervoll, diese Nacht einfach nur neben dir zu liegen, zu wissen, dass ich dich in meinen Armen halte.
Ich habe dich gehört heute Morgen und ich war einen kurzen Moment selig, doch dann warst du weg und ich bin komplett ausgeflippt.“, er rauft sich verzweifelt die Haare und ich sehe die Tränen in seinen Augen glitzern. Meine laufen schon seit einer Weile unaufhörlich. Er fühlt es wirklich, Julian liebt mich.
„Dich auf dieser Brücke zu sehen, war das Schlimmste und Schönste zu gleich. Ich hatte dich gefunden, endlich, aber du hast vor dir das Leben zu nehmen. Ohne, dass ich überhaupt eine Chance hatte dir meine Gefühle zu erklären
Ich liebe dich Emily. Du bist weder verrück, noch hat irgendjemand vor dich in eine Psychiatrie einweisen zu lassen.“, beendet er seine Bekenntnis und reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht, vermutlich um seine Tränen vor mir zu verstecken, aber ich habe sie bereits gesehen.
Wie soll ich darauf reagieren? Was soll ich tun? Ich fühle mich leer, ausgelaugt, schwach. Ich kann meine Gefühle nicht in Worte fassen, kann diesen Satz im Moment nicht wiederholen. Doch einen Fakt kann ich nicht verleugnen. Ich möchte nicht, dass es Julian noch einmal so schlecht geht, möchte nicht, dass er wegen mir leidet. Allerdings zerstört das all meine Pläne, gut den einen den ich hatte. Ich habe immer noch keine Zukunft, keine Lösung für meine Probleme und kann meine Ängste nicht steuern.
„Wie wird es weiter gehen? Für mich? Für uns?“, das klingt kälter als es sein sollte, aber es tobt ein Kampf in mir, sodass ich meine Stimmlage nicht genauestens unter Kontrolle halten kann.
Julian betrachtet mich einen Augenblich irritiert, fängt sich aber schnell wieder.
„Du wirst jeden Tag mit Frank reden, er hat einen neuen Therapieplan erstellt. Du wirst weiterhin bei Ann wohnen, deine Arbeitsaufnahme haben wir vorerst auf unbestimmte Zeit verschoben.
Wir alle werden dich unterstützen, wir sind für dich da, wir lassen dich nicht allein.“, erklärt er ruhig und schaut mir dabei fest in die Augen. Ich leichtes Gefühl übergangen wurden zu sein breitet sich in mir aus, aber es festigt sich nicht, da ich selbst ja keinen Plan habe. Mein Selbstmordplan ist immer noch nicht ganz gestorben, da ich nicht weiß, ob ihr Vorhaben den gewünschten Effekt bringt. Es ist meine Option, die Letzte, nicht mehr die Einzige, aber noch vorhanden.
„Und für uns?“, will ich weiter wissen, aber jetzt deutlich netter, wenn auch nicht liebevoll. Ich weiß nicht wie ich mit der ganzen Situation umgehen soll, bin überfordert und das nicht nur leicht.
„Ich werde versuchen dich in allem zu unterstützen, werde für dich da sein. Du bestimmst das Tempo, ich hab so lange auf dich gewartet da kommt es nun nicht mehr darauf an.“, erwidert er zärtlich und setzt sich neben mich auf die Trage. Gefühlvoll nimmt Julian mein Gesicht zwischen seine großen, zarten Hände und im nächsten Moment liegen unsere Lippen aufeinander. Der Kuss ist salzig von unser beider Tränen, aber er ist auch ein Versprechen, von Julian an mich, dass er alles was er gesagt hat genauso meint. Gewillt ihm zu glaube erwidere ich den Kuss hoffungsvoll und die Idee, das Vorhaben könnte gelingen, ich könnte irgendwann ein normales Leben führen, lässt mich die letzten so entsetzlichen Tage einen Augenblick fast vergessen.
Nur ungern trennen sich unsere Lippen wieder, aber als sich das Stimmengewirr draußen nicht mehr ignorieren lässt, seufze ich wehmütig und lehne meinen Kopf etwas zurück, sodass ich Julian nun wieder ansehen kann. Er hält mein Gesicht noch immer umschlossen und schaut mir tief in die Augen, er scheint mir bis in die Seele zu schauen, andersrum ist es aber auch so. Ich lese in seinen braunen, warmen Iriden, dass er mich liebt und mir beistehen wird.
„Bist du bereit?“, fragt Julian mich und streicht mir eine Strähne hinters Ohr, zögerlich nicke ich, immer noch gefangen in seinen Augen.
Er greift nach meiner Hand und verschling unsere Finger miteinander, ehe er aufsteht und wir gemeinsam den Rettungswagen verlassen.
Einen Moment muss ich gegen die grelle Sonne anblinzeln bevor ich wieder etwas sehe und so bemerke ich Ann, die auf mich zu rennt, zu spät. Sie wirft sich mir in die Arme und ich taumle, unvorbereitet durch die Wucht, etwas zurück.
„Bitte, bitte, tu so etwas nie wieder. Mach das nie wieder!“, weint sie verzweifelt an meiner Schulter und nach dem ersten Schock nehmen ich sie fest in den Arm und versuche sie zu beruhigen.
Etwas wiederstrebend hat Julian meine Hand losgelassen, sodass ich Ann sanft über den Rücken streiche, bis sie sich beruhigt hat.
Wie vom Donner gerührt packt sie mich auf einmal bei den Schultern und schaut mich direkt an, verdutzt erwidere ich ihren Blick.
„Versprich mir, dass du nie wieder so einen Blödsinn machst! Du musst es mir versprechen Emily“, sagt sie fest und schüttelt mich dabei leicht. Ich soll ihr versprechen mich nicht umzubringen? Mein Leben nicht mehr beenden zu wollen? Dass kann ich nicht. Sicher, zurzeit gibt es anscheinend einen neuen Plan, aber wenn der nicht klappt? Wenn sie sich doch von mir abwenden? Wenn sie mich alleine lassen? Es gibt so viele Faktoren, die dieses zerbrechliche Konstrukt zerstören können, wie solle ich ihr da ein Versprechen geben?
Frank bahnt sich einen Weg zu uns und ich sehe ihn hilfesuchend an. Ann hat ihn noch nicht bemerkt, wie gebannt starrt sie mich immer noch an und wartet auf eine Antwort. Eine Antwort die sie nicht hören will, denn sie will sicher hören, dass es eine blöde Idee war und ich es nie wieder machen werde, aber das kann ich einfach nicht. Ich kann sie nicht anlügen.
„Und?“, fragt sie barsch nach und schüttelt mich erneut. Nachmals sehe ich mich hilfesuchend um. Frank ist nun bei uns angekommen, hat aber von unserem Gespräch nichts mitbekommen, sodass er nicht einschreiten kann. Er blickt zwar leicht verwirrt zwischen uns hin und her aber ansonsten kann er mir wohl nicht helfen. Julian steht auch immer noch neben mir, erklärt aber grade dem Sanitäter, dass ich nicht mit ins Krankenhaus muss.
Also sehe ich wieder Ann an, die ihre Augen unnatürlich weit aufgerissen hat und sichtbar gereizt auf eine Antwort wartet. Betrübt, ihr nicht die gewollte Erwiderung geben zu können, senke ich den Kopf und schüttle ihn. Es ist nur der Ansatz einer Bewegung, aber schon dass reicht, dass Ann sich enttäuscht von mir löst und wutentbrannt davon stapft.
Ich habe bei mir mit Tränen gerechnet, weil ich Ann enttäuscht habe, aber wieder steigt Wut in mir auf. Warum verlangt sie sowas von mir? Ich kann ihr das doch nicht einfach versprechen, kann sie doch nicht anlügen, denn es wäre eine Lüge.
Als Frank mich anspricht, holt er mich aus meinen Gedanken zurück und meine Wut verraucht ein wenig.
„Hat Julian bereits mit dir gesprochen? Es kommt eine Menge Arbeit auf uns zu, aber ich bin zuversichtlich.
Wie steht es zwischen dir und Julian, er hat uns allen gestern und heute gezeigt wie viel du ihm bedeutest, aber wie sieht es in dir aus?“, redet er sanft auf mich ein. Zur Beantwortung seiner Frage nehme ich einfach Julians Hand in meine und verschränke unsere Finger miteinander, wie er es vorhin gemacht hat. Julian spricht grade mit einem Beamten, unterbricht das Gespräch allerdings bei meiner Berührung und küsst mich leicht. Ihn hier in aller Öffentlichkeit zu küssen treibt mir das Blut in die Wangen und als ich Frank wieder ansehe, grinst er wissend.
„Ich werde ihn mit in die Therapie miteinbeziehen und mit Ann rede ich auch noch ein ernstes Wörtchen.“, verspricht er und umschließt mich vorsichtig mit seinen viel zu langen Gliedmaßen.
„Du bist eine starke Frau Emily, wir werden einen Weg finden.“, beschwört er mich und meine Zuversicht wächst etwas.
Langsam löst sich der Menschenauflauf etwas auf, erste Polizeiwage verlassen das Gelände und auch der Rettungswagen fährt los.
Frank nimmt mich und Julian in seinem Auto mit, weil Ann anscheinend einfach weggefahren ist. Wir brauchen eine ganze Weile in die Stadt und ich wundere mich, dass ich soweit gelaufen bin. Jetzt fühlt es sich an als wäre ich in Trance gewesen. Es fühlt sich fern und fremd an, aber ich spüre immer noch die Ausweglosigkeit.
Julian hält über den ganzen Weg meine Hand und ich beginne mich zu frage, wie Ann reagieren wird. Wie reagiert sie, wenn sie erfährt, dass wir nun offiziell zusammen sind? Ich hoffe sie streitet sich nicht wieder mit Julian. Warum kann sie seine Gefühle nicht akzeptieren? War er früher wirklich so ein Weiberheld? Hat sie Angst um mich oder macht sie sich Sorgen um ihn? Warum hat sie vorhin so sauer reagiert? So habe ich sie noch nie erlebt. Sie hat Angst um mich, macht sich Sorgen ich könnte mich wirklich irgendwann umbringen, aber ich kann ihr nicht verspreche, was ich nicht halten kann.
Ein Türzuschlagen reißt mich mal wieder aus meinen Gedanken und ich bemerke, dass wir bei Anns Wohnung angekommen sind. Wie soll ich jetzt eigentlich die Miete bezahlen, wenn die anderen der Meinung sind, ich sollte den Job noch nicht antreten? Ich werde Julian fragen müssen, aber nicht jetzt, da wir mitten auf dem Bürgersteig vor dem Haus stehen.
Der Arzt hält immer noch meine Hand und muss mich regelrecht hinter sich her ziehen. Es wiederstrebt mir in dieses Haus zu gehen, weil ich weiß, dass Ann sauer auf mich ist. Sie ist zuhause, ihr Auto steht vor der Tür und ich möchte am liebsten fliehen, einer Konfrontation auf dem Weg gehen. Ich kann es nicht leiden, wenn jemand böse auf mich ist. Doch Julian zieht mich unerbittlich hinter sich her, in die Wohnung
Ich höre, wie jemand lautstark in der Küche mit Geschirr hantiert und da ich weiß, dass Mike noch vor Ort war, als wir losgefahren sind, kann es sich nur um Ann handeln.
In mein Zimmer und mich verkriechen, das möchte ich jetzt, doch Julian hat andere Pläne. Er zerrt mich direkt in die Küche und drückt mich auf einen der Stühle am Esstisch.
Nicht wissend wo ich hinschauend soll, hefte ich meinen Blick auf die Tischplatte und bete lautlos dieser Situation bald entkommen zu können.
„Du solltest etwas essen.“, bestimmt Ann kühl und stellt mir einen Teller mit Sandwiches vor die Nase. Erschrocken und mit aufsteigenden Tränen in den Augen starre ich sie an und endlich, endlich erlöst mich jemand.
„Ann, könnte ich kurz mit dir reden?“, fragt Frank, der die Situation am Türrahmen lehnend beobachtet hat. Ohne zu antworten wirft Ann einen Kochlöffel lautstark in die Spüle und wendet sich zu Frank. Wie gebannt schaue ich zu, wie die beide die Küche verlassen, in Anns Zimmer gehen und die Tür hinter sich schließen. Was wird Frank ihr sagen? Kann er meine Reaktion verstehen? Weiß er überhaupt worum es geht? Er ist ein guter Psychologe, doch kann er wissen was in mir vorgeht?
„Bitte iss etwas.“, reißt mich Julian in die Realität zurück und ich stelle fest, dass ich häufig ganz schön von meinen Gedanken abgelenkt bin. Doch ich mahne mich selbst nicht weiter darüber nachzudenken und beiße beherzt in eines der Sandwiches, als mir meine Frage von vorhin wieder durch den Kopf geht.
„Wie soll ich eigentlich die Miete bezahlen, wenn ich nicht arbeiten gehe?“, frage ich kauend und sehe Julian an, denn ich habe immer noch wie gebannt auf die geschlossene Tür zu Anns Zimmer geschaut.
„Ich werde das übernehmen, bis Frank der Meinung ist, dass du arbeiten kannst.“, antwortet er etwas zerknirscht, fast scheint es, als wollte er das vor mir verheimlichen. Da fällt mir ein, dass er ja auch meinen Krankenhausaufenthalt bezahlt hat.
„Warum tust du das alles für mich? Du bezahlst meine Krankenhausrechnung, prügelst dich mit diesem Autofahrer, hast Streit mit deinem Chef und Ann.“, will ich wissen und habe, um mich besser konzentrieren zu können, das Essen eingestellt.
„Weil ich dich liebe, Emily. Ich möchte, dass es dir gut geht, ich möchte für dich sorgen. Das tue ich vielleicht nicht immer mit den richtigen Mitteln, aber wenn es um dich geht, kenne ich keine Grenzen mehr.“, flüstert er und legt seine Hand auf meine Wange. Ich schmiege mich an sie an und schließe die Augen. Er ist viel zu gut für mich. Julian hat mehr verdient. Jemanden, der nicht so kaputt ist, der sich an seine Vergangenheit erinnern kann, der ihn so lieben kann wie er liebt. Diese Person bin nicht ich, aber es fühlt sich so gut an in seiner Nähe zu sein, von ihm berührt zu werden. Bei ihm fühle ich mich sicher. Ich bin ein Egoist, rücksichtslos genieße ich seine Liebe, obwohl ich weiß, dass es nicht gut ausgehen kann.
Warum habe ich es vorhin nicht hinter mich gebracht? Ich verlängere doch nur meine Qualen und ziehe zudem Julian mit hinein.
Ich kann nicht verhindern, dass mir eine einzelne Träne über die Wange rollt. Julian wischt sie bedächtig mit seinem Daumen beiseite, ich werfe meine Arme um seinen Hals und ziehe ihn in einen leidenschaftlichen Kuss. Ich brauche ihn, sollte ich sein Zuneigung verwirken, bin ich verloren. Er ist mein Halt, mein Anker in der tosenden See meine Gefühle, Alpträume und Ängste.
Immer weiter vertieft sich unser Kuss, ich vergrabe meine Hände in seinen seidigen Haaren und Julian beginnt mich zu streicheln. Doch als seine Hand den Saum meines Shirts erreicht und versucht darunter zu gelangen, halte ich ihn blitzschnell davon ab und beende den Kuss. Ich weiß nicht was in mich gefahren ist, aber ich kann nicht zulassen, dass er meine Haut berührt. Da ist auf einmal eine Barriere in mir, die verhindert, dass Julian meine Narben berührt. Ich weiß, er hat sie schon gesehen, gewiss schon untersucht, aber diese Situation ist anders.
„Es tut mir leid.“, sage ich hastig und stürze aus dem Raum. Ich schmeiße mich auf mein Bett und weine in die Kissen. Es wird nicht funktionieren, es kann einfach nicht gut gehen. Er wird irgendwann mehr wollen. Er wird es wollen und ich kann es ihm nicht geben. Kann ich je wieder mit einem Mann intim werden? Kann ich vergessen, was mir angetan wurde? Wurde mir überhaupt etwas angetan? Sind die Bilder meiner Alpträume echt? Sie habe mich schon einmal getäuscht, kann ich ihnen glauben?
„Alles ist okay. Ich habe dir versprochen, dass du das Tempo bestimmst und ich halte meine Versprechen. Ich kenne den Hintergrund und verstehe sehr gut warum du es nicht zulassen kannst.“, redet Julian, der mir gefolgt sein muss, einfühlsam auf mich ein.
„Aber, was wenn ich es nie kann, wenn ich nie Berührungen zulassen kann, nie mit dir schlafen kann?“, weine ich überfordert in die Kissen. Ich merke, wie Julian sich neben mich legt und mich in seine Arme schließt.
„Dann werde ich das akzeptieren.“, antwortet er sicher.
Er hat es offensichtlich akzeptiert, denn dieser Tag ist mittlerweile zwei Monate her und Julian hat keinen weiteren Versuch unternommen mich unter meinen Sachen zu berühren.
Meine Therapie schreitet sehr gut voran und inzwischen kann ich mich sogar in Unterwäsche vor Julian zeigen. Auch meine Alpträume haben abgenommen und meine Angst vor fremden Männern lerne ich immer besser zu kontrollieren.
Die Beziehung zwischen mir und Julian scheint Ann mittlerweile anzuerkennen, auch wenn sie sich ab und zu noch komisch diesbezüglich verhält. Auch habe ich noch nicht rausbekommen, wen von uns beiden sie nun schützen will.
Mit Franks Hilfe konnte Ann annehmen, dass ich ihr nichts versprechen kann und auch sie unterstützt mich wo sie nur kann. Ebenso wie Mike. Fast scheint es, als seien Mike und Julian heimlich mit in Anns Wohnung gezogen. Es ist zwar manchmal etwas eng, aber ich liebes es, wenn wir alle zusammen sitzen.
Ich kümmere mich um den Haushalt, wenn die anderen auf Arbeit sind. Ich koche und putze und es geht mir erstaunlich gut.
Täglich habe ich immer noch Therapiesitzungen, aber ab nächste Woche beginne ich zu arbeiten und die Sitzungen reduzieren sich auf 2-mal in der Woche. Ann hat mir Jodie vorgestellt und wir verstehen uns wirklich gut.
Heute ist Donnerstag der 24.07 und Ann hat sich in Kopf gesetzt, morgen meinen Geburtstag zu feiern. Ich bin davon nicht besonders begeistert, da ich nicht mal weiß, ob es mein wirklicher Geburtstag ist. Ab und zu holen mich diese Gedanken wieder ein. Die Trauer, weil ich nichts über mich weiß. Die Verzweiflung, weil ich nicht weiß wer ich wirklich bin. Die Angst davor zu erfahren, dass ich ein schlechter Mensch war. Grade jetzt bin ich wieder tief in diesen Ängsten gefangen.
Ich kuschle mich enger an Julian, der neben mir liegt und jetzt ein Brummen von sich gibt.
„Du solltest schlafen, Ann hat morgen viel vor.“, murmelt er schon fast schlafend.
‘Das ist ja grade das Problem‘ möchte ich sagen, entscheide mich aber dagegen. Julian hat schon genug mit meinen Problemen zu kämpfen, ich will ihn nicht noch mehr belasten.
Irgendwann schaffe auch ich es meine Gedanken hinter mir zu lassen und einzuschlafen.
Fäuste prasseln wie Kanonenschüsse auf mich ein und ich liege starr auf dem Boden und lasse es über mich ergehen. Fühlen tue ich schon lange nichts mehr, zumindest nicht den Schmerz der Hiebe. Es ist fast so als brauche ich sie, um zu wissen, dass ich überhaupt noch lebe. ER ersetzt SEINE Hände durch SEINE Füße und maltraktiert mich weiter. Warum ist ER denn heute wieder so aggressiv? Was ist heute der Grund für die Prügel? Ich habe schon lange aufgehört zu fragen. Vielleicht bin ich es ja selbst, meine pure Anwesenheit.
ER lässt von mir ab, aber ich weiß, dass es gleich weiter geht, dass ER mich gleich mit SEINEN schwitzigen Finger anfassen wird. Ich lasse es geschehen, selbst wenn ich es wöllte, ich kann mich nicht bewegen. Mein Körper schmerzt, vielleicht sind sogar wieder eine oder zwei Rippen gebrochen.
ER dringt in mich ein, stöhnt laut auf und mit wenigen Stößen hat ER SEINEN Höhepunkt erreicht. Mir macht es schon lange keine Lust mehr, ich empfinde nichts. War es jemals anders? Ich weiß es nicht mehr, kann mich nicht mehr daran erinnern.
Plötzlich gibt ER mir eine schallende Ohrfeige und ich bin verwundert, weil ER von SEINEN sonstigen Quälereien abweicht.
„Du wehrst dich gar nicht mehr. Wie schade.“, sagt ER fast sanft und im nächsten Moment liegen SEINE Hände fest um meinen Hals, ich ringe nach Atem.
„NEIN!“, schreie ich aus voller Kehle und greife an eben jene, um diese ekelerregenden Hände loszuwerden. Doch da sind keine Hände, mein Hals ist frei, aber meine Atmung scheint das nicht zu wissen. Keine Luft kommt in meinen Atemwegen an und meine Bronchen ziehen sich schon zusammen, auf verzweifelter suche nach Sauerstoff. Mein Puls rast, Schweiß rinnt mir übers Gesicht und vermischt sich mit meine Tränen.
„Emily, du musst atmen!“, höre ich jemanden weit entfernt rufen und versuch dem nachzukommen, aber es geling mir einfach nicht.
Einen Augenblick später spüre ich sanft Lippen auf meinen und jemand presst Luft in meine zusammengezogenen Atemwege. Meine Lungen füllen sich mit dem lebensnotwendigen Gas und ich entspanne mich etwas. Die Lippen entfernen sich und ich schaffe es eigenständig zu atmen. Hektisch, aber mit nachlassender Geschwindigkeit.
„Es war nur ein Traum. Du bist bei mir, niemand tut dir etwas.“, spult Julian seinen Standardsatz, liebevoll mit einem Hauch Resignation, herunter. Mittlerweile ist er geübt darin mich nach einem solchen Alptraum zu beruhigen, nur ab und zu, wenn Julian Nachtschicht hat, übernimmt diesen Job Ann.
Sie haben sich gemeinsam mit Frank auf dieses Ritual geeinigt, um mir Sicherheit zu geben und es funktioniert. Sie nehmen mich fest in den Arm und während noch Panik in mir herrscht, beten sie mantraartig diesen Satz hinunter. Julian verteilt bei dieser Prozedur immer noch kleine Küsse auf meiner Stirn.
Als ich mich von diesem Alptraum erholt habe und langsam beginnen kann Julians Zärtlichkeiten zu genießen, werfe ich einen Blick auf die Uhr. 5:43 Uhr, Julian wollte sowieso um 6 Uhr aufstehe, als habe ich ihm nicht allzu viel Schlaf gestohlen.
„Auch wenn wir nicht wissen, ob es wirklich dein Geburtstag ist und die Wahrscheinlichkeit recht gering ist. Auf jeden Fall ist es ein besonderer Tag, also alles Gute.“, sagt er sanft und gibt mir dann einen wirklich nicht jugendfreien Kuss. Unsere Zungen spielen miteinander und ich fahre über seine nackte Brust, betaste seine zart definierten Muskeln.
Aus einem Impuls heraus fahre ich hinab bis zum Saum seiner Boxershorts, doch Julian greift nach meine Hand und beendet unseren Kuss.
„Bis du dir sicher? Denn wenn du weiter machst, werde ich mich nicht mehr lange beherrschen können.“, fragt er eindringlich und inspiziert mein Gesicht sorgsam.
„Ja, aber…“, sage ich verlegen und suche nach den richtigen Worten, denn grade ist mir ein Licht aufgegangen. Eine Idee, wie ich vielleicht doch mit Julian schlafen kann, denn ich will es auch. Das Ziehen in meinem Unterleib ist nur eines der untrüglichen Anzeichen dafür.
„Was aber?“, will er sanft wissen und legt mir seine Hand auf die Wange, nachdem er eine verirrte Strähne hinter mein Ohr gestrichen hat.
„Könntest du…? Vielleicht klappt es…? Wenn ich oben…?“, druckse ich herum, dann hole ich tief Luft und bringe es hinter mich.
„Ich liege oben und mein Top bleibt da wo es ist, du kannst mich berühren, aber nur durch den Stoff hindurch. Ich bestimme das Tempo und breche sofort ab, wenn ich Angst bekomme.“, rattere ich herunter und schiebe schnell noch ein ‘wenn es für dich okay ist‘ hinterher.
„Es ist okay.“, erwidert er mir rau belegter Stimme und nimmt wieder meinen Mund in Beschlag.
Ich befreie mich selbst von meinem Slip, ohne seine Lippen zu verlassen, bevor ich meine Reise auf Julians Körper fortsetzte. Ich schiebe meine Hand in seine Unterhose und reibe über sein Genital. Es wächst in meiner Hand und für einen kurzen Moment wundere ich mich über meine Initiative. Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen, weiß ich intuitiv, was ihm gefällt.
Julian knetet leicht meine Brüste und küsst eine Spur meinen Kiefer entlang bis zu meinem Ohr. Lustvoll beißt er in mein Ohrläppchen und ich stöhne auf, denn es scheint eine direkte Verbindung zu meinem Unterleib zu besitzen.
Unbeherrscht ziehe ich Julian die Boxershorts herunter und sitze in der nächsten Sekunde auf ihm. Langsam lasse ich sein steifes Glied in mich hineinfahren und er dehnt mich, sodass ich ein erstickendes Keuchen von mir gebe. Auch Julian stöhnt und packt mit beiden Händen meinen Po um sich noch tiefer in mir zu versenken.
Augenblicke verharre ich bewegungslos, muss mich an seine Größe gewöhnen. Erst dann gebe ich einen langsamen Rhythmus vor. Genießerisch schließe ich die Augen und horche in mich hinein, ehe ich bedächtig mein Becken hebe und senke. Julians steifer Schaft bohrt sich immer wieder in mich hinein und ich spüre wie mit jedem Stoß meine Lust steigt, konzentriere mich auf das gute Gefühl in meinem Inneren.
Plötzlich umfasst Julian wieder meinen Po, nachdem er die Massage meine Brüste unterbrochen hat. Er will mein Tempo steigern, doch ich brauche die Zeit, muss mich erst auf meine neuen Gefühle einstellen.
Als er nicht aufhört, obwohl ich versuche seine Hände mit meinen zu entfernen, stelle ich jegliche Bewegung ein.
Erschrocken reißt er die Augen auf und will ansetzten etwas zu sagen doch ich verschließe seinen Mund mit meinem Zeigefinger und schüttle den Kopf.
Ruhig pflücke ich seine Hände von meinen Pobacken und setzte dann meine Bewegungen fort. Julian scheint noch einen Moment irritiert, erobert dann aber wieder meine Oberweite. Zwirbelt meine, sich durch den dünnen Stoff abzeichnenden, Nippel und bringt mich damit noch mehr auf Touren.
Meine Bewegungen werden schneller und ich merke, dass sich Julian unter mir deutlich anspannt.
Hitze durchläuft meinen Körper, ich werfe meinen Kopf in den Nacken und steigere die Geschwindigkeit immer mehr. Bis sich auf einmal alles in mir zusammenzieht. Ich fühle mich in den Himmel katapultiert und lasse mich von diesem Gefühl davon tragen. Nebenbei bemerke ich, wie ich ein lautes Stöhnen von mir gebe und auch Julian keuchend seinen Höhepunkt erreicht.
Mein Körper fühlt sich schlagartig kraftlos und schlaff an und ich lege mich leicht benommen einfach auf Julians Brust. Ich kann ihn immer noch in mir spüren, höre seinen schnellen Herzschlag und einen Moment denke ich, ich bin selig. Doch just in diesem Moment steigen mir die Tränen in die Augen und Traurigkeit macht sich in mir breit. Warum muss mein Leben nur so verkorkst sein? Habe ich nichts Besseres verdient?
Der Sex war wundervoll, doch Bilder aus meinen Träumen kommen mir in den Sinn. Bilder von Vergewaltigungen. Empfindungen von unsagbaren Schmerzen. Ängste vor diesem Mann, der mir das angetan haben muss. Denn soweit sind Frank und ich uns sicher, ich habe diese Qualen erlebt, sie sind nicht nur Ergebnis meiner Phantasie.
Ruckartig schiebt mich Julian von sich weg, sodass ich leicht verwirrt aus meinen Gedanken aufschrecke und betrachtet mich sorgenvoll.
„Hab ich dir wehgetan? Geht es dir gut? Ist alles okay?“, fragt er fast panisch und durcheinander sehe ich ihn an. Wie kommt er denn jetzt darauf? Nur langsam kann ich seine Gedankengänge nachempfinden. Meine Tränen glitzern noch auf seiner Brust und mein Gehirn rattert vor sich hin. Er denkt, er hätte mir wehgetan! Er denkt, ich weine, weil ich Panik bekommen habe!
Schnell schüttle ich meinen Kopf, als ich endlich verstanden habe, was ihn so in Angst versetzt.
„Nein, alles ist gut. Es war wundervoll. Danke.“, sage ich beruhigend und küssen ihn zärtlich, um meine Aussage zu untermauern.
Noch einen Moment sieht mich Julian kritisch an, doch dann erlöst mich der Wecker und ich springe regelrecht aus dem Bett. Ich kann ihm doch nicht erklären, dass ich nach dem Sex an diesen Mann gedacht habe, dass ich Angst habe, es könnte wieder passieren. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich Panik bekomme, wenn ich daran denke Julian könnte während des Verkehrs die Kontrolle haben.
Schweigsam gehen wir gemeinsam ins Bad. In der Zeit, in der ich dusche, rasiert sich Julian und während ich meine Haare föhne und kämme, duscht er. So sparen wir uns den morgendlichen Kampf ums Badezimmer, wenn wir alle vier da sind.
Nur in Unterwäsche stehe ich vor dem Spiegel und trockne meine langen dunkelblonden Haare. Mein Blick wandelt über meine Narben und ich taste jeden Zentimeter mit meinen Augen ab. Wie kann Julian mich lieben, obwohl er weiß wie ich aussehe? Wie kann er etwas an mir mögen, dessen Anblick ich kaum ertragen kann? Ich hab gelernt sie als Teil meines Körpers zu akzeptieren, aber am liebsten würde ich sie für immer verstecken, auch vor mir selbst. Sie zeigen, dass ich schwach war, es immer noch bin. Sie führen mir jeden Tag vor Augen, wie kaputt ich bin, nicht nur meine Haut sondern auch meine Psyche. Denn auch diese wird nie ganz heilen, auch sie wird Narben zurückbehalten, die mich für immer von ‘normalen‘ Menschen unterscheiden. Ich trage diese Narben mit mir und kann mich nicht einmal daran erinnern wie sie entstanden sind. Einige kann ich auf den Traum mit der Schere zurückführen, aber bei weitem nicht alle. Was hat ER mir noch alles angetan? Wird ER es wieder tun? Sucht ER nach mir? Wird ER mich finden?
Panik steigt in mir auf und die ersten Tränen beginnen zu laufen. ER darf mich nicht finden, dass wäre mein Untergang, wenn ER wirklich nach mir sucht und mich von hier wegholt, werde ich sterben, ich weiß es. Egal ob ich es selber tue oder ER endlich zu Ende bringt womit ER begonnen hat, es ändert am Ergebnis nichts.
Lange habe ich nicht mehr an Selbstmord gedacht, habe meine letzte Option weit in meinen Hinterkopf verbannt, um die Zeit mit Julian zu genießen. Doch jetzt ist er wieder da, mein Ausweg. Ich spüre, dass bald irgendetwas Schlimmes passiert und ich wieder auf ihn zurückgreifen werde.
Die Angst verwandelt sich in einen Heulkrampf, ich halte mich am Waschbecken fest, um nicht ganz zusammen zu brechen. Auf einmal spüre ich starke, nasse Arme um meine Taille, sie stützen mich, geben mir den erforderlichen Halt.
„Sshht. Was ist denn los? Es hat doch nichts mit dem Sex zu tun? Habe ich dir wirklich nicht wehgetan?", fragt Julian sanft und drückt mich fester an sich. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter und kann mich zumindest soweit beruhigen, dass ich ihm antworten kann. Erst einmal schüttle ich vehement den Kopf, während ich angespannt nach den richtigen Worten suche.
„Wie kannst du mich so lieben?“, stelle ich eine Gegenfrage und werfe einen eindeutigen Blick auf meine Narben. Es ist zwar nur ein kleiner Teil meiner derzeitigen Problematik, aber der, den er mir beantworten kann.
Julian dreht mich in seinen Armen zu sich und schaut mir fest in die Augen, dann beginnt er hauchzart über eben diese Zeugnisse meines früheren Lebens zu fahren und der erste Impuls ist seine Finger davon abzuhalten, aber diese Berührungen lösen in mir auch eine unsagbare Wärme aus und das ziehen in meinem Unterleib setzt wieder ein.
Dann ersetzt er seine Finger durch seine Lippen und küsst jeden Zentimeter meiner zahlreichen Narben.
„Du bist…“, Kuss, „…ein Mensch.“, Kuss, „Menschen leben,…“, Kuss, „…leben erzeugt…“, Kuss, „…Narben.“, Kuss, „Ich liebe…“, Kuss, „…jede…“, Kuss, „…Einzelne,…“, Kuss, „…denn…“, Kuss, „…sie sind…“, Kuss, „…ein Teil…“, Kuss, „…von dir.“, Kuss, „Und du…“, Kuss, „…bist…“, Kuss, „…perfekt.“, Kuss, „Perfekt…“, Kuss, „…für mich!“, Kuss.
Julian setzt seine Kussattacke fort und mit jeder Berührung seiner weichen Lippen steigt meine Erregung. Er ist viel zu gut für mich und ich bin ein Egoist ihn zu lieben, doch zurzeit gibt es für mich keinen anderen Halt. Er ist mein Halt.
Stürmisch ziehe ich ihn an seinen starken, weichen, vom duschen noch nassen Haaren zu mir hoch und erobere seinen Mund. Leidenschaftlich küssen wir uns doch ich will mehr, will ihn in mir. So greife ich nach dem Handtuch um seiner Hüfte und mit wenig Aufwand gleitet es lautlos zu Boden. Seine Hände erkunden meine nackte Haut und ich genieße es, hätte nie damit gerechnet, dass seine kühlen Hände mich so sehr erregen könnten. Es ist egal, ob er meine Narben berührt, es ist egal, dass er meine BH öffnet und er kurz darauf auch auf dem Boden liegt. Alles ist egal, nur eins ist wichtig. Julian. Solang er dies mit mir macht, existiert der Rest der Welt nicht mehr.
Julians Hände gleiten über meinen Rücken und hinein in meinen Slip. Hauchzart legen sie sich auf meinen Po und schieben dann meine Unterwäsche hinab, sodass sie um meine Füße liegt. Unsere Lippen verlassen derweil nicht den Körper des anderen, sie erkunden und entdecken. Leidenschaftlich, heftiger als je zuvor, küssen wir uns, beißen uns nur leicht gezügelt in Lippen, Ohrläppchen oder Nippel.
Wie im Wahn bekomme ich mit, wie Julian mich leicht an der Hüfte anhebt und ich Sekunden später auf dem kühlen Waschbecken sitze. Es ist wirklich erschreckend kalt, so sehr, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Doch als Julian in mich eindringt ist alles andere vergessen. Er bestimmt das Tempo, er hat die Kontrolle und den leichten Anflug von Panik kann ich gut zu Seite schieben. Es ist Julian, nicht ER.
Ungestüm, kraftvoll dringt er in mich ein und ich halte mich an seinen Schultern fest, grabe meine Nägel in seine Muskeln. Es ist die pure, ungeschönte Lust, als ich schon wenige Stöße später meinen Höhepunkt erreich und mich um Julian zusammenziehe. Dies scheint auch ihn auf die Spitze zu bringen, denn er Stöhnt laut auf und sackt dann leicht in meine Arme.
Es dauert einige Zeit, bis wir beide wieder zu Atem kommen und die Wellen unserer Leidenschaft sich verabschieden. Doch dann schaut Julian mich ernst an und ich muss ein paar Mal blinzeln, um meinen verklärten Blick zu bereinigen.
„Emily, du bist wunderschön, auch mit, nein, grade wegen deiner Narben. An dem Tag im Park, habe ich sie zwar nicht gesehen, aber im Krankenhaus und meine Liebe zu dir wuchs dennoch ins unermessliche. Kein Mensch ist perfekt.“, erklärt er sicher und unterstreicht seine Aussage mit einem zarten Kuss.
„Doch, du bist perfekt.“, hauche ich, als wir uns lösen und er mich fest in den Arm nimmt. Nackt hält Julian mich in seinen Armen, ich lege meinen Kopf auf seiner Schulter ab und unterdrücke die neuerlich aufsteigenden Tränen.
Noch einen Moment genießen wir unsere Nähe, ehe wir uns anziehen. Resignierend stelle ich dabei fest, dass es mir lange psychisch nicht so schlecht ging und das grade heute, wo Ann anscheinend so viel geplant hat. Wie soll ich ihr sagen, dass ich es heute nicht verkrafte, dass ich schon wieder fast am Boden liege. Ich werde sie verletzten, doch was wäre die Alternative? Ein neuerlicher Zusammenbruch? Ein erneuter Selbstmordversuch? Nur weil ich Ann nicht vor den Kopf stoßen will?
Zerknirscht betrete ich an der Seite von Julian die Küche. Mike sitzt bereits am Tisch und Ann stellt grade die letzten Sachen darauf ab, als sie uns bemerkt. Ein strahlendes Grinsen breitet sich auf ihrem Gesicht aus und sie kommt auf mich zu gestürmt. Fest schließt sie mich in den Arm und will grade ansetzten zu reden, als ich all meinen Mut zusammenkratzte und sie unterbreche. Das sind die Momente auf die mich Frank vorbereitet hat, ich muss auf meine Gefühle achten, muss auch mal jemanden verletzten, um mich zu schützen.
„Kann ich kurz mit dir reden?“, frage ich und kämpfe schon wieder mit den Tränen. Frank wäre stolz auf mich, denn auch wenn ich die Tränen herunterschlucke, er sagt es ist wichtig seine Emotionen nicht zu unterdrücken. Andere Menschen sollen sehen wie es mir geht und es lebt sich wesentlich einfacher ohne Schutzmauer.
„Klar.“, antwortet Ann wie selbstverständlich und wir gehen gemeinsam ins Wohnzimmer. Nebeneinander setzten wir uns auf die Couch und Ann lässt mir die Zeit die richtigen Worte zu finden.
„Mir geht es nicht gut.“, beginne ich und schaue auf meine ineinander verschlungenen Hände, als Ann beide in ihre schließt.
„Ich hatte wieder einen Alptraum.“, berichte ich weiter und sehe sie diesmal an. Sin nickt verständnisvoll und ich weiß, sie hat mich gehört.
„Dieser Tag macht mir Angst. Ich weiß nicht genau warum, aber ich stehe heute wieder vor einem Abgrund. Ich habe das Gefühl ich schaffe es nicht. Kannst du das verstehen?“, will ich wissen und schaue sie vorsichtig an. Ann nickt etwas verwirrt.
„Ich weiß nicht was du für heute geplant hast, aber ich bitte dich. Bitte tu mir das nicht an. Ich ertrage es nicht. Am liebsten würde ich mich verkriechen und hoffen, dass es schnell wieder vorbei geht, aber ich muss mit Frank darüber reden.
Ich… ich weiß nicht wie ich es dir erklären soll. Ich weiß, dass du mir helfen willst, doch heute geht das wahrscheinlich am besten, wenn du deine Pläne vergisst und einfach da bist. Ohne eine große Feier oder was du alles vorbereitet hast.“, mache ich meinem Herzen Luft und bin erleichtert, es endlich hinter mich gebracht zu haben. Erwartungsvoll warte ich auf Anns Reaktion, ich sehe in ihren Augen, dass sie verschiedenste Gefühle durchlebt. Verständnis, Angst, Verzweiflung, Wut, Resignation.
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es schön ist, aber deine Gesundheit geht vor. All meine Vorhaben sind hinfällig, wenn es dir schlecht geht.
Ich hatte gehofft, wir hätten diese Zeit hinter uns, aber ich danke dir für deine Offenheit, sie ist ein großer Fortschritt.
Ich liebe dich Emily, ich wünschte ich könnte dir mehr helfen.“, sagt sie leise und ihr laufen die Tränen die Wange hinab. Auch ich weine nun wieder und wir schließen uns in die Arme. Doch schnell haben wir uns wieder gefangen und ich sehe, wie sich eine Idee in Anns Gesicht abzeichnet, man kann es genau beobachten. Der Gedanke. Das Abwägen. Die Vorfreude. Erneute Überlegung. Die Überzeugung.
„Aber ein Abendessen mit Frank und Clear ist drin?“, fragt sie nach ihrer Gesichtsakrobatik hoffnungsvoll. Argwöhnisch betrachte ich sie. Sie hat noch einen Hintergedanken, dass sehe ich ihr an der Nasenspitze an.
„Prinzipiell ja, aber was hast du noch vor? Ich kann dich lesen wie ein Buch, da ist noch etwas.“, antworte ich gedehnt.
„Ich werde kochen.“, gibt sie selbstbewusst und leicht schnippisch wider und ich verfalle in schallendes Gelächter. Habe ich erwähnt, dass Ann nicht mal Gemüse schneiden kann? Julian hat mir erzählt, wenn sie nicht gemeinsam gegessen haben, hat Ann nur Fertigprodukte zu sich genommen. Sie kann absolut nicht kochen. Vor 3 Wochen wollte sie Mike mit Spagetti überraschen, nicht mal die Nudeln sind ihr gelungen. Grade so konnte ich verhindern, dass sie das ganze Haus in die Luft jagt.
Am Rande bekomme ich mit, dass auch Ann herzhaft lacht und ich frage mich ob es nur ein Scherz war oder sie ihre Unsicherheit überspielen will. Nachdem ich wieder einigermaßen bei Atem bin versuche ich das herauszufinden.
„Ist das dein Ernst?“, kichere ich, meine Lachmuskeln gehorchen mir noch nicht ganz.
„Eigentlich schon. Ich wollte dir eine Freude bereiten, aber du hast Recht, kochen war noch nie meine Stärke. Allerdings sollten wir irgendwas ändern, denn seit du hier wohnst hab ich schon 3 Kilo zugenommen.“, erklärt sie mit vorgeschobener Unterlippe und klopft sich dabei auf den flachen Bauch, den sie extra weit hervorstreckt. Wieder verfalle ich einen Lachanfall, kann mich diesmal aber schneller beruhigen.
„Das ist mein Ernst. Würdest du mir Kochen beibringen?“, fragt Ann leise und ich bin abrupt still, weil ich denke ich habe mich verhört. Hat Ann mich grade gefragt, ob ich sie im Kochen unterrichte? Ich weiß doch selber nichts darüber, mache alles rein intuitiv. Mir ist zwar schon der Gedanke gekommen, dass ich früher vielleicht etwas in dieser Richtung gemacht habe, aber ich kann mich ja nicht erinnern. Eine ganze Weile starre ich Ann einfach nur an, doch plötzlich kniet sie sich vor mich und führt ihre Hände vor der Brust zusammen, als würde sie beten.
„Bitte. Bitte, Emily, lehre mich zu Kochen. Unterrichte mich in der hohen Kunst der Kochtöpfe. Bring mir bei den Kochlöffel richtig zu schwingen. Zeige mir, wie man Nahrung zubereitet. Sonst werde ich als miserabelste Hausfrau in die Geschichte eingehen.
Tu uns das nicht an, beweise Herz und nimm mich Unwissende in die Lehre.“, fleht sie theatralisch und ich halte mir inzwischen den Bauch vor Lachen. So habe ich Ann kennengelernt. Die verrückte, lustige Krankenschwester, die sich mit der Komapatientin unterhält.
Immer noch lachend ziehe ich sie wieder auf die Couch und schließe sie in die Arme. Ich liebe Ann. Ich liebe sie für ihre einzigartige Art und Weise. Liebe, dass sie mich zum Lachen, aber auch zum Weinen bringt. Aber ich liebe sie auch dafür, dass sie mir vertraut. Liebe sie dafür, dass sie mich als Freundin sieht und nicht nur als Patientin oder Mitbewohnerin. Ich liebe sie sogar dafür, dass sie dieses Versprechen von mir gefordert hat, auch wenn ich es ihr nicht geben konnte, denn das beweist, dass sie ebenso empfindet. Sie möchte nicht, dass ich sterbe, dass ich mich selbst umbringe.
„Heute Abend erste Kochstunde?“, frage ich gut gelaunt. Ihr ist es wirklich gelungen meine Laune zu steigern, dennoch halte ich es für besser auf große Feierlichkeiten zu verzichten.
„Gern.“, antwortet sie freudig und zieht mich dann hinter sich her wieder in die Küche.
Nach dem Frühstück fahre ich gemeinsam mit Ann und Julian in die Klinik, mein Termin mit Frank ist zwar erst am Nachmittag, aber ich bin immer noch gern im Park. Das ist unser Modus, wenn die zwei Frühdienst haben. Ich verbringe den Tag im Park, esse mit ihnen Mittag, habe dann meine Sitzung mit Frank und dann fahren wir wieder nach Hause.
Wenn sie, oder einer von ihnen, Spätdienst haben, nimmt mich derjenige mit ins Krankenhaus und Mike holt mich nach seiner Schicht ab. So haben wir für alle Fälle einen Plan, sodass ich nicht Bus fahren muss und mich unnötig fremden Männern aussetzte.
Häufig sitze ich unter der großen Trauerweide und hänge meinen Gedanken nach. Frank stellt mir immer wieder Frage, an denen ich lange zu kauen habe und ich brauche diese Zeit für mich.
Doch heute denke ich hauptsächlich an IHN, den Mann aus meinen Träumen. Ich gehe alle Einzelheiten der Alpträume durch, an die ich mich erinnere. Frage mich nicht nur einmal, ob ER nach mir sucht.
Wie konnte ich die Frau aus meinen Träumen werden? Wie konnte ich das alles mit mir machen lassen? Ich verabscheu diese Frau für ihre Feigheit, verabscheu mich. Wie lange habe ich das über mich ergehen lassen? Wie lange hat ER mich gequält, bis ich es endlich geschafft habe zu fliehen? Warum war ich überhaupt bei IHM? Liebe? Habe ich keine Familie mehr, zu der ich hätte fliehen können? Keine Freunde, die mir beigestanden hätten?
Fragen drehen sich in meinen Kopf und ich bekomme Kopfschmerzen.
Warum passiert das alles? Warum mir? War ich ein schlechter Mensch? Habe ich kein besseres Leben verdient? Augenscheinlich nicht. Doch was habe ich verbrochen, was zu verschulden? Ich will es endlich wissen, will nicht länger ohne Erinnerungen leben. Zu wissen, dass das Leben verkorkst ist, ist eine Sache, nicht zu wissen warum, eine andere.
Die Ungewissheit setzt mir zu. Wenn wir abends gemeinsam zusammen sitzen und Ann, Julian oder Mike Anekdoten erzählen, kann ich nicht mitreden. Wenn sie über ihre Schulzeit, ihr Studium reden, sitze ich nur daneben und suche mit wachsender Verzweiflung nach meinen Erinnerungen.
Irgendwo in diesem verdammten Kopf müssen sie doch sein, verschüttet, aber vorhanden. Mit flachen Händen haue ich mir vor die Stirn und hoffe ich bringe sie hervor. Doch nur meine Kopfschmerzen verschlimmern sich. Keine Erinnerungsblitze, keine Bilder vor meinem inneren Auge, die auf einmal auftauchen, wie es so oft beschrieben wird.
Immer verzweifelter maltraktiere ich meinen Schädel, um nur ein winziges Anzeichen dafür zu bekommen, dass sie überhaupt noch da sind. Aber nichts. Null. Keine Antwort.
Plötzlich kann ich meine Hände nicht mehr bewegen, da sie an meinen Handgelenken festgehalten werden.
„Emily, ich bin es. Bitte hör auf damit.“, dring Julians Stimme undeutlich zu mir durch und erst jetzt bemerke ich, dass ich die ganze Zeit vor mich hin murmle. Immer wieder frage ich, in mich hinein nuschelnd, ‘Warum?‘. Auch in diesem Moment nehme ich meine Tränen wahr, die unaufhörlich fließen.
Ich hebe meinen Blick, blinzle schnell meine Tränen bei Seite und schaue mich etwas verwirrt um. Julia hockt direkt vor mir, immer noch meine Handgelenke fest im Griff und mich liebevoll, aber gleichzeitig höhst besorgt anschauend. Auch Ann entdecke ich ein Stück entfernt, sie scheint in eine Art Starre verfallen zu sein, die mir beweist was in ihrem Kopf vorgehen muss. ‘Jetzt ist sie endgültig verrückt geworden‘, schreien ihre Augen.
Jetzt werden sie mich unwiderruflich einweisen lassen, ich habe mich grade wirklich benommen, wie vollkommen Irre. Bin ich wirklich ein Fall für die Klapsmühle? Hat mich die ganze Situation schlussendlich doch verrückt gemacht?
„Ich halte es für sinnvoll, wenn du zu Frank gehst, jetzt. Komm ich bring dich hin.“, erklärt Julian einfühlsam und streckt mir seine Hand entgegen, nachdem er aufgestanden ist. Langsam nicke ich, ja ich glaube das wäre das Beste, vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, dass es noch nicht ganz zu spät ist.
Nur verzögert, mich wirklich als Verrückte fühlend, greife ich nach Julians Hand. Er zieht mich auf die Beine, doch schon auf dem Weg auf meine eigenen zwei Füße bemerke ich, dass es nicht gut gehen wird. Mein Kopf dröhnt und mir ist schwindlig. Aber Julian zieht mich rigoros weiter. Bei meiner vollen Körpergröße angelangt, will Julian sofort los laufen, allerdings schwanke ich bedenklich und alles dreht sich um mich. Julian bekommt meine Situation schnell mit und greift um meine Schulter, um mich zu stützen.
Langsam legt sich das Schwindelgefühl und ich beginne meine Füße zaghaft zu bewegen. Mit Julians Hilfe schaffe ich es, an der immer noch verwirrten Ann vorbei, bis hinein in das Klinikgebäude.
Ich stehe völlig neben mir, als ob ich mich selbst beobachten würde. Grade so, als wäre ich aus meinen Körper gefahren und würde über allem schweben.
Der Arzt betritt ohne Klopfen das Sprechzimmer des Psychologen und setzte mich sanft auf dem Sofa der Sitzgruppe ab.
„Es ist ein Notfall. Kann ich dich kurz sprechen.“, fragt Julian an Frank gewandt. Dieser nickt und sein erschrockener Ausdruck wandelt sich in tiefe Sorge, als er mich ansieht und dann Julian hinaus in den Flur folgt.
Wie versteinert sitze ich da, merke aber, dass ich langsam wieder zu mir komme. Das Gefühl neben mir zu stehen nimmt ab und auch der Schwindel lässt nach.
Eine ganze Weile bleibe ich alleine, ohne dass ich mitbekomme was die zwei reden und nutze die Gelegenheit alle meine Körperfunktionen, hauptsächlich mein Gehirn, wieder in Schwung zu bringen, um Frank alles zu berichten.
Es scheinen sich seit gestern tausend neue Ängste in mir gebildet zu haben. Hunderte unbekannte Probleme, die jetzt entstehen und einige Gefühle mit denen ich nicht umgehen kann, haben sich gezeigt.
Ein Gefühl ist grade vorherrschend. Fallen. Ich falle in den Abgrund und warte auf den Einschlag. Ich fühle mich haltlos, allein, zerrissen, leer, ohnmächtig. Ich bin am Ende, fix und fertig und der Aufprall steht mir noch bevor.
Frank kommt wieder herein und setzt sich auf seinen Sessel, so sitzen wir eigentlich immer während der Therapie, aber sonst fühle ich mich wesentlich besser.
Ungeduldig kaue ich auf meinen Lippen herum, abwartend was Frank nun sagt oder tut, denn eines ist gewiss. Julian hat ihm von meinem Zustand im Park erzählt. Doch Frank schweigt, betrachtet mich und scheint nachzudenken.
Meine Ungeduld steigert sich ins unermessliche, ich brauche Lösungsvorschläge, denn sonst werde ich den Aufprall selber verursachen. Mein letzter Ausweg ist nun wieder dauerpräsent in meinem Kopf.
Als ich es keine Sekunde länger mehr aushalte, sprudelt alles aus mir heraus. Meine Stimme überschlägt sich fast, als ich von den Ereignissen, den Gefühlen, den Ängsten, dem Alptraum und all dem erzähle, was in den letzten Stunden passiert ist.
Alles ging so schnell, innerhalb weniger Stunden haben sich meine Probleme vervielfacht und ich konnte nur hilflos zusehen.
„Hast du den Drang dein Leben zu beenden?“, fragt mich Frank, als ich geendet habe. Ich nicke. Zu viele Gefühle toben immer noch in mir, als das ich gescheit antworten könnte.
„Hat es dir geholfen darüber zu sprechen?“, erforscht Frank weiter, scheinbar wissend, dass ich mich nicht artikulieren kann, stellt er lediglich Ja-Nein-Fragen. Doch auch zur Beantwortung dieser muss ich kurz in mich hinein horchen. Ja, der erste Impuls meinem Leben ein Ende zu setzten ist verblasst, so nicke ich erneut.
Die gesamte Zeit schaue ich auf meine Hände, die ich nervös in meinem Schoß knete, als mich Frank bittet ihn anzusehen. Es fällt mir wahnsinnig schwer und ich kann nicht bestimmen warum.
„Es sind eine Menge neue Dinge die wir besprechen müssen, aber wir schaffen das. Du schaffst das, Emily.“, sagt er sicher, als ich ihn endlich ansehe.
Sofort beginnt er mit der Aufarbeitung der neuen Probleme, fragt mich nach meine Gefühle und arbeitet an meinen Ängsten.
„Du solltest, auch nach diesem Rückschlag, beginnen Montag zu arbeiten. Es wird dich ablenken, dich auf andere Gedanken bringen. Allerdings reichen die heruntergesetzten Therapieeinheiten nicht, wir sollten uns weiterhin jeden Tag sehen.“, beendet er irgendwann unser Sitzung. Wir saßen lange beieinander, viel länger als normal, aber es war gut. Ich fühle mich jetzt besser, auch wenn mich der Aufprall immer noch erwartet.
Ich bin müde, als ich mich vom Sofa erhebe und gemächlich zur Tür laufe. Frank folgt mir und öffnet mir, ganz Gentleman, die Tür. Julian sitzt im Gang auf einem Stuhl, er ist bereits in Zivilsachen und scheint auch eine ganze Weile gewartet zu haben.
„Ich werde heute Abend nicht zum Essen kommen. Ruhe dich aus, Ann wird es verstehen.“, verabschiedet sich Frank und zieht mich in eine Umarmung.
„Bring sie ins Bett, ich ruf nachher nochmal an.“, sagt er an Julian gewandt und übergibt mich quasi in seine Arme.
Die folgende Woche zieht an mir vorbei, wie in einem Film. Es kommt mir vor, als hätte jemand auf vorspulen gedrückt und ich säße in dieser Zeitschleife fest. Die Arbeit lenkt mich wirklich ab und es macht mir auch einigermaßen Spaß. Besonders freue ich mich unter Leute zu kommen, natürlich alles Frauen, aber sie bringen mich auf andere Gedanken.
Ann, Mike und Julian behandeln mich wie ein rohes Ei, als würde ich bei zu viel Druck zerbrechen. Selbst bei der Hausarbeit lassen sie mich außen vor. Nicht mal kochen darf ich.
Mit Frank scheine ich mich im Kreis zu drehen, die Gespräche tun mir gut, aber eine eindeutige Verbesserung meines Zustandes stellt sich nicht ein. Immer noch habe ich das Gefühl zu fallen und der Aufprall steht unmittelbar bevor.
Wieder einmal sitze ich auf der Couch in Franks Behandlungszimmer und versuche wirklich mich auf ihn einzulassen. Doch seit meinem, ich nenne es ‘Anfall‘, von vor anderthalb Wochen, schaffe ich es nicht mehr wirklich. Irgendwie ist da eine Blockade in mir. Vielleicht ist es das Warten auf den Aufprall, was mich darin hindert Franks Worten, das alles gut wird, Vertrauen zu schenken.
Julian und Ann warten vor der Tür, beiden hatten Frühdienst und wir fahren gemeinsam nach Hause.
Ich bemerke den Streifenwagen vor der Tür und mir wird sofort bewusst, dass dies der Aufprall ist. Mein Puls und meine Atmung steigern sich mit jedem weiteren Schritt Richtung Wohnungstür. Ich will nicht weiter gehen, habe eigentlich gar keine Kraft mich zu bewegen, aber wie von unsichtbaren Fäden gezogen führen mich meine Füße bis zur Wohnzimmertür.
Das ist er, mein Aufprall. Nicht Mike oder sein Kollege. Nein, der Mann der grade noch mit Mike geredet hat und mich nun anstarrt. Ich kenne ihn nicht, weiß mit seinem Gesicht nichts anzufangen. Weiß nicht mal, ob es ER ist, doch mein Aufschlag, den sein Anblick ausrichtet ist gewaltig.
Mein Herzschlag setzt aus, um doppelt so schnell und gleichzeitig unregelmäßig weiter zu hämmern. Meine Atmung versucht sich diesem untypischen Rhythmus irgendwie anzupassen. Schweiß tritt scheinbar aus all meinen Poren und ich zittere am ganzen Körper. Kalte Schauer treiben mir Gänsehaut auf die Arme und meine Magen fährt Achterbahn.
Ich kann mich nicht bewegen, weiß nicht wie ich reagieren soll. Plötzlich legt sich wieder dieser Schalter in mir um und ich handle nur noch mechanisch. Meine Gefühle sind auf einen Schlag ausgeschalten und Kälte breitet sich in mir aus. Auch wenn ich es wöllte, ich kann ihn nicht wieder einschalten. Dieser Mann steht mich seinem gesamten Gewicht darauf und verhindert jegliche Gefühle.
Ein klarer Gedanke schießt mir plötzlich durch den Kopf. Er sieht Mr. Roden sehr ähnlich.
„Sarah.“, sagt er nach einer gefühlten Ewigkeit und tritt einen Schritt auf mich zu. Mein Körper macht mich immer mehr darauf aufmerksam, dass ich seine pure Anwesenheit nicht ertragen kann. Mein Magen macht eine weitere Umdrehung und ich stürzte ins Bad.
Ausgiebig übergebe ich mich, würge und fühle mich von Moment zu Moment leerer. Jetzt haben mich nicht nur meine Gefühle verlassen, sondern auch mein Mittagessen.
Als mein Magen all seinen Inhalt abgegeben hat würge ich nur noch trocken, was mir die Tränen in die Augen treibt. Ich fühle nichts, keinen Schmerz, keine Trauer, nichts.
Julian kümmert sich wieder mit all seiner Liebe um mich, streichelt mir über den Rücken, spricht mir gut zu, aber auch seinen Berührungen oder Worte lösen keine Gefühle in mir aus. Da ist keine Liebe mehr für ihn, kein Kribbeln mehr wenn er mich berührt.
„Kannst du bitte Frank anrufen?“, höre ich ihn irgendwann fragen, merke aber nach einem kurzen Blick, dass er mit Ann redet, die in der Tür lehnt. Sie nickt und ist sichtlich froh eine Aufgabe zu bekommen.
Der Arzt führt mich in mein Zimmer und ich folge ihn in mechanischen, abgehackten Bewegungen. Er drückt nur leicht meine Schultern und schon sitze ich auf meinem Bett. Behutsam setzt er sich neben mich und nimmt meine Hände. Ich schaue starr vor mich hin, an einen unbestimmten Punkt an der Wand.
„Kennst du diesen Mann?“, fragt er leise und ich zucke nicht mal mit der Wimper.
„Ich weiß es nicht.“, höre ich mich antworten, ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben. Meine Stimme klingt monoton, stumpf, empfindungslos.
„Sagt dir der Name ‘Sarah‘ etwas?“, erkundigt sich Julian weiter.
„Nein.“, gebe ich, in der gleichen Stimmlage, wie eben wider. Julian mag es augenscheinlich nicht, dass ich ihn nicht ansehe, denn er schiebt sich in mein Gesichtsfeld. Doch ich schaue durch ihn hindurch, sehe ihn nicht.
„Ist ER es?“, will er nur durch zusammengebissene Zähnen wissen und kann sein Wut, worauf auch immer, kaum zügeln.
„Ich weiß es nicht.“, beantworte ich automatisch wieder seine Frage, doch mein Magen beginnt sich erneut zusammen zu ziehen.
Geistesgegenwärtig hält mir Julian den Papierkorb unter den Mund, aber mein Magen ist leer. Trotzdem zieht er sich unwillkürlich immer und immer wieder zusammen.
Irgendwann gibt mein Magen auf, beruhigen kann man nicht sagen, denn er rebelliert stetig weiter, nur kommt davon nichts mehr in meinem Mund an.
Stumpfsinnig starre ich wieder auf die undefinierte Stelle der Tapete mir gegenüber. Ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, bekomme nichts um mich herum mit, bin gefangen in meiner Leere. Nicht mal der Gedanke an Selbstmord kommt mir, es ist einfach alles weg. Vollkommene Leere. Das Absolute Nichts.
Es ist eigenartig, mein Körper fühlt sich schlaff und kraftlos an, gleichzeitig denke ich, meine Nerven sind zum Zerreisen gespannt.
Ich nehme wahr, dass ich langsam müde werde, aber auch das prallt an mir ab, wie an einem Schutzschild. Sollte ich schlafen? Warum? Es ist sowieso alles sinnlos.
„Emily?“, spricht mich irgendwann Frank an und wieder zucke ich nicht mal zusammen, obwohl ich nicht damit gerechnet habe, in meiner gefühllosen Welt versunken war.
Am Rande meines Gesichtsfelds erkenne ich den hageren Psychologen, mein Blick wendet sich aber nicht von dem Punkt an der Wand ab.
„Emily? Kannst du mich hören.“, fragt Frank und nun ist es amtlich, ich bin verrückt, denn selbst mein Seelenklempner spricht mit mir, als wäre ich ein kleines Kind. Als müsste man mich mit Samthandschuhen anfassen, um mich in die Zwangsjacke zu stecken, die sie bestimmt schon bereit liegen haben.
„Ja.“, antworte ich unbewegt.
„Wie geht es dir?“, will er nun von mir wissen.
Wie es mir geht? Keine Ahnung, da ich nichts fühle, kann ich auch nicht sagen wie es mir geht. So bleibe ich stumm und halte meine Blickrichtung stupide ein.
„Erinnerst du dich an etwas?“, befragt er mich weiter mit dem Tonfall, mit dem man mit Kleinkindern oder Irren redet.
„Nein.“, kommt es von mir wahrheitsgemäß, ohne darüber nachzudenken. Mein Gehirn scheint losgelöst von meinen Handlungen, abgekoppelt von allem.
„Kommt dir der Mann, Chase, bekannt vor?“, erforscht Frank weiter meine Gefühle. Gefühle, die nicht vorhanden sind.
„Nein.“, bilden meine Lippen und meine Lunge presst endsprechend viel Luft durch meine Stimmbänder, um dieses Wort zu bilden. Ich kann nicht sagen, wie das funktionieren kann, ohne dass mein Hirn eingreift, aber es geht augenscheinlich.
Chase? Nein, keine Reaktion, außer einem neuerlichen Zusammenziehen meiner Innereien.
„Er sagt, dass er dein Verlobter ist. Er hat Fotos von euch beiden.“, berichtet mir der Psychologe und hält mir besagte Fotografien unter die Nase. Einen winzigen Augenblick huschen meine Augen von der Wand zum Bild und zurück. Kaum eine Sekunde habe ich das Bild fixiert. Ja, dass bin ich, beziehungsweise die Frau die ich einmal war. Wir ähneln uns, könnten Zwillinge sein, aber ich weiß, dass ich diese Person nicht mehr bin. Nie wieder sein werde.
Als Frank von mir erneut keine Reaktion bekommt wendet er sich an Julian.
„Bleibst du bei ihr? Ich würde mich gern mit diesem Chase unterhalten. Lass sie nicht aus den Augen, sie hat einen schweren Schock. Ich befürchte, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommt könnt sie sich erneut etwas antun.“, redet er eindringlich auf den Arzt ein.
„Aber wieso? Sie kann sich doch immer noch nicht erinnern, wie kann da allein der Anblick dieses Mannes sie so aus der Bahn werfen?“, fragt der Arzt und wieder erkenne ich die zusammengebissenen Zähne aus seinem Tonfall heraus.
„Ich gehe davon aus, dass sich ihre Erinnerungen wieder einstellen, sobald der Schock überwunden ist.“, erklärt Frank und verlässt dann den Raum.
Ich werde mich erinnern können? Wie? Wann? Wann ist dieser ‘Schock‘ überwunden? Will ich wirklich wissen, welch ein Mensch ich früher war? Ist dieser Mann, Chase, der Mann aus meinen Träumen? Warum sollte ich einen Schock bekommen wenn er nicht ER ist? Werden sie zulassen, dass er mich mitnimmt? Werde ich mit ihm gehen? Was wird Julian tun? Wird er um mich kämpfen? Was will ich? Tausend Fragen und wiedermal keine einzige Antwort.
Wie festgewachsen sitze ich auf dem Bett und habe mich nicht einen Millimeter bewegt, seit mich Julian hierher gebracht hat.
Die Wand verschwimmt vor meinen Augen. Sie brennen fürchterlich, aber ich tue nichts dagegen. Ich nehme wahr, registriere, reagiere allerdings mit keinem einzigen Muskel. Meine Arme liegen schlaff in meinem Schoß und ich bringe grade genug Körperspannung auf, um nicht umzufallen. Trotz all dem habe ich stetig das Empfinden, dass meine Sehnen und Nerven bis auf äußerste gespannt sind, jeden Moment reißen könnten.
Julian tigert im Zimmer hin und her und hätte ich irgendwelche Gefühle, könnte ich irgendwie auf meine Umwelt reagieren, würde es mich wahrscheinlich wahnsinnig machen. Doch so verharre ich weiter apathisch auf dem Bett.
Irgendwann betritt Mikes Kollege den Raum. Wie hieß er noch gleich? Karmer? Kramer? Kramer! Beiläufig bemerke ich, dass ich keinerlei körperliche Reaktion auf seine Anwesenheit zeige. Hatte ich im Krankenhaus nicht noch totale Panik vor ihm? Auch wenn, jetzt steigert sich weder meine Herzfrequenz noch meine Atmung.
„Wie geht es ihr.“, höre ich seine tiefe Stimme, die von viel zu vielen Jahren rauchen zeugt.
„Das sehen sie doch selbst!“, antwortet Julian nur noch wenig beherrscht. Etwas pickert dreht sich der Polizeibeamte zu mir und hockt sich in mein Sichtfeld.
„Kann ich irgendetwas für sie tun?“, fragte er einfühlsam und streicht dabei über meinen Arm. Jetzt zucke ich zusammen und einem ersten Impuls nach würde ich am liebsten alles aus mir heraus brüllen, aber dieser Ausbruch dauert nur Millisekunden, nicht lang genug, um den Mund zu öffnen. Im nächsten Moment habe ich wieder meine apathische Haltung eingenommen und antworte ihm monoton.
„Nein.“, meine Stimme ist fest, beweist aber auch, dass ich nicht wirklich anwesend bin. Ich stehe neben mir und das hört man sogar an meiner Stimme.
Lieutenant Kramer wendet sich kopfschüttelnd zur Tür und ist auch gleich darauf verschwunden.
Ein Zeitgefühl besitze ich genauso nicht mehr, wie alle anderen Gefühle, so weiß ich nicht wie viel Zeit vergeht. In einem Moment empfinde ich es als Ewigkeit und im nächsten glaube ich nur wenige Sekunden sind vergangen, seit dem Aufprall.
Es dämmert bereits, als Ann mit einem Tablett herein kommt.
„Du solltest etwas essen und trinken.“, haucht sie so leise, dass ich sie kaum verstehe. Sie stellt das Tablett neben mich auf dem Bett ab und wendet sich dann Julian zu. Ich beachte es nicht, weiß nicht mal was darauf ist, blicke nur weiter bewegungslos vor mich hin.
„Wie geht es dir?“, fragt sie an Julian gewandt, deutlich lauter als sie mich angesprochen hat.
„Wie soll es mir schon gehen? Ich bin am Durchdrehen. Was wenn er dieser Typ ist, der ihr das alles angetan hat? Was wird aus Emily oder Sarah? Ist das ihr richtiger Name? Was wird aus uns? Liebt sie mich noch? Oder liebt sie diesen Chase?
Ich werde verrückt, bei den Gedanken, die sich in meinem Kopf überschlagen.“, seufzt er schwer und ich merke, wie die Matratze federt. Er muss sich hingesetzt haben.
Kurz darauf federt es erneut und ich höre, wie jemand verhalten und gedämpft schluchzt. Wenn mich nicht alles täuscht, weint Julian grade an Anns Schulter, aber sehen kann ich es nicht.
„Ich liebe sie doch. Ich liebe sie so sehr.“, weint Julian und mein Herz trifft bei dem Wort ‘Liebe‘ ein enormer Stich, den ich nicht zuordnen kann. Jetzt ist es mein Brustkorb, der sich zusammenzieht, nicht mehr mein Magen.
Wieder vergeht eine ganze Weile, in der ich Julian schluchzen höre, ehe er sich scheinbar beruhigt hat. Danach treten beide in mein Sichtfeld. Julian hat gerötete Augen, aber auch Ann sieht man an, dass sie geweint hat. Die Krankenschwester hockt sich vor mich und nimmt etwas vom Tablett.
„Bitte iss Emily.“, flüstert sie wieder, als würde ich bei zu lauter Ansprache explodieren.
Wie von selbst öffnet sich mein Mund ein Stück weit und Ann scheibt ein Sandwich hinein. Ich beiße ab, kaue, doch schmecke nichts und ehe ich den kleinen Bissen überhaupt schlucken kann, kommt mir mein Mageninhalt wieder hoch. Julian hat anscheinend damit gerechnet, denn er hält mir wieder den Mülleimer hin. Während ich mich schon wieder übergebe bemerke ich, dass ich wirklich müde bin. Unwillkürlich fallen mir die Augen zu.
Der Mann der mich liebt ist offenbar ein guter Beobachter, denn er spricht mich auf meine Müdigkeit an.
„Bist du müde?“, fragt Julian, während Ann resignierend und mit frischen Tränen in den Augen, das Tablett zurück in die Küche bringt.
„Ja.“, antworte ich automatisch.
„Willst du etwas schlafen?“, will er wissen und bemüht dafür die gleiche Tonlage wie Frank vorhin. Einfach, betont, langsam.
„Nein.“, gebe ich gleichgütig zurück. Schizophren, nicht? Ich bin müde möchte aber nicht schlafen. Aber was bringt mir der Schlaf? Wird sich etwas verändert haben, nachdem ich aufwache?
Ohne auf meine Negierung zu achten zieht mich Julian auf die Beine. Ich stehe, habe aber immer noch den Punkt an der Wand fixiert. Er zieht mich aus, berührt mich, auch meine Narben, aber es interessiert mich nicht. Da ich keinerlei Bewegung ausführe dauert es lange bis mir Julian meine Schlafsachen angezogen hat und mich behutsam hinlegt. Wie ein kleines Kind deckt er mich zu und drückt mir dann einen Kuss auf die Stirn, wobei sich eine Träne aus seinen Augen löst und auf meinen Haaransatz tropft.
Nun starre ich nicht mehr auf den Punkt an der Wand, sondern an die Decke. Ich liege steif wie ein Brett, langausgestreckt da und tue nichts.
Julian legt sich neben mich, angezogen und auf die Decke. Er betrachtet ebenfalls die weiß gestrichene Zimmerdecke. Nach einiger Zeit fallen mir die Augen zu, unwillkürlich, doch ich döse nur, schlafe nicht wirklich.
Fühlt sich so der Tod an? Gefühllos? Starr? Monoton? Wesentlich anders kann der Tod doch gar nicht sein, denn ich fühle mich tot. Nur meine körperliche Hülle lebt noch. Doch wie lange noch? Werde ich meinen Körper selbst umbringen? Selbstmord? Ich habe keinen Drang danach, keinen Drang zu irgendetwas. Wenn ich einfach so hier liegen bleibe, ist das dann auch Selbstmord? Doch ich befürchte Julian würde mir wieder einen Zugang legen und womöglich auch wieder eine Magensonde, sodass ich nicht verhungere. Aber wenn mich dieser Mann doch mitnimmt? Würde er mich davon abhalten mich zu töten?
Plötzlich flutet Stimmengewirr den Raum. Ich kann Frank, Ann und Mike heraushören, sie scheinen grade den Raum betreten zu haben. Ich halte die Augen geschlossen, vielleicht kann ich aufschnappen, was sie nun mit mir vorhaben.
„Er wohnt im Hotel, ich habe ihn ersteimal schlafen geschickt, auch er ist schon den ganzen Tag auf den Beinen. Von New York bis nach Bassett sind es immerhin fast 1.500 Meilen.“, erzählt Frank und auf eine seltsame Art und Weise fühle ichn mich etwas beruhigt, dass dieser Mann nicht mehr hier ist. Weiterhin herrscht die vollkommene Leere in mir, aber mir scheinen meine Muskeln ein Hauch entspannter, nicht mehr so verkrampft.
„Wie geht es jetzt weiter?“, fragt Julian neben mir. Das würde mich auch interessieren und so warte ich gespannt auf eine Antwort. Doch ich werde mit Schweigen gestraft und ich höre wie in meiner Nähe ein Kiefer beginnt zu mahlen.
„Frank, du willst sie mit diesem Typen gehen lassen? Was wenn er derjenige ist, der ihr das angetan hat?“, knurrt Julian. Seine Zähne sind so sehr zusammengepresst, dass man ihn kaum verstehen kann.
„Denkst du nicht, dass hätte ich nicht in Erwägung gezogen?
Er hat mir wirklich glaubhaft vermittelt, dass seine Geschichte stimmt. Mike kann es bezeugen, ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass er dieser Mistkerl ist.
Mister Kolk hat Sarah, Sarah Miller, vor 2 Jahren kennengelernt, da war sie bereits in Behandlung wegen ihrer Alpträume und ihrer Ängste. Sie verliebten sich und kurz bevor sie hier aufgetaucht ist hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht, den sie zugestimmt hat.
Als Grund für ihre überhastete Flucht gibt er an, dass sie eine Fehlgeburt gehabt habe. Er konnte nicht einmal mit ihr sprechen bevor sie geflohen ist, hat nur ihren Verlobungsring gefunden und eine kleine Notiz.
Er hat ein Jahr gebraucht sie zu finden und ist überglücklich es endlich geschafft zu haben. Mikes, erst letzte Woche erneut veröffentlichtes Foto von Sarah, hat ihn hierher geführt.
Er hat mir sogar die Kontaktdaten ihres Therapeuten in New York gegeben, ich werde mich morgen umgehend mit ihm in Verbindung setzten.“, plädiert Frank. Ich versuche, alle Informationen, die grade gefallen sind zu verarbeiten. Mein Kopf schwirrt. Ist das wirklich so passiert? Frank glaubt diesem Mann, er wird ihm mein Leben anvertrauen, da bin ich mir sicher. Er ist mein behandelnder Arzt, nicht mehr Julian.
Finde ich es gut mit diesem Mann mitzugehen? Auch wenn er nicht dieser Mann aus meinen Träumen ist? Keine Ahnung, keine Gefühle nur ein Zusammenziehen meines Herzens und meines Magens zur gleichen Zeit, ist meine körperliche Antwort.
„Du willst sie also diesem Typen ausliefern? Gut, gut. Dann aber ohne mich. Ich mache da nicht mit.“, trieft Julians Stimme nur so vor Sarkasmus und die Matratze wackelt stark, bevor das Gewicht neben mir verschwunden ist.
„Julian bleib doch vernünftig. Seine Geschichte war echt, auch ich glaube ihm.“, versucht Mike ihn aufzuhalten, aber Sekunden später geht die Wohnungstür lautstark.
Ist Julian jetzt gegangen? Werde ich ihn wiedersehen? Der Schraubstock um mein Herz zieht sich noch mehr zusammen. So sehr, dass ich für einen Moment keine Luft bekomme und mir spontan Tränen in die Augen schießen. Ich kann mit der Reaktion meines Körpers nichts anfangen, bleibe einfach weiter so liegen und tue so als würde ich schlafen.
„Wir sollten alle schlafen gehen. Morgen früh komme ich sofort vorbei und spreche mit dem Therapeuten in New York.“, bestimmt Frank. Niemand antwortet, aber kurz danach wird die Welt außerhalb meiner Lider dunkel. Sie haben das Licht ausgemacht und die Tür angelehnt, denn ich kann sie im Flur noch murmeln hören, ehe die Wohnungstür erneut ins Schloss gleitet.
Ich bin allein, das erste Mal seit ich diesen Mann gesehen habe. Es kommt mir surreal vor, als würde dies alles nicht mir passieren. Ich fühle mich losgelöst von allem, nichts kann mir etwas anhaben. Als wäre ich nur Zuschauer in meinem eigenen Leben, Gast in meinem Körper.
Irgendwann falle ich doch in den Schlaf, unruhig, seltsam. Diesmal ist es nicht nur ER der auf mich einprügelt. Alle Menschen die ich kenne, in meiner kurzen Erinnerungsspanne, haben sich um ihm gesellt. Mike, Clear, Ann, Frank, dieser Chase und auch Julian schlagen und treten auf mich ein. Ich wehre mich nicht, liege einfach nur da und lasse es über mich ergehen. Plötzlich kommt mir der seltsame Gedanke von vorhin erneut. Dieser Chase sieht Mr. Roden, dem Sozialarbeiter sehr ähnlich. Er ist groß, fast riesig. Älter als Julian oder Mike, sicher Mitte 30. Seine Haare werden langsam aber sicher lichter und trotz seiner gut definierten Muskeln, kann er den Ansatz eines Bierbauchs nicht mehr verstecken. Mr. Roden ist zwar noch um einiges älter, aber in ein paar Jahren… Sie könnten durchaus als Brüder durchgehen.
Immer weiter prügeln, die mir lieb gewordenen Menschen, auf mich ein und ich tue nichts. Außer, dass ab und zu unwillkürliche Schmerzenslaute aus meiner Kehle dringen, bleibe ich unbewegt und still.
Als ich wach werde, ist es anders als nach allen anderen Alpträumen. Mein Puls ist ruhig, keine Panikattacke zeichnet sich ab. Ich liege auf der Seite zusammengekauert, Embryonalstellung. Starre vor mich hin, keine Veränderung meines Zustands.
Irgendwann höre ich Stimmen aus dem Flur, Ann, Mike und eine mir unbekannte Stimme unterhalten sich.
„Ich würde sie gern sofort mitnehmen. Sarah war lang genug weg von zu Hause, sie kann sich dort erholen und Dr. Fischer wird seine Behandlung umgehend fortsetzten. Sie braucht Normalität und das geht am besten in ihrem gewohnten Umfeld.“, erklärt die mir nicht geläufige Stimme und ich ordne sie, nach diesem Inhalt, Chase zu.
„Ja, vielleicht ist es das Beste, aber Dr. Randl wollte nochmal mit ihnen sprechen.“, erwidert Ann leise, ihre Stimme klingt rau, als hätte sie die ganze Nacht geweint.
„Er hat meine Daten, er möchte sich mit mir in Verbindung setzten. Auch für mich ist diese Situation strapazierend, ich möchte so schnell wie möglich nach Hause.
Würde sie mir helfen ihre Sachen zusammenzupacken?“, fragt er und klingt dabei ehrlich erschöpft. Stimmt seine Geschichte? Kann man so etwas vorspielen?
„Aber natürlich.“, antwortet nun Mike und kurz darauf betreten sie den Raum.
Ich lasse alles über mich ergehen. Ann zieht mich an und reicht mir etwas zu trinken, was mein Magen nicht abstößt. Vielleicht liegt es an den Tabletten die sie mir dazu gibt.
Abwesend stehe ich neben der Wohnungstür und Ann und Mike verabschieden sich von mir. Da ich mich nicht bewege, keine Regung zeige dauert es nicht all zu lange. Beiden ist mein Zustand sichtlich unangenehm, ihnen stehen die Tränen in den Augen und sie halten sich aneinander fest, nachdem sie mich kurz umarmt haben.
„Das sind Schlaftabletten. Ich denke Sarah sollte die lange Fahrt nutzen, um zu schlafen. Es wird anstrengend und so kann sie sich etwas erholen.“, erklärt Ann und reicht Chase eine Packung, ehe sie sich weinend an Mikes Schulter drückt.
Automatisch folge ich Chase zu seinem Wagen und setzte mich auf den Beifahrersitz. Er verstaut meine Tasche im Kofferraum und nimmt dann hinter dem Steuer Platz. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen reicht er mir eine der Tabletten und eine kleine Wasserflasche. Mechanisch nehme ich die Tablette in den Mund und spüle sie mit dem Wasser hinunter. Meine Bewegungen sind unrund, stockend, zusammenhangslos. Als ich fertig bin starre ich grade aus, direkt durch die Frontscheibe, nehme aber nichts war, was draußen stattfindet.
Chase startet den Motor und gibt sofort Gas. Mit quietschenden Reifen verlässt er Bassett und rast Richtung New York. Die Straßen, Städte, und Felder fliegen an mir vorbei, ohne dass ich sie wirklich sehe.
Nicht mal mehr Fragen sind in meinem Kopf. Kein, wie geht es nun weiter. Kein, ist er der Mann der mich verprügelt und vergewaltigt hat. Einfach nichts. Nur mit jeder weiteren Meile, die zwischen mir und Bassett liegen dreht sich der Schraubstock um meinen Magen gleichermaßen zusammen, wie der um mein Herz. Ich kann diese Empfindungen, so ganz ohne irgendwas anderes nicht einordnen. Sie sind die einzigen Gefühle die ich habe, aber ich weiß nicht warum. Weiß nicht woher sie kommen, weshalb sie da sind. Dieses Enge, ist sie es die alles andere abschnürt? Blockiert sie meine Gedanken?
Wie mit dem Hammer merke ich, dass die Tabletten wirken. Meine Lider werden bleiern und schnell falle ich in einen tiefen, ruhigen und vor allem traumlosen Schlaf.
Ich schlafe wirklich lange, denn als ich wieder aufwache sind wir bereits in New York und ein neuer Tag dämmert am Horizont, den ich zwischen den Häusern entdecke. Meine Situation hat sich nicht verändert, auch dieser riesigen Metropole schenke ich keinen Blick, schaue ins Leere.
Wir halten vor einem roten Backsteingebäude im Stadtteil Brooklyn und Chase steigt aus. Ich bewege mich nicht, höre nur, wie er den Kofferraum öffnet und wieder schließt. Dann hält er mir die Tür auf und nach einigen Sekunden schafft es mein Körper sich in Bewegung zu setzten. Roboterartig lauf ich Chase hinterher ins Haus hinein.
Vor einer Tür im zweiten Stock bleibt er stehen und schließt sie auf, mit einer einladenden Geste deutet er mir hinein und wieder dauert es einen Moment ehe meine Hülle reagiert wie gefordert. Ich betrete die Wohnung, schaue mich nicht um, sondern gehe zielstrebig, als würde ich mich hier auskennen, ins Wohnzimmer und setzte mich auf die Couch.
Ich fühle mich fremd, fast würde ich sagen ich habe sowas wie Heimweh, wobei doch hier mein zu Hause sein soll. Ich erinnere mich nicht an die Umgebung, weiß aber mit gespenstischer Sicherheit, wo das Sofa ist und auch das Bad finde ich ohne Schwierigkeiten.
Mein starrer leerer Blick richtet sich nun auf den ausgeschalteten Fernseher. Ich höre Chase irgendwo hantieren, aber verfalle automatisch wieder in meine Apathie, war nie daraus aufgetaucht, nur mein lebendig anmutender Körper hat auf die Außenwelt reagiert und notwendiger Weise gehandelt.
Ganze drei Tage vergehen so und nichts ändert sich. Chase veranlasst mich ab und zu zum Trinken. Bei einem erneuten Versuch feste Nahrung in mich aufzunehmen, rebellierte mein Magen wieder und seither hat er sich auf Flüssigkeiten beschränkt. Abends legt er mich auf dem Sofa, auf dem ich den ganzen Tag sitze, hin und deckt mich zu. Danach verlässt er den Raum. Ich schlafe nicht, döse nur, finde einfach nicht in den Schlaf. Lange scheint mein Körper das nicht mehr auszuhalten. Mir ist immer häufiger schwindlig und mein Kopf dröhnt. Einmal war ich auf Toilette, weil ich pinkeln musste, andere körperliche Dränge verspüre ich nicht, weder duschen, noch andere Körperpflege.
Einmal, kurz, ist bei mir die Frage aufgekommen, wo denn nun dieser andere Psychologe ist, doch so schnell sie gekommen war, ist sie auch wieder verschwunden und ich hatte die mir mittlerweile lieb gewordene Leere wieder. Stille, das allumfassende Nichts, gibt mir immer mehr Trost. Es lenkt mich von dem Druck um mein Herz und meinen Magen ab.
Man sagt, man kann nicht, nicht denken. Doch es funktioniert, sehr gut sogar. Losgelöst von allem. Problemen. Ängsten. Alpträumen.
Chase redet nicht mit mir, aber ich bemerke, dass seine Stimmung sich gewandelt hat. Hat er mich vor der Fahrt noch freundlich angeschaut, so ist sein Blick nun voller Hass. Auch seine Bewegungen, wenn er mir die Wasserflasche reicht, sind mit der Zeit ruppiger, schroffer geworden. Es berührt mich nicht, selbst wenn er der Mann aus meinen Träumen ist, was mir immer wahrscheinlicher vorkommt, was ändert sich? Nichts.
Heute hat er das erste Mal die Wohnung verlassen, seitdem wir hier sind. Es dämmert bereits, als ich den Schlüssel in der Tür höre. Unwillkürlich verkrampfe ich mich und weiß absolut nicht wie ich diese körperliche Reaktion einordnen soll.
„Halloooo Schätzchen!“, brüllt er durch die Wohnung und ich bemerke sofort, dass er Betrunken ist. Bilder aus meinem Traum blitzten vor mir auf. Der Traum mit der Schere, die mir so viele Narben zugefügt hat, da hat ER mich auch ‘Schätzchen‘ genannt.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, aber ich wende meinen Blick nicht von dem schwarzen Bildschirm ab.
Schon im nächsten Moment fliegt mein Kopf zur Seite, weil mich SEINE Fast trifft. ER ist es. Chase ist der Mann aus meinen Träumen, dass wird mir mit dieser Sekunde gänzlich Bewusst. Ich hatte es zwar schon geahnt, vermutet, aber nun weiß ich es mit Sicherheit.
Mit dem darauf folgenden Fausthieb liege ich am Boden. Bewegungslos, still. Auch wenn meine Apathie mit einem Schlag, sprichwörtlich, verschwunden ist. Ich bin aus meiner Leere gerissen, hinein in meine Alpträume. Ich kann mich erinnern, nicht nur an die Träume, nein auch wie es in Wirklichkeit geschehen ist. Erinnere mich an jede Prügel jede Vergewaltigung, die ER mir zugefügt hat. Die Bilder prasseln auf mich ein wie riesige Hagelkörner und mein Kopf und mein Magen dreht sich im Einklang und ich übergebe mich auf den grauen Kurzflurteppich.
Ich kann mich nicht lange auf die mir neuen Erinnerungen konzentrieren, da ER wieder und wieder auf mich einprügelt. Ich kugle mich zusammen, versuche mich so gut wie möglich zu schützen, etwas dass ich lange nicht mehr getan, bei SEINEN Schlägen. Ich hatte mit meinem Leben abgeschlossen und habe IHM so viel Fläche wie möglich geboten, um es endlich zu Ende zubringe. Warum also versuche ich mich jetzt zu schützen? Soll ER es doch zu Ende bringen, aber ich weiß das tut ER nicht, hat ER 4 Jahre lang nicht getan. 4 lange Jahre habe ich diese Qualen über mich ergehen lassen, und das soll nun wieder von neuen anfangen? Nein! Nicht mit mir. Nur schaffe ich es IHM erneut zu endkommen? Ich muss, irgendwie! Was dann? Ich weiß es nicht.
ER hat mit seiner Prügelei aufgehört. ER heißt nicht mal Chase, mir hat ER sich als Billy vorgestellt, aber wer weiß schon, ob das SEIN richtiger Name ist.
Nun sind es wieder SEINE schweißnassen Finger, die mir Hose und Slip über den Po ziehen, ER macht sich nicht die Mühe die Sachen ganz auszuziehen, ist eventuell zu betrunken.
Ruppig, hart und ekelerregend dringt ER in mich ein. In mir befindet sich nicht mal ein Hauch von Lust, kein Anzeichen dafür, dass ich DIESEN Mann einmal geliebt habe oder dass mir dies hier Spaß macht. ER braucht nur wenige Stöße, um SEINEN Höhepunkt zu erreichen.
ER schwitzt, ER stinkt nach Alkohol und Schweiß und als ER sich pulsierend in mir ergießt weiß ich alles wieder. Alles. Doch ich kann mich im Moment nicht darauf konzentrieren.
Schwankend erhebt ER sich, nur um sich Zentimeter weiter schwerfällig auf die Couch fallen zulassen und in der nächsten Sekunde anfangen zu schnarchen.
Jetzt oder nie, so schnell wird sich vermutlich keine weitere Möglichkeit bieten vor IHM zu fliehen. Ich kenne IHN, zu gut. Lediglich weil ER dachte, ich könnte durch meine Apathie, meinen Schock, nicht handeln, bietet sich mir überhaupt diese Chance.
Mein ganzer Körper schmerzt und mir ist schwindlig, als ich versuche auf die Füße zu kommen. Irgendwie schaffe ich es, mobilisiere Kräfte, die ich nicht habe. Immerhin habe ich die letzten 5 Tage nichts gegessen, beziehungsweise nichts bei mir behalten und mich mehrfach übergeben. Der letzte Beweis dafür, saugt sich noch in den Teppich ein und verströmt seinen widerlichen Gestank.
Doch ich schaffe es, ich stehe. Wie soll es jetzt weiter gehen? Was soll ich tun? Wohin soll ich? Das einzige, was mir einfällt ist Bassett. Julian. Ich muss zurück zu ihm, bei ihm bin ich sicher. Doch dafür brauch ich Geld.
Mein Blick wandelt durch den Raum und bleibt bei der Ausbeulung der hinteren Pobacke von Billys/Chases/oder wie auch immer, hängen. SEINE Brieftasche!
Ich bewege mich den kleinen Schritt auf IHN zu und verharre dann einen Moment, weil mir schwarz vor Augen wird. Langsam tastet sich meine Hand vor, mein Puls beschleunigt sich und mir wird erneut übel. Ich erreiche SEINE Tasche und schaffe es die Geldbörse hinaus zu ziehen, ER regt sich einen Augenblick und brummt etwas unverständliches, ist aber sofort wieder ruhig.
Es nicht viel Geld drinnen, ein paar kleine Scheine und ein wenig Münzgeld. Ich nehme alles heraus und stopfe es in meine Hosentaschen, dann werfe ich die Brieftasche auf den Boden und laufe so schnell es mein körperlicher Zustand zulässt raus.
Ich versuche zu rennen, als ich auf der Straße bin, einfach weg. Die Richtung ist egal, nur schnell muss es gehen. Ich taumle eher als ich laufe, immer wieder wird mir schwarz vor Augen, doch ich muss weiter.
Ich bin orientierungslos, alles um mich dreht sich, mir ist schlecht und ich bin müde, unendlich müde. Irgendwann erreiche ich einen Park. Unbeholfen lasse ich mich auf die erst beste Bank fallen. Mit zittrigen Händen leere ich meine Taschen und versuche zu zählen, wie viel Geld ich erbeuten konnte. Ich bin zu schwach, kann nicht mal das wenige Geld halten, alles landet auf dem Kiesweg zu meinen Füßen.
Schleppend klaube ich es zusammen und mein Blick fällt auf ein kleines Stück Papier, eine Visitenkarte. Ich hebe sie zusammen mit dem Geld auf und betrachte sie verwirrt. Es ist Mikes Polizeivisitenkarte, er muss sie mir zugesteckt haben, bei unserer Verabschiedung. ‘Mike du bist der Beste‘, freue ich mich und halte nach einem Telefon Ausschau.
Am Eingang hängen ein paar Fernsprechapparate und so schnell ich kann gehe ich hinüber. Hastig stecke ich mehrere Münzen in den Apparat und wähle mit bebenden Fingern die Nummer auf der Karte.
„Mike hier. Wie kann ich helfen?“, meldet sich meine Hoffnung nach dem dritten Klingeln.
„Mike… Mike. Hier ist… ich… bin‘s… Emily…Sarah. ER ist es… Chase… bitte… bitte, hilf mir… Chase ist…. ER.
Du…du musst…musst mir…helfen. Bitte. ER ist es.
Ich… ich bin… im… Central Park… bitte hilf mir.“, stammle ich vor mich hin, mein Mund ist dabei so trocken, dass ich nur flüstern kann. Dann höre ich das tuten, die Leitung ist tot, das Geld aufgebraucht. Hat er alles verstanden? Konnte er noch hören wo ich bin? Ich kann nur noch hoffen.
Ich begebe mich wieder zu der Bank, setze mich und schließe erschöpft die Augen. Ich bin so unendlich müde. Doch erinnere mich wieder an alles. Alles. Aber soll ich das gut finden? Ich weiß es nicht, dass ist der letzte Gedanke, bevor sich eine schwere Schwärze über mich legt und ich bewusstlos werde.
Irgendwoher kenne ich dieses grau. Es hat etwas Heimeliges.
Plötzlich sehe ich mein gesamtes Leben an mir vorbei ziehen, wie einen Film.
Da bin ich als Kind, mit meiner Mutter. Ein fröhliches, aufgewecktes Mädchen, das allerdings bei sozialen Kontakten ihre Schwierigkeiten hat. Ich war ein Frühjahrs Baby, geboren am 13.04.1982 in Waterboro, Maine, als Sarah Foster.
Mein Vater habe ich nie kennengelernt, er hat meine Mutter noch während der Schwangerschaft verlassen. Doch ich habe mich nie daran gestört. Ich habe all meine Liebe auf sie fixiert und sie hat mich so sehr geliebt. Meine Mutter war so liebevoll, sie hat sich für mich aufgeopfert. Hatte drei Jobs, um mir alles bieten zu können, dabei hat sie mich aber nie vernachlässigt. Natürlich war ich oft allein, aber diese Zeit habe ich genutzt, um zu lernen. Ich war gut in der Schule, dafür musste ich aber auch einiges tun. Ich habe schon früh Aufgaben im Haushalt übernommen, um meine Mutter zu entlasten, so konnten wir auch mehr Zeit miteinander verbringen. Wir hatten nie viel Geld, aber mir hat es durchaus gereicht, ich brauche keinen Luxus, um glücklich zu sein. Ich brauche nur die Menschen, die mir etwas bedeuten und das waren in den ersten 18 Jahren meines Lebens meine Mutter und meine beste Freundin Gina.
Gina ging als erst, aufs College. Sie hatte die besten Noten unseres Jahrgangs und bekam ein Stipendium an der UCLA. Der Kontakt hielt noch ein paar Monate, aber auch durch meine Ausbildung verloren wir uns aus den Augen. Ich hatte nie viele Freund, so war der Verlust recht schwerwiegend. Mir blieb nur noch meine Mutter, die nun auch den Job der besten Freundin übernahm.
Von Männer wollte ich in dieser Zeit nicht viel wissen, ich wollte mir erst ein gesichertes Einkommen schaffen, dann könnte ich immer noch auf Männerfang gehen. Denn hässlich war ich nie. Durchschnittlich groß, lange dunkelblonde Haare, dünn ohne dürr oder abgemagert zu erscheinen und eine angemessene Körbchengröße. Auch wenn ich nicht auf Beziehungen oder Ähnliches aus war, Angebote bekam ich durchaus.
Ich stürzte mich in meine Ausbildung als Köchin, auch um meine Mutter zu unterstützen. Doch irgendwie kamen wir nie aus unserer allgegenwärtigen Geldnot heraus, jeden Monat konnten wir uns grade so über Wasser halten ohne Schulden machen zu müssen. Das war die größte Katastrophe, die hätte passieren können meinte meine Mutter immer. Sich Geld leihen zu müssen und dann in der Schuld anderer zu stehen. Man sollte immer finanziell unabhängig bleiben, auch wenn man verheiratet ist. Mum war nie verheiratet, lebte aber schon immer in ärmlichen Verhältnissen. Meine Großeltern waren einfache Arbeiter, die aufgrund harter körperlicher Tätigkeit früh verstorben waren. Ich habe nur noch schleierhafte Erinnerungen an sie.
Ich stand fast vor dem Abschluss meiner Ausbildung, als es meiner Mutter von einem auf den anderen Tag sehr schlecht ging. Krebs. Ein Lungentumor im Endstadium. Unsere Krankenversicherung deckte nur wenig ab und so ging es ihr von Tag zu Tag schlechter. Mit größter Mühe schaffte ich es an meinen Prüfungen teilzunehmen. Ich bestand, wollte meiner Mutter die freudige Nachricht überbringen. Ich brauchte jetzt nur noch einen gutbezahlten Job, dann könnte ich ihre Krankenhausrechnungen bezahlen. Doch, als ich sie am Tag meiner bestanden Prüfungen im Krankenhaus besuchte lag sie bereits im Sterben.
Sie sagte noch, dass sie mich liebe und dann starb sie, während ich ihre Hand hielt. Da brach meine Welt das erste Mal vollkommen zusammen. Ich war allein, ganz allein auf dieser großen weiten Welt. Ich brach zusammen, sah keinen Sinn mehr. An die ersten Monate nach den Tod meiner Mutter kann ich mich nicht wirklich mehr erinnern, alles verschwimmt in einer grauen Masse, ich weiß auch nicht mehr woher ich die Kraft genommen habe weiter zu machen. Aber irgendwann hatte ich den Impuls irgendwo neu anzufangen. Weg aus der Kleinstadt in Maine, in der ich aufgewachsen bin. New York war mein Ziel, da hatte man sicher eine Job für mich und ich könnte mir mein eigenes Leben aufbauen.
Mit Anfang 20 alleine in New York. Eine Erfahrung, die ich lieber nicht gemacht hätte. Das wenige Geld, das wir hatten steckte ich in die Beerdigung meiner Mutter, sie hatte eine würdevolle Bestattung verdient. So hatte ich nicht mehr als 200 Dollar, als ich im Big Apple ankam.
Eine Anstellung als Köchin war aussichtslos, dass merkte ich schnell. Diese Stellen, zumindest in den einigermaßen anständigen Läden, bekommt man nur über Kontakte. So suchte ich mir Aushilfsjobs. Kellnerte, putzte und nahm was ich kriegen konnte. Nebenbei bewarb ich mich in allen Restaurants, die diesen Namen verdient hatten, denn auch wenn meine Ansprüche niedrig waren, um Bürger zu braten hatte ich nicht 3 Jahre lang gelernt.
Auch Freundschaften, überhaupt Kontakte zu knüpfen, war für mich in dieser anonymen, lieblosen Stadt eine unüberbrückbare Hürde.
Bei einen meiner Vorstellungsgespräche lernte ich Billy kennen. Er hatte ein kleines Lokal in Brooklyn, es war zwar eher eine Bar. Aber es gab eine Speisekarte und die hatte mehr zu bieten als nur Burger und Pommes, außerdem stellte er mir in Aussicht, dass ich sie mit kleinen Häppchen eigenständig erweitern könnte. Ich nahm den Job an, auch weil ich gefallen an Billy fand. Er war um einiges älter und strahlte eine solche Lebenserfahrung aus, dass sie mich sofort in seinen Bann zog.
Die Arbeit machte Spaß, ich hatte wirklich nahezu freie Hand in der Küche und konnte meine Visionen verwirklichen. Die Bezahlung, war zwar nicht so gut wie erwartet, aber dafür kam ich Billy näher. Ich verfiel ihm immer mehr und er hatte scheinbar Gefallen daran.
Irgendwann landeten wir im Bett, dann immer und immer wieder ich konnte gar nicht genug von ihm bekommen und eines Tages stellte er mich offiziell als seine Freundin vor.
Schon wenige Tage später wohnte ich bei ihm, in seiner Wohnung über der Bar. Konnte endlich mein viel zu kleine und schäbige Wohnung in der Bronx verlassen.
Noch ein halbes Jahr schwebte ich auf Wolke sieben, dann schlug Billy das erste Mal zu. Nur eine Ohrfeige, aber die nächste folgte nur kurze Zeit später. Schnell ersetzte er seine flache Hand durch Fäuste und irgendwann machte er sich nicht mal mehr die Mühe zuzuschlagen wenn ich schon auf dem Boden lag und trat einfach auf mich ein.
Die erst Vergewaltigung übte er im Vollrausch aus. Erst schlug er mich halb bewusstlos und dann fickte er mich obwohl ich mit Händen und Füßen wehrt.
Am nächsten Tag, als er schon in der Bar war, versuchte ich das erste Mal mich umzubringen. Ich ekelte mich vor mir selbst und schlimmer als nach dem Tod meiner Mutter, sah ich keinen Ausweg mehr. Ich schluckte Unmengen an Tabletten, aber er hat mich gefunden und mir seine ekelhaften Finger in den Hals gesteckt, bis ich kotzte.
Ich begann mich immer mehr vor ihm zu ekeln und in seiner Anwesenheit meine Gefühle zu unterdrücken, denn ihn machte es an, wenn ich weinte oder schrie. Ich entwickelte einen Schalter, denn ich umlegte, sobald er in der Wohnung war.
Kurze Zeit nachdem er mich zum ersten Mal verprügelt hatte verbot er mir zu arbeiten. Er stellte jemand neues ein und sperrte mich in der Wohnung ein. Nur zum Einkaufen, maximal zwei Mal in der Woche durfte ich vor die Tür, meistens in seiner Begleitung.
Ganze 4 Jahre hielt ich es dies aus. 4 unendliche Jahre. 4 Jahre in der Hölle und ich habe sie überlebt. Doch ich war kaputt, bin kaputt. Körperlich wie psychisch. Ich weiß nicht wie oft er mir die Nase, die Rippen oder andere Knochen gebrochen hat. Unzählige Narben trage ich von seinen Taten, zugefügt durch Scheren, Gürtel und Messer. Aber eines hat sich in die tiefen meines Gedächtnisses gegraben, mehr als alles andere. Er hat mein Kind getötet, ein unschuldiges Wesen, im Schutze meines Bauches einfach zu Tode geprügelt.
Dass war der Punkt ab dem ich ihn hasste. Abgrundtiefer Hass. Ich erstellte einen Plan, um ihn endlich zu entkommen auch wenn es nur dem Zweck diente mich umzubringen. Die Hoffnung, dass er dies erledigen könnte habe ich begraben, ich musste das selbst in die Hand nehmen, aber dafür musste ich weg. Denn nach meinem ersten Versuch, hat er alle möglichen Tötungsutensilien vor mir verschlossen. Er braucht mich lebend, um mich zu quälen und er will kein Risiko eingehen ich könnte diesen Zustand ändern.
Mein Plan hat funktioniert, er war so besoffen, dass er nicht mal mehr vom Küchentisch aufstehen konnte. An die Schlüssel in seiner Hosentasche zu gelangen war schon eine schwierigere Übung, aber nachdem er vom Stuhl kippte und nur ein kleines Brummen von sich gab, wusste ich, ich würde es schaffen.
Und das tat ich. Doch eine Frage setzte sich auf der langen Busfahrt in mir fest. Warum? Warum hat er mir das angetan? Anfangs dachte ich er macht es nur wenn er betrunken ist, aber das stellte sich als Irrglaube heraus. Warum also hat er mich die ganzen Jahre gequält? Er hat mich nie angeschrien oder beschuldigt etwas getan zu haben, nie hat er mir Vorhaltungen gemacht. Seine Stimme war immer äußert sanft und ruhig, auch wenn seine Augen, immer wenn er mich verprügelte und oder vergewaltigte, vor Hass sprühten. Es gab Tage, da hat er mich nicht angefasst, an denen war er wie in den ersten Monaten. Warum also?
Bassett, das Ortseingangsschild. Eine neue Chance? Wohl kaum, eher der letzte Ausweg…
Piep…piep…piep, ein Déjà-vu. Was ist passiert? Zu bekannt kommt mir dieser Ton vor. Er tönt unaufhörlich im Rhythmus meines Herzen.
Wo bin ich? New York? Ich war in New York, war bei IHM. Doch ich bin geflohen, habe es erneut geschafft. Habe ich Mike angerufen? Alles ist so verschwommen und viele Lücken sind in meiner Erinnerung, nachdem ich die Wohnung verlassen habe. Mir ging es nicht gut, mir war schwindlig, mir wurde immer wieder schwarz vor Augen. Aber jetzt bin ich mir sicher, ich habe mit Mike telefoniert. Bin ich wieder in Bassett?
Ich bin auf der Parkbank, kurz nach dem Anruf, zusammengebrochen, doch was ist dann geschehen? Hat Mike verstanden wo ich bin? Hat er mich gefunden?
Zögerlich schlage ich die Augen auf und wieder habe ich ein Déjà-vu. Ich bin in Bassett, in meinem alten Zimmer im Krankenhaus, auf der Normalstation. Wie bin ich hierhergekommen?
Ich verschiebe diese Fragen auf später, denn ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit stellt sich in mir ein. Ich habe es geschafft vor ihm zu fliehen, wieder. Ich kann mich wieder an alles erinnern, kenne wieder meine Vergangenheit. Einen winzigen Augenblick fühle ich mich wohl, glücklich, sorgenfrei.
Doch dann stürzt alles auf mich ein. Hier wird ER mich doch als erstes suchen. Was wenn ER mich wieder mit sich nimmt? Ich glaube dieses Mal würden ihn Frank und Mike nicht so sehr vertrauen, aber wie weit würde ER gehen? Würde ER mich entführen? Ich will nicht wieder zu IHM, kann es keine Sekunde länger bei IHM aushalten.
Ein zaghaftes Klopfen lässt meine Gedanken verschwinden und ich konzentriere mich auf die Person, die den Raum betritt. Ann. Sie strahlt als sie mich sieht, aber auch Scham und Reue sind deutlich in ihrem Gesicht abzulesen. Warum empfindet sie so etwas?
„Es tut mir so unendlich leid.“, erklärt sie und Tränen fluten ihre Augen. Ich kann sie nur irritiert ansehen. Was tut ihr leid? Ich stehe vollkommen auf dem Schlauch. Sie hat weder Schuld, dass ER mir das angetan hat, noch dass ER es erneut tun konnte.
„Wir hätten dich nicht gehen lassen dürfen. Es war ein Fehler, auch meiner.“, entgegnet sie meinem Blick und weint nur richtig. Ich würde sie gern in den Arm nehmen, sie trösten, aber irgendetwas in mir sträubt sich gegen den Körperkontakt. Allein der Gedanke daran lässt mich, mich vor mir selbst ekeln. Plötzlich fühle ich mich schmutzig, ekelerregend, schuldig.
„Du bist nicht schuld, du kannst nichts für SEIN Verhalten und wenn ich nicht hätte mitgehen wollen, wäre ich geblieben. Auch ich hatte die Wahl.“, versuche ich sie mit Worten zu beruhigen, auch um Zeit zu gewinnen, um meine plötzlich Abneigung gegen Körperkontakt einzuordnen.
„Du warst doch gar nicht in der körperlichen, geschweigende denn in der psychischen, Verfassung solche eine Entscheidung zu treffen. Du standst total unter Schock, warst apathisch und wir hätten erkennen müssen warum.“, schluchzt sie und hebt ihre Stimme. Sie ist fest davon überzeugt, wird sogar wütend, wenn ich ihr sage, dass sie Unrecht hat. Vielleicht kann mir Frank helfen die Dinge bei Ann klarzustellen. Frank! Hoffentlich macht er sich nicht auch diese Vorwürfe, immerhin ist er Psychologe und hat mich guten Gewissens in SEINE Hände übergeben. Julian, mit ihm kann man sicher vernünftig reden, er war dagegen mich gehen zu lassen und sollte sich deswegen keine Vorwürfe machen.
„Ich würde gern mit Julian reden.“, sage ich sanft, um zugleich vom Thema abzulenken, welches Ann sichtlich angreift. Irritiert hebt sie ihren Blick und wischt sich über die Augen.
„Ich habe ihn seit Montag nicht mehr gesehen. Er hat sich Urlaub genommen und lässt keinen an sich ran. Weder auf Anrufe oder SMS reagiert er, auch seine Wohnungstür öffnet er nicht.“, erwidert sie und scheint dabei nachzudenken.
„So habe ich ihn noch nie erlebt.“, schiebt sie dann gedankenverloren hinterher und streicht die letzten Tränen von ihren Wangen. Was ist mit Julian? Warum verhält er sich so? Ich muss zu ihm, muss mit ihm reden. Das Gefühl, dass ich bereits damals auf der Brücke hatte beschleicht mich wieder. Ich mache mir Sorgen, ich habe Angst um Julian. Auf einmal bin ich mir sicher, dass ich ihn liebe. Ich liebe Julian. So habe ich noch nie gefühlt, in IHN war ich verliebt, hab IHM zu Beginn angehimmelt, aber diese Liebe zu Julian ist etwas anderes. Tiefer, intensiver, ehrlicher.
Wenn er so auch für mich empfindet, muss es ihm miserabel gehen. Ich bin mit IHM gegangen und habe Julian allein gelassen, habe seine Gefühle verletzt. Ich muss es ihm erklären, muss ihm sagen was ich empfinde, sofort.
Bestimmt schwinge ich die Beine aus dem Bett und will mich grade aufsetzten, als Ann mich an den Schultern zurückdrängt.
„Nicht anfassen.“, sagte ich sehr schroff, da mich wieder dieser Ekel überkommt. Ihrer Berührungen scheinen sich in meine Haut zu brennen und wenn sie nicht im nächsten Moment zurückgeschreckt wäre, hätte ich sie von mir gestoßen, so unerträglich ist der Körperkontakt.
Ann betrachtet mich, als hätte ich sie geschlagen. Erstarrt sieht sie mich mit aufgerissenen Augen an.
„Entschuldigung, aber bitte fass mich nicht an.“, versuche ich etwas versöhnlicher zu klingen. Es ist ja nicht so als läge es an ihr. Ich weiß beim besten Willen nicht warum ich so reagiere, aber allein die Vorstellung berührt zu werden, egal von wem, widerstrebt mir zu tiefst.
Ich nutzte Anns Handlungsunfähigkeit und setzte mich auf die Bettkante. Meine nackten Füße berühren den kalten Linoleumboden und ich zucke leicht zusammen. Ein Blick an mir hinab zeigt mir, dass ich mal wieder nichts, außer dieses Krankenhaushemdchen trage. Schon wieder habe ich nichts mehr, gar nichts. Keine Sachen, keine Wohnung, kein Leben. Ein bitteres Lächeln legt sich auf meine Lippen. Nichts hat sich verändert, seitdem ich das letzte Mal in diesem Krankenhaus aufgewacht bin. Doch ich muss diese Gedanken zurückdrängen, denn Julian ist jetzt wichtiger. Ich muss wissen, dass es ihm gut geht, ehe ich mich wieder um mich selbst kümmern kann.
„Ich muss zu Julian.“, bestimme ich und schaue Ann wieder an. Erst jetzt scheint sie aus ihrer Starre zu erwachen, denn sie schüttelt kurz geistesabwesend den Kopf und blickt mir dann auch wieder in die Augen.
„Das geht nicht.“, antwortet sie verwirrt und schüttelt verdeutlichend den Kopf. Ihre Augenbrauen haben sich zusammengezogen, als überlege sie welcher Sinn hinter meinen Worten steckt.
„Ich werde Prof. Burk und Frank holen.“, sagt Ann langsam. Ich sehe in ihren Augen, dass sie überlegt, ob sie mich alleine lassen kann, ohne dass ich sofort flüchte. Ich nicke. Das verschafft mir etwas Zeit meinen Körper auszuprobieren, zu testen ob ich überhaupt dazu in der Lage bin aufzustehen.
Mit immer noch zweifelnden Blick wendet sich Ann zur Tür und eilt dann hinaus. Lange wird sie nicht brauchen, um beide Männer davon zu überzeugen sie zu begleiten, also mache ich mich schnell an mein Vorhaben.
Ich rutsche auf der Bettkante nach vorne, sodass meine nackten Füße nun komplett und parallel auf dem Boden stehen, dann stütze ich mich mit beiden Händen vom Bett ab und bin erstaunt, dass fast ohne Probleme frei stehe. Lediglich ein leichter Schwindel ist zu spüren, doch den kann ich gut ignorieren. Ich tapse zu Schrank, mit nur wenig Hoffnung etwas Kleidung darin zu finden. Meine Chance erfüllt sich nicht, außer ein paar unbehangenen Kleiderbügeln ist der Schank leer.
In meinem Vorhaben zurückgeworfen setzte ich mich wieder aufs Bett und versinke wieder in Gedanken. Es fühlt sich plötzlich alles neu an. Hier zu sein und mich an mein Leben erinnern zu können ist eigenartig. Ich muss ihnen erzählen, dass ich mich wieder erinnere, am besten allen zusammen. Wie damals, als ich von meinen Alpträumen berichtet habe.
Als ich in Gedanken meine Vergangenheit revuepassieren lasse, fällt mir auf, dass ich einen gewaltigen Fehler begangen habe. Auch wenn ich keine Erinnerung an meine Mutter hatte und so ihren Vorsatz nicht täglich vor Augen hatte, hätte ich mich nie so abhängig von anderen machen dürfen. Sie haben mir so viel gegeben, mich bei sich wohnen lassen, meine Rechnungen bezahlt, Fahndungen vorangeführt, mich unentgeltlich therapiert und ich kann ihnen das nie zurückzahlen. Kann nie einen gleichwertigen Ausgleich schaffen. Ich stehe in ihrer Schuld und habe mich von ihnen abhängig gemacht, die größte Sünde, die meine Mutter kannte. Wie sollte ich es je wieder schaffen finanziell auf eigenen Beinen zu stehen? Denn wieder habe ich nichts. Nicht mal einen Ausweis, der beweist wer ich bin. Der, den Mr. Roden mir ausgestellt hat, ist, da ich meine wahre Identität kenne, ungültig und außerdem liegt er in New York. Genau wie meine Unterlagen, wie Geburtsurkunde und Ähnliches. Wo mein alter Ausweis ist, weiß ich nicht, denn eigentlich hatte ich ihn bei mir als ich das erste Mal hier in Bassett war, aber das ist jetzt auch egal.
Ein erneutes Klopfen bringt mich in die Realität zurück und drängt meine Gedanken in den Hintergrund.
Ann, Frank und auch Prof. Burk betreten den Raum und bauen sich, wie bei einer Inquisition um mein Bett auf. Ich betrachte ihre Gesichter. Ann hat noch immer rote Augen vom Weinen und die Scham und Reue steht ihr quasi auf der Stirn. Sie senkt ihren Blick, als ich ihn suche. Wo ist die selbstbewusste Krankenschwester, die ich kennengelernt habe? Sie hat nichts Falsches getan, warum also gibt sie sich die Schuld? Dass ist irrational.
Frank steht Ann gegenüber. Er entgegnet meinem Blick, aber auch ihm sehe ich an, dass er sich Vorwürfe macht. Na toll, noch jemand der sich einen Fehler zuschreibt, den er nicht begangen hat. Ja, er hätte sich vielleicht nicht schnell eine Meinung über IHN bilden sollen, aber ich bin freiwillig mit IHM mitgegangen. Niemand hat mich gezwungen. Hätte ich auch nur einen Ton gesagt, wäre Frank einer der ersten gewesen, die mich beschützt und bestärkt hätten. Ich schenke ihn ein aufbauendes Lächeln, doch da wendet auch er seinen Blick ab.
Ich seufze schwer. Wenn ich hier bleibe, wird es ein hartes Stück Arbeit alle davon zu überzeugen, dass sie sich keine Vorwürfe machen müssen.
Prof. Burk scheint langsam die Geduld zu verlieren, denn als ich ihn ansehe verdreht er die Augen und schaut demonstrativ auf die Uhr. Ich kann ihn immer noch nicht ausstehen. Er ist überheblich, arrogant und selbstverliebt. Er schaut mir nicht genau in die Augen, blickt zwar in meine Richtung, sodass es den Anschein hat, aber sein Blick geht an mir vorbei.
Ich möchte mich nicht länger mit ihm beschäftigen, so räuspere ich mich kurz und bringe dann mein Anliegen vor.
„Wann kann ich entlassen werden?“, frage ich den weiß gekleideten Chefarzt mir gegenüber. Seine Stirn legt sich in Falten, ein paar seiner Gesichtsmuskeln zucken. Er scheint einen Kampf zu führen. Ich bilde mir ein, der Arzt in ihm kämpft dafür, dass ich noch hier bleiben muss, da mein gesundheitlicher Zustand noch keine Entlassung duldet. Der andere Teil in ihm, ich weiß nicht wie ich ihn bezeichnen soll, denn menschlich scheint er weniger, fightet für einen baldigen Rauswurf, da er mich einfach nicht leiden kann. ‘Beruht auf Gegenseitigkeit‘, denke ich zynisch und konzentriere mich nun darauf, was er zu sagen hat. Wer wohl den Kampf gewonnen hat?
„Sie sind unterernährt, haben einige schwere Prellungen und sind psychisch labil. Ich denke ein paar weitere Tage in unserer Obhut müssen wir veranschlagen, Emily.“, trägt er sachlich vor und setzt ein hämisches Grinsen auf, als ich scharf Luft einziehe, bei seiner Bemerkung über meinen Geisteszustand.
„Sarah, mein Name ist Sarah Foster und ich möchte mich auf eigenen Wunsch frühzeitig entlassen.“, bestimme ich und höre quasi die Kinnladen von Ann und Frank aufklappen, schenke aber meine ganze Aufmerksamkeit dem Professor. Einen winzigen Moment betrachtet er mich, wie ein medizinisches Wunder, welches er gerne näher untersuchen möchte, doch schnell fängt er sich wieder und starrt auf einen Punkt an der Wand hinter mir.
„Das ist ihre Entscheidung, allerdings muss ich auf eine psychologische Einschätzung bestehen. Wenn Dr. Randl sein Einverständnis gibt, können sie ihre Papiere abholen. Aber sie sind noch auf Emily Doe ausgestellt.
Einen schönen Tag noch.“, verabschiedet er sich und im nächsten Moment hat er auch schon das Zimmer verlassen.
„Du kannst dich erinnern?“, haucht Ann erschrocken neben mir, aber ich nicke nur abwesend. Ich muss mich jetzt mit Frank beschäftigen, er ist meine Chance hier raus.
Das sieht er scheinbar ebenso, denn als ich zu ihm sehe, betrachtet er mich abschätzend.
„Wie sieht dein Plan aus?“, fragt er nach einer Weile schweigenden mustern. Mein Plan? Welcher Plan? Verunsichert überlege ich dringlich, was er hören will. Ich entschließe mich, nach erfolgloser Suche einer Alternative, für die Wahrheit. Mein kurzfristiges Ziel, Julian zu sprechen und ihn hoffentlich wieder zur Vernunft zu bringen.
„Ich will mit Julian sprechen und dann will ich euch alles erzählen. Könnt ihr heute Abend alle zu Ann kommen? Vorausgesetzt ich darf noch bei dir wohnen?“, will ich wissen und wie ich eben, nickt sie nur kurz, in Gedanken.
„Wir werden uns wieder täglich sehen, von mir aus auch bei Ann, wenn du nicht extra herkommen willst. Aber fürs erste finde ich deinen Plan gut, hoffentlich lässt er wenigsten dich an sich ran.“, beschwört er und ich nicke akribisch, um ihn in seiner Entscheidung zu bestärken. So weit reichen meine Zukunftspläne zwar noch nicht, aber ich wiege ihn erst mal in Sicherheit.
„Fährst du sie zu ihm?“, fragt er Ann und ich sehe ihn entsetzt an. Soll ich so fahren? In diesem Krankenhaushemdchen?
„Natürlich. Aber ich besorge erst andere Sachen, sonst verlässt Sarah das Zimmer auch mit Entlassungspapieren nicht.“, antwortet Ann und ein kleines Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, scheinbar hat sie meine Verblüffung bemerkt oder sich einfach an das letzte Mal erinnert, als ich so ein Hemdchen trug.
„Wir sehen uns dann heute Abend.“, verabschiedet sich Frank und will mich in den Arm nehmen. Mit großen Schritten und ausgebreiteten Armen kommt er auf mich zu und mein Puls steigt ins unermessliche.
„NEIN! NICHT ANFASSEN!,“, schreie ich unbeherrscht und meine Stimme zittert genau wie mein ganzer Körper. Abrupt bleibt er stehen und schaut mich ungläubig an. Es hat fast den Anschein, als könnte er nicht glauben, was ich das grade gesagt habe. Als er sich wieder gefangen hat wandert sein Blick in Zeitlupe zu Ann, diese ist bei meinem Ausbruch zusammengezuckt, hat sich aber schneller wieder gefangen und nickt und zuckt gleichzeitig mit den Schultern. Ihr Blick sagt ‘von mir wollte sie sich auch nicht anfassen lassen, ich weiß nicht was los ist‘, aber sie sagt nichts.
Noch einige Augenblicke beobachtet mich Frank eingehend und ich entspanne mich langsam wieder, da er keinerlei Anzeichen mehr macht mich zu berühren.
Als beide den Raum verlassen haben kommt mir ein erschütternder Gedanke. Trotz der Therapie und Franks wunderbar hilfreichen Ansätzen, scheinen meine Probleme mehr zu werden statt weniger. Zu Beginn konnte ich „nur“ die Angst vor Männern, meine Amnesie und meine Alpträume vorweisen, mittlerweile kann ich keine Berührungen mehr ertragen, habe eine Vergangenheit, die mich erschaudern lässt, einen Mann im Nacken, der mich quält und vergewaltigt und außerdem einen weiteren Selbstmordversuch, sowie fast eine Woche in einer apathischen Schockstarre vorzuweisen. Zu allem Überfluss kommt noch hinzu, dass ich abhängig von Ann, Mike, Frank und vor allem von Julian bin. Angewiesen auf seine Liebe, nicht mehr fähig ohne sie zu existieren. Was, wenn er mich nicht mehr liebt? Wenn er mich nicht mehr will? Ich kann nicht mehr ohne ihn leben, er ist mein Halt. Ich brauche ihn, mehr als alles andere auf der Welt.
Ein flaues Gefühl breitet sich in mir aus, als ich sämtliche negative Szenarien durchgehe, die geschehen könnten. Angefangen damit, dass er mir gar nicht die Tür aufmacht geschweige denn zuhört, über Anschuldigungen durch zusammengebissene Zähne, bis hin zu einem mir lauthals entgegenschreienden ich solle verschwinden und er liebt mich nicht mehr. Dass ist der schlimmste Satz, den er überhaupt verwenden kann, ‘ich liebe dich nicht mehr‘.
Der Klumpen in meinem Magen vergrößert sich zusehends und meine Kehle schnürt sich nur bei dem Gedanken zusammen.
Das Gefühl hat sich auf dem ganzen Weg zu ihm nicht geändert, im Gegenteil es hat sich nur verstärkt. Am liebsten würde ich mich übergeben, weinend in einer Ecke zusammenkauernd verkriechen und nie wieder rauskommen. Doch etwas hindert mich daran. Julian. Die Aussicht ihn zu sehen, egal wie er reagiert bringt das Kribbeln in meinen Körper zurück.
Ann geht mir voran die Treppen hinauf bis vor seine Wohnungstür, dann zieht sie sich zurück, wartet aber anderthalb Treppenabsätze tiefer auf den Ausgang dieses Schauspiels.
Was soll ich sagen? Soll ich klingeln? Klopfen?
Unentschlossen wiege ich von einem auf den anderen Fuß und ziehe mir immer wieder geistesabwesend die viel zu große grüne OP-Hose hoch. Ich könnte eine Ärztin sein, in dieser Kleidung, hätte mir der Spiegel nicht verraten, dass ich mal wieder fürchterlich aussehe. Dürr, blass und mit tiefen Augenringen gleiche ich gewiss nicht einer Ärztin.
Mit einem, tief aus mir heraus kommenden Impuls, drücke ich nun endlich die Klingel und harre der Dinge die da kommen. Ich werde wissen was ich sagen muss, wenn ich hin sehe, versuche ich mir in der Zeit gut zuzureden. Sobald er mit gegenübersteht finde ich die richtigen Worte intuitiv. Doch er steht mir nicht gegenüber, er öffnet nicht die Tür.
Tränen steigen mir in die Augen. Sofort sind die Horrorszenarien, die ich mir vorhin ausgemalt habe, wieder in meinem Kopf. Sie vernebeln sämtliche anderen Gedanken, lassen nicht zu, dass ich mir selbst Mut zuspreche. Mut, der immer weiter sinkt. Mut, den ich zu oft nicht habe. Mut, der sich verzweifelt gegen Resignation und tiefe Enttäuschung wehrt.
Mit dem letzten Quäntchen eben diesen Mutes drücke ich erneut die Klingel und lasse meinen Finger darauf liege. Er wird solange da liegen, bis ich eine Reaktion erhalten habe, beschließe ich trotzig.
Selbst hinter der robusten Holztür kann ich den penetranten Klingelton hören, doch sonst kommt kein Laut aus der Wohnung. Aber er muss da sein, sein Auto steht vor der Tür.
Er ist nicht da, resigniere ich und will grade den Finger von der Taste nehmen, als ich eine müde, tiefe Stimme höre. Julian Stimme.
„Lasst mich doch endlich zu frieden. Ich will euch nicht sehen. Egal ob du Ann, Mike, Frank oder sonst wer bist, verschwinde.“, murrt es hinter der Tür. Ich bin erstarrt, von der Rauheit und der Abgestumpftheit seiner Stimme. Er klingt kaum noch nach dem Julian den ich kenne. Durch meine Starre verharrt mein Finger weiterhin auf der Klingel und der schrille Ton dringt weiterhin in das hallende Treppenhaus.
„VERSCHWINDE!“, schreit er und seine Stimme nimmt nun auch einen heißeren Ton an. Diese barsche Aufforderung lässt mich wieder reagieren und meine Hand singt entkräftete hinab. Nun kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie fließen ungehindert meine Wangen hinab und tropfen auf den grünen Kasack.
„Ich bin es Julian. Sarah… Emily. Ich will doch nur mit dir reden.“, bringe ich verzweifelt hervor. Im nächsten Moment will ich die Treppe hinunter stürzen und mein Vorhaben, mich ein einer Ecke zu verkriechen, doch in die Tat umsetzten, als ich aus der Wohnung ein Poltern höre. Kurz darauf wird von innen die Verrieglung geöffnet und Julian zerzaustes, fettiges braunes Haar schiebt sich durch den offenstehenden Spalt in der Tür.
Geschockt halte ich mir die Hand vor den Mund, um einen schrillen Schrei zu unterdrücken. Julian ist nur ein Schatten seiner selbst, seine Augenringe konkurrieren mit meinem, sein Bartschatten ist schon kein Schatten mehr und sein Gesicht wirkt eingefallen. Zudem stinkt er nur so nach Alkohol und aus der Wohnung strömt abgestandene Luft von mindesten 3 Tagen.
Julian blinzelt ein paar Mal, vermutlich um sich zu versichern, dass ich wirklich vor seiner Tür stehe. Er wirkt verwirrt, besorgt aber gleichzeitig wütend. Im nächsten Moment reißt er die Tür vollends auf und seine gesamte Gestalt erscheint im Türrahmen.
Sein T-Shirt und seine Hose scheint er länger nicht gewechselt zu haben, denn nun wird der Alkoholgeruch von Schweiß begleitet und meine Tränen fließen wieder heftiger. Was habe ich ihn nur angetan? Was muss er jetzt von mir halten?
Er wirkt hin und her gerissen in seinen Emotionen. Wut, Verzweiflung, Liebe, Trauer und Enttäuschung wechseln sich stetig ab und sind deutlich in seinem Gesicht abzulesen. In einem Moment tiefer, reiner Liebe hebt er seine Hand und bewegt sie langsam in Richtung meines Gesichts.
Ich kann quasi schon seine Hand auf meiner Wange spüren, weiß wie ich mich an sie anschmiegen würde, kenne das wunderbare Gefühle, dass diese Geste bei mir auslösen würde. Doch als sie eine imaginäre, magische Grenze überschreitet zucke ich zusammen, weiche einen Schritt zurück und schüttle zu tiefst betrübt den Kopf. Warum kann ich nicht mal seine Berührungen zulassen? Noch vor wenigen Tagen waren sie das schönste, was ich mir vorstellen konnte. Dass ist auch jetzt noch so, aber ich kann es einfach nicht zulassen. Ich sehne mich nach seinen Händen auf meiner Haut, nach einer engen Umarmung mit ihm, aber irgendetwas in mir hält mich davon ab Berührung auf meiner Haut zu ertragen.
Das kurze ‘Warum‘ in Julians Augen wird von Zorn abgelöst und er schickt sich an die Tür wieder zu schließen. Doch das kann ich nicht zulassen, ich brauche ihn doch.
„Julian bitte. Ich muss mit dir reden. Lass es mich erklären, bitte.“, flehe ich verzweifelt und trete einen Schritt vor, um mit der Hand die Tür aufzuhalten. Es ist eher eine symbolische Geste, denn genügend Kraft habe ich nicht sie aufzudrücken.
Resignierend gibt er nach und verschwindet wortlos in der Wohnung. Langsam folge ich ihm, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe. Ich werfe flüchtige Blicke in die Räume, an denen ich vorbei komme. In allen sind die Vorhänge geschlossen und die Luft ist abgestanden.
Julian sitzt im Wohnzimmer auf der Couch. Auch hier ist es dunkel und nur wenige Sonnenstrahlen, die am Rand des Vorhangs hindurchscheinen, lassen vermuten, dass draußen ein herrlicher Augusttag sein bestes gibt. Hier ist der Gestank am schlimmsten. Kalter Schweiß, verbrauchte Luft und Julians Fahne geben mir kaum Möglichkeit zum Atmen und lassen meinen Übelkeitspegel wieder steigen. Doch ich schlucke es tapfer hinunter und ehe ich mich zu ihm setzte öffne ich die Vorhänge und das große Fenster. Sofort strömt mir frische Luft entgegen und ich halte meine Nase einen Moment in die Prise.
Als ich mich umwende erstarre ich erneut. Jetzt im Tageslicht und mit unzähligen leeren Flaschen um sich, gibt Julian noch ein heruntergekommeneres Bild ab, als schon an der Tür. Seine Augen stechen in seinem blassen Gesicht rotumrandet und geädert hervor und schauen blicklos in den Raum. Was habe ich ihn nur angetan? Das wollte ich nie. Ich dachte doch er wäre besser ohne mich dran. Könnte sein altes, unbeschwertes Leben weiter leben. Ohne meinen Ballast, der nicht weniger geworden ist. Im Gegenteil, jetzt trage ich noch mehr Probleme mit mir herum und eines sitzt jämmerlich vor mir. Es zerreißt mir das Herz, zu wissen, dass allein ich an seiner Situation schuld bin.
Schweigend setzte ich mich in einen der Sessel und betrachte den bedauernswerten Mann mir gegenüber. Was soll ich sagen? Mein Kopf ist leer. Die Hoffnung, ich würde wissen was zu sagen ist wenn ich ihn sehe, ist verschwunden. In mir macht sich eine enorme Hilflosigkeit breit. Wie gern würde ich ihn einfach in die Arme nehmen, mich an ihn kuscheln und die letzten Tage vergessen. IHN vergessen, in seinen Armen würde mir das gewiss gelingen, doch mein Körper versteift sich augenblicklich, allein bei den Gedanken er könnte meine Haut berühren. Ich widere mich selbst an, ekele mich vor der Person die ich bin und ertrage es nicht daran zu denken jemand würde diesen abscheulichen Menschen, mich, anfassen. Ja ich bin widerwertig, abscheulich, ekelerregend, weil ich zuließ, was ER mit mir gemacht hat. Weil ich nicht verhindert habe, dass ER mich schändet, mit mir unsagbar Dinge macht. Weil ich zugelassen habe, dass ER mein Kind getötet hat.
Verbitterte Tränen rinnen meine Wangen hinab und eine Erkenntnis wächst in mir. Ich habe es nicht anders verdient. Scheinbar will mich irgendwer bestrafen und das zu Recht. Doch neben all diesen trüben Gedanken frage ich mich auch, was wäre gewesen wenn…
Was wäre gewesen wenn, meine Mutter nicht viel zu früh gestorben wäre? Was wäre gewesen wenn, ich nicht nach New York gegangen wäre? Was wäre gewesen wenn, ich IHN nicht begegnet wäre? Was wäre gewesen wenn, ich nicht hätte flüchten können? Was wäre gewesen wenn, ich Ann, Frank, Mike und vor allem Julian nicht getroffen hätte?
Nur auf eine Frage weiß ich auf Garantie die Antwort. Auf letztere, denn dann wäre ich tot. Würde nicht mehr hier sein und mich mit meinen, mir schon seit meinem Erwachen über den Kopf wachsenden Problemen, beschäftigen. Und wenn alles vorangegangen nicht gewesen wäre, hätte ich diese wundervollen Menschen nie kennengelernt.
„Ich liebe dich.“, hauche ich in die Still, die einzigen Worte, die ich mit Sicherheit weiß. Hat er mich überhaupt gehört? Ich muss meinen Blick von meinen in einander verschlungenen Händen lösen, um dies auszumachen. Julian blickt weiter stumpfsinnig vor sich her und zeigt keinerlei Regung. Wut steigt in mir auf, die ich nicht einzusortieren weiß. Was will er den von mir hören? Soll ich vor ihm zu Kreuze kriechen? Mich vor ihm lächerlich machen? Mein letztes bisschen Selbstbewusstsein mit Füßen treten und betteln? Nein, nicht ich. Auch wenn ich ihn liebe, mein Leben für seins geben würde, so etwas wie Stolz besitze auch ich.
Eine kleine Stimme meldet sich in mir und bescheinigt mir, nicht nur noch beginnenden Wahnsinn, sondern einen ausgewachsenen Irrsinn. Warum habe ich derartige Gefühlsschwankungen? Von einer auf die andere Sekunde haben sich meine Emotionen komplett gedreht und ich kann es absolut nicht steuern
„Ich liebe dich!“, sage ich deutlich lauter und mit hoch erhobenen Haupt. Ich bohre meinen Blick in Julian und eine einzige Reaktion erhalte ich. Er wendet den Kopf und nun liegen seine inhaltslosen Augen auf mir.
„Ich brauche dich…“, meine Stimme bricht, die Stärke bröckelt und macht Verzweiflung Platz.
„Ich hätte nicht gehen dürfen… Ich habe gespürt, dass ER es ist, aber ich war gefangen in mir. Ich weiß nicht wie ich es erklären soll, aber ich musste mit IHM gehen, um sicher zu sein. Vielleicht hatte ich auch die Hoffnung so meine Erinnerungen zurückzubekommen, was auch gelungen ist, aber jetzt wünsche ich mir ich wäre hier geblieben. Könnte mich nicht erinnern. Ich bin kaputt Julian, kaputter als vorher schon. Ich kann nicht mal den Gedanken ertragen berührt zu werden.
Ich würde dich so gern berühren, würde dir so gern zeigen wie sehr ich dich liebe, aber es geht nicht.“, Verzweiflung dominiert meine Stimme und meine Gedanken, längst laufen mir die Tränen wieder.
„Ich kann verstehen, wenn du mich nicht mehr liebst.“, schließe ich betrübt und fahre mir mit beiden Händen übers Gesicht. Meine Hämatome schmerzen unter meiner Berührung, denn neben meiner Blässe zeugen blau-lila Schatten von SEINEN Misshandlungen.
Als ich ein Rascheln von Kleidung höre schaue ich auf. Julian ist aufgestanden, er bewegt sich auf mich zu und mein Puls steigt. Was hat er vor? Doch auch das Kribbeln kehrt in meinen Körper zurück, denn sein Blick hat sich deutlich gewandelt. Von blicklos kann nun keine Rede mehr sein, denn unendliche Liebe schlägt mir aus ihnen entgegen.
Kurz vor mir bleibt er stehen und hockt sich vor mich. Penibel achtet er dabei darauf mich nicht zu berühren und meine Panik senkt sich etwas. Ich spüre seine Wärme auch wenn ich ihn nicht direkt berühre. Automatisch beruhige ich mich. Und auch wenn sein Duft unter Alkohol und Schweiß verborgen scheint, kann ich ihn ausmachen und nehme ihn in mir auf.
„Ich liebe dich auch. Viel mehr als du dir vorstellen kannst. Nie könnte ich aufhören dich zu lieben.“, sagt er sanft und bewegt seine Hand auf Höhe meiner Wange, doch er berührt mich nicht. Genießerisch schließe ich die Augen und schmiege mich ihm entgegen, ohne Hautkontakt entstehen zu lassen. Wie gern würde ich ihn berühren, seine weichen Lippen spüren. Ein tobender Kampf entsteht in mir. Auf der einen Seite die Sehnsucht nach seinen Berührungen, auf der anderen Seite der Ekel berührt zu werden.
Nach einiger Zeit berührungsloser Zuneigungen gewinnt für den Moment der Ekel. Der in Verbindung mit dem abgestandenen Alkohol-Schweiß-Gemisch Übelkeit in mir auslöst.
Mühsam unterdrücke ich diese und wende mich lieber dem heruntergekommenen Mann vor mir zu.
„Würdest du mir einen Gefallen tun?“, frage ich in Ermangelung einer Alternative.
„Jeden.“, antwortet er, immer noch versunken in seine kontaktlosen Zärtlichkeiten.
„Geh duschen.“, fordere ich und ein kleines Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als Julian irritiert die Augen aufreißt.
Etwas desillusioniert schaut er sich im Raum um und fährt sich dann verlegen durch die Haare.
„Ohne dich… Es ergab einfach alles keinen Sinn. Du warst weg und ich hier. Allein.“, versucht er sich zu erklären.
„Schon okay. Geh duschen, ich versuche hier etwas Ordnung zu schaffen.“, beschwichtige ich ihn und umgreife, ohne ihn zu berühren, sein Gesicht und küsse die Luft zwischen unseren Lippen.
Diese körperlosen Berührungen und Zärtlichkeiten teilen wir nun schon eine Woche mit einander. Julian ist sehr geduldig, ihm scheint meine Anwesenheit im Moment auszureichen. Doch meinen inneren Kampf trage ich jedes Mal von neuen aus. Es fällt mir trotz Ekel immer schwerer ihn nicht zu berühren, nur die Angst davor, was dann passiert hat mich bisher davon abgehalten. Was passiert wenn ich Julian oder irgendwen berühre?
Ich habe ihnen noch an diesem Abend vor einer Woche meine Lebensgeschichte erzählt. Ann hat viele Tränen vergossen. Mike, Julian und Frank haben ruhig zugehört, aber in ihren Gesichtern spiegelten sich ihre Emotionen wieder. Von Unglaube, über Anteilnahme, bis hin zu Hass war alles vertreten. Ich habe versucht meine Gefühle weitestgehend raus zu halten und war überrascht wie gut mir dies gelang.
Wieder gehe ich jeden Tag zu Frank, aber bisher konnte er mir bezüglich meiner Angst berührt zu werden leider nicht helfen. Aber im Moment gibt er mir sehr viel Kraft und etwas Hoffnung kehrt zurück, dass ich nicht vollends verrückt bin. Er gibt mir das Gefühl normal zu sein und kein abgedrehter Freak, der besser in eine Zwangsjacke aufgehoben wäre.
Grade bei Ann spüre ich, dass sie mich für nicht zurechnungsfähig hält und eher eine Einweisung in eine psychiatrische Klinik für angemessen erachtet.
Mike hat mich bestärkt IHN anzuzeigen, das habe ich auch getan. Sie haben seine Wohnung durchsucht, aber ER ist spurlos verschwunden. Seit dem steigert sich meine Panik ER könnte wieder hier auftauchen und mich mitnehmen. Ich achte penibel genau auf meine Umgebung, wenn wir nicht in der Wohnung sind. Beobachte alles um mich herum, so schaue ich immer wild umher und ähnle immer mehr einer Verrückten.
Auch die anderen haben Angst, ER würde wieder auftauchen und so bin ich Gott sei Dank nie alleine. Ann hat sich Urlaub genommen, denn etwas anderes ist uns noch nicht eingefallen, dass ich nicht auf mich gestellt und IHM hilflos ausgeliefert bin.
Ich verlasse die Wohnung lediglich für Besuche bei Frank, er hat zwar angeboten auch zu Ann zu kommen, aber nur in den vier Wänden eingesperrt zu sein würde mich wahrscheinlich noch irrer machen.
In dieser Woche hat sich trotz meiner neuen ‘Berührungsängste‘ und den Ermittlungen gegen IHN und SEIN Verschwinden, so etwas wie Rutine eingestellt. Lässt man diese Punkte außer Acht, ist es fast wie vor meinem Ausflug nach New York.
Ich sitze mit Ann unter ‘meiner‘ Weide und wir betrachten stumm das Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Es beruhigt mich ungemein, dass sie da ist auch wenn wir uns nicht wirklich etwas zu sagen haben. Unsere Annährung Ende Juli, an dem Jahrestag meines Unfalls, haben meine Reise in den Big Appel und die neuen Problematiken anscheinend zunichtegemacht. Keine Rede mehr von Kochstunden oder von irgendetwas anderem. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus, hat sie genauer gesagt kein Wort mehr mit mir geredet. Ann spricht aber genügend mit ihren Blicken. Mitleid, Trauer, Angst, Verzweiflung aber auch Verständnis und Liebe sind darin zu finden, wenn sie mich ansieht. Aber gestern sah ich etwas, was mich nachhaltig irritiert hat. Resignation. Hat Ann mich aufgegeben? Mich nun doch als hoffnungslosen Fall abgestempelt? Es macht mich traurig eine solche Emotion grade bei ihr vorzufinden, denn ich spüre immer noch unsere Verbindung. Sie ist immer noch die Frau, die mir alles von sich anvertraut hat, obwohl ich im Koma lag. Ann ist mir immer noch so vertraut wie es nur eine Schwester sein kann. Eine Schwester, die ich nie hatte und durch die ich erfahren habe, wie es sich anfühlt.
Plötzlich steht Ann auf und ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Es ist wohl Zeit für den Termin bei Frank, also erhebe ich mich auch und klopfe etwas die Erde von meiner Hose. Sie haben wieder dafür gesorgt, dass ich Kleidung bekomme. Nicht nur Ann, auch Mike hat bei seinen Kolleginnen einen Aufruf gestartet und Julian war mit mir ‘shoppen‘. Wobei er dabei sichtlich mehr Spaß hatte als ich. Julian suchte Sachen nach Kriterien aus wie, Wettertauglichkeit, Farbe, Stoff, oder Ähnliches, ich habe seine Auswahl, die er mir unter die Nase hielt drastisch verringert, in dem ich die preiswertesten herauspickte. Ich will nicht noch mehr Schulden bei ihm machen, zu viel Geld hat er schon für mich ausgegeben.
Ich folge Ann, hinein in das bekannte Gebäude. Viel zu vertraut erscheinen mir die endlosen Flure. Ich hatte nie Angst vor Krankenhäusern, aber seit dem Tot meiner Mutter bin ich immer wieder froh, wenn ich sie verlassen kann. Vor einer Woche war mir das zwar noch nicht bewusst, allerdings hat dies wahrscheinlich unterbewusst dazu beigetragen, dass ich mich selbst entlassen habe. In den letzten Tagen steigert sich meine Abneigung mit jedem Mal, wenn ich dieses Gebäude betrete. Heute ist es besonders schlimm. Mit jedem Schritt wird der Klumpen in meinem Magen größer und mein Puls beschleunigt sich.
Wieder schießt mein Blick wild hin und her und ich kann es nicht kontrollieren. Ich habe das Gefühl, dass ER hier ist, dass ER mich beobachtet.
Ann bleibt vor den Toiletten stehen und in meiner Angst gefangen laufe ich fast in sie hinein. Diese plötzliche Nähe beschleunigt meinen Puls nochmals.
„Ich muss mal. Kommst du mir rein oder wartest du hier?“, fragt sie unbeteiligt. Will sie mich wirklich hier draußen zurücklassen?
Noch vor ihr betrete ich den Raum mit den zwei abgetrennten Kabinen. Hastig stütze ich in eine und setzte mich auf den Deckel der Toilette. Ich muss mich beruhigen, so schnell wie möglich, sonst endet dieses mal wieder in einer Panikattacke. Ich höre wie Ann neben mir ihren Bedürfnissen nach geht und zwinge mich tief durchzuatmen, obwohl auch schon meine Atmung ein panisches Ausmaß angenommen hat.
Ein… Aus… Ein… Aus. Ann spült.
Ein… Aus… Ein… Aus. Ann öffnet die Kabinentür.
Ein… Aus… Ein… Aus. Ann wäscht sich die Hände, so langsam sollte ich fertig werden.
Ein… Aus…, die Tür öffnet sich und jemand betritt den Raum, automatisch steigert sich mein Puls wieder und meine Panik erreicht neue Höhen.
„Nein!“, kann ich Ann hauchen hören und im nächsten Moment ertönt ein dumpfer Schlag und kurz darauf ein Poltern. In blinder Panik stürzte ich aus der Kabine und mein erster Blick fällt auf Anns leblosen Körper neben dem Waschbecken. Etwas Blut rinnt aus einer kleinen Wunde an ihrer Schläfe auf die Fliesen.
Ich brauche nicht aufzusehen um zu wissen wer noch im Raum ist. ER. Also hat ER es doch wieder geschafft. ER hat mich.
Schwindel ergreift mich und lässt mich zurück taumeln, der Klumpen in meinem Magen hat sich verdoppelt und in brennende Lava verwandelt. Ich würge, doch da ich auch in dieser Woche nicht viel Nahrung bei mir behalten habe, was allen zunehmend Sorge bereitet, bleibt es dabei. Julian hat mir mittlerweile Magentablette verschrieben, weil ich nicht mal kleinste Mengen bei mir behalte, aber auch diese wirken nur bedingt. Körperlich habe ich einen neuen Tiefststand erreicht. Die psychische Talfahrt hingegen geht immer weiter bergab, wie es scheint.
Ich will IHN nicht sehen. Will nicht wissen, was ER mit mir vorhat. Innerlich schreie und wüte ich, wehre mich mit Händen und Füßen gegen IHN. Doch außen ist davon nichts zu merken. Wie soll ich mich auch gegen IHN wehren? Was habe ich IHM schon entgegenzusetzten? So ergebe ich mich meinem Schicksal, begebe mich wieder in SEINE Hände und kann nur leise hoffen, dass mich jemand befreit. Julian? Frank? Mike?
Barsch packt ER mich am Arm und schiebt mich vor SICH her. Bevor wir die Tür erreichen spüre ich etwas Spitzes im Rücken. Ein Messer? Wahrscheinlich, aber was macht es für einen Unterschied?
SEINE Berührungen brennen sich in meine Haut und wäre nicht schon die Höchstgrenze meiner Übelkeit erreicht, dann würde dies nun der Fall sein. Ich würge erneut, aber wieder finde ich keine Erlösung. Mein nicht vorhandener Mageninhalt bleibt da wo er ist und ich muss hart Schlucken. Um mich von dem Würgereiz abzulenken.
ER öffnet die Tür und blickt SICH rasch um, doch keiner beachtet uns und so drückt ER mir die Spitze des Messers in den Rücken und ich bewege mich vorwärts.
Einige Pfleger, Ärzte und Patienten begegnen uns, aber keiner scheint irgendetwas zu bemerken. Sollte ich um Hilfe schreien? Sollte ich auf meine Situation aufmerksam machen? Wie ER dann reagiert kann ich mir nur zu gut vorstellen. Das Messer würde sich tief in meinen Rücken bohren und so bleibe ich stumm.
Seltsamerweise hat sich mein innerer Aufruhr gelegt, ich verspüre nicht einmal mehr Angst. Ich habe resigniert. Mich IHM gänzlich ergeben und wieder den Schalter, der in SEINER Anwesenheit so einfach umzulegen ist, eingeschaltet und meine Gefühle somit aus.
Fast schlendert beweget ER uns Richtung Ausgang.
„Hey, Emily!“, ruft jemand den langen Gang hinauf und ich brauche einen Moment, um zu erkennen, dass ich gemeint bin.
„Sarah, Sorry, warte doch mal!“, wird weiter nach mir gerufen und nun erkenne ich auch die mütterliche Stimme. Clear.
ER scheint auch mitbekommen zu haben, dass es um mich geht denn die Klinge dringt in mein Fleisch ein und warmes Blut fließt über meinen Rücken.
„HALTET IHN AUF! ER WILL SIE ENTFÜHREN!“, höre ich nun Frank hinter mir und erschrecke etwas, da ich ihn noch nie so schreien gehört habe, dass passt so gar nicht zu ihm. Meine kurze Unaufmerksamkeit nutzt das Messer um sich noch tiefe in mich zu schieben. Ich spüre keinen Schmerz, ich merke nur die körperlich Reaktion auf den Blutverlust, denn wieder setzt Schwindel ein und ich beginne zu taumeln.
IHM scheint die neue Entwicklung etwas unter Stress zu setzten denn ER blickt sich wild nach Fluchtmöglichkeiten um. Der Ausgang ist mittlerweile von zwei Pflegern blockiert, welche Franks Aufruf gefolgt sind. Allgemein scheinen plötzlich alle auf uns aufmerksam geworden zu sein.
Plötzlich schlägt ER unvermittelt eine neue Richtung ein und die Klinge in meinem Rücken dreht sich. ER öffnet die Tür direkt neben uns und schubst mich in den Raum. Es ist ein medizinisches Behandlungszimmer bemerke ich noch, ehe ich unsanft zu Boden gehe und bewusstlos werde. Alles um mich herum wird schwarz und in letzten Moment wünsche ich, es würde für immer so bleiben.
Klatsch, eine schallende Ohrfeige trifft meine Wange, die kurz darauf zu brennen beginnt. Meine Hämatome aus New York sind noch nicht ganz verheilt und verdoppeln den Schmerz noch mal. Sofort fluten unwillkürlich Tränen meine Augen und ich öffne diese um sie wegzublinzeln. Es gelingt mir, doch was ich zu sehen bekomme behagt mir gar nicht.
ER hockt vor mir, mit einem anstößigen Grinsen im Gesicht. Mit dem Messer in der Hand schneidet ER meine Bluse auf. Knopf für Knopf reißt der dünne Stoff und gibt etwas mehr meiner blassen, vernarbten Haut frei.
Ein Hämmern an der Tür lässt IHN hochfahren. Doch als ich zur Tür sehe, bemerke ich, dass wohl so schnell keine Rettung kommen wird, denn ER hat sie verbarrikadiert.
ER gibt ein Schnauben von sich und widmet sich wieder meiner Bluse. Als auch der letzte Knopf aufgegeben hat und ER sich an meiner BH zu schaffen macht, nehme ich Stimmen von draußen war. Frank, Julian und Mike. Sie diskutieren, ob man es wagen könnte den Raum zu stürmen oder ob man mich so noch mehr in Gefahr brächte. ‘Stürmen‘ schreie ich in meinem Kopf, denn egal wann sie es tun oder wie, heute werde ich sterben. Heute wird es zu Ende sein. Endlich? Im Moment, ja. Ich will von IHM erlöst werden, wie auch immer.
ER hat keinen Ausweg mehr, keine Chance zu fliehen. Wenn sie so schnell wie möglich stürmen, wird mein Leid nur verkürzt. Vielleicht muss ich IHN dann nicht noch einmal in mir spüren, denn das hat ER augenscheinlich grade vor. Vielleicht schaffen sie es, eine weitere Vergewaltigung zu verhindern.
ER nimmt sich Zeit, will wahrscheinlich SEINE letzte Gelegenheit ausnutzen. Als auch mein BH den Geist aufgegeben hat, tut ER etwas, was er seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht hat. ER streichelt mich, knetet meine Brüste mit SEINEN widerlichen Fingern. Der Ekel steigert sich ins unermessliche und auch wenn mein Magen leer ist, so gibt er nun seine ätzenden Säfte auf den grauen Linoleumboden ab. Mein ganzer Körper zieht sich unter dem Würgen zusammen und neben dem Abgeben meiner Magensäure kann ich nur einen klaren Gedanken fassen. Ich ertrage DAS nicht mehr. Ich MUSS mich wehren. MUSS verhindern, dass ER mich weiter berührt. Doch wie?
Meine Arme sind schwer wie Blei, als ich versuche mit denen nur wenig vorhandenen Kräften auf IHN einzuschlagen. Fast könnte man mein Vorhaben ebenfalls als zärtliche Liebkosungen einstufen, aber auch ER merkt, dass ich es nicht so meine. ER unternimmt nichts gegen meine Bemühungen IHN von mir fern zu halten, es legt sich nur ein herablassendes Lächeln auf seine Züge. Langsam scheint ER Fahrt aufzunehmen, denn SEINE Berührungen werden fordernder und bewegen sich in Richtung meiner Hose.
Ich kratze all meine noch vorhandenen Kräfte zusammen und ziele mit dem Knie genau zwischen SEINE Beine. 3… 2… 1… TRITT!
Nachdem ich für meine Konzentration, die Augen geschlossen hatte, reiße ich sie nun wieder auf, um SEINE Reaktion zu beobachten.
Für eine winzige Sekunde scheint ER wirklich Schmerzen zu haben, doch dann verengen sich SEINE Augen zu winzigen Schlitzen und sie scheinen mich aufspießen zu wollen. Nicht SEINE Augen durchbohren mich, aber im nächsten Moment dringt das Messer in meine rechte Brust ein.
In Millisekunden merke ich, wie alle Luft durch dieses Loch in mir zu entweichen scheint.
„Warum?“, krächze ich und meine Stimme klingt Meilen weit entfernt.
Das letzte worauf ich mich wirklich konzentrieren kann, ist SEINE Antwort. Als erstes zuckt ER mit den Schultern, dann sagt ER lapidar: „Weil ich drauf stehe.“, und macht sich weiter an mir zu schaffen.
Die Realität rückt derweilen immer weiter von mir ab, aber es stellt sich keine Bewusstlosigkeit ein. Keine ruhige Schwärze empfängt mich. Kein wohltuendes Nirwana. Keine erinnerungslose Zwischenwelt.
Ich höre, wie gegen die Tür gehämmert wird. Höre eine Art Verhandlung, denn ER redet auch. Doch sehen kann ich nichts außer die weiße Decke.
ER hat SEINE Körperlichkeiten mittlerweile eingestellt, denn ER befindet sich nicht mehr direkt bei mir, soviel kann ich sagen. Ob ER es zu SEINER Zufriedenheit beendet hat, kann ich nicht bestimmen, denn seitdem ich dieses Messer in meiner Brust gespürt habe, bekomme ich nicht mehr viel mit.
Mir ist kalt. Ich liege steif auf dem Boden und starre gen Decke, ohne etwas zu erfassen.
Irgendwann, ich weiß nicht wie viel Zeit vergeht, verändert sich etwas. Ich kann nicht bestimmen was, aber eine zentnerschwere Last scheint von mir genommen wurden zu sein. Ich habe das Gefühl befreiter atmen zu können, auch wenn immer noch ein Großteil meines Atems durch das Loch in meiner Brust verloren geht. Auch die ‘Verhandlung‘ ist eingestellt wurden, nur das Hämmern an der Tür erfolgt unermüdlich.
Ein paar Augenaufschläge später sehe ich Julian über mir. Er nimmt meinen Kopf und hebt ihn leicht an. Seine Lippen bewegen sich, doch ich kann ihn nicht hören, da ist nur das Rauschen meines Blutes, welches immer schwächer wird.
Von mir nicht bewusst kontrolliert führe ich meine Finger an meine Lippen und dann an seine. Er hält sie geschlossen und nasse Spuren beginnen auf seinen Wangen zu glänzen. Als mein Arm vollkommen entkräftet zu Boden fällt, sehe ich die blutigen Fingerspuren auf seinen Lippen. Sie sind das Letzte bevor mich endlich die Schwärze erreicht und ich wieder nur hoffen kann, dass sie für immer bleibt.
Piep, piep, piep. Schon wieder diese Maschine, die den Rhythmus meines Herzens anzeigt. Der Beweis, dass sich meine Hoffnung mal wieder nicht erfüllt hat, dass ich immer noch lebe.
Ja ich lebe, aber ich bin nicht wach. Ich liege nicht im Koma, aber meine Augen öffnen kann ich auch nicht. Viel zu schwach, selbst für eine eigenständige Atmung, denn in regelmäßigen Abständen wird Luft in mich gepresst. Es ist irgendwie beruhigend sich um nichts Sorgen machen zu müssen, nicht mal ums Atmen. Mit dieser Erkenntnis schlafe ich wieder ein.
Als ich wieder etwas wahrnehme, auf meine rudimentärsten Sinne zurückgeworfen, merke ich wie etwas meine Hand umschließt. Das Piepen des Herzmonitors beschleunigt sich unwillkürlich und alles in mir schreit, diese Berührung zu beenden, doch das liegt außerhalb meines Möglichkeitsradius.
Meine Hand wird angehoben und weiche Lippen küssen meine Fingerknöchel. Haben sich Berührungen schon immer so gut, so richtig angefühlt?
Doch ich kann nicht lange darüber nachdenken, denn jemand redet und ich muss mich darauf konzentrieren, um es zu verstehen.
„Shhht, Sarah. Ich bin es nur. Keine Sorge.“, ruhig, leise und so liebevoll, dass mein Herz ein sehnsüchtiges ziehen erfasst, dringt Julians Stimme zu mir vor und ich bemerke, dass sich sie Töne des Überwachungsgerätes tatsächlich verlangsamen.
Mit der Frage, weshalb ich eine solche Angst vor Berührungen habe, schlafe ich wieder ein.
„Dr. Green, ich muss mit ihnen reden.“, diese barsche Stimme treibt mich wieder etwas weiter an die Oberfläche meines Bewusstseins. Wer ist das?
„Aber natürlich Prof. Burk. Müssen wir dazu vor die Tür gehen?“, höre ich Julian direkt neben mir fragen und merke, wie er leicht meine Hand drückt. Er hat eindeutig die Zähne zusammengebissen, um seine Wut zu unterdrücken. Also hat Julian immer noch Streit mit ihm.
Prof. Burk, deshalb kam mir diese Stimme als so unangenehm bekannt vor. Auch meine Abneigung gegen ihn ist mir nicht unbekannt.
„Wenn sie wünschen, können wir gern hier bleiben.“, er macht eine Pause wartet anscheinend auf eine Reaktion von Julian. Diese drückt noch einmal kurz meine Hand, gibt aber sonst nichts von sich. Vielleicht hat er genickt, das kann ich nicht beurteilen.
„Gut. Eigentlich müsste ich sie darüber gar nicht informieren, aber ich habe ein beunruhigendes Testergebnis erhalten. Immerhin bin ich der behandelnde Arzt und sie kein Familienangehöriger der Patientin.“, plustert sich der Chefarzt auf und Julians Hand umschließt meine immer fester.
„Spucken sie schon aus!“, grollt Julian und ist dabei nur sehr schwer zu verstehen, da seine Zähne fest aufeinander knirschen.
„Miss Sarah Foster ist schwanger.“, erwidert er tonlos, ich sehe aber regelrecht sein hämisches Grinsen auf den Lippen. Weiter höre ich nichts, keine verbale Reaktion von Julian. Irgendwann höre ich die Tür ins Schloss fallen und im gleichen Moment gibt die Matratze neben mir leicht nach. Ich stelle mir vor, dass Julian seinen Kopf darauf abgelegt hat und einem ersten Impuls nach würde ich ihm gern über die Haare streichen und ihn trösten. Aber warum trösten? Warum ist er niedergeschlagen? Was hat Prof. Burk gesagt? Schwanger? Sarah ist schwanger? Ich bin schwanger? ICH? Nein. Nein. Nein. NEIN. Das kann, das darf nicht sein. Nein. Nein. Nein.
Mein Puls beschleunigt sich und trotz Beatmungsgerät habe ich das Gefühl keine Luft zu bekommen.
Ich bin schwanger von IHM, dass ist das Schlimmste was hätte passieren können.
Ich will zurück in die dunklen tiefen meines Bewusstseins, zurück in die Leere. Dieses tröstliche Nichts, in dem ich immer wieder versinke und doch nicht sterbe. Sterben. Ja, sterben, mein Ausweg. Der Letzte. Der Einzige. Ich kann kein Kind von IHM austragen. Vor etwa 2 Jahren war ich noch bereit dafür, habe so viele Hoffnungen in dieses kleine Wesen in mir gesteckt. Aber heute? Alles hat sich geändert, ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob ich überhaupt Kinder möchte, egal ob von IHM oder von jemand anderem. Aber diese Überlegung schließt sich sowieso aus, da mir jetzt nur noch mein letzter Ausweg hilft und bei diesem wird es nicht dieses und auch kein anderes Kind geben.
Nur um dahin zu kommen, muss ich aufwachen und das selbst in die Hand nehmen. Mein Körper scheint der gleichen Meinung zu sein, denn statt sich wieder von der Realität zu entfernen, komme ich ihr immer näher. Allerdings löst nun dieser Schlauch in meinem Mund Panik in mir aus, da er scheinbar komplett entgegengesetzt zu meinem Atemrhythmus agiert.
Durch die Panik beschleunigt sich meine Atmung noch mehr und immer wilder ringe ich nach Luft. Ich reiße die Augen auf und schaue in das nicht minder entsetzte Gesicht von Julian. Er scheint sich einen Moment fangen zu müssen, doch dann geht sein Blick routiniert zu den Geräten.
„Sarah, du musst dich beruhigen, sonst kann ich dir den Schlauch nicht entfernen.
Atme ganz ruhig. Ein… und… Aus. Ein... und… Aus.“, beschwört er mich und brennt dabei seinen Blick in meinen. Ich merke wie ich langsam ruhiger werde und der Sauerstoff aus der Maschine meine Lungen füllt. Aber ich bemerke auch wieder den Ekel, den seine Berührung an meinen Schultern auslöst.
Ich zwinge mich diesen leichten Kontakt zu ertragen und mich weitestgehend zu beruhigen, um diesen Schlauch los zu werden.
„Wenn ich jetzt sage hustest du bitte kräftig.“, erklärt mir Julian und wartet geduldig auf meine Antwort. Diese kommt leicht verzögert, da ich vorher erst meinen Muskeln aktivieren muss, dass fällt mir erstaunlich leicht. Ich hätte damit gerechnet die gleichen Probleme zu haben, wie nach meinem Koma, aber scheinbar habe ich nicht mal annährend solange geschlafen. So bringe ich ein ruhiges Nicken zustande.
Julian entfernt sorgfältig die Pflaster um meinen Mund, mit denen der Schlauch befestigt ist. Ich lasse ihn dabei keine Sekunde aus den Augen und jede Berührung meiner Haut löst zwei so gegensätzliche Gefühle in mir aus. Ekel und Liebe. Ekel vor mir, meiner Feigheit und meinem Körper. Ekel vor anderen Menschen, wenn sie mich berühren. Wenn sie dies feige Person mit den vielen Narben auf Haut und Seele anfassen. Wenn sie meine Haut berühren und sich ihre Wärme in mich brennt.
Liebe für diesen so wundervollen Mann, der mir gibt was ich brauche. Doch leider bin ich nicht stark genug dafür. Ich kann es nicht annehmen, bin nicht gut genug für ihn. Zu kaputt, zu schwach, zu feige und unzureichend für seine Liebe.
So siegt also der Ekel und mein letzter, entscheidender Ausweg zeichnet sich nur noch deutlicher vor meinem inneren Auge ab.
„Jetzt.“, reißt mich Julian aus meinen Gedanken und ich brauche einen Moment, um mich zu erinnern, was ich zu tun habe. Als es mir wieder einfällt provoziere ich einen Hustenanfall und Julian zieht in einer langsamen, bedachten Bewegung den Beatmungsschlauch aus meiner Luftröhre.
Doch der Husten ebbt nicht ab, als der Schlauch vollkommen hinaus gezogen wurde. Meine Kehle ist trocken und rau und so huste ich vor mich hin. Immer wieder erneuert sich der Reiz und stetig wird er heftiger, sodass ich beginne zu würgen.
Ich richte mich im Bett auf, um irgendwie diesem Teufelskreis zu entkommen, welcher wahrscheinlich in Erbrechen und einer Panikattacke enden würde.
Plötzlich erscheint ein Glas Wasser in meinem Gesichtsfeld und hastig trinke ich. Als ich das halbleere Glas wieder von meinen Lippen löse, hole ich tief Luft und atme erleichtert aus, als sich kein neuer Husten andeutet. Doch etwas anderes spüre ich nun deutlich. Die Schmerzen in meiner rechten Brust beim Atmen. Bei jedem Atemzug durchzuckt mich ein stechender Schmerz.
Julian reibt mir mit der Hand beruhigend über den Rücken, doch seine eigentlich wohltuende Wärme verwandelt sich in brennende Hitze, die sich in mich bohrt und den Ekel anstachelt. Ich schüttle mich und bringe ein leises, heißeres ‘Bitte nicht‘ zustande. Er scheint zu verstehen und lässt von mir ab. Julian setzt sich zurück auf den Stuhl neben meinem Bett und ich kann die Enttäuschung in seinen Augen sehen, als ich kurz den Blick von der weißen Bettdecke nehme. Schnell wende ich meinen Blick wieder von ihm ab, da ich es einfach nicht ertragen kann. Ich hätte ihn nie so sehr an mich ran lassen dürfen. Ich habe mit seinen Gefühlen gespielt, denn für mich gab es nie einen anderen Ausweg und das hätte ich von Anfang an klarstellen müssen oder eben auf ihn verzichte. Ich bin maßlos egoistisch, ein weiterer Punkt auf der Negativliste meines Lebens.
„Er ist tot.“, holt mich Julian aus meinen selbstzerstörerischen Gedanken und ich kann ihn nur unverständlich ansehen. Wer ist tot?
„Billy Meyer ist tot.“, konkretisiert er seine Aussage und ich merke, wie im Bruchteil einer Sekunde mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht weicht. Leichter Schwindel überkommt mich, aber sonst fühle ich rein gar nichts. Nicht die vorgestellte Leichtigkeit. Keine erdachte Freiheit. Und auch der Ekel ist nach wie vor vorhanden. Ich bin Leer. Mein Gehirn ist wie leergefegt, wie nach dem Erwachen aus dem Koma. Nein, denn da konnte ich wenigstens Fragen erfassen, die mein Gehirn ausspuckte. Nun ist da überhaupt nichts. Nada. Niente. Nix.
Ich starre wieder auf die Krankenhausdecke, welche meine Beine umschließt und versuche irgendeinen Gedanken zu fassen. Nur ein winziges Zeichen zu bekommen, dass da in meinem Oberstübchen noch jemand zu Hause ist. Doch vergeblich, alle ausgeflogen. Niemand erreichbar.
„Könntest du mich allein lassen?“, kann ich mich fragen hören, ohne den Sinn dahinter zu verstehen.
Wortlos erhebt sich Julian neben mir und betrachtet mich noch einen Moment. Er hebt die Hand, als wollte er mich streicheln und ich höre auch das sein Mund ein paar Mal auf und zu geht aber er sagt nichts. Dann seufzt er leise und geht aus dem Raum.
Wie benommen sitze ich im Bett und fixiere die Decke ohne sie zu sehen. Irgendwann überkommt mich der Impuls aufzustehen und ins Bad hinüber zu gehen. Meine Bewegungen sind zittrig und ich fühle mich recht wacklig auf den Beinen, aber ich schaffe es.
So stehe ich nun vor dem großen Waschtisch und sehe in den Spiegel. Doch wie schon die ganze Zeit, seitdem mir Julian gesagt hat ER wäre tot, sehe ich nicht wirklich etwas. Ich starre ins Leere. Die blasse Frau im Spiegel und die zahlreichen Schläuche, die in sie hinein oder aus ihr heraus führen nehme ich nicht wahr.
Nach einiger Zeit, ich kann nicht sagen ob es Minuten oder Stunden waren, trübt sich mein Blick und Tränen verschleiern meine Sicht.
ER ist tot. Ich weiß noch nicht, ob ich mich über dies Tatsache freuen sollte.
ER ist tot. Am liebsten würde ich mich auf diesem kalten Fliesenboden zusammenkugeln und nie wieder aufstehen.
ER ist tot. Ich würde weinen, viele Tränen.
ER ist tot. Tränen der Freude.
ER ist tot. Tränen der Verzweiflung.
ER ist tot. Tränen der Angst.
ER ist tot. Ich würde schreien, bis ich nie wieder ein Wort sagen könnte.
ER ist tot. Ich würde lachen, über die Tragik meines beschissenen Lebens. Hysterisch, verrückt.
ER ist tot. Doch sein Kind in mir lebt. Noch.
Doch all das tue ich nicht, denn dann würde mich jemand finden und sie würden mich an die psychiatrische Station übergeben, wo mich einige von ihnen schon so lange haben wollen. Vielleicht bin ich da ja auch richtig, aber bald wird das nicht mehr von Interesse sein. Bald wird es überhaupt kein Interesse mehr an mir geben. Und dieses eine Vorhaben, mein letztes, gibt mir die Kraft nicht zusammenzubrechen. Mich nicht meinen vollkommen verrückten Gefühlen hinzugeben.
Dank der Tatsache, dass ich körperlich in doch erstaunlich guter Verfassung bin, wird sich mein Plan schon sehr bald in die Realität umsetzten lassen. Ich muss nur noch ein geeignetes Mittel finden. Pillen? Reichlich vorhanden, die Wirkung dauert allerdings zu lang, sodass die Gefahr wächst ‘gerettet‘ zu werden. Ich würde es nicht als Rettung empfinden, es wäre mein Untergang. Irgendwo runter springen? Das Gebäude hat lediglich zwei Stockwerke und mich weiter zu entfernen stellt mich vor nicht kalkulierbare Hindernisse. Erhängen? Womit?
Ich schaue mich nun wirklich im Spiegel an, überlege wie ich meinem Leben ein schnelles Ende setzten könnte. Da fällt mein Blick auf blaue Adern an meinem Handgelenk, die unter der blassen Haut deutlich zu erkennen sind. Ich werde sie aufschneiden, genügend geeignete Klingen wird es hier ja wohl geben und der gewünschte Effekt setzt wesentlich schneller ein, als bei den Pillen.
Sicher nicke ich meinem Spiegelbild zu, welches mir zwar immer noch eine mir nicht wirklich bekannte Frau zeigt, aber sie ist meine einzige Verbündete in diesem Vorhaben.
Kaum habe ich mein Krankenzimmer wieder betreten, setze ich meinen Plan in die Tat um. Ich werfe einen vorsichtigen Blick in den Schrank und finde zu meiner Überraschung und meinem Glück, ein paar Sachen.
Schnell wechsle ich den Krankenhauskittel gegen eine Jogginghose und ein Shirt ohne dabei den großen Verband um meine Brust, den Schlauch der daraus blutige Flüssigkeit ableitet oder die Magensonde, die wieder oberhalb meines Bauchnabels angebracht ist, zu beachten. Dies wird alles sowieso in nächster Zeit nicht mehr benötigt werden.
Mit Pantoffeln an den Füßen und meinem Infusionsständer an der Hand trete ich in den Flur hinaus. Ich habe meine Infusion oder die anderen medizinischen Sachen an meinem Körper nicht entfernt, da ich ironischer Weise zu viel Angst davor habe etwas falsch zu machen.
Sorgsam blicke ich mich nach allen Seiten um, um nicht Gefahr zu laufen jemanden in die Arme zu laufen. Jetzt Ann, Julian, Frank oder auch nur Prof. Burk über den Weg zu laufen währe gänzlich schlecht für meine Unternehmung. Aber Gott sei Dank ist niemand mir bekanntes zu sehen und so husche ich den Flur entlang auf der Suche nach einem Behandlungszimmer.
Meine erste Anlaufstelle, da die mir das einzig bekannte medizinische Behandlungszimmer ist, ist jenes in das mich ER verschleppt hat. Doch es ist abgesperrt. ‘Wegen Renovierung vorübergehend nicht in Betrieb‘ besagt ein Schild an der ramponierten Tür.
Aber das Glück ist auf meiner Seiten, denn genau neben an befindet sich ein weiterer Raum dieses Zwecks. Er ist leer, als ich nach kurzem Klopfen eintrete und mich sogleich an den, mit medizinischen Bedarf, gefüllten Schränken zu schaffen mache. Ich öffne Schranktüren, ziehe Schubladen hinaus und werfe auf alles einen flüchtigen Blick. In einer Lade entdecke ich zahlreiche Scheren, doch ich setzte meine Suche fort. Merke mir diese aber, um eventuell darauf zurückgreifen zu können.
Einige Fächer bleiben mir verschlossen, aber ich gebe nicht auf etwas geeigneteres, als die Scheren zu finden. Und ich habe Erfolg. In einer der untersten Schubladen blinkt mir ein Sammelsurium auf hochglanzpolierter Skalpelle entgegen. Ich überlege nicht lange und greife mir blindlinks eines davon. Grade rechtzeitig kann ich das Fach wieder schließen, ehe sich die Tür öffnet und eine Krankenschwester eintritt. Blitzschnell stecke ich die Hand, welche das Operationsmesser fest umschließt in die Hosentasche.
„Was machen Sie denn hier?“, fragt mich die Schwester leicht verwirrt.
„Ähm… ich… Prof. Burk. Ich hatte eine Untersuchung und… ähm hab mich nur wieder angezogen.
Ich geh dann mal wieder auf mein Zimmer.“, stammle ich vor mich hin und verlasse so schnell ich kann den Raum, ehe ihr etwas komisch an der Geschichte vorkommen kann.
Doch ich gehe nicht in mein Zimmer. Auf dem Weg in den Behandlungsraum habe ich den idealen Ort zu Vollendung meines Plans ausgemacht. Ein Lagerraum, der nur sehr sporadisch von Schwestern besucht wird. Er ist unverschlossen, als ich mich schnell hineinschleiche.
Einen Moment verharre ich an der Tür, um meine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, denn nur sehr wenig Licht dringt durch das kleine Fenster in der Tür und ich lasse den Lichtschalter unangetastet, da ich keine unnötige Aufmerksamkeit brauche.
Der kleine Raum ist vollgestellt mit Regalen, in denen sich Verbandsmaterialien und Nierenschalen stapeln. Es gibt nur ein winziges Stück Wand, welches nicht durch Regale verdeckt ist, genau gegenüber der Tür.
Mit zittrigen Knien, da mich der Weg hier her doch mehr angestrengt hat als erwartet, lasse ich mich an der Wand hinuntergleiten und gebe mir einen Augenblick, um durchzuatmen. Dann ziehe ich bedächtig das Skalpell aus meiner Tasche. Ich halte es in den kleinen Lichtkegel, der von der Tür hinüber scheint und es funkelt.
Ein irgendwie zufriedenes Lächeln legt sich auf mein Gesicht, als ich die Klinge an meinem Handgelenk ansetze. Zuerst drücke ich sie nur leicht in die Haut, sodass ein einzelner Tropfen Blut hervortritt. Dann bohre ich sie regelrecht hinein und ziehe sie mit einer schnellen Bewegung hinauf Richtung Ellenbogen. Der Schnitt ist schnurgrade und tief, denn augenblicklich strömt jede Menge Blut heraus.
Eigentlich wollte ich auch an meinem zweiten Handgelenk ansetzten, doch anscheinend hätte ich dafür nicht so tief schneiden sollen, denn ich fühle mich mit dieser Sekunde kraftlos und unfähig mich auch nur noch einen Millimeter zu bewegen.
Mein Blick ist gesenkt und auf die anschwellende Blutlache um meinen linken Arm fixiert, als es plötzlich hell im Raum wird.
„NEIN!“, höre ich jemanden schreien und erst eine ganze Weile nachdem es anschließend gepoltert hat, habe ich Anns Stimme erkannt.
Ich versuche den Blick zu heben, um zu sehen was dieses Poltern verursacht hat, doch es ist mir nicht mehr möglich. Wieder scheint die Welt sich von mir zu entfernen, aber diesmal geht es eindeutig schneller, als in diesem Behandlungsraum wo ER mir das Messer in die Brust gerammt hat.
Meine Lider sind geschlossen, nur sehr weit weg bekomme ich etwas mit. Trubel scheint um mich zu entstehen, ein Hauch von Hektik kommt zu mir durch, was mein Blut noch schneller aus der Wunde strömen lässt.
Auf einmal werde ich angehoben und in den Flur gebracht, doch ich merke, wie das Leben immer weiter aus mir weicht und ich meinem Ziel näher komme. Schlaff liege ich in Julians Armen und heiße die Schwärze willkommen. Sie umfasst mich, hüllt mich ein und ich fühle mich angekommen. Daheim.
Ich habe ein Déjà-vu, als die Schwärze durch grelle Blitze durchbrochen wird. Wieder und wieder. ‘Lasst mir die Schwärze, lasst mich hier‘, will ich schreien, doch niemand würde mich hören.
Unendlich viele Blitze später ist meine so lang ersehnte Dunkelheit einem dunklen Grau gewichen. Ich versuche mich zu wehren, mein Ziel doch noch zu erreichen. Aber immer wieder wenn ich in die Schwärze gelange zucken diese Blitze und holen mich in dieses trübe Grau zurück.
„Du bist feige. Warum gibst du auf? ER ist weg, also kämpfe. Willst du, dass ER jetzt noch über dich entscheidet? Willst du, dass ER jetzt noch Macht über dich hat? Fang an zu kämpfen. Für dich. Für dein Kind.“, die Stimme meiner Mutter lässt mich in meinem unkontrollierten Wüten gegen das Grau innehalten. Warum ich aufgebe? Weil ich in meinem Leben genug gekämpft habe. Immer wieder habe ich versucht mich zu wehren, doch nie habe ich auch nur einen Kampf gewonnen und nun bin ich auch noch schwanger von dem Mann, der mich jahrelang missbraucht, gequält und vergewaltigt hat. Wofür soll ich leben? Was habe ich schon?
„Mich.“, höre ich eine piepsige Mädchenstimme, die ich nicht kenne. Wer war das? Warum sollte ich für jemanden leben, den ich nicht kenne?
„Ich bin ein Teil von dir. Von dir und Daddy.“, wieder diese Stimme. Im gleichen Moment breitet sich eine Wärme in meinem Bauch aus. Spricht hier grade ein Fötus mit mir? Sollt ich je wieder aufwachen, lasse ich mich freiwillig einweisen, denn nun bin auch ich mir zu hundert Prozent sicher verrückt zu sein.
„Lebe für mich. Ich liebe dich“, redet die Kinderstimme weiter auf mich ein. Wie soll ich für etwas leben, dass ein Zeugnis meiner Qualen ist? Wie soll ich es ertragen SEINEM Kind tagtäglich in die Augen zu sehen? Das halte ich nicht aus. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich das Ganze ohne dieses Wesen in mir schaffen würde.
Ich habe aufgehört gegen das grau zu kämpfen. Habe aufgegeben mich zu wehren, so wie ich es schon so oft getan habe. Ich treibe dahin, ohne Ziel, ohne Richtung.
Irgendwann, das dunkle grau hat sich längst aufgehellt, schießt mir ein Gedanke blitzartig durch den Kopf. Julian. Ich habe auch mit Julian geschlafen. Könnte es nicht genauso gut Julians Kind sein? Wie stehen die Möglichkeiten? Ich habe, in diesem Zeitraum, zuerst mit Julian Sex gehabt, erst eine Woche später hat er mich vergewaltigt. War ich da schon schwanger? Körperlich konnte ich keine Veränderung feststellen. Natürlich war mir ständig übel und ich habe nicht viel bei mir behalten können, dass kann aber genauso an der gesamten Situation gelegen haben.
Bin ich bereit für diese vage Hoffnung zu kämpfen? Kann ich überhaupt Hoffnung zulassen? Kann ich je wieder Hoffnung zulassen? Ich habe schon viel zu oft in meinem Leben gehofft und wurde enttäuscht. Jeden Tag habe ich mir herbeigewünscht heute den Qualen zu entkommen. Mich, wenn dieser Lichtblick ausblieb, nach dem Tod gesehnt, der nie eingetroffen ist. Alles, was ich bisher gehofft habe ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Warum also sollte ich jetzt daran glauben?
Beschützend lege ich eine Hand auf meinen Bauch und Tränen sammeln sich in meinen Augen. Für dich. Ich glaube für dich daran. Nur für dich, denn ich habe meinen Glauben schon lange verloren.
Ich kämpfe wieder, nun aber für das Licht. Ich kämpfe dafür aufzuwachen und diesen kleinen Hoffnungsschimmer nachzugehen.
„Willkommen zurück Sarah.“, werde ich begrüßt als ich die Augen öffne. Ich bin geblendet von dem Licht und muss ein paar Mal blinzeln ehe ich klare Konturen erkenne.
Frank sitzt neben meinem Bett und betrachtet mich erfreut aber auch abwägend. Warum ist er hier? Sollte nicht Julian neben mir sitzen oder eventuell Ann.
„Wie lange?“, frage ich obwohl, dass die wohl uninteressanteste Frage ist, die zurzeit in meinem Kopf umherschwirrt.
„20 Tage.“, antwortet mir Frank knapp. 20 Tage? Keine Monate? Ich kann von meinem Zeitempfinden keinen Unterschied zwischen den zwei Komata feststellen.
Einen Moment konzentriere ich mich auf meinen Körper. Beim letzten Mal hat es mir ja einige Zeit gekostet wieder auf die Beine zu kommen. Doch nun kann ich sofort alle Glieder bewegen, nur mein linker, dick bandagierter Arm, macht mir ein paar Schwierigkeiten.
„Sarah, würdest du mir einen Augenblick zuhören?“, unterbricht mich Frank in meiner Zustandsanalyse und etwas verwirrt schenke ich ihm meine Aufmerksamkeit.
„Ich habe beschlossen, dass dir eine Intensivtherapie vielleicht besser helfen könnte. Ich werde mit dir nach Chadron, ungefähr drei Stunden von hier, gehen und wir werden dort nachhaltig an deinen Problematiken arbeiten.
Einen Haken hat die Sache allerdings für dich.“, erklärt er mir langsam und eindringlich.
„Du wirst keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Weder zu Ann oder Mike, noch zu Julian.“, berichtet er weiter und einem ersten Impuls folgend möchte ich ihn frage, ob ich Julian sprechen könnte, aber sein Blick macht mir deutlich, dass die Kontaktsperre bereits begonnen hat.
„Er war sich nicht sehr erfreut.“, stelle ich leise fest. Hoffentlich vergräbt er sich nicht wieder, wie damals, als ich mit IHM nach New York gegangen bin. Allein bei den Gedanken daran, wie ich ihn bei meiner Rückkehr vorgefunden habe, treten mir Tränen in die Augen. Wie soll ich es ohne ihn schaffen? Was wird mit meinen Zweifeln? Kann ich meine leise, kleine Hoffnung so lange aufrechterhalten? Für mich? Für ihn? Für das kleine Wesen in meinem Bauch? Unser Kind? SEIN Kind?
„Nein, war er nicht. Aber er versteht es und kann damit umgehen.“, bestätigt mir Frank.
Eine ganze Zeit sitzen wir schweigend neben einander und hängen unseren Gedanken nach. Frank beobachtet mich genau, aber ich beachte ihn kaum. Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt meine Hoffnung nicht von Angst ersticken zu lassen. Wie lange soll diese Therapie dauern? Wenn es Julians Kind ist möchte ich, dass er die Schwangerschaft, die Geburt miterlebt. Aber was wenn es doch SEIN Kind ist? Wenn mich SEINE Augen anschauen, wenn ich es das erste Mal auf dem Arm habe? Wird mich Julian überhaupt noch lieben, wenn ich das Kind eines anderen bekomme? Behalten werde ich SEIN Kind auf keinen Fall, ich kann nicht mein Leben lang diesen Anblick ertragen. Ich werde, muss es zur Adoption frei geben. Es hat Liebe verdient, die ich ihm in diesem Fall einfach nicht geben kann.
„Wie geht es Ann?“, will ich in die Stille hinein von Frank erfahren. Das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe lag sie bewusstlos auf dem kalten Fliesenboden. Sie hat wegen mir so viel durch machen müssen, der Anblick meines weiteren Selbstmordversuchs hat nicht dazu beigetragen dies zu vermindern. Ist sie an diesem Tag bewusstlos geworden, nachdem sie diesen entsetzlichen Schrei von sich gegeben hat?
„Sie macht sich Sorgen.“, erwidert Frank.
„Ann ist zurzeit ebenfalls in Behandlung bei mir. Dein Schicksal, dein Verhalten reiben sie auf, denn sie liebt dich. Wir lieben sich alle, Sarah.“, fährt er leise fort und meine Vorwürfe, ihr aller Leben ins Chaos gestürzt zu haben steigen ins unermessliche.
Reflexartig schießt Franks Hand zu mir und möchte meine halten, doch ich entziehe sie ihm. Selbst wenn ich Berührungen ertragen könnte, hätte ich seine nicht verdient. Ich habe weder Franks Trost, noch ihrer aller Liebe verdient.
Ich drehe mich von Frank weg und beginne haltlos zu weinen. Was soll sich denn an diesem Zustand ändern? Kann ich je wieder einen von ihnen in die Augen schauen? Ich habe so viele Probleme, Ängste, Zweifel und Lasten, wie soll das je wieder behoben werden? Wie soll ich mit dem Wissen, meiner Vorgeschichte je ein ‘normales‘ Leben führen?
Ich habe das Gefühl nie wieder aufhören zu können, da legt sich eine große, sehnige Hand auf meine Schulter. Im ersten Moment möchte ich nichts anderes als diese Berührung zu beenden, denn sie löst die altbekannten Reaktionen aus. Doch als Frank seinen leichten Druck etwas erhöht und ich es schaffe diesen Kontakt zu ertragen, ändert sich mein Empfinden. Wärme breitet sich in meinem Körper aus, aber nicht dieses höllische Brennen. Ich beruhige mich, fühle mich wahrlich getröstet.
Ist das der erste Schritt in die richtige Richtung?
6 Monate später
Sonnenstrahlen kitzeln an meiner Nase und lassen meine Traum in den Hintergrund treten. Blinzend öffne ich die Augen und ein leichtes Lächeln legt sich auf meine Lippen, als ich einen Tritt in meinem Bauch spüre. Beruhigend lege ich die Hand darauf und streiche über den kugelrunden Schwangerschaftsbauch, meinen Schwangerschaftsbauch. 5 Wochen soll es noch dauern, bis ich sie endlich kennen lerne. Dr. Dean, der Gynäkologe hier, konnte leider den Zeugungstermin nicht genau bestimmen, sodass es immer noch fifty-fifty steht, aber ich bin mir zu 99% sicher, dass es Julians Kind ist. Ich habe es geschafft diese Hoffnung beizubehalten. Und das meine Ängste, Zweifel und Probleme in den letzten Wochen weniger beziehungsweise nicht mehr so vordergründig zu spüren sind, hat diesen Glauben geschürt.
Heute ist mein letzter Tag in Chadron. Morgen werde ich gemeinsam mit Frank zurück nach Bassett fahren. Allein der Gedanke daran lässt mein Herz flattern, aber auch ein gewisses Unwohlsein stellt sich ein. Wird er mich noch lieben? Kann er mich noch lieben? Wie werden Ann und Mike auf mich reagieren?
Auch wenn ich deutlich selbstsicherer geworden bin und mir eigentlich ihrer aller Liebe bewusst bin, zweifle ich an manchen Tagen immer noch daran. Frank meint, dass kommt daher, weil ich nicht mit ihnen darüber sprechen kann, aber ist das wirklich so? Was ist in der Zeit passiert in der ich nicht da war? Hat Julian vielleicht eine andere Frau kennengelernt? Sind Mike und Ann immer noch so glücklich?
Mit diesen Gedanken ist es, wie mit meinen Alpträumen, an manchen Tagen kommen sie einfach und ich kann es nicht beeinflussen. Die Träume kommen natürlich nachts, aber sie werden weniger. SEIN Bild in meiner Erinnerung verblasst immer mehr und ich bin mir nicht sicher, ob ER wirklich so ausgesehen hat, wie mir meine Fantasie vorspielt.
Ich habe durch Frank gelernt mir eine gesicherte Zukunft vorzustellen, auch wenn diese mit Julian einhergeht und ich mir in meinen dunklen Stunden Naivität vorwerfe, da ich seine derzeitigen Gefühle nicht kenne.
Auch habe ich begriffen, dass nicht alle Männer sind wir ER. Nicht jeder Mann ist eine potentielle Bedrohung und ER ist tot. ER kommt nie wieder, kann mir nichts mehr tun.
Meine Berührungsängste waren nicht mit dem Tag im Krankenhaus, als Frank mir seine Hand auf die Schulter gelegt hat vergessen. Nur sehr, sehr langsam konnte ich Körperkontakt wieder als etwas Positives erlernen. Doch auch jetzt noch bekomme ich Herzrasen, wenn ich unverhofft oder von eine fremden Person berührt werde.
Ich mache mich fertig, da ich mit Frank auf einen Spaziergang verabredet bin. Wir haben hier nie wirklich eine Therapiestunde in einem Behandlungszimmer verbracht. Meist sind wir durch den weiträumigen Park geschlendert. Auch als die Temperaturen gesunken sind und Schnee den Weg säumte, habe wir es uns nicht nehmen lassen. Mittlerweile ist der Frühling zurück und die Temperaturen steigen.
Über Weihnachten war ich ebenfalls hier, es gab keine Auszeit, keine Pause. Frank war immer an meiner Seite und er hat mir, dass schönste Geschenk gemacht, was ich je bekommen habe. Briefe aus Bassett. Von Mike, Ann und natürlich von Julian.
Ein verträumtes Lächeln legt sich auf mein Gesicht, als ich daran denke und Tränen treten mir in die Augen, so anrührend waren die Worte.
Zuvor habe auch ihnen einen Brief geschrieben, als Teil meiner Therapie habe ich mich bei ihnen entschuldigt, versucht mein Verhalten zu erklären und probiert ihnen meine Gefühle begreiflich zu machen.
Als ich aus dem Badezimmer trete werfe ich einen kurzen Blick auf die Uhr, um festzustellen, dass ich noch genügend Zeit habe, bis ich mich mit Frank treffe. So setzte ich mich auf das Bett und ziehe die Schublade des kleinen Nachttisches auf, in dem sich die Briefe befinden. Jeden Abend lese ich seinen Brief, langsam glaube ich er hilft mir bei meinen Alpträumen.
Sarah steht in eine, für Männer und Ärzte, sehr grazilen Handschrift auf dem Kuvert. Der Umschlag sowie das Briefpapier sind schlicht weiß und ich ziehe die beschriebenen Seiten heraus. Bedächtig falte ich die Blätter auseinander, als wäre es ein Schmuckstück, berühre ich die Seiten vorsichtig und nur an den Notwendigen Stellen.
Meine Sarah, meine heißgeliebte Emily,
wie könnte ich dich nicht lieben? Ich habe es dir schon oft gesagt, aber ich wiederhole mich diesbezüglich gern. Ich liebe dich und werde es für den Rest meines Lebens tun, denn du bist die Frau, die ich immer gesucht habe. Meine wahre, einzige, echte Liebe. Es ist mir zwar erst wirklich bewusst geworden, als du mit IHM nach New York gegangen bist, aber da traf es mich dann wie ein Hammerschlag. Die Folgen deines Fehlens hast du ja mit eigenen Augen sehen können. Ich bin ohne dich nicht lebensfähig und es ist eine enorme Herausforderung hier untätig herumzusitzen. Mehr als einmal saß ich im Auto, mit dem Plan einfach zu dir zu fahren, aber Frank hat mir deutlich klar gemacht, dass ich dir mit so einer unüberlegten Aktion wohl mehr schaden würde als helfen und so werde ich warten, bis er grünes Licht gibt und dich mir wieder bringt.
Ich bin einsam. Ohne dich ist das Bett leer und ich schlafe nicht gut. Frank meint ich solle ehrlich zu dir sein, auch wenn ich das nicht befürworte. Denn seit deinem letzten Selbstmord versuch quälen auch mich Alpträume. Ich träume davon dich zu verlieren, dich nicht retten zu können. Mir ist bewusst, dass du es zu diesem Zeitpunkt nicht als Rettung gesehen hast aber ich könnte ohne dich nicht leben. Wärst du an diesem Tag in meinen Armen verblutet, wäre ich jetzt auch nicht mehr hier. Es hat mich schier zerrissen, dich so zusehen, wieder. Eigentlich hatte ich ja ein paar Möglichkeiten mich daran zu gewöhnen, möchte man meinen. Aber mit jedem Mal, dass ich dich in einer solchen Situation gesehen habe ist meine Angst um dich nur größer geworden. Tut mir leid, dass ich all diese negativen Empfindungen bei dir wieder aufwirble, aber Frank ist der Ansicht meine wahren Gefühle helfen dir.
Ich liebe dich so sehr, alles an dir. Deine Augen, deine Nase, dein Gesicht im Allgemeinen. Deine zarte Figur, auch wenn du etwas mehr Essen solltest (mir ist durchaus bewusst, dass es nicht ausschließlich dein Verschulden ist). Ich liebe deinen Eigenwillen, wenn du dir eine Meinung gebildet hast ziehst du diese auch durch, egal was es kostet. Allerdings hoffe ich, dass Frank dir die Schwarzseherei etwas austreiben konnte, die damit verbunden ist.
Ich liebe, auch wenn du es nicht verstehen kannst, jede einzelne deiner Narben, denn sie sind Teil von dir. Teil deiner Vergangenheit. Und wenn du wieder bei mir bist, werde ich jeden Zentimeter, der neu hinzugekommenen küssen, wie ich es schon bei den anderen gemacht habe.
Ich liebe deine Ehrlichkeit, deine Art niemanden Schaden zu wollen und dafür sogar selbst Leid zu ertragen.
Ich liebe einfach Sarah, aber ich liebe auch Emily. Denn ich denke Emily hat dir geholfen eine stärkere Sarah zu werden. Sie hat dir geholfen neu anzufangen und heil aus allem heraus zu kommen. Deine Stärke, hat dir geholfen alles zu überstehen. Ich kenne niemand anderen, der mit solchen Schwierigkeiten in seinem Leben zu kämpfen hatte und du bist aus diesem Kampf als Sieger hervor gegangen.
Du wirst auch aus allen weiteren deiner Gefechte aufrecht und selbstbewusst empor steigen. Ich werde in jeden an deiner Seite stehen und hoffe du nimmst meine Hilfe, meinen Beistand an und vertraust darauf, dass ich dich nicht alleine lasse.
Unsere nächste Prüfung wird das Kind sein, das du in dir trägst. Ich bin mir medizinisch bewusst, wie die Möglichkeiten stehen, aber menschlich ist es mein Kind. Ich liebe es jetzt bereit so sehr wie die Mutter.
Ich hoffe meine mir selbst immer noch wirr erscheinenden Gefühle sind hiermit zum Ausdruck gekommen, hauptsächlich will ich dir nur sagen, dass ich dich über alles liebe und du keine Angst haben musst, dass sich das je ändert.
Ich liebe dich und sehne den Tag herbei, an dem ich dich endlich wieder in den Armen halten kann.
In ewiger Liebe
Julian XXX
Ich lasse die Hände, die den Brief umfassen, in den Schoß fallen und blicke mit tränenverschleierten Augen aus dem Fenster. Immer wenn mich die negativen Gedanken packen und versuchen mich in einen Abwärtsstrudel zu ziehen, lese ich diesen Brief und mache mir bewusst, dass es Menschen gibt, die mich lieben, die auf mich warten. Ich fühle mich dann oft als glücklichster Mensch auf Erden, doch auch leise Zweifel, ob ich das verdient habe bleiben fest in meinem Hinterkopf verankert.
Mein Blick fällt unterbewusst auf die Uhr und ich erkenne, dass ich nun doch beeilen muss, um meine Verabredung einzuhalten.
Sorgsam verstaue ich den Brief wieder im Umschlag und lege diesen in die Schublade, ehe ich meine Schultern straffe und mich auf den Weg in das parkähnliche Außengelände mache.
Frank wartet schon an der Tür auf mich. Wie immer mustert er mich kurz, bevor er mir wortlos die Tür öffnet und wir hinaus treten. Er drängt mich nicht ihm zu erzählen, was in mir vorgeht und ich habe es zu schätzen gelernt, über alles zu sprechen.
So berichte ich ihm, auf unserem Weg über die kiesbedeckten Pfade, von meinen Ängsten und Sorgen. Frank hört mir schweigsam zu, beobachtet mich genau, mittlerweile kann er mich lesen wie ein offenes Buch. Zu Beginn fiel es mir noch sehr schwer meine Gefühle, Gedanken und Empfindungen zu ordnen und einzuschätzen, dabei hat mir Frank sehr geholfen und so erkennt er in der kleinsten Regung meines Gesichts, wie meine Stimmung ist oder ob ich wieder einen Alptraum hatte. Inzwischen versuche ich auch diese Emotionen nicht mehr vor ihm zu verstecken. Wie es bei den anderen sein wird kann ich noch nicht einschätzen. Ich werde versuchen offen mit ihnen umzugehen, aber kann ich mich ihnen wirklich so ausliefern? Mich so verletzlich zeigen? Auch diese Ängste vertraue ich Frank an und er hört wie immer still zu.
Mein Blick liegt dabei die meiste Zeit irgendwo in der Ferne, ohne etwas wirklich zu sehen. Nur ab und zu huscht er zu Frank, um seine Reaktion zu beobachten, aber jedes Mal ist sein Ausdruck unergründlich und faszinierend beruhigend.
Als ich nun den Blick hebe und die Umgebung auf mich wirken lasse, weil ich mit meinen heutigen Ausführungen fertig bin bemerke ich, dass es bereits dämmert. Weiterhin fällt mir erst jetzt auf wie laut mein Magen nach Nahrung verlangt. Seit ich hier bin könnt ich nur noch essen. Meine Appetitlosigkeit hat sich in Luft aufgelöst und auch die allgegenwärtige Übelkeit hat sich mit der Zeit gelegt. Dr. Dean meinte diese starke Ausprägung der Schwangerschaftsübelkeit hat mit der extremen psychischen und körperlichen Belastung zu tun der ich ausgesetzt war.
Unbewusst lenken wir unsere Schritte wieder dem Eingang der Klinik zu und ich erwarte Franks Fazit dieser ‘Sitzung‘. Mit Blick auf die Tür gerichtet bleibt er unvermittelt stehen und ich tue es ihm gleich. Keiner der Patienten oder Pfleger ist mehr hier draußen zu sehen und auch in der Richtung, in die Frank blickt ist niemand.
Nach einigen Sekunden dreht er sich zu mir und schaut mir fest in die Augen. Ich kann grade noch seine Gesichtszüge im Dämmerlicht erkennen und sie wärmen meinen Körper von innen.
Er ist in den 6 Monaten für mich wie ein Vater geworden. Ich hatte nie eine Vaterfigur in meinem Leben, aber jetzt mit Frank habe ich einen geeigneten Mann für diese Position gefunden und auch er scheint sich mit dieser Rolle wohl zu fühlen. Auch wenn er immer noch mein Therapeut ist, nehme ich ihn doch viel mehr als Vater wahr.
Auch jetzt zeigen mir seine Augen die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter. Den Stolz, aber auch die Furcht um sie.
„Du machst dir viel zu viele Gedanken Sarah. Du hast eine schwere Zeit hinter dir, aber niemand nimmt es dir übel wenn du anfängst zu leben. Keiner wird dir Fehler vorwerfen, alle machen sie. Das Leben selbst macht Fehler. Einer dieser Fehler war dir solch schwere Bürden im Schicksal zu verankern, aber du hast sie gemeistert.
Denk positiv, schüttle das Negative von dir ab. Du hast es überstanden und nun lebe.“, redet er mir gut zu und mir treten Tränen in die Augen.
„Danke.“, krächze ich mit bebender Stimme, ehe ich ihn in eine Umarmung ziehe. Seine drahtigen Arme umschließen mich fest und ich lege meinen Kopf auf seiner Brust ab und meine Tränen beginnen zu fliesen.
Minutenlang stehen wir schweigend so auf dem Kiesweg und irgendwie möchte ich nicht, dass diese Situation je endet, denn ich weiß nicht was ab morgen wieder auf mich zukommen wird. Ich weiß ja nicht mal wo ich wohnen werde. Frank hat diese Frage mit einem Schulterzucken abgetan und gesagt: ‘Es wird sich schon alles finden.‘, doch das klein, verschmitzte Grinsen in seinem Gesicht hatte mir gezeigt, dass er mehr weiß als er sagen wollte.
Nun schiebt er mich behutsam von sich und blickt mir wieder fest in die Augen.
„Lebe.“, flüstert er und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. Dann dreht er sich wieder dem Eingang zu, schlingt mir einen Arm um die Taille und bewegt sich auf die Tür zu.
Eine Person steht im Schatten der kleinen Überdachung und ich kann nur erkennen, dass es sich dabei um einen Mann handeln muss. Mein Harzschlag beschleunigt sich, denn auch wenn ich weiß, dass ER tot ist und nicht alle Männer gewalttätig sind, macht mir diese Situation Angst. Doch auch wenn ich am liebsten in die entgegengesetzte Richtung flüchten würde, zieht mich Frank immer weiter dem Unbekannten entgegen.
Immer weiter nähren wir und der Tür und immer heftiger versuche ich mich gegen Franks Griff zu wehren, fast bin ich gewillt ihn anzuschreien, dass er mir das nicht antun kann, dass ich Angst habe und keinen Schritt weitergehe, da schaltet sich das bewegungsgesteuerte Licht über der Tür ein und ich sehe den Unbekannten in all seiner Größe. Julian. Julian ist hier. Bei mir. Ich bin unfähig zu regieren und so bleibe ich stehen und sehe ihn einfach nur an. Betrachtet diesen so wunderschönen Mann.
Ich bemerke kaum, dass sich Frank von mir löst und sich mit einen Kuss aus meine Wange verabschiedet. Im Vorbeigehen klopft er Julian auf die Schulter und in nächsten Moment sind wir allein.
Auch Julian bewegt sich nicht und sieht mich einfach an. Seine Augen sprühen nur so vor Liebe, Verlangen und Glück.
Wir betrachten uns schweigend und starr, keiner bewegt sich auch nur einen Zentimeter. Nach einiger Zeit erlischt das Licht wieder und ich blicke in die Dunkelheit, die zurückbleibt. Für den Bruchteil einer Sekunde bilde ich mir ein, meiner Fantasie auf den Leim gegangen zu sein, doch dann tritt Julian einen Schritt näher und die Lampe erstrahlt wieder.
Nun stehen wir uns direkt gegenüber, mit nur wenigen Zentimetern Abstand. Julian hebt seine Hand meinem Gesicht entgegen und die Schmetterlinge in meinem Bauch erwachen wieder, sie tanzen wilder als je zuvor. Ein paar körperlose Berührungen entstehen, die wir schon vor einiger Zeit geteilt haben und die mir damals durchaus genügten. Doch jetzt will, brauche ich mehr. Brauch ihn, seine Lippen, seinen Körper. Und so ziehe ich ihn sanft an mich und hauche einen Kuss auf seinen Mundwinkel. Aus zarten, forschenden Liebeleien werden schnell fordernde Küsse und verlangende Zärtlichkeiten. Es ist tausendmal besser, als in meiner Erinnerung und ich möchte nie wieder damit aufhören. Meine Lippen nie wieder von Julians Lippen lösen. Für immer seinen Nacken umfassen, um mich noch näher an ihn zu schmiegen. Vergessen sind alle Zweifel an seinen Gefühlen, alle Ängste was kommen wird. Alles ist egal, nur dieser Moment, dieser Mann zählt.
Ich seufze schwer, als mir Julian seinen Mund entzieht und schiebe schmollend die Lippe vor, weil ich Julians zufriedenes Grinsen entdecke.
„Eigentlich wollte ich bis morgen warten, wenn wir alle wieder zusammen sind, aber nach dieser Begrüßung kann ich einfach nicht länger warten.“, mit diesem Satz kniet er sich vor mich und zieht eine Schatulle aus seiner Hosentasche. Schon wieder treten mir Tränen in die Augen und meine Lippe beginnt zu beben. Das hat er nicht wirklich vor? Wir kennen uns doch noch gar nicht richtig, oder?
„Sarah Foster möchtest du meine Frau werden? Bitte heirate mich Emily.“, bestätigt er meine Vermutung und ich kann ihn eine gewaltige Weile einfach nur ansehen, während die Gedanken sich in meinem Kopf überschlagen.
Irgendwann nicke ich bestimmt, denn sagen kann ich nichts, meine Kehle ist vor Rührung wie zugeschnürt. Doch ich habe die Entscheidung getroffen. Julian ist das Beste, was mir passieren konnte und ich werde ihn heiraten, ich werde den Rest meines Lebens mit ihm verbringen.
Die Nacht verbringen wir engumschlungen damit uns auszusprechen. Ich berichte, wie es mir ergangen ist und wie sehr mir Frank geholfen hat. Julian erzählt, was in Bassett so los war und das sich ein paar Kleinigkeiten verändert haben. Ich platze vor Neugier und frage ihn immer wieder danach, doch er gibt nichts weiter preis.
In einem weiteren ernsten Moment, in dem wir halbherzig die Finger voneinander lassen können, frag ich ihn nach Ann.
„Sie vermisst dich. Sie hatte schwer zu kämpfen. Zuerst damit, dass sie IHN nicht aufhalten konnte. Ihm nichts entgegenzusetzen hatte, als ihr in dieser Toilette wart. Und dann natürlich mit dem Anblick, den du in dem Lagerraum geboten hast. Sie dachte du wärst tot. Wir alle dachten du würdest nicht mehr leben.“, murmelt er leise und ich sehe die Tränen in seinen Augen glitzern, als er an diesen Moment zurückdenkt.
„Ich bin da und so schnell werde ich auch nicht wieder gehen.“, versuche ich ihn liebevoll zu beruhigen und merke erst Sekunden später, dass ich ihm grade so etwas wie ein Versprechen gegeben habe. Ich habe grade meinen letzten Ausweg gänzlich aus meinen Gedanken verbannt und Julian quasi zugesichert ihn nicht mehr in Anspruch zu nehmen.
„Wie geht es ihr jetzt?“, will ich weiter wissen, da mir nicht ganz wohl bei der Sache ist meine letzte Zuflucht aufzugeben. Hat er überhaupt die Tragweite meiner Worte verstanden? Ich weiß es nicht genau, denn Julian braucht mehrere Augenblicke, um sich wieder auf unser Gespräch zu konzentrieren. Ob es daran liegt, dass er die Bedeutung meines Satzes erfasst hat, oder weil er die Zeit brauchte die damalige Situation abzuschütteln, weiß ich nicht.
„Es geht ihr gut, nur ihre beste Freundin fehlt ihr.“, schmunzelt er nachdem er unser Gespräch wieder aufnimmt.
Immer wieder wechseln wir zwischen zärtlichen Liebkosungen, witzelnden oder ironischen Geplänkel und ersthaften Themen und merken dabei gar nicht wie die Zeit verfliegt.
Bei einer neuerlichen Ersthaftigkeit frage ich zum ersten Mal nach IHM.
„Was ist damals passiert? Wie ist ER gestorben?“, frage ich leise und muss schwer Schlucken, da ich gar nicht an IHN denken will. Aber ich muss es erfahren, um damit endgültig abzuschließen.
Julian betrachtet mich eingehend, wägt offenbar schweigend ab, ob er es mir zu muten kann.
„Ich kann es nicht genau sagen, da ich ja leider nicht im Raum anwesend war.“, beginnt er und reibt sich etwas verzweifelt übers Gesicht. Ich sehe ihn erwartungsvoll an, gebe ihm aber die Zeit, die er braucht, um weiter zu reden.
„Die Verhandlungen verliefen im Sande, scheinbar konnten wir IHM nichts anbieten, dass IHN zufrieden gestellt hätte. Wir hatten es aufgegeben und uns nur noch auf die Tür konzentriert. Als wir sie dann endlich öffnen konnten hatte ich ehrlich gesagt nur Augen für dich.
Mike meinte dann später ER hätte sich mit dem Messer die Kehle aufgeschlitzt und sei verblutet.“, berichtet er mir weiter und atmet schwer aus, als er geendet hat.
Ich ziehe meinen Verlobten in einen innigen Kuss und kurze Zeit später schlafen wir engumschlungen ein, während sich draußen schon der neue Tag andeutet.
Entgegen allen guten Zuredens bin ich doch etwas aufgeregt, als wir am Nachmittag das Ortsschild Bassetts passieren.
Doch Julian lenkt sein Wagen nicht in Richtung Anns Wohnung und so steige ich wenig später verdattert vor dem Haus aus, in dem sich Julians Wohnung befindet.
„Du dachtest doch nicht, dass meine Verlobte nicht auch in meiner Wohnung wohnt?“, fragt er schelmisch grinsend und schlingt einen Arm um meine Taille.
An Julians Wohnungstür erwartet mich ein großes ‘Willkommen zurück‘-Banner und ich mache mich darauf gefasst hinter der Tür mindestens Ann, Mike, Frank und Clear vorzufinden. Und nachdem Julian die Tür aufgeschlossen hat bestätigt sich meine Vermutung und ich atme erleichtert auf, dass Ann nicht noch andere Leute eingeladen hat.
Ein großes ‘Hallo‘ entsteht und mir treten die Tränen in die Augen, weil alle mich wieder wie selbstverständlich aufnehmen.
Ich habe Frank grade scherzhaft dafür gerügt, dass er uns heute Morgen nicht geweckt hat und ohne uns gefahren ist. Als Ann auf einmal freudig quietschend in die Hände klatscht und mich wieder an sich zieht.
„Herzlichen Glückwunsch!“, jubelt sie mir lautstark ins Ohr und nachdem ich mich erfolgreich aus ihrer schraubstockartigen Umklammerung gelöst habe schaue ich sie irritier an. Sie wirkt auch einen Augenblick verwirrt, grins dann aber wieder breit.
„Zu eurer Verlobung. Zeig den Klunker her, den dir dein Verlobter angesteckt hat.“, fordert sie und nimmt in selben Moment meine Hand, um sich den Ring selbst vor Augen zu führen. Er ist schlicht Weißgold mit einem kleinen, eingearbeiteten weißen Stein und so bezaubernd, dass ich, als wir uns gegen Mittag fertig gemacht haben, meine Augen nicht von ihm lassen konnte. Gespannt beobachte ich die traute Runde. Wie reagieren sie auf unsere Verlobung?
Mike klopft Julian anerkennend auf die Schulter und schenkt mir ein freudiges Lächeln. Ich glaube er würde mich gern nochmals umarmen und mir ebenfalls seine Glückwünsche aussprechen, wenn nicht seine Freundin meine Hand immer noch in Beschlag nehmen würde.
Frank und Clear bedenken mich mit herzlichem Lächeln und einem Kopfschütteln, welches zu sagen scheint ‘diese Jugend von heute‘.
Auf dem Weg durch die Runde bleibt nun mein Blick an Julian haften, der mich so liebevoll anschaut, dass sein Blick mich sofort gefangen nimmt.
Ich habe mich wieder in Bassett eingelebt und fühle mich wirklich und wahrhaftig wohl. Nur ein winzig kleines Problem scheine ich noch zu haben und mit jeden Tag der vergeht, dem ich der Geburt näher rücke, wird es größer, vorrangiger. Ist es wirklich Julians Kind? Was wenn es SEIN Kind ist?
Ich rede über diese Gedanken. Erzähle sie nicht nur Frank sondern auch Julian, aber beide können mir nicht die letzten Zweifel nehmen. Keiner kann mir zu hundert Prozent versichern, dass es nicht SEIN Kind ist. Doch was werde ich tun wenn es SEINE Gene trägt? Wenn mich SEINE Augen ansehen?
Ich habe wirklich keine Ahnung und hoffe inständig es nie herausfinden zu müssen, denn eigentlich liebe ich dieses Kind jetzt schon viel zu sehr.
Das ist ein neuer Grund, der mich dazu veranlasst unruhig zu schlafen und auch Julians Anwesenheit und seine Umarmungen schaffen es nicht mir ein wenig erholsamen Schlaf zu gönnen.
Heut kommt erschwerend hinzu, dass sich der Tag meines Erwachens jährt und ich mir Gedanken darüber mache, was alles in diesem Jahr passiert ist. So liege ich, wie so oft in den letzten Tagen, wach neben Julian und starre durch die Dunkelheit an die Decke.
Ein kurzer Blick auf den Wecker verrät mir, dass es erst kurz vor 3 Uhr ist und ich noch weitere vier Stunden tot zu schlagen habe.
Doch wieder in meinen ‘Jahresrückblick‘ versunken reißt mich ein plötzlicher Schmerz in meinem Bauch in die Realität zurück. Ich hatte schon in den letzten Tagen Schmerzen, Senkwehen, nannte es Julian, aber diese sind anders, keine Senkwehen.
Gespannt horche ich in mich hinein, da der Schmerz genauso schnell verschwunden ist, wie er gekommen war und lasse mich zurück in die Kissen fallen, als er sich nicht wieder einstellt. Ich bin gewillt mich wieder von meinen Gedanken davon tragen zu lassen, als mich erneut dieser Schmerz durchzuckt.
Leicht gequält Stöhne ich auf, weil es doch recht heftige Krämpfe sind, die meinen Unterbauch maltraktieren.
„Julian!“, kann ich zischend hervorbringen, da ich die Zähne aufeinander pressen.
Ich bekomme nur ein Brummen als Antwort und da im nächsten Moment die Wehe wieder vorüber ist, drehe ich mich zu ihm und rüttle wahrscheinlich etwas zu heftig a ihm, denn er reißt leicht panisch die Augen auf.
„Julian.“, versuche ich es wieder seine Aufmerksamkeit zu bekommen.
„Was ist denn.“, knurrt er verschlafen und reibt sich über die Augen.
„Es geht los.“, antworte ich lapidar und mache eine verdeutlichende Geste auf meinen Bauch. Sofort erfasst er die Situation und versucht sich schnellst möglich aufzurappeln. Dies endet jedoch unsanft auf dem Boden. ‘Immerhin ist er jetzt wach‘, denke ich und muss mir ein Lachen verkneifen.
Meine Schadenfreud wird mir aber auch schon im darauf folgenden Moment gesühnt, da die nächste Wehe einsetzt.
Keine 15 Minuten später betrete ich, gestützt von Julian und geplagt von unermüdlichen Wehen, das Rock County Hospital Bassett.
Wir werden in einen Kreißsaal gebracht und ich bin froh, als ich Ann entdecke, die augenscheinlich Nachtschicht hat.
Alles geht sehr schnell, der Gynäkologe der mich soeben untersucht hat sagte, mein Muttermund sei soweit schon geöffnet und wir könnten nun mit dem Pressen beginnen. Also presse ich die kommenden 30 Minuten, begleitet von Schreien, Flüchen und Gebeten. Julian und Ann halten meine Hände und schmunzeln in sich hinein, denn solche Ausbrüche sind sie von mir nicht gewohnt. Mir war selbst ja nicht mal bewusst, dass ich all diese Ausdrücke kenne.
Doch dann unterbricht ein Schreien mein lautes Keuchen und ich verstumme augenblicklich.
Ich beginne zu zittern und mein Puls beschleunigt sich unwillkürlich. Wie sieht sie aus? Hat sie SEINE Augen? Ist es SEIN Kind?
Ich kann sie nicht ansehen, kneife fest die Augen aufeinander, um nicht in SEINE Augen blicken zu müssen.
„Wie sieht sie aus?“, frage ich schnaufend und drücke die Hände, die mir Halt geben.
„Sie… sieht aus… wie…“, kann ich Ann stammeln hören und mein Puls vervielfacht sich in einem Bruchteil einer Sekunde.
„Sie ist wunderschön. Ihre braunen Augen sind die Schönsten, die ich je gesehen habe.“, flüstert Julian andächtig und ich wage es meine Augen zu öffnen.
Sie liegt auf meiner Brust, schmiegt sich perfekt an mich und atmet gleichmäßig ruhig. Sie schläft, ist aber unverkennbar Julians Tochter.
Tränen bahnen sich ihren Weg und nun bin ich wirklich glückselig. Sie ist Julians Tochter, nicht SEINE.
„Wie soll die kleine denn heißen?“, fragt mich die Hebamme und lächelt mich freundlich an.
„Emily.“, bestimme ich und betrachte das kleine Wunder auf meiner Brust.
„Emily, machst du die Tür auf? Papa hat wahrscheinlich die Hände voll.“, bitte ich meine Tochter und sie hüpft vom Sofa auf die Eingangstür zu. Kaum zu glauben, dass sie letzten Monat 6 Jahre alt geworden ist, dass ich schon so lange glücklich bin.
Ein stechender Schmerz fährt mir durch die Brust, während ich ihr hinterherschaue, weil meine jüngste Tochter Mia grade versucht auch noch den letzten Tropfen Milch aus ihr hinaus zu pressen.
Ich betrachte den kleinen Wurm auf meinem Arm und erinnere mich an die Zeit, als Emily noch so klein war. Der Moment, als mich ihre dunklen Augen anblickten, war der schönste in meinem Leben. Wir brauchten keinen Vaterschaftstest, man musste ihr einfach nur ins Gesicht sehen, um zu erkennen war ihr Vater ist. Bei Mia verhält es sich ähnlich und ich bin wahnsinnig glücklich darüber zwei so wunderschöne Mädchen zu haben.
„Daddy, bringt den Einkauf in die Küche. Wann kommt Denis?“, berichtet sie mir, als sie wieder ins Wohnzimmer stürmt und fragt mich nach dem Sohn von Ann und Mike, der nur ein knappes Jahr jünger ist als sie.
„Ann und Mike wollten zum Kaffee hier sein und sie bringen auch Hellen mit, aber wenn du es nicht erwarten kannst darfst du auch gern rübergehen. Frag aber bitte Ann, ob es ihr etwas ausmacht.“, versuche ich meine, in Hibbeligkeit verfallende, Tochter zu beruhigen.
Sie verdreht die Augen und macht sich auf in Richtung Terrassentür, um durch den Garten zu unseren Nachbarn zu gelangen.
„Als hätte Ann schon mal nein gesagt.“, nörgelt sie vor sich hin und geht ohne weitere Verabschiedung.
Ich bin etwas enttäuscht keinen Kuss bekommen zu haben, also hole ich ihn mir von der kleinen Maus auf meinem Arm, die mittlerweile satt ist. Behutsam stehe ich mit ihr auf und lege sie in den Stubenwagen neben dem Sofa.
Ich spüre einen Blick auf mir und wende mich zu Tür um. Im Rahmen gelehnt steht Julian und beobachtet die Situation mit einem liebevollen Lächeln.
„Na, Daddy. Hast du alles bekommen?“, frage ich neckisch und bewege mich langsam auf ihn zu. Er antwortet erst als ich direkt vor ihm stehe.
„Ja, ich habe alles was ich brauche. Eine wunderschöne Frau und zwei wundervolle Kinder, mehr brauche ich nicht.“, entgegnet er mir und zieht mich in einen innigen Kuss.
Wieder wird mir bewusst, wie viel Glück ich eigentlich habe und das meine Vergangenheit dies ermöglicht hat. Durch sie weiß ich, wie glücklich ich jetzt bin und durch sie erst habe ich all diese großartigen Menschen kennengelernt.
Ein Klingeln unterbricht unsere Zärtlichkeiten und wir begeben uns gemeinsam zur Tür.
Wir öffnen Frank die Tür, der uns freudig begrüßt
„Wie geht es dem neusten Familienzuwachs?“, fragt er sogleich nach Mia, die erst vor 11 Tagen geboren wurde.
Er ist nicht nur mein ‘Ersatzvater‘ sondern auch der Opa meiner Kinder. Da er selbst keine Familie hat nimmt er gerne die liebe meiner Kinder an und ist ein fester Teil unserer Familie.
Julian führt ihn ins Wohnzimmer und ich schaue in der Küche nach meinen Kuchen, da wir heute eine kleine Feier mit unseren Freunden geplant haben.
Nachdem Frank eingetreten ist geht es Schlag auf Schlag und auch Clear betritt unser Haus, kurz darauf kommen auch Ann und Mike von nebenan und bringen ihre Kinder sowie meine Tochter wieder mit.
Der Nachmittag wird turbulent und laut, aber auch sehr lustig. Ich möchte solche Tage nicht mehr missen, an ihnen wird mir bewusst, was mir früher gefehlt hat.
Gemeinsam räume ich mit Ann die Teller in die Spülmaschine, während Clear die kleine Mia hält und die drei Männer von Emily, Hellen und Denis über den Rasen gejagt werden.
Anns Blick fällt auf die große Narbe auf meinem linken Unterarm und ich sehe, wie sich ihr Blick trübt.
„Es tut mir leid. Ich sah damals einfach keinen anderen Weg.“, versuche ich zu erklären. Ich habe schon oft versucht ihr meine damaligen Gefühle nahe zu bringen, versucht zu erörtern, wie verzweifelt ich war, aber irgendwie habe ich noch immer das Gefühl Ann versteht es nicht.
„Es ist okay. Es war schwer für mich, dich so zu sehen, aber es ist okay.“, sagt sie aufrichtig und sieht mir dabei direkt in die Augen.
„Es war auch schwer für mich dich mit Julian zu sehen. Ich weiß heute nicht mehr wenn von euch beiden ich schützen wollte, aber ich wusste ihr würdet euch wehtun.
Dass langfristig so etwas Großartiges daraus wird, konnte ich nicht ahnen, aber ich sah die damaligen Schwierigkeiten und hatte Angst um euch.“, gibt sie leise zu, was ihr wahrscheinlich schon seit damals auf der Seele brennt.
Wortlos nehme ich sie in den Arm und bin ihr näher als je zuvor.
Am Abend liege ich gemeinsam mit Julian im Bett. Wir liegen uns gegenüber und betrachten uns wortlos. In diesen Situationen tanzen die Schmetterlinge in meinem Bauch immer noch so wild wie vor mehr als 6 Jahren und ich wünsche, dass es nie anders sein wird.
„Danke. Ich danke dir dafür, dass du mich nie aufgegeben hast. Dass du an mich glaubst, mich voll und ganz unterstützt. Das du mir deine Liebe schenkst und ich danke dir, dass du mir zwei zauberhafte Kinder geschenkt hast.“, flüstere ich leise und rücke näher an ihn heran. Sanft legt Julian seine Arme um mich und ich spüre seinen Atem an meinem Ohr.
„Ich liebe dich, für immer.“, wispert er hinein und eine Gänsehaut überrollt meinen ganzen Körper.
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch einer ehemaligen Freudin. Sie hat mir mal eine ähnliche Geschichte zum lesen gegeben und mich damit angespornt selbst zu schreiben.
Ich danke ihr dafür und würde mich freuen, wenn sie irgendwann diese Geschichte lesen könnte.
Danke Sabrina