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verwirrte Gefühle

Verwirrte Gefühle

 

 

 

Ein lautes Klingeln reißt mich abrupt aus dem Schlaf. So abrupt, dass ich mir mal wieder den Kopf an der Schräge über meinem Bett stoße. Noch leicht benommen schaue ich mich in meinem Zimmer um, und muss seufzend feststellen, dass mein Wecker dieses permanente Klingeln von sich gibt. Mit einer geübten Bewegung setzte ich ihn außer Kraft und lasse mich zurück in meine Kissen fallen. Noch 5 Minuten dösen, dann stehe ich auf. Mein Kopf brummt leicht und ich weiß jetzt schon, dass es eine ordentliche Beule geben wird.

Ein lautes Klopfen weckt mich erneut.

„Alex, Schlafmütze, aufstehen. In 15 Minuten fahre ich los. Mit oder ohne dich.“, ruft mein Bruder laut durch die geschlossene Tür. Ich merke, dass er Schmunzelt, denn wie fast jeden Morgen sind aus den 5 Minute knapp 30 geworden. Und wie jeden Morgen spute ich mich nun um meinen persönlichen Shuttleservice nicht zu verpassen. Ich springe quasi aus dem Bett, so schnell das mir kurz schwarz vor Augen wird. An der Tür, die ich gewaltsam aufreiße, muss ich mich an meinem schadenfroh grinsenden Bruder vorbei ins Bad quetschen. Beim Anziehen kann ich nicht darauf achten, ob die Kleidungsstücke nun zueinanderpassen oder nicht. Aber, das war noch nie wirklich ein Augenmerk von mir.

Hektisch springe ich 20 Minuten später, mit einem Toast in der Hand und meiner Schultasche über der Schulter, in das kleine Auto meines Bruders.

„Krümle hier ja nicht rum.“, sagt er, mit seinem immer breiten Grinsen im Gesicht und startet den Motor.

„Jaja, wie immer.“, murre ich leise vor mich hin, kann mir aber auch ein Lächeln nicht verkneifen.

Mein Bruder geht nun in die Abschlussklasse und hat schon in wenigen Monaten sein Abi in der Tasche. Ich brauche noch ein Jahr, dann hab auch ich es hoffentlich geschafft. Eigentlich sind wir gleich alt, beziehungsweiße ich bin 8 Minuten älter, aber ich bin nicht wirklich die Aufmerksamste in der Schule so musste ich ein Jahr wiederholen. Nicht das ich es nicht könnte, es ist viel mehr so das mich alles langweilt. Irgendwie passe ich nicht in dieses Schulsystem. Allein das frühe Aufstehen, bringt mich aus dem Konzept.

Trotz, dass ich älter bin, spielt sich mein kleiner Bruder gerne als großer auf und versucht mich vor der schlechten Welt zu beschützen. Ich liebe ihn dafür, auch wenn er mich des Öfteren damit nervt.

Plötzlich fuchtelt eine Hand vor meinen Augen herum und reißt mich aus meinen Tagträumen. Über meine Gedanken habe ich gar nicht gemerkt, dass wir die Schule bereits erreicht haben.

„Hallo, aufwachen. Noch einmal wecke ich dich heute nicht oder du stellst mich als deinen persönlichen Weckdienst ein und bezahlst mich angemessen.“, lacht Marcel laut auf.

„Was empfindest du denn als angemessene Bezahlung?“, frage ich ironisch, als wir gemeinsam aus dem Auto steigen.

„Hmm…“, er tut so als müsste er überlegen. „Butlerdienste als Gegenleistung finde ich gut.“, schmunzelt er und umfasst mich mit einem Arm an der Schulter.

„Das hättest du wohl gerne.“, erwidere ich lachend und kneife ihn in die Wange.

Gemeinsam laufen wir zu unserer Clique. Die meisten von ihnen sind, wie Marcel in der Abschlussklasse, nur meine beste Freundin Flo muss mit mir eine Ehrenrunde drehen. Allzu sehr stört uns das aber nicht. Ein Jahr in dem wir noch zusammen sind, denn wer weiß schon was nach dem Abi passiert und wohin es uns verschlägt.

Wir begrüßen uns alle freundlich mit Umarmungen oder Küsschen und reden ein wenig über dies und das, bis uns die Schulglocke in die Klassenzimmer treibt.

 

„Weißt du schon von der Party am Wochenende?“, flüstert mir Flo, während des Matheunterrichts, zu.

„Nein, welche Party?“, frage ich ebenso leise und wende meinen Blick vom Fenster zu ihr.

„Felixs Party. Er hat am Wochenende sturmfrei und will ne Party schmeißen, aber nur ein kleine maximal 20 Leute, soll ja nicht ausarten.“, grinst sie mir verträumt entgegen. Ich weiß, dass sie schon länger hinter Felix her ist, aber die Situation ist etwas schwierig. Unsere Kernclique besteht aus 6 Personen. Marcel, Felix, Tanja, Flo, Chris (Flos Bruder) und mir. Unter den Jungs gibt es quasi ein Abkommen mit keinem Mädchen aus der Clique etwas anzufangen und ich weiß, dass Marcel und Chris in solchen Sachen sehr stur sind.

Mir scheinen beide, Flo und Felix, sehr verliebt ineinander und ich hätte auch kein Problem damit, wenn sie zusammenkommen, aber schon bei den kleinsten Andeutungen gegenüber meinem Bruder, geht er fast an die Decke. Und schon bin ich wieder in Gedanken versunken. Wir sind schon ein komischer Haufen. Felix ist Marcels bester Freund, sie kennen sich schon seit dem Kindergarten und für mich ist er wie ein zweiter Bruder. Chris und Flo sind wie Marcel und ich, ein Herz und eine Seele. Chris ist ein Jahr älter als Flo, aber auch er dreht eine Ehrenrunde und ist jetzt in Marcels Stufe. Tanja ist eigentlich nur in unserer Gruppe, weil sie eine Zeit lang mit Chris zusammen war. Aber auch darüber hinaus ist sie uns allen ans Herz gewachsen. Beide haben sich einvernehmlich getrennt und ich muss sagen sie sind wirklich besser Freunde als ein Paar. Auf einmal schwenken meine Gedanken um und nur noch Chris ist darin. Nur noch seine warmen braunen Augen. Sein liebevolles Lächeln. Seine Grübchen. Seine Wärme, wenn er mich umarmt. Halt! Stopp! Was soll das den jetzt? Ich darf so nicht von ihm denken. Ich sollte so nur von Paul denken, immerhin ist er mein Freund.

Wieso denke ich so von Chris? Chris, dem besten Freund meines Bruders. Chris, dem Bruder meiner besten Freundin. Chris, der immer wie ein großer Bruder für mich war. Chris, der mich in der Grundschule mit einem Stein abgeworfen hat, sodass ich heute noch eine kleine Narbe am Haaransatz habe. Chris, dem ich meinen Liebeskummer erzählt habe, weil ich mit Marcel nicht reden wollte und Flo nicht da war.

Vollkommen in meine verwirrenden Gedanken versunken, merke ich nicht einmal, dass es bereits geklingelt hat. Erst ein leichter Klaps von Flo reiß mich in die Realität zurück. Ich muss wirklich aufhören so oft Tagträume zu haben, denke ich noch bevor ich kurz meinen Kopf schüttle und wieder ganz im hier und jetzt bin.

Ich sehe Flo entschuldigend an, während ich meine Sachen zusammen packe, um mit ihr zu nächsten Stunde zu gehen.

„Wo warst du denn mal wieder? Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Erst war es entspannt, dann sah es sehr verliebt aus und dann verwirrt und entsetzt. Ein Minenspiel der Extraklasse sag ich dir.“, lacht Flo laut, als wir den Raum verlassen und knufft mich in die Schulter.

Verliebt? Im Mittelteil meiner Gedanken? Da war Chris in meinen Gedanken! Scheibenkleister! Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt.

„Ist doch nicht schlimm. Du brauchst dich doch nicht zu schämen, wenn du an Paul denkst.“, erklärt sie, als sie meine Wangen mustert.

Ich nicke zaghaft und entziehe mich ihrem Blick. Ich habe das Gefühle sie könnte in meinen Augen lesen, dass ich nicht an Paul gedacht habe. Hab ich ihr nicht erst letzte Woche erzählt, dass ich glaube, ich fühle nichts mehr für ihn? Hab ich ihr nicht erzählt, dass er mir gegenüber immer aggressiver wird? Und da soll ich wegen ihm verliebt schauen? Ich lasse sie in dem Glauben, immerhin ist er mein Freund und Chris ihr Bruder. Und ich weiß überhaupt nicht was diese Gedanke bezüglich Chris auf einmal sollen. Auch wir kennen uns seit der Grundschule. Er war immer nur Flos Bruder und jetzt?

Wir kommen im nächsten Klassenzimmer an und setzten uns auf unsere Plätze.

„Was ist nun mit der Party? Bist du dabei?“, spricht mich Flo erneut auf das eigentliche Thema an.

„Klar.“, gebe ich lapidar zurück. Warum auch nicht? Wir hatten lang keine richtige Party mehr.

Die restlichen Stunden versuche ich mich wirklich auf den Unterricht zu konzentrieren und nicht wieder in Tagträume zu verfallen. Dass ist wirklich schwierig. Tagträumen ist quasi mein Hobby. Ich kann es einfach nicht abstellen und es kostet mich enorme Energie mich auf die Realität zu konzentrieren. Warum ich so viel in meinen Gedanken versinke? Ich glaube die Wirklichkeit ist sehr eintönig und langweilig, deshalb motze ich sie mir gerne in Gedanken auf. Ich weiß, dass es kein guter Weg ist durchs Leben zu kommen, aber im Moment mein Einziger aus dem grauen Alltag zu entfliehen.

Erschöpft, vom ganzen Konzentrieren, trete ich mit Flo nach dem Unterricht auf den Schulhof. Wir gesellen uns zu dem Rest unserer Clique und ich lehne mich müde an Marcels Schulter.

„Na fertig für heute? Was hast du heute noch so geplant?“, fragt er mich und legt beschützend einen Arm um meine Taille.

Ich komme leicht hoch und sehe ihn in seine leuchtenden blauen Augen.

„Nichts. Schlafen?“, ich zucke mit den Schultern und gähne zur Bestätigung.

„Ich glaub da ist jemand, der etwas dagegen hat.“, sagt er mit wenig Begeisterung, dafür umso mehr Aggression in der Stimme und zeigt Richtung Schultor. Ich folge seiner Geste und erkenne Paul, der an der Mauer lehnt. Er sieht sauer aus. Warum ist er denn jetzt schon wieder sauer?

Schnell verabschiede ich mich von den anderen und will mich auf den Weg zu ihm machen, als mich Marcel in eine etwas ruhigere Ecke zieht.

„Wann machst du endlich mit diesem Typen Schluss?“, fragt er mich gereizt. Ja, Marcel kann Paul nicht ausstehen. Er kommt mit seiner Einstellung einfach nicht klar. Paul lebt einfach in den Tag hinein. Er ist zwar an der Uni eingeschrieben, geht aber nicht hin. Seine Eltern haben genug Geld, dass er jeden Tag irgendwo feiern gehen kann ohne an Morgen zu denken. Außerdem stört sich Marcel, wie ich auch, an der immer häufiger werdenden Aggressivität von Paul.

„Ich weiß nicht, immer hin war ich mal verliebt in ihn.“, gebe ich kleinlaut zurück.

„Richtig, du warst. Wie lang willst du noch warten? Bis er dich schlägt? Oder noch länger?“, Marcels Stimme bebt vor Wut.

„Er wird mich nicht schlagen. Er ist nur etwas gereizt in letzter Zeit, dass legt sich wieder.“, versuche ich Paul zu verteidigen. Warum nehme ich ihn jetzt in Schutz? Hab ich mich nicht auch schon gefragt, wann es soweit ist und er das erste Mal zuschlägt?

„Versprich mir eins, wenn er dich wirklich schlägt, mach sofort Schluss.“, sagt er, wieder etwas versöhnlicher und ich nicke. Was wenn er mich wirklich schlägt? Wie werde ich reagieren?

Marcel zieht mich in eine Umarmung.

„Er darf dir nicht wehtun. Niemand darf dir wehtun. Ich werde dich immer beschützen, meine Kleine.“, haucht er mir ins Ohr.

„Wer ist hier der Kleine?“, frage ich lachend und mache mich von ihm los. Ich schaue noch einmal zu ihm auf. Ja, er ist mindestens ein halben Kopf größer als ich, aber immerhin bin ich die Ältere. Darauf bestehe ich.

Mit erhobenen Kinn, aber einem Lächeln auf den Lippen drehe ich mich von ihm weg und laufe Richtung Schultor. Je näher ich diesem komme, desto mehr schwindet mein Lächeln.

Als ich bei Paul ankomme, drücke ich ihm lediglich einen kurzen Kuss auf den Mund und wende mich gleich zu seinem Auto um. Als ich grade die Beifahrertür öffnen will, reißt mich Paul herum und drückt mich schmerzhaft gegen den Wagen. Ich winde mich, hab aber nicht genügend Kraft um ihm zu entkommen. Mit einer Hand umfasst er meinen Unterkiefer und dreht ihn gewaltsam zu sich. Dann drückt er mir aggressiv seine spröden Lippen auf meine und versucht mit seiner Zunge in meinen Mund einzudringen. Er schmeckt nach Zigaretten und abgestandenen Bier und ich muss mein Würgereflex stark unterdrücken. Meine Gedanken kreisen nur um eins, wie kann ich dieser Situation entkommen? Schreien? Geht leider nicht, da er immer noch in meinem Mund steckt. Auf die Anderen kann ich auch nicht hoffen. Wir stehen auf dem Parkplatz, der ist vom Schulhof nicht einsehbar. Ich könnte ihn beißen. Gedacht getan. Ich beiße Paul kräftig in die Zunge. Sofort lässt er von mir ab. Er dreht sich von mir weg und spuckt etwas Blut auf den Asphalt, aber er entlässt mich nicht aus meiner Zwangslage. Schon Sekunden später hat er sich wieder gefangen und funkelt mich voller Hass an.

Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen wird mit dem Schlag. In Erwartung eben diesen, schließe ich meine Augen und spanne meinen ganzen Körper an. Doch es folgt kein Schlag. Paul greift nur wieder nach meinem Unterkiefer und reißt ihn schmerzhaft zu sich. Ich öffne meine Augen wieder und erwarte angstvoll seine Reaktion.

„Das wirst du nie wieder tun! Du wirst dich mir nie wieder wiedersetzten, ich kann dir versprechen du wirst es bereuen.“, raunt er mir entgegen und dann folgt etwas, dass mir viel mehr wehtut wie ein Schlag. Paul spuckt mir mitten ins Gesicht.

Er tritt einen Schritt von mir weg, aber ich kann mich nicht bewegen. Tränen steigen mir in die Augen. Ich wünschte jetzt, er hätte mich geschlagen. Ich empfinde diese Situation viel demütigender als einen Schlag.

Als sich meine Starre endlich löst, krame ich hastig in meiner Tasche nach einem Taschentuch, um so schnell wie möglich seinen ekelhaften Speichel los zu werden.

Paul beobachtet mich die gesamte Zeit mit einem triumphierenden Grinsen auf dem Gesicht. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt und seine ganze Körperhaltung drückt aus, dass er mir überlegen ist und ich sein bin.

Nun kullern erste Tränen über meine Wangen. Ich möchte nicht vor ihm weinen, aber die Demütigung war einfach zu groß. Meine Tränen lassen sein Grinsen noch breiter werden.

Schlagartig setzt er sich in Richtung Fahrertür in Bewegung.

„Steig ein.“, befiehlt er mir, von der anderen Seite des Wagens und schwingt sich selbst auf den Sitz.

Nur zögerlich komme ich seinem Befehl nach, ich möchte ihn nicht noch mehr verärgern. Ich weiß nicht was er mir dann noch antun würde. Leise schluchzend setzte ich mich in die äußerste Ecke meines Sitzes und mache mich so klein wie ich kann. Denn so fühle ich mich, klein, unbedeutend, schwach, gedemütigt.

„Hast du am Samstag schon was vor?“, fragt er mich ruhig, als wäre nie etwas gewesen. Ist es ratsam, ihm von der Party zu erzählen? Aber er wird es sowieso irgendwie rausfinden. Er findet alles raus. Also nicke ich zaghaft.

„Was?“, fragt er schon wieder etwas lauter.

„Felix gibt eine kleine Party.“, antworte ich kleinlaut.

„Du wirst da nicht hingehen!“, ich merke, dass sein Ton keine Wiederrede zulässt, aber ich kann meinen besten Freunden nicht absagen, also versuche ich eine kleine Rebellion. Schlimmer kann es ja nicht werden.

„Warum nicht? Sie sind meine Freunde.“, frage ich und versuch meiner Stimme Kraft zu geben, doch ich habe keine Kraft mehr, so flüstere ich nur.

„Und ich bin dein Freund und in dieser Position sage ich, du gehst nicht auf diese Party.“, schreit er mich von der Seite an und wirft mir einen Blick zu der mich vermutlich töten soll.

Ich gebe auf, es bring nicht sich mit ihm zu streiten. Wie kann ich zur Party gehen, ohne dass Paul es erfährt? Warum will er überhaupt wissen was ich am Wochenende vor hab? Will er etwas mit mir machen? Wir haben schon so lange nichts mehr zusammen gemacht.

Ich beschließe ihn zu fragen und kratze dafür meinen letzten Mut und auch das letzte Stück Hoffnung, dass ich in mir trage, zusammen

„Hast du etwas vor am Wochenende?“, frage ich leise und verkrieche mich noch mehr in meine Ecke, weil ich nicht weiß, wie er reagiert.

„Ja, ich hab Termine, aber denk ja nicht daran trotzdem zu dieser Party zu gehen.“, sagt er gereizt. Termine? Was hat er schon für Termine?

Er hält vor dem Haus meiner Eltern. War er nur da, um mich nach Hause zu fahren? Ich dachte er unternimmt mal wieder etwas mit mir.

„Darf ich mit reinkommen?“, fragt er jetzt in einer gespielt versöhnliche Tonlage. Sein Blick spricht tausend Bände, denn er sieht mich lüstern an und leckt sich über die Lippen. Sofort steigt wieder Übelkeit in mir auf. Früher habe ich gern mit ihm geschlafen. Er war zwar nicht der Erste, aber hat mich befriedigt wie kein anderer. Heute kann ich seine Berührung kaum mehr ertragen, grade nach dieser Aktion von vorhin ekelt er mich nur noch an.

„Nein!“, antworte ich bestimmt und bin selber über die Stärke meiner Stimme überrascht.

Schnell schnalle ich mich ab und öffne die Tür. Doch da hält er mich am Arm zurück. Ich bekomme eine Gänsehaut und ein eiskalter Schauer läuft mir den Rücken herunter.

Ich verharre in meiner Bewegung, drehe mich aber nicht zu ihm um. Jeder meiner Muskeln ist zum Reißen gespannt.

„Ich lass dich jetzt gehen, aber denk an meine Worte. Du bist meine Freundin. MEINE.“, die letzten Worte schreit er mir entgegen, sodass ich unwillkürlich zusammen zucke. Ich beginne am ganzen Körper zu zittern und schon wieder rollen die Tränen über meine Wange. Wie konnte er sich nur so verändern? Er war so liebevoll, so zärtlich. Ich hatte damals das Gefühl, er denkt ich zerbreche, wenn er mich zu fest anfasst. Und jetzt?

Ich versuche mich von ihm los zu machen, doch er packt meinen Arm nur noch fester. Ich verziehe unter Schmerzen mein Gesicht, dann lässt er los. Ich springe quasi aus dem Auto, schleudere die Tür hinter mir zu und renne zur Haustür.

Im Hintergrund höre ich noch, wie er mit durchdrehenden Reifen davon fährt, aber ich blicke mich nicht um.

Mit stark zitternden Händen schließe ich die Tür auf. Kurz horche ich ins Haus hinein und stelle erleichtert fest, dass niemand da ist. Ich brauch jetzt einfach meine Ruhe. Meine Eltern oder Marcel, würden sofort merken, dass etwas passiert ist und mich ausfragen. Dass kann ich im Moment einfach nicht ertragen.

Mit großen Schritten gehe ich in mein Zimmer. Immer noch laufen die Tränen unablässig über mein Gesicht. Ich will eigentlich gar nicht weinen, er hat es nicht verdient, aber ich kann es einfach nicht stoppen.

Schnell schnappe ich mir meine bequeme Jogginghose und ein weites T-Shirt und gehe mit tränenverschleierter Sicht ins Bad. Ich muss jetzt duschen. Ich fühle mich so dreckig, so benutzt, aber die Demütigung wiegt immer noch am schwersten.

Hastig werfe ich meine Klomotten von mir und stelle mich unter die Dusche. Ich drehe das Wasser so heiß auf, dass es wehtut und meine Haut sich rot verfärbt. Ich lasse es mir direkt über das Gesicht laufen und reibe so fest mit den Händen darüber, dass brennt. Doch soviel ich auch reibe, ich fühle mich nicht sauberer.

Nun vermischt sich das heiße Wasser mit salzigen Tränen und ich lasse resigniert meine Hände sinken. Ich lehne mich gegen die kalten Fliesen und lasse mich an ihnen hinunter bis zum Boden gleiten. Wie konnte er so etwas machen? Ich dacht er liebt mich, oder hat es zumindest einmal getan.

Ich umschließe meine Knie mit den Armen und ziehe sie fest an mich. Mein Gesicht vergrabe ich. Lang lasse ich mich in dieser Position von dem immer noch heißen Wasser berieseln. Erst als mir trotz dessen kalt wird, steige ich mühsam aus der Dusche. Alles tut mir weh. Meine Augen brennen. Beschwerlich trockne ich mich ab und ziehe mich an. Dann schlurfe ich zurück in mein Zimmer und schmeiße mich auf mein Bett. Ich bin so erschöpft, dass mir schon bald die Augen zufallen.

Ein leises klopfen an der Tür lässt mich aufwachen. Sofort sind die Erinnerungen an den Nachmittag wieder da und auch die Tränen lassen sich nicht lange aufhalten. Versunken in den Geschehnissen merke ich nicht, wie Marcel mein Zimmer betritt. Erst als sich die Matratze hinter mir senkt, bemerke ich ihn und wische mir hastig die Tränen weg.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde. Ich werde ihm zeigen was er davon hat eine so wundervolle Person, wie dich zu schlagen.“, flüstert er, aber ich bemerke den zornigen Unterton in seiner Stimme. Hastig drehe ich mich zu ihm rum und sehe ihn in seine so gütigen Augen.

„Er hat mich nicht geschlagen.“, hauche ich so leise, dass er sich sehr anstrengen muss es zu verstehen. Schon wieder laufen mir die Tränen aus den Augen.

„Was ist dann passiert? Was hat er dir angetan?“, will er weiter wissen und ich höre, dass er auch Tränen in den Augen hat. Er kann es nicht ertragen mich so zu sehen und eigentlich wollte ich ihm diesen Anblick auch ersparen, aber ich habe keine Kraft mehr meine Gefühle im Zaum zu halten.

Bestimmend schüttle ich den Kopf. Marcel bringt Paul um, wenn er erfährt was passiert ist. Ich komme leicht hoch und ziehe ihn in eine Umarmung.

„Ich kann es dir nicht sagen.“, flüstere ich ihm mit zitternder Stimme ins Ohr.

„Du kannst mir alles sagen, ich hoffe das weißt du. Aber wenn du noch nicht bereit dazu bist, akzeptiere ich es. Ich möchte nur das du weißt, dass ich dich liebe und das ich dich beschützen werde, egal was passiert.“, auch seine Stimme zittert und ich mache mich von ihm los, um ihn anzusehen. Eine einzelne Träne läuft über seine Wange und ich wische sie sanft mit dem Daumen bei Seite.

„Nicht weinen, nicht wegen mir.“, sage ich und da steigen mir wieder die Tränen in die Augen.

„Ich weine solange wegen dir, solang du wegen ihm weinst.“, sagt er mit einem leichten Lächeln und wischt auch meine Tränen weg.

„Eigentlich wollte ich dich zum Essen holen.“, erklärt er nun wieder mit fester Stimme.

„Ich habe kein Hunger.“, und außerdem kann ich so nicht unseren Eltern gegenüber treten, füge ich in Gedanken noch hinzu.

Langsam steht er auf und geht zur Tür. Im Türrahmen dreht er sich nochmal zu mir um.

„Kommst du nachher wieder, ich möchte nicht allein sein?“, frage ich und kann einen ängstlichen Ton meiner Stimme nicht vermeiden. Er nickt kurz und verschwindet dann im Flur.

Ich kuschle mich wieder in meine Kissen und schließe die Augen. Nur im Halbschlaf bekomme ich mit, wie Marcel wieder zurückkommt und mich liebevoll in den Arm nimmt. Er haucht mir einen Kuss auf die Schläfe, kurz bevor ich endgültig einschlafe.

Ich wache auf, als es noch dunkel ist. Marcel hält mich immer noch fest umschlossen an sich gedrückt. Vorsichtig mache ich mich von ihm los, darauf bedacht ihn nicht zu wecken. Was mach ich jetzt? Erstmal stiere ich gedankenverloren an die Decke. Doch als meine Gedanken wieder zum gestrigen Nachmittag schweifen stehe ich hastig auf und beschließe joggen zu gehen. Vielleicht bekomme ich so den Kopf frei.

Ich schlüpfe in meine Laufsachen und begebe mich leise auf die Straße. Blindlings laufe ich einfach drauf los, ohne ein Ziel vor Augen. Ich laufe so schnell, dass schon bald meine Lungen brennen, doch ich lauf weiter. Erst als meine Beine drohen nachzugeben, halte ich an. Ich stütze mich auf meinen Knien ab und versuch krampfhaft genügend Luft in meine Lungen zu bekommen. Nur schwer kann ich mich wieder beruhigen. Es dämmert bereits als ich meinem Atem wieder unter Kontrolle habe. Mit zitternden Knien mache ich mich auf den Rückweg.

Alle schlafen noch als ich wiederkommen. Ich stelle mich unter die kalte Dusche. Danach wickele ich ein Handtuch eng um mich und betrachte mich im Spiegel. Meine Augen sind rot und brennen immer noch leicht. Ich bin blass und sehe unsagbar müde aus. Je länger ich mich betrachte, umso mehr ekel ich mich vor mir selbst. Mit zitternden Hände greife ich nach meinem Waschlappen, mache in nass und reibe über mein Gesicht. Ich hab das Gefühl immer noch seine Spucke in meinem Gesicht zu spüren und Übelkeit steigt wieder in mir auf. Immer schneller und intensiver wische ich mir über mein Gesicht. Tränen mischen sich mit dem Wasser und ich kann nicht aufhören. Ich kann einfach nicht aufhören. Mein Gesicht ist schon wund, als sich eine Hand auf meinen Arm legt und ich dadurch meine Hände sinken lasse. Ich blicke wieder in den Spiegel. Marcel steht neben mir und hält immer noch meinen Arm. Mein Gesicht ins knallrot und brennt stark.

Vorsichtig versucht Marcel mir den Waschlappen abzunehmen und ich gebe ihn, ohne Gegenwehr weiter. Er lässt kaltes Wasser ins Waschbecken, taucht den Lappen hinein und tupft mir mit diesem leicht über mein erhitztes Gesicht. Es schmerzt, als er jede Stelle abtupft, aber es tut gut.

„Was hat er dir nur angetan?“, murmelt er immer wieder vor sich hin.

 

Die restliche Woche zieht an mir vorbei wie ein Film. Ich nehme kaum noch an meinem eigenen Leben teil. Fühle mich als Zuschauer. Marcel verbringt jede Nacht bei mir. Nur in seinen Armen fühle ich mich sicher. Ich hab es immer noch nicht geschafft ihm zu erzählen, was passiert ist.

Nun sitze ich im Geografieraum und starre aus dem Fenster. Flo sitzt neben mir. Ich weiß, dass sie sich Sorgen macht. Alle machen sich Sorgen um mich. Sie kennen mich so nicht, ich kenne mich ja selbst so nicht.

„Marcel hat mir zwar verboten mit dir darüber zu reden, aber ich kann es einfach nicht mehr ertragen, dich so zu sehen.“, reißt mich Flo mal wieder aus meinen Gedanken. Ich drehe mich nicht zu ihr um. Ich kann ihr nicht in die Augen schauen. Allen kann ich nicht mehr in die Augen schauen, denn allen sehen mich so mitleidig an, dass ich es nicht ertrage. Außerdem habe ich das Gefühl, man könnte mir an der Nasenspitze ansehen, was passiert ist.

Als ich nicht reagiere redet sie einfach weiter.

„Du musst mit jemanden darüber reden. Was hat er dir nur angetan? Das bist doch nicht mehr du.“, sie klingt verzweifelt, meine kleine Flo ist verzweifelt, wegen mir. Ich drehe mich zu ihr um und schaue ihr in die Augen. Ich unterdrücke meine Gefühle, denn sonst würde ich in Tränen ausbrechen. Es ist schwer und wird noch schwerer als ich die Tränen in Flos Augen sehe.

„Was hat dieses Schwein dir nur angetan?“, fragt sie tränenerstickt und schüttelt betrübt den Kopf.

„Ich werde es dir erzählen.“, sage ich mit kratziger Stimme, da ich letzten Tage kaum gesprochen habe. Ich kann ihr vertrauen. Sie ist meine beste Freundin. Ich muss es ihr erzählen, vielleicht geht es mir danach wirklich besser.

Bestimmt ziehe ich sie nach dem Ende der Stunde auf den Schulhof. An den Anderen vorbei setzte ich mich einfach auf eine der Bänke. Flo lässt sich neben mich fallen und schaut mich erwartungsvoll an.

„Als ich ihm am Montag so an der Mauer stehen sehen hab, hatte ich trotz unserer Probleme in letzter Zeit, die leise Hoffnung, dass wir mal wieder etwas zusammen unternehmen. Ich hab ihn einen kurzen Kuss aufgedrückt, weil ich mich immer mehr vor ihm ekel. Ich konnte ihm einfach nicht mehr geben und lief dann weiter zu seinem Auto. An der Beifahrertür hat er mich eingeholt und mich schmerzhaft herumgezogen. Er hat mich zwischen sich und den Wagen eingeklemmt und mir einfach die Zunge in den Hals gesteckt. Er hat so ekelhaft geschmeckt, ich musste mich so anstrengen nicht zu kotzen. Ich hab einfach keinen Ausweg gesehen und hab ihn in die Zunge gebissen. Ich dachte er schlägt mich. Aber das tat er nicht. Heute wünsche ich mir er hätte es getan, denn seine Reaktion tut mir mehr weh als ein Schlag. Er hat mich angeschrien, dass es mir noch leidtun wird und mir dann ins Gesicht gespukt. Er hat mir einfach ins Gesicht gespukt und gelacht. Ich war so gedemütigt in diesem Moment, ich konnte mich nicht bewegen.

Er hat mich dann noch nach Hause gefahren und verboten morgen auf die Party zu gehen. Aber ich stand eigentlich vollkommen neben mir. Ich fühlte mich und fühle mich seitdem so dreckig und zu tiefst gedemütigt. Täglich wasche ich mir mehrmals das Gesicht bis es wund wird, aber ich kann immer noch seinen Speichel auf meinem Gesicht spüren.“, schließe ich meinen Monolog über die Geschehnisse am Montag. Ich habe die ganze Zeit stur auf den Boden zu meinen Füßen geschaut, alle Gefühle die aufkamen erfolgreich unterdrückt. Jetzt blicke ich vorsichtig zu Flo. Wie reagiert sie?

Ich bin erstaunt, als ich in ihr wutverzerrtes Gesicht sehe. Ist sie wütend auf mich? Aber warum?

„Sag was.“, bitte ich sie leise, weil ich diese Reaktion überhaupt nicht erwartet hätte.

„Dieses miese, dreckige Schwein!“, schreit sie mir entgegen und ich zucke unter der Lautstärke verängstig zusammen. So hab ich sie noch nie erlebt.

„Wenn ich den erwische, bringe ich ihn eigenhändig um!“, brüllt sie weiter. Nun werden auch die Anderen auf uns aufmerksam und kommen zu uns herüber.

„Bitte, sag nichts. Ich bitte dich, ich möchte nicht, dass es alle wissen.“, bitte ich Flo inständig.

Dann ist die Clique auch schon bei uns.

„Was ist denn los? Wenn bringst du um, Flo? Und Warum?“, will Chris wissen. Er wirkt sauer und ballt seine Hände zu Fäusten.

Ich kann es nicht mehr ertragen. Nicht ertragen, wie mich alle mitleidig und fragend ansehen. Die Demütigung nicht mehr ertragen. Schon wieder beginnen die Tränen sich ihren Weg zu bahnen. Ich hätte es nicht erzählen dürfen. Bald wissen es alle. Wie werden sie mich dann behandeln?

Als sich die erste Träne ihre salzige Spur auf meiner Wange hinterlässt, springe ich auf und lauf so schnell ich kann weg. Ich will mich einfach irgendwo verkriechen und nie wieder rauskommen.

Plötzlich packt mich jemand an der Schulter und zieht mich in warme Arme. Ich würde mich gern wehren, aber ich kann nicht. Als mir Marcels vertrauter Geruch in die Nase steigt, beende ich auch meine verzweifelten Befreiungsversuche und lasse mich in seine starken Arme sinken.

„Ich hätte es ihr nicht erzählen dürfen.“, murmle ich immer wieder vor mich hin, während Marcel mich einfach nur hält.

Ich habe nicht bemerkt, wie er uns zusammen zum Auto gebracht hat, erst als er mich sanft auf dem Beifahrersitz absetzt kann ich wieder einen einigermaßen klaren Gedanken fassen.

Die Fahr nach Hause vergeht schweigend. Marcel wirft mir zwar immer wieder Blicke zu, als würde er etwas sagen wollen, redet aber nicht. Als ich keine Anstalten mache auszusteigen, nimmt mich Marcel kurzer Hand auf den Arm und träg mich hinein. Ich habe das Gefühl, ich bin innerlich leer. Ich hätte es ihr einfach nicht sagen dürfen. Irgendwann wären die Demütigung und der Schmerz die sie hinterlassen hat vergangen. Aber jetzt, wo alle bald wissen was passiert ist wird die Demütigung immer bleiben. Ich werde sie in ihren mitleidvollen Blicken sehen. Werde sie spüren in der Art wie sie mich behandeln.

„Darf ich mit Florentine reden?“, fragt mich Marcel leise. Ich liege zusammengekauert auf meinem Bett, er hockt vor mir und schaut mir tief in die Augen. Darf er mit ihr reden? Soll sie ihm erzählen was passiert ist? Besser sie erzählt es ihm, als das ich es auch nur noch einmal erzählen muss. Ich will nicht mehr daran denken. Will diese Tag aus meinem Gedächtnis löschen.

Ich nicke zaghaft.

„Darf sie mir erzählen was passiert ist?“, fragt er weiter. Wieder nicke ich nur, aber auch ein großer Schluchzer entweicht mir, als sofort bei seinen Worten die Erinnerung wieder da ist.

„Möchtest du, dass ich hier bleibe?“, seine Stimme ist so liebevoll, dass es mir das Herz zerreißt. Erneut nicke ich.

Er steht auf und setzt sich hinter mich. Ich will, dass er mich in den Arm nimmt, dass er mich einfach nur hält. Denn ich habe das Gefühl, wenn er mich nicht hält zerbreche ich in Millionen kleine Teile. Doch er nimmt mich nicht in den Arm. Er holt sein Handy aus der Hosentasche und hält es sich kurze Zeit später ans Ohr.

„Hey Flo.“, flüstert er leise, aber ich kann ihn deutlich verstehen. Will ich wirklich, dass sie es ihm erzählt? Wie wird er reagieren? Er wird vermutlich total ausrasten.

„Ja, es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie sagt, du darfst er mir erzählen.“, redet er weiter.

„Ja ich will es hören. Ich kann es nicht mehr ertragen, sie so zu sehen, ohne zu wissen warum?“, wird er jetzt etwas lauter. Dann ist er eine lange Zeit leise, aber ich spüre hinter mir, wie er seine freie Hand krampfhaft in die Laken versenkt. Ich höre immer wieder kurze, durch aufeinandergepresste Zähne dringende ‘Hmm‘.

Nach einem schnellen ‘Danke‘, legt er dann auf.

Ich rühre mich nicht, liege bewegungslos neben ihm. Wartend auf eine Reaktion. Jetzt weiß er es auch.

Nichts passiert. Er atmet hörbar ein und aus, doch sonst kommt keine Reaktion. Ich spüre, wie die Anspannung langsam etwas von ihm abfällt. Jetzt legt er sich hinter mich, zieht mich fest an sich und küsst mich auf die Stirn.

Ich zwinge mich ihn anzusehen und sehe Hass. Abgrundtiefen Hass. Aber gilt nicht mir. Er gilt Paul.

„Sag was.“, bitte ich ihn jetzt genauso wie vorhin Flo.

„Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er dir so etwas antut. Ich hätte schon viel eher einschreiten sollen. Hätte ihm klar machen sollen, dass er kein Recht hat dich so zu behandeln wie er es tut. Niemand hat dieses Recht. Du hast nur das Beste verdient und dass hätte ich ihm zeigen müssen.

Wenn er dir nur noch einmal zu nahe kommt, kann ich für nichts garantieren.“, zu Beginn war seine Stimme liebevoll und sanft wie immer. Aber am Ende hat der pure Hass aus ihm gesprochen. So hab ich Marcel noch nie erlebt. Er ist kein Mensch der seine Probleme mit Gewalt löst, doch jetzt in diesem Moment bekomme ich Angst vor ihm. Obwohl ich weiß, dass er mir nie etwas tun könnte, fange ich unwillkürlich an zu zittern.

„Du machst mir Angst Marcel. Bitte tu nichts, was du bereuen wirst.“, spreche ich meine Befürchtungen aus.

„Ich wollte dir keine Angst machen, Kleine. Aber ihm eine Abreibung zu verpassen, würde ich nie bereuen.“, antwortet er und sein sanftes Lächeln umspielt seine Lippen.

Ich versinke mal wieder in Gedanken. Wie wird es weiter gehen? Kann ich Paul nochmal in die Augen schauen? Wie werde ich reagieren, wenn ich ihn wiedersehe? Schon bei den Gedanken daran ihm zu begegnen verkrampft sich mein Körper. Ich muss mich von ihm trennen ich kann mit so einem Mann nicht zusammen sein. Eigentlich wünsche ich mir ihn nie wieder zu sehen, aber dieses eine Mal muss es noch sein. Ich muss einen Schlussstrich ziehen. Danach kann ich hoffentlich wieder befreiter weiterleben. Ich kann nur hoffen er wird mich wirklich in Ruhe lassen, wenn ich ihn verlassen habe.

„Ich werde Schluss machen! Ich kann einfach so nicht weiterleben.“, spreche ich meine Gedanken nun laut aus.

Marcel hebt seinen Kopf und schaut mich verwundert und etwas ängstlich an.

„Was? Du willst… das kannst du doch nicht machen, nicht wegen diesem scheiß Typen. Du kannst doch nicht wegen diesem Arschloch einfach dein Leben wegwerfen. Wir helfen dir, wir finden schon einen Weg, aber das ist doch keine Lösung!“, redet er mit zitternder Stimme auf mich ein und nun bin ich es die verwundert schaut. Was will er denn jetzt von mir? Meine Leben wegwerfen? Was denkt der den? Er denkt doch nicht etwa ich tue mir was an? Eher würde ich Paul etwas tun, wenn ich genug Mut dazu hätte.

Ein kleines Grinsen stiehlt sich auf mein Gesicht, als ich seinen verängstigten Gesichtsausdruck sehe.

„Ja es gibt für alles eine Lösung und ich habe meine gefunden.“, sage ich mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Es macht wirklich Spaß ihn etwas zu Ärgern.

„Nein, das kann nicht dein Ernst sein. Dein Tod ist keine Lösung. Wenn jemand sterben sollte dann er.“, entgegnet er mir und reibt sich dabei verzweifelt das Gesicht.

„Mein Tod?“, frage ich um Unschuld bemüht, kann aber mein schallendes Gelächter nicht weiter im Zaum halten. Ich kugle mich regelrecht vor Lachen, es tut einfach mal wieder gut so zu Lachen. Es befreit. Erst als ich kaum mehr Luft bekomme, kann ich mich einigermaßen beruhigen.
Marcel schaut mich an, als wäre ich jetzt komplett durchgedreht und ich wische mir eine Träne aus dem Auge.

„Ich will mich nicht umbringen. Ich mache mit Paul Schluss.“, grinse ich ihm entgegen.

Er lässt sich mit einem lauten ‘Puh‘ in meine Kissen sinken.

„Du hast mir wirklich eine Heidenangst gemacht und dann lässt du mich auch noch in dem Glauben du tust dir etwas an. Dass kannst du doch nicht machen, denk doch einmal an mein armes Herz.“, sagt er theatralisch und greift sich an die Brust.

„Jaja, alter Mann du und deine Herzschwäche.“, gebe ich zurück und lasse mich wieder in seine Arme sinken. Ich lege meinen Kopf auf seiner Brust ab und merke wie schnell sein Herz schlägt. Er hat sich wirklich richtig Sorgen um mich gemacht.

„Es tut mir leid, ich weiß mit sowas scherzt man nicht. Aber dein Gesicht war einfach zum Schießen.“, flüstere ich ihm zu.

„Schon gut. Es war schön dich endlich mal wieder lachen zu sehen.“, erwidert er ebenso leise.

Ich fühle mich jetzt wesentlich besser. Es tat gut wieder zu lachen und mit dem Entschluss, die Beziehung zu Paul zu beenden, fühle ich mich regelrecht befreit. Dass vermutlich bald alle wissen, was er mir angetan hat rückt etwas in den Hintergrund. Wenn alle so reagieren wie Flo und Marcel kann ich, denke ich, damit leben.

Über die Gedanken, wie ich am besten mit Paul Schluss mache schlafe ich irgendwann ein.

 

Als ich am nächsten Morgen wach weder, spüre ich immer noch Marcels kräftige Arme um mich und muss lächeln. Es war doch richtig es jemanden gesagt zu haben. Ich fühle mich erleichtert und spüre nicht mehr Pauls Speichel in meinem Gesicht.

Doch als er sich in meine Gedanken schiebt, merke ich, wie mein Lächeln schnell wieder verschwindet. Ich zwinge mich nicht an ihn zu denken, er hat es nicht verdient.

Vorsichtig entwinde ich mich Marcels Umarmung und will grade aufstehen, als er mich am Arm zurückhält.

Ich drehe mich zu ihm und wir schauen uns eine Weile einfach nur an. Er mustert mein Gesicht sehr ausgiebig und bei seiner suchenden, angespannten Mimik, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

„Was ist? Hab ich ein Popel auf der Stirn oder Sauber am Kinn?“, frage ich lachend und seine Mine hellt sich deutlich auf.

„Nein, ich wollte nur sehen wie es dir geht.“, erwidert er erleichtert und gibt meinen Arm wieder frei.

„Mir geht es erstaunlich gut.“, ich beuge mich zu ihm und drücke ihm ein feuchten Kuss auf die Wange.

„Ich hab mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“, sagt er leise und in seinem Gesicht zeichnet sich der ganze Ernst seine Worte ab.

„Ich weiß und es tut mir wahnsinnig leid. Ich liebe dich, aber ich hatte Angst es dir zu sagen. Angst wie du reagieren wirst, dass du dich vor mir ekelst.“, gebe ich ebenso leise zurück und kuschle mich wieder an ihn. Er zieht mich näher an sich und drückt mir einen Kuss in die Haare.

„Ich ekel mich nicht vor dir. Paul ist der Einzige, dem in dieser Geschichte negative Gefühle zugeschrieben werden sollte. Ich habe ihn nie wirklich gemocht, aber seit gestern hasse ich ihn einfach abgrundtief. Wie kann man einer Frau, die man angeblich liebt so etwas nur antun?“, redet er vor sich hin. Ich mache mich wieder von ihm los, möchte einfach nicht mehr darüber reden.

Ich genehmige mir eine ausgiebige Dusche. Die Erste Dusche seit Montag, bei der ich mir nicht das Gesicht wund reibe. Die Erste Dusche seitdem, die ich wirklich genießen kann. Und so lasse ich mich lange von dem warmen Wasser umschließen und denke einfach mal an gar nichts. Aber wie das so schön ist, man kann nicht an Nichts denken und so schweifen meine Gedanken ab. Ich denke an die Clique. Denke an die Party heute Abend. Soll ich hingehen? Pauls Drohung interessiert mich nicht mehr, ich würde mich einfach über sie hinwegsetzten. Aber wie werden die Anderen auf mich reagieren? Mal wieder richtig Party machen, würde mir schon gefallen. Einfach mal wieder eine normale 18jährige sein. Mit Freunden feiern, tanzen, trinken.

Ich werde zur Party gehen, aber ich werde vorher nochmal mit Marcel reden. Er soll den Anderen klarmachen, dass das Thema Paul absolut tabu ist. Mit diesem Entschluss beende ich meine Dusche.

Beim Haare föhnen schaue ich mich lange an. Ich bin nicht mehr so blass wie in den letzten Tagen und auch meine Augen sind nun nicht mehr rot umrandet, vom vielen weinen. Doch werde ich heute Abend einige Zeit brauchen, die Spuren dieser Woche aus meinem Gesicht zu verbannen.

Nur mit einem Handtuch bekleidet gehe ich zurück in mein Zimmer. Marcel ist nicht mehr da, doch nachdem ich mir aus dem Schrank Schlabberklamotten gefischt habe und mich grade anziehe steckt er seinen Kopf durch die Tür.

„Frühstückst du mit? Ich hab schon alles vorbereitet.“, fragt er und legt seinen Kopf schief. Ich nicke hastig und folge ihm schnell, nachdem ich mir ein Shirt übergezogen hab.

Wir genießen beide eine Zeit lang schweigend unser Essen. Aber ich werde immer unruhiger, da ich ja noch eine Bitte an Marcel habe.

„Marcel?“, frage ich zaghaft.

„Hmm?“, erwidert er und leckt sich die Marmelade vom Finger.

„Ich weiß, dass es sowieso jetzt alle wissen, beziehungsweis spätestens heute Abend erfahren. Ich möchte aber nicht, dass es ein Thema in der Clique ist. Ich will, dass mich alle behandeln, wie vorher. Ich möchte weder Mitleid noch sonst irgendetwas. Könntest du das den Anderen klar machen?“, bringe ich mein Anliegen vor und schaue dabei bedrück auf meinen Teller.

Marcel schiebt sich einen Weg durch die Marmeladengläser und Teller auf dem Tisch frei und nimmt meine Hand in seine. Zögernd schau ich ihn an, wartend auf eine Antwort.

„Na klar, Kleine. Wenn ich dir damit helfen kann. Ich werde mit dem Rest reden, ich denke sie verstehen es. Heißt das eigentlich, dass du heute Abend mitkommst?“, sagt er und mir fällt ein Stein vom Herzen.

„Aber natürlich komme ich mit. Ich muss doch auf meinen kleinen Bruder aufpassen.“, antworte ich ihm und stecke meine Zunge raus. Er tut es mit einem Grinsen ab und schiebt sich den Rest seines Brötchens in den Mund.

„Wo ist eigentlich die Erzeugergeneration?“, will ich nun belustigt wissen. Meine Eltern hassen diesen Ausdruck, aber Marcel und ich können es einfach nicht lassen sie so zu nennen. Ich liebe beide sehr, aber sie sind oft nicht da, weil sie arbeiten müssen um uns ein schönes Leben zu ermöglichen. Wir haben das früh verstanden und sind wahrscheinlich deshalb noch enger zusammengewachsen. Unseren Eltern tut es wirklich leid, dass sie nur so wenig Zeit für uns haben. Deshalb unternehmen wir, wenn sie Zeit haben, auch immer was als Familie. Ich mag diese Ausflüge, aber da wir nun auch langsam erwachsen werden nehmen sie immer mehr ab und dass stimmt mich traurig. Ich weiß nicht wie es nach dem Abitur weiter geht und fühle mich auch nicht immer besonders wohl in meinem Leben. Es ist halt oft eintönig, langweilig und spießig, aber doch mag ich es irgendwie. Irgendwie schizophren, oder? Ein wenige mehr Action, mehr wünsche ich mir gar nicht. Aber auf die Spannung in meinem Leben, die Paul erzeugt hat, kann ich gerne verzichten.

„Auf Geschäftsreise, glaub ich. Kommen erst in zwei Wochen wieder. Wollten noch ein paar freie Tage dran hängen. Die haben sie sich auch verdient und wir werden uns schon die Zeit verschönern.“, reißt mich Marcel aus meinen Gedanken. Ich versinke schnell wieder darin und kann, deshalb nur gedankenverloren nicken.

Ich werde mal wieder Flo einladen. Ein richtig schöner Mädelsabend, das wird mir mal wieder gut tun. Sollte ich Tanja auch einladen? Immerhin ist sie auch eine gute Freundin geworden. Doch wir haben noch nie nur was zu dritt, nur als Mädelsgruppe, gemacht. Ich denke ein Versuch kann nicht schaden.

Bei den Gedanken an Tanja, schiebt sich Chris unweigerlich auch in meinen Kopf. Seine Reaktion auf Flos Ausbruch, gestern. Seine vor Wut roten Wangen. Seine verstrubbelten braunen Haare. Seine gütigen braunen Augen. Seine liebvollen vollen Lippen. Was soll denn das nun schon wieder? Hastig reiße ich mich selbst aus den Gedanken. Ich darf einfach nicht so von Chris denken.

Es ist noch einige Zeit bis zur Party, aber ich beginne schon mit meinen Vorbereitungen. Suche mir sorgfältig Sachen raus. Nichts Aufregendes. Ein rotes Top, welches meine Vorzüge als Frau ganz gut verstärkt, eine enge dunkle Röhrenjeans, eine ebenso dunkle Jeansjacke und rote Chucks. Ganz eindeutig ich. Nicht so wie die letzte Woche, wo ich mich gern in großen Pullovern und weiten Hosen versteckt habe.

Ich lasse mir Zeit beim Schminken. Ich war nie ein Mädchen, das sich viel geschminkt hat und werde auch nie eins. Doch heut ist wirklich einiges an Arbeit nötig, um mich öffentlichkeitstauglich herzurichten.

Als ich mich für einigermaßen vorzeigbar halte, packe ich ein paar Sachen, da die Clique bei Felix schläft. Immer noch ist Zeit übrig und die verbringe ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Ich lasse mich einfach von einer Sendung berieseln und bekomme nicht wirklich viel mit.

„Wir können!“, verkündet Marcel stolz und lehnt sich gegen den Türrahmen.

Ich schalte den Fernseher aus und begebe mich zu ihm.

„Du siehst umwerfend aus.“, sagt er leise und zieht mich in eine Umarmung.

 

Gemeinsam fahren wir zu Felix und mit jedem Meter den wir näher kommen steigt meine Angst. Wie werden sich die Anderen nun mir gegenüber verhalten? Hat Marcel schon mit ihnen gesprochen? Wissen schon alle Bescheid?

„Ich habe mit ihnen gesprochen, mit jedem Einzelnen. Ich habe ihnen die Situation erklärt und alle stehen hinter dir. Keiner sieht irgendeine Schuld bei dir. Chris ist total ausgerastet, ich konnte ihn nur schwer wieder beruhigen. Ich habe alle gebeten dich normal zu behandeln.“, sagt Marcel leise, als er sich an einer roten Ampel zu mir dreht.

„Danke. Danke für alles Marcel. Du bist der beste Bruder den man sich vorstellen kann.“, erwidere ich und kämpfe schon wieder mit den Tränen. Doch ich schlucke sie tapfer runter und zaubere ein echtes Lächeln auf meine Lippen, denn ich meine es Ernst was ich grade gesagt habe.

Wenig später sind wir schon bei Felix. Einige Leute sind schon da, die meisten kenne ich aus der Schule. Unsere Clique kommt sofort auf uns zu, als wir unsere Jacken aufhängen.

„Schön, dass du da bist.“, Flo zieht mich sofort in die Arme und hält mich etwas zu lange fest.

Auch die Anderen drücken mich fest an sich. Felix ist der Vorletzt hinter ihm steht nur noch Chris. Unsere Blicke begegnen sich, als sich Felix an mich drückt. Unser Blick ist so intensiv und ein komisches Kribbeln breitet sich in meinem Inneren aus. Dann schiebt mich Felix wieder von sich und Chris kommt langsam auf mich zu. Der Augenkontakt war keine Einzige Sekunde unterbrochen seit dem er entstanden ist und ich sehe wie er mit sich kämpft um ihn nicht zu lösen. Doch er überwindet sich und zieht mich an sich.

„Niemand darf dir je wieder so etwas antun. Ich werde dich beschützen.“, flüstert er mir mit rauer Stimme ins Ohr, so dass nur ich es hören kann und beschert mir damit eine unwillkürliche Gänsehaut.

Das Kribbeln in meinem Bauch breitet sich über meinen ganzen Körper aus und ein Teil von mir möchte, dass diese Umarmung nie endet.

Doch er löst sich von mir und wendet sich den Anderen zu. Noch kurz verharre ich in meiner Position, unfähig meine Gedanken und Gefühle in Einklang zu bringen.

Dann zieht mich Flo mit sich und reißt mich in die Realität zurück. Sie zieht mich in die Küche und drückt mir dort einen Becher mit einer undefinierbaren Flüssigkeit in die Hand.

„Was ist das?“, frage ich skeptisch.

„Trinken!“, fordert sich mich auf, ohne auf meine Frage einzugehen. Vorsichtig nippe ich an dem grünen Getränk. Vergiften wird sie mich ja hoffentlich nicht. Es schmeckt erstaunlich gut, zwar stark nach Alkohol, damit hab ich aber kein Problem. Rasch trinke ich den ganzen Becher leer.

„Das ist kein Wasser!“, Flo schaut mich entsetzt an.

„Ich weiß. Und ich bin keine 12. Ich mach heute ordentlich Party, ich muss die letzte Woche einfach vergessen.“, sage ich bestimmt und halte ihr meinen leeren Becher hin. Schmunzelnd nimmt sie ihn an und füllt ihn erneut. Dann schnappt sie sich an paar der Flaschen, reicht mir welche und deutet mir ihr zu Folgen. Gemeinsam gehen wir ins Wohnzimmer, stellen die Alkoholika auf dem Tisch ab und setzten uns auf die Couch. Tanja setzt sich zu uns.

„Ich danke euch allen, dass ihr mich behandelt wie immer. Ich hatte große Angst vor eurer Reaktion und ich habe mich so geschämt, deshalb hab ich nichts gesagt. Aber als du, Flo, mich gestern so verzweifelt angesehen hast, musste ich es sagen. Eigentlich wollte ich auch heute gar nicht darüber reden, ich wollte euch nur danken, ihr seid echt gute Freunde.“, rede ich einfach drauf los. Ohne auf eine Reaktion der Zwei zu warten rede ich einfach weiter.

„Was haltet ihr von einem Mädelsabend? Sowas haben wir noch nie zu dritt gemacht.“, frage ich und schaue erwartungsvoll zwischen den Beiden hin und her. Flo nickt begeistert, doch Tanjas Blick wirkt etwas ängstlich.

„Denkst du wirklich. Eigentlich gehör ich doch gar nicht richtig in eure Gruppe.“, sage sie zögerlich.

„Und wie du zu uns gehörst. Du bist ein Teil unserer Gruppe auch wenn Chris nicht dabei ist. Wir alle haben dich ins Herz geschlossen und sehen dich als Tanja und schon lange nicht mehr als Chris Freundin.“, antworte ich ihr sicher und ein Lächeln breitet sich auf ihren Gesicht aus. Es wird noch breiter, als sie Flos zustimmendes Nicken sieht.

„Ihr seid toll. Danke. Wenn das so ist, bin ich zu allem bereit.“, flötet sie fröhlich und steckt uns beide mit ihrem Lächeln an.

„Ich find Donnerstag gut. Freitag ist frei. Was haltet ihr von einem schönen Liebesfilm und Pizza bei mir? Meine Eltern sind noch zwei Wochen weg und Marcel werde ich schon los.“, lege ich gleich fest und ernte begeisterte Blicke und Zusagen.

Wir trinken noch einmal unsere Becher leer und begeben uns dann auf die provisorische Tanzfläche. Von Drink zu Drink werde ich lockere und habe wirklich Spaß.

Ich bin schon ziemlich angeheitert, als mich jemand antanzt. Ich drehe mich nicht um, merke aber schnell, dass es Chris sein muss. Denn das Kribbeln kehrt in meinen Körper zurück. Wir tanzen wirklich nicht jugendfrei, aber all meine Hemmungen sind mit steigendem Alkoholspiegel verschwunden. Als ein langsames Lied ertönt, dreht er mich vorsichtig zu sich um und zieht mich in seine Arme. Vollkommen versunken lasse ich meinen Kopf auf seine Brust fallen und genieße seine Nähe.

„Alexandra!“, ruft jemand sehr laut und sofort geht die Musik aus. Wie ich diesen Namen hasse, diese Stimme aber noch viel mehr. Paul. Ich hab mich nicht mal umgedreht, da reißt er unsanft an meinem Arm und zerrt mich in Richtung Tür. Ich winde mich, schlage auf ihn ein, aber er verfestig nur seinen Griff.

„Paul, lass mich los. Du tust mir weh.“, schreie ich ihn an.

„Du wiedersetzt dich meinen Anweisungen!“, brüllt er ebenso laut zurück.

„Es ist aus. Ich kann dich nicht mehr ertragen, ich mache SCHLUSS!“, schreie ich weiter.

Abrupt bleibt er stehen. Alles ist totenstill im Raum. Man könnte eine Stecknadel fallen hören. Wo sind Marcel und Chris? Wollten sie mich nicht beschützen? Weiter kommen ich nicht in meinen Gedankengängen, denn eine Hand schnellt auf mich zu.

Paul schlägt mich mit flacher Hand und voller Wucht ins Gesicht. Ich taumle, benommen von der Heftigkeit, rückwärts in zwei starke Arme. Chris hat mich aufgefangen, wendet seinen hasserfüllten Blick aber nicht von Paul ab.

Als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe, lässt er mich wieder los und geht bedrohlich langsam auf Paul zu.

„Marcel, komm sofort ins Wohnzimmer.“, brüllt er in die Stille des Raumes.

Paul baut sich vor ihm auf und ist sich wohl bewusst, dass ein Kampf folgen wird. Er krempelt sich gemütlich die Ärmel seines Hemdes hoch.

„Du bist so ein mieses Arschloch.“, sagt Chris leise. Dann steht Marcel hinter Paul in der Tür.

„Was ist passiert? Und was mach DER hier?“, fragt er etwas atemlos.

„DER…“, Chris zeigt auf Paul, „…hat deine Schwester geschlagen, als sie ihm gesagt hat, dass sie Schluss macht“, noch bevor Chris seine Ausführungen beendet hat, springt Marcel wutentbrannt auf Pauls Rücken und schlägt auf ihn ein. Auch Chris hält sich nun nicht mehr zurück und greift ihn von vorne an.

Ich kann diesen Anblick nicht ertragen. Die zwei Männer, die ich wahrscheinlich am meisten liebe, prügeln sich wegen mir, mit einem Mann bei dem ich dachte, ihn mal geliebt zu haben. Ich liebe Chris. Ich liebe ihn nicht wie einen großen Bruder. Ich liebe ihn, wie eine Frau einen Mann liebt. Diese Erkenntnis trifft mich wie ein Hammerschlag.

Blindlinks greife ich nach einer Flasche vom Tisch und verschwinde durch die Terrassentür nach draußen. Hier setzte ich mich in eine dunkle Ecke an die Hecke und lasse den brennenden Alkohol meine Kehle hinunter rinnen.

Tränen laufen meine Wangen hinab, auf der linken brennen sie höllisch. Erst jetzt merke ich wie sehr diese Wange schmerzhaft pulsiert und versuche es mit einem erneuten Schluck Schnaps zu unterdrücken.

Ich weiß nicht warum ich weine, aber die Tränen rinnen unaufhörlich. Immer wieder setzte ich die Flasche an und nehme große Schlucke. Ich habe keine Ahnung wie lang ich schon hier draußen sitze, als sich ein Schatten aus dem Dunkel abzeichnet.

„Alex?“, fragt er leise. Es ist Chris, aber ich reagiere nicht.

Der Alkohol zeigt nun deutlich seine Wirkung, meine Zunge liegt schwer im Mund und die Welt beginnt sich um mich zu drehen.

Chris setzt sich neben mich und nimmt mir behutsam die Flasche aus der Hand. Sie ist sowieso leer.

Zaghaft drehe ich meinen Kopf zu ihm. Übelkeit steigt in mir auf, doch mit meinem letzten Funken Willen, der noch nicht vom Alkohol weggespült wurde, unterdrücke ich den Drang.

Er sieht mich an, sieht mir tief in die Augen, doch ich kann ihn einfach nicht fixieren. Ich kann mich nicht auf ihn konzentrieren. Nehme nichts wahr. Sonst sauge ich seine Anwesenheit auf wie ein Schwamm, aber mein Kopf ist zu vernebelt.

Ich trinke nie wieder so viel, beschließe ich leichtherzig. Da ich mir dumm vorkomme, einen solch schönen Moment durch meinen Rausch zu zerstören.

Im nächsten Augenblick ist er mir ganz nah, unsere Nasenspitzen berühren sich fast. Ich kann nicht mehr denken, versuch nur mit all meiner Kraft die immer größer werdende Übelkeit zu unterdrücken.

Da legt er plötzlich seine Lippen auf meine. Ganz zart. Die Berührung ist nur minimal, nur ein Hauch, aber sie ist das Schönste was ich je gefühlt habe.

„Nimmt das jetzt bitte nicht persönlich…“, lalle ich. Ich weiß nicht ob er mein Lallen überhaupt verstanden hat und ich konnte auch meinen Satz nicht beenden, denn die Übelkeit hat die Oberhand ergriffen und ich übergebe mich in die Hecke. Immer wieder würge ich und es triebt mir Tränen in die Augen. Ich spüre, wie mir Chris sanft über den Rücken streichelt und mich hält, sodass ich nicht vornüber in die Hecke falle.

Als sich auch der letzte Rest meines Mageninhalts verabschiedet hat, atme ich tief durch. Chris nimmt mich auf die Arme und will mit mir Richtung Haus laufen. Doch ich weiß nicht was in mich gefahren ist, aber auf einmal mache ich mich wütend von ihm los und versuche selbst zum Haus zurück zu laufen. Schlechte Idee. Ganz schlechte Idee. Die ersten Schritte schaffe ich noch taumelnd mich vorwärts zu bewegen doch dann dreht sich die Welt so sehr, dass ich ins Gras falle. Ich bleibe liegen. Kann meine schweren Glieder einfach nicht mehr bewegen und in der nächsten Sekunde schlafe ich auch schon ein.

 

Mein Kopf dröhnt und die Helligkeit die durch meine Lider dring ist unerträglich. Ich versuche mich wegzudrehen, um diesem Licht zu entkommen, welches das Pochen in meinem Kopf noch zu verstärken schein. Ich ziehe die Decke, die mich umgibt höher und wickle sie eng um mich. Die Helligkeit nimmt etwas ab und meine Lider, die ich zusammengepresst hatte, entspannen sich wieder.

Hinter mir ertönt ein tiefes Brummen und jemand greift nach meiner Decke.

„Gib mir die Decke wieder, es ist kalt.“, brummt eindeutig Chris hinter mir. Chris? Was macht Chris in meinem Bett? Halt! Mein Bett? Nein, mein Bett fühlt sich eindeutig anders an. Wo bin ich? Nun schlage ich doch zaghaft die Augen auf. Eine weiße Wand. Super, dass hilft mir jetzt nicht wirklich weiter. Vorsichtig drehe ich mich um und schaue in braune verschlafene Augen.

„Würdest du mir bitte wieder etwas von der Decke abgeben?“, fragt er flehentlich.

Ich kann meinen Blick nicht abwenden. Was ist mit ihm passiert? Sein rechtes Auge ist geschwollen und blau umrandet. Seine Nase ist rot und dick und an den Löchern hängt noch etwas angetrocknetes Blut. Außerdem hat er eine Platzwunde an der Schläfe, die zwar mit einem Pflaster versorg wurde, dieses hängt aber nur noch lose an einer Seite hinab.

Ohne meinen Blick zu lösen, öffne ich die Decke und lade ihn ein näher zu kommen. Er kommt meiner unausgesprochenen Bitte nach und schiebt sich zu mir unter die Decke. Berührt mich dabei aber nicht. Vorsichtig bedecke ich unsere beiden Körper wieder.

Sanft streiche ich über seine Wunden, er verzieht schmerzhaft das Gesicht.

„Was ist passiert?“, frage ich leise.

„Du weiß es nicht mehr?“, stellt er prompt eine Gegenfrage. Ich schüttle leicht den Kopf um meine Schmerzen nicht zu verschlimmern.

„Was weiß du noch?“, will er weiter wissen und streicht nun seinerseits über meine Wange. Ein stechender Schmerz geht von ihr aus und ich zucke zurück. Warum tut meine Wange so weh? Nur langsam kommen meine Gedanken in Schwung und ich versuche ein klares Bild aus den Wirren in meinem Kopf zu bekommen.

„Paul!“, entfährt es mir plötzlich, als ich mich bruchstückhaft an den gestrigen Abend erinnere.

„Er war hier. Er hat mich geschlagen, als ich gesagt habe, dass ich mich von ihm trenne. Du. Du hast dich mit ihm geprügelt?“, erahne ich, weil nach dem Schlag meine Erinnerungen aussetzten. Chris nickt bestätigend.

„Marcel und ich haben ihm eine Lektion erteil, die er hoffentlich nicht so schnell vergessen wird.“, erzählt er mir und in seinen Augen blitzt Hass auf. Die ganze Zeit halten wir den Augenkontakt und in mir steigt schon wieder dieses Kribbeln auf.

„Was ist danach passiert?“, möchte ich meine Erinnerung etwas auffrischen.

„Nicht viel. Felix hat die Party sofort beendet und nachdem ich dich draußen total besoffen aufgelesen hab, hab ich dich hier rein gebracht.“, sagt er leise, als wär da doch noch irgendetwas anderes. Ja, ich bin mit einer Schnapsflasche raus gegangen, aber Chris, er war nicht da und ich erinnere mich auch nicht wie ich wieder rein gekommen bin.

Ein Bild eines Kusses blitzt vor meinem inneren Auge auf. Wen hab ich geküsst? Das Kribbeln verstärkt sich merklich. Hab ich etwa Chris geküsst?

„Haben wir uns geküsst?“, schießt es aus mir raus, ohne dass ich es steuern kann.

Chris senkt seinen Blick und läuft leicht rot an.

„Naja…“, druckst er rum, „ich wollte dich küssen. Unsere Lippen haben sich grade berührt, da hast du auf einmal…“, stottert er weiter.

„Was hab ich?“, will ich barsch wissen. Warum hat er mich geküsst? Fühlt er das Gleiche wie ich? Aber das geht nicht, mein Bruder würde ihn und mich umbringen.

„Du hattest zu viel getrunken und da ist dir halt schlecht geworden.“, bringt er nun zögerlich hinaus.

Ich habe gekotzt? Während Chris mich geküsst hat? Hab ich wohlmöglich auf ihn gebrochen? Ich laufe feuerrot an und vergrabe mein Gesicht in den Händen. So etwas Peinliches ist mir noch nie passiert. Tränen steigen in mir auf.

Chris schiebt zaghaft meine Hände beiseite.

„Hey, nicht weinen. Es ist nichts passiert. Du hast einfach zu viel getrunken. Weißt du wie oft mir dass schon passiert ist. Du hast etwas die Hecke gedüngt und bist dann eingeschlafen.“, sagt er sanft und wischt mir die einzelne Träne, die sich aus meinem Auge gekämpft hat, ab.

Gott sei Dank, anscheinend habe ich ihn nicht angekotzt. Puh.

„Du siehst süß aus, wenn du schläfst. Fast noch süßer als sonst.“, flüstert er leise und dreht sich wieder verlegen weg. Unbewusst rücke ich ein Stück zu ihm. Sanft drehe ich seinen Kopf wieder so, dass wir uns anschauen. Immer näher kommen sich unsere Gesichter. Wieder versinke ich in seinen warmen braunen Augen. So vieles liegt darin. Wärme. Vertrauen. Mitleid. Liebe.

Ich denke nicht nach, bewege mich nur immer weiter auf ihn zu. Plötzlich fällt mein Blick auf seine sanften, geschwungenen Lippen. Und schon im nächsten Moment liegen sie auf meinen.

Als er seine Zunge in meinen Mund schiebt, entfährt mir ein Seufzer und ich ziehe ihn fest an mich. Dass ist das Beste, was ich je Gefühlt habe. Fast magisch. Noch nie habe ich so für einen Jungen gefühlt. Ich hatte schon ein paar Beziehungen und hab schon einige Jungs geküsst. Aber nichts reicht hier heran. Ich habe das Gefühl ich fliege.

Dann setzt mein Denken wieder ein. Es ist Chris, den ich da küsse. Wir dürfen so eine Art von Beziehung nicht haben. Wir dürfen uns nicht küssen.

„Wir dürfen das nicht.“, sage ich in seinen Mund, ohne den Kuss zu beenden. Es fühlt sich einfach zu gut an, um es jetzt abzubrechen.

„Ja, wir dürfen das nicht.“, erwidert Chris ebenso, beendeten aber unsere Zärtlichkeiten auch nicht. Im Gegenteil er zieht mich noch näher an sich und fährt mit seiner Hand in meine Haare. Ich tue es ihm Gleich und lasse sein Haar durch meine Finger gleiten.

„Das ist nicht euer Ernst!“, kommt es laut aus dem Flur und Chris und ich fahren erschrocken auseinander. Unser Blick fällt zeitgleich zur Tür, doch da ist niemand. Schritte nähren sich und ich schaue Chris panisch an. Er deutet mir lautlos an mich umzudrehen und mich schlafend zu stellen. Hastig folge ich seinen Anweisungen, grade schnell genug als die Person den Raum betritt.

„Was schreist du denn hier am frühen Morgen so rum?“, brummt Chris hinter mir gespielt verschlafen. Ich versuche meinen Atem zu beruhigen. Was sich als sehr schwierig erweist, weil mein Herz rast, da ich immer noch Chris Lippen auf meinen spüre. Sein warmer Körper hinter mir ist mir auch keine große Hilfe.

„Du glaubst nicht wobei ich Felix und Flo grade erwischt habe!“, donnert er weiter los und jetzt erkenne ich Marcels Stimme.

„Was haben sie denn angestellt?“, fragt Chris genervt.

„Was sie angestellt haben? Sie haben rum geknutscht und wenn ich sie nicht unterbrochen hätte, wär vermutlich noch viel mehr passiert. Wir drei haben eine ganz klare Abmachung. Keine Beziehungen innerhalb der Clique!“, redet sich Marcel immer mehr in Rage.

Vorsichtig drehe ich mich wieder um. Tue so, als wäre ich grad erst aufgewacht.

„Geht das auch etwas leiser, Bruderherz. Die zwei sind quasi erwachsen und können tun und lassen was sie wollen.“, gebe ich gespielt verschlafen von mir.

„Sorry, Kleine. Aber Felix war mit dieser Abmachung auch einverstanden und somit hat er sich daran zu halten.“, gibt er jetzt deutlich leiser zurück. Im selben Augenblick betreten Felix und Flo mit gesenkten Köpfen das Wohnzimmer. Aus meiner Position kann ich gut die geschwollenen Lippen meiner besten Freundin erkennen und ein kleines Grinsen stielt sich auf meine Lippen. Sie ist echt verliebt in ihn.

Hoffentlich sind meine Lippen nicht ebenfalls so geschwollen, schießt es mir durch den Kopf und ich fasse sie reflexartig an. Sie brennen leicht und ein Spannungsgefühl kann ich auch nicht leugnen. Mist! Marcel darf davon nichts mitbekommen. Er ist bereits auf hundertachtzig und, dass würde das Fass zum Überlaufen bringen.

Eine drückende Stille entsteht. Felix und Flo stehen immer noch neben der Tür und schauen betreten zu Boden. Marcel wirft ihnen seinen Todesblick zu und schnauft wütend auf. Chris kann ich nicht beurteilen, er hat sich ebenfalls mit den Kopf in den Raum hinein gewendet. Ich schaue leicht ängstlich zwischen Marcel und den Beiden an der Tür hin und her. Warte gespannt auf irgendeine Reaktion.

„Diese Vereinbarung ist lächerlich. Wir haben sie zu einer Zeit getroffen, als wir dumm und jung waren. Ich fühle wirklich etwas für Florentine und würde immer wieder so handeln.“, kommt es als erstes von Felix und ich höre die Mischung aus Aggressivität und Angst aus seiner Stimme. Flo hat ihren Blick vom Boden gelöst und sieht nun Felix ungläubig und verliebt an. Dass er vor uns allen seine Liebe gesteht verdient echt Respekt.

Erwartungsvoll sehen nun alle auf Marcel.

„Wenn das so ist solltest du dir wohl einen neuen besten Freund suchen. Ich würde dich gern raus werfen, aber da es dein Zuhause ist werde ich gehen.“, sagt Marcel erstaunlich ruhig und verlässt fluchtartig das Haus. Doch nicht ohne die Eingangstür laut hinter sich zuzuschmeißen.

Wieder legt sich eine Stille auf den Raum. In meinem Kopf hallt noch der Knall der zugeschlagenen Tür nach und verstärkt meine Kopfschmerzen. Ich weiß nicht was ich als erstes tun soll. Soll ich hinter Marcel her gehen? Ihn versuchen zu beruhigen? Soll ich für meine beste Freundin da sein? Die nun zwischen den Stühlen steht. Ich weiß wie sehr sie Felix liebt, aber kann sie es verantworten durch diese Liebe eine jahrelange Männerfreundschaft zu zerstören? Wie soll ich mich Chris gegenüber jetzt verhalten? Neben allen anderen Gedanken ist dies der vorherrschende in meinem Kopf. Können wir uns noch als Freund gegenüber stehen? Sind wir noch Freunde? Was fühlt er? Was fühle ich?

Meine Gedanken machen mich handlungsunfähig und so bleibe ich einfach stumm liegen und beobachte die Anderen.

Flo steht wie schon seit ihrem Eintreten, mit gesenktem Kopf, neben der Tür. Seit Marcel den Raum verlassen hat, hat sie begonnen monoton den Kopf zu schütteln und vor sich hin zu murmeln. Ich verstehe nicht was sie sagt, aber wie ich sie kenne gehe ich davon aus, dass sie ihre Gefühle und ihr Verhalten als Fehler ansieht und die Freundschaft zwischen Marcel und Felix nicht zerstören möchte. Sie hat sich mir anvertraut. Schon vor einigen Monaten, hat mir ihre Gefühle zu Felix gestanden und auch schon damals gesagt, dass sie sich nie zwischen die zwei drängen wird.

Felix ist, durch Marcel zu Seite gedrängt, weiter in den Raum getreten und bewegt sich nun langsam auf Flo zu. Er versucht sie in den Arm zu nehmen, sie zu beruhigen. Denn immer heftiger schüttelt sie den Kopf, sodass ihre dunklen Locken hin und her schwingen. Doch sie stößt ihn von sich weg.

„Wir hätten das nicht tun dürfen. Er ist dein bester Freund und ihr habt euch ein Versprechen gegeben. Wir sollten uns in nächster Zeit nicht mehr sehen.“, sagt sie leise und Tränen rollen über ihre Wangen. Sie wendet sich von Felix ab, wirft mir einen Blick zu, der mir sagen soll, dass wir telefonieren und verlässt ebenso wie Marcel das Haus.

„Scheiße!“, flucht Felix laut und geht auch aus dem Raum. Doch er versucht sie nicht aufzuhalten. Ich höre wie er wutentbrannt die Treppe hinauf stapft und sich vermutlich in seinem Zimmer verkriecht.

Immer noch kann ich diesem ganzen Szenario keine Reaktion schenken. Überrascht, geschockt und stark verwirrt starre ich auf die Tür. Nebenbei bemerke ich, dass Chris sich wieder zu mir umdreht. Ich zwinge mich meinen Blick abzuwenden und meine Gedanken für einen Moment zu ignorieren, um ihn anzusehen. Langsam wende ich meinen Kopf ihm entgegen. Erwartungsvoll schaut er mich an, als sollte ich irgendeine Reaktion zeigen. Aber welche? Was erwartet er von mir? Ich bin überfordert. Soll ich meiner besten Freundin beistehen oder meinen Bruder? Genauso wie Flo, sitze ich zwischen den Stühlen. Ich liebe beide und kann auch ihre beiden Standpunkte verstehen.

„Was soll ich jetzt machen?“, frage ich mich mehr selbst.

„Beide brauchen dich jetzt, aber du musst auf dein Herz hören, mit wem du zuerst redest.“, antwortet mir Chris auf meine rhetorische Frage.

Auf mein Herz hören? Kurz lausche ich in mich hinein, aber die Antwort gefällt mir nicht. Denn mein Herz sagt mir ich soll die Zwei sich selbst überlassen und einfach weiter hier mit Chris liegen. Wirklich hilfreich, mahne ich mich ironisch selbst.

„Ich sollte gehen.“, sage ich um einfach von ihm wegzukommen und wieder ein klaren Gedanken fassen zu können. Vorsichtig steige ich über Chris und versuche ihn nicht zu berühren. Doch leider scheint es mir unmöglich und überall wo mein Körper seinen streift bleibt ein Kribbeln zurück.

Nach einer gefühlten Ewigkeit stehe ich endlich vor der Couch und schaue an mir runter. Wer hat mir meine Hose ausgezogen? Fragend schaue ich Chris an der leicht rot wird und sich zur Wand dreht. Auch mir schießt das Blut in die Wangen. Chris hat mich ausgezogen!

Schnell schnappe ich meine Sachen und ziehe sie im Hinausgehen an. An der Garderobe schnappe ich mir noch meine Jacke und dann fällt hinter mir die weiße Eingangstür zu.

Überlegend blicke ich mich um und sehe zu meinem Erstaunen das Auto meines Bruders etwas die Straße runter auf dem Gehweg stehen. Also rede ich zuerst mit ihm.

Langsam begebe ich mich auf das Auto zu. Ich werfe einen forschenden Blick hinein, als ich neben die Beifahrertür getreten bin. Marcel hat seine Hände auf dem Lenkrad verschränkt und seinen Kopf darauf abgelegt. Seine Augen sind geschlossen und ich erkenne eine nasse Spur auf seiner Wange.

Ich öffne vorsichtig die Tür und lasse mich auf den Sitz gleiten. Genauso lautlos wie ich die Tür geöffnet habe schließe ich sie wieder.

Wie soll ich anfangen? Soll ich Flo und ihre Gefühle verteidigen? Aber ich verstehe Marcel auch. Sein bester Freund hat sich über eine Abmachung hinweggesetzt. Er ist verletzt.

„Sie ist verliebt in ihn. Schon lange. Sie hat sich mir anvertraut. Sie hatte Angst vor genau dieser Situation und hat deshalb ihre Gefühle versteckt und verleugnet. Sie wollt nie, dass sich Felix zwischen euch entscheiden muss.“, sage ich leise und schlage mich damit doch auf die Seite meiner besten Freundin.

„Ihrer beiden Gefühle sind grad nebensächlich. Ich bin einfach nur zutiefst enttäuscht. Enttäuscht, dass er nicht mit mir darüber geredet hat. Dass er mir anscheinend so wenig vertraut. Wenn er mit mir geredet hätte, hätte ich ihn vielleicht verstanden. Hätte diese Abmachung als hinfällig angesehen, wenn er mir wirklich gezeigt hätte, dass er sie liebt.

Kann man denn nicht mit mir reden?“, fragt er und schnieft laut.

„Naja, du hast bei jeder Andeutung bezüglich Beziehungen in der Clique deutlich klar gemacht was du davon hältst. Ich denke auch Felix hatte Angst.

Natürlich kann man mit dir reden, aber in manchen Sachen bis du ein Echter Sturkopf. Du solltest über deinen Schatten springen und mit ihm reden. Ihr seid doch beste Freunde.“, erkläre ich sachlich und lege ihm meine Hand auf die Schulter.

„Ja, wir sind beste Freunde, aber ich brauche Zeit um darüber nachzudenken. Ich kann darüber nicht einfach hinweg sehen. Ich muss mir überlegen, ob ich das je kann.“, redet er weiter und wischt sich mit dem Ärmel die letzten Tränen aus den Augen.

Die ganze Situation hat ihn sehr getroffen. Er ist blass und seine Augen vom Weinen rot und geschwollen. Bei diesem Anblick blitzt ein Bild in mir auf. Marcel hat sich auch mit Paul geprügelt. Warum ist er nicht verletzt?

„Warum siehst du nicht so schlimm aus wie Chris? Du hast dich doch auch mit Paul geprügelt“, spreche ich sofort meine Gedanken aus.

Ein kleines Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen und er schaut mich schief von der Seite an. Behutsam schiebt er seinen Pullover etwas hoch und mir stockt der Atem. Sein kompletter rechter Rippenbogen schimmert in blau und lila. Vorsichtig streiche ich mit den Fingerspitzen darüber und er zieht scharf Luft ein.

„Er konnte mich nicht im Gesicht treffen, da ich von hinten kam, aber auch ich bin nicht unbeschadet geblieben.

Er hat echt einen gewaltigen Schlag drauf.“, erzählt er leise und berührt leicht meine linke Wange. Sofort breitet sich wieder ein stechender Schmerz von ihr aus und ich verziehe das Gesicht.

„Ich hoffe wir haben ihm klar gemacht, dass er so nicht mit dir umgehen kann“, sagt er mit dem Hass auf Paul, den ich schon kenne.

„Ich habe Angst. Angst, dass er mich nicht gehen lassen wird. Angst, dass ihm eure Lektion nicht gereicht hat. Angst, dass er mir wieder Schmerzen zufügt.“, gebe ich leise zu.

Marcel nickt verstehend, aber kann einen mitleidvollen Blick nicht unterdrücken. Auch er kann nicht immer da sein um mich zu beschützen.

Marcel startet den Motor und legt sich den Sicherheitsgurt an.

„In dieser Situation wünschte ich, ich könnte auch Auto fahren. Du bist aufgewühlt und ich habe kein gutes Gefühl so neben dir zu sitzen.“, sage ich mit gespielter Ängstlichkeit in der Stimme, um die Situation etwas aufzulockern und meine Gedanken an Paul zu verdrängen.

„Du hast Angst vor meinem Fahrstil? Ich hab Angst selbst wenn du in einem Auto sitzt und nicht fährst.“, erwidert er mit einem breiten Grinsen. Ja ich bin eine miserable Autofahrerin. Marcel war bei meiner ersten und einzigen Fahrstunde dabei und ich bin froh, dass diese alle unbeschadet überstanden haben. Vielleicht versuche ich es später nochmal, aber zurzeit habe ich keinen Drang mich hinter ein Steuer zu setzten.

Langsam fädelt sich Marcel in den Verkehr ein.

„Kannst du mich zu Flo bringen?“, frage ich. Ich muss persönlich mit ihr reden.

Marcel nickt stumm und schlägt eine andere Richtung ein. Als er vor dem Haus von Flo und Chris hält, dreht er sich zu mir.

„Könntest du versuchen ihr meinen Standpunkt zu erklären? Ich habe wirklich nichts gegen ihre Gefühle, selbst wenn es nur eine Liebelei sein sollte. Aber Felix hat mich ganz klar hintergangen und dass kann ich im Moment nicht akzeptieren.“, bittet er mich zaghaft. Ich nicke und nehme ihn in den Arm.

Nach einem gehauchten ‘ich liebe dich‘ steige ich aus.

Bedächtig gehe ich auf das große Einfamilienhaus zu. Zahllose Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Es hätte alles so anders kommen können. Mein Bruder ist in dieser Abmachung gar nicht so verbohrt, wie wir alle dachten. Er fühlt sich einfach von seinem besten Freund hintergangen und ich kann ihn gut verstehen. Wenn ich Flo und Felix einfach so beim Knutschen erwischt hätte und ihre Gefühle für einander nicht kennen würde, hätte ich wahrscheinlich ähnlich reagiert. Wäre stocksauer auf Flo. Umso mehr bin ich heilfroh, dass Marcel mich nicht mit Chris erwischt hat. Chris. Wie verhalte ich mich jetzt ihm gegenüber? Auch wir sollten vermutlich erst einmal auf Abstand gehen, bis sich die Wogen zwischen Felix und Marcel geglättet haben. Wenn Marcel nun auch noch Chris als Freund verlieren würde, könnte ich mir das nicht verzeihen.

Ich stehe schon eine ganze Weile vor der Tür und hänge meinen Gendanken nach als ich angesprochen werde.

„Du solltest auch auf die Klingel drücken. Ich weiß zwar, dass du und Flo eine besondere Verbindung habt, aber Gedankenübertragung ist trotzdem nicht möglich.“, lacht jemand laut hinter mir. Ich drehe mich um und versinke sofort wieder in seinen Augen. Chris.

„Wir sollten uns in nächster Zeit aus dem Weg gehen.“, sage ich barscher als eigentlich gewollt. Für einen Augenblick schaut er mich verdattert an, dann verschließt sich seine Mine und wird vollkommen ausdruckslos.

„Ja, dass sollten wir wahrscheinlich.“, antwortet er mir monoton. Was hat er erwartet? Dass ich ihm jetzt meine Liebe gestehe? Dass ich meinen Bruder noch mehr hintergehe, als es sein bester Freund schon getan hat?

Ja, ich habe mich in Chris verliebt, vielleicht liebe ich ihn sogar, aber ich kann meine Gefühle nicht über die meines Bruders stellen. Ich kann ihn nicht verraten. Kann mich nicht für einen von beiden entscheiden. Und wenn mich Chris wirklich liebt, versteht er das. Wenn nicht, ist er sowieso nicht der Richtige.

Er ist sauer auf mich, dass spüre ich ganz deutlich und ich muss stark den Teil von mir unterdrücken, der ihn am liebsten küssen würde.

Noch eine Zeit lang schauen wir uns tief in die Augen. Jetzt sehe ich nur noch wenig Wärme, Vertrauen und Liebe. Dafür umso mehr Verachtung, Enttäuschung und Wut. Ich kann seinem Blick nicht mehr länger standhalten. Tränen steigen mir in die Augen, da ich weiß, dass diese Gefühle mir gelten. Auch wenn ich immer noch die Liebe sehe, tun diese negativen Gefühle sehr weh.

Abrupt drehe ich mich um, drücke lange auf die Klingel und wische mir hastig über die Augen.

Niemand öffnet. Ist Flo gar nicht nach Hause gegangen?

Chris stellt sich ganz nah hinter mich, greift an mir vorbei und schiebt den Schlüssel ins Schloss. Ich spüre seinen warmen Körper an meinem Rücken, rieche seinen ganz eigenen betörenden Duft, merke seinen Atem auf meiner Haut. Genießerisch schließe ich die Augen, sauge seinen Duft ein und das Kribbeln breitet sich wieder in meinem ganzen Körper aus.

„Bist du dir sicher, dass wir uns aus dem Weg gehen sollten.“, raunt er mir ins Ohr und ein Schauer läuft mir den Rücken hinab. Ich kann mich nicht aus dieser Situation befreien. Zu schön ist seine Nähe.

Plötzlich geht er an mir vorbei ins Haus und lässt mich einfach stehen. Augenblicklich wird mir kalt und ich habe das Gefühl meine Beine geben unter mir nach, weil ich mich schwach ohne seine Nähe fühle.

Mit zitternden Knien betrete ich nach ihm das Haus und suche es nach Flo ab.

In der oberen Etage ist ihr Zimmer, ich höre ein leises Wimmern aus diesem Raum und klopfe zaghaft an. Keine Reaktion.

Vorsichtig schiebe ich meinen Kopf durch den kleinen Spalt in der Tür, die ich geöffnet habe.

Flo liegt auf ihrem Bett. Ihr Kopf ist in einem großen Kissen vergraben und ihr Körper bebt unter großen Schluchzer, die durch das Kissen nur ein Wimmern an die Außenwelt abgeben. Behutsam setze ich mich neben sie und streichle ihren Rücken.

„Marcel tut es leid. Er wollte dir nicht wehtun. Er ist nur enttäuscht. Felix, sein bester Freund, hat ihn hintergangen. Er sieht selber ein, dass diese Abmachung längst nicht mehr die Bedeutung hat, die sie damals hatte. Aber sie besteht immer noch und er vertraute darauf, dass Felix mit ihm redet, wenn er daran zweifeln sollte. Er könnte akzeptieren, dass zwischen euch Gefühle existieren, wenn Felix ihn nicht so vor den Kopf gestoßen hätte.

Ich verstehe ihn. Wenn du mir nicht von deinen Gefühlen erzählt hättest und ich hätte euch so gesehen hätte, wäre ich auch sauer. Er stellt das Vertrauen zu Felix in Frage. Auch wenn ich versucht habe deinen und euren Standpunkt zu rechtfertigen wird es schwer werden für ihn Felix wieder zu vertrauen.“, rede ich leise auf sie ein und um mich zu verstehen beruhigt sie sich etwas.

„Ich habe ihre Freundschaft zerstört, weil ich meine Gefühle nicht unter Kontrolle hatte. Nicht nur ihre Freundschaft, wahrscheinlich auch all das was zwischen mir und Felix je war. Ich bin Schuld. Ich habe ihn geküsst.“, schluchzt sie und schmeißt sich mir in die Arme.

„Du hast keine Schuld. Du kannst doch nichts für deine Gefühle und immerhin hat er mit gemacht und wenn er dich wirklich liebt kannst du das zwischen euch gar nicht zerstören.

Was die Freundschaft von Marcel und Felix angeht kann ich nichts sagen. Marcel braucht Zeit um das Ganze zu verdauen, dann sollten sich die Zwei zusammensetzten und miteinander reden. Da sollte sich keiner von uns einmischen, dass müsse die Beiden alleine klären. Wir können nur hoffen.“, sage ich mit fester Stimme, denn ich bin überzeugt, dass ihre Freundschaft stark genug ist, wenn mein Bruder ein wenig seines Stolzes ablegt.

Liebevoll streiche ich Flo über die Haare, bis sie sich komplett beruhigt hat. Mit tränenunterlaufen Augen schaut sie mich an und setzt ein schiefes Lächeln auf.

„Ich bin eine schlechte Freundin. Du hast dich von Paul getrennt. Er hat dich sogar geschlagen und ich heul dir hier die Ohren voll.“, sagt sie betrübt.

„Ach Flo. Das mit Paul war doch schon lange vorbei und der Schlag ist schneller vergessen als dein Liebeskummer. Versprochen. Ich lass mich nicht mehr von ihm unterbuttern.“, meine ich sicher.

„Trotzdem. Wie geht es dir jetzt?“, fragt sie und schaut besorgt auf meine geschwollene Wange.

„Körperlich könnte es natürlich besser sein. Mein Kopf dröhnt und meine Wange pocht. Dafür fühle ich mich frei und unbeschwert. Allerdings hätte ich gestern nicht so viel trinken sollen.“, erwidre ich fröhlich.

„Ja, du warst auf einmal weg und als Marcel und Chris mit Paul fertig waren, ist Chris dich suchen gegangen, ist aber selbst auch nicht wieder aufgetaucht. Felix hat dann sofort die Party beendet. Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, hatte aber auch einiges getrunken und bin eingeschlafen. Was ist passiert?“, fragt sie neugierig nach.

„Viel weiß ich nicht mehr. Als die Jungs sich geprügelt haben, hab ich mir blindlinks eine Flasche geschnappt und bin raus. Ich hab etwas in Selbstmitleid gebadet und den Schnaps geleert. Chris muss mich dann gefunden haben, hat er mir heute Morgen erzählt, und anscheinend hab ich ihm, bevor ich eingeschlafen bin, noch was vor gekotzt. Aber sicher weiß ich das nicht, selbst die Prügelei ist nur noch bruchstückhaft vorhanden.“, erzähle ich stockend und hoffe sie fragt nicht weiter nach.

„Wir sind schon ein komisches Grüppchen.“, sagt sie und schüttelt lächelnd den Kopf. Ich atme innerlich auf, dass sie nicht weiter nachfragt, was zwischen mir und Chris war.

„Du solltest mit Felix reden. Ich sehe doch, dass er dich auch liebt. Er war vorhin wirklich verletzt. Er hat sich auf deine Seite gestellt, Hat seinen besten Freund für dich verraten.“, erkläre ich ihr leise und ihr Lächeln verschwindet schlagartig wieder.

„Ich weiß nicht. Ich möchte Marcel nicht noch mehr wehtun.“, entgegnet sie flüsternd und ihr Blick verrät mir, dass sie ihr Gefühle unterdrückt. Sie würde auf eine Beziehung zu Felix verzichten um seinen besten Freund zu schützen. Sie ist der loyalste Mensch den ich kenne.

„Aber wenn ihr Marcel beweist, dass ihr euch liebt, kann er vielleicht auch übe seinen Schatten springen und diese Vereinbarung vergessen.“, will ich sie überzeugen, denn ich weiß, dass sie sich sonst kaputt macht. Sie konnte ihre Gefühle schon vorher kaum im Zaum halten, im positiven. Aber die jetzige Situation, wird sie im Negativen auffressen.

Eine Weile schaut sie auf ihre Füße und überlegt. Dann beginnt sie zaghaft zu nicken.

Schweigend liegen wir neben einander auf ihrem Bett und hängen unseren Gedanken nach. Meine sind hauptsächlich bei Chris. So sehr ich es auch möchte ich kann ihn einfach nicht aus meinen Gedanken streichen. Bei der Erinnerung an seine Reaktion vor der Haustür, treten mir Tränen in die Augen. Er sah für eine Sekunde so verletz und verzweifelt aus, dann hat er seine ausdruckslose Maske aufgesetzt. Dieser Blick hat mir tief ins Herz geschnitten. Warum kann er mich nicht verstehen?

Über meine Grübeleien fallen mir die Augen zu. Die Party und der heutige Morgen haben mich geschafft.

Schnell setze ich mich auf und verabschiede mich von Flo.

„Aber an unsere Verabredung am Donnerstag erinnerst du dich noch?“, fragt sie als ich sie zu Abschied umarme.

„Ja, natürlich. Donnerstag bei mir. Ich bereite alles vor. Wie klingt 20Uhr?“, ich freue mich wirklich auf unseren Mädelsabend.

„Klingt gut!“, Flo drückt mir noch einen Kuss auf die unverletzte Wange und ich gehe nach Hause. Ich laufe den ganzen Weg. Versuche alle Eindrücke der letzten Nacht zu verarbeiten. Die frische Luft tut mir gut und lässt meine Kopfschmerzen fast vollends verschwinden.

 

Die Schulwoche vergeht schleppend. Die Clique wirkt wie auseinander gerissen. Felix kapselt sich von allen ab und ist meistens alleine unterwegs. Marcel und Chris hänge viel zu zweit rum. Um wir Mädchen zu dritt. Es fällt mir schwer mich Chris gegenüber normal zu verhalten, wenn wir uns begegnen und ich kann nur hoffen, dass es die Anderen nicht bemerken.

Ich versuche seinen Blicken auszuweichen, aber merke wie er mich beobachtet. Es scheint, als wartet er auf eine Reaktion von mir, eine Annährung, doch ich schaffe es den Abstand zu wahren.

Donnerstag besorge ich auf dem Weg von der Schule nach Hause alles was ich für eine selbstgemachte Pizza und eine schönen Mädelsabend so brauche. Ich mag es zu kochen. Meine Mutter hat mir so einiges beigebracht.

Marcel habe ich höflich gebeten heut Abend nicht mehr zu kommen und er hat sich mit einem Grinsen bei Chris einquartiert. Doch auch unser Verhältnis ist nicht mehr wie vorher. Ich habe einige Versuche gestartet mich mit ihm zu unterhalten, aber er geht nicht darauf ein.

Ich schiebe grade die Pizza in den Ofen, als es an der Tür klingelt.

Überschwänglich und mit zwei Flaschen Sekt stürmen Flo und Tanja das Haus.

„Die Pizza ist grad im Ofen.“, berichte ich den beiden, als wir gemeinsam die Küche betreten.

„Supi! Wo habt ihr Gläser?“, will Tanja fröhlich wissen.

Ich stelle drei Sektgläser auf den großen Esstisch und Flo öffnet mit einem lauten Knall die erste Flasche.

Wir unterhalten uns über Gott und die Welt bis mir die Eieruhr sagt, dass die Pizza fertig ist.

Schweigsam, aber nicht ohne Lob meiner Kochkünste, essen wir das große Blech leer und reiben uns danach satt die Bäuche.

„Wie wär‘s mit einer schönen Liebesschnulze?“, frage ich in die Runde und betrachte Flo genauer. Sie hat noch nicht mit Felix geredet und ich weiß nicht wie sie auf dieses Thema reagiert.

„Okay, danach aber einen Film mit ordentlich Blut und Gewalt.“, gibt sie lächelnd zurück.

Wir machen es uns auf der Couch gemütlich, nachdem ich Knapperzeug und Taschentücher bereitgestellt habe.

Der Film ist zum dahinschmelzen. Immer wieder erwische ich mich dabei, wie ich Flo beobachte. Sie weint fast den ganzen Film über vor sich hin. Die Situation nagt an ihr.

Als der Film zu Ende ist nehme ich sie in den Arm und wiege sie sanft hin und her.

„Du solltest mit ihm reden.“, kommt es von Tanja und ich sehe sie erstaunt an. Sie weiß zwar grob, was an dem Morgen passiert ist, hat sich aber bisher mit ihrer Meinung im Hintergrund gehalten.

„Ich weiß, aber es ist nicht so einfach, er blockt alles ab.“, wimmert Flo an meiner Schulter.

Beide nehmen wir Flo fest in den Arm und reden beruhigend auf sie ein. Als sich Flo wieder gefangen hat schaut mich Tanja lange an.

„Ihr habt mir zwar letzte Woche erzählt, dass ich ihr mich ins Herz geschlossen habt und mich wirklich als Teil der Gruppe seht, aber wir hatten nie so eine Beziehung, deshalb wollte ich erst fragen. Es ist eine sehr persönliche Frage und ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber es brennt mir schon einiger Zeit unter den Nägeln.“, sagt sie an mich gewandt.

„Wir mögen dich wirklich, also spuck schon aus!“, fordere ich sie auf.

Tanja druckst noch einen Moment rum und ich sehe sie erwartungsvoll an.

„Was läuft zwischen dir und Chris?“, fragt sie dann und jetzt ist sie es die mich interessiert mustert.

Ich kann nichts sagen. Ich habe das Gefühl meine Kinnlade ist auf unserem Holzfußboden aufgeschlagen und bis in den Keller durchgerauscht. Ist es so auffällig? Haben es auch die Anderen bemerkt? Was hat sie mitbekommen? Hat er ihr was erzählt?

Ich spüre wie mir Blut in die Wangen steigt. Verlegen sehe ich zu Flo, um zu erforschen ob sie auch etwas bemerkt hat. Doch sie blickt nur verständnislos zwischen mir und Tanja hin und her.

Meine Füße scheinen mir auf einmal äußerst interessant und ich betrachte sie lange.

„Nichts!?“, frage ich eher als ich antworte.

Tanja bricht in schallendes Gelächter aus und ich kann sie nur ungläubig anschauen. Was soll das denn jetzt? Auch Flo scheint die Situation immer noch nicht verstanden zu haben, denn sie blick genauso verwirrt.

Nur langsam kann sich Tanja von ihrem Lachanfall beruhigen. Sogar eine kleine Träne muss sie sich aus dem Auge wischen, so sehr hat sie gelacht. Nur leider hat keiner von uns zwei mitlachen können.

„Denkst du wirklich nach dieser Reaktion glaube ich dir das? Ich sehe doch wir ihr euch verhaltet. Also wenn da nichts läuft, dann weiß ich auch nicht.“, erklärt sie, breit grinsend.

Ich schaue wieder beschämt zu Boden. Wir reden hier über Chris. Den Bruder von Flo und den Ex-Freund von Tanja. Ich kann doch nicht mit den zweien darüber reden, was ich für ihn fühle. Ich kann mit keinem darüber reden. Marcel fällt aus den bekannten Gründen auch weg und sonst habe ich niemanden, den ich so sehr vertraue. Außer natürlich Chris selbst.

„Was läuft zwischen dir und meinem Bruder?“, schaltet sich nun auch wieder Flo in die Unterhaltung ein. Sie klingt wütend.

Mir steigen Tränen in die Augen. Sie hat mir ihre Gefühle zu Felix anvertraut und ich habe ihr meine verschlossen. Aber er ist doch ihr Bruder.

Hilflos zucke ich mit den Schultern.

„WAS LÄUFT DA?“, schreit sie mich nun an und die ersten Tränen beginnen bei mir zu laufen. Ich habe Flo noch nie so wütend erlebt. Nicht mal, als ich ihr die Geschichte mit Paul und seiner Spukattacke erzählt hab, hat sie so extrem reagiert.

„Flo, es ist wahrscheinlich nicht so ratsam Alex zu drängen. Er ist dein Bruder. Höchst wahrscheinlich hat sie Angst, vor genau dieser Reaktion. Und dann sitzt auch noch seine Ex-Freundin mit auf der Couch. Wir sollten sie nicht unter Druck setzten.“, versucht Tanja Flo zu beschwichtigen.

„Grade weil es mein Bruder ist habe ich ein Recht darauf zu erfahren was zwischen den beiden läuft.“, zischt Flo böse zurück.

Tanja steht auf und hockt sich vor mich auf den Boden, sodass ich sie ansehen muss. Liebevoll streicht sie mir eine Strähne aus dem Gesicht und wischt mir eine Träne von der Wange. Zaghaft lächelt sie mich an und ich kann nicht anders und erwidere es unter Tränen.

„Alex, niemand kann etwas für seine Gefühle. Ich hab euch zwei in letzter Zeit häufiger beobachtet und wenn ich nicht komplett verblendet bin mag er dich auch. Er war lange nicht mehr so glücklich. Am Freitag hat er so gestrahlt, aber irgendwas ist passiert, denn so schlecht wie er diese Woche aussieht hab ich auch lang nicht gesehen.

Was ist passiert?“, fragt sie ruhig und nimmt meine Hände in ihre.

„Wir haben uns geküsst.“, gebe ich leise zu.

Flo erhebt sich wutentbrannt von der Couch und stürmt zur Tür.

„Ich liebe ihn! Ich liebe ihn wirklich.“, rufe ich ihr noch hinterher, aber da fällt auch schon die Haustür zu. Nun breche ich wirklich in Tränen aus. Ich hab alles kaputt gemacht. Chris ist sauer auf mich, Flo ist wütend, mit Marcel lässt sich auch nicht mehr wirklich reden. Innerhalb von einer Woche habe ich die drei wichtigsten Personen in meinem Leben vergrault.

„Es ist in Ordnung. Sie wird sich wieder beruhigen.“, Tanja nimmt mich in die Arme und wiegt mich beruhigend hin und her.

„Willst du mir vielleicht erzählen was noch passiert ist?“, fragt sie nach einer Weile, als ich mich wieder etwas unter Kontrolle habe. Stammelnd und stottern mit tränenerstickter Stimme berichte ich ihr alles was zwischen mir und Chris vorgefallen ist. Es tut gut darüber zu reden und obwohl sie seine Ex-Freundin ist spricht sie mir gut zu.

„Ich versteh dich. Bei der Reaktion von Marcel, hätte ich wahrscheinlich auch so gehandelt. Aber glaub mir er mag dich auch. Du solltest versuchen mit ihm darüber zu reden, ihm deine Ängste anvertrauen.“, flüstert sie, als ich geendet habe.

„Danke. Danke für alles Tanja. Wie kannst du nur so stark sein und mir hier beistehen, obwohl er dein Ex-Freund ist?“, will ich beeindruckt wissen.

„Wir sind doch besser als Freund geeignet als, als Paar. Ich gönne ihm wirklich, dass er glücklich wird und wenn es mit dir ist umso mehr.“, gibt sie freudig wider.

Wir reden noch lange über Gott und die Welt, aber hauptsächlich über Chris.

 

Nun ist die Clique vollends zerbrochen. Nur noch Marcel und Chris hängen zusammen ab. Flo redet seit dem Abend kein Wort mehr mit mir. Seit drei Wochen kein einziges Wort. Tanja versucht alles um uns wieder zusammen zu bringen. Sie ist die Einzige die Kontakt zu allen hat. Sie ist auch die Einzige die etwas mit mir unternimmt, wenn sie mich überredet bekommt.

Wenn ich dachte mein Leben war vorher trist und langweilig, dann weiß ich es jetzt besser. Alles kommt mir vor wie eine graue Einheitsmasse. Keine Freunde. Kein Spaß. Kein Leben. Ich fühle mich als Zuschauer in meinem Leben. Ich kann nicht eingreifen und etwas verändern, bin zum Zusehen verdammt.

Ein gutes hat die Situation. Meine Noten haben sich verbessert. Da ich nichts zu tun habe beschäftige ich mich halt notgedrungen mit Hausaufgaben und Schularbeiten.

Unsere Eltern haben die Veränderung bemerkt, haben sogar mit uns darüber geredet. Aber sie sagen, wir sind alt genug um unsere Probleme selber zu lösen.

Meine Mutter hat mich in meiner schlechten Laune nun endlich überzeugt, mein eigenes Konto zu bekommen. Ich soll lernen mit Geld umzugehen. Bisher habe ich mein Taschengeld immer bar bekommen und bin auch gut damit ausgekommen. Aber sie ist der Meinung dies ist der nächste Schritt zum eigenständigen Leben. Marcel hat schon seit er 16 ist ein eigenes Konto, da er ab und zu jobben geht. Also habe ich mich breitschlagen lassen und gehe morgen mit meiner Mutter zur Sparkasse um ein Konto zu eröffnen.

Heute ist Freitag und ich hatte schon Mittag Schulschluss, da 2 Stunden ausgefallen sind. Ich mache mir grade einen kleinen Salat zu Essen, als es an der Tür klingelt.

Erwartungsvoll öffne ich die Tür, doch mein leichtes Lächeln erstirbt sofort als ich Chris vor der Tür stehen sehe.

„Ist Marcel da?“, fragt er unterkühlt.

Ich schüttle perplex den Kopf. Seit Wochen hat er nicht mehr mit mir geredet.

„Er ist mit unserem Vater übers Wochenende zum Angeln gefahren. Hat er dir das nicht erzählt?“, stottere ich vor mich hin.

„Augenscheinlich nicht. Sonst wär ich nicht hier.“, entgegnet er sauer.

Ich hatte viel Zeit die letzten Wochen um nachzudenken und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass er keinen Grund hat auf mich sauer zu sein. Wenn er nur ein bisschen Grips in seinem schönen Kopf hätte, könnte er sich doch denken warum ich nicht mit ihm zusammen sein kann.

Seine Distanziertheit und Abwehr mir gegenüber macht mich wütend. Die ganze unterdrückte Wut der letzten Wochen steigt nun in mir auf und verlangt Gehör.

„Was ist dein Problem? Glaubst du wirklich ich stelle mich gegen meinen Bruder? Glaubst du wirklich ich kann mich zwischen dir und ihm entscheiden? Du hast gesehen wie er bei Flo und Felix reagiert hat und da soll ich nur weil ich dich liebe ihm auch noch den anderen besten Freund nehmen? Und Flo, als ich gezwungenermaßen an unserem Mädelsabend erzählt habe, dass wir uns geküsst haben, hat sie wutentbrannt das Haus verlassen und spricht seitdem kein Wort mehr mit mir. Mein Leben ist echt scheiße in letzter Zeit und du machst es nicht besser.“, mache ich laut meiner Wut Luft.

Ein kleines Grinsen zuckt in seinen Mundwinkeln und diese Reaktion macht mich noch wütender. Warum grinst er jetzt? Macht er sich über mich lustig?

„Du bist wunderschön, wenn du wütend bist.“, flüstert er und mit einen Mal ist meine ganze Wut verraucht.

„Was?“, frage ich verdutzt.

Doch er antwortet mir nicht. Er tritt bestimmt auf mich zu und ich mache unwillkürlich Schritte rückwärts. Er schließt die Tür, als er hindurch getreten ist und bewegt sich dann immer weiter auf mich zu. Ich kann meinen Blick nicht von ihm abwenden, bin in seinen Augen versunken, weiche aber dennoch immer weiter zurück. Doch dann spüre ich die Wand im Rücken und mit zwei großen Schritten steht er vor mir. Er stützt seine Arme neben meinem Kopf ab, sodass ich keine Fluchtmöglichkeit habe. Aber ich will eigentlich gar nicht flüchten. Zu sehr hat mich seine Nähe schon wieder in den Bann gezogen. Langsam nährt sich sein Gesicht dem meinen. Immer noch halten wir den Augenkontakt. Ganz zart berühren seine Lippen meine. Sie streichen nur sanft darüber, nur ein Hauch von einer Berührung, aber in mir explodiert ein Feuerwerk.

Hastig schlinge ich meine Arme um seinen Nacken und ziehe ihn fester an mich. Der Kuss wird stürmischer, leidenschaftlicher und begieriger. Ich weiß, dass es falsch ist was wir tun, aber ich brauche ihn. Nur ihn. Jetzt.

Seine Arme wandern zu meiner Hüfte und heben mich leicht an. Ich nehme die Einladung an und umschling ihn mit meinen Beinen. Vorsichtig bewegt er uns Richtung Wohnzimmer. Doch mit den letzten Funken Verstand der noch übrig ist lenke ich ihn in mein Zimmer. Denn irgendwann wird meine Mutter kommen und diesen Anblick möchte ich ihr ersparen.

Behutsam trägt er mich die Treppe hinauf und unsere Lippen verlieren zu keinem Zeitpunkt den Kontakt.

In meinem Zimmer stellt er mich wieder ab und löst unsern Kuss.

„Bis du dir wirklich sicher?“, fragt er unsicher und ich kann nur nicken. Ich will ihn, egal was dann ist. Ich will, dass er mit mir schläft, was danach ist kann ich mir später immer noch überlegen.

Bedächtig ziehe ich mich vor ihm aus und bemerke mit einem Lächeln seine Reaktion auf meinen nackten Körper. Mit einem großen Schritt tritt er wieder an mich heran und küsst meine Halsbeuge. Er küsst sich bis zu meinem Ohr hinauf und erzeugt bei mir eine Gänsehaut.

„Du ist unbeschreiblich schön.“, raunt er mir ins Ohr und ich beiße mir auf die Unterlippe um ein Stöhne zu unterdrücken. Allein seine Stimme löst bei mir so viele Gefühle aus, dass ich mich ihm hingeben muss.

Auf dem Weg zum Bett entledigt auch Chris sich seiner Sachen.

Wir erforschen unaufhörlich den Körper des Anderen mit unseren Händen und Lippen.

Ich küsse mich von seiner Brust hinab zu seinem durchtrainierten Bauch. Danach folge ich dem kleinen Haarsaum bis zu seinem Penis. Meine Zärtlichkeiten haben schon ihre Wirkung gezeigt und ich umschließe sein steifes Glied sanft mit den Lippen. Er tiefes Stöhnen entfährt ihm. Ich ziehe ihm behutsam ein Kondom über und küsse mich wieder hinauf. Doch er scheint andere Pläne zu haben und wirft mich mit einem Ruck auf den Rücken. Ein erschrockener Laut platzt mir heraus, aber ich kann mich nicht lange darauf konzentrieren, denn nun ist er es der meinen Intimbereich mit küssen bedeckt. Er leckt begierig meine Schamlippen und ich vergrabe meine Hände in seinen Haaren. Immer mehr kurbelt er so meine Lust an und schon bald kann ich einfach nicht mehr warten. Ich zergehe unter seinen Liebkosungen. Ich ziehe ihn zum mir hoch und küsse ihn verlangend. Dann greife ich zwischen uns, umfasse sein Glied und führe es mir ein.

Beide stöhnen wir lustvoll auf und er gibt einen langsamen Takt vor. Erwartungsvoll bäume ich mich ihm entgegen, ich will ihn spüren. Im Einklang steigern wir schnell das Tempo und schon wenig später habe ich meinen Höhepunkt erreicht, doch Chris treibt mich weiter. Erst als ich schon Sterne vor den Augen sehe, sinkt er schnaufend neben mich.

„Ich liebe dich“, keucht er atemlos.

Ich bin überwältigt von diesem Geständnis, von seiner Offenheit, von seinen Gefühlen. Sofort schießen mir die Tränen in die Augen, weil ich weiß, mehr als diesen angebrochenen Tag und diese Nacht wird es für uns nicht geben.

„Ich liebe dich auch, aber ich kann Marcel nicht verraten. Mehr als diese Nacht wirst du von mir nicht bekommen.“, schniefe ich und die ersten Tränen bahnen sich ihren salzigen Weg.

Er dreht sich zu mir, nimmt mein Gesicht in seine großen Hände und schenkt mir mit seinem Blick so viel Liebe, dass es mir das Herz zerreißt.

„Auch wenn es meine letzte Nacht wäre, ich würde sie mit dir verbringen wollen. Ich werde nie mehr von dir erwarten, ich werde diese Nacht genießen und sie mir immer wieder in Erinnerung rufen, so lang bis wir endlich zusammen sein können.

Ich werde mit Marcel reden. Wenn es bei Felix wirklich nur daran gelegen hat, dass er nicht ehrlich zu ihm war, dann wird er uns verstehen.“, sagt er ernst.

„Aber wir haben ihn doch schon hintergangen. Allein das du hier bist ist Verrat an ihm. Und was ist mit Flo?“, frage ich verzweifelt. Meine ganzen Gefühle, die ich die letzten Wochen nicht herauslassen konnte überrennen mich jetzt. Ich bin verzweifelt, wütend, traurig, aber auch glücklich. In meinem Kopf herrscht das absolute Chaos. Gedanken überschlagen sich. Die schlimmsten Szenerien bauen sich in meinem Kopf auf und lassen nur einen Schluss zu. Chris darf nicht mit Marcel reden. Diese Nacht wird unsere erste und einzige bleiben. Er wird irgendwann jemanden anderen finden und ich auch.

Er sagt nichts mehr, versucht mich nur hilflos zu beruhigen. Nur langsam kann ich meinen Heulkrampf beenden. Ich muss diese eine Nacht mit ihm genießen, rede ich mir gut zu.

Als ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle habe, beginne ich ihn zart zu küssen. Vom Mund über den Hals bis hin zu seinem Ohr. Lustvoll knabbere ich an seinem Ohrläppchen.

„Denkst du wirklich das ist eine gute Idee? Wir können auch nur reden.“, versucht er mich zurück zu halten, doch ich überhöre seine Zweifel einfach.

Begierig greife ich nach seinem besten Stück, reibe mit meiner Hand daran auf und ab. Währenddessen nehme ich gierig seinen Mund ich beschlag, dass er keine weiteren Äußerungen tätigen kann.

Mit einen lauten Stöhnen lasse ich mich auf seine Erregung fallen und gebe einen harten, unnachgiebigen Rhythmus vor.

Die ganze Nacht lieben wir uns, mal liebevoll und zärtlich, mal hart und ungestüm.

„Du solltest jetzt besser gehen. Meine Mutter sollte nicht mitbekommen, dass du hier warst.“, sage ich gegen 5Uhr morgens und schon laufen mir wieder die Tränen über die Wange.

„Du hast wahrscheinlich Recht.“, gibt er wieder und fügt leise hinzu, eher zu sich selbst als zu mir, „Ich werde alles tun, dass dies nicht unsere einzige Nacht war.“.

Bedächtig sammelt er seine Kleidung vom Boden auf und zieht sich an. Die ganze Zeit halten wir den Blickkontakt, doch als er zur Tür geht kann ich einfach nicht mehr. Ich schmeiße meinen Kopf in mein Kissen und beginne haltlos zu weinen.

Er kommt nicht nochmal zurück, ich höre nur die Tür hinter ihm leise ins Schloss fallen, dann bin ich wieder allein.

Ich muss eingeschlafen sein, denn als ein lautes Klopfen an meiner Tür ertönt schrecke ich verstört hoch und stoße mich mal wieder an der Schräge über meinem Bett.

„Aufstehen. Die Sonne lacht und wir haben was vor.“, tönt die viel zu fröhliche Stimme meiner Mutter aus dem Flur. Ich brumme unverständlich vor mich hin, schlurfe aber ins Bad.

Als ich den Spiegel sehe, kann ich nicht glauben, dass ich das bin. Aber ich sehe nicht mal halb so schlecht aus wie ich mich fühle. Ich bin übernächtigt, blass, hab rote blutunterlaufene Augen, meine Gedanken und Gefühle fahren Achterbahn und mein Kopf pocht unangenehm. Ich bin mir nicht sicher ob es von meiner Begegnung mit der Wand ist, oder ob ich einfach dehydriert bin durch zu vieles Weinen. Ich versuche mich einigermaßen herzurichten, denn meine Mutter meint, bei Banken muss man einen guten Eindruck hinterlassen. So ziehe ich auch eine schwarze Stoffhose, eine Bluse und High Heels an.

Wiederwillig fahre ich mit meiner Mutter in die Innenstadt. Sie hat schnell gemerkt, dass mit mir heute nicht gut Kirschenessen ist und aufgegeben mich aufzuheitern.

Sie stellt das Auto auf einem großen Parkplatz ab, da man in die Fußgängerzone damit nicht weiter kommt.

Lustlos stapfe ich hinter ihr her, versunken in meinem Gefühls- und Gedankenchaos. Doch plötzlich werde ich in die harte Realität zurück gerissen, als mich eine mir nur zu gut bekannt Stimme anspricht.

„Alexandra, was für ein Zufall.“, begrüßt mich Paul zuckersüß und baut sich vor mir auf. Sofort kocht Wut in mir hoch. Was will er den noch von mir? Reicht ihm seine Barbie, die er an sich presst denn nicht?

„Was willst du?“, press ich heraus.

„Ich wollt nur wissen wie es dir geht. Du siehst nicht besonders gut aus muss ich sagen. Mir geht es auf jeden Fall blendend.“, schlabbert er drauf los, ohne Punkt und Komma.

„Aha.“, schnaube ich nur und dränge mich an ihm vorbei. Als ich mich nochmal zu ihm umdrehe, winkt er mir überheblich zu und ich zeige ihm meinen schönsten Finger. Also heute ist meine Laune echt auf dem Tiefpunkt.

Seit einer halben Stunde höre ich mir nun das Gelaber der Bankangestellten an. Ständig versucht sie mir neue Bausparverträge, Riesterrenten oder Super-Spar-Angebote anzudrehen.

Meine Mutter findet alles äußerst interessant und lässt sich alles haargenau erklären. Zum wiederholten Male verdrehe ich genervt die Augen, als alles ganz schnell geht.

Ein maskierter, bewaffneter Mann stürmt das separate Büro in dem wir uns befinden und weist uns an, uns im großen Empfangsbereich zu den anderen Menschen auf den Boden zu legen. Gehorsam kommen wir seiner Anweisung nach und liegen schon Sekunden später neben wenigen weiteren Bankangestellten und Kunden in offenen Schalterbereich.

Der Maskierte lässt sich grade von einer verängstigten Angestellten eine Sporttasche mit Bargeld füllen, als mir meine Situation vollends bewusst wird und ich laut los lache.

„Schlimmer kann mein Tag gar nicht mehr werden!“, bricht es aus mir heraus und ich weiß überhaupt nicht warum ich mich grade so verhalte.

Wütend schnapp der Mann seine gut gefüllte Tasche und tritt auf mich zu.

„Du findest das also witzig?“, fragt er mich mit vorgehaltener Waffe und abrupt höre ich auf zu lachen. Aber nicht, weil mir die Waffe oder er Angst macht, eher liegt es an seiner Stimme. Sie hat etwas an sich, dass ich nicht beschreiben kann, was mich aber wahnsinnig reizt.

„Was ist denn nun so witzig?“, reißt er mich aus meinen wirren Gedanken.

„Das ist einfach nur der beschissenste Tag in meinem Leben.“, gebe ich lapidar zurück. Irgendwie mag ich diese Unterhaltung. Sie ist noch das Beste was mir heute passiert ist.

„Ich kann ihn dir noch beschissener machen. Du kommst mit!“, befiehlt er mit rauer Stimme. Meine Mutter schluchzt neben mir auf und will mich festhalten, aber ich mache mich los und stehe langsam auf. Ich stehe ihm direkt gegenüber, seltsamer weise habe ich keine Angst, nur ein komische Gefühl, aber kein negatives.

Er greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her. Seine Hand ist groß, grob und rau. Auf irgendeine bizarre Weise fühle ich mich von ihm angezogen. Ist es, weil endlich etwas Aufregendes in meinem Leben passiert? Ist es seine Stimme?

Er rennt so schnell, das ich ihm kaum folgen kann, schon gar nicht in diesen Schuhen. Er flüchtet mit mir durch den Hintereingang und ich wundere ich nicht einmal, dass keine Polizei da ist. Immer weiter zieht er mich durch enge Gassen, bis ich mit meinen Pfennigabsätzen in einer Spalte hängen bleibe und umknicke. Ein heftiger Schmerz durchzieht, ausgehend von meinem Fuß, meinen ganzen Körper. Doch er zieht mich unaufhaltsam weiter. Plötzlich fallen Schüsse. Ohrenbetäubend schlagen Kugeln in dem Mauerwerk neben mir ein. Dann ein Schmerz in meiner Schulter, doch ich kann nicht darauf achten. Der maskierte schubst mich in ein Auto und rast davon. Ich liege auf dem Rücksitz, weiß nicht welcher Schmerz überwiegt. Mein Fuß pocht und fühlt sich an, als ob er nicht mehr zu mir gehört. Von meiner Schulter läuft eine warme Flüssigkeit meinen Arm hinab. Blut, mein letzter Gedanke, dann wird es schwarz um mich.

 

„Au!“, ist das erst was ich widergeben kann als ich wieder zu Bewusstsein komme. Denn mein ganzer Körper schmerzt. Besonders mein linker Fuß und meine rechte Schulter. Was ist passiert? Wo bin ich?

Es dauert eine ganze Weile, ehe ich mich an den Überfall und den Rest des Tages erinnern kann. Ich wurde entführt. Doch immer noch verspüre ich keine Angst.

Neugierig schaue ich mich um. Es ist dunkel nur wenig Licht scheint durch das kleine Fenster. Alles um mich ist aus Holz. Wände, Möbel. Ich liege in einem schmalen Bett mitten im Raum. Mir gegen über ein großer Schrank. Außerdem befinden sich in dem kleinen Zimmer ein Nachtisch und eine Kommode.

Ich muss außerdem feststellen, dass ich augenscheinlich ausgezogen wurde. Von meinen eigentlichen Sachen trage ich nur noch meine Unterwäsche. Darüber habe ich nur ein viel zu großes Shirt, mit einem Bandaufdruck.

Durch den Spalt in der angelehnten Tür fällt ein Lichtstrahl, ein Schatten huscht vorbei. Kurze Zeit später kommt er wieder und bleibt in der Tür stehen. Ich kann nur schwarze Umrisse erkennen. Eine große, gut gebaute Statur. Eindeutig ein Mann. Er hält etwas in der Hand.

„Na Dornröschen! Aufgewacht?“, fragt mich eine tiefe raue Stimme. Woher kenn ich sie nur? Aus der Bank! Er ist der Maskierte. Diese Stimme geht mir durch Mark und Bein. Sie erregt mich auf eine fremde Art und Weise.

Er tritt an das Bett heran und ich richte mich etwas auf. Als er bei mir angekommen ist, schaltet er die kleine Lampe auf dem Nachtisch ein und stellt das Tablett, dass er in der Hand hatte ab.

Er ist unmaskiert. Ein markantes, sehr männliches Gesicht mustert mich. Am Kinn hat er eine größere Narbe, die sogar durch den dunklen Drei-Tage-Bart zu sehen ist. Seine halblangen schwarz wirkenden Haare fallen ihm wirr ins Gesicht. Seine Augen stechen durch das halbdunkel im Zimmer. Sie sind wie zwei grüne Lichter, die mir entgegen scheinen.

„Hast du Schmerzen?“, will er gelassen wissen und ich wende verlegen meinen Blick von ihm ab. Was soll das? Warum verhalte ich mich so? Wieso hab ich keine Angst vor ihm?

„Ja.“, gebe ich etwas verwirrt zurück.

„Dein Knöchel scheint nicht gebrochen zu sein. Ich habe ihn gekühlt und bandagiert. Deine Schuler hat einen Streifschuss abbekommen. Auch den hab ich versorgt.“, erklärt er mir, während er mir ein Glas Wasser und zwei Tabletten reicht. Verhält sich so ein Entführer? Bin ich nicht seine Geisel?

Er bringt mich total durcheinander. Meine Gefühle fahren Karussell. Er sieht wahnsinnig gut aus, seine Stimme erzeugt an sich schon fast einen Orgasmus bei mir. Mein ganzer Körper schreit nach Sex, aber da ist kein Kribbeln, wie bei Chris. Nur Begierde.

„Was soll das Ganze?“, frage ich etwas gereizt, weil mich meine Gefühle komplett verstören.

„Was soll was?“, antwortet er gleichgültig mit einer Gegenfrage.

„Das Alles. Der Überfall. Die Entführung. Dieser Ort.“, bohre ich zickig nach. Seine Art bringt mich auf die Palme. Wie kann man nur kalt sein? So ausdruckslos?

„Das erkläre ich dir sicher nicht. Außerdem hab ich dich nicht entführt, du hast mich ja quasi angefleht dich mitzunehmen. Dieser Ort, ist eine Hütte im Wald. Du kannst jederzeit gern gehen. Du bist keine Geisel, du hast mich einfach wütend gemacht.“, sagt er mit aufsteigender Wut in der Stimme.

„Haha“, lache ich trocken, „Wie soll ich bitte gehen?“, will ich zynisch wissen. Er antwortet nicht, er sieht mich nur an. Ich sehe in seinen Augen, wie sich der leichte Anflug von Wut wieder in Ausdruckslosigkeit wandelt.

Er wendet sich ab und geht Richtung Tür. Doch bevor er hinausgeht dreht er sich nochmal um.

„Falls du Hunger hast.“, sagt er mit einer Geste zum Nachtisch, auf dem das Tablett steht. Erst jetzt bemerke ich, dass sich ein Teller mit einem Sandwich darauf befindet. Als ich meinen Blick wieder zur Tür wende, ist er weg. Er hat diese, wieder einen Spalt offen gelassen.

Ich habe nicht wirklich Hunger und so lasse ich das Sandwich liegen.

Ich bin nicht seine Geisel. Aber was soll ich dann hier? Warum hat er mich mitgenommen? Wenn ich nicht seine Geisel bin, hätte er mich doch auch irgendwo liegen lassen können. Sich nicht um mich kümmern müssen. Dass macht doch sowie so kein normaler Entführer, oder? Die Wunden seiner Geisel behandeln, ihr Tabletten gegen die Schmerzen geben, ihr Essen machen.

Die Tabletten hauen richtig rein und schon kurze Zeit später, schlafe ich wieder ein.

Ein dringendes Bedürfnis weckt mich am nächsten Morgen. Morgen? Ich weiß es nicht, ich habe kein Zeitgefühl mehr.

Vorsichtig, aber mit großem innerlichem Druck, setzte ich mich auf. Als ich meinen Fuß aufsetzte, durchzuckt mich sofort ein höllischer Schmerz und ich muss kräftig die Zähne zusammen beißen, dass ich nicht laut los schreie.

Das Aufstehen stellt sich als sehr schwierig heraus, da ich meinen linken Fuß nicht belasten, mich aber auch nicht mit dem rechten Arm aufstützen, kann.

Langsam hangle ich mich entlang der Wand zur Tür, sie knarrt leise als ich sie aufschiebe. Nun befinde ich mich in einem großen Wohnraum. Leicht panisch blicke ich mich nach einer weiteren Tür um, die mich hoffentlich ins Badezimmer führt. Erst wo ich einen Schritt aus dem Zimmer, in dem Ich geschlafen habe, herausgetreten bin, sehe ich eine Tür. Humpelnd bewege ich mich auf sie zu und zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass es das erhoffte Badezimmer ist.

Ich betrete es und lasse mich erlöst auf den Toilettensitz fallen.

Erschrocken schaue ich mich um als ich ein leises Stöhnen höre. Ich horche in die Stille, doch nichts. Ich versinke schon wieder in meinen Tagträumen, als jemand erneut stöhnt. Wer ist das? Warum stöhnt derjenige? Wieder ein Stöhnen, es geht in ein leises Wimmern über und dann ist es still.

Leise schleiche ich zurück in den Wohnraum, um herauszubekommen, woher dieses Geräusch kommt. Nun schaue ich mich wirklich bewusst in diesem Raum um. Er ist erstaunlich groß für eine einfache Waldhütte. In einer Ecke erkenne ich eine kleine Küche. Dominiert wird der Raum durch ein großes Sofa und den dahinter stehenden Esstisch. Gegenüber der Couch befindet sich ein kleines Sideboard mit einem Fernseher.

Wieder dieses Stöhnen. Ich drehe mich in die Richtung des Geräuschs und entdecke, dass gleiche kleine Bett in dem ich geschlafen habe an der Wand neben der vermutlichen Eingangstür. Jemand liegt darin.

Ich trete näher heran und erkenne den Mann, der mich hierher gebracht haben muss. Wobei, Mann etwas übertrieben ist, wie ich jetzt feststelle. Sein Gesicht ist zwar sehr markant männlich, aber viel älter als 20 Jahre schätze ich ihn nicht.

Er hat die Augen fest aufeinander gepresst, schläft aber nicht. Große Schweißperlen tropfen von seiner Stirn, auf das schon vollkommen verschwitzte Kissen. Er zittert. Offensichtlich geht es ihm sehr schlecht.

Ich schließe nun auch die letzte Lücke zwischen mir und dem Bett und setzte mich unbeholfen auf die Bettkante. Die Erschütterung, die ich auslöse, entlockt ihm ein lautes Stöhnen.

Ich befühle zaghaft seine Stirn. Er glüht förmlich und der Schweiß der darauf steht, ist eiskalt.

Was ist mit ihm passiert? Ein leichter Anflug von Angst breitet sich in mir aus, denn er braucht deutlich ärztliche Hilfe und ich hab keine Ahnung wo ich hier bin und wo sich die nächste Stadt befindet.

„Was soll ich jetzt nur tun?“, frage ich in die Still hinein, die wieder eingetreten ist. Ich kann ihn doch nicht einfach sterben lassen, auch wenn er ein Bankräuber ist und mich verschleppt hat.

„Kugel… Arm… entfernen.“, kommt es stoßweise, durch zusammen gepresste Zähne von ihm.

„Was?“, frage ich entgeistert und will aufspringen, aber mein Fuß hindert mich daran. Was hat er grad gesagt? Er hat eine Kugel im Arm? Und ich soll sie entfernen? Dass kann ich nicht! Ich hab keinerlei medizinische Kenntnisse. Ich nicht mal Blut sehen. Allein der Gedanke daran, lässt Übelkeit in mir aufsteigen.

„Bitte… es… muss… sein. Bitte!“, bittet er mich schwer atmend.

„Schmerztabletten… im… Bad,… auch… Verbands… zeug.“, presst er weiter hervor.

Ich bin überfordert und ringe verzweifelt mit mir selbst, was ich tun soll. Wenn ich ihm nicht helfe stirbt er höchstwahrscheinlich. Ich kann einen Menschen nicht einfach sterben lassen, schon gar nicht ihn. Der meine Wunden ebenfalls versorgt hat, der so eigenartige Gefühle in mir auslöst.

Vorsichtig stehe wieder auf und gehe ins Bad. Ich finde alles, was ich denke zu benötigen, aber immer noch bin ich mir nicht sicher ob ich das schaffe.

Ich würde gern mit ihm darüber reden, wie ich vorzugehen habe, was ich zu beachten habe, aber in seinem Zustand ist das unmöglich. Ich beschließe ihm erst einmal 2 Schmerztabletten zu geben, vielleicht kann ich dann in einer halben Stunde mit ihm reden. Er hat mir gestern auch zwei Tabletten gegeben, aber ich hoffe, dass sie bei seinem Körpergewicht nicht so sehr reinhauen, wie bei mir.

Die Verbandsmaterialien lege ich auf dem Esstisch ab, um in der kleinen Küche ein Glas Wasser zu holen.

Noch an der Spüle stehend, genehmige ich mir auch eine Tablette, da die Schmerzen drohen mich zu lähmen. Dann humple ich wieder zu ihm ans Bett.

Ich setzte mich nicht, um seine Schmerzen nicht zu vergrößern. Er öffnet blinzelnd seine Augen als ich ihm über die Wange streiche.

„Ich habe hier 2 Tabletten für dich. Ich hoffe sie helfen etwas. Ich muss erst mit dir darüber sprechen, ich kann dir nicht so einfach eine Kugel aus dem Arm holen.“, flüstere ich, weil mir die Angst die Kehle zuschnürt. Angst einen Menschen sterben zu sehen, ohne ihm helfen zu können.

Er nickt leicht und ich atme etwas erleichtert aus, dass er mich versteht.

Nachdem ich ihn die Tabletten in den Mund gelegt habe, hebe ich seinen Kopf an und setzte ihm das Glas an die Lippen. Unter großen Schmerzen trinkt er ein paar Schlucke und fällt dann zurück in seine Kissen.

Er scheint etwas entspannter, als noch vor wenigen Minuten. Trotzdem messe ich seine Temperatur, mit dem Thermometer, welches ich ebenfalls im Bad gefunden habe. Gott sei Dank ist es eines für das Ohr, sodass ich ihn nicht weiter berühren und befürchten muss seine Schmerzen zu steigern. 40,2°C. Scheiße!

Ich mahne mich zur Ruhe, aber ich bin aufgewühlt. Hektisch laufe ich in der Hütte hin und her und überlege, was ich noch gebrauchen könnte. Ich suche in dem Schrank, im kleinen Zimmer, nach frischen Sachen für ihn und auch nach neuer Bettwäsche, da alles komplett verschwitzt ist. Ich finde einige T-Shirts, Boxershorts und auch Bettwäsche.

Im Bad mache ich eine Schüssel bereit, dass er sich eventuell etwas waschen kann, wenn er dazu in der Lage ist.

Die Schüssel und die Verbandssachen sortiere ich auf den Couchtisch, da ich versuchen werde ihn auf das Sofa zu setzten, um zum einen das Bett frisch zu beziehen und zum anderen dort, wenn er vor mir sitzt besser an seinen Arm komme.

Immer wieder laufe ich im Wohnraum auf und ab und frage mich wie ich das schaffen soll. Ich achte gar nicht auf meinen Fuß, gehe unablässig hin und her und versuche meine Gedanken zu ordnen und zu strukturieren.

Irgendwann gebe ich resigniert auf. Ich schaffe es einfach nicht Struktur in das heillose Chaos in meinen Kopf zu bringen. Das immer wieder Chris und er vor meinem inneren Auge auftauchen, tut sein übriges dazu.

Es ist an der Zeit ihn zu wecken und zu versuchen ein vernünftiges Gespräch mit ihm zu führen.

Wieder setzte ich mich ungeschickt auf die Bettkante, aber seine Augen bleiben geschlossen und seine Atmung regelmäßig. Einen kurzen Moment betrachte ich seine ausgeprägten Gesichtszüge.

Erst in diesem ruhigen Augenblick bemerke ich, wie sehr mein Fuß pulsiert. Die Schmerztablette scheint noch zu wirken, da der Schmerz sich wirklich in Grenzen hält, aber dieses unangenehme Pulsieren erscheint mir kein gutes Zeichen zu sein.

„Hey.“, versuche ich ihn vorsichtig zu wecken, doch er reagiert nicht. Ich packe ihn behutsam an der Schulter, vermutlich die in dessen Arm die Kugel steckt, dann er reißt panisch die Augen auf und zieht scharf Luft ein um einen Schrei zu unterdrücken.

„Entschuldige, dass wollte ich wirklich nicht.“, gebe ich betreten zu.

„Schon gut.“, sagt er leise, aber deutlich fester, als vorhin noch.

„Können wir reden?“, frage ich zaghaft, nicht wissend ob er sich noch an unser kurzes Gespräch von heute Morgen erinnern kann. Doch er nickt und versucht sich aufzusetzen.

Ich helfe ihm und stütze ihm bis zur Couch, was meine Schmerzen wieder aktiviert. In meinem Fuß kann ich jeden meiner schnellen Herzschläge spüren und auch meine Schulter beginnt wieder ihren brennenden Schmerz in meinen Körper zu verteilen.

Ich setzte ihn achtsam auf dem Sofa ab.

„Denkst du, du schaffst es dich etwas zu waschen?“, frage ich ihn und lege die frischen Sachen neben ihn.

„Ja. Danke, dass du das für mich machst.“, gibt er etwas heiser zurück. Ich antworte darauf nicht, weil ich mit größter Mühe meinen Schmerz zu unterdrücken versuche. Um ihm nicht mein schmerzverzerrtes Gesicht preiszugeben, wende ich mich mit der neuen Bettwäsche um und beginne die verschwitzte Wäsche abzuziehen.

„Könnten wir uns kurz vorstellen? In meinen Gedanken nenne ich dich den Bankräuber oder der Maskierte.“, versuche ich ein Gespräch zu beginnen und über meine Unzulänglichkeiten hinwegzutäuschen.

„Jan.“, kommt von ihm und das Wasserplätschern bestätigt mir, dass begonnen hat sich zu waschen.

„Alex.“, stelle auch ich mich kurz vor. Dann entsteht wieder ein unangenehmes Schweigen, ich weiß nicht wie ich ihm klarmachen soll, dass ich das was er von mir verlangt nicht kann.

„Hast du ein Handy? Dann könnten wir einen Krangenwagen rufen.“, frage ich unentschlossen.

„Nein, kein Arzt. Die stecken mich doch sofort in den Bau.“, sagt er und zieht dann scharf Luft ein. Ich drehe mich um, um zu sehen was los ist. Er zieht grade sein Shirt über den Kopf und ein blutgedrängter Verband an seinem linken Arm kommt zum Vorschein.

„Ich bitte dich. Ich kann nicht ins Gefängnis. Bitte, Alex.“, fleht er mich förmlich an, ich überlege nicht lange und nickt ergeben.

„Was muss ich machen?“, will ich wissen, als ich die letzten Handgriffe am Bett vornehme.

„Sie steckt noch drin und hat sich offensichtlich entzündet. Du musst sie rausholen und versuchen die Wunde von allem Eiter zu befreien. Das heißt du musst sie solang ausdrücken, bis kein Eiter mehr kommt.“, erklärt er mir und zieht sich die frische Boxershorts im Sitzen hoch. Wieder steigt Übelkeit in mir auf.

Ich hole den Plastikpapierkorb unter dem Esstisch hervor, um die Verbandsabfälle entsorgen zu können und um etwas zu haben, falls ich mich wirklich übergeben muss.

„Brauchst du etwas zur Beruhigung? Schmerztabletten? Und hast du Antibiotika da?“, frage ich nachdem ich mich neben ihn auf die Couch gesetzt habe. Das T-Shirt, welches er grade überziehen will nehme ich ihm aus der Hand, da es bei der Entfernung der Kugel vermutlich stören würde. Ich lege es hinter mich und kann währenddessen nicht meinen Blick von seinem Körper lösen. Ich dachte Chris und Marcel seinen durchtrainiert, aber Jan beweist mir, dass sie gegen ihn kleine Milchbubis sind.

„Antibiotika müssten auch im Bad sein. Die Schmerztabletten von vorhin wirken noch, aber ich hätte gern einen Schnaps. In der Küche, im unteren Schrank, steht Wodka.“, äußert er und ich schaue ihn fragend an. Alkohol in seiner Situation? Aber schlimmer kann es ja nicht werden.

Abrupt stehe ich auf und muss mich sofort wieder zurück fallen lassen.

„Scheiße!“, stoße ich hervor und halte mit schmerzverzerrtem Gesicht meine Fuß. Alle anderen Schmerzen in meinem Körper scheinen nicht mehr vorhanden, alles konzentriert sich an meinem Fuß. Tränen schießen mir in die Augen und schnell laufen die ersten über meine Wangen.

„Hier.“, Jan hält mir eine Schmerztablette und ein Glas Wasser, was auf dem Tisch stand unter die Nase.

„Nein, ich hatte erst eine und ich kann dir doch nicht zu gepumpt mit Drogen eine Kugel aus dem Arm operieren.“, gebe ich gepresst wieder und stehe erneut auf. Der Schmerz ist so stark, dass mir schwindlig wird, aber ich hangle mich so gut wie möglich an den Möbeln entlang zu Küche.

Rasch finde ich dort eine angebrochene Flasche Wodka und humple den gleichen Weg zurück.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, Schweiß steht mir auf der Stirn und ich zittere, als ich die Antibiotika zwischen den restlichen medizinischen Sachen auf dem Tisch zu finden.

„Bitte beruhige dich etwas, denn wenn deine Hände so weiter zittern bekommst du die Kugel nie aus meinem Arm.“, versucht Jan einen Scherz, aber ihm bleibt genauso wie mir das Lachen im Halse stecken.

Jan setzt die Wodkaflasche an und nimmt einige große Schlucke, während ich mir zurechtlege was ich benötigen könnte. Alle Materiellen, genauso wie meine Hände desinfiziere ich grünglich.

Jan dreht mir den Rücken zu und ich rücke mich so zurecht, dass meine Schmerzen einigermaßen erträglich sind.

Vorsichtig schneide ich den vorhandenen Verband auf und löse ihn von Jans Arm. Ein übler Geruch von Eiter und Fäulnis steigt mir in die Nase und ich muss Würgen, doch noch kann ich die Übelkeit unter Kontrolle halten.

Jan schnappt sich eines der Sofakissen, umklammert es und nimmt einen weiteren großen Schluck Wodka.

Ich betrachte die Wunde genauer. Direkt unter der Schulter, an seinem linken Oberarm, befindet sich ein Loch, welches vor Eiter nur so trieft und sichtlich pulsiert. Der gesamte Oberarm ist rot und geschwollen.

Ich nehme mir die lange, abgerundete Pinzette und einige Mollunterlagen vom Tisch. Ich führe die Pinzette langsam zur Wunde und merke wie sich jeder Muskel in Jans Körper anspannt. Auch meine Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt, kein schmerzender Fuß dringt mehr in mein Bewusstsein hervor.

Mich selbst überwindend schiebe ich die Pinzette in das Loch und sofort tritt Eiter heraus. Jan presst sein Gesicht in das Kissen und ich vernehme einen gedämpften Aufschrei, als ich vorsichtig nach der Kugel suche. Ich greife etwas mit der Pinzette und ziehe es langsam heraus.

Ein blutverschmiertes, zusammengedrücktes Projektil kommt ans Tageslicht. Ich halte einige Mollkompressen auf das Loch und versuche mich zu beruhigen, denn mein Puls rast und mein Blut rauscht mir in den Ohren.

Plötzlich schnappt Jan nach dem Mülleimer und übergibt sich lautstark darin. Erneut Würge auch ich, aber ich kann es unterdrücken in dem ich mir vorstelle bei Chris zu sein. Ich denke an unsere gemeinsame Nacht und das altbekannte Kribbeln durchströmt meinen Körper.

Ich bekomme nicht mit, wann Jan fertig ist. Als ich das hier und jetzt wieder wahrnehme, steht der Eimer wieder auf dem Boden und Jan hält sich schweratmend den Kopf.

Meine Hand presst immer noch die Mollkompressen auf das Loch. Mein Zittern lässt sich nicht mehr unterdrücken.

Ich schmeiße die Kompressen in den Müll und nehme mir neue. Diese halte ich unter die Wunde. Ich setzte zwei Finger neben das Loch und wende meinen Blick ab. Als ich es geschafft habe mich auf etwas anderes zu konzentrieren drücke ich zu. Erst drücke ich zaghaft, dann immer kräftiger. Doch irgendwann muss ich wieder hinschauen. Die Mullkompressen sind voll mit einem Gemisch aus Blut und Eiter, dass gibt meinen Magen den Rest. Nun bin ich es die sich in den Papierkorb übergibt. Jan hält mir mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht und streicht mir bedächtig über den Rücken. Es ist erstaunlich wie viel Mageninhalt man noch hat, nachdem man seit über 24 Stunden nichts mehr gegessen hat.

Ich fühle mich wirklich besser danach und bringe auch die letzten Arbeitsschritte hinter mich.

Als nur noch Wundwasser aus der Wunde tritt, streiche ich etwas Jodsalbe auf eine Kompresse und lege sie auf die Wunde. Danach umschließe ich alles mit einem Verband.

Jan dreht sich wieder um und lässt sich gegen die Lehne fallen. Er ist blass und zittert, genau wie ich am ganzen Körper. Ich reiche ihm 2 Schmerztabletten und das Antibiotika mit dem Glas Wasser. Auch ich nehme mir eine Tablette und hoffe darauf, dass er mir etwas Wasser übrig lässt, da ich nicht weiß ob ich in der Lage bin zur Spüle zu laufen. Er hat mein Warten bemerkt und reicht mir das Glas weiter. Erleichtert nun alles hinter mir zu haben schlucke ich die Tablette.

Schweigend sitzen wir nebeneinander auf der Couch. Immer noch zittere ich am ganzen Körper, doch jetzt wo langsam die Anspannung von mir abfällt steigen mir Tränen in die Augen. Leise laufen sie über meine durch die Aufregung erhitzten Wangen.

„Danke. Aber bitte tu mir ein Gefallen. Nicht weinen.“, bittet mich Jan und zieht mein Kinn so, dass ich ihn ansehen muss. Schweigend, aber unablässig weinend, da ich es einfach nicht stoppen kann, nehme ich das Fieberthermometer vom Couchtisch und stecke es ihm ins Ohr. 39,8°C. Wenigstens ein Fortschritt.

Eine Schwere legt sich auf meinen Körper und ich kann nicht einschätzten, ob sie von den Tabletten kommt oder von den Strapazen dieses medizinischen Eingriffs. Ich versuche auszustehen, doch ich habe einfach keine Kraft mehr in den Gliedern.

„Wir sollten uns etwas ausruhen!“, flüstert er nahe meinem Ohr und zieht mich behutsam mit sich, sodass wir auf dem Sofa liegen.

Schnell fallen mir die Augen zu und ich bemerke in meinem Dämmerzustand gar nicht wie ich mich an ihn schmiege.

 

„Marie!“ krächzt jemand heißer neben mir, oder ist das nur ein Traum? Aber ich kenne niemanden der Marie heißt.

„Ich liebe dich, Marie.“, kommt es nun direkt neben meinem Ohr und ich öffne die Augen.

Ich liege mit Jan auf der Couch, beide halten wir uns fest umschlungen. Unsere Gesichter liegen so eng beieinander, dass sich unsere Nasen beinahe berühren. Er schläft noch, oder ist zu mindestens nicht anwesend. Er wirkt unruhig, gehetzt. Ich spüre sein Fieber an meinem ganzen Körper und wieder steht ihm kalter Schweiß auf der Stirn.

Ich versuche mich von ihm loszumachen, um seine Temperatur zu messen und Tabletten für uns beide Vorzubereiten. Denn meinen Fuß scheint es nicht besser zu gehen, immer noch pulsiert er im Takt meines Herzens.

Doch Jan fasst mich nur fester und brummelt unruhig.

„Bleib bei mir Marie.“, sagt er weinerlich. Wer ist nur diese Marie? Seine Freundin? Warum macht mir dieses Wort im Zusammenhang mit ihm etwas aus?

„Hey, ich bin’s Alex.“, flüstere ich ihm sanft zu und streiche über seine unrasierte Wange.

Er öffnet seine Augen nicht, lockert aber merklich seinen Griff und ich nutzte die Gelegenheit und setzte mich auf.

Sofort durchfährt mich ein unbeschreiblicher Schmerz, als ich meinen Fuß auf den erstaunlich warmen Holzfußboden setzte. Ich blicke besorg hinab auf ihn und mir stockt der Atem. Selbst die Regionen um den Verband sind blau und stark angeschwollen. Der Verband spannt extrem um meine Fessel. Vorsichtig löse ich ihn und mein tiefblauer Knöchel erscheint unter der weißen Bandage.

Ich ziehe scharf Luft ein, als ich mit den Fingerspitzen darüber fahre. Ich hätte nie gedacht, dass einem vor Schmerzen schlecht werden kann. Aber augenscheinlich ist das so, denn mal wieder steigt Übelkeit in mir auf. Ich versuche mich abzulenken, mich rasch auf etwas Anderes zu konzentrieren doch zu spät. Die Übelkeit ist so überwältigend, dass ich grade noch den Papierkorb, der immer noch neben der Couch steht, zu fassen bekomme. Doch im Gegensatz zum letzten Mal verlässt nicht viel meinen Magen und ich würge eher trocken. Was soll auch noch aus mir raus?

Jan scheint von meiner Lautstäre, die ich nicht beeinflussen kann, aufgewacht zu sein, denn er reibt mir beruhigend über den Rücken. Ich spüre wie er zittert, trotz der Wärme die von seiner Hand ausgeht.

Als ich meinen Körper wieder unter Kontrolle habe, zwinge ich mich aufzustehen. Mein linkes Bein droht bei jeder kleine Bewegung unter mir nach zugeben, aber ich schaffe es bis zur Spüle. Ich fülle ein Glas Wasser und humple, mich an allem festhaltend was meinen Weg kreuzt, zurück zum Sofa. Aber ich stelle nur das Glas auf dem Tisch ab und hinke weiter Richtung Bett. Jan braucht eine richtige Decke, bei seinem Fieber muss er warm gehalten werden. Kalt Umschläge sollte ich ihm vielleicht auch machen.

„Was machst du da?“, fragt er besorgt, als ich auf einem Bein stehend versuche das Kissen und die Bettdecke von Bett zu klauben.

„Du musst warm gehalten werden.“, press ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, um nicht beim Öffnen meines Mundes laut los zuschreien vor Schmerz.

„Du hast starke Schmerzen und sorgst dich noch immer um mein Wohl. Komm her ich schau mir deinen Fuß an.“, bestimmt er, doch seine Stimme ist leise und zittert merklich mit seinem Körper.

Wut steigt in mir auf. Vorhin noch habe ich ihm eine Kugel aus dem Arm operiert und jetzt will er über meinen Gesundheitszustand bestimmen. Ihm geht es spürbar schlechter als mir und deshalb ist es an mir mich um ihn zu kümmern und nicht andersrum.

Schnaufend lasse ich das Bettzeug neben ihn fallen. Behutsam setzt er sich auf, aber selbst im Sitzen taumelt er. Jan schließt die Augen und scheint sich etwas zu fangen.

Widerwillig setzte ich mich neben ihn. Seine Bewegungen sind langsam und zittrig, als er nach meinem Knie greift und mein Bein behutsam auf seinen Schoß legt.

Erst jetzt bemerke ich, dass es Abend sein muss, denn es beginnt zu dämmern und in der dunklen Hütte kann ich kaum mehr die Regungen auf Jans Gesicht ausmachen.

Auch ihm scheint es zu dunkel, denn er nimmt eine der zwei Fernbedienungen vom Couchtisch und drückt auf den Knöpfen herum. Schon im nächsten Moment durchflutet helles Licht den Wohnraum und brennt in meinen Augen.

Jan legt sanft seine große Hand auf meinen angeschwollenen Knöchel. Ich beiße mir so stark auf die Zähne, dass ich Angst habe sie könnten unter dem enormen Druck zerbrechen. Auch Tränen schießen mir sofort wieder in die Augen und ich schließe sie gequält.

„Es war gut, dass den Verband abgemacht hast. Du musst ihn unbedingt kühlen und darfst ihn auf keinen Fall belasten.“, erklärt Jan fachmännisch, aber an seiner Stimme erkennt man deutlich seinen eigenes körperliches Befinden.

Als ich meine zusammengekniffenen Augen wieder öffne, sehe ich direkt in seine strahlend grünen Gegenstücke. Er mustert mich eingehend, aber ich kann seinem Blick nicht standhalten.

„Das geht nicht. Ich muss mich um dich kümmern, dir geht es schlechter als mir.“, sage ich, selbst erstaunt von der Stärke meiner Stimme.

„Du brauchst Wadenwickel und etwas zu Essen.“, schiebe ich noch hinterher um ihm etwas Wind aus den Segel zu nehmen.

„Ich kann wenigstens laufen. Also mache ich das.“, kontert er selbstüberzeugt.

„Ich wette du kannst nicht einmal aufstehen.“, fordere ich ihn heraus, weil ich mir sicher bin er überschätzt sich maßlos.

Sogleich geht er darauf ein und versucht sich mit seinem gesunden Arm von der Couch zu stemmen, doch er schafft es kaum seinen Po von dem Polster zu heben ehe er kraftlos zurück sinkt.

Ich gehe nicht weiter darauf ein, da ich sehe wie ihm seine körperlich Unfähigkeit zusetzt.

Nachdem ich mit einem kleinen Schluck Wasser eine Tablette genommen habe, bewege ich mich so gut wie möglich mit der Waschschüssel ins Bad. Ich wechsle das Wasser und fülle eiskaltes hinein. Dazu schnappe ich mir zwei kleine Handtücher und humple zurück. Leider lässt mein Humpeln viel Wasser überschwappen und mehr ist auf dem Boden verteilt als in der Schüssel, als ich sie wieder auf dem Tisch abstelle.

Jan hat in der Zwischenzeit, die von mir bereit gelegten Antibiotika und Schmerztabletten mit dem restlichen Wasser eingenommen.

Ich werfe ihm einen Blick zu und er versteht sofort die Botschaft und legt sich in das große Kissen und deckt sich mit der Bettdecke zu.

Im Stehen wringe ich die Tücher etwas aus und wickle sie dann um seine muskulösen, fiebrig warmen Waden. Bevor ich mich der kleinen Küche zuwende um nach Essbaren zu suchen, stecke ich ihm das Thermometer ins Ohr. 39,9°C! Mist, keine Verbesserung.

In der Küche finde ich in einem Kühlschrank und einem Wirtschaftsschrank ein erstaunlich gutes Warenlager. Da ich immer noch starke Schmerzen habe und wir dringend Kohlenhydrate brauchen, um wieder zu Kräften zu kommen, beschließe ich Nudel zu kochen. Dazu brate ich etwas Schinken und mache eine kleine Sahnesoße. Die kurzen Strecke in der Küche hüpfe ich auf meinem fitten Bein, aber die Erschütterungen gehen durch meinen ganzen Körper und so auch in meinen geschundenen Knöchel, sodass es kaum einen Unterschied macht ob ich ihn aktiv belaste oder ihn passiv beanspruche.

Während das Essen leise vor sich hin kocht versuche ich etwas Ordnung auf dem Tisch zu schaffen, auch unseren ‘Kotzeimer‘ leere ich im Bad aus und mache ihn sauber. Unter meiner ganzen Geschäftigkeit übergehe ich irgendwann einfach die Schmerzen. Nur in kurzen Momenten, wenn ich stehen bleibe dringen sie mit aller Kraft in mein Bewusstsein vor und sind trotz Schmerztablette so stark, dass sie mich fast vollständig lähmen.

Kurz bevor das Essen fertig ist, hole ich ein zweites Glas und fülle eine große Kanne mit Wasser. Außerdem finde ich im kleinen Gefrierfach des Kühlschranks eine Tüte Erbsen, zum kühlen meines Fußes.

Dann serviere ich das Essen auf dem Couchtisch und lasse mich schwerfällig auf das Sofa fallen. Schweiß tropft mir von der Stirn, ich hab gar nicht bemerkt, wie sehr diese kleinen Arbeiten mich angestrengt haben.

Jan schlägt flatternd seine Augen auf und setzt sich wieder schwankend auf. Er studiert ausgiebig den Tisch und entdeckt die Erbsen. Ohne ein Wort zu sagen greift er nach zwei Bandagen von dem Verbandsmaterial, welches ich auf einer kleinen Ecke des Tisches geordnet habe und auch nach den Erbsen. Achtsam legt er wieder meinen Fuß auf seinen Schoß und wickelt locker eine Bandage darum, dann legt er die eiskalte Erbsentüte auf und fixiert sie mit dem zweiten Verband.

Die Kälte durchströmt meinen Körper und überlagert etwas den Schmerz.

Wortlos essen wir. Ich fühle mich wie ausgehungert, aber viel bekomme ich nicht runter, da sich schnell ein großer Klumpen in meinem Magen zu bilden scheint. Jan ergeht es offensichtlich nicht anders. Als keiner mehr von uns isst, schütte ich die Reste zusammen und räume das Geschirr ab. Ich lasse es in der kleinen Spüle stehen, da ich bei aller Liebe keinen Nerv mehr hab abzuwaschen.

Jan beobachtet jeden meiner Schritte, das spüre ich genau. Auch als ich auf das kleine Zimmer zu humple liegt sein Blick auf mir. Im Türrahmen fällt mir ein, dass ich seine Wunde wahrscheinlich nochmal frisch verbinden sollte, auch um zu sehen ob sie noch eitert.

„Soll ich deine Wunde nochmal nachsehen?“, frage ich leise, da ich eine seltsame Spannung zwischen uns spüre.

„Ja, bitte.“, haucht er und seine Stimme ist rau und lässt einen Schauer meinen Rücken hinunter fahren, der nicht von der Kälte kommt, die mich beherrscht seitdem ich die gefrorenen Erbsen am Fuß trage. Ein verlangendes ziehen strömt durch meine Leisten, als ich unter seinen Blicken zum Sofa zurückkehre.

Wieder desinfiziere ich alles sorgfältig, bevor ich den Verband löse. Ich arbeite schweigend vor mich hin und die Schwellung und Rötung sind schon gut zurückgegangen.

Nachdem ich eine frische Jodkompresse und Verband angelegt habe, lege ich ihm nochmal neue Wadenwickel an und will dann aufstehen. Doch Jan hält mich vorsichtig am Handgelenk fest.

„Bitte bleib.“, bittet er mich und sein sonst meist ausdrucklose Blick gibt etwas preis, das ich als Sehnsucht und Trauer erkenne.

„Wer ist Marie?“, frage ich ehe ich darüber nachdenken kann und ein Stich durchfährt mich, als seine Mine nur noch Trauer zeigt. Er antwortet nicht und ich frage auch nicht weiter nach.

Nach einigen Minuten der stillen Beobachtung des Anderen, hebt er einladend die Bettdecke und ich komme seiner unausgesprochenen Bitte nach.

Erst jetzt, wo ich die fiebrige Wärme seines Körpers spüre, merke ich wie kalt mir wirklich ist, sogar mein Zähneklappern habe ich bis jetzt nicht gemerkt.

Sorgsam umschließt er mich mit seinen Armen und ich lege meinen Kopf auf seiner starken Brust ab.

„Normalerweise würde ich sagen, du bist echt heiß, aber im Moment kann ich das rein Körpertemperaturmäßig nicht bestätigen.“, schmunzelt er und zieht mich noch fester an sich.

Ich falle schnell in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf. Immer wieder wechseln die Bilder vor meinem inneren Auge hin und her, zwischen Chris und Jan. Chris, der mich liebevoll im Arm hält. Jan der mich hart und unnachgiebig nimmt. Chris der von Marcel verprügelt wird. Jan der Banken überfällt. Chris der sich von mir abwendet. Jan den ich nie wieder sehe.

Als ich wenig erholt am nächsten Morgen aufwache, weil mir der Geruch von Rührei in die Nase steigt, brauche ich einige Momente, um die Gedanken an diesen Traum abzuschütteln.

Ein Kälteschauer überkommt mich und sofort beginnen meine Zähne zu klappern. Ich ziehe die dicke Bettdecke enger um mich, aber es hilft nichts.

Plötzlich hebt jemand die Decke an meinen Füßen an und entfernt die obere Bandage und die Erbsen. Neugierig schaue ich nach unten und entdecke Jan, der über die Sofalehne gebeugt an meinem Fuß hantiert.

Bedächtig geht er in die Küche, wo in einer Pfanne etwas vor sich hin brutzelt. Mit fragendem Blick beobachte ich ihn, wie er die Erbsen wieder im Gefrierfach verstaut.

„Mein Fieber ist gesunken, nur noch 39,1°C und es geht mir ganz gut. Ich habe bereits eine Tablette Antibiotika und auch eine Schmerztablette genommen und jetzt mache ich uns Frühstück, wenn es meiner hinreisenden Krankenschwester genehm ist.“, entgegnet er recht fröhlich meinem fragenden Blick. Hinreisend?

„Welche Drogen hast du sonst noch genommen?“, frage ich und kann das Zähneklappern immer noch nicht unterdrücken.

„Keine und du solltest nach dem Essen heiß Duschen gehen. Sonst erkältest du dich noch. Dein Fuß sieht immer noch nicht besonders gut aus aber immerhin ist die Schwellung zurückgegangen.“, berichtet er und stellt die dampfende Pfanne auf dem Tisch ab.

Ich richte mich auf und warte auf den Schmerz, als ich meinen Fuß aufsetzte. Aber ich fühle nichts. Die Kälte betäubt noch immer meinen Körper und ich spüre meinen Fuß nicht mal.

Ich wickle die Bettdecke eng um mich, als mir Jan eine heiße Tasse Tee reicht. Erst jetzt, als er sich neben mich setzt, bemerke ich, dass er Jeans und ein frisches Shirt trägt. Hat er schon geduscht?

„Vielleicht sollten wir auch mal nach deinem Streifschuss sehen. Die Kugel solltest du als Andenken behalten.“, sagt er kauend.

„Kugel?“, frage ich immer noch zitternd und nehme einen großen Schluck Tee.

„Die Kugel die dich gestreift hat ist dieselbe, die du aus meinen Arm gezogen hast. Ich hatte dich am rechten Arm. Sie hat dich gestreift und ist dann in meinen linken Arm stecken geblieben.“, berichtet er emotionslos und ein Kälteschauer durchfährt mich, der nicht von der Kühlung meines Fußes kommt.

Wieso zeigt er ständig so gegensätzlich Gefühle? Mal emotionslos im nächsten Moment fröhlich und dann wieder traurig. Was soll das? Was versucht er hinter dieser Fassade, was ganz klar diese steinerne Mine der Ausdruckslosigkeit ist, zu verstecken? Warum will er mich bei sich haben, träumt aber von einer Marie?

Gedankenverloren stochere ich in meinem Rührei herum.

Chris ist so liebevoll. Wir kennen uns schon unser ganzes Leben. Ich liebe ihn, nicht nur wie einen Bruder. Ich liebe ihn richtig. Es fühlt sich so wunderbar an. Selbst an ihn zu denken verschafft mir das bekannte Kribbeln. Aber eine Beziehung zu ihm ist nicht möglich, nicht ohne meinen Bruder zu verlieren. Ich kann mich nicht zwischen den beiden entscheiden. Flo habe ich durch meine Liebe zu ihm schon verloren.

Und dann ist da plötzlich Jan. So gegensätzlich. So anders. Er löst ein Verlangen in mir aus, dass ich noch nie gespürt habe. Mit ihm wäre eine Beziehung möglich. Doch da sind so viele offene Fragen. Warum hat er die Bank überfallen? Warum hat er mich mitgenommen? Wer ist Marie? Wie würde es weiter gehen? Wie lange bleiben wir hier zusammen? Werde ich ihn wieder sehen? Fühle ich mich vielleicht nur zu ihm hingezogen, weil er etwas Abwechslung in mein langweiliges Leben gebracht hat?

Meine ganze Gefühlswelt ist ein einziges Chaos. Warum kann es nicht eine Mischung aus beiden geben? Einen gefühlvollen Draufgänger, der mich liebt und mit dem ich zusammen sein kann.

„Hey, hey. Aufwachen.“, Jan schnipst vor meinen Augen mit den Fingern und holt mich wieder in die Realität. Ohne etwas zu sagen springe ich auf, ignoriere den wiederkehrenden Schmerz in meinem Fuß und schnappe mir aus dem Kleiderschrank frische Sachen. Auch wenn es Männersachen sind, egal. Wählerisch kann ich grade nicht sein. Dann verschwinde ich schnell im Bad.

Ich ziehe mich aus und wasche kurz meine Unterwäsche durch, um sie morgen eventuell wieder anziehen zu können.

Ich sollte Jan nach meinen anderen Sachen fragen, blitzt als Gedanke im meinem Kopfchaos auf, wird aber schnell wieder durchandere Gedanken überlagert.

Gedanklich abwesend wickle ich den Verband von meinem Arm, beachte die Wunde aber nicht weiter.

Ich husche in die Dusche und lasse warmes Wasser auf mich niederprasseln. Sobald ich mich an die Temperatur gewöhnt habe stelle ich sie hoch, solange bis meine Haut schon rot ist von der Hitze. Schnell ist das komplette Bad in einen Nebeldunst getaucht, aber ich bin zu weit weg in meinen Tagträumen, dass ich es nicht merke.

Die Gefühle überwältigen mich und salzige Tränen vermischen sich mit dem heißen Wasser. Ich lasse mich an der gefliesten Wand hinunter gleiten und gebe mich meinem Selbstmitleid mal wieder hin. Meine Gedanken drehen wilde Kreise um Chris und Jan.

Wie armselig ich doch bin, schießt mir irgendwann in den Kopf. Diese Feststellung hilft mir mich aus meinen verwirrenden Gedanken zu lösen.

Mein ganzer Körper brennt wie Feuer unter dem heißen Strahl und ich stelle ihn aus. Beschwerlich schaffe ich es aufzustehen, mit der Wärme ist nun auch wieder der Schmerz in meinen Fuß eingedrungen. Nur unter großer Anstrengung schaffe ich es aus der Dusche zu steigen. Immer noch laufen Tränen über meine Wangen, nun weiß ich nicht mehr ob sie durch mein Gefühlschaos hervorgerufen werden oder durch den Schmerz. Mit all meiner Kraft die ich aufbringen kann, schlüpfe ich in die Boxershorts und das viel zu große Shirt. Grade als ich das stützende Waschbecken loslasse, gibt mein linkes Bein unter mir nach und ich falle unbeholfen auf den Boden. Ich bleibe einfach liegen, kraftlos, weinend.

Auf einmal heben mich starke Arme hoch. Ich falle an eine fiebrige Brust und Jan trägt mich leicht schwankend zur Couch.

„Du hast dir grade einen Tag Bettruhe eingehandelt.“, sagt er scherzhaft, mir ist aber absolut nicht zum Lachen.

Scheinbar hat er das bemerkt, denn nun reicht er mir mit mitleidvollem Blick eine Schmerztablette und ein Glas Wasser. Gehorsam nehme ich sie.

Jan deckt mich zu und wuselt dann noch etwas in der Hütte rum ehe er sich ebenfalls auf das Sofa setzt. Immer noch schweigend, verarztet er meinen Arm und dann sich selbst. Ich beobachte ihn eine Weile, wie er sich krampfhaft verdreht, um an seine Wunde zu kommen. Schlussendlich helfe ich ihn doch, lass mich dann aber sofort wieder in das Kissen fallen.

Als er mit seinem Arm fertig ist, misst er seine Temperatur und hält mir demonstrativ das Thermometer vor die Nase. 38,3°C. Gut. Ich sage nichts kann mir aber ein kleines Schmunzeln, über seine breitgeschwollene Brust nicht verkneifen.

Dann wendet er sich wieder mir zu. Er setzt sich im Schneidersitz gegen die mir gegenüberliegende Lehne und nimmt sanft meinen Fuß auf seinen Schoß. Behutsam versucht er ihn zu bewegen, aber trotz der Tablette schmerzt es höllisch. Ich sage nichts, aber er kann es in meinem Gesicht lesen.

Jan greift nach einer Salbe vom Tisch und massiert etwas von dieser in meine Fuß ein. Es tut verdammt weh, aber doch spüre ich eine Wirkung. Nicht nur in meinem Knöchel, auch in meinen Lenden prickelt es.

Nachdem er geendet hat, lässt er meinen Fuß auf seinem Schoß, dreht sich aber zum Fernseher und schaltet ihn ein.

Plötzlich schießt mir ein Gedanke durch den Kopf. Sucht man eigentlich nach mir? Der Gedanke fesselt mich, macht mir irgendwie Angst, aber ich spreche ihn nicht aus.

Was machen die Anderen grade? Meine Mutter? Mein Vater? Marcel? Die Clique? Denken sie ich wurde entführt? Bin ich nicht eigentlich wirklich entführt wurden? Auch wenn Jan etwas anderes sagt, rechtlich ist es doch eine Entführung. Oder sogar eine Geiselnahme. Hat er Lösegeld gefordert? Aber er hat auch behauptet ich könnte jeder Zeit gehen. Will ich überhaupt gehen? Was will ich eigentlich? Ich habe absolut keine Ahnung muss ich mir eingestehen. Ich mag es hier mit Jan zu sein. Mich um ihn zu kümmern, wie er sich auch um mich kümmert. Aber natürlich vermisse ich meine Familie, Marcel. Aber allen voran Chris.

Vielleicht wäre es gut mit jemanden Außenstehenden darüber zu reden. Aber ob da Jan der richtige ist? Ich möchte ihn gern in meine Gedanken einbeziehen. Irgendetwas sagt mir ich kann ihn vertrauen, aber die Gefühle für ihn verwirren mich. Ich weiß, ich liebe ihn nicht, aber dieses Verlangen nach ihm ist unbestreitbar. Wie würde er reagieren, wenn ich so offen mit ihm reden würde? Würde er sich eventuell auch ein bisschen öffnen? Oder zeigt er sich dann auch wieder so emotionslos? Ich bin mir sicher, dass er mit dieser Gefühllosigkeit nur eine Mauer um sich baut, aber ich bin mir sicher, ich sollte nicht die sein, die sie einreißt. Dass kann er nur selber, von sich aus und dass braucht Vertrauen und Zeit.

„Hast du Hunger?“, fragt Jan sehr laut und holt mich damit in des hier und jetzt wieder.

„Musst du so schreien?“, entgegne ich perplex, durch den abrupten Abriss meiner Gedanken.

„Ich hab dich schon drei Mal gefragt und du hast nicht reagiert. Also hast du Hunger?“, wiederholt er seine Frage nun leiser.

„Entschuldigung, ich war total in Gedanken. Aber ja, etwas Hunger hab ich schon.“, gebe ich zu. Und Kopfschmerzen muss ich feststellen. Richtig starke Kopfschmerzen.

Jan steht auf und tritt in die kleine Kochecke. Er stellt die Reste von gestern auf den Herd und wärmt sie auf.

Ich setzte mich auf und stelle erstaunt fest, dass der Schmerz in meinen Fuß sich ertragen lässt.

Der Fernseher läuft immer noch und ich wiederstehe dem Drang von dem Musiksender zu einem Nachrichtenkanal umzuschalten, um zu sehen ob nach mir gesucht wird.

Als ich noch hin und her schwanke zwischen dem Drang wissen zu wollen, was in der Außenwelt passiert und dem Gefühl, dass hier und jetzt einfach zu genießen, setzt sich Jan mit dem Essen zu mir.

Wieder essen wir schweigend, doch mir gehen zu viele Fragen durch den Kopf, als das ich sie aushalten könnte.

„Warum hast du die Bank überfallen?“, bricht nun eine Frage aus mir heraus und ich mustere Jans Reaktion genau. Seine freundliche aber teilnahmslose Mine versteinert sich schlagartig und seine emotionslose Maske erscheint wieder. Es macht mich traurig, dass er nicht mit mir darüber reden will. Ich hab so viele Fragen, die nur er mir beantworten kann.

„Warum hast du mich mitgenommen?“, wage ich einen weiteren Vorstoß, weiß aber genau, dass er mir nicht antworten wird.

Als wir alles aufgegessen haben, will ich den Tisch abräumen und den überfälligen Abwasch erledigen, doch Jan nimmt mir die Teller aus der Hand ehe ich aufstehen kann.

„Du hast Bettruhe.“, sagt er sanft, schaut mich aber nicht an. Ich bin überrascht von seiner Stimmlage, die ich so noch nie von ihm gehört habe.

Ich nehme noch eine Schmerztablette und gehe dann mit dem angebrochenen Glas Wasser Richtung des kleinen Zimmers. Als ich Türrahmen stehe drehe ich mich nochmal um und beobachte Jan einen Moment.

„Guten Nacht.“, flüstere ich ihm zu und lehne die Tür hinter mir an.

Ich lege mich auf das kleine Bett und fühle mich sofort Einsam. Ich schließe meine Augen und versuche einzuschlafen, aber es funktioniert nicht. Als ich dann auch noch Jans Blick auf mir spüre, kann ich nicht mal mehr an Schlaf denken. Eine ganze Weile liegt sein Blick auf mir, ehe ich höre wie er in das Bett im Wohnraum schlüpft.

Genervt drehe ich mich von einer auf die andere Seite und finde erst ein wenig Ruhe, als draußen schon der Morgen dämmert.

 

Das laute Zuschlagen einer Tür weckt mich. Verwirrt schaue ich mich um. Ich bin immer noch in dem kleinen Zimmer. Wer hat hier eine Tür zugeschlagen? Hat Jan mich alleine gelassen? Panik steigt in mir auf. Wenn er mich wirklich hier gelassen hat bin ich verloren, denn ich hab keinen Plan wo ich bin und kann mit meinem Fuß nicht weit laufen.

Ich springe aus dem Bett, ignoriere den Schmerz in meinen Fuß und stürme regelrecht in den Wohnraum.

Jan steht in der Kochecke und packt Lebensmittel in den Kühlschrank. Ich atme erleichtert aus und der Schmerz ergreift wieder voll Besitz von mir, sodass ich mich an dem niedrigen Regal neben der Zimmertür abstützen muss.

„Alex, was ist denn los? Komm setz dich.“, Jan ist schnell an meiner Seite und bringt mich zum Sofa.

„Ich dachte du bist weg. Ich hab nur die Tür gehört und dachte du hast mich allein gelassen. Ich hab Panik bekommen, weil ich alleine hier nicht weg komme.“, gebe ich immer noch etwas außer Atem zu.

„Warum sollte ich dich hier alleine lassen?“, fragt Jan fürsorglich, aber die Sanftheit von gestern ist nicht mehr in seiner Stimme. Ich zucke hilflos mit den Schultern. Ich weiß ja selbst nicht was mich da grad geritten hat.

„Wie geht es deinem Fuß?“, will er nun wissen.

„Er tut immer noch weh, aber ich denke es ist schon besser. Wo warst du? Und wie geht es dir?“, frage nun ich, denn weg muss er gewesen sein. Er hat Lebensmittel besorgt.

„Ich war einkaufen. Meine Temperatur betrug heute Morgen 37,5°C und mir geht es gut. Ich bin zwar noch etwas wacklig auf den Beinen, aber jetzt bist du es, der es schlechter geht, also kümmere ich mich um dich. Du wirst nicht rumlaufen.“, sagt er bestimmt und ich gebe nach. Wenn er mich mit dem Fieber nicht anlügt, was mir nicht so scheint, hat er wahrscheinlich Recht.

„Was ist eigentlich mit meinen Sachen. Meine Hose und meine Bluse meine ich.“, fällt mir jetzt wieder ein.

„Deine Bluse ist kaputt an der Stelle von der Schusswunde, aber beides hängt draußen auf der Veranda zum trockenen, weil ich es durchgewaschen hab. Ich hab mir auch erlaubt deine Unterwäsche rauszuhängen.“, erklärt er mir und räumt die restlichen Sachen in den Wirtschaftsschrank.

Der restliche Tag plänkelt so vor sich hin. Wir schauen fern, essen etwas, verarzten uns gegenseitig und gehen dann irgendwann ins Bett. Genauer gesagt trägt mich Jan ins Bett, weil er nicht möchte, dass ich meinen Fuß belaste.

Ich schlafe besser diese Nacht, weil ich mir verbiete nachzudenken. Ich hab es mir schon den ganzen Tag verboten und es hat erstaunlich gut funktioniert, auch wenn ich mich nur vom Fernsehprogramm berieseln hab lassen.

Ich fühle mich seit Tagen das erste mal wieder richtig ausgeschlafen und einigermaßen fit, als ich am Morgen aufwache. Die Schmerzen im Fuß lassen sich wirklich ertragen und so humple ich in den Wohnraum.

Jan hat den Esstisch mit reichlich Frühstücksbedarf gedeckt und grinst mich übertrieben an, als ich mich ihm gegenüber setze.

„Guten Morgen! Wir geht es dir?“, fragt er mich freundlich. Was ist denn jetzt schon wieder los? Ich verstehe sein Verhalten einfach nicht.

„Morgen. Ganz gut, denke ich.“, gebe ich etwas verwirrt zurück, weil ich seine Freundlichkeit wirklich nicht einschätzen kann.

„Du siehst auch besser aus, als in den letzten Tagen. Meine Temperstur ist fast wieder normal, meine Wunde verheilt gut und mir geht es super. Ich hab eine Überraschung für dich. Dazu müssen wir aber etwas laufen, denkst du das schaffst du? Ich hab dir gestern auch Krücken besorg, dass du deinen Fuß nicht belasten musst.“, plappert er ohne Punkt und Komma drauf los. Was ist denn heute in ihn gefahren? Er ist ja aufgeregt wie ein kleines Kind.

„Brauchst du eine Schmerztablette? Ich hab dir keine hingelegt, weil ich dachte, dass kannst du selber entscheiden. Ich denke ich komme ohne zurecht, aber die Antibiotika nehme ich natürlich weiter.“, redet er weiter auf mich ein. Merkt er gar nicht, dass ich nicht antworte?

Aber jetzt wartet er anscheinend auf eine Antwort, denn er schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Was hat er mich gefragt? Er hat so schnell geredet. Ach ja, Schmerztabletten.

„Ich denke ich halte es aus.“, erwidere ich kurz und beiße in mein Brot.

Nachdem wir fertig gefrühstückt haben, holt Jan meine Sachen von der Veranda. Außerdem bringt der zwei Krücken mit, welche wohl aus dem letzten Jahrhundert stammen. Es sind so alte, die man oft in amerikanischen Filmen sieht. Solche die man unter die Arme klemmt, aber wenn sie mich ein wenig Flexibler machen, soll es mir nur Recht sein.

Ich dusche schnell, während Jan die Küche aufräumt. Was will er mir nur zeigen? Neugier steigt in mir auf und ich mache mich extra flink fertig. Es fühlt sich komisch an die Sachen wieder anzuhaben. Die Bluse hat einen verkohlten Riss, an der Stelle wo meine Wunde vom Streifschuss ist, aber ich mochte Blusen sowieso noch nie.

 

Das Laufen mit den Krücken, geht ganz gut muss ich feststellen, als mich Jan durch den Wald führt. Ich hab wirklich keinen Plan wo ich hier bin, aber er scheint sich hier gut auszukennen. Um uns herum ist nur Wald. Auch nach dem wir eine Weile gelaufen sind sehe ich weit und breit nur Bäume und Sträucher. Ich fühle wie leichte Panik in mir ansteigt. Was wenn Jan mich hier mitten im Wald alleine lässt? Auch wenn ich jetzt diese Gehhilfen hab, finde ich hier nie wieder raus. Ich bin ihm hilflos ausgeliefert. Aber er macht mir keine Angst, eher der Gedanke an seine Abwesenheit.

Schon wieder in meine Tagträumereien versunken merke ich nicht, wie Jan irgendwann stehen bleibt und so laufe ich direkt in ihn rein.

„Sorry.“, entschuldige ich mich verlegen. Er schmunzelt nur und gibt den Blick auf eine Lichtung frei.

„Überraschung!“, sagt er fröhlich. Das ist wirklich eine Überraschung. Von uns tut sich eine kleine, mit Wildblumen bewachsene Lichtung auf. Quer hindurch fließt ein kleiner Bach und ich fühle mich wie in einem Märchen. Das Licht, dass durch die umgebenden Baumkronen fällt, taucht alles in ein fast magischen Schein.

„Wow.“, ist das Einzige was ich dazu sagen kann. Mich staunend umblickend gehen wir langsam näher zum Bach. Wir setzten uns an das flache, grasbewachsene Ufer und ich hänge meinen lädierten und immer noch warmen, geschwollenen Fuß in das angenehm kühle, rauschend Wasser.

Ich lasse mich rückwärts ins hohe Gras fallen und genieße einfach den Augenblick.

„Das ist mein Lieblingsplatz.“, flüstert Jan leise. Er sitzt im Schneidersitz neben mir und schaut verträumt auf den Grund des Bachs. Ich sage nichts, sauge den Moment in mir auf. Ich finde es beeindruckend, dass mir Jan so einen Platz zeigt, es beweist mir, dass er mir doch zu vertrauen scheint. Oder bringt er jede x-beliebige mit hier her um sie aufzureißen? Nein, er ist zwar äußerst attraktiv, aber ein Aufreißer ist er nicht.

Schon wieder drehen sich meine Gedanken nur um ihn und wenn er in meinen Gedanken ist, lässt Chris nicht lange auf sich warten, deshalb zwinge ich mich an etwas anderes zu denken. Mein Gefühlschaos bekomme ich ja doch nicht geregelt.

Marcel. Ja an ihn sollte ich denken. Ich vermisse ihn, nicht erst seit dem ich hier bei Jan bin, schon seit dem Streit zwischen ihm und Felix lässt er mich nicht mehr an sich ran, zumindest nicht mehr so wie früher. Wie geht es ihm jetzt, jetzt in diesem Moment? Denkt er an mich? Sucht er nach mir? Lernt er für die Abiturprüfungen? Ich weiß zwar nicht genau welcher Tag heute ist aber bald fangen sine Prüfungen an. Aber kann er überhaupt lernen? Er macht sich sicher Sorgen um mich. Ich würde ihm gerne sagen, dass es mir gut geht und er sich auf seine Prüfungen konzentrieren muss. Dass ich erstaunlicher Weise gern hier bin und mir über meine Gefühle klar werden muss ehe ich wieder kommen kann. Dass ich nicht festgehalten werde. Dass ich ihn liebe.

Ich erinnere mich an den Tag, als die Jungs dieses dämliche Abkommen getroffen haben. Wir waren 13 und die Jungs begannen grade sich für Mädchen zu interessierten. Wir waren im Freibad, Tanja gehörte noch nicht zu uns, Chris ist erst vor 2 Jahren mit ihr zusammen gekommen und sie waren auch nur ein halbes Jahr ein Paar. Aus dem Nichts heraus sagte Marcel, dass keiner von den Jungs je etwas mit uns Mädchen anfangen sollte, auch nicht, wenn noch andere Mädchen in unsere Gruppe kommen sollten. Alles sollte so bleiben wie es ist, Gefühle würden nur Freundschaften auseinanderreißen. Mit diesem Punkt hatte er auch augenscheinlich Recht, aber dieses Abkommen hat mehr kaputt gemacht als die Gefühle zwischen Felix und Flo oder mir und Chris es je könnten.

Ob Flo endlich mit Felix reden konnte? Die letzten drei Wochen, ohne meine beste Freundin, waren echt die Hölle. So allein hab ich mich noch nie gefühlt. Tanja hat sich zwar um mich gekümmert, aber eine Kindergartenfreundschaft, kann sie auch nicht ersetzten. Sie ist eigentlich echt süß, so fröhlich. Sie hat die letzten Wochen wirklich versucht unser kleines Grüppchen beisammen zuhalten beziehungsweise wieder zusammen zu führen, obwohl sie erst so kurz bei uns ist. Tanja ist wirklich eine Bereicherung für unsere Clique.

Dann schieben sich wieder der Kampf zwischen Chris und Jan in meine Gedanken. Ich muss mir wirklich über meine Gefühle klar werden, aber wie? Es hilft nichts ich muss mit jemanden darüber reden und da nur Jan zur Verfügung steht, muss er her halten. Auch wenn er mir vielleicht nicht weiterhelfen kann, bei der Sache mit Paul hat es auch geholfen einfach darüber zu reden.

Aber nicht hier und jetzt, heute Abend in der Hütte. Dieser Ort ist einfach zu idyllisch, für solch schwere Themen.

Ich zwinge mich selbst aus meinen Tagträumen, ich will diesen Ort genießen. Diese Ruhe, dieses magische Gefühl.

Als ich wieder die Wirklichkeit wahrnehme, bemerke ich, dass ich mal wieder zittere wie Espenlaub. Der Bach ist doch sehr kalt und Wälder an sich sind sowieso kühler, auch im Sommer.

Ich setzte mich mit klappernden Zähnen auf und sehe zu Jan, auch er scheint in seinen Gedanken versunken. Er überrascht mich wirklich immer wieder, so hab ich ihn noch nicht erlebt, er wirkt so tiefgründig.

Ich will ihn eigentlich gar nicht stören, aber es ist echt kalt.

„Jan?“, frage ich vorsichtig, er blickt erschrocken auf.

„Hmm?“, kommt es von ihm, immer noch nicht ganz wieder im hier und jetzt.

„Können wir zurück? Mir ist kalt.“, bitte ich und wie zum Beweis klappern meine Zähne noch etwas lauter.

„Oh, ja, natürlich.“, stammelt er, hilft mir aber sofort auf.

Er schlägt den Rückweg ein und ich folge ihm langsam. Zitternd kann man einfach nicht schnell mit Krücken laufen. Jan bemerkt mein Dilemma und kommt zu mir zurück. Er nimmt mir die Gehhilfen ab, drückt sie mir in eine Hand und nimmt mich dann auf den Arm.

„So geht es schneller.“, schmunzelt er.

Eine ganze Weile läuft er mit mir auf dem Arm zurück und wir schweigen uns an. Ich lege meinen Kopf an seine Schulter. Er ist so schön warm, aber nicht wie in den letzten Tagen, diese fiebrige Wärme.

„Ich würde dir gern etwas anderes sagen, aber du bist mal wieder ein Eisklotz. Du scheinst überhaupt keine eigene Wärmeproduktion zu haben.“, scherzt er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Ich hab das Gefühl, wir könnten richtige Freunde werden, wenn nicht immer noch dieses Verlangen ihm gegenüber da wäre.

Wieder in der Hütte, springe ich unter die warme Dusche, aber ich lasse mich nicht von meinen Gedanken davon tragen und so nimmt sie nicht die Ausmaße, die ich sonst gewohnt bin. Sobald mein Körper wieder Normaltemperatur angenommen hat, steige ich aus der Dusche.

Schnell trockne ich mich ab und ziehe mich an, da ich wirklich Lust habe uns etwas Schönes zu kochen.

Jan steht unschlüssig vor dem Wirtschaftsschrank, als ich aus dem Bad komme.

„Was machst du da?“, frage ich ihn.

„Ich will uns Essen machen.“, gibt er beschäftigt wider.

„Du und Essen machen? Ich koche.“, lache ich und nehme ihn den Reis aus der Hand den er grade aus dem Schrank gezogen hat.

„Aber Essen machen und kochen ist doch das Selbe.“, tut er bockig ab.

„Nein, Kochen ist eine Kunst. Essen machen kann jeder und nun setz dich, der Künstler braucht Ruhe.“, bestimme ich mit erhobenen Kinn und wir beide brechen in schallendes Gelächter aus. Es tut gut wieder so zu Lachen und es ist schön mit Jan zu Lachen.

Er kommt meiner Anweisung nach, brezelt sich auf die Couch und schaut fern. Ich mache mich an die Arbeit und beschließe einen bunten Gemüsereis zu kochen, da ich den einmal in der Hand habe.

Schon wenig später sitzen wir in gefräßigem Schweigen am Esstisch.

„Du hattest Recht. Essen machen und kochen sind zwei Welten. Es schmeckt ausgezeichnet.“, bewundert Jan meine Kochkünste.

„Danke. Jan?“, frage ich um endlich auf mein eigentliches Anliegen zu kommen.

„Ja?“, gibt er verwundert wider und schaut mich erwartungsvoll an.

„Ich würde gern mit dir reden.“, nuschle ich in mein nicht vorhanden Bart und sehe wie sich sein Blick verändert, er setzt wieder seine Maske auf.

„Bitte, es geht nicht um den Überfall oder diese Marie. Ich würde dir gern von mir erzählen, ich brauche einfach jemanden der mir zuhört. Bitte.“, schiebe ich schnell nach, doch sein Ausdruck bleibt der Gleiche.

Tränen der Enttäuschung steigen mir in die Augen, ich dachte wirklich, ich kann mich ihm anvertrauen, aber seine Reaktion zeigt mir, dass dem nicht so ist.

Ich versuche die Tränen wegzublinzeln, wenn es wirklich so ist, hat er diese nicht verdient. Bedrückt schaue ich auf meinen leeren Teller und will mich beruhigen, als er meine Hand ergreift die auf dem Tisch liegt.

„Alex, natürlich werde ich dir zuhören.“, seufzt er und ich merke wie schwer es ihm fällt. Ich überwinde mich und schaue ihn wieder an, seine Maske ist einem lieben Lächeln gewichen und er nickt mir aufmunternd zu.

Ich weiß nicht, ob er nur nachgegeben hat weil ich so traurig deswegen war oder ob er mir doch zuhören will. Unter diesen Umständen weiß ich wirklich nicht, ob ich ihm meine Gefühle offen legen sollte.

Erst einmal wasche ich unser Geschirr der letzten Tage ab und denke Derweilen darüber nach. Jan sitzt wieder auf dem Sofa, aber der Fernseher läuft nicht, er beobachtet mich. Sein Blick ist entschuldigend und ich glaube seine Reaktion tut ihm wirklich leid.

Als ich fertig bin, setzte ich mich zu ihm und bitte ihn wortlos, in dem ich ihm die Salbe in die Hand drücke, meinen Fuß damit einzucremen. Er kommt meiner bitte nach und setzt sich wieder im Schneidersitz mir gegenüber während ich mich hinlege.

Immer noch ringe ich mit mir, aber der Druck in mir wird immer größer, ich habe das Gefühl mein Kopf platzt, wenn ich es nicht bald erzähle.

Dann kratze ich all meinen Mut zusammen, schlimmer kann es ja nicht werden. Mit einem großen Seufzer beginnen ich Jan alles zu erzählen. Von der Clique. Von Marcel. Von Chris. Von meinen Eltern. Von Flo. Von der Abmachung. Von Paul. Von all meinen Gefühlen, auch von den die er in mir auslöst.

Nachdem ich geendet habe ist eine komische Stimmung. Jan hat mich einfach erzählen lassen, hat nicht nachgefragt oder dazwischen geredet.

Beide setzten wir uns gleichzeitig auf und sind uns auf einmal ganz nahe. Vorsichtig nimmt er mein Gesicht in seine großen Hände und wischt mir die Tränen ab die mir, während meiner Erzählungen gelaufen sind. Ganz langsam nähren sich unsere Gesichter. Erwartungsvoll schließe ich meine Augen und im nächsten Moment liegt sein Mund auf meinem. Er ist ganz anders als in meiner Vorstellung. Im Gegensatz zu seinem Erscheinen ist er zärtlich und liebevoll.

Sanft scheibt er seine Zunge in meinen Mund und ich erkunde den Seinen. Doch als seine Hand sich unter meine Bluse schiebt, halte ich ihn fest. Ich öffne wieder die Augen und sehe direkt in seine strahlend grünen Gegenstücke. Bedächtig schüttle ich den Kopf, ich kann nicht weiter gehen, wenn noch so viele offene Fragen zwischen uns stehen.

Erst ist ein Funken Enttäuschung in seinem Gesicht zu sehen doch schnell hat er sich gefangen und setzt wieder seine ausdruckslose Maske auf. Er löst sich von mir, steht auf und will in das kleine Bett neben der Tür gehen, doch ich halte ihn mit meinen Worten zurück.

„Ich möchte nicht allein sein. Bitte, halte mich in den Armen.“, bitte ich ihn und sehe wie er mit sich selbst kämpft, ehe er mit dem Kissen und der Bettdecke zurück zur Couch kommt.

Ich kuschle mich an ihn und sofort fühle ich mich geborgen. Ich weiß ich liebe Jan nicht so wie ich Chris liebe, aber wenn ich Chris nicht haben kann. Liebe kann sich auch entwickeln, hat sie bei Chris auch getan. Aber dazu muss sich Jan auch öffnen. Über diese neuen Gedanken und Gefühle schlafe ich schnell ein und merke nicht, dass Jan noch lange wach liegt.

Am Morgen schlage ich blinzelnd meine Augen auf und bemerke, dass Jan mich immer noch im Arm hält. Er ist wach und schaut an die Decke. Ich streiche ihm sanft über seine Brust und fahre die Konturen seiner Muskeln nach.

„Marie ist… war… meine Schwester.“, flüstert er in Richtung Decke, ich verharre in meiner Bewegung und lege meine Hand auf seinen Bauch. Soll ich ihn fragen? Oder redet er von alleine weiter? Ich lasse ihm seine Zeit, er hat mich auch nicht gedrängt.

Er schließt gequält seine Augen bevor er weiter redet.

„Sie hat sich umgebracht, nachdem sie überfallen und vergewaltigt wurde. Wir hatten immer eine sehr enge Beziehung, aber sie kam einfach nicht damit klar und ich wusste nicht wie ich ihr helfen soll. Sie hat sich vor einen Zug geworfen und mir einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem sie sagt ich hätte alles richtig gemacht. Ich hätte ihr beigestanden, aber die Last war einfach zu groß, zumal die Polizei keinerlei Anhaltspunkte hatte und die Fahndung im Sand verlaufen ist. 3 Jahre ist das jetzt her, sie war ein Jahr jünger als ich, grade zarte 16 als sie gestorben ist. Ich bin über ihren Tod nicht hinweg gekommen, hab mich aus Frust den falschen Leuten angeschlossen und bin in die Kriminalität abgerutscht. Vor ein paar Wochen bin ich eines Morgens aufgewacht und hab mich gefragt, was ich hier eigentlich mache. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu meiner ehemaligen Gang. Doch ich brauchte Geld, deshalb habe ich diesen Überfall geplant. Ich weiß es ist nicht klug durch ein Verbrechen aus dieser Szene auszusteigen, aber ich hab keine andere Lösung gefunden. Und bei dem Überfall warst auf einmal du da. Du siehst ihr so verdammt ähnlich, aber charakterlich bist du ihr genaues Gegenteil. Sie war so schüchtern und zurückhaltend. Die meisten Leute haben sie nicht mal bemerkt, aber sie hatte es verdient bemerkt zu werden. Deine Art, mit ihrem Aussehen hat mich wütend gemacht. Ich war überfordert und hab dich einfach mitgenommen. Dass du verletzt wurdest tut mir Leid. Du weckst in mir Gefühle die ich versucht habe zu verschließen.

Du hast mir gestern gesagt, was du für mich fühlst und ich finde nur es fair wenn du auch weißt, was ich für dich fühle, aber ich weiß es einfach nicht. Äußerlich bist du ihr so ähnlich, dass ich dich bis ans Ende meines Lebens beschützen möchte. Aber dein Auftreten ist so anders, als bei allen anderen Frauen die ich je kennengelernt habe.

Wenn ich ehrlich bin würde ich gern eine Beziehung mit dir anfangen, aber ich denke du solltest dir erst bewusst werden, was zwischen dir und diesem Chris ist.“, schüttet er mir sein Herz aus.

„Danke.“, ist alles was ich erwidern kann, denn ich bin von seiner Offenheit überwältigt.

Noch eine ganze Weile bleiben wir so liegen, jeder seinen Gedanken nachhängend. Meine Drehen sich um Jan. Er wäre zu einer Beziehung bereit, doch er hat recht ich muss mir erst sicher sein, dass eine Beziehung zu Chris unmöglich ist, ehe ich mich ganz auf ihn einlassen kann.

Den ganzen Tag leben wir so aneinander vorbei. Jan ist zwischenzeitlich eine Zeit lang verschwunden, er hat mir erklärt, dass er spazieren geht und ich mir keine Sorgen machen muss.

Nun sitzen wir, nach dem Abendessen, wieder auf der Couch und er massiert meinen Fuß.

„Was ist eigentlich mit der Hütte?“, frage ich und entziehe ihm meinen Fuß, um mich bequem hinzusetzten.

„Sie gehört meinem Vater, wir sind früher gern hierher zum Jagen gefahren. Daher kenn ich auch den Wald so gut. Marie war immer fasziniert von der Lichtung. Sie hat immer gesagt, wenn sie dort ist fühlt sie sich wie in einem Märchen. Ich fühle mich ihr dort besonders nah, ich glaube da hatte sie ihre glücklichsten Stunden.

Ich wollte hier eine Weile untertauchen nach dem Überfall, ehe ich mir ein ordentliches Leben aufbaue.“, berichtet er leise. Ich nehme sei Kinn in die Hand und zwinge ihn mich anzusehen. Seine Maske trägt er nicht mehr, seit er mir von Marie und seinem Lebe erzählt hat. Nun wirkt sein Blick unsagbar traurig. Ich lege eine Hand auf seine Wange und er schmiegt sich an sie. Ich ergreife die Initiative und küsse ihn. Es ist anders als der Kuss gestern, ehrlicher, ebenbürtig. Er erwidert den Kuss und heute lasse ich zu, dass er mit seinen Händen meinen Körper erkundet. Ich tue es ihm gleich und ziehe ihn näher an mich.

Wir lernen sanft den Körper des Anderen kennen, darauf achtend, unsere Verletzungen nicht zu berühren. Zärtlich streift er mir die Bluse über die Schultern, auf eine BH habe ich heute verzichtet, was er anerkennend bemerkt und sofort meine Brüste in Beschlag nimmt. Wie bei unserem Kuss gestern, kann ich nur feststellen, dass ich mich in ihm getäuscht habe, er ist weder ungestüm nach hart. Er ist liebevoll und sanft.

Ich ziehe ihm sein Shirt und die Boxershorts aus, ich will ihn, jetzt. Er löst den Knopf meiner Hose, sie fällt lautlos zu Boden. Seine starken Hände gleiten meinen Rücken hinab in meinen Slip und bleiben hauchzart auf meinem Po liegen. Als er nun auch meinen Slip abstreift stehen wir nackt voreinander. Nach einem ausgiebigen Blick auf unsere Körper, hebt er mich leicht an der Hüfte an und legt mich behutsam auf der Couch ab. Unsere Lippen finden sich immer wieder zu intensiven Küssen. Meine Begierde steigt mit jeder Sekunde und nach einer gefühlten Ewigkeit halte ich es einfach nicht mehr aus. Ich greife zwischen uns und ergreife sein steifes Glied. Langsam führe ich ihn in mich ein und Jan gibt einen steten Tackt vor. Erwartungsvoll und begierig bäume ich mich ihm entgegen und passe mich rasch seinen Bewegungen an. Immer schneller und heftiger dringt er in mich ein, dass kommt schon eher meiner Vorstellung von Sex mit Jan gleich. Ich stöhne laut auf, als ich meinen Höhepunkt erreicht habe. Auch Jan hat Erlösung gefunden und fällt schnaufend neben mich.

Schnell schlafen wir ineinander verschlungen ein.

Mich kitzelt etwas an der Nase und als es nicht weg geht nachdem ich an ihr gerieben habe, öffne ich gezwungenermaßen die Augen. Augenscheinlich habe ich mein Gesicht in Jans Haare vergraben, die nun an meine Nase jucken. Rasch drehe ich mich weg, als ein Kribbeln mir andeutet, dass ich gleich niese, aber zu spät. Ich Richtiger Niesanfall entsteht und als ich endlich fertig bin, grinst mich Jan breit an.

„Gesundheit und guten Morgen.“, sagt er mit belegter Stimme die sofort meine Lenden brennen lässt.

„Nimm mich!“, hauche ich ihm so gleich ins Ohr und knabbere lüstern an seinem Ohrläppchen.

Jan lässt sich nicht lange bitten und ohne Vorspiel dringt er in mich ein. Das ist der Jan aus meiner Fantasie. Hart und unbarmherzig stößt er in mich und schon nach wenigen Stößen habe ich meinen Höhepunkt erreicht, doch Jan lässt nicht von mir ab und treibt mich zu noch drei weiteren Orgasmen, ehe er geschafft auf meine Brust sinkt.

„Du bist der Wahnsinn!“, gibt er atemlos zu.

Den ganzen Tag verbringen wir auf dem Sofa, doch je öfter wir miteinander schlafen umso mehr sehne ich mich nach Chris. Nicht, dass der Sex mit Jan nicht gut wäre, er ist sogar sehr gut, aber ich kann dieses Sehnsuchtsgefühl nicht unterdrücken.

Immer mehr fällt mir auf, dass die beiden so unterschiedlich sind und ich frage mich wie man für zwei Männer gleichzeitig so viel fühlen kann. Nicht, dass Jan und Chris dieselben Gefühle in mir auslösen, aber beide beanspruchen so viel Platz in mir.

Ich bin mir ganz sicher, dass es zwischen mir und Jan eine erfolgreiche Beziehung werden könnte. Wäre da nicht die Gewissheit, dass eine Beziehung zu Chris noch tausendmal besser wäre. Aber ich möchte wirklich nicht, dass Jan sich als Trostpreis sieht.

 

Zwei Tage voller Sex und Zärtlichkeiten später liege ich an Jan gekuschelt auf der Couch.

„Kannst du mich zurück bringen?“, frage ich leise.

„Ich meine die Zeit mit dir war wundervoll, aber ich muss mit Chris reden. Ich weiß, dass hört sich an als wärst du meine zweite Wahl, aber ich liebe euch beide auf eine so unterschiedliche Weise, das ich es selbst kaum verstehe.“, schiebe ich stockend nach.

Jan schaut mir nachdenklich tief in die Augen, als müsse er herausfinden, ob ich die Wahrheit sage.

„Natürlich, morgen Früh fahre ich dich in die Stadt.“, erwidert er sanft und küsst mich auf die Nasenspitze.

„Werden wir uns wiedersehen?“, will ich zaghaft wissen, da er mir wirklich sehr wichtig geworden ist will ich ihn nur ungern verlieren.

„Ich werde dich wissen lassen wo ich bin.“, verspricht er mir.

Wir schlafen noch einmal miteinander, doch es ist anders. Es fühlt sich beinahe an wie Abschiedssex.

Den ganzen Morgen über schweigen wir uns an. Mir stehen schon die gesamte Zeit Tränen in den Augen, weil ich das Gefühl habe beide zu verlieren. Mein Gefühlschaos ist größer denn je. Ich stehe komplett neben mir, unfähig zu handeln, weil mich meine Gefühle lähmen.

Auf dem Weg in die Stadt bekomme ich nicht mal mit wo wir nun genau waren, da die ersten Tränen beginnen zu laufen. Ich bin vollkommen aufgelöst, als Jan vor meinem Elternhaus hält.

Er umfasst zärtlich mein Kinn und zwingt mich ihn anzusehen. Doch mein tränenverschleierter Blick gibt mir nicht viel preis.

„Wir werden uns wieder sehen und auch wenn du dich für Chris entscheiden solltest, werde ich für dich da sein. Ich liebe dich, Alex. Du entscheidest ob als Freundin oder als Schwester.“, sagt er leise und haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

Wie mechanisch nicke ich uns steige aus dem Auto. Ich blicke noch einen Moment Jan hinterher, der langsam die Straße hinab fährt, bevor ich an die Eingangstür meines Elternhauses trete. Jetzt ist er weg und ich weiß nicht, ob ich ihn wiedersehe.

Ich brauche viel Zeit ehe ich auf die Klingel drücke. Marcel öffnet die Tür und wir beide bleiben einen Augenblick wie erstarrt stehen, dann werfe ich mich ihm in die Arme. Haltlos weine ich an seiner Brust und er bugsiert uns ins Wohnzimmer auf die Couch.

Unsere Eltern sind offensichtlich auch da, denn auch von ihnen werde ich in die Arme genommen. Meine Mutter weint ebenfalls, aber ich kann einfach nicht auf meine Umwelt reagieren.

Marcel scheint meine Situation etwas zu verstehen, denn er trägt mich in mein Zimmer.

„Bitte erzähl mir was hier passiert ist.“, bitte ich ihn immer noch schluchzend. Ich muss wissen wie sich die Dinge hier entwickelt haben ehe ich jemanden von meinen letzten zwei Wochen erzählen kann.

„Wir haben uns alle Sorgen gemacht. Wir hatten tierisch Angst, dass du nicht mehr wiederkommst.“, beginnt er stockend und wischt sich ein paar Tränen von der Wange.

„Mum ist zusammen gebrochen, nachdem dieser Typ dich mitgenommen hat. Die Polizei hatte kaum Spuren und es kam auch keine Lösegeldforderung.“, berichtet er weiter.

„Ich meinte eigentlich in der Clique.“, gebe ich zu.

„Auch die anderen sind fast verrück vor Sorge um dich geworden. Wir haben zusammen nach dir gesucht und Suchplakate verteilt. Aber ich denke du willst darauf hinaus, ob wir wieder eine richtige Clique sind, ob wir uns ausgesprochen haben.

Ja, wir haben uns zusammengesetzt. Wir haben über die Abmachung gesprochen. Flo und Felix sind jetzt offiziell zusammen, aber ich bin absolut nicht dafür. Ich habe keinen Kontakt zu ihnen.

Und Chris. Chris ist total ausgeflippt, er ist den Tag als du entführt wurdest richtig heftig abgestürzt. Volles Programm mit Krankenhaus und Magenauspumpen. So hab ich ihn noch nie erlebt. Ich hab ihn gefragt, was das soll, da hat er mir gestanden, dass… dass er dich liebt.

Wir…“, bricht Marcel ab.

„Ich wurde nicht entführt, aber ich kann dir das noch nicht erklären.“, gestehe ich.

Es ist fast wie früher Marcel hält mich in seinen starken Armen und ich vergesse beinahe die Probleme um mich. Doch meine derzeitigen Probleme kann ich nicht vergessen.

„Wir haben uns geprügelt.“, schluchzt er leise.

„Wir haben seitdem nicht mehr miteinander geredet. Das mit Flo und Felix ist schlimm genug, aber, dass du und Chris jetzt auch noch… Fühlst du etwas für ihn?“, fragt er ernst und ich bekomme etwas Angst durch seinen scharfen Unterton.

„Ja, aber um genaueres zu sagen muss ich mit ihm reden.“, antworte ich zaghaft. Ich merke wie er am ganzen Körper verkrampft bei meiner Antwort. Wir reden nicht mehr und ich weiß, dass es doch nicht mehr wie früher ist. Wahrscheinlich wird es nie wieder so. Ich vermisse es so sehr. Wie konnte ich mein ‘altes Leben‘ nur für langweilig und öde halten? Heute wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dieses Leben zurück. Unkompliziert, vorhersehbar, unbeschwert.

Plötzlich klopft es an meiner Tür und im gleichen Augenblick treten zwei uniformierte Männer ein.

„Guten Tag, Frau Kreuz. Schön, dass sie wieder da sind. Wir hätten ein paar Fragen an sie.“, sagt der kleinere einfühlsam.

„Ist das okay für dich Alex?“, will Marcel wissen und schaut mich prüfend an. Obwohl mir immer noch Tränen in den Augen stehen, nicke ich.

„Kannst du bitte gehen? Ich werde es dir erzählen, wenn ich soweit bin.“, bitte ich ihn und kann ihn dabei nicht ansehen, weil ich mich schäme. Früher war er der Erste, dem ich alles anvertraut habe und jetzt belüge ich ihn und halte ihn aus meiner Gefühlswelt raus.

Marcel dampft sichtlich beleidigt ab, aber ich hab jetzt einfach keine Kraft ihm alles zu erklären.

Redlich um Sachlichkeit bemüht erkläre ich den Polizisten, dass ich freiwillig mit Jan mitgegangen bin, natürlich erwähne ich keine Namen und bleibe eher grob in meinen Ausführungen.

Die beiden Beamten sind sichtlich überrascht, aber lassen sich nach einiger Zeit von meinen Erzählungen überzeugen.

„Sie sollten mit ihrem Fuß zum Arzt gehen. Danke für ihre Zeit, wenn wir noch Fragen haben melden wir uns bei ihnen.“, verabschiedet sich der Kleinere, der auch die meiste Zeit geredet hat.

Nun war ich wieder allein. Vollkommen allein. Ich wünschte ich könnte mit jemanden reden, aber mit wem? Außer Jan, weiß keiner über mein Gefühlschaos Bescheid und er ist jetzt unerreichbar. Ich weiß ja nicht mal, ob ich ihn je wieder sehe, vielleicht war ich auch nur eine Last für ihn, oder eine willkommene Abwechslung.

Über mein neuerliches Versinken im Selbstmitleid schlafe ich irgendwann ein.

 

Die nächsten Tage verlasse ich mein Zimmer nur um ins Bad zu gehen. Meine Mutter kümmert sich liebevoll um mich und versucht alles um mich vom Essen oder anderen Aktivitäten zu überzeugen, doch ich gehe auf nichts ein.

Sie berichtet mir, dass ich das Schuljahr, trotz der fehlenden zwei Wochen bestanden hab und versetzt werde. Marcel hat nicht an seinen Prüfungen teilgenommen, weil er wegen der Sorge um mich vom Unterricht befreit war, er wird aber die Nachholprüfungen ablegen.

Drei Tage nachdem ich wieder zu Hause bin klopft es leise an meine Tür und meine Mutter steckt ihren Kopf herein.

„Alex, Süße, du hast Besuch. Darf ich sie hochschicken?“, fragt sie herzlich.

Wer kann das sein? Sie? Flo? Oder Tanja? Über Tanja würde ich mich sehr freuen. Sie ist weitgehend unbefangen, mit ihr könnte ich reden.

Ich nicke zögerlich und als ich die Schritte auf der Treppe höre, halte ich unterbewusst die Luft an. Dann sehe ich den blonden Lockenkopf von Tanja durch meine Tür treten und atme erleichtert aus. Wenn es Flo gewesen wäre, hätte ich wohl genau jetzt meinen absoluten Tiefpunkt erreicht. Doch ich bin beruhigt, dass es Tanja ist und vor Freude kullern mir sofort wieder die Tränen über die Wange.

„Nicht weinen Alex. Alles wird gut.“, schluchzt sie selbst und schließt mich fest in ihre Arme. Lange sitzen wir einfach da und weinen, ehe ich ohne weiteres beginne ihr alles zu erzählen. Geduldig hört mir Tanja zu.

„Darf ich ehrlich sein?“, fragt sie als ich geendet habe und unter Tränen nicke ich.

„Ich glaube dir, dass du auch für Jan etwas empfindest, aber meiner Meinung nach ist er eher ein großer Bruder für dich. Aber es ist deine Entscheidung. Aber auch wenn du nicht mit Chris zusammen sein kannst heißt das nicht zwangsläufig, dass du mit Jan eine Beziehung eingehen musst. Gute Freunde kann man nie genug haben und Gefühle lasse sich nicht erzwingen.“, redet sie sanft auf mich ein.

Wir reden noch eine Weile über dies und das und verabreden und auf einen Kaffee am nächsten Tag. Ich hab eingesehen, dass es nichts bringt sich zu verkriechen. Das Leben läuft weiter, egal ob ich daran teilnehme oder nicht, aber es ist auf jeden Fall abwechslungsreicher und nicht so trist, wenn man es mitgestaltet.

Am Morgen stehe ich wirklich gut gelaunt auf, ich freue mich auf das Treffen mit Tanja und auch wenn es erst am Nachmittag ist, bin ich schon von früh an ganz hibbelig.

Marcel hat heute eine seiner Prüfungen und ich würde ihm gerne viel Glück wünschen, weiß aber nicht wie er reagiert. Also schreibe ich ihm einen Zettel und klebe ihn an seinen Rucksack, als er kurz im Bad verschwindet.

Ich nehme ein ausgiebiges Bad und mache mich dann langsam fertig. Ich hab noch einig Zeit, beschließe aber schon loszugehen, da ich mir einen Termin bei einem Orthopäden holen will. Mein Fuß ist zwar wieder als solcher zu erkennen, aber Schmerzen habe ich immer noch und will diese Abklären lassen.

Es ist voll in der Praxis und ich muss alleine 30 Minuten warten um einen Termin zu machen. Nachdem die Sprechstundenhilfe die Dringlichkeit eingeschätzt hat gibt sie mir einen Termin gleich für den nächsten Tag, da die Verletzung schon länger existiert, sagt sie.

Durch die nicht geplante Wartezeit komme ich nun doch zu spät. Ich sehe mich in dem Café um und meine gute Laune fällt rapide ab, als ich Flo, Felix und Marcel bei Tanja sitzen sehe. Am liebsten würde ich auf der Stelle umdrehen und wieder gehen, doch als ich das versuche laufe ich prompt gegen jemanden. Ich brauche nicht aufzublicken, der bekannte Geruch den ich einatme reicht mir um die Person zu identifizieren. Chris. Als ich aufblicke sehen wir uns direkt in die Augen. Ich sehe seinen Schmerz, sein Liebe, aber auch seinen Willen zur Flucht. Doch ehe wir uns beide aus dem Café drängen können ist Tanja bei uns und schiebt und bestimmt zu den Anderen.

Wiederwillig setzten wir uns. Es herrscht eisiges Schweigen am Tisch, niemand hat auch nur Blickkontakt zu einem anderen. Aber ich komme nicht umhin zu bemerken, dass Flo und Felix ihre Hände ineinander verschlungen haben und er ihr sanft über den Handrücken streichelt.

Die Situation überfordert mich. An diesem Tisch sitzen Menschen, die mir einmal das Liebste im Leben waren und bei denen ich heute nicht mehr weiß wie ich zu ihnen stehe, geschweige denn sie zu mir. Mein Bruder. Meine beste Freundin. Der Mann den ich liebe.

Ich starre vor mich auf die Tischplatte und versuche mein neu entfachtes Gefühlschaos zu unterdrücken. Gefühle zu unterdrücken ist eine sehr schwierige Angelegenheit, wie ich in den letzten Wochen leider zu oft bemerken musste. Ich hab einfach keine Kraft mehr. Ich fühle mich schlapp und ausgelaugt, was auch daran liegen mag, dass ich nicht viel gegessen habe in der Zeit die ich wieder hier bin.

Ich will nicht mehr hier sein. Will weg aus dieser Situation. Mich einfach in eine Ecke setzten, bis sich meine Probleme selbst erledigt haben. Doch, dass wird nicht geschehen. Niemand wird meine Probleme für mich lösen. Aber jetzt sitzen sie geballt vor mir und ich bin einfach zu erschöpft sie anzugehen.

Plötzlich haut Tanja lautstark auf den Tisch und reißt uns aus der eingetretenen Starre. Geschockt blicken wir sie alle an und unsere Reaktion lässt sie leicht schmunzeln.

„Wir sind hier um zu reden. Ich hab euch seit dem ersten Tag, den ich euch kenne, bewundert. Für euren Zusammenhalt. Eure Loyalität. Eure Offenheit. Ihr habt mich auch, nachdem ich nicht mehr mit Chris zusammen war, als Freundin gesehen. Flo und Alex, ihr seid die besten Freundinnen die ich je hatte. In letzter Zeit ist viel passiert, dass streitet niemand ab, aber wenn wir wollen, dass es eventuell wieder wie früher wird, müsst ihr darüber reden, verdammt nochmal!“, sagt sie bestimmt und haut erneut auf den Tisch. Mir kullern schon wieder die Tränen. Ich will nicht weinen, bin aber nicht in der Lage sie aufzuhalten.

„Nichts wird wieder wie früher. Nicht nur Flo und Felix haben unsere Prinzipien verraten, auch Chris behauptet in Alex verliebt zu sein. Auf diesem Verrat kann eine Freundschaft nicht weiter existieren. Ich habe zwar während dieses Ausnahmezustands eingewilligt, die Beziehung zwischen Felix und Florentine zu billigen, aber nicht diese auch noch.“, bricht es barsch aus Marcel heraus.

„Wir haben doch nicht mal eine Beziehung, weil du alles kaputt machst. Ich hatte die schönste Nacht meines Lebens mit deiner Schwester, aber weißt du wie sie geendet hat? Sie hat mich quasi rausgeschmissen, weil sie sich nicht für einen von uns entscheiden konnte. Sie wollte dich nie verletzten und hat deswegen ihre Gefühle unterdrückt. Hat wegen dieser Gefühle ihre beste Freundin verloren und konnte es nicht ertragen auch noch ihren Bruder zu verlieren. Aber hast du sie in letzter Zeit gefragt, wie es ihr geht? Nein, du sitzt auf deinem hohen Ross mit diesem beschissenen Abkommen und wedelst mit deiner ach so weißen Weste. Soll ich vielleicht mal allen erzählen, wer als Erster diese Abmachung gebrochen hat? Wer nur so auf sie pocht, weil sonst rauskommen könnte, dass er schon vor anderthalb Jahren mit Tanja gefickt hat?“, gibt Chris schroff zurück.

Marcel und Tanja?

Flo und Felix schauen entsetzt zu Marcel, ich bin zu keiner Reaktion fähig. Die Gedanken kreisen in meinem Kopf und mir wird schwindlig. Marcel, der der immer auf dieses Abkommen gepocht hat, war der Erste, der es gebrochen hat. Marcel, der dem ich, bis vor wenigen Wochen, immer alles erzählt habe hat mich schon so lange belogen.

Er hat Recht, nichts wird wieder wie früher. Wie soll sich das Alles wieder einrenken? Die Freundschaft zwischen Marcel und Felix, zwischen Marcel und Chris. Die Beziehung, oder was das ist zwischen mir und Chris und natürlich die Freundschaft zwischen mir und Flo. Alles wirkt so festgefahren.

Immer mehr dreht sich die Welt um mich, im Gleichklang mit meinen Gedanken. Ich muss hier unbedingt weg, kann diese Konstellation keine Sekunde länger ertragen.

Unbeholfen stehe ich auf. Mein Stuhl kippt hinter mir, aber ich achte nicht darauf. Schwankend bewege ich mich Richtung Tür. In Meinem Sichtfeld tanzen schwarze Punkte und sie werden immer größer. Noch bevor ich die Tür erreiche holt mich die Schwärze und ich sinke unsanft zu Boden.

 

Langsam wache ich wieder auf. Alles ist weiß um mich herum. Ein Krankenhauszimmer. Ich fühle mich müde, schlapp und ausgelaugt. Ich versuche mich etwas zu bewegen und merke, dass mir alles weh tut. Mein Kopf brummt und mein Fuß schmerzt wieder. War der nicht schon mal besser? Träge wende ich meinen Blick in Richtung meiner Füße. Sie sind unter der Decke verborgen, aber der Linke hebt sich deutlich ab. Ist er eingegipst?

Doch ehe ich nachsehen kann, zieht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Auf dem Flur streiten sich zwei Personen lautstark. Ich verstehe nicht was sie sagen, aber ich erkenne ihre Stimmen. Es sind Chris und Marcel. Dann sind nur noch laute Flüche zu hören und ich bekomme Angst. Ich sehe sie nicht, aber ich weiß sie prügeln sich.

Nun schaltet sich die Stimme von Tanja ein und versucht die Beiden anscheinend auseinander zu bringen. Mich hält es nicht länger im Bett. Den Gips, das Krankenhaushemd, meine Schmerzen und den Schwindel ignorierend kämpfe ich mich zur Tür.

Vor dieser bietet mir sich das Bild welches ich befürchtet habe. Chris und Marcel schlagen aufeinander ein, Tanja steht zwischen ihnen und muss aufpassen nicht selbst etwas abzubekommen.

„Aufhören!“, schreie ich so laut ich kann, es wird aber nicht mehr als ein Krächzen. Der Schwindel überkommt mich und ich muss mich schwerfällig am Türrahmen festhalten und meine Augen schließen.

Als ich sie wieder öffne schauen mich alle drei mit offenen Mündern an. Tanja ist die Erste, die sich wieder im Griff hat und so kommt sie schnell auf mich zu.

„Alex, du solltest doch im Bett liegen.“, sagt sie sorgsam und stützt mich zurück ins Zimmer. Behutsam setzt sie mich auf dem Bett ab und ich sehe, dass uns Marcel und Chris gefolgt sind. Beide sehen sehr in Mitleidenschaft gezogen aus. Warum müssen Jungs versuchen alles immer gleich mit Gewalt lösen zu wollen? Gewalt war nie eine Lösung und wird auch nie eine sein. Wann versteht dass die Männerwelt endlich?

„Alles okay bei dir? Soll ich einen Arzt holen?“, fragt Tanja fürsorglich und hilft mir mich hinzulegen. Ich schüttle müde mit dem Kopf.

„Kann ich alleine mit Chris reden? Bitte!“, bitte ich leise. Sofort dreht sich Marcel auf dem Absatz rum und lässt laut die Tür hinter sich zufallen. Ich schließe gequält meine Augen, denn schon wieder habe ich ihn verletzt.

„Sicher Kleine. Ich bin vor der Tür, wenn etwas ist.“, nickt Tanja verständnisvoll und nimmt mich sanft in den Arm, bevor sie leise aus dem Zimmer verschwindet.

Die Tür ist noch nicht ganz ins Schloss gefallen, schon weine ich unaufhaltsam. Wie konnte mein Leben in nur wenigen Wochen so beschießen werden? Was war der Auslöser für dieses Chaos? War es Paul? War es die Party bei Felix? Der Morgen danach? Der Mädelsabend bei mir? Oder war es viel früher? Vielleicht schon vor anderthalb Jahren als Marcel mit Tanja geschlafen hat?

„Bitte nicht weinen, Alex. Ich kann es einfach nicht ertragen dich weinen zu sehen.“, sagt Chris leise und wischt mir unbeholfen über die Wangen.

„Chris, ich liebe dich. Aber so kann das nicht funktionieren. Ich will mein altes Leben zurück, aber das geht nicht. Du bist mir der wichtigste Mensch auf dieser Welt, aber ich muss erst mein Leben wieder ordnen. Muss die Personen, die ich verletzt habe mit der Liebe zu dir, zurück gewinnen. Denn vergessen oder ersetzten kann und will ich sie nicht.

Ich hoffe darauf, dass wir irgendwann zusammen sein können. Ich werde darauf warten, bin aber nicht böse auf dich, wenn du es nicht kannst.“, schluchze ich.

„Ich liebe dich auch und ich verspreche dir ich warte auf diesen Tag.“, erwidert er sanft und haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt so gut, er fühlt sich so gut an. Wie soll ich es aushalten, dieses Gefühl für eine unbestimmte Zeit nicht zu bekommen?

Die Tränen werden wieder mehr bei diesen Gedanken und noch etwas lässt sie erneut fließen. Denn wenn das alles klappen soll, muss ich ehrlich zu ihm sein, ich muss ihn von den letzten Wochen erzählen. Und das tue ich auch. Stockend und mit langen Pausen, grade bei den Intimitäten, die ich mit Jan ausgetauscht habe.

„Liebst du ihn?“, fragt er ausdruckslos, als ich geendet habe. Ich nicke zaghaft und sehe, dass sich sein Kiefer anspannt.

„Ja, ich liebe Jan. Ich liebe ihn, wie ich Marcel liebe, als Bruder.“, schiebe ich schnell nach. Ja ich liebe Jan als Bruder das ist mir seit meinem Gespräch mit Tanja klar geworden. Außerdem weiß ich ja nicht mal, ob ich ihn je wieder sehe.

Als ein Arzt hereinkommt, verabschiedet sich Chris mit einem Kuss und geht. Der Arzt erklärt mir, dass ich auf Grund meiner mangelhaften Ernährung der letzten Tage und dem Schlafmangel zusammen gebrochen bin. Von Tanja haben sie erfahren, dass ich einen Termin bei Orthopäden hätte und so habe sie sich auch meinen Fuß angesehen. Ich habe mir ein paar Bänder gerissen und sie mussten es operieren. Ich werde wohl noch einige Zeit mit dem Gips und Krücken vorlieb nehmen müssen, aber es wird alles wieder in Ordnung.

Ich wünschte das könnte ich auch für mein Gefühlsleben sagen.

Schon zwei Tage später werde ich wieder entlassen. Außer Tanja hat mich keiner besucht. Meine Eltern sind mal wieder geschäftlich unterwegs, aber das stört mich nicht weiter. Sie könnten mir im Moment auch nicht helfen.

Am ersten Abend, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, versuche ich einen Schritt auf Marcel zuzugehen. Ich will wirklich, dass sich alles wieder einrenkt. Auch wenn ich nie mit Chris zusammen sein kann, möchte ich lieber einen Bruder, eine beste Freundin und Chris als guten Freund, als nichts von all dem. Also erzähle ich ihm alles von Jan, der „Entführung“ und meinen Gefühlen. Er wirkt abwesend, fast scheint es mir als würde er gar nicht zuhören. Doch als ein Schatten über sein Gesicht gleitet, während ich über meine Gefühle zu Chris spreche, merke ich, dass er sehr wohl zuhört. Aber er antwortet nicht, er reagiert nicht, er schaut mich nicht einmal an. Habe ich Marcel schon verloren? Oder habe ich noch die Chance ihn zurück zu gewinnen? Kann es wirklich so wie früher werden? Oder mache ich mir selbst etwas vor?

Flo blockt meine Annährungsversuche komplett ab. Wenn ich auf dem Festnetz anrufe und Chris geht ans Telefon, reden wir kurz. Aber nie über unsere Gefühle. Wir wissen was wir für einander empfinden, können es aber derzeit nicht zeigen. Vielleicht können wir das nie.

Genau eine Woche nach meiner Entlassung klingelt es an der Tür. Ich sitze grade im Wohnzimmer und lasse mich vom Fernsehprogramm berieseln, Marcel duscht. Also muss ich wohl oder übel zu Tür humpeln. Im Haus benutze ich die Krücken nicht.

„Jan!“, rutscht es mir erschrocken hinaus, als ich die Tür geöffnet habe.

„Alex.“, erwidert er erfreut und zieht mich in seine Arme. Nach meiner kurzen Irritation schließe auch ich meine Arme um ihn.

„Wer ist an der Tür?“, fragt Marcel laut von oben.

„Erkläre ich dir später.“, rufe ich zurück und schiebe Jan aus der Tür, nachdem ich meine Krücken geschnappt habe. Er erkennt die Situation und wir fahren mit seinem Auto zu einem modernen Mehrfamilienhaus in der Stadt.

Wortlos führt mich Jan zum Penthaus und öffnet die Tür. Ein riesiger offener Wohnbereich eröffnet sich und ich staune.

„Ist das deine?“, frage ich beeindruckt.

„Ja.“, gibt er kleinlaut zurück und erst da fällt mir der Überfall wieder ein. Ich schlucke. Er hat diese Wohnung mit dem Geld aus dem Bankraub bezahlt. Ich hatte dieses Ereignis schon so sehr verdrängt. Es hat nichts mehr mit dem Jan zu tun, der jetzt vor mir steht. Es gehört zu einem früheren Leben.

„Es ist sehr schön.“, sage ich freudig. Ich will nicht, dass er sich weiter Gedanken darüber macht. Es soll die Chance bekommen sich ein neues Leben aufzubauen und ich werde ihm dabei nicht im Weg stehen. Im Gegenteil ich werde ihm helfen wo ich kann.

Wir unterhalten uns bei einem guten Wein. Jan erzählt mir, dass er in der kurzen Zeit eine Ausbildung gefunden hat, die ihm wirklich Spaß macht und er verdient zwar nicht viel aber die Wohnung gehört ihm und so muss er keine Miete bezahlen. Von seiner Gang hat er Gott sei Dank nichts mehr gehört.

Natürlich berichte ich ihm von den Entwicklungen mit Chris, Marcel und Flo, aber ich sage ihm nicht, dass ich mir quasi sicher bin für ihn nur Liebe im Sinne eines Bruders zu fühlen.

Als ich den Tränen nahe vor ihm sitze, nimmt er mein Gesicht in seine Hände. Er zieht mich näher zu sich und ich lasse es geschehen. Erst leicht und dann immer intensiver legt er seine Lippen auf meine und meine Tränen beginnen zu laufen. In der Hütte hat es sich anders angefühlt Jan zu küssen. Jetzt ist es als würde ich Felix küssen, nicht das ich das schon mal gemacht hätte, aber es fühlt sich befremdlich an.

„Es tut mir leid, aber ich kann das nicht.“, löse ich mich von ihm und schaue zu Boden.

„Alex, es ist in Ordnung. Ich habe dir gesagt, ich nehme dich auch als kleine Schwester. Und ich muss zugeben, ich habe es ebenfalls grade gespürt, es ist nicht mehr das Gleiche wie in der Hütte. Aber es ist Okay.“, er zwingt mich ihn anzusehen und lächelt mich verhalten an bevor er mich in eine Umarmung zieht. Ich presse mich so fest ich kann an ihn. Es ist gut jemanden zu haben, der einen versteht. Und Jan scheint im Moment der einzige zu sein, der mich versteht.

Wir reden noch den ganzen Abend und schlafen schließlich engumschlungen auf der Couch ein. Es ist ein tolles Gefühl von ihm gehalten zu werden, ähnlich wie früher bei Marcel. Ich bin selbst von mir überrascht, dass dieses unbändige Verlangen nach ihm, seinem Körper, was in der Hütte fast zum Greifen war nun auf einmal verschwunden ist. Wir sind Freunde und werden es hoffentlich lange bleiben.

 

Den Rest der Ferien versuche ich meine Beziehungen zu Flo und Marcel zu kitten und es scheint Schritt für Schritt vorwärts zu gehen. Wenigstens reden beide wieder mit mir, auch akzeptieren beide meine Gefühle für Chris. Aber können nicht so weit gehen, dass sie eine Beziehung zwischen uns billigen.

Wenn wir uns als Clique treffen herrscht eine unterkühlte Stimmung, die nur sehr langsam auftaut. Auch Tanja versucht weiterhin viel, uns alle wieder zusammen zu bringen und ist über die kleinsten Fortschritte begeistert. Tanja, Felix, Marcel und Chris haben alle ihr Abitur bestanden. Tanja und Chris haben sich an der örtlichen Hochschule eingeschrieben. Tanja will Sonderpädagogik und Chris Architektur studieren. Felix hat eine Ausbildung zum Bürokaufmann begonnen und Marcel macht eine Lehre zum Schreiner. Alle haben ihren Platz gefunden und scheinen mit ihrer Wahl glücklich.

Felix und Flo tauschen nun auch häufiger Küsse und Zärtlichkeiten in unserem Beisein aus. Marcel hat begonnen es zu akzeptieren und meine Hoffnung, einer Beziehung mit Chris haben zu können, wächst wieder.

Ich habe Tanja Jan vorgestellt, denn ich möchte ihn als Teil meines Freundeskreises. Sie haben sich auf Anhieb gut verstanden und ich hoffe die anderen werden ihn auch akzeptieren. Alle wissen nun was nach dem Banküberfall geschehen ist, doch keiner macht mir Vorwürfe oder macht den Anschein Jan bei der Polizei verpfeifen zu wollen.

Doch mit jedem Treffen der Clique fällt es mir schwerer meine Gefühle für Chris zu unterdrücken. Alle wissen was wir für einander fühlen, aber keiner achtet darauf, dass diese Situation uns zerreißt. Wenn sich unsere Blicke Treffen steigt sofort das Kribbeln in meinem Bauch auf und ich glühe regelrecht vor Sehnsucht. Marcel und Flo werfen mir dann immer vernichtende Blicke zu und ich möchte am liebsten im Erdboden versinken.

 

Heute stelle ich Jan den Rest der Clique vor. Es ist der letzte Freitag, bevor die Schule wieder losgeht und wir wollen nochmal feiern gehen. Auch für Felix und Marcel beginnt ihre Ausbildung am Montag, nur Tanja und Chris haben noch etwas Zeit, ihr Studium fängt erst in drei Wochen an.

Hibbelig sitze ich bei Jan auf der Couch. Ich will mit ihm zusammen in den Club und habe mich bei ihm fertig gemacht. Ich trage eine schwarze blickdichte Stumpfhose, drüber einen Jeansrock und eine weiße enganliegende Bluse mit tiefem Ausschnitt. Eigentlich gar nicht mein Stil, aber ich wollte mal was Neues probieren. Dazu trage ich High Heels, denn meinem Fuß geht es wieder gut. Der Gips ist seit zwei Wochen ab und alles ist wieder gut zusammen gewachsen.

„Wenn du nicht meine Schwester wärst, würde ich dich glatt vernaschen. Du siehst heiß aus.“, grinst Jan breit als er aus seinem Schlafzimmer kommt und ich von dem Sofa aufstehe.

„Danke.“, erwidere ich nur. Manchmal habe ich das Gefühl, er denkt ich bin Marie. Ich schiebe diesen Gedanken schnell bei Seite, denn wir müssen uns beeilen. Jan hat sich angeboten zu fahren und so steigen wir beide kurze Zeit später auf dem Parkplatz der Disco aus seinem Auto.

Die Anderen warten schon in der Schlange und wir stellen uns zu ihnen. Alle begrüßen Jan recht freundlich. Tanja umarmt ihn sogar, sie verstehen sich echt gut und ich muss zugeben sie wären ein hübsches Pärchen.

Chris wirft mir einen merkwürdigen Blick zu, als Jan seinen Arm um meine Schultern legt.

Die Stimmung ist erstaunlich ausgelassen und wir sind, außer Jan, alle gut angetrunken. Ich tanze mit Tanja und nach einiger Zeit gesellt sich auch Flo zu uns.

Gegen 2 Uhr schwanke ich zur Toilette und beschließe dort, dass ich genug getrunken habe für heute. Ich mache mich noch kurz frisch und trete dann wieder in den Gang, der zurück auf die Tanzfläche führt. Plötzlich packt mich jemand an der Schulter und drückt mich gegen die Wand. Chris presst seinen Körper gegen meinen, sodass ich keine Möglichkeit habe zu entkommen. Er funkelt mich böse an und ich verstehe nicht was das soll.

„Was läuft da zwischen dir und diesem Jan?“, fragt er bedrohlich. Aha. Daher weht der Wind. Chris ist eifersüchtig.

„Nichts. Ich hab dir gesagt, dass ich in ihm nur einen Bruder sehe, mehr nicht.“, gebe ich selbstsicher wider, weil es die Wahrheit ist.

Chris mustert gründlich mein Gesicht und ich halte seinem Blick stand. Wie ich diese Augen liebe. Sein Ausdruck wandelt sich von wütender Eifersucht zu brennendem Verlangen.

Barsch drückt er mir seine Lippen auf meine, aber auch die Heftigkeit dieses Kusses mindert nicht die Gefühle die er in mir auslöst. Im Gegenteil in meinem Bauch explodiert ein Feuerwerk und am liebsten würde ich ihn hier und jetzt in mir spüren. Lustvoll fahre ich ihm durch die Haare und ziehe ihn so nah ich kann an mich. Doch plötzlich wird er von mir weg gerissen und eher einer von uns beiden reagieren kann landet Marcels Faust auf Chris Nase. Ein fieses Knirschen beweist allen Anwesenden, dass sie gebrochen ist. Sofort sprüht Blut aus ihr hinaus. Chris taumelt einige Schritte zurück, kann sich aber auf den Beinen halten. Marcel schließt schnell den Abstand wieder und holt erneut aus. Ich versuche ihn aufzuhalten und hänge mich quasi an seinen Arm. Doch Marcel ist stärker als ich und schubst mich hart gegen die Wand. Die Luft wird aus meinen Lungen gepresst und der plötzliche Schmerz zwingt mich in die Knie.

Auf einmal steht auch der Rest der Clique im Gang. Felix und Jan stürzen sich gleich auf Marcel und ziehen ihm vom mittlerweile auf dem Boden liegenden Chris. Tanja hilft Chris wieder auf die Beine.

Ich hocke noch immer an der Wand und schaue verständnislos auf Marcel. Dieser steht wild schnaufend etwas entfernt und wird mit großer Mühe von Felix und Jan festgehalten.

„Soll das jetzt immer so weitergehen? Willst du Chris jedes Mal verprügeln, wenn er sich mir nährt?“, frage ich verzweifelt, denn so kann es einfach nicht weitergehen. Ich verstehe, dass Marcel mich beschützen will, aber das geht eindeutig zu weit. Er war nie der Typ der auf Gewalt zurückgegriffen hat, warum also jetzt? Warum gegen einen seiner besten Freunde?

Ich stehe auf und stelle mich direkt vor Marcel, sodass er mich ansehen muss.

„Antworte!“, verlange ich ungehalten.

„Wenn es sein muss!“, spuckt er mir regelrecht entgegen.

„Okay, dann wirst du ab jetzt deinen sogenannten ‘Bruderpflichten‘ nicht mehr nachkommen müssen, denn wenn das deine Meinung ist, bist du nicht länger mein Bruder. Ich habe vieles von dir erwartet, aber nicht, dass du mir mein Glück nicht gönnst.“, sage ich leise und wende mich von ihm ab. Grade ist es mir etwas bewusst geworden. Wenn Marcel sich so verhält, ist er nicht länger mein Bruder. Früher hat er alles dafür getan mich glücklich zu sehen, heute versucht er mein Glück mit aller Macht zu verhindern. Jetzt ist mir klar, dass Chris alles ist was ich brauche. Ich verbiege mich nicht mehr für Marcel oder Flo.

Ich gehe hinüber zu Chris, lege ihm meine Hand auf seine Wange und küsse ihn zärtlich. Hinter mir höre ich, wie Marcel versucht sich aus seiner Gefangenschaft zu befreien, aber scheinbar schafft er es nicht. Ohne zurück zu blicken nehme ich Chris Hand und ziehe ihn hinter mir her, hinaus aus der Disco.

 

Epilog

6 Jahre später

 

„Wie geht es dir? Du siehst aus, als versteckst du einen Fußball unter deinem Shirt!“, lacht Tanja als ich mich mühevoll an den kleinen Tisch in dem Café setze.

„Eigentlich geht es mir ganz gut, es könnte nun aber endlich bald vorbei sein mit dem schwanger sein. Langsam wird es echt anstrengend.“, schnaufe ich.

„Aber 6 Wochen musst du dich schon noch gedulden.“, grient sie und schuckelt an dem Kinderwagen der neben ihr steht und aus dem leises Quengeln zu hören ist.

„Und wie sieht es bei euch aus? Wie ist Jan so als Papa?“, frage ich und lächle nun auch. Ja, Tanja und Jan sind ein Paar geworden und haben vor 3 Monaten ihren ersten Nachwuchs bekommen.

„Jan ist ein toller Papa. Er kümmert sich liebevoll um seine beiden Frauen und er will es nun auch offiziell machen.“, schmunzelt Tanja.

„Was?“, will ich wissen, denn ich verstehe nur Bahnhof.

„Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte.“, strahlt sie und hält mir einen kleinen Diamantring unter die Nase.

„Das ist super. Ich würde dich jetzt gern umarmen, aber wenn ich einmal sitze, dann sitz ich.“, freue ich mich mit ihr.

Wir reden noch über dies und das. Machen Pläne für ihre Hochzeit und sie bittet mich ihre Brautjungfer zu sein. Ich fühle mich geehrt und sage natürlich zu. Tanja war auch meine Brautjungfer, bei meiner Hochzeit mit Chris vor zwei Jahren. Auch Flo stand an meiner Seite, auch wenn es ihr schwer gefallen ist sich für eine Seite zu entscheiden, aber Chris hat es ihr nicht übel genommen.

Flo ist nach diesem Abend in der Disco zu mir gekommen und wir haben uns richtig ausgesprochen. Unser Verhältnis ist nicht mehr wie früher. Nein, es ist besser, inniger. Felix und sie sind nicht mehr zusammen, aber sie haben sich einvernehmlich getrennt. Beide suchen noch nach dem richtigen Partner.

Die ganzen Geschehnisse von damals holen mich jetzt wieder ein. Ein paar Tage kann ich sie verdrängen, aber eines Abends, als ich auf der Couch zur Ruhe komme, brechen sie über mich ein.

Salzige Tränen kullern über meine Wangen und lassen sich nicht aufhalten. Ich muss mit jemanden reden. Auch wenn meine Gefühle durch die Hormone verstärkt werden, brauche ich jemanden, der mir sagt, dass diese schwere Zeit vorbei ist.

Chris ist wegen eines Auftrags in Frankreich, also rufe ich bei Tanja an. Doch Jan nimmt den Hörer ab.

„Ja?“, fragt er als er abgenommen hat.

„Ist Tanja da?“, schluchze ich.

„Alex? Nein, sie ist auf einer Weiterbildung. Was ist los Kleine?“, will er liebevoll wissen. Soll ich Jan von meinem kleinen depressiven Schub erzählen? Er ist immer noch ein Freund, aber da Chris noch manchmal eifersüchtig auf ihn ist, versuche ich unseren Kontakt oberflächlich zu halten.

„Schon okay.“, wiegle ich ab und lege rasch auf. Muss ich eben alleine damit klar kommen.

Ich igle mich auf der Couch zusammen und versuche meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, aber es gelingt mir nicht. Immer wieder sehe ich den vor Wut wild rasenden Marcel in der Disco vor mir. Die Hütte mit Jan. Meine erste Nacht mit Chris. Das Zusammentreffen im Café. Der darauf folgende Tag im Krankenhaus.

Marcel hat sich nach der Aktion in der Disco lang nicht gemeldet. Er hat seine Sachen geschnappt und ist ausgezogen. Keiner wusste wo er ist, er hat auf keinen reagiert. Erst ein halbes Jahr später, hat er sich bei Felix gemeldet, aber nur bei ihm. Felix hat uns alles erzählt. Erzählt, wie schlecht es Marcel mit dieser Situation geht, dass er nur noch arbeitet und sich zu Hause verkriecht. Ich hatte damals wenig Mitleid mit ihm, denn er hat sich selber in diese Lage gebracht.

Ich war zu diesem Zeitpunkt endlich glücklich mit Chris und wollte mir das nicht durch die Gedanken an Marcel kaputt machen lassen.

Ein Klingeln reißt mich aus den Gedanken. Meine erste Intuition ist, es einfach klingeln zu lassen, aber es hört nicht auf. Also schleppe ich mich zur Tür.

„Jan!“, schluchze ich laut auf, als ich die Tür geöffnet habe.

Es sagt nichts, bugsiert mich nur zurück auf die Couch und hält mich dort in seinen Armen und lässt mich weinen.

„Wo ist Greta?“, frage ich, als ich mich etwas beruhigt habe, nach seiner Tochter.

„Bei Flo. Was ist los?“, stellt er prompt die Gegenfrage, die mir wieder die Tränen in die Augen treibt.

„Nur eine kleine Schwangerschaftsdepression. Irgendwie hat mich eure Hochzeitsankündigung aus der Bahn geworfen. Alles von damals ist wieder hoch gekommen und ich weiß auch nicht…“, gebe ich zu.

Jan hält mich einfach weiter in den Armen und schnell versinke ich wieder in Gedanken.

Über ein ganzes Jahr später, nach dem Abend in der Disco, hat mich Marcel kontaktiert. Er hat sich für sein Benehmen entschuldigt, auch bei Chris. Wir haben uns wieder angenähert, aber unser Verhältnis ist nicht mehr wie früher, die Ereignisse stehen zwischen uns und werden es wahrscheinlich auch immer. Ich kenne die genauen Gründe, warum er sich entschuldigt hat nicht, denn scheinbar ist ihm die Beziehung zwischen mir und Chris immer noch ein Dorn im Auge. Wir haben uns nie richtig ausgesprochen. Zurzeit denke ich er ist an der Reihe auf mich zuzukommen, aber vielleicht kann ich auch irgendwann von mir aus wieder einen Schritt auf ihn zu machen.

Wie hat er sich nur so verändern können? Und warum? Ich erinnere mich an seinen Beistand in der Sache mit Paul. An seine Verzweiflung an dem Morgen nach der Party bei Felix.

Irgendwann schlafe ich über meine ganzen Gedanken, in Jans Armen, ein.

Als ich am nächsten Morgen wach werde geht es mir besser. Ich liege an Jans Brust gekuschelt auf dem Sofa. Erschrocken mache ich mich von ihm los und setze mich auf. Anscheinend grade rechtzeitig, denn in der Wohnungstür dreht sich ein Schlüssel und wenige Sekunden später steht Chris in der Tür.

„Was ist denn hier los?“, fragt er mit ungläubigem Blick auf Jan.

„Nichts!“, antworte ich hastig und stehe schnell auf.

„Was macht er dann hier? Und warum liegt ihr zusammen auf der Couch?“, Chris Stimme wird immer aufgebrachter.

„Ich hatte gestern einen kleinen Tiefpunkt. Die Hormone. Tanjas und Jans Hochzeit. Irgendwie hat das viel in mir aufgewühlt und ich brauchte jemanden der mich im Arm hält.“, gebe ich kleinlaut zu, da ich ihn nicht noch mehr verärgern möchte.

„Und das musst unbedingt Jan sein?“, braust er sich weiter auf.

Jan, der sich mittlerweile auf der Couch aufgesetzt hat, schaltet sich nun auch in das Gespräch ein.

„Eigentlich wollte Alex mit Tanja sprechen, die war aber nicht da. Als ich ihr das gesagt hab hat sie sofort aufgelegt, aber ich habe gemerkt, dass sie jemanden braucht. Also bin ich her gekommen. Es ist absolut nichts gelaufen.“, erklärt Jan.

„Mit dir rede ich nicht!“, schreit ihn Chris an. Nun werde ich langsam echt wütend. Warum glaubt er mir denn nicht? Vertraut er mir nicht?

„Chris, es ist absolut nichts passiert. Eigentlich wollte ich ihn gar nicht hier haben, aber er war nun mal da und hat mir beigestanden.“, ich stapfe wütend auf den Boden und ein stechender Schmerz durchfährt meinen Bauch.

„Warum hast du mich nicht angerufen?“, fragt Chris nun etwas versöhnlicher, aber meine Wut nimmt nicht ab. Im Gegenteil sie scheint mit dem Schmerz in meinem Bauch noch anzuschwellen.

„Weil du ständig unterwegs bist. Dauernd bist du in Besprechungen und kümmerst dich kaum noch um mich ich weiß nicht mal ob du mich wirklich noch liebst.“, bricht nun alles aus mir raus, was mich in letzter Zeit belastet. Ich weiß, dass er so viel arbeitet um unserem Kind eine gute Zukunft zu bieten, aber mir würde es reichen wenn er einfach da wäre.

Der Schmerz in meinem Bauch verstärkt sich und ich merke wie mir etwas die Beine hinab läuft. Geschockt blicke ich an mir hinunter. Meine graue Jogginghose verfärbt sich dunkelrot. Blut.

Chris, der mich nach meiner Ansage etwas ratlos angeschaut hat, folgt meinem Blick und stürzt sofort auf mich zu. Behutsam legt er mich auf dem Boden und gibt Jan die Abweisung einen Krankenwagen zu rufen.

„Ich liebe dich mein Schatz. Dich und unser Kind, ihr seid das wichtigste in meinem Leben.“, flüstert er, doch ich verstehe ihn kaum noch. Die Welt scheint sich von mir zu entfernen. Meine Lider flattern und ich kann sie nur unter größter Anstrengung offen halten. Ich lege beschützend meine Hand auf meinen Bauch und Chris legt seine ebenfalls darauf.

„Bitte bleib bei mir. Alex, du musst wach bleiben.“, fleht mich Chris an, aber es ist das letzte was ich höre. Ich habe keine Kraft wach zu bleiben, eine bleierne Schwärze legt sich über mich.

 

Piep, Piep, Piep. Das stetige Geräusch zum Rhythmus meines Herzen weckt mich auf. Sofort will ich meine Hand auf meinen Bauch legen, doch mein kugelrunder Babybauch ist verschwunden. Panisch schlage ich die Augen auf und das Gerät neben mir schlägt lautstark aus.

Ein verschlafener Chris erscheint in meinem Blickfeld und streicht mir sanft über die Wange.

„Ganz ruhig Süße. Alles ist gut. Es geht ihm gut.“, sagt er leise.

„Ihm?“, frage ich mit kratziger Stimme.

„Ja, wir habe einen Sohn. Er ist zauberhaft.“, erzählt er andächtig und küsst mich hingebungsvoll.

Chris verschwindet kurz und kommt mit einer Schwester und einem Brutkasten zurück. Ich sehe unseren Sohn zum ersten Mal und er ist so klein, so schön, so perfekt.

Vorsichtig legt mir die Schwester das kleine Bündel Mensch in den Arm und ich wiege in behutsam.

Als es an der Tür klopft öffnet Chris und Tanja und Jan fallen ein.

„Na wie heißt der kleine Mann?“, fragt mich Tanja und befreit nebenbei Greta aus ihrer Jacke.

„Finn.“, sage ich sicher und werfe einen Blick zu Chris. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Wir haben lange über einen Namen diskutiert und konnten uns doch nicht einigen. Finn war sein absoluter Favorit unter den Jungsnamen, denn wir wollten nicht wissen was es wird.

„Komm Finn, begrüß mal deine Patentante und deinen Patenonkel.“, Chris nimmt mir unseren Sohn aus dem Arm und übergibt ihn an Jan. Der schaut Chris mit großen Augen an, welches er mit einem Nicken quittiert.

Ich ziehe Chris am Arm zum mir und küss ihn innig.

„Danke. Du bist das Beste was mir je passiert ist. Ich liebe dich.“, flüstere ich ihm ins Ohr.

„Nein, ich hab dir zu danken. Ich liebe dich auch.“, gibt er zurück und wir betrachten beide Jan mit unserm Sohn auf dem Arm.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.10.2014

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