Cover

Prolog

Langsam gehe ich den mir nur zu gut bekannten Weg. Ich wünsche mir jedes Mal ich müsste ihn nicht gehen, ich wünsche er wäre noch hier und könnte sehen was ich erreicht habe. Könnte stolz auf mich sein. Aber heute ist er nun schon 20 Jahre nicht mehr da.

Ich bleibe vor dem schwarzen Mamorstein stehen und lese, wie schon so oft, die Inschrift.

 

Benedikt Fritz Fischer

23.05.1913 – 22.08.1993

Geliebter Mann, Vater und Großvater

In ewigen Gedenken

 

Ich wechsle die Blumen in der kleinen Vase und knie mich neben den Grabstein. Eine Träne kullert über meine heiße Wange und ich atme tief durch, als ein angenehm kalter Windstoß über den Friedhof weht.

Einmal im Monat komme ich hier her, seit 20 Jahren und immer wieder wiederhole ich die Gleichen Worte, nachdem ich ihm von meinem Leben erzählt habe.

„Ich liebe dich, ich wünschte du wärst hier. Du hast das aus mir gemacht, was ich heute bin.“, immer laufen mir bei diesem Satz die Tränen, aber ich fühle mich ihm so nah. Ich fühle, dass er stolz auf mich ist, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe.

Ich habe nie Jemanden erzählt, was er mir erzählt hat und was mein Leben so entscheidend verändert hat.

Heute, an seinem 20. Todestag, habe ich alle eingeladen ihm zu gedenken und auch heute werde ich ihnen erklären wie er mich so verändern konnte.

Bedächtig gehe ich zum Wagen zurück, wo die Anderen schon auf mich warten. Wenn wir zusammen hier sind, geben sie mir immer meine Zeit alleine mit ihm. Sie wissen zwar nicht warum, aber sie haben aufgehört zu fragen.

Linda streicht mir die letzten Tränen von der Wange und küsst mich zärtlich auf die Lippen.

Alle schauen mich betroffen an, haben selbst aber nie eine Träne der Trauer wegen ihm vergossen. Nur Tränen der Wut verlassen ihre Augen wenn sie an Opa Ben denken, aber ich weiß es besser. Ich weiß warum er so gehandelt hat und sie so verletzt hat.

Gemeinsam fahren meine Eltern, meine Schwester Vicky, ihr Mann Jakob, meine Frau Linda und ich, zu mir und Linda nach Hause. Die Kinder haben wir bei guten Freunden untergebracht, dass was ich zu erzählen habe, ist nichts für ihre Ohren. Später vielleicht, aber jetzt noch nicht.

Wir setzen uns mit Kaffee und Kuchen an den Esstisch. Alle wissen, dass ich ihnen heute versuche zu erklären, wer Opa Ben wirklich war und sie sehen mich gespannt an.

Linda nimmt meine Hand und drückt sie leicht, sie weiß genau wie schwer es mir fällt über ihn zu reden.

Erst vor wenigen Wochen habe ich ihnen überhaupt erzählt, dass ich den damaligen Sommer fast ausschließlich im Pflegeheim verbracht habe. Linda wusste es natürlich, aber meine Eltern und Vicky sind aus allen Wolken gefallen. Sie konnten es nie verstehen, warum ich jeden Monat an sein Grab gehe, aber bald werden sie alles verstehen.

„Ich kann nicht glauben, dass er schon 20 Jahre tot ist.“, fange ich zögerlich an.

„Es kommt mir vor als hätte ich erst gestern noch an seinem Bett gesessen und ihm zugehört, was er zu erzählen hat. Aber es ist viel passiert seit dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Ich bin erwachsen geworden und habe so einiges erreicht. Und all das habe ich allein ihm zu verdanken.“, ich schlucke schwer, als ich mich erinnere wie ich das erste Mal zu ihm ins Pflegeheim gefahren bin.

Hauptteil

20 Jahre zuvor

 

 

„Micha beeilst du dich, wir wollen nicht zu spät kommen.“, ruft meine Mutter von unten. Wiederwillig setzte ich mich langsam in Bewegung und gehe ans obere Ende der Treppe, sodass sie sehen kann, dass ich komme. Ich will nichts sagen, ich hab einfach keinen Bock auf diesen Anstandsbesuch bei meinem Opa.

Er liegt seit ein paar Wochen in einem Pflegeheim, weil Oma es nicht mehr schafft ihn zu Hause zu pflegen. Ich hab mit ihm noch nie viel geredet, wir besuchen Oma und Opa Fischer nur selten. Mum, deren Eltern es sind, möchte es so. Sie hatte eine nicht ganz leichte Kindheit. Sie erzählt nicht davon, aber wenn wir bei ihnen sind ist sie ganz anders als zu Hause.

Stufe für Stufe begebe ich mich ins Untergeschoß. Die Musik aus meinem Mp3-Player dröhnt in meinen Ohren.

Unter angekommen gehe ich hinaus und setzte mich bockend auf die Rückbank. Ich hasse es wenn ich Interesse vorheucheln muss und ich hasse es, wenn selbst meine Eltern keine Lust haben und mich trotz allem mitschleifen.

Plötzlich sehe ich eine Hand vor meinen Augen winken, ich drehe mich zur Seite und erblicke meine Schwester.

Sie bewegt ihre Lippen, aber durch die Musik kann ich sie nicht verstehen. Sie reist mir einen Kopfhörer aus dem Ohr.

„Hallo Micha, ich rede mit dir. Du könntest mich wenigstens begrüßen.“, sagt Vicky freudig. Sie hat einfach immer gute Laune, auch wenn ich sie immer nur anpampe oder gar ignoriere.

„Hey.“, antworte ich tonlos, stecke mir meinen Kopfhörer wieder ins Ohr und drehe mich zum Fenster.

Kurz darauf steigen meine Eltern ein und wir fahren die 20 Minuten zum Pflegeheim. Ich laufe meinen Eltern hinterher, in die Abstellkammer für sterbende alte Leute. Ich behalte meine Kopfhörer in den Ohren, auch noch als wir in seinem Zimmer angekommen sind. Alle begrüßen ihn steif und verkrampft, ich setzte mich einfach auf einen Stuhl am Fenster und schaue nach draußen. Ich weiß sowieso, dass meine Eltern jetzt die ganze Zeit reden um ihre Nervosität zu überdecken.

Ich weiß nicht wie viel Zeit vergangen ist, aber auf einmal fühle ich mich seltsam beobachtet. Ich wende meinen Blick und sehe mich im Raum um. Meine Eltern und meine Schwester sind weg, nur mein Opa liegt noch in seinem Bett und schaut mich nachdenklich an. Zögerlich nehme ich meine Kopfhörer aus den Ohren und stelle den Mp3-Player aus. Die Stille die mich nun umgibt, lässt mich schwer schlucken, ich kann es kaum ertragen, wenn es um mich so still ist.

„Wo sind denn alle hin?“, durchbreche ich, mit leicht zittriger Stimme, die Stille. Plötzlich schießt es mir durch den Kopf, dass ich noch nie mit ihm alleine war.

„Ich habe sie raus geschickt. Ich wollte mal nur mit meinem Enkel reden.“, sagt er und setzt sich in seinem Bett leicht auf.

„Könntest du dich neben mich setzten? Dann muss ich nicht so laut reden.“, er sieht mich fragen an und ich komme seiner Bitte nach, denn irgendwie habe ich Angst vor ihm. Ich weiß er ist mein Opa aber, ich weiß auch wie meine Eltern und andere Verwandte auf ihn reagieren. Mit Angst.

„Deine Eltern haben mir erzählt, dass sie sich Sorgen um dich machen. Was sagst du dazu?“, er zieht die Augenbrauen hoch und ich bemerke erst jetzt seine gelblich schimmernde Haut.

„Was soll ich dazu sagen? Ist es nicht die Aufgabe von Eltern sich Sorgen zu machen?“, ich zucke mit den Schultern. Ich weiß natürlich, worüber sich meine Eltern Sorgen machen, über meine Noten, meine Freunde und meine Zukunft, aber mich interessiert es nicht, ich lebe mein Leben, so wie ich es für richtig halte.

„Da hast du natürlich Recht. Ich will dir da auch gar nicht rein reden, ich war früher genauso. Lebte mein Leben, dachte nicht an Morgen und war glücklich damit. Doch dann verändert mich etwas und damit kam ich nicht klar.

Wie alt bist du jetzt Michael?“, fragte er um ein neues Thema einzuschlagen, was mir ganz recht ist.

„15.“, antwortete ich einsilbig. Eigentlich will ich nicht mehr mit ihm reden, aber seine Worte, dass etwas ihn veränderte und er damit nicht klar kam, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Was hat ihn verändert? Sind die Anderen deshalb so zu ihm?

„Ich würde dich gern öfter sehen. Du bist erinnerst mich so an mich selber in deinem Alter. Keiner, nicht mal deine Oma weiß wie ich früher war und ich würde es dir gern erzählen.“, er schaut mir tief in die Augen, um eine Antwort darin zu finden, doch ich sehe ihn nur verständnislos an. Wie sollte ich das verstehen? Will er mir seine Lebensgeschichte erzählen?, darauf habe ich keine Lust. Ich komme selber mit meinen Leben kaum klar, da will ich nicht noch ein weiteres im Kopf rumschwirren haben. Außerdem habe ich bald Sommerferien und besseres zu tun, als ständig meinem Opa im Pflegheim zu besuchen.

„Ich kann dich zu nichts zwingen, aber du scheinst mir der Vernünftigste von allen zu sein und vielleicht hilft dir meine Geschichte bei deinen eigenen Problemen. Erfülle einem alten Mann seinen letzten Wunsch.“, bittend sieht er mich an. Ich weiß nicht was ich antworten soll. Versucht er mich zu erpressen? Kann man jemand seinen letzten Wunsch abschlagen?

Meine Eltern und Vicky betreten wieder den Raum und reisen mich aus meinen Gedanken. Ohne, dass ich auf seine Bitte eingegangen bin, verlassen wir das Pflegeheim wieder. Ich denke darüber nach. Was will er mir erzählen? Soll ich darauf eingehen?

Ich beschließe halbherzig nächste Woche zu ihm zufahren und ihm zu erklären, dass ich ihn nicht alleine und nicht regelmäßig besuchen werde und er seine Geschichte auch meinen Eltern erzählen könnte.

Die letzte Schulwoche vergeht schnell, wahrscheinlich, weil ich kaum zur Schule gehe. Auch mein Abschlusszeugnis der 9. Klasse sieht dem entsprechend aus, aber ich werde versetzt, dass reicht mir.

Ich hänge viel mit meine Clique rum, wir feiern, rauchen, trinken, alles was Eltern Sorgen macht. In unserer Gruppe bin ich der jüngste, aber das macht mir nichts. Auch, dass ein paar der anderen schon vorbestraft sind ist mir egal. Sie sind zwar keine Menschen, denen ich meine Seele ausschütten würde, aber sie akzeptieren mich wie ich bin. Nicht wie meine Familie.

Mein Entschluss hat sich in dieser Woche noch mehr verfestigt. Am Montag werde ich mit dem Bus ins Pflegeheim fahren um ihm meine Entscheidung mitzuteilen.

So sitze ich dann auch schon morgens im Bus. Ich hasse es zwar in den Ferien früh aufzustehen, aber ich will den Rest des Tages genießen können.

Der Bus ist voll, aber ich schirme mich mal wieder mit meiner Musik ab. Plötzlich setzt sich ein Mädchen neben mich und ich muss sie unweigerlich ansehen. Ich hab nicht viel mit Mädchen zu tun und muss sagen, die hier ist echt hübsch. Sie muss in meinem Alter sein, sie hat schöne Haare, ihre Figur ist gut durchtrainiert und ihr Gesicht liebevoll.

Als sie meinen Blick bemerkt, fangen ihre Lippen an sich zu bewegen und sie sieht mich fragend an. Erst nach einem kurzen Kopfschütteln, komme ich in die Realität zurück und nehme die Kopfhörer aus meinen Ohren.

„Sorry. Was hast du gesagt?“, frage ich sie und merke wie Blut in meine Wangen schießt.

„Ich hab gefragt ob du ein Foto möchtest. Sehe ich denn so schlimm aus?“, lächelt sie mir entgegen.

„Nein ganz im Gegenteil, Entschuldigung. Ich wollte dich nicht anstarren.“, ich drehe mich wieder zum Fenster. Meine Wangen glühen und plötzlich hält sie mir ihre Hand hin.

„Linda. Ist nicht so tragisch, ich bin es schon fast gewohnt angestarrt zu werden.“, immer noch grinst sie mir entgegen, als ich mich zurück drehe und ihre angebotene Hand nehme.

„Michael.“, sage ich einsilbig und bei unserer Berührung schießt mir wieder das Blut in den Kopf.

„Na Michael, was machst du denn am ersten Ferientag schon so früh auf den Beinen?“, zwinkert sie mir zu.

Ich überlege kurz ob es ratsam ist, ihr zu erzählen, dass ich ins Pflegheim fahre und entschließe mich kurzer Hand mir etwas anderes einfallen zu lassen.

„Ich… ich fahre… ins Freibad?“, frage ich eher als ich antworte. Ins Freibad? Wie blöd bin ich den? Ja, es sind Sommerferien, das Thermometer zeigt aber nicht mal 20°C und es nieselt.

„Ins Freibad? Bei dem Wetter?“, lacht sie laut auf.

„Naja ist ja dein Ding. Ich muss hier raus. Vielleicht sieht man sich mal wieder.“, sie drückt mir ein kurzen Kuss auf die Wange und mein Herz beginnt zu rasen. Dann ist sie weg.

Die nächste Haltestelle muss ich auch aussteigen und auf dem kurzen Weg zum Pflegeheim versuche ich mich wieder zu beruhigen. An der Ecke bleibe ich stehen und zünde mir eine Zigarette an.

„Du weißt schon, dass das einen schnellen, schmerzhaften Tod zur Folge hat und hier auch nicht das Freibad ist?“, höre ich es hinter mir rufen und drehe mich abrupt um. Linda steht vor mir und ihre vorhin noch fröhlichen Augen, schauen mich jetzt strafend und fragend an.

„Was machst du denn hier?“, frage ich sie ohne auf ihre Frage zu antworten.

„Ich besuche meine kranke Oma im Pflegeheim und du?“, sie hält mir demonstrativ einen kleinen Blumenstrauß vor die Nase, den sie grade gekauft haben muss.

„Ich… ich gehe nicht ins Freibad. Ich muss etwas mit meinem Opa besprechen.“, gebe ich zögerlich zu.

„Dein Opa ist hier im Pflegeheim?“, sie deutet auf das große Gebäude hinter mir und ich nicke.

„Das ist ja cool, da sehen wir uns ja vielleicht öfter meine Oma ist auch hier und ich habe vor sie so oft wie möglich zu besuchen, da ich glaube ihre Zeit hier ist fast abgelaufen.“, sie stahlt mich an, obwohl sie grade über den Tod ihrer Oma gesprochen hat.

„Naja, ich weiß nicht. Eigentlich wollte ich meinem Opa sagen, dass ihn nicht mehr besuchen kann. Also werde ich nicht mehr hierher kommen.“, ich senke meinen Blick zu Boden, mein Herz schlägt so heftig, dass ich denke sie muss es hören. Wie kann mich ein Mädchen nur so aus dem Konzept bringen?

„Oh, dass find ich aber schade. Ich bin der Meinung, dass man so viel Zeit wie möglich mit seinen Großeltern verbringen sollte, sie haben so viel Lebenserfahrung und können einen damit in vielen Situationen helfen. Aber es ist deine Entscheidung.

Ich wünsche dir noch einen schönen Tag und würde mich freuen, wenn wir uns wieder sehen.“, sie drückt mir erneut eine Kuss auf die Wange und läuft dann in Richtung des Haupteingangs.

„Linda!“, ich drehe mich zu ihr um und sie bleibt in ihrer Bewegung stehen.

„Kann ich kurz mit dir reden?“, ich sehe sie bittend an. Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl ihr kann ich vertrauen, ich kann ihr alles erzählen. Die Gefühle, die ich so lange verdrängt habe, kann ich bei ihr zulassen.

„Na klar!“, sie ist mit zwei Schritten wieder bei mir, nimmt meine Hand in ihre und zieht mich hinter sich her.

Sie zieht mich zu einer Sitzecke im Eingangsbereich des Heimes und setzt sich auf eine Couch. Ich lasse mich neben ihr fallen und sehe zu Boden. Wie soll ich denn jetzt anfangen? Ich möchte ihr unbedingt erzählen, dass ich nicht mit meinen Opa reden will, aber wie? Ich würde ihr grade sogar gern all meine Probleme erzählen, ihr erzählen, dass ich mit meiner Familie nicht klar komme, dass ich keine richtigen Freund habe, dass ich mit meinem Leben überfordert bin, aber erst einmal sollte ich mit meinem Opa anfangen.

„Ich kann nicht mit ihm reden. Ich habe Angst allein bei ihm zu sein. Meine ganze Familie hat Angst vor ihm und ich weiß nicht warum. Letzt Woche waren wir hier und er hat mich gebeten ihn öfter zu besuchen. Er möchte mir, glaube ich, seine Lebensgeschichte erzählen, aber ich kann mit meinem eignen Leben kaum umgehen, wie soll ich es da mit seinem können? Ich will ihm sagen, dass ich das was er von mir verlangt, nicht kann. Ich glaub er hat sogar versucht mich zu erpressen, in dem er gesagt hat, es wäre der letzte Wunsch eines Sterbenden, den ich zu erfüllen habe.“, Tränen laufen über meine Wangen, ich bin heillos überfordert mit der Situation. Linda nimmt mich in den Arm und streicht mir sanft über den Rücken.

„Wenn deine Familie so auf ihn reagiert, hat er sicher einige Fehler im Leben gemacht, aber wer macht die nicht? Hat er dir je Anlass gegeben, Angst vor ihm zu haben?“, fragt sie und ich schüttle nur meinen Kopf. Ich hatte ja nie viel mit ihm zu tun, wie sollte ich da Angst vor ihm haben? Ich glaube meine Angst wurde mir eher von meiner Mutter und den anderen eingeimpft. 

„Es ist wichtig, dass man seine Lebensgeschichte jemanden erzählt und man erzählt sie nur Menschen, die einem besonders wichtig sind. Rede mit ihm, versuch ihm deine Situation, deine Gefühle zu erklären.“, Linda wischt mir die letzte Träne von der Wange und schaut mich fragend an.

„Okay, ich versuche es. Können wir uns wieder hier treffen, wenn wir fertig sind?“, ich straffe meine Schultern und wische mir über die Augen.

„Aber natürlich.“, Linda steht auf, zieht mich kurz in ihre Arme und schubst mich dann leicht in Richtung der Bewohnerzimmer.

Unschlüssig stehe ich vor der Tür und kann mich einfach nicht überwinden zu klopfen. Linda tritt hinter mich, klopft an, öffnet die Tür und schiebt mich einfach hinein.

„Michael, so eine schöne Überraschung. Setzt dich doch.“, Opa Ben sieht mich freudestrahlend an. Ich nehme mir einen Stuhl und setzte mich neben sein Bett.

„Was ist los?“, er versucht Blickkontakt herzustellen, aber ich weiche ihm aus.

„Warum haben alle Angst vor dir?“, frage ich ihn ohne auf seine Frage zu reagieren. Meine Gefühle fahren Achterbahn, auf einmal bin ich so wütend auf ihn, auf mich, einfach auf die ganze Situation.

„Das würde ich dir gern in Ruhe erklären, aber das geht nicht von heute auf morgen. Um zu verstehen warum ich so gehandelt habe, wie ich es letztendlich getan habe, muss ich weit ausholen und du musst dich darauf einlassen. Wie gesagt ich zwinge dich zu nichts, aber du musst dir bewusst sein, wenn ich es dir nicht erzähle, dann niemanden.“, er legt seine schwere Hand auf meine Schulter und ich nicke zögerlich.

„Erzähl mir davon. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich es verstehe oder akzeptiere, aber ich werde dir zuhören.“, ich nehme seine Hand in meine und drücke sie leicht.

„Danke, mehr habe ich nie erwartet.“, eine einzelne Träne läuft über seine Wange.

„Wie passt es dir denn am besten? Wann soll ich vorbeikommen?“, versuche ich die Stille zu durchbrechen, die entstanden ist, weil keiner von uns weiß was er sagen soll.

„Ich bin immer hier, wo soll ich den auch hin. Aber ich glaube, dass mir nicht mehr viel Zeit bleibt um dir alles zu erzählen.“, erwidert Opa Ben mit leicht zitternder Stimme. Ich glaube er hat Angst, nicht wirklich Angst vor dem Tod, eher Angst nicht alles erzählen zu können.

„Ich werde kommen so oft ich kann.“, beschließe ich kurzer Hand. Ich hab zwar noch keinen genauen Plan, aber ich habe mich nun doch entschlossen, mich darauf einzulassen.

Wieder entsteht eine Stille, eine Stille die so unsagbar drückend auf meinen Schultern liegt, dass ich schwer schlucken muss.

Ich sehe in seine Augen, sehe, dass er versucht die richtigen Worte zu finden. Kann ich es ihm irgendwie leichter machen?

Zögerlich nehme ich seine Hand und drücke sie ganz vorsichtig. Er sieht mir tief in die Augen, ich habe das Gefühl er kann mir genau in die Seele blicken. Sein Blick wird dankbar wendet sich dann aber wieder ab.

„In deinem Alter, war ich dir so ähnlich. Ich hatte das Gefühl ich passe nicht in mein eigenes Leben, keiner könnte mich wirklich verstehen, besonders nicht meine Eltern. Ich war ein Überflieger in der Schule, die guten Noten flogen mir einfach so zu, ohne dass ich lernen oder gar in der Schule anwesend sein musste.

Zu Beginn der 30er holte auch uns die Weltwirtschaftskrise ein. Wir waren nie richtig reich, aber zu dieser Zeit verloren wir alles. Mein Vater war der festen Überzeugung, dass nur eine neue Politik neue Stabilität bringen würde. Er stürzte sich, kurz bevor Hitler Reichskanzler wurde, in die NSDAP. Schnell stieg er auf, da er keinerlei Skrupel hatte seine Ansichten durchzusetzen. Ich zog mich immer mehr zurück, wollte nicht zu dieser Familie gehören. Bis heute glaube ich nicht daran, dass man Unterschiede zwischen Menschen machen sollte, schon gar nicht wegen ihrer Religion oder Hautfarbe.

Ich fand einen Verbündeten in meinem Deutschlehrer, schon bald nach dem Abitur wohnte ich quasi bei ihm, weil ich einfach nicht mehr nach Hause wollte. Ich wollte studieren, etwas von der Welt sehen, die Menschen auf die Widersprüchlichkeit und Sinnlosigkeit der nationalsozialistischen Politik aufmerksam machen.“, er holte tief Luft und kämpfte mit den Tränen. Während der letzten Sätze ist er immer wütender geworden, aber ich merkte, dass er auf die damalige Situation wütend ist, auf seinen Vater.

Ich weiß nichts über meine Urgroßeltern, selbst meine Mutter kannte sie nicht.

Opa Ben atmet tief ein und durchbricht wieder die Stille.

„Eines Tages fand mich mein Vater. Er entdeckte mich einfach auf der Straße und zerrt mich mit sich. Er sperrt mich ein, er verprügelte mich und er versuchte mir seine Ideologie einzutrichtern. Anfangs versuchte ich mich noch zu wehren und seine Denkweise mit logischen Argumenten zu wiederlegen, aber nach ein paar Wochen gab ich auf. Ich dachte, wenn ich nur glaubwürdig rüberbringen würde, dass ich nun ‘geheilt‘ bin, würde er mich wieder raus lassen. Aber er entließ mich nicht auf seiner Gefangenschaft, immer wieder las er mir ‘mein Kampf‘ vor. Ich weiß nicht mehr genau wie lange er mich gefangen hielt, aber ich empfand es als Ewigkeit. Nach, es müssen drei Jahre gewesen sein, wusste ich nicht mehr was ich glauben sollte, meine Vorstellungen, meine Weltanschauung war nur noch einer kleinen verängstigten Stimme in meinen Gendanken. Ich fühlte, dass der Nationalsozialismus schlecht war, aber ich wusste nicht mehr warum.

Wenn mich mein Vater nicht mit Hitlers Buch quälte, musst ich trainieren. Er war der Meinung Muskelarbeit ist wichtiger als Kopfarbeit und so wurde ich unter seine Anleitung ein muskelbepackte Hülle. Innerlich fühlte ich mich leer, ich wusste einfach nicht, was ich glauben sollte.“, er atmet tief aus und nun laufen ihm die Tränen über die Wangen.

Ich kann nichts sagen, ich kann einfach nicht reagieren. Wie soll ich reagieren? Was soll man tun, wenn sein Opa einem so etwas erzählt? Wie kann der eigene Vater seinem Sohn so etwas antun?

Mir läuft ein kalter Schauer den Rücken runter und in meinem Kopf schwirren Fragen auf die ich einfach keine Antwort weiß.

Ein Klopfen reist mich zurück in die Realität, als ich aufblicke steht eine Pflegekraft mit einem Tablett auf der anderen Seite des Bettes.

„Mittagessen Herr Fischer.“, sagt sie freundlich. Auch mein Opa scheint erst jetzt aus seinen Gedanken gerissen zu werden und schaut sie mit geschwollenen Augen an.

„Danke Schwester.“, bringt er nur über die Lippen, während sie das Tablett auf einen kleinen Tisch vor ihm abstellt.

„Sie sollten gehen, ihr Großvater brauch ein wenig Ruhe.“, sie schaut mich strafend an. Sie sagte zwar nichts zu seinen Tränen, aber sie hatte sie bemerkt.

Ich stehe auf und laufe zur Tür.

„Du kommst doch wieder?“, fragt Opa Ben und unterdrückt einen kleinen Schluchzer. Ich drehe mich kurz zu ihm um und nicke lautlos.

Als ich die Tür hinter mir geschlossen habe, lehne ich mich an die Wand und lasse mich an ihr hinunter auf den Boden gleiten. Die Pflegekraft geht wortlos an mir vorbei ins nächste Zimmer.

Ich weiß nicht wie lange ich so auf dem Boden gesessen habe, mir kam es vor wie Stunden. Nur langsam finde ich meine Beherrschung wieder und kann aufstehen. Linda wartet auf der Couch im Eingangsbereich. Schweigend setzte ich mich neben sie.

Sie verlangt nicht, dass ich rede und ich wüsste auch gar nicht was ich sagen soll. Wir sitzen einfach so Arm in Arm da und schauen stumm in die Welt.

Was mache ich hier? Ich kenne dieses Mädchen erst wenige Stunden, aber fühle mich so zu ihr hingezogen. Fühlt sie genauso? Warum weiß sie genau was ich jetzt brauche? Warum ist sie für mich da, obwohl sie mich gar nicht kennt?

„Wie oft kommst du her?“, durchbreche ich die Stille, als meinen Körper das Zittern wieder unter Kontrolle gebracht hat.

„Ich versuche alle zwei Tage meine Oma zu besuchen. Meistens am Vormittag, da ist sie noch klarer im Kopf als später.“, es ist nur ein flüstern, aber ich verstehe sie und nicke verständnisvoll.

Es ist wie eine Vereinbarung ohne Worte, dass wir uns alle zwei Tage im Bus treffen werden.

„Wollen wir noch etwas spazieren gehen?“, ohne auf ihre Antwort zu warten, nehme ich ihre Hand und ziehe sie hinter mir her zur Tür hinaus.

Stumm schlendern wir Hand in Hand durch die verschlungenen Wege des Stadtparks, zwei Querstraßen vom Altenheim entfernt.

Unsere Zweisamkeit kommt mir so vertraut vor, so als würden wir uns schon ewig kennen. Wir verstehen einander ohne viele Worte. Ich habe noch nie viel Kontakt mit Mädchen gehabt, aber ich weiß wie ich mit ihr umzugehen habe, auch wenn ich mich fast etwas ferngesteuert fühle, fühlt es sich so unglaublich gut an.

Was sind das für Gefühle? Liebe? Ich glaube Liebe beschreibt es nicht mal ansatzweiße, es ist mehr, besser. Soll ich mit Vicky darüber reden? Immerhin ist sie meine große Schwester, früher hatten wir ein echt gutes Verhältnis. Bis zu dem Zeitpunkt als mir alles egal wurde, bis er einfach weg war. Wir reden nicht mehr viel, aber wenn wir uns ansehen bemerke ich immer noch diese Verbindung.

Linda zieht mich auf eine Bank unter einer großen Eiche. Die Sonne hat die Regenwolken verdrängt und senkt sich nun im Westen dem Horizont entgegen.

Seit wir aus dem Altenheim gegangen sind haben wir kein Wort mehr gewechselt, aber die Stille ist schön. Wir brauchen einfach keine Worte. Ich merke auch so, dass sie sich große Sorgen um ihre Oma macht. Sie liebt sie sehr und hat Angst, dass sie nicht mehr viel Zeit miteinander haben.

Als ich sehe wie sich Tränen in ihren Augen bilden, nehme ich ihr Gesicht in meine Hände. Schon ein einziger Wimpernaufschlag würde die Tränen aus ihren Augen lösen und sie über ihre Wange rollen lassen.

Zärtlich ziehe ich ihr Gesicht an meines und lege meine Lippen auf ihre. Ich schließe meine Augen und nehme den Moment in mir auf. Als ich meine Augen wieder öffne und sich unser Lippen trennen, sehe ich wie eine einzelne Träne über ihre Wange läuft und wische sind sanft mit dem Daumen bei Seite.

„Danke.“, haucht sie mir ins Ohr, als sie mich in ihre Arme zieht.

 

 

Unsicher klopfe ich nach dem Abendessen an Vickys Tür. Nach einem kurzem „Hmm“, öffne ich sie. Unschlüssig bleibe ich im Türrahmen stehen.

Vicky liegt auf ihrem Bett und liest ein Buch. Erst als sie, wahrscheinlich den nächsten Absatz erreicht hat, legt sie es bei Seite.

„Was ist los Kleiner?“, ein breites Grinsen erhellt ihr Gesicht. Wie kann man nur immer so gut gelaunt sein? Mir würden die Wangen wehtun, wenn ich den ganzen Tag so Grinsen würde.

Mit mir selbst kämpfend trete ich an ihr Bett und lasse mich darauf fallen. Vorsichtig lehne ich mich zurück, bis ich auf ihrem Bauch liege. Sie beginnt meinen Kopf zu streicheln und sofort fühle ich unsere Verbindung wieder.

„Das hat mit gefehlt.“, flüstert sie andächtig.

„Mir auch.“, gebe ich zu und betrachte dabei ihren Baldachin über dem Bett.

„Was ist passiert, dass wir uns so verlieren konnten?“, fragt sie eher sich selber als mich.

„Es ist meine Schuld. Die Pubertät lässt mich vergessen, wer mir wirklich wichtig ist. Und seitdem Nikolas weg ist, bin ich irgendwie nicht mehr ich selbst.“, antworte ich ihr auf ihre rhetorische Frage. Ich nehme ihre rechte Hand und küsse ihr Tattoo am inneren Handgelenk. Es ist unsere Verbindung „always together and never separated, maybe in distance but not in heart”, steht in grazilen Buchstaben dort. Wir haben uns geschworen, sobald wir 16 sind lassen wir es uns tätowieren. Sie trägt diesen Schriftzug seit 2 Jahren und bald werde auch ich ihn tragen. Ich hatte es zwar in den letzten Wochen und Monaten fast vergessen, aber in diesem Moment bin ich mir 100prozentig sicher.

Kann es sein, dass Opa Ben und Linda in nur wenigen Stunden, den alten Michael aus mir hervorgeholt haben? Nein, nicht den alten Michael, einen neuen. Wie kann man einen Menschen mit nur so wenigen Worten, so verändern? Ich fühle mich verändert. Ich weiß noch nicht so recht, ob ich es gut finden soll und warte einfach ab was die Zeit mit sich bringt.

 „Was ist heute passiert?“, reist mich Vicky aus meinen Gedanken.

„Ich habe ein Mädchen kennen gelernt und ich habe den Anfang einer Geschichte gehört, die mich wahrscheinlich verändern wird.“, ich lasse absichtlich offen, von wem ich die Geschichte höre. Irgendwann werde ich es ihr sagen, wenn ich die Geschichte ganz kenne und wenn ich sie wirklich begriffen habe.

„Ein Mädchen, mein kleiner Bruder und ein Mädchen… unfassbar.“, lachend setzte sie sich in den Schneidersitz. Ich weiß nicht ob sie bewusst den zweiten Teil meines Satzes ignorierte oder ob sie unterbewusst spürte, dass ich nicht weiter darüber reden möchte.

Ich setzte mich ihr gegenüber auch in den Schneidersitz und sie nimmt meine Hände in ihre.

„Wir verstehen uns ohne viele Worte. Wir sind stundenlang einfach nur durch den Park gelaufen und ich fühlte mich ihr einfach so nah. Sie heißt Linda. Als sie mich auf eine Parkbank gezogen hat, habe ich so viele Gefühle in ihren Augen gesehen. Ich hab sie geküsst. Es hat den Anschein als kennen wir uns schon ewig, als wüsste sie mit einem Blick in meine Augen mein ganzes Leben und genauso ist es wenn ich ihr in die Augen schaue.“, ich weiß nicht wie ich meine Gefühle besser ausdrücken könnte, es fühlt sich einfach so unbeschreiblich an, ich kann es nicht in Worte fassen.

„Klingt fast als hättest du deinen Seelenverwandten gefunden.“, Vicky glaubt echt an so etwas, ich hielt es immer für übertrieben. Irgendwo gibt es für jeden die oder den Einen, aber wenn ich jetzt so über meine Gefühle zu Linda nachdenke kommt es mir gar nicht mehr so dumm vor.

Ich zucke mit den Schultern, kann mir aber ein kleines Grinsen nicht verkneifen und das nimmt Vicky zum Anlass mich in ihre Arme zu ziehen und mich so fest an sich zu drücken, dass ich kaum noch Luft bekomme.

„Hey, ja du hast mir auch gefehlt, die letzten Monate. Aber deshalb musst du mich nicht erdrücken.“, lache ich laut auf und Vicky lässt ein wenig lockerer in ihrer Umarmung, denkt aber noch lange nicht daran mich aus ihr zu entlassen.

Noch lange liegen wir auf ihrem Bett und reden. Ich erzähle ihr wie es mir die letzten Monate ergangen ist, dass ich wohl an die falschen Freunde geraten bin und auch sonst viel Mist gebaut habe. Sie erzählt mir von ihren Freunden, dass sie schon länger scharf auf einen Jungen aus ihrer Clique ist.

Irgendwann schlafe ich auf ihren Bauch ein, während sie mir wie so oft schon durch meine halblangen Locken streichelt.

 

Mittwochmorgen sitze ich wieder im Bus. Fieberhaft warte ich auf Linda. Wo ist sie den am Montag eingestiegen? Ich war so versunken in meine Gedanken, dass ich es gar nicht bemerkt habe.

Da, da steht sie an der Haltestelle. Als sie mein Gesicht entdeckt stahlt ein Lächeln auf und ihre Augen beginnen zu glitzern.

Ich stehe von meinem Platz auf, da ich nicht alleine sitze, möchte ich ihr meinen Platz an bieten.

Jetzt steht sie direkt vor mir und nimmt mich fest in ihre Arme. Eine mollige Wärme durchfährt meinen ganzen Körper, dann drückt sie mich zurück auf meinen Platz und zieht sich auf meinen Schoß. Ich umschließe sie mit meinen Armen, sie legt ihren Kopf auf meiner Schulter ab und haucht mir zarte Küsse auf den Hals. Beide fühlen wir uns so geborgen, dass wir die Welt um uns vergessen. Leider auch die Halstestelle, erst drei Haltestellen nach dem Altenheim bemerke ich, dass wir schon lange hätten aussteigen müssen.

„Lust auf einen Spaziergang?“, flüstre ich in Lindas Ohr, sie schaut mich gedankenverloren an und zieht eine Augenbraue hoch.

„Wir hätten vor drei Stationen aussteigen müssen.“, lache ich laut auf. Linda blickt mich etwas enttäuscht an, lässt sich dann aber doch von meinem Schoß gleiten und geht in Richtung der Tür. Ich folge ihr und nachdem wir den Bus verlassen haben, verschränke ich meine Finger in ihren und wir laufen den Weg zurück.

„Treffen wir uns wieder hier?“, frage ich sie, als wir im Eingangsbereich des Altenheims angekommen sind. Linda nickt nur, erst jetzt bemerke ich, dass sie heute noch kein Wort gesagt hat. Irgendetwas ist mit ihr los. Ich beschließe nachher mit ihr zu reden, da ich wirklich nicht dahinter komme.

In meine Gedanken um Linda versunken, stürme ich einfach in Opa Bens Zimmer ohne anzuklopfen. Huch, erschrocken schaute er mich mit großen Augen an, er hat wohl noch geschlafen.

„Michael, schön dich zu sehen.“, grinst er mir entgegen, als sich sein Schreck gelegt hat.

„Entschuldigung, ich wollte nicht einfach so reinplatzen. Soll ich später nochmal wieder kommen?“, Blut steigt in meine Wangen und ich bin wahrscheinlich rot wie eine Tomate.

„Nein, nein. Setz dich. Jetzt kann ich sowieso nicht mehr schlafen.“, grient er mir entgegen. Ich rücke mir einen Stuhl an sein Kopfende und schaue ihn erwartungsvoll an.

„Wo habe ich das letzte Mal geendet?“, fragt er gedankenversunkten und ich muss kurz überlegen.

„Dein Vater hat aus dir eine leere mit Muskeln bepackte Hülle gemacht. Das war glaube ich das letzte am Montag.“ Antworte ich und muss bei meinen Worten schwer Schlucken. Jetzt sind seine ganzen Worte von Montag wieder da. Ich habe das Gefühl sie liegen mir nun als schwerer Kloß in meinem Magen. Wie konnte ich nur seine Worte, die mich in nur wenigen Stunden mich wieder zu mir selbst geführt haben, vergessen? Vielleicht sind es gar nicht seine Worte, die mich verändern, sondern das Gefühl.

„Ja genau, er hat mich zu einer leeren Hülle mit starken Muskelpaketen gemacht. Ich bekam von der Außenwelt nicht viel mit, nur das was er mir erzählte. Irgendwann sagte er mir, dass meine Mutter tot sei. Er sagte es so voller Hass auf sie, dabei dachte ich immer sie war seine große Liebe. Eine heuchlerische Judenfreundin hat er sie genannt und auf den Boden gespuckt. Er musste es tun, hat er gesagt, sie hätte nur noch mehr Schande über die Familie gebracht.“, seine Stimme bricht und er Schluckt schwer, während ihm lautlose Tränen aus den Augen rinnen. Ich nehme seine Hand zwischen meine und drücke sie fest. Auch mir stehen die Tränen in den Augen, aber ich will stark für ihn sein, will ihm in dieser Situation Halt geben.

Mit immer noch brüchiger Stimme spricht er leise weiter.

„Noch im gleichen Atemzug, quasi um mich über den Tod meiner Mutter hinwegzutrösten hielt er mir einen Zettel vors Gesicht. Mein Einberufungsbefehl. Wie ich später erfahren habe hatte Hitler schon vor 5 Wochen Polen überfallen und nun wurden alle Männer, die in der körperlichen Lage waren zum Kämpfen einberufen. Mit diesem Zettel und den Worten meines Vaters ‘mach der Familie keine Schande‘ war nun auch das letzte Fünkchen Menschlichkeit aus mir verschwunden. Die kleine leise Stimme war verstummt, all mein Wissen war wie weggefegt.

Schon am nächsten Tag wurde ich abgeholt und in ein Trainingscamp gebracht. Hier lernten wir den Umgang mit Waffen und Gasgranaten, sowie mit Gasmasken. Auch Schutzgräben mussten wir ausheben. Wir wurden mit dem nötigsten ausgestattet. Ich nahm nur Befehle an, unfähig mir eigene Gedanken zu machen. Die anderen in der Kompanie hatten schnell gemerkt, dass sie an mich nicht rankamen und versuchten es auch nach einer Weile nicht mehr. Meine innere Stimme schwieg zwar weiterhin, aber ich fühlte mich unwohl, so als ob alles was ich tue nicht richtig ist.

Irgendwann wurden wir dann an die Front gekarrt. Mitten ins polnisch-russischen Nirgendwo.“, seine Stimme wird leise, nicht so das er vor Gefühlen nicht mehr weiter reden konnte, eher vor Erschöpfung. Seine Augen fallen ihm zu und nur mit viel Kraft kann er sie wieder öffnen. Die ganze Zeit hatte ich auf unsere Hände geschaut, jetzt als ihm ins Gesicht blicke erschrecke ich. Seine Haut strahlt noch gelblicher als die letzten Male, aber irgendwie ist sie gleichzeitig grau und fahl. Er sieht schlecht aus, verdammt schlecht. Ich weiß, dass er nicht mehr lange hat, aber so schnell habe ich nicht erwartet, dass es bergab geht.

Ich springe auf, renne in den Flur und suche hektisch eine Pflegekraft. Panik steigt in mir auf. Was wenn er mir seine Geschichte nicht mehr zu Ende erzählen kann? Ich hätte den letzten Wunsch eines Sterbenden, meines Opas, verwirkt. Im Aufenthaltsraum werde ich fündig und erläutere der Schwester die Situation. Schnell folgt sie mir in das Zimmer meines Großvaters.

„Er schläft, aber ich werde sofort den Arzt informieren. Ihr Großvater ist sehr krank, er brauch seine Ruhe, ihre Besuche wühlen ihn sehr auf. Aber ich habe auch das Gefühl sie tun ihm gut.“, mit diesen Worten war sie auch schon wieder aus dem Zimmer verschwunden.

Ich setze mich auf die Couch im Eingangsbereich, Linda ist noch nicht wieder da. Ich denke nach. Was hat er für eine Krankheit? Warum weiß ich so wenig über ihn? Natürlich wühlt ihn die Vergangenheit auf. Aber wie die Schwester sagte, könnte es ihm auch gut tun, endlich darüber zu reden. Ich denke auch über Linda nach. Warum hat sie heute noch kein Wort gesagt? Was ist los mit ihr? Sie wirkt heute sehr gedankenverloren. Sie hat im Bus sofort meine Nähe gesucht.

Gedankenversunken merke ich nicht, wie Linda sich neben mich setzt. Erst als sie meine Hand in ihre nimmt kann ich meine Gedanken abschütteln und komme zurück in die Realität.

„Was ist mit dir los? Du hast heute noch kein Wort gesagt.“, ich wollte meiner Stimme Kraft geben, aber nur ein Flüstern verlässt meine Kehle. Ich sehe ihr tief in ihre kristallblauen Augen. Sie füllen sich mit Tränen. Sie versucht stark zu sein, kann es aber augenscheinlich nicht mehr.

„Ich…ich weiß nicht wie ich es sagen soll.“, ihre Stimme ist nur ein leises Krächzten, ich merke wie schwer ihr es fällt und küsse sie leicht.

„Meine Eltern…“, kommt nur zögerlich von ihr. Ich sage nichts, ich möchte es ihr nicht noch schwerer machen.

„Sie sind weg. Sie haben sich noch nie viel um mich gekümmert. Meine Oma hat bei uns gewohnt, aber seit sie hier ist, bin ich quasi allein und grade jetzt wo es meiner Oma immer schlechter geht, fahren sie für unbestimmte Zeit in den Urlaub.“, sie zittert stark und große Schluchzer entweichen ihr. Ihre Tränen kann sie nicht mehr zurück halten. Ich nehme sie in die Arme und versuche sie zu beruhigen. Nur langsam findet sie ihren normalen Atemrhythmus wieder.

Mit tränenunterlaufenen Augen schaut sie mich an.

„Kommst du mit zu mir? Ich möchte nicht allein sein.“, flüstert sie mir entgegen, ich nicke und wische ihr die Tränen von der Wange.

Im Bus sitzt sie wieder auf meinem Schoß und ich halte sie fest um ihr zu zeigen, dass ich für sie da sein werde. Sie scheint sehr erschöpft zu sein. Als ihre Haltestelle kommt drücke ich den Knopf und nehme sie auf die Arme. Sie kuschelt sich an meinen Hals und ist schon fast eingeschlafen. Ich will sie nicht wecken, aber ich habe keine Ahnung wo ich hin muss. In diesem Stadtteil kenne ich mich nicht aus. Hier stehen nur große Villen und wenn ich hier lang laufe, komme ich mir immer klein und unbedeutend vor.

„Wo müssen wir lang?“, hauche ich in ihr Ohr und sie schaut verschlafen auf. Schon wieder sagt sie nichts, befreit sich nur aus meinem Griff und zieht mich hinter sich her.

Nach nur wenigen Minuten halten wir vor einer riesigen Villa und sie kramt in ihrer Tasche nach den Schlüsseln.

Das Haus ist innen genauso riesig, wie es von außen aussieht. An den Eingangsbereich, in den unser ganzes Wohnzimmer Platz finden könnte, schließt sich ein gigantischer offener Wohnbereich mit Küche an. Die gegenüberliegende Wand ist eine Glasfront, die wie der ganze Raum bis zum Dach reicht.

Unsere Schuhe lassen wir rücksichtslos an der Garderobe liegen und betreten das Wohnzimmer. Über uns befindet sich eine Galerie, die man durch eine Treppe an der Seite erreichen kann. Draußen, neben der großen Holzterrasse, befindet sich ein ebenerdiger Pool.

Ich finde das Haus zwar gigantisch, aber irgendetwas stört mich. Ich bekomme das Gefühl nicht richtig zu fassen, aber ich fühle mich unbehaglich. Alles wirkt kühl und steril, als würde hier gar niemand wohnen.

Linda zieht mich weiter auf die Couchlandschaft, die im Boden eingelassen ist.

Ich merke, dass sie mich jetzt braucht, deshalb lasse ich mich von ihr leicht auf das Sofa drücken, sodass sie sich auf mich legen kann. So liegen wir eine ganze Weile da, sie hat den Kopf auf meiner Brust abgelegt, ich habe einen Arm hinter meinem Kopf verschränkt und die andere Hand streicht ihr über den Rücken.

Ich merke wie mein T-Shirt, an der Stelle wo ihr Kopf liegt, leicht nass wird und nehme Lindas Gesicht in die Hände um sie zu zwingen mich anzusehen. Sie weint.

„Was ist das mit uns? Ich fühle mich dir so verbunden, als würden wir uns schon ewig kennen, dabei weiß ich nichts von dir und du nichts von mir. Mein Herz hämmert so schnell wenn ich dir nur in die Augen blicke, du lässt mich sein wie ich bin. Ich habe sowas noch nie gefühlt, aber es fühlt sich seit langen endlich mal wieder richtig an. Meine Gefühle, die ich so lang versteckt habe, sind jetzt alle wieder da. Ich habe versucht stark zu sein, aber ich weiß, dass ich es bei dir nicht sein muss. Was ist das?“, fragt sie mit Tränen erstickter Stimme, die Gedanken, die mir schon seit zwei Tagen durch den Kopf gehen.

„Ich weiß es nicht genau, aber ich fühle das Gleiche.  Diese Vertrautheit zwischen uns, dieses Verstehen ohne Worte. Ich habe lange mit meiner Schwester darüber geredet. Sie sagt es ist Schicksal, Seelenverwandtschaft und auch wenn ich eigentlich nicht an so etwas glaube, denke ich sie hat Recht. Früher hatte ich eine ähnliche Verbindung zu ihr, aber ich habe mich verändert und das nicht zum Positiven. Erst nach dem ich dir begegnet bin und meinem Opa besuche habe ich das Gefühl mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.“, auch mir laufen nun Tränen über die Wange, denn ich denke an all das was in den letzten Monaten schief gegangen ist, wie ich in nur so kurzer Zeit mein Leben vor die Wand fahren konnte.

„Ich möchte gern deine Familie kennen lernen.“, reißt mich Lindas sanfte Stimme aus meinen Gedanken.

„Hältst du das für eine gute Idee? Ich komme mit meinen Eltern nicht so gut klar, unser Verhältnis war nie das Beste und seit ich mich so verändert habe, ist es noch schlimmer. Manchmal habe ich das Gefühl, sie haben nur Kinder bekommen, weil jedes Ehepaar welche bekommt.“, entgegne ich ihr mit einem Runzeln auf der Stirn.

„Meine Familie war immer nur meine Oma, ich würde gern eine halbwegs normale Familie kennen lernen.“, sie legt ihren Kopf wieder auf meiner Brust ab und wir schweigen uns wieder an.

Natürlich würde ich ihr gern meine Familie vorstellen, aber ich habe Angst meine Eltern könnten sie verschrecken. Wenn sie nervös sind reden sie einfach drauf los ohne nachzudenken und das könnte für mich ganz schön nach hinten losgehen.

Klar werde ich Linda auch irgendwann von den letzten Monaten erzählen, von den falschen Freunden, den Saufpartys  und den Jungs Streichen, die die Polizei gar nicht so toll fand, aber ich will den Zeitpunkt selber aussuchen.

Ich muss eingeschlafen sein, denn jetzt dämmert es schon draußen. Auch Linda schläft auf meiner Brust. Ich beobachte ihre sanften Züge und streichele ihr über die Haare. Verschlafen öffnet sie ihre blauen Augen und schaut in meine.

„Ich sollte nach Hause gehen.“, hauche ich ihr entgegen um die Stille nicht ganz zu durchbrechen.

„Bleib, bitte!“, wieder schießen ihr Tränen in die Augen und ich kann nicht anders als zu nicken und sie mit meinen Armen zu umschließen.

Plötzlich meldet sich mein Magen zu Wort und da Linda noch immer auf meiner Brust liegt hört sie es deutlich und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an.

„Hast du vor mich aufzufressen?“, fragt sie mich und kann sich ein Lachen nicht verkneifen. Beide brechen wir in ein schallendes Gelächter aus. Es ist so schön sie lachen zu sehen, mit ihr zu lachen.

„Ja, mit Haut und Haaren.“, bringe ich, um Luft schnappend, hervor und beginne sie zu kitzeln.

„BITTE NICHT. Ich mach ja schon was zu essen, aber hör auf. Bitte, bitte.“, lacht sie laut auf.

„Mehr will auch nicht.“, beende ich die Kitzelattacke und hebe unschuldig die Hände.

Langsam setzten wir uns auf, unsere Gesichter glühen vom vielen Lachen.

„Du bist wunderschön wenn du lachst.“, murmele ich, Linda steigt noch mehr Blut in den Kopf und sie dreht sich weg. Ich nehme ihr Kinn in die Hand und zwinge sie mich anzusehen. Langsam bewegen sich unsere Lippen aufeinander zu und ein Knistern liegt in der Luft. Als sich unsere Lippen berühren ist es anders als am Montag, viel intimer, viel intensiver, viel besser. Während ich mit meiner Zunge über ihre Lippen gleite, öffnet sie ihren Mund und massiert meine Zunge mit ihrer. Immer näher ziehe ich sie an mich, ich kann es nicht ertragen, wenn auch nur ein Zentimeter Freiraum zwischen uns liegt. Unser Kuss wird leidenschaftlicher und sie fährt mir durch meine Haare. Atemlos trennen wir uns wieder voneinander und schauen uns tief in die Augen.

Bedächtig steht sie auf und zieht mich hinter sich her in die Küche.

„Was möchtest du essen?“, fragt sie mit einem Blick in den Kühlschrank.

„Pizza?“, es ist eher ein Frage als eine Antwort. Lachend dreht sie sich wieder zu mir um und hebt die Augenbrauen.

„Tiefgekühlt oder bestellt?“, übergeht sie die Unsicherheit in meiner Antwort.

„Wie du willst!“, ich springe galant auf die Arbeitsplatte und lasse sie nicht aus den Augen.

„Hmm…“, überlegt sie, „… dann bestellen, aber wunder dich nicht ich habe bei Pizza spezielle Gelüste.“, sie tritt vor mich und haucht mir einen Kuss auf die Nasenspitze. Fragend hebe ich die Augenbrauen und lege meinen Kopf schief.

„Ich mag Oliven, ich mag Sardinen und ich mag Ananas, am besten alles gleichzeitig auf einer heißen Pizza.“, sagt sie schulterzuckend. Angewidert schnaufe ich laut aus, was ihr aber nur ein Grinsen entlockt.

Sie schlendert, unter meinen permanent auf ihr liegenden Blicken, zum Telefon.

„Was möchtest du?“, fragt sie während sie die Nummer wählt.

„Thunfisch.“, antworte ich ihr knapp und nun ist sie es die angewidert das Gesicht verzieht.

Nachdem sie die Pizza bestellt hat, telefoniere ich kurz mit Vicky und versuche sie zu überreden, unsere Eltern davon zu überzeugen, dass ich heute nicht mehr nach Hause kommen werde. Ich weiß wenn ich meine Mutter darum gebeten hätte, wäre sie ausgeflippt, weil sie denkt ich hänge mit den Jungs ab und um ihr nicht von Linda zu erzählen hätte ich es so stehen lassen. Also bin ich froh, dass Vicky diese Aufgabe nun für mich übernimmt.

„Danke.“, flüstert Linda mir zu und wieder schießen ihr Tränen in die Augen.    

Nachdem die Pizza geliefert wurde sitzen wir nun engumschlungen auf der Couch und schauen einen Film.

Lindas Atem geht leise und regelmäßig, ich schaue zu ihr hinunter und bemerke, dass sie schläft.

Behutsam nehme ich sie auf den Arm und trage sie die Treppe hinauf, wo ich die Schlafzimmer vermute.

Erst bei der dritten Tür habe ich Glück und betrete mit Linda in meinen Armen ihr Zimmer. Es ist groß und kein typische Mädchenzimmer. Es ähnelt dem von Vicky nur sehen die Möbel wesentlich edler aus.

Vorsichtig lege ich sie auf dem großen Bett ab und decke sie zu.

Bedacht möglichst leise zu sein steige ich die Treppe wieder hinab. Auf der Couch schnappe ich mir die Decke aus einer der Ecken und kuschle mich in eines der Kissen.

Meinen Gedanken nachhängend schlafe ich irgendwann ein.

„Micha, wach auf. Michael.“, ruft jemand, ich merke wie ich mich hin und her wälze, wie mir kalter Schweiß auf der Stirn steht, wie ich keuchend atme und wie mein Puls rast. Vorsichtig werde ich an einer Schulter gepackt und öffne panisch die Augen. Linda sieht mich schockiert an, auch in der Dunkelheit des Wohnzimmers kann ich ihre leuchtend blauen Augen erkennen.

Etwas verschreckt setze ich mich auf. Linda ist sofort an meiner Seite und nimmt mich in den Arm.

„Du hattest einen Alptraum, du hast geschrien und dich hin und her gewälzt.“, sagte sie leicht eingeschüchtert.

Langsam kommt die Erinnerung wieder. Ich habe geträumt. Geträumt von meinem Opa. Von seinem Tod. Davon, dass er seine Geschichte nicht zu Ende bringen konnte. Dass er mich mit seinem Letzten Blick beschuldigend ansieht. Er hat gesagt ich bin Schuld, dass sein letzter Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist.

Leise Tränen laufen mir über die Wange, als ich merke wie vergänglich die Zeit mit meinem Großvater sei kann. Ich hoffe uns bleibt noch genügend Zeit. Ich muss öfter zu ihm, ihm mehr Zeit in meinem Leben einräumen, um sicher zu gehen, dass mein Alptraum nicht wahr wird. Dieser eine Gedanke dominiert im meinen Kopf und setzt sich fest.

Ich liege auf Lindas Schoß und sie streichelt mir sanft über die Haare. Irgendwann schläft sie wieder ein, aber ich kann nicht mehr schlafen. Lange schaue ich an die hohe Decke und denke nach.

Hat mein Opa wirklich nur noch so wenig Zeit? Was hat er für eine Krankheit? Wie wird seine Geschichte weiter gehen? Was hat er im Krieg erlebt?

Ich beschließe ihn nun täglich zu besuchen und bin damit etwas beruhigter auch wenn ein kleiner Klumpen in der Magengrube bei mir übrig bleibt.

Als es draußen beginnt zu dämmern nehme ich eine ausgiebige Dusche und bereite uns ein kleines Frühstück vor.

Nachdem ich fertig bin schläft Linda noch. Ich habe sie vorsichtig hingelegt und zugedeckt. Ich setze mich ihr gegenüber und beobachte ihre sanften Gesichtszüge. Sie ist so wunderschön. Eine Welle ihres leicht gelockten blonden Haares fällt in ihr Gesicht und ich muss lächeln als ich dem Drang nachgebe ihr diese Strähne wieder hinters Ohr zu streichen.

„Guten Morgen.“, sagt Linda verschlafen und grinst mich breit an. Ihre Augen hat sie noch geschlossen, als ich meine Lippen auf ihre lege. Ich habe das Gefühl mein Herz läuft über so viel Liebe liegt in diesem Kuss.

„Guten Morgen, Süße.“, flüstere ich in ihr Ohr, als sich unsere Lippen wieder trennen. Ich sehe wie sie am ganzen Körper Gänsehaut bekommt und ihr Blut in die Wangen steigt.

„Süße?“, fragt sie verlegen.

„Ja, weil deine Küsse süßer sind als jeder Zucker der Welt.“, ich ziehe sie hoch und nehme sie in die Arme.

„Ich werde gleich ins Pflegeheim fahren. Kommst du mit?“, frage ich als wir am Frühstückstisch sitzen.

„Was hast du geträumt heute Nacht?“, erwidert sie, ohne auf meine Frage einzugehen.

„Von meinem Opa.“, druckse ich herum.

„Du hast geträumt, dass er stirbt.“, sie sieht mir tief in die Augen, ich kann nur nicken, da mir wieder Tränen in die Augen steigen.

„Er hat mir die Schuld gegeben, dass er seine Geschichte nicht zu Ende bringen konnte. Er hat mich so angesehen, so…“, meine Stimme bricht, ich kann nicht weiter reden. Der Kloß in meinem Hals schnürt mir die Luft ab und die Tränen die nun über meine Wange laufen vernebeln mir die Sicht.

Dieses Versprechen verlangt alles von mir ab. Was passiert wenn er seine Geschichte wirklich nicht beenden kann?

Linda nimmt mich in den Arm und ich beruhige mich ein wenig.

„Ich kann nicht mitkommen, ich ertrage es nicht meine Oma ständig so zu sehen. Schon sie aller zwei Tage zu besuchen bricht mir fast das Herz. Ich habe auch schon von ihrem Tod geträumt, aber sie hat mir keine Vorwürfe gemacht.“, gibt sie leise zu.

Ich wische mir die letzten Tränen aus den Augen, strafe meine Schultern und stehe auf um mich auf den Weg ins Pflegheim zu machen.

„Holst du mich ab? Dann fahren wir zu mir, du wolltest doch meine Familie kennen lernen.“, frage ich Linda, die hinter mir im Türrahmen steht, während ich meine Sneakers anziehe.

„Gerne.“, sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände und haucht mir einen Kuss auf die Lippen.

Auf dem Weg ins Pflegeheim versuche ich meinen Traum zu vergessen. Ich muss stark für ihn sein.

Leise klopfe ich an seine Tür und trete ohne auf eine Antwort zu warten herein.

„Michael, schön dich zu sehen.“, Opa Ben sitzt am Tisch liest eine Zeitung und nippt von seinem Kaffee. Er scheint wie ausgewechselt, nicht deutet mehr darauf hin, dass es ihm gestern so schlecht ging.

„Hallo Opa.“, sage ich nur und lasse mich ihm gegenüber auf einen Stuhl fallen.

„Es tut mir leid, dass du gestern meine schlechte Verfassung miterleben musstest, aber ich habe die Befürchtung, solche schlechten Tage werden sich in nächste Zeit häufen.“, scheint er meinen verwirrten Blick zu erwidern.

„Es freut mich, dass es dir heute wieder besser geht.“, ich versuche ein Lächeln auf meine Lippen zu bringen, aber scheitere kläglich.

„Ich will nicht pietätlos erscheinen, aber dürfte ich erfahren was du hast, warum es dir so schlecht geht?“, frage ich leicht zögernd.

„Du bist nicht pietätlos, aber das wird sich aus meiner Geschichte ergeben. Außerdem möchte ich dich nicht meiner Krankengeschichte langweilen.“, antwortet er.

Wenn du deine Geschichte überhaupt beenden kannst, schießt es mir durch den Kopf. Ich schüttle diesen Gedanken schnell ab.

„Darfst du eigentlich hier raus?“, versuche ich zu erfahren. Ich würde gern mit ihm raus in den Park, es ist so ein schöner Tag heute.

„Aber natürlich, glaubst du, die könnten mich hier festhalten? Allerdings werde ich einen Rollstuhl benötigen, lange Strecken oder langes Stehen kann ich nicht mehr.“, grinst er mir entgegen.

Ich besorge ihm einen Rollstuhl und fahre ihn schweigend in den Park. Wir setzten uns auf eine Bank und der Rollstuhl steht neben uns.

„Es tut mir so leid wegen gestern, ich glaube ich war da angelangt als wir an die Front abgesetzt wurden mitten im Nirgendwo.“, vermutet er leise. Ich nicke, lehne mich auf der Bank zurück und lasse meinen Blick in die Ferne schweifen.

„Wir hatten den Auftrag so schnell wie möglich, so viel wie möglich Strecke nach Moskau zurück zu legen und dabei die Dörfer und Kleinstädte einzunehmen. Wir kamen recht gut voran dafür, dass wir zu Fuß waren. Ich war froh, dass ich nicht schießen musste, schon in der Ausbildung fand ich es schrecklich mit einer Waffe umzugehen. Wenn sich jemand wehrte haben es die anderen übernommen. Immer noch war ich der Außenseiter, der Rest meiner Kompanie waren  Nationalsozialisten durch und durch. Aber je mehr ich wieder unter Menschen war meldete sich meine Vernunft wieder und meine Ideale kamen mir wieder ins Bewusstsein.

Eines Tages fasste ich all meinen Mut zusammen und versuchte zu flüchten. Ich wusste nicht wohin ich sollte oder wo ich überhaupt war, aber ich konnte es nicht mehr ertragen unschuldige Menschen sterben zu sehen. Weit kam ich nicht, zwei holten mich ein. Sie machten mir mit ihren Waffen im Anschlag sehr deutlich, dass wenn ich nochmals versuchen sollte zu flüchten, sie nicht zögern würden mich zu erschießen. Also fügte ich mich wieder in die Kompanie ein, aber ich zog mich immer mehr zurück, ich wollte nicht ein Teil dieser perfiden Politik sein. Wir rückten immer weiter vor und der Sommer ging. Kurz vor Stalingrad trafen wir das erste Mal auf richtige Gegenwehr. Ein Stellungskampf bildete sich heraus und immer mehr Kompanien schlossen sich uns an. Wir hausten in unseren selber gegrabenen Schutzgraben. Ich meldete mich freiwillig für Aufgaben so weit weg vom Schützengraben wie möglich.

Im Herbst konnten wir noch Terrain gut machen, aber der Winter kam so schnell und unerwartet. Unsere Ausrüstung war nicht darauf ausgerichtet.

Ich bin sehr müde würdest du mich bitte zurück bringen?“, seine plötzliche Frage reist mich aus meinen Gedanken. Ich nicke, versinke aber schnell wieder in Gedanken. Ich habe schon von der Schlacht um Stalingrad gehört, aber es jetzt von jemand zu hören der live dabei war ist etwas anderes. Ich bin stolz auf ihn, das er versucht hat sich zu wehren. Ich verabscheue Gewalt, auch wenn ich in den letzten Monaten häufig versucht habe mich durch sie auszudrücken.

Nachdem ich Opa Ben wieder in sein Zimmer gebracht habe, gehe ich in den Eingangsbereich, wo Linda schon auf mich wartet.

„Na, viel geschafft heute?“, fragt sie mich als ich bei ihr ankomme. Ich nehme sie in die Arme, ich brauche ihre Nähe. Am liebsten würde ich einfach für immer so mit ihr in meinen Armen da stehen, aber das geht nicht. Nur zögerlich trenne ich mich wieder von ihr, sie schaut mir mitleidig in die Augen. Ich merke, dass sie fragen möchte was er mir erzählt, aber um dieser Frage zu entkommen schüttle ich bestimmend meinen Kopf. Ich muss erst selber damit klar kommen und verstehen, bis ich jemand anderen diese Geschichte erzählen kann.

Ich nehme ihre Hand in meine und ziehe sie hinter mir her. Als wir an der Bushaltestelle vorbei laufen sieht sie mich verständnislos an.

„Fährst du sonst nicht immer mit dem Bus nach Hause?“, sie bleibt stehen und zwingt mich sie anzusehen.

„Ja, aber ich möchte mit dir reden, ich möchte einfach alles über dich wissen. Dazu brauchen wir Zeit und die haben wir, wenn wir laufen.“, sage ich gebieterischer als gewollt. Ich hasse diese Seite an mir, wenn es mir schlecht geht kann ich sie nur schwer unterdrücken und das Ausleben dieser Seite in den letzten Monaten macht es in diesem Moment noch schwieriger.

Linda nimmt mich in den Arm und drückt sich so fest sie kann an mich. Im ersten Moment will ich sie von mir stoßen, aber dann merke ich wie ich mich unter ihrer Berührung entspanne.

„Es ist Okay.“, haucht sie mir immer wieder ins Ohr und ich entspanne mich immer weiter. Es ist schön zu wissen, dass sie an meiner Seite ist, dass sie besser weiß als ich was ich brauche.

Als ich wieder komplett Herr meiner Sinne bin, schiebe ich sie ein Stück von mir weg um sie zu küssen. Ich lege meine Hände auf ihre Hüfte und sie schlingt ihre um meinen Nacken. Atemlos kommen wir wieder auseinander und ein breites Grinsen zeichnet sich auf meinem Gesicht ab.

Langsam schlendernd laufen wir los. Sie erzählt mir von sich, wie sie aufgewachsen ist, wie ihre Eltern sind, wie ihre Oma ist, wie die Schule läuft und ich hänge an ihren Lippen. Nachdem sie fertig ist beginne ich mein bisheriges Leben zu erzählen, nur die letzten Monate spare ich aus. Ich vertröste sie auf später und sie versteht es. Auch versuche ich zu erklären, dass sie von meiner Familie nicht zu viel erwarten sollte.

Als wir vor meinem Elternhaus ankommen nehme ich sie kurz bei Seite.

„Würdest du bitte nichts davon erzählen, dass ich meinen Opa besuche. Wie du weißt sind sie nicht besonders gut auf ihn zu sprechen und ich möchte erst einmal selber damit umzugehen wissen.“, bittend sehe ich ihr in ihre blauen Augen. Lächelnd nickt sie uns küsst mich zärtlich.

„Alles zu seiner Zeit.“, sagt sie und nickt erneut bestätigend.

Das Abendessen verläuft einiger Maße ruhig, auch dadurch das Vicky unsere Eltern versucht im Zaum zu halten. Als wir fertig sind verziehe ich mich schnell mit Linda in mein Zimmer. Der Tag hat mich geschafft, ich brauche jetzt etwas um runter zu kommen und das kann ich am besten beim Zocken. Ich bin nie der Typ für Ballerspiele gewesen, aber jetzt habe ich auch die drei die ich hatte weggeschmissen. Ich kann einfach keine Waffe mehr benutzen, auch wenn sie fiktiv ist.

Ich sitze am Fußende meines Bettes auf dem Boden. Linda liegt bei mir, mit ihrem Kopf auf meinem Schoß. Ich drehe meine fiktiven Runden in der Wüste, die sich vor mir auf dem Bildschirm meines Fernsehers erstreckt, als es klopft. Vicky streckt ihre knallrot gefärbte Strubelmähne durch die Tür.

„Darf ich rein kommen?“, fragt sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

Ach meine Vicky, wie hätte ich auch nur eine Sekunde zweifeln können, dass sie sich ihr eigenes Bild von Linda machen will. In einem ‘Frauengespräch‘.

„Klar.“, sag ich knapp und ohne meinen Blick vom Bildschirm zu lösen.

Sie lässt sich auf mein Bett plumpsen und beobachtet eine Weile meine virtuellen Fahrkünste, dann klopft sie neben sich aufs Bett und Linda bemerkt, dass sie gemeint ist. Zögerlich kommt sie hoch und küsst mich sanft.

„Muss ich außer das Thema Opa noch etwas beachten.“, haucht sie mir ins Ohr und bekomme eine Gänsehaut, welche sie mit einem Lächeln bemerkt. Kopfschüttelnd gebe ich ihr einen weiteren Kuss und sie erhebt sich ganz.

Kurz folgt mein Blick ihrer Bewegung und sie setzt sich Vicky gegenüber in den Schneidersitz. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich daran denke, dass ich vor ein paar Tagen genauso mit Vicky auf ihrem Bett saß.

Ich drehe mich wieder zu Fernseher und rase durch virtuelle Welten. Ich bin nicht darauf aus das Gespräch zu belauschen, aber ich komme nicht umhin mitzubekommen, dass sich die zwei sehr gut zu verstehen scheinen.

„Cool du hast ein Tattoo. Ich will mir auch unbedingt eins stechen lassen wenn ich 16 bin.“, kreischt Linda fast und ich schrecke hoch.

„Ja es hat eine besondere Bedeutung. Für mich und Micha.“, erwidert Vicky und schaut mir tief in die Augen.

Ich stelle den Fernseher aus und geselle mich zu den Damen auf mein Bett. Linda schaut mich fragend an, ich ziehe sie zu mir auf den Schoß und küsse sie innig.

„Vicky und ich haben eine ganz besondere Beziehung. Es ist so viel mehr als nur Geschwisterliebe und um immer daran erinnert zu werden haben wir uns einmal geschworen, dieses Tattoo machen zu lassen. In den letzten Monaten wurde diese Verbindung auf eine hart Probe gestellt, aber heute bin ich mir umso sicherer, dass alles so richtig ist.“, ich sehe Vicky entschuldigend an und sie schenkt mir ein Lächeln.

„Wann willst du es dir stechen lassen?“, fragt Linda.

„In drei Wochen werde ich 16, meine Eltern wissen von unserem Schwur und auch wenn sie nicht besonders begeistert von Tattoos sind, haben sie mir eine Einverständniserklärung unterschrieben.“, antworte ich und küsse ihre Nasenspitze.

„Wann wirst du 16?“, fragt Vicky nach einer Weile der Stille.

„Auch in knapp drei Wochen, zwei Tage nach Micha.“, lacht Linda verschmitzt. Als wir vorhin auf dem Nachhauseweg festgestellt haben, dass wir nur so kurz nach einander Geburtstag haben konnten wir uns vor Lachen kaum halten.

Vickys Augen werden groß, „Na das ist ja ein Zufall.“, sie zwinkert mir zu und ich weiß genau was sie denkt. Sie glaubt nicht an Zufälle, sie sieht sich jetzt noch mehr in ihrer Theorie der Seelenverwandtschaft bestätigt.

Ich verdrehe leicht genervt die Augen, was ihr nur ein mildes Lächeln entlockt. Wieder kehrt eine Stille ein, aber keine unbehagliche, fast scheint es als würden wir uns nur durch unsere Blicke verständigen.

„Wisst ihr was? Ich schenke euch beiden das Tattoo.“, wirft Vicky in die Stille hinein und ich weiß, durch ihre Stimmlage, sie duldet keine Wiederrede.

„Das kannst du doch nicht machen, du kennst mich erst ein paar Stunden und außerdem ist das euer Schwur.“, wehrt sich Linda, aber ich kann nur milde lächeln, denn gegen Vicky hat sie absolut keine Chance.

„Ich kann und ich werde. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn du in unseren Pakt mit einsteigen würdest, aber ich zwinge dich zu nichts.“, erwidert Vicky.

„Micha sag doch auch mal was.“, wendet sich Linda nun an mich.

„Sorry Süße, ich weiß, wann ich nachgeben muss und das ist genau jetzt. Auch ich würde mich freuen, wenn du dir dieses Symbol unserer Verbundenheit tätowieren lassen würdest.“, sage ich bestimmt aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Ich sehe Linda in die Augen und sehe wie sich ihre langsam mit Tränen füllen.

„Ich hab euch nicht verdient!“, mit diesen Worten schling sie ihre Arme fest um mich und schluchzt laut auf.

„Du hast noch viel besseres verdient.“, flüstre ich in ihr Ohr und streichle über ihren Rücken.

Vicky steht vom Bett auf und schleicht in Richtung Tür. Im Türrahmen stehend dreht sie sich nochmal um und ich forme ein lautloses ‘Danke‘ mit den Lippen.

Ich lasse Linda noch eine Weile weinen, ich weiß wie wichtig es ist sich mal richtig auszuheulen und ich weiß auch, dass es nicht nur um das Tattoo geht.

Irgendwann habe ich sie soweit beruhigt, dass wir uns hinlegen können. Eng an mich geschlungen schläft Linda immer noch unter großen Schluchzern ein. Eine Weile höre ich ihrem gleichmäßigen Atem zu und lasse mir den Tag durch den Kopf gehen, eher ich auch einschlafe. Ich schlafe unruhig, immer wieder sehe ich Opa Ben, der mich beschuldigend ansieht.

 

 

Die nächsten drei Wochen laufen nach demselben Schema. Ich fahre jeden Tag zum Pflegeheim, Opa Ben erzählt mir von jedem einzelnen Tag im Krieg und Linda und ich fahren zu mir oder zu ihr. Vicky und Linda verstehen sich richtig gut, sie erzählt ihr viel von ihrer Oma, denn sie möchte mich nicht noch mehr belasten. Vicky nimmt uns ab und zu mit zu ihren Freunden, da wir keine wirklichen Freunde haben. Alle nehmen uns gut auf und ich verstehe, was Vicky an Jakob findet. Er ist ein eher ruhiger, besonnener Junge aber Vicky braucht einen Gegenpol.

Wir haben beschlossen unseren Geburtstag gemeinsam zu feiern. Nur mit viel Mühe konnte Vicky unsere Eltern schlussendlich davon überzeugen, dass wir bei Linda feiern. Aber auch nur im kleinen Kreis, Vickys Clique, die mittlerweile auch zu unserer geworden ist und das war es auch schon. 10 Personen.

Ich habe mir für Linda ein besonderes Geschenk einfallen lassen, aber ich weiß nicht wie sie darauf reagieren wird. Ich würde gern heute das erste Mal mit einer Frau schlafen und das soll natürlich Linda sein.

Ich kann mich gar nicht richtig auf Opa Bens Geschichte konzentrieren, viel zu viele Gedanken kreisen in meinem Kopf. Er erzählt davon, dass sie in diesem Winter immer weiter zurück gedrängt wurden und dass er zwei Zehen durch die Kälte verloren hat, aber ich bin nicht bei der Sache und das macht mich wütend auf mich selbst. Die letzten vier Wochen konnte ich mich so gut auf seine Geschichte einlassen wie ich es nie für möglich gehalten habe und jetzt drängt sich die ganze Zeit Linda in meine Gedanken. Aber allein schon der Gedanke an sie lässt meine Wut verfliegen und ein Lächeln zeichnet sich auf meinem Gesicht ab.

„Ich hab dir zwar schon gratuliert Michael, aber erst heute kann ich dir dein Geschenk geben. Oma hat eine Weile gebraucht es zu finden.“, reist mich Opa Ben aus meinen Gedanken und überreicht mir eine kleine Holzschachtel.

Ich schaue ihn verständnislos an, aber er nickt mir nur aufmunternd zu.

Zaghaft öffne ich die Schatulle, darin liegt eine ovale Metallscheibe. Zahlen und Buchstaben sind darauf eingestanzt und sie sieht aus als sei sie lange nicht gepflegt wurden. Eine silberne Kette ist  an zwei Löchern eingefädelt. Vorsichtig nehme ich sie heraus und streiche über das kalte Metall.

„Meine Erkennungsmarke, ich möchte das du sie bekommst und mich so vielleicht nicht allzu schnell vergisst.“, seine Stimme bricht und eine Träne läuft in über die Wange.

Ich stecke die Kette zurück in die Schachtel, stelle sie auf dem Tisch ab und stehe kurz unschlüssig vor dem Bett.

Dann kann ich nicht mehr an mich halten, die ganze Zeit habe ich versucht stark für ihn zu sein um es ihm einfacher zu machen, aber jetzt in diesem Moment kann ich nicht mehr stark sein. Ich werfe mich ihm regelrecht ein den Hals und beginne zu heule wie ein Baby.

„Ich werde dich nie vergessen, nie.“, bringe ich mit großer Anstrengung zwischen zwei Schluchzern heraus.

Opa Ben streichelt mir beruhigend über den Rücken. Ich merke aber, dass er selber kaum noch seine Tränen zurückhalten kann. Ich beruhige mich, straffe meine Schultern und mache mich behutsam von ihm los.

Schnell schnappe ich meine Sachen und bin schon an der Tür als ich mich nochmal umdrehe.

„Danke.“, sage ich immer noch tränenerstickt und gehe hinaus. Ich weiß, dass er nicht möchte, dass ich ihn weinen sehe und ich könnte es in diesem Moment auch einfach nicht ertragen. Neben der Tür lasse ich mich an der Wand hinunter gleiten und wieder über rollen mich meine Gefühle. Linda ist heut nicht mehr im Pflegeheim, sie hat ihre Oma nur kurz besucht und ist dann alleine zurück gefahren um unsere Feier vorzubereiten. So wie es besprochen war. So gebe ich mich alleine, einige Zeit einfach meinen Gefühlen hin und versinke in ihnen. 

Plötzlich steht jemand vor mir und reicht mir ein Taschentuch. Unter meinem Tränenschleier blicke ich auf und erkenne Vicky lediglich an ihren roten Haaren. Sie zieht mich hoch und nimmt mich einfach in die Arme. Unter ihre Berührung beruhige ich mich schnell und sehe sie dann verständnislos an.

„Ich habe gespürt, dass es dir nicht gut geht. Ich wusste, dass du mich brauchst und da habe ich Linda gefragt wo ich dich finden kann. Ich hab nicht schlecht gestaunt, aber ich werde nicht fragen, was du hier machst, du wirst es mir erzählen, wenn du bereit dazu bist.“, sagt sie verständnisvoll und drück mich nochmal fest an sich, bevor wir das Pflegheim verlassen.

Als wir bei Linda ankommen hat sie soweit alles vorbereitet und kommt uns im Flur entgegen. Sie zieht mich liebevoll in ihre Arme.

„Es tut mir leid, aber sie hat sich solche Sorgen gemacht.“, flüstert sie mir in Ohr.

„Danke. Es ist okay. Ich hab sie wirklich gebraucht. Außerdem hat sie nicht weiter nachgefragt und lässt mir die Zeit die ich brauche um ihr das zu erklären.“, erwidere ich eben so leise.

Nach einander trudeln nun auch unsere Gäste ein. Vicky hat Bier und Wein besorgt, aber weiter wollen wir das Vertrauen unserer Eltern nicht ausnutzen. Auch so ist die Stimmung ausgelassen. Spät am Abend sitzen wir auf der Couchlandschaft und spielen Wahrheit oder Pflicht. Ich drehe und die Flasche bleibt bei Jakob hängen.

„Wahrheit oder Pflicht?“, frage ich mit einen Schmunzeln auf den Lippen. Vicky wirft mir einen bösen Blick zu, aber ich ignoriere sie.

„Pflicht.“, wählt Jakob und hat anscheinend meinen Augenkontakt mit Vicky nicht mitbekommen.

„Küss Vicky!“, sage ich knapp. Ich muss meiner Schwester einfach mal auf die Sprünge helfen, denn auch wenn sie sonst offen und auch ein bisschen verrückt ist, in Sachen Gefühle zeigen hat sie so ihre Probleme.

Jakob sieht verlegen zu Boden. Vicky sitzt direkt neben ihm und kann nicht aufhören, mir ihren Todesblick entgegen zu werfen.

Schüchtern dreht sich Jakob nun zu ihr, nimmt ihr Kinn in die Hand, sodass sie ihn ansehen muss und bewegt sich vorsichtig auf sie zu. Erst berühren sich ihre Lippen nur ganz leicht, aber dann entspannen sich beide sichtlich und geben sich dem Kuss hin.

„Du sollst sie küssen und nicht auffressen!“, versuche ich, nach einer Weile, gespielt schockiert zu sagen, aber ich kann mein Lachen nicht unterdrücken. Die beiden lösen sich verlegen wieder voneinander.

„Süße? Willst du ins Bett?“, frage ich Linda, die sich an meine Brust kuschelt und die Augen schließt. Es ist mittlerweile kurz vor zwei, aber es sind immer noch rege Gespräche im Gange.

„Hmm…“, nuschelt sie nur.

„Also ihr kennt eure Schlafplätze. Wir werden uns jetzt ins Bett begeben.“, sage ich laut in die Runde.

„Gute Nacht.“, rufe ich noch in die Runde, als ich mit Linda an der Hand schon an der Treppe stehe.

„Gute Nacht.“, kommt es von allen fröhlich zurück.

Schnell steige ich mit Linda die Treppe hoch. Wir haben schon die letzten Wochen zusammen in einem Bett, fest aneinander gekuschelt, geschlafen, aber mit meinem Plan im Hinterkopf bin ich doch etwas aufgeregt.

Als ich die Tür hinter uns geschlossen habe, versucht Linda weiter zum Bett zu laufen, aber ich halte sie fest an der Hand und ziehe sie an mich. Langsam beuge ich mich etwas zu ihr runter und küsse ihren Hals. Achtsam setzte ich kleine Küsse bis zu ihrem Ohrläppchen und bemerke schmunzelnd, dass sie ihre Augen schließt und auf ihrer Unterlippe kaut.

Vorsichtig schiebe ich meine Hand unter ihr Top und lasse sie ihren Rücken hinauf gleiten. Ihre Hände tun es mir gleich und legen sich, nachdem sie unter mein Shirt geschlüpft sind, auf meine Brust.

Ganz behutsam ziehe ich ihr das Top über den Kopf und schaue ihr in die Augen. Auch sie sieht mich an und in ihrem Blick liegt so viel Liebe, aber auch Verlangen.

„Bist du dir sicher?“, frage ich und hauche ihr einen Kuss auf ihren Brustansatz. Ich sehe sie nicht, merke aber, dass sie nickt.

„Ja!“, haucht sie als ich wieder hochkomme und küsst mich leidenschaftlich.

Bedacht darauf unsere Lippen nicht zu trennen, dirigiere ich sie zum Bett und öffne meine Hose.

Auch sie streift sich ihre Hose ab. Nachdem ich sie sanft aufs Bett geschupst habe, ziehe ich mir hastig mein T-Shirt über den Kopf. Sie sitzt am Fußende des Bettes auf der Kante, mustert mich und kaut wieder auf ihrer Unterlippe. Blut strömt in meine Lenden, diese Geste macht mich so an.

Verlangend küsse ich sie und treibe sie aufs Bett. Ich öffne ihren BH überraschend problemlos und küsse mich von ihrem Hals zu ihren Brüsten vor. Zaghaft nehme ich ihre Brustwarze in den Mund und spiele mit ihrem Nippel, welches ihr ein tiefes Stöhnen entlockt. Schelmisch grinse ich in mich hinein und arbeite mich weiter nach unten voran. Bei ihrem Slip angekommen setze ich mich leicht auf und ziehe ihn ihr runter. Nun trenne ich mich auch von meiner Boxershort und küsse ihre Scham. Wieder stöhnt sie auf, zieht mich dann aber rauf um mich stürmisch zu küssen. Ihre Hand gleitet an meiner Brust hinab und umschließt dann leicht mein steifes Glied, was mir wiederum ein Stöhnen abverlangt. Verlangend zieht sie mich an sich und führt mich in sie ein. Nun stöhnen wir beide auf und ich gebe einen langsamen Tackt vor. Begierig bäumt sie mir ihr Becken entgegen und ich steigere das Tempo. Unablässig küsse ich ihren Hals, ihre Brüste und ihre Lippen und steigere immer weiter die Geschwindigkeit. Ich merke wie auch meine Erregung steigt und ich wie im Wahn immer wieder in sie stoße. Linda krallt ihre Finger in meinen Rücken und ein lautes Stöhnen aus ihrer Kehle zeigt mir, dass sie ihren Höhepunkt erreicht hat. Noch zweimal stoße ich zu ehe mir auch ein weiteres Stöhnen entweicht und ich von meinen Gefühlen davon getragen, schwer atmend neben Linda zum Liegen komme.

„Happy Birthday!“, bringe ich heraus, als ich meinen Atem endlich wieder etwas unter Kontrolle habe.

Linda dreht sich zu mir. Ich sehe wie ihr Tränen in den Augen stehen.

„Oh Gott habe ich dir wehgetan?“, frage ich und sitze aufrecht im Bett. Sanft zieht sie mich in ihre Arme.

„Nein. Ich liebe dich.“, sie legt so viel Lieben in diesen Kuss, dass nun auch mir die Tränen in den Augen stehen.

„Ich liebe dich auch.“, hauche ich, mehr bringe ich einfach nicht zustande.

Selig schlafe ich mit Linda in den Armen ein. In den letzten Wochen hatte ich immer wieder Alpträume, in denen mir Opa Ben Vorwürfe macht, aber in dieser Nacht träume ich nur von Linda.

Als ich meine Augen öffne, muss ich mehrmals Blinzeln, da mir die Sonne ins Gesicht scheint. Nachdem ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, sehe ich in Lindas saphirblaue Augen. Sie liegt immer noch neben mir und beobachtet mich.

„Guten Morgen, meine Süße.“, kommt es heißer von mir, meine Stimme leidet gern unter Partys.

„Guten Morgen, mein Held. Wobei morgen etwas übertrieben ist, Mittag trifft es wohl eher.“, erwidert sie fröhlich, und drückt mir einen innigen Kuss auf die Lippen.

Ich ziehe sie an mich und verteile zarte Küsse auf ihrem Körper. Grade als sie die Initiative ergreift und sich mit einem Stöhnen auf mich setzt, klopft es an der Tür.

„Ich möchte das junge Liebesglück ja nicht stören, aber wir haben einen kleinen Brunch vorbereitet.“, kommt es kichernd von draußen und ich erkenne Floras Stimme.

Linda lässt sich wieder neben mir in die Kissen fallen.

„Danke, Flora. Wir sind gleich unten.“, antworte ich etwas genervt. Aus dem Flur kommt nur ein weiteres Kichern und Schritte entfernen sich. Aber nicht allzu weit und ich höre wie an einer weiteren Tür geklopft wird. Wieder kommt von Flora der gleiche Spruch und Vicky antwortet ihr.

Ein breites Grinsen zeichnet sich auf meinen Lippen ab.

„Es scheint, als hätte ich meine Schwester verkuppelt.“, sage ich und drehe mich zu Linda um sie zu küssen, bevor ich aufstehe und meine Sachen zusammen suche. Man die liegen ja wirklich im ganzen Raum verteilt. Auch Linda steht nun auf, als ich grade meine Jeans zuknöpfe. Sie kommt zu mir, umarmt mich von hinten, legt ihren Kopf auf meinen Rücken und streicht mir über die Brust.

„Wenn du so weiter machst verpassen wir den Brunch.“, flüstere ich in ihr Ohr.

„Und wenn schon?“, sie knabbert an meinem Ohrläppchen und ich stöhne auf. Ihre Berührungen zeigen ihre Wirkung, aber auch mein Magen meldet sich lautstark.

„Wenn ich jetzt nicht etwas zu essen bekomme, dann fresse ich dich doch noch.“, lach ich laut auf.

„Wir haben noch den Rest unseres Lebens.“, werfe ich leise hinter her, drücke ihr ein kurzen Kuss auf und verschwinde erstmal im Badezimmer, um ich abzukühlen.

Vor der Badezimmertür treffe ich auf Vicky. Sofort schließt sie mich fest in ihre Arme und drückt mir einen fechten Schmatzer auf die Wange.

„Danke.“, kommt es noch von ihr, bevor sie die Tür hinter sich schließt.

Mit einem breiten Lächeln gehe ich die Treppe hinunter, ohne zu merken, dass ich kein T-Shirt trage.

„Einen wunderschönen guten Morgen allerseits. Wir habt ihr geschlafen?“, frage ich bester Laune in die Runde und ernte belustigte Blicke.

„Bestimmt nicht so gut wie du, Adonis.“, kommt es von Dennis, mit einem anerkennenden Blick auf meinen muskulösen Oberkörper. Erst jetzt bemerke ich, dass ich obenrum nackt bin, tu es aber mit einem Schulterzucken ab.

„Nachdem ich mein eigentlich gemütliches Bett gegen die Couch und Vicky als Schlafpartner gegen 4 schnarchende Jungs tauschen musste, nicht mal ansatzweise gut.“, antwortet Flora, mit einem vernichtenden, aber auch amüsierten Blick Richtung Treppe. Dort kommen grade Vicky und Jakob engumschlungen herunter, dicht gefolgt von Linda. 

Der Brunch zieht sich in die Länge, als dann auch noch Stefan, der zuhause geschlafen hat, vorbei kommt und Kuchen mitbringt, sitzen wir den ganzen Tag am großen Esstisch.

Erst gegen Abend fällt mir ein, dass ich nicht im Pflegeheim war und mache mir starke Vorwürfe. Zerknirscht sitze ich auf der Couch und bete inständig, dass ich durch mein egoistisches Verhalten nicht doch noch den letzten Wunsch meines Großvaters verwirkt habe.

In dieser Nacht schlafe ich sehr schlecht, ich wälze mich hin und her und mache kaum ein Auge zu. Wenn ich doch einschlafe, schrecke ich kurze Zeit später von dem mir nur allzu gut bekannten Alptraum hoch. Linda ist zwar an meiner Seite aber auch sie schafft es nicht mich wirklich zu beruhigen.

Schon früh am Morgen mache ich mich zu Fuß auf den Weg ins Pflegeheim. Ich versuche meinen Kopf frei zu bekommen, aber ich scheitere kläglich.

Vor dem Zimmer angekommen kann ich einfach nicht klopfen. Wie geht es ihm heute? Kann er mir verzeihen, dass ich gestern nicht da war? Kann ich mir verzeihen, dass ich gestern nicht da war?

Plötzlich öffnet sich die Tür von innen und Opa Ben wird von einer Pflegerin mit dem Rollstuhl in den Flur gefahren. Als sich unsere Blicke treffen, schießen mir sofort Tränen in die Augen.

„Es tut mir so leid, dass ich gestern nicht da war.“, bringe ich mit brüchiger Stimme hervor.

„Michael. Es ist okay. Ich habe nie verlangt, dass du jeden Tag kommst. Alles ist gut.“, versucht er mich zu beruhigen. Ich kann mich aber nicht beruhigen, alles bricht aus mir raus. Unter heftigen Schluchzern erzähl ich ihm von meinen Alpträumen, meinen Vorwürfen und Befürchtungen.

„Ich wollte nie, dass du dir Vorwürfe machst. Ich wollte dir eine Chance geben und mir einfach mal alles von der Seele reden. Ich hatte gehofft, dass du stark genug bist. Aber ich wollte dich nie unter Druck setzten. Wenn ich meine Geschichte beende, dann ist es gut, wenn nicht kann es keiner ändern und keiner ist schuld daran. Schon gar nicht du. Du bist derjenige der mir zuhört, dem ich vertraue. Ich könnte dir nie an irgendetwas die Schuld geben.“, sagt er leise mit seiner rauen Stimme. Ich nicke zaghaft. Kann ich ihm glauben? Er vertraut mir, aber vertraue ich ihm? Was wann er, wenn es hart auf hart kommt mich doch beschuldigt? Ich kann es nicht beeinflussen muss ich resigniert einsehen. Ich kann nur die Zeit die uns noch bleibt für ihn da sein und stark sein, dass sein vertrauen gerechtfertigt ist.

Ich beruhige mich, straffe meine Schultern und sehe ihn abwartend an.

„Ich mache nur weiter, wenn es für dich wirklich okay ist und du dir keine Vorwürfe mehr wegen mir machst.“, in seiner Stimme kann ich Angst erkennen.

„Ja, es ist okay.“, ich versuche meiner Stimme so viel Kraft zu geben wie ich noch in mir habe und es gelingt mir erstaunlich gut.

„Also gut. Wir wurden immer weiter zurückgedrängt, aber die Kälte folgte uns. Eines Tages, ich habe schon lang vergessen welcher Tag es war. Es war sowieso jeder Tag wie der andere, rund um die Uhr im Einsatz, immer gefechtsbereit, auch wenn ich nie schoss. Eines Tages also kamen wir, unter Beschuss, in einen Wald. Ich erkannte meine Chance und rannte einfach in eine andere Richtung. Weg von den anderen, weg von den Schüssen und vor allem weg vom Krieg. Ich rannte so lange bis mich meine Beine nicht mehr trugen. Es war schon dunkel und ich saß nun alleine mitten in der sibirischen Pampa. Oder auch woanders. Ich wusste nicht wo ich war. Weder wusste ich welche Stadt in der Nähe sein könnte, geschweige denn in welchem Land ich war. Ich konnte zwar vor dem Alptraum des nationalsozialistischen Krieges flüchten, nur wie lange? Und wie sollte ich alleine Überleben? Im Feindgebiet. Ohne Essen. Ohne Trinken. Ohne Unterschlupf. Mitten im Winter. Mit Hakenkreuzen auf jedem Kleidungsstück.“, ich höre die Verzweiflung in seiner Stimme, die er damals gehabt haben muss. Er war seinen Idealen gefolgt, aber um welchen Preis?

„Mein Marschgepäck gab nicht viel her. Mein Wasser war nach wenigen Stunden aufgebraucht und Essen war von Beginn an nicht vorhanden. Als meine Beine mich wieder trugen lief ich weiter, in Richtung nirgendwo. Alles um mich herum war absolut still. Diese Stille war so unwirklich, nach dem zumeist ohrenbetäubenden Lärm der letzten Monate. Ich fühlte mich äußerst unwohl und automatisch verschnellerte sich mein Schritt. Ich lief, bis ich an einen zugefrorenen kleinen Teich kam…“, ein Klopfen reist uns beide aus seiner Geschichte. Erschrocken schauen wir uns an, als plötzlich schon eine Pflegekraft neben Opa Ben steht.

„Herr Fischer, es ist Zeit fürs Mittagessen. Sie müssen unbedingt essen, ihr Frühstück haben sie ja schon nicht angerührt.“, ohne auf eine Antwort zu warten, schnappt sie sich seinen Rollstuhl und will ihm zur Tür hinaus fahren.

„Könnte ich meinem Enkel wenigstens auf Wiedersehen sagen!“, schreit er sie regelrecht an und ich zucke unwillkürlich zusammen. Warum geht er mit anderen Leuten so um? Na gut, sie war jetzt auch nicht grade nett, aber ich finde seine Reaktion doch sehr übertrieben. Jetzt habe ich wirklich das erste Mal richtig Angst vor ihm. Wird er auch so reagieren, wenn er seine Geschichte nicht zu Ende bringen kann? Oder kann ich ihm vertrauen?

„Aber natürlich, Herr Fischer.“, sagt sie etwas freundlicher und tritt ein paar Schritte vom Rollstuhl weg.

Opa Ben kommt an den Tisch zurück und bemerkt wahrscheinlich meinen verwirrten Blick, denn er setzt sich neben mich und nimmt meine Hand in seine.

„Ich hoffe wirklich, dass du wieder kommst. Ich weiß, manchmal kann ich einfach nicht an mich halten, aber dich würde ich nie so behandeln. Ich verspreche dir ich gebe dir an nichts die Schuld. Bitte lass uns die Zeit die uns noch bleibt nutzen.“, seine Stimme ist so liebevoll, als wäre es nicht dieselbe, die grade die Pflegerin angeschrien hat.

„Bis morgen.“, ich kann einfach nicht mehr sagen. Ich muss erst meine Gedanken sortieren. Leicht drücke ich seine Hand, stehe auf und gehe.

Total verwirrt komme ich in den Eingangsbereich. Linda sitzt auf der Couch, sie sieht verweint aus, aber im Moment muss ich meine Gedanken ordnen. Wortlos sitzen wir nebeneinander. Irgendwann nimmt sie meine Hand, aber ich bemerke es kaum.

Warum behandelt er andere Menschen nur so? Ist das sein wahres Ich? Hat er meine Mutter, den Rest der Familie, auch so behandelt? Sind sie deshalb so zu ihm?

Jetzt wo ich weiß wie er sein kann, habe ich das Gefühl ich stelle seine ganze Geschichte in Frage. Ist es wirklich so abgelaufen wie er sagt? Was kann ich ihm noch glauben?

Ein lautes Schluchzen reißt mich aus meinen Gedanken. Linda weint. Sie braucht mich jetzt, ich muss meine Gedanken und Fragen erst einmal hinten anstellen.

Ich ziehe sie zu mir auf den Schoß, wiege sie leicht hin und her und versuche sie zu beruhigen.

„Was ist los, Süße?“, flüstere ich, als sie sich ein wenig beruhigt hat.

„Sie… sie… sie stirbt. Sie war heute kaum noch… kaum noch ansprechbar.“, ihre Stimme bebt unter ihren Schluchzern.

Ich drücke sie fester an mich und hauche ihr küsse auf die Stirn. Ich fühle, wie ihr Herz rast, ich nehme ihre Hand und lege sie auf meiner Brust ab. Ich denke nicht darüber nach was ich tue, es erscheint mir einfach richtig. Langsam merke ich wie sich ihr Atem beruhigt und ihr Herzschlag sich meinem anpasst.

„Zu mir oder zu dir?“, frage ich sie sanft.

„Zu mir, ich möchte mit dir alleine sein, wenn das okay ist?“, gibt sie leise zurück. Ich antworte nicht, trage sie einfach wortlos zur Bushaltestelle und wir fahren zu ihr. Ich trage sie die ganze Zeit, denn ich weiß wie sie diese ganze Situation schwächt.

Wir liegen auf der Couch. Sie liegt auf meiner Brust. Wir hängen unseren Gedanken nach. Ich glaube sie ist eingeschlafen und auch ich kann meine Augen kaum mehr offen halten.

„Ich werde jetzt jeden Tag mit dir ins Pflegeheim gehen. Ich muss so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen, auch wenn es mir das Herz zerreißt sie so zu sehen. Ich muss stark sein für sie, sie braucht mich jetzt.“, sagt Linda in die Stille hinein und ich zucke zusammen, da ich wirklich geglaubt habe sie schläft.

Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und zwinge sie so mich anzusehen.

„Du musst nicht stark sein. Du solltest ihr deine Gefühle zeigen. Sie kennt dich. Sie weiß, was du für sie empfindest und genau das musst du ihr zeigen. Du liebst sie und sie stirbt, da ist es normal traurig zu sein. Aber wenn du denkst du musst stark für sie sein wirst du daran zerbrechen. Auch muss du dir sicher sein, ob du es schaffst sie jeden Tag so zu sehen. Schaffst du das? Kannst du ihr deine Gefühle zeigen?“, frage ich vorsichtig, da schon während meiner Worte Tränen über ihre Wangen laufen. Ich wische sie zärtlich bei Seite, aber sie entzieht mir ihr Gesicht und legt es wieder auf meiner Brust ab. Sie muss über meine Worte nachdenken. Ich weiß sie möchte stark sein um ihrer Oma zu helfen. Aber sie hilft ihr nicht, indem sie ihre Gefühle unterdrückt, das habe ich heute selber gemerkt.

Wieder wird mein T-Shirt an der Stelle, wo ihr Kopf liegt, nass, aber ich weiß sie muss sich alleine darüber klar werden wie stark sie ist und was sie möchte.

Langsam merke auch ich die Anstrengungen des Tages. Auch wenn ich jung und fit bin, die psychischen Strapazen der letzten Wochen zollen ihren Tribut. Immer wieder fallen mir die Augen zu und irgendwann kann ich sie nicht mehr offen halten. Das letzte was ich höre sind Lindas leise Schluchzer.

Als ich aufwache, bin ich alleine. Es ist schon dunkel draußen. Etwas verstört setzte ich mich auf. Wo ist Linda?

Mein Blick wandert durch den Raum, er liegt im silbrigen Mondlicht und meine Augen haben Probleme in der Dunkelheit etwas auszumachen. Aber eines fällt mir sofort ins Auge. Auf dem jetzt schwarz wirkenden Esstisch setzt sich eine weiße Stelle ab. Ein Zettel.

Noch schlaftrunken trete ich an den Tisch, nehme das Stück Papier an mich und setzte mich wieder auf die Couch, nachdem ich die kleine Lampe auf dem Beistelltisch angeschaltet habe.

Lieber Michael,

ich muss nachdenken. Allein. Es tut mir leid, dass ich nicht so offen mit dir darüber reden kann wie du es verdient hast. Deine Worte und deine Anwesenheit in den letzten Wochen haben so viele Gefühle in mir aufgewühlt. Gefühle die ich versucht habe zu unterdrücken, aber du hast Recht. Ich kann nicht immer stark sein. Ich kann nicht, aber ich habe immer das Gefühl gehabt ich muss. Bis du kamst. Bei dir kann ich sein wie ich wirklich bin und ich danke dir dafür.

Ich danke dir für alles und es tut mir wirklich leid.

Bitte mach dir keine Sorgen, ich brauche nur etwas Zeit für mich.

Ich liebe dich jetzt und in Ewigkeit

Linda

 

Nein! Das kann nicht ihr Ernst sein! Für mich klingt das eindeutig nach einem Abschiedsbrief. Ohne, dass ich es bemerke, fliesen leise Tränen über meine Wangen, tropfen auf den Zettel und verschmieren die Tinte.

Nur ein Gedanke schießt durch meinen Kopf. Ich muss sie aufhalten!

Ich muss sie finden, muss ihr zeigen, dass ihr Tod keine Lösung ist, dass ich ohne sie nicht mehr Leben kann.

Als ich grade die Tür verlassen will fällt mir ein, dass eine Suche mit dem Auto wohl schneller und effektiver wäre. Schnell rufe ich Vicky an und versuche, so gut es unter meiner zitternden Stimme möglich ist, ihr die Situation zu erklären. Sie verspricht mir die Stadt mit dem Auto abzusuchen und versucht mich vergeblich noch etwas zu beruhigen bis ich einfach auflege, als sie noch redet.

Ich renne aus der Tür, lass sie laut hinter mir zu schlagen und renne weiter. Wo soll ich suchen?

Blindlinks renne ich einfach weiter, ohne genau zu wissen wohin. Ich habe ein unbestimmtes Gefühl und folge ihm. Ich sprinte so schnell, dass meine Lunge schon brennt.

Mein Gefühl treibt mich immer weiter, vorbei am Altenheim und weiter in Richtung Park. Mit jedem Schritt, den ich tiefer in den Park eintrete, wackeln meine Beine mehr. Es ist stockdunkel. Langsam deutet sich ein Schatten auf einer Bank ab. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten und als sich der Schatten als Linda herausstellt, sinke ich auf die Knie. Ich sehe wie sie unter großen Schluchzern zuckt und mich überwältigt ein so tiefes Gefühl, dass ich laut aufschreie. Mein Schrei verhallt und verwandelt sich in bittere Tränen. Sie lebt. Ich habe mir die schlimmsten Szenarien ausgemalt. Sie tot vor mir liegen sehen. Die Bilder ihres leblosen Körper verschwinden langsam und zurück bleibt Trauer. Auch wenn ich sie nicht verloren habe, durchflutet mich eine tiefe Trauer.

Immer noch knie ich auf dem Kiesweg, habe mein Gesicht in meinen Händen vergraben und gebe mich meiner Trauer hin.

Plötzlich setz sich jemand neben mich und nimmt mich zaghaft in den Arm. Ich blicke nicht auf, ich spüre, dass es Linda ist. Ihre Berührung, ihre körperliche Anwesenheit, schafft es ein wenig der Trauer zu verdrängen. Doch das Gefühl, dass nun aufkommt ist noch schlimmer. Wut. Ich bin wütend auf Linda. Aber ich weiß, dass ich es ihr nicht zeigen darf.

„Es tut mir leid.“, flüstert sie mir immer wieder ins Ohr und haucht zarte Küsse auf meine Schläfe.

„Ich dachte… dein Zettel… es klang wie… du warst weg und…“, ich bringe keinen ordentlichen Satz zustande. Meine Gefühle richten ein heilloses Chaos in meinem Kopf an, doch langsam setzten sich zwei Gefühle durch, Erleichterung und Liebe.

Ich zieh Linda fester an mich, ich muss spüren, dass sie noch da ist, dass sie lebt.

Nur unterer aller Kraft, die ich noch aufbringen kann, beruhige ich mich. Vorsichtig mache ich mich von ihr los und sehe ihr lang in die Augen.

„Hattest du wirklich vor…? Ich hatte solche Angst, dass du…“, immer noch bekomme ich keine ordentlichen Satz zustande. Schon gar nicht kann ich meine Befürchtungen aussprechen. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals wenn ich nur daran denke.

Aber Linda versteht, was ich nicht sagen kann und entzieht mir ihren Blick. Verschüchtert dreht sie sich weg, aber ich sehe, dass sie wieder beginnt zu weinen.

„Ja, ich habe daran gedacht, ich hatte einen Plan, aber ich konnte nicht.“, schluchzt sie.

Ich nehme ihr Kinn in die Hand und zwinge sie mich anzusehen. Es bricht mir das Herz, sie so zu sehen, aber sie muss es aussprechen. Sie muss mich mir öffnen, sonst lebe ich in der ständigen Angst, sie könnte es doch tun. Ich fühle, dass es ihr Linderung bringen wird, wenn sie es ausspricht.

„Sag es, sprich es aus.“, fordere ich mit sanften Nachdruck. Sie versucht mir ihr Gesicht zu entziehen. Ich sehe ihre Angst in ihren Augen, aber ich lasse sie nicht los.

„Ich… ich…“, setzt sie an, bricht aber ab.

„Ich bin bei dir. Bitte sag es.“, versuche ich ihr zu helfen.

„Ich… wollte… mich… ich wollte mich umbringen. Ich wollte zum Bahnhof. Ich wollte mich vor einen Zug werfen.“, sagt sie tonlos und ihre Augen schauen mich leer an.

„Danke.“, flüstere ich leise und ziehe sie wieder in eine Umarmung. Wieder steigen Tränen in mir auf und laufen über meine erhitzten Wangen. Ich weiß, es war wichtig, dass sie es mir sagt aber ihre Worte haben mir tief ins Herz geschnitten und ihr leerer Blick hat das Messer umgedreht. Wie kann sie nur an so etwas denken? Weiß sie nicht wie sehr sie damit wehtut?

„Ich liebe dich, dass weiß du oder?“, versuche ich meine Unsicherheit über ihre Gefühle etwas zu dämpfen. Doch statt zu antworten und mir ähnliches zu sagen, nickt sie nur stumm und senkt ihren Blick.

Nach einer Weile, es beginnt schon zu dämmern, stehen wir gemeinsam auf und laufen in einander verschlungen zurück.

Beide hängen wir unseren Gedanken nach und gehen wie mechanisch den Weg entlang. Grade als ich das eiserne Tor, zur Villa von Lindas Eltern öffne, fällt mir ein, dass ich so schnell wie möglich Vicky anrufen muss, um ihr zusagen, dass ich Linda gefunden habe. Da fällt mein Blick auf die Veranda und die Gestalt, die zusammengekauert auf den Stufen sitzt. Sofort erkenne ich Vickys roten Wuschelkopf. Jetzt wo wir nah genug herangetreten sind erkenne ich, dass sie schläft. Die Suche und die Aufregung hat sie wohl genauso mitgenommen.

„Hey.“, sage ich sanft und sie schlägt erschrocken ihre Augen auf. Es dauert einen Moment ehe sie wieder richtig wach ist. Dann fällt ihr Blick auf Linda, die abwesend, neben mir steht. Vicky springt hastig auf und wirft sich ihr um den Hals. Linda braucht einen Augenblick um diese Geste zu realisieren, aber dann erwidert sie sie und drückt Vicky noch fester an sich. Sie flüstern miteinander aber ich verstehe nicht was sie sagen.

„Lasst uns rein gehen. Wir brauchen alle noch ein bisschen Schlaf.“, erkläre ich leise. Beide folgen mir wortlos, Hand in Hand ins Haus.

Am oberen Ende der Treppe, tauscht Linda Vickys Hand gegen meine und wir begeben uns in die Schlafzimmer.

Ich weiß, dass ich nicht mehr schlafen kann, aber ich lege mich neben Linda ins Bett und versuche ihr so meine Nähe zu geben.

„Ich brauche dich. Ich will spüren, dass ich lebe. Ich brauche einen Grund zum Leben.“, haucht sie mir ins Ohr und im selben Moment sitzt sie schon auf mir.

Ich kann sie gar nicht fragen, ob sie das wirklich für eine gute Idee hält, da sie meinen Mund mit fordernden Küssen verschließt. Rasch entledigt sie uns unserer Sachen, ohne mir genügend Luft zu lassen zu protestieren. Natürlich bleiben ihre Bemühungen bei mir nicht ohne eine Reaktion in meinem Lendenbereich und ich verfluche mich dafür, da ich wirklich der Meinung bin ein Gespräch oder Schlaf wären angebrachter in dieser Situation.

Mit einem lauten Stöhnen lässt sie sich auf meine Erektion fallen und auch ich kann mir einen ähnlichen Laut nicht verkneifen. Hastig und verlangend bewegt sie sich auf mir und ich merke wie meine Erregung immer mehr zunimmt. Obwohl mein Verstand sagt, dass es das Falsche ist, packe ich ihre Hüfte und presse sie noch stärker auf mich, bis wir beide fast gleichzeitig unseren Höhepunkt erreichen.

Schwer atmend sitzt sie immer noch auf mir, als ich wieder die Augen öffne und ich sehe wie ihr die Tränen über die Wange laufen. Sie lässt sich neben mich sinken und drückt sich fest an mich.

„Danke.“, murmelt sie noch, als sie ihren Kopf auf meiner Brust ablegt und einschläft. Ich liege wach, kann einfach meine Gedanken nicht abstellen. Warum hat sie das getan? beziehungsweise wollte sie das tun? Was passiert, wenn ihre Oma in absehbarer Zeit stirbt? Wie wird sie reagieren? Fragen die mich einfach nicht loslassen.

Als ich sicher bin, dass Linda tief und fest schläft, entziehe ich mich vorsichtig ihrer Umarmung und stehe auf. Ich klaube meine Sachen zusammen und gehe ins Bad. Ich brauche eine heiße Dusche und hoffe wenigstens ein Teil meiner Anspannung wird von dem warmen Wasser abgewaschen. Aber nach der Dusche geht es mir nicht wesentlich besser.

Gemächlich laufe ich zum Altenheim und kann immer noch keinen klaren Gedanken fassen.

Opa Ben sitzt am Tisch und isst sein Frühstück, als ich eintrete.

„Guten Morgen, Michael.“, begrüßt er mich fröhlich.

„Morgen.“, murmle ich abwesend und setzte mich ihm gegenüber.

Sofort fängt Opa Ben an zu erzählen, aber ich kann ihm nicht wirklich folgen. Mein Kopf lässt es nicht zu an etwas anderes zu denken, als an Linda. Nur Bruchstücke bekomme ich von seiner Geschichte mit. Scheinbar konnte er Wasser aus dem Teich gewinnen und auch Nahrung hat er sich irgendwie besorgt. Ich bemerke seine Trauer, als er mir erzählt, dass er einige Tiere umgebracht hat um nicht zu verhungern, aber ich reagiere nur geistesabwesend mit einem Nicken.

Meine Gedanken kreisen immer nur um dieses eine Thema. Lindas Hoffnungslosigkeit und ihre Reaktion darauf.

Nachdem Opa Ben erzählt hat, wie er sich immer weiter durchgeschlagen hat und immer verzweifelter wurde, stopp er plötzlich. Verdattert durch die abrupte Stille sehe ich ihn mit großen Augen an.

„Was ist los? Du wirkst heute irgendwie nicht richtig anwesend.“, fragt er mich nachdem er ausgiebig mein Gesicht studiert hat.

„Es ist nichts.“, versuche ich ihn halbherzig zu vertrösten. Ich möchte ihn nicht noch mit meinen Problemen belasten.

„Ich glaube du brauchst ein paar Tage Ruhe. Heute ist Donnerstag, ich möchte dich vor Montag hier nicht mehr sehen. Ich weiß, dass du im Moment viel zu verarbeiten hast und das braucht Zeit.“, erklärt er mit seiner rauen Stimme.

„Nein, das geht nicht. Deine Zeit ist kostbar und knapp bemessen, wir müssen jede Minute nutzen.“, erwidere ich mit bittenden Unterton, da mir sofort wieder mein Alptraum in dem Kopf schießt.

„Ich verspreche dir, ich werde durchhalten. Ich werde meine Geschichte beenden. Ich werde dir nie Vorwürfe machen. Und jetzt geh bitte, es bringt mir nichts, wenn du dich nicht auf meine Erzählungen konzentrieren kannst. Dass tut mir mehr weh, als sie nicht beenden zu können.“, sein Ton lässt keine Wiederrede zu und so ergebe ich mich meinem Schicksal. Zögernd gehe ich zur Tür, als mir einfällt, wie ich ihm vielleicht noch etwas helfen kann. Bestimmt trete ich wieder an den Tisch und versuche meiner Stimme einen bestimmenden Ton zu geben.

„Ich weiß zwar immer noch nicht, warum die Anderen so böse auf dich sind, aber da du nur mit mir darüber reden willst, solltest du dich ihnen gegenüber vielleicht in einen Brief erklären. Das ist meine Bedingung, wenn du nicht darauf eingehst komme ich morgen wieder.“, sage ich, selber von mir überrascht wie fest meine Stimme doch ist.

„Aber…“, versucht er an zusetzten, doch ich unterbrecht ihn, indem ich meine Hände hebe.

„Das ist meine Bedingung und keine Verhandlungsbasis.“, ich verschränke die Arme vor der Brust und signalisiere ihm, dass auch bei mir keine Widerrede erwünscht ist.

„Von wem du diese Sturheit nur hast?“, ein Lächeln umspielt seine Lippen und er seufzt tief. „Na gut. An wen hast du gedacht?“, fragt er erbeben.

„Ich glaube Oma und Mum sind am wichtigsten, aber wenn du möchtest solltest du Vicky und Dad nicht vergessen. Auch sie haben unter dir gelitten.“, sage ich etwas sanfter und überlege ob ich noch jemanden vergessen habe.

„Okay. Aber ich brauche dafür Zeit, bis Montag schaffe ich das nicht.“, antwortet Opa Ben und ich höre ein Hauch Verzweiflung heraus. Ich nicke und wende mich wieder zur Tür.

„Bis Montag.“, äußre ich noch rasch, bevor ich die Tür hinter mir schließe.

Langsam und dem Gedanken nachhängen, ob ich ihn so unter Druck hätte setzten sollen, begebe ich mich in den Eingangsbereich.

Linda ist nicht da und weil ich nicht weiß ob sie ihre Oma heute besucht, beschließe ich auf sie zu warten und setzte mich auf das Sofa.

Plötzlich fällt mir ein, dass unser Termin für das Tattoo heute ist. Kurz überlege ich einfach zu gehen, entschließ mich aber dann dazu wenigsten nachzufragen, ob Linda bei ihrer Oma ist.

Ich frage eine Pflegekraft und sie verschwindet zeitweilig in einen Gang mit Bewohnerzimmern.

„Ja, Frau Schmitt hat Besuch. Ich habe der jungen Dame gesagt, dass sie hier auf sie warten.“, erklärt mir die Schwester und ich bedanke mich.

Nicht viel Zeit später kommt Linda dann diesen Gang entlang. Forschend sehe ich in ihr Gesicht, um herauszufinden wie es ihr geht, aber es deutet nichts auf ihre Gefühlslage hin.

Bestimmt tritt sie an mich heran, schließt ihre Arme um meinen Nacken und küsst mich liebevoll.

„Danke.“, haucht sie in meinen Mund, als sie ihre Zunge in diesen hinein schiebt. Als wir uns wieder voneinander lösen sehe ich sie fragend an.

„Ich habe mit meiner Oma gesprochen, wie du gesagt hast. Ich habe mich mit ihr ausgesprochen, sie kann mir zwar die Angst vor ihrem Tod nicht nehmen, aber sie versteht meine Sorge und ist froh, dass ich so offen mit ihr über meine Gefühle rede.“, sagt sie freudig. Ich bin froh, dass sie sich mit ihrer Oma ausgesprochen hat, aber ein ungutes Gefühl bleibt bei mir zurück. Ihre Freude irritiert mich. In der Nacht wollte sie noch ihrem Leben ein Ende setzten und jetzt ist sie plötzlich wieder so normal.

Wie heute Morgen hänge ich meinen Gedanken nach und lasse mich von Linda ins Tattoostudio ziehen. Ich habe mich entschlossen, es mir auf die Innenseite meines linken Oberarms tätowieren zu lassen und bekomme kaum mit wie die Nadeln in mich gestochen werden. Nahezu gleichzeitig ist Linda auch fertig, sie trägt ihr Tattoo auf der linken Innenseite des Handgelenks.

 

Später sitzen Vicky, Linda und ich bei Linda auf der Couch und reden. Ich merke, dass Vicky gern unter vier Augen mit Linda sprechen würde, so verziehe ich mich in die Küche und versuche meine Glück beim Kochen. Meine bisher wenigen Versuche mich als Koch zu profilieren sind zwar allesamt kläglich gescheitert, aber selbst ich bekomme Nudeln gar und kann ein paar Würstchen angebraten.

„Bis du dir sicher, dass du uns nicht vergiftest?“, versucht mich Vicky aufzuziehen, als sie und Linda scheinbar mit ihrem Gespräch fertig sind und sich an den Esstisch setzten. Mein Blick fällt auf Linda, ich sehe, dass sie geweint hat, aber jetzt schenkt sie mir ein aufmunterndes Lächeln.

„Wenn du meine Kochkünste nicht zu schätzen weißt, muss du eben verhungern.“, kontere ich schulterzuckend.

Das Essen vergeht nahezu schweigend, alle hängen wir eigenen Gedanken nach und meine Kochküste scheinen bei beiden keine Jubelstürme auszulösen.

Wir sitzen wieder auf der Couch und schauen einen Film. Linda kuschelt sich an mich, ich streichle ihr über die Taille und merke, wie sie immer tiefer rutscht und schlussendlich schlafend auf meinem Schoß liegt.

Mit einem Seitenblick bemerkt auch Vicky, dass Linda eingeschlafen ist und schaltet den Fernseher aus.

„Wir sollten ins Bett gehen.“, flüstere ich und versuche Linda auf meine Arme zu heben, was ihr ein leises Murmeln entlockt.

„Ich denke Linda sollte ins Bett, ja. Aber du solltest noch einmal nach untern kommen.“, sagt Vicky ebenso leise und ich merke, dass auch hier keine Widerrede erwünscht ist.

Vorsichtig bringe ich Linda in ihr Bett, ziehe sie aus und gebe ihr einen Kuss auf ihre goldblonden Haare, ehe ich mich wieder ins Wohnzimmer begebe.

Mit einem tiefen Seufzer lasse ich mich auf die Couch fallen. Ich weiß was Vicky für ein Gespräch führen will und ich bin nicht besonders scharf darauf.

„Wie geht es dir?“, fragt sie dann auch direkt.

Ich überlege einen Moment, aber um langen Diskussionen, die ich so wie so verliere, aus dem Weg zu gehen, beschließe ich ehrlich zu sein.

„Ich weiß es nicht.“, antworte ich wahrheitsgemäß und erörtere ihr lang und breit mein Gefühls- und Gedankenwirrwarr um Linda.

Völlig aufgelöst, endlich alles ausgesprochen zu haben, liege ich in Vickys Schoß, die sich zwischenzeitlich neben mich gesetzt und mich an sich gezogen hat. Kein Wort hat sie gesagt, hat mich einfach meine verwirrten Gedanke aussprechen lassen und mich versuch mit einfühlsamen Kraulen meiner Haare zu beruhigen.

„Du solltest auch mit Linda so offen über deine Gefühle und Ängste reden. Sie muss verstehen, wie sehr sie dir damit wehtut, wie sehr du sie liebst. Und ich denke du solltest ihr erzähle was in den letzten Monaten los war, um ihr zu zeigen, dass du ihr vertraust. Auch du musst irgendwann deine Vergangenheit bewältigen.“, sagt sie und schaut mir dabei tief in die Augen, doch ich kann ihren Blick nicht halten. Ich weiß, sie hat Recht, aber ich habe Angst, dass ich darüber Linda verlieren könnte.

Jetzt wo ich sowie so meine Gefühle vor Vicky offen lege beschließe ich, ihr auch zu erzählen, was ich in den letzten Monaten gemacht habe. Wieder hört sie mir geduldig zu, aber ich bemerke, wie sie bei manchen Ausführungen große Augen bekommt.

„Ich gehe davon aus, dass Mum und Dad nicht mal ansatzweiße eine Ahnung davon haben.“, bricht es entsetzt aus ihr raus, als ich fertig bin.

„Nein, ich habe die Briefe der Polizei immer rechtzeitig abfangen können.“, sage ich verschüchtert und mir stehen Tränen in den Augen. Wie konnte es nur soweit kommen?

„Bist du jetzt vorbestraft?“, will Vicky als nächstes wissen.

„Die Strafe war zu gering um ins Strafregister aufgenommen zu werden und jetzt bin ich auch extrem dankbar dafür.“, schluchze ich, Vicky nickt nur stumm.

 

Die nächsten Tage vergehen sehr zäh. Linda besucht jeden Tag ihre Oma, ich begleite sie, bleibe aber im Eingangsbereich auf der Couch sitzen. Hänge die ganze Zeit meinen Gedanken nach und versuche sie zu ordnen. Ich sehe ein, dass ich Linda von meiner Vergangenheit erzählen muss, aber immer noch überwiegt mich meine Angst. Ich schlafe kaum noch, liege wach neben Linda und denke nach. Wir reden viel, hauptsächlich über unsere Gedanken und Gefühle bezüglich ihres geplanten Selbstmords. Ich versuche ihr zu verdeutlichen wie viel Angst ich um sie hatte und immer noch habe und, dass ich immer für sie da sein werde. Sie erklärt mir, warum sie solche Gedanken hat, dass sie sich seit ihre Oma im Pflegeheim ist sich ständig allein fühlt, meine Nähe ihr zwar gut tut, aber sie immer noch Angst hat die Gefühle zu mir richtig zuzulassen.

An den Nachmittagen unternehmen wir viel mit Vicky und Jakob, sie versuchen uns etwas abzulenken.

 

Es ist Montag, Linda ist bei ihrer Oma und ich stehe mal wieder vor dem Zimmer von Opa Ben.

Ich habe die letzten Tage nur wenig an ihn gedacht und frage mich jetzt umso mehr ob es ihm gut geht. Leise klopfe ich, als ich mich endlich überwunden und mich aus meinen Gedanken befreit habe.

Nach einem undeutlichen ‘herein‘ betrete ich das Zimmer. Opa Ben liegt im Bett, sein Frühstück vor ihm auf dem kleinen Ausziehtisch. Nachdem ich die Tür geschlossen habe, mustere ich ihn ausgiebig und muss feststellen, dass seine Haut mir heute noch erschreckender gelb-gräulich schimmert, seine Wangen sind eingefallener als vor wenigen Tagen noch und seine Haltung zeigt mir nur noch wenig von dem Mann der mir seine Lebensgeschichte anvertraut.

„Guten Morgen Michael.“, sagt er betont fröhlich, aber ich bemerke, dass es ihm schwer fällt.

„Guten Morgen Opa. Wenn es dir nicht gut geht, kann ich auch wieder gehen oder wir machen etwas anderes.“, schlage ich vor, doch schon während ich rede schüttelt er ernst den Kopf.

„Nein. Es geht mir zwar wirklich nicht gut, wie du ja treffend bemerkt hast, aber ich denke wir sollten keine kostbare Zeit verschwenden.“, sagt er bestimmt, aber ruhig.

Zögernd nehme ich mir einen Stuhl an sein Bett und setzte mich zu ihm.

„Ich hätte die letzten Tage doch kommen sollen und ich hätte dich nicht so unter Druck setzten dürfen.“, sage ich und wende meinen Blick kopfschüttelnd zu Boden.

„Wir beide brauchten eine Auszeit und ich denke es war richtig von dir mir die Stirn zu bieten, das hat lange keiner mehr gemacht. Natürlich habe ich mir viele Gedanken über deine Worte gemacht, darüber was ich ihnen allen angetan habe, aber es war wichtig und ich habe auch schon damit angefangen meine Gedanke zu Papier zu bringen.“, entgegnet er mir mit seiner rauen Stimme, die mir einen Schauer über den Rücken jagt. Sanft greift er nach meiner Hand, drückt sie leicht und redet weiter, „Mach dir bitte keine Vorwürfe. Ich habe viele Fehler im Leben gemacht und möchte nicht, dass du dir deswegen das Leben schwer machst. Es ist schön wie du dich zu mir verhältst, aber ich werde dich nie Beschuldigen, wenn sich das durch meine Geschichte ändern würde. Ich verstehe deine Gedanken, Gefühle und Ängste und ich würde auch verstehen wenn du sagst, dass du mir nicht mehr zuhören kannst, aber ich denke du bist ein starker junger Mann.“, er versucht mir in die Augen zu sehen, aber ich weiche ihm aus. Immer noch weiß ich nicht ob ich seinen Worten Glauben schenken kann. Kann ich ihm vertrauen? Wird er mir am Ende doch Vorwürfe machen? Wird er mit mir umgehen, wie er es mit allen anderen macht?

Ich würde sehr gerne hören, was er mir noch zu sagen hat und warum er andere so behandelt, aber schaffe ich das? Ich muss. Für ihn. Für mich.

Langsam hebe ich meinen Kopf wieder, seine grauen Augen schauen mich bittend an und ich nicke energisch.

„Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Drei Tage ohne Schlaf waren einfach zu viel. Ich versuchte mir notdürftig einen Unterschlupf zu bauen, gab aber schnell auf. Es war einfach zu kalt. So setzte ich mich gegen einen Baum gelehnt auf meinen Rucksack und schlagartig fielen mir die Augen zu. Ich hab keine Ahnung wie lange ich geschlafen habe, aber ich wurde sehr unsanft geweckt. Jemand schubste mich von meinem Rucksack und redete wild, in einer fremden Sprache, auf mich ein. Panik stieg in mir auf, als ich mich zu meinem Angreifer umdrehte und in den Lauf eines Maschinengewehrs blickte. Noch immer im Schnee liegend versuchte ich Abstand zu ihm aufzubauen, aber mit zwei großen Schritten war er wieder bei mir. Angsterfüllt schaute ich mich nach etwas um mit dem ich mich verteidigen könnte. Da fiel mir ein, wie mir ein anderer Rekrut mal gesagt hatte, er habe den kleinen Revolver den wir bekommen haben immer im Stiefel stecken. Ich hatte mir nichts dabei gedacht, hielt es aber für eine gute Idee und machte es im nach. Ich tastete also vorsichtig an meinem Schuh, bis ich das von meinem Körper leicht erwärmte Metall spürte. Aber was sollte ich jetzt tun? Er hatte eine Waffe im Anschlag auf mich gerichtet und ich lag auf dem Boden vor ihm. Außerdem wollte ich nicht schießen, immerhin hatte ich meine Prinzipien. Doch als er seine Waffe entsichert, handelte mein Körper einfach nur. Mein Verstand, meine Prinzipien und meine Angst einfach über Bord geworfen, zog ich blitzschnell den Revolver und schoss. Ich hatte meine Augen geschlossen und wollte sie nie wieder öffnen. Tränen gefroren mir sofort auf den Wangen und es war totenstill. Ich hatte unbewusst meinem Atem angehalten, doch nun setzte mein Atemreflex wieder ein und ich sog die kalte Luft begierig in meine Lungen. Nur schwer konnte ich mich wieder beruhigen und auch meine Augen wieder öffnen. Was ich sah lies meinen Magen einige Umdrehungen machen, ich würgte, aber da ich die letzten Tage nicht viel gegessen habe verlies nichts meinen Magen. Augenscheinlich hatte ich den Mann genau ins Gesicht geschossen. Er war tot. ICH hatte einen Menschen getötet.“, seine letzten Worte waren kaum noch zu verstehen unter seiner zitternden Stimme.

Er hat mir zwar von seinen Prinzipien erzählt aber, dass er fast sein Leben dafür gegeben hat, hätte ich nicht gedacht. Auch nach so vielen Jahren kam er nicht darüber hinweg, sein Leben über ein anderes gestellt zu haben. Wieder schießen mir Fragen in den Kopf. Wie konnte er damals diese Grundsätze haben und später andere Leute so behandeln? Was hat ihn so verändert? So abgestumpft, so empfindungslos gegenüber anderen werden lassen?

„Ich würde dich bitten noch ein wenig zu bleiben. Ich würde gern heute noch den Kriegsteil hinter mich bringen.“, erklärt er, als er sich wieder beruhigt hat. Ich nicke gedankenverloren und da kommt nach einem Klopfen auch schon die Pflegekraft mit dem Mittagessen hinein.

Ich setzte mich an den Tisch, schaue nach draußen und hänge meinen Gedanken nach.

Sollte ich Linda Bescheid geben, dass ich länger bleibe? Aber wir hatten heute Morgen ausgemacht, dass sie sowieso nicht auf mich wartet, da ich mal wieder zu mir nach Hause wollte um frische Sachen einzupacken und meine Eltern ein wenig zu beruhigen.

Ich schaue immer noch aus dem Fenster als meine Gedanken durch ein Jucken unterbrochen werden. Mein Tattoo prickelt und juckt auf einmal ganz komisch und ich bekomme ein ungutes Gefühl in der Magengegend.

„Ich bin fertig, kannst du bitte das Tablett auf den Tisch stellen, dann können wir weiter machen.“, zieht nun Opa Ben meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich nicke etwas fahrig, da ich nicht weiß was ich von der Sache mit dem Tattoo halten soll, komme aber seiner Bitte nach.

Als ich wieder neben seinem Bett sitze redet Opa Ben auch gleich wieder drauf los, sodass ich meine anderen Gedanken erst einmal hinten anstelle.

„Ich hatte also einen Menschen getötet. Ich hab alle meine Prinzipien verraten. Ich fühlte mich plötzlich leer, ausgesaugt und kraftlos. Doch ich hatte den unbändigen Drang weg zu kommen. Ich schnappte mir meinen Rucksack und lief einfach los. Meine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding, aber ich lief so schnell ich konnte weiter. Immer weiter. Je weiter ich lief, umso mehr kam ein Gefühl in mir auf, dass ich sonst nicht kannte. Ich hatte eine maßlose Wut. Wut auf meinen Vater. Wut auf den Krieg. Wut auf die Nationalsozialisten. Aber am stärksten war die Wut auf mich selber. Wut auf mich, weil ich dazu gehörte. Ich war der Sohn meines Vaters. Ich war Teil dieses Krieges. Ich war, zumindest laut den Hackenkreuzen auf meiner Kleidung, Nationalsozialist. Und all das hat mich zu einem Mörder gemacht.

Ich bekam nichts von meiner Umgebung mit, rannte einfach weiter, in der Hoffnung meine Wut würde irgendwann verfliegen, doch das tat sie nicht. Sie ist es bis heute nicht und das lasse ich die Leute spüren. Auch wenn ich weiß, dass es falsch ist und die Leute in meiner Umgebung nichts dafür können, kann ich sie nicht anders zum Ausdruck bringen.

Meine Beine gaben unter mir nach, als sich plötzlich der Untergrund änderte. Da war kein schneebedeckter Waldboden mehr unter meinen Füßen, es war ein befestigter Schotterweg und ich schaute mich verwirrt um. Das erste Mal seit Tagen sah ich Häuser. Ich war am Rande eines kleinen Dorfes.

Was sollte ich jetzt tun? Was wenn ich entdeckt werden würde?

Zu spät. Aus der Richtung wo der Weg in den Wald führte kam eine junge Frau. Sie summte vor sich hin und spielt mit dem Korb in ihrer Hand. Erst als sie kurz vor mir stand bemerkt sie mich und blieb sofort erstarrt stehen. Ich hob meine Hände um ihr zu zeigen, dass ich keine Waffe darin befand. Sie war so bildschön, dass ich meinen Blick nicht von ihr wenden konnte. Ich bemerkte nicht in welcher Gefahr ich mich eigentlich befand. Ich weiß nicht wie lange ich da so auf den Boden kniete und ich sie und sie mich einfach nur bewunderte. Doch plötzlich wurde unsere Aufmerksamkeit abgelenkt, als eine Tür laut zuknallte und ein Mann laut in einer für mich fremden Sprache rief.

Ich bekam kaum mit, dass sie mich hinter sich her wieder in den Wald zog. Ihre Berührung ließ meine Hand prickeln und mir wurde trotz der Kälte unheimlich warm.

Eine Hütte tauchte vor uns auf und sie stieß mich hinein. Ein gebrochenen deutsch erklärte sie mir, dass ich hier warten solle und dann war sie auch schon wieder verschwunden.

Verwirrt stand ich der kleinen Hütte und hatte nur ihre grünen Augen im Kopf, die mich nicht mehr losließen. Doch ich musste mich zwingen einen klaren Gedanke zu fassen. Ich schüttelte ihr Bild vor meinem inneren Auge ab und sah mich um. Die Hütte war wirklich klein, nur ein altes Metallbett, ein Tisch und einen kleine Küche mit Ofen.

Da kam mir schlagartig meine Situation in den Kopf. Ich war in Feindgebiet, eine Einheimische hatte mich entdeckt und mich sogar hier hin geführt.

Konnte ich ihr vertrauen? Hat sich mich in eine Falle gelockt? Was soll ich tun? Weglaufen? Warten bis sie wieder kommt? Wenn ja, wird sie alleine kommen?

Panisch versuchte ich eine Antwort auf meine Fragen zu finden. Wenn sie mich töten wöllte, hätte sie doch den Mann, der gerufen hatte, auf mich aufmerksam gemacht, oder?

Auf einmal fühlte ich mich unsagbar müde. Meine Panik ignorierend legte ich mich auf das Bett und schlief fast augenblicklich ein. Wenn sie mich in eine Falle gelockt hätte, wäre es auch egal, ich hatte nichts mehr wofür es sich zu leben lohnte.

Ich schreckte durch das laute Zuknallen der Tür hoch und griff instinktiv zu meinem Stiefel um nach meiner Waffe zu greifen. Aber mein Stiefel war leer. Ich hatte die Waffe, nachdem sie mir im Wald hinunter gefallen war, einfach liegen lassen und meine andere Pistole war in meinem Rucksack.

Also ergab ich mich meinem Schicksal und versuchte zu erkennen wer mich töten würde. Doch es war die junge Frau. Allein. Ohne eine erkennbare Waffe.

Sie stellte die kleine Petroleumlampe auf dem Tisch ab und warf mir eine Tasche vor die Füße.

Sie sagte ich solle mich umziehen und ich befolgte ihre Anweisungen, froh darüber endlich die Hakenkreuze los zu werden. Meine Sachen stopfte sie sofort in den Ofen und brannte sie an. Auch ein paar Holzscheite landeten im Ofen, sodass es recht schnell angenehm warm wurde.

Wir sagte die ganze Zeit kein Wort, sahen uns einfach nur an. Draußen dämmerte es als sie dann doch das Schweigen brach und mir erklärte, dass sie etwas zu Essen besorgen würde.

Schon kurze Zeit später kam sie mit einem Korb Lebensmittel und einer weiteren Tasche zurück.

Nachdem wir gemeinsam gegessen hatten begann sie mir von sich zu erzählen. Als sie geendet hat erzählte ich ihr von mir. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraute ihr. Allerdings ließ ich meinen Vater und die Geschehnisse des Krieges aus.

Ich fühlte mich ihr so verbunden. Fühlte, dass wir zusammen alles schaffen könnten.

Durch ihre Erzählung merkte ich, dass sie ähnliche Prinzipien hatte wie ich, dass sie sehr gebildet ist und dass ich ihr mit Haut und Haaren verfallen war.

Ihr schien es ähnlich zu gehen, denn sie wollte so schnell wie möglich mit mir weg gehen. Auch aus dem Grund, da sie schon bald mit einem Schmierlappen aus ihrem Dorf verheiratet werden sollte. Über unsere Schilderungen unseres Lebens nährten wir uns immer mehr an. Plötzlich saß sie neben mir auf dem Bett und ich verlor mich in ihren warmen grünen Augen.

Langsam nährte ich mich immer mehr ihrem Gesicht, bis unsere Lippen aufeinander lagen. Heute ist sie deine Oma Lilija und ich bin ihr so dankbar dafür. Doch zurück zu jener Nacht.

Während unsere Lippen aufeinanderlagen, war es in der Hütte absolut still. Doch plötzlich durchbrach ein lautes Klopfen die Stille und wir fuhren abrupt auseinander.

Ohne auf eine Antwort zu warten stand auf einmal ein Mann mit gezogener Waffe im Raum und richtete sie zielstrebig auf meinen Kopf.

Lilija stellte sich sofort vor mich und redete auf einer osteuropäischen Sprache auf ihn ein. Da kam mir der absurde Gedanke, dass ich immer noch nicht wusste in welchem Land ich mich eigentlich befand und welche Sprache die zwei sprechen.

Doch ich schüttelte schnell den Gedanken ab und versuchte aus den beiden Gesichtern zu lesen, was gesagt wurde.

Der Mann wurde vor Wut immer roter, sein Kopf glich einer Tomate, selbst in diesem spärlichen Licht war dies gut zu erkennen. Lilija standen die Tränen in den Augen. Mittlerweile hatte ich mich auch erhoben und musterte die Beiden.

Aus dem Gewirr der fremden Sprache erkannte ich den Name Nikolay, welchen sie erwähnte. War er dieser Nikolay? Dieser Typ dem sie versprochen war?

Augenscheinlich ja, denn im nächsten Moment trat er auf sie zu und ich wusste sofort, dass er sie schlagen wollte. Doch das konnte ich nicht zulassen. Ich vergaß die Waffe in seiner Hand, sein wutunterlaufenes Gesicht, seine aggressive Körperhaltung. Ich hatte nur noch einen Gedanken im Kopf, er darf sie nicht anfassen.

Ich zog sie hastig hinter mich und schon im darauffolgenden Augenblick durchzuckte ein höllischer Schmerz meine linke Gesichtshälfte. Mir wurde kurz schwarz vor Augen, so heftig schleudert mein Kopf in die Gegenrichtung. Aber ich konnte mich nicht lange von diesem ersten Schlag erholen, schnell folgten die nächsten. Mit der Waffe, als Knüppel, schlug er immer wieder auf mich ein.

„Kann er mich verstehen?“, presste ich mühsam hervor, als ich zu Boden ging, weil ich mich vor Schmerzen krümmte.

Kurz blickte ich zu Lilija, die scheinbar durch meine Worte aus einer Schreckstarre geweckt wurde und sie schüttelte langsam den Kopf.

„In meinem Rucksack ist eine Pistole“, konnte ich vor einen Tritt in den Magen, der mir die Luft aus den Lungen presste, noch sagen. Gott sei Dank war Nikolay zu sehr auf mich fixiert und nutzte seine Waffe nicht im Sinne des Erfinders, denn dann währe alles anders gekommen.

Das nächste Mal, als der Schmerz zuließ, dass ich meine Augen öffnete, stand Lilija mit vorgehaltener Waffe neben meinem Rucksack am Kopfende des Bettes.

„Nikolay!“, schrie sie, in die Stille die die letzten Minuten nur durch mein schmerzverzerrtes Stöhnen unterbrochen wurde.

Augenblicklich wendete er sich von mir ab. Seine Augen weiteten sich, als er den Lauf der Pistole sah. Doch schnell fasste er sich wieder und erhob seine Waffe gegen Lilija. Sie fing an immer mehr zu zittern.

Überraschend, sodass mir kurz vor Sorge um sie die Luft wegblieb, verdrehte sie unnatürlich ihre Augen und sackte in sich zusammen. Meine Waffe viel auf den Boden und noch ehe Nikolay reagieren konnte, schnappte ich nach ihr und schoss reflexartig in seine Richtung. Der Schuss hallte in meinem Kopf tausendfach nach. Wieder hatte ich die Augen geschlossen, doch diesmal öffnete ich sie schneller in panischer Angst um Lilija.

Nur einen kurzen Blick warf ich auf den regungslos am Boden liegenden Nikolay, bevor ich mich ihr zuwandte.

Sie hatte die Augen immer noch geschlossen. Leise flüsterte ich ihren Namen in ihr Ohr und küsste sie sanft. Augenblicke später sah ich wieder ihre grünen Augen und atmete erleichtert auf.

Ohne ihr einen Blick auf Nikolay zu gewähren schleuste ich sie aus der Hütte. Ich weiß nicht wie es passieren konnte, aber ähnlich wie bei dem Mann im Wald habe ich ihm genau ins Gesicht geschossen und wollte ihr diesen Anblick ersparen. Schnell raffte ich unsere Sachen zusammen und wir verließen den Wald Richtung Zukunft.

Unterwegs erklärte sie mir, dass ich wahrscheinlich instinktiv in die richtige Richtung gelaufen sein und wir nur zwei Tagesmärsche von Deutschland entfernt waren.

Wir mieden die Straßen, begegneten keinem Menschen und auch in Deutschland hielten wir uns erst einmal versteckt.“, er klingt kraftlos und das ist er auch. Seine Augen fallen zu und er kann sie nur unter großer Anstrengung wieder öffnen.

Ich weiß nicht was ich sagen soll. Es waren sehr viele Informationen, die die letzten Stunden auf mich eingeprasselt sind.

Mit einer kurzen Umarmung und einem „Bis Morgen.“, verabschiede ich mich. Ich schaffe es kaum aus dem Zimmer, so aufgewühlt bin ich. Doch ich muss auch das Pflegeheim verlassen. Ich kann in diesem Moment nicht ertragen, mit ihm im einen Gebäude zu sein.

Im Park lasse ich mich schwerfällig auf eine Bank fallen.

Er hat aus, für mich sehr verständlichen Gründen, in einem Krieg in dem mehr als 50 Millionen Menschen umkamen, zwei Männer erschossen und macht sich heute noch Vorwürfe deswegen. Schlimmer noch er lässt die Wut, die er auf sich selber hat, alle in seiner Umgebung spüren. Seine Wut, der Verlust seiner Prinzipien, der Krieg haben ihn zu einem Tyrannen gemacht und so dafür gesorgt, dass heute immer noch Leute unter dem Nationalsozialismus leiden müssen.

Mein Tattoo fängt erneut an zu jucken und zu prickeln. Gedankenverloren kratze ich mich, da nun ein neues Gefühl in mir wächst. Ich empfinde Mitleid für Opa Ben. Mitleid, dass ein damals so junger Mann von seinem Vater gebrochen wurde und für Ideale, die nie seine waren in den Krieg ziehen musste. Mitleid, dass er in diesem Krieg, um sein eigenes Leben zu schützen, seine Grundsätze verraten musste. Mitleid, dass ihm kein besseres Leben vergönnt war. Denn ich konnte einen Blick hinter seine Maske werfen, die er aufsetzt, wenn er mit anderen interagiert und ich sah einen liebevollen, loyalen, gütigen Mann.

Ein zartes Lächeln spielt sich auf meine Lippen, als ich feststellen muss, dass wir uns sehr ähnlich sind. Beide haben wir den Menschen in unserer Umgebung Leid zugefügt, doch ich kann dank seiner Offenheit und seiner Geschichte noch einen besseren Weg einschlagen. Auch haben wir Beide uns Hals über Kopf in ein Mädchen verliebt, dass immer das Einzige in unserem Leben bleiben wird. Ich füge bei mir ein hoffentlich in Gedanke dazu. Wir sind beide stur in unseren Ansichten, aber auch sehr gefühlsbetonte Menschen.

Langsam ordne ich meine Gedanken und Gefühle und mache mich auf den Weg nach Hause. Nur beiläufig bekomme ich mit, dass ich mich immer wieder an meinem Tattoo kratze.

Pünktlich zum Abendessen bin ich daheim und fühle mich im Einklang mit mir selbst. Meine Eltern reden wie immer auf mich ein, da sie glauben ich hänge immer noch mit meine ehemaligen Clique ab, aber sollen sie ich habe nicht das Bedürfnis dieses Missverständnis aufzuklären. Vicky wirft mir über den Tisch forschende Blicke zu und ich kann sie nur verständnislos beantworten. Weshalb macht sie sich Sorgen?

Grade bin ich auf den Weg in ihr Zimmer um herauszufinden was los ist, als sie mir im Flur entgegenkommt und scheinbar die gleiche Idee hatte. Wir gehen gemeinsam in ihr Zimmer und legen uns in unsere altbekannte Position.

„Was ist mit Linda?“ fragt sie und ich höre die leichte Besorgnis in ihrer Stimme.

„Was soll mit ihr sein? Wir haben heute Morgen ausgemacht, dass ich mal wieder hier schlafe, um Mum und Dad etwas zu beruhigen. Außerdem brauche ich mal wieder frische Sachen und wir können auch mal 5 Minuten ohne einander sein. Auch wenn ich sie vermisse, obwohl wir die letzten Wochen eigentlich ständig zusammen waren.“, antworte ich und versuche in Vickys Augen zu lesen, weshalb sie sich Sorgen macht.

„Ich hab so ein komisches Gefühl und mein Tattoo juckt schon den ganzen Tag ganz eigenartig. Dass hatte ich bisher nur einmal. Damals als du deinen Fahrradunfall hattest, aber heute ist es eindeutig schlimmer.“, sagt sie bedrückt. Kurz blitzen Erinnerungen auf. Sie hatte mir den ganzen Tag gesagt, dass irgendetwas nicht stimmt und mich gewarnt loszufahren. Doch ich habe nicht auf sie gehört und bin auf regennasser Straße ins Schlingern gekommen und mit einem Auto zusammen geprallt. Außer ein paar gebrochenen Knochen ist nichts weiter passiert. Aber das sie heute dieses Gefühl wieder hatte und es scheinbar stärker ist als damals und sich auf Linda bezieht bringt mich aus dem Konzept.

Schnell springe ich auf und haste in mein Zimmer um mich anzuziehen. Ich muss zu Linda. Muss wissen, dass es ihr gut geht.

Vicky ist mit gefolgt und schaut mir besorgt zu.

„Mein Tattoo hat auch den ganzen Tag gejuckt und geprickelt. Ich habe mir nichts dabei gedacht, weil es noch so frisch ist, aber dass du mir jetzt das Gleiche erzählt macht mir eine Heidenangst.“, gebe ich atemlos zu.

„Ich fahr dich, dass geht schneller.“, erwidert sie und läuft vor mir die Treppe runter.

Die Rufe unsere Eltern, wo wir jetzt noch hin wollen ignorieren wir und springen gemeinsam ins Auto.

Ich hatte nie Angst bei Vicky mitzufahren, eigentlich ist sie eine gewissenhafte und rücksichtsvolle Fahrerin, aber heute sollte ich bei ihrer Fahrweise Panik haben. Doch ich mache mir keine Angst um mein oder Vickys Leben. Panik steigt in mir auf als ich an Lindas Zettel von letzter Woche denke. Hat sie sich doch etwas angetan?

Mit quietschenden Reifen hält Vicky vor Lindas Haus. Ich springe schon raus, als die Räder noch nicht zum Stillstand gekommen sind.

Hastig suche ich nach dem Ersatzschlüssel. Er fällt mir zwei Mal aus meinen zitternden Hände bevor ich die Tür aufschließen kann.

„Linda!“, schreie ich in das große Haus hinein, sodass meine Kehle brennt. Keine Antwort. Ich haste durch das Untergeschoß, werfe in jedes Zimmer einen Blick, aber alle sind leer. Atemlos und mit wackligen Beinen erklimme ich die Treppe und setzte meine Suche im Obergeschoß fort. Sofort fällt mir auf, dass die Badezimmertür weit offen steht. Nur langsam nähre ich mich, aus Angst was ich zu sehen bekomme.

Linda sitzt mit dem Rücken an die Badewanne gelehnt. Überall liegen Scherben und sämtlicher Schrankinhalt ist auf dem Boden verteilt.

Linda hält eine Scherbe in der Hand. Hält sie so fest in ihrer Faust, dass sie sich in ihr Fleisch schneidet. Sie setzt sie an ihr Handgelenk an und sticht hinein.

„Linda.“, sage ich sanft. Ich weiß, ich darf sie meine Angst nicht spüren lassen. Also bewege ich mich vorsichtig auf sie zu. Ich setzte mich neben sie und ziehe sie in meine Arme. Ganz behutsam nehme ich ihr die Scherbe aus der Hand, als sie sich etwas entspannt.

Ich lege die Scherbe neben mich und ziehe Linda noch enger an mich. Ihre vorher regungslose, fest steinerne Mine wandelt sich in tiefe Trauer und ihr ganzer Körper beginnt unter ihren Schluchzern zu beben. Sie vergräbt ihr Gesicht an meiner Brust und beginnt haltlos zu weinen.

Ich halte sie, wiege sie in meinen Armen und wiederhole immer und immer wieder, dass ich bei ihr bin.

„Aber sie ist es nicht mehr!“, schreit sie auf einmal und ich zucke unter ihrem Gefühlsausbruch zusammen.

Sie versucht sich von mir zu befreien, aber ich lasse sie nicht los. Jetzt wo ich weiß was passiert ist habe ich das Gefühl sie nie mehr loslassen zu können, weil ich nicht einschätzen kann was sie dann tut.

Allmählich geht ihr die Kraft aus, sie ergibt sich und beginnt erneut zu schluchzen.

Erst als ich mir wirklich sicher bin, dass sie vor Erschöpfung eingeschlafen ist, lockere ich meine Umarmung und trage sie in ihr Zimmer.

Auch hier scheint sie gewütet zu haben. Ihre Sachen liegen wild verstreut auf dem Boden, die Fächer ihrer Kommode stehen offen und eine Tür des Schranks hängt nicht mehr in der Angel.

Vorsichtig lege ich sie aufs Bett. Vicky, die die ganze Zeit über wortlos in der Badezimmertür gestanden hat, ist mir gefolgt. Sie reicht mir Verbandsmaterialien und setzt sich neben mich. Gemeinsam verbinden wir Lindas Hände.

Als wir fertig sind sitze ich unentschlossen auf der Bettkante. Soll ich hier bleiben? Sie im Arm halten? Die Wut steigt wieder in mir auf und ich habe Angst, dass wenn ich bei ihr bleibe ich ihr wehtue. Aber ich möchte sie auch nicht alleine lassen. Möchte nicht von ihrer Seite weichen, um zu sehen, dass es ihr wenigsten körperlich gut geht.

Ich höre wie Vicky im Bad für Ordnung sorgt und beschließe es ihr, hier in Lindas Zimmer, gleich zu tun.

Die Ablenkung tut mir gut. Ich versuche nicht nachzudenken.

Nachdem ich alles wieder verstaut habe lege ich mich neben Linda ins Bett. Berühre sie aber nicht. Noch lange betrachte ich ihr zartes Gesicht bevor ich in einen unruhigen Schlaf finde. Ich träume zwar nicht, aber am nächsten Morgen bin ich nicht wirklich erholt.

Ich liege alleine im Bett, ich weiß nicht warum aber es macht mich traurig. Stumme Tränen rinnen mir über die Wange. Nur schwerfällig begebe ich mich nach unten.

Linda sitzt am Tisch und stochert in einer Schüssel Cornflackes herum. Sie sieht blass und mitgenommen aus, schenkt mir aber keinen einzigen Blick. Ich spüre zwar noch unsere Verbundenheit, aber auch eine seltsame Distanz, die es nicht mal bei unserer ersten Begegnung gab.

Wortlos setzte ich mich zu ihr, versuche einen einzigen Moment Augenkontakt mit ihr herzustellen, um zu sehen was in ihr vorgeht, aber sie entzieht sich mir. Als sie aufsteht und die noch volle Schüssel in den Mülleimer schüttet, sehe ich ihre nassen Wangen und ich kann nur unter größter Anstrengung wiederstehen ihr sie sanft von der Wange zu wischen. Ich weiß einfach nicht wie sie reagieren würde, deshalb tue ich nichts. Weil ich außerdem nicht mal ansatzweise weiß, was ich sagen soll, bleibe ich stumm. Immer wusste ich instinktiv, wie ich mir ihr gegenüber verhalten muss, doch dieser Instinkt scheint verschwunden und es zerreißt mir mein Herz.

Irgendwann kommt Vicky runter und selbst sie sagt kein Wort. Meine, sonst immer für einen flotten Spruch und ihre offene Art bekannte, Schwester nimmt Linda wortlos in die Arme. Sie erwidert die Umarmung nicht und so lässt Vicky schnell wieder von ihr ab.

Ich setzte mich auf die Couch, denke darüber nach wie es jetzt weiter gehen soll, finde aber keine Lösung. Ich kann sie nicht alleine lassen, habe aber auch das Gefühl, dass sie mich nicht bei sich haben möchte. Aber warum? Vertraut sie mir nicht? Wir haben uns doch alles erzählt. Nein. Ich habe ihr nicht alles erzählt. Ich habe die letzten, die schwersten Monate meines bisherigen Lebens ausgelassen. Sie kann mir gar nicht vertrauen, weil ich ihr das nicht anvertraut habe. Aber im Moment ist der absolut falsche Zeitpunkt ihr von den letzten Monaten zu berichten.

Ich weiß nicht wieviel Zeit vergangen ist, als ich aufschaue und den Raum um mich wieder wahrnehme. Linda sitzt auf der anderen Couch,  zusammengekauert in der Ecke. Sie hat ihre Knie fest an den Körper gezogen und ihr Gesicht in den Händen vergraben. Allem Anschein nach weint sie, ihr Körper bebt und ein leises Wimmern ist aus ihrer Richtung zu hören.

Ich würde sie so gern in die Arme schließen, bin mir aber sicher, sie würde mich wegstoßen.

Vicky scheint gegangen zu sein.

Plötzlich schließt jemand die Haustür auf und Linda schaut entsetzt auf. Schnell wischt sie sich die Tränen weg und springt auf.

Ein mir unbekanntes Paar erscheint im Wohnbereich. Linda begrüßt die beiden förmlich mit Mum und Dad und sie erwidern es ebenso distanziert.

„Wer ist das?“, fragt der Mann mit einen abschätzigen Nicken in meine Richtung.

„Ein Freund.“, sagt Linda ausweichend, aber mir zerspringt das Herz bei ihren Worten. Ihre Stimme ist so kalt, wie ich sie noch nie erlebt habe und indirekt hat sie damit grade mit mir Schluss gemacht.

Am liebsten würde ich fliehen, einfach nur wegrennen, aber mein gebrochenes Herz lässt mich nicht. Es versucht die Hoffnung aufrecht zu erhalten, dass das mit uns nicht vorbei sein kann, nicht vorbei sein darf und ich mit meiner Anwesenheit noch etwas an ihrer Entscheidung ändern kann.

Da fällt mir ein, dass ich heute noch nicht im Pflegeheim war. Was soll ich nur tun? Ich bin vollkommen überfordert.

Kurzer Hand beschließe ich zu gehen. Wenn ihre Eltern im Haus sind wird sie sich nichts antuen, hoffe ich inständig.

Ohne ein Wort zu sagen verlasse ich das Haus und schnappe beim Rausgehen auf, dass morgen um 15:00Uhr die Beerdigung ist.

Immer noch restlos überfordert komme ich im Pflegeheim an. Ohne ein Klopfen und eine Begrüßung lasse ich mich neben Opa Benn auf den Stuhl fallen.

„Erzähl mir davon.“, sagt er plötzlich und reist mich aus meinen Gedanken.

„Was.“, frage ich nur verständnislos.

„Was dich beschäftigt. Schon letzte Woche warst du so komisch drauf. Gestern dachte ich es hat sich wieder geregelt, aber jetzt bin ich mir sicher irgendwas stimmt bei dir nicht. Du bist völlig fertig. Erzähl mir was dich so sehr belastet.“, fordert er mich auf.

„Ich bin hier um von dir deine Geschichte zu hören, nicht um dich mit meinen Problemen zu belasten.“, gebe ich halbherzig wider. Ich habe einfach keine Kraft mich zu streiten.

„Mit dem wichtigsten Teil bin ich durch. Ich hab zwar noch einiges zu erzählen aber das dürften wir in eins, zwei Tage abgearbeitet haben und so schnell hab ich nicht vor abzutreten. Außerdem brauche ich deine volle Aufmerksamkeit und die habe ich so nicht.“, sagt er eindringlich und ich hab innerlich schon aufgegeben. Er wird nicht locker lassen und so ergebe ich mich meinem Schicksal.

Ich erzähle ihm die komplette Geschichte zwischen Linda und mir. Ich weine viel und hoffe er kann meinen verworrenen Gedanken folgen. Nachdem ich fertig bin lässt er mich noch eine Weile einfach weinen und es tut gut. Als ich mich langsam wieder beruhige, setzt er an.

„Scheint so, als würden wir sehr schnell im Leben unseren richtigen Gefährten finden.“, er lacht verschmitzt und ich kann mir ein Grinsen unter Tränen auch nicht verkneifen.

„Du musst ihr Zeit geben. Ich denke sie weiß, dass du ihr gut tust, aber sie muss es zulassen können und das brauch einfach Zeit.

Und jetzt geh nach Hause. Du brauchst auch mal ein bisschen Ruhe. Von mir aus komm morgen wieder, aber nur wenn er dir wirklich besser geht.“, redet er leise auf mich ein und da ich jetzt noch weniger Kraft habe ihm zu widersprechen, nicke ich monoton.

Ich weiß nicht wie ich nach Hause gekommen bin. Aber als ich jetzt mal wieder meine Umgebung wahrnehme, liege ich auf meinem Bett. Ich vergrabe meinen Kopf im Kopfkissen und weine. Ich weiß nicht woher ich so viele Tränen habe und wie ich überhaupt noch die Kraft aufbringen kann, aber es geschieht einfach.

Irgendwann, ich habe schon lange kein Zeitgefühl mehr, klopft Vicky leise an die Tür. Ich merke, wie sich neben mir das Bett senkt und sie mir sanft durch die Haare streicht.

Wie so oft schon liege ich auf ihren Bauch und sie wuschelt mir liebevoll durch die Haare. Irgendwie hat sie es geschafft mich so zu beruhigen. Ich starre gedankenverloren an die Decke. Was soll ich ohne Linda machen? Sie bedeutet mir jetzt schon so viel, wie kein anderer Mensch auf der Welt. Was wenn sie sich ganz von mir abwendet? Ich will gar nicht daran denken, zu sehr schmerzt mein Herz dabei.

„Morgen um 3 ist die Beerdigung.“, flüstere ich und Vicky gibt ein bestätigendes Brummen von sich.

Soll ich überhaupt hingehen? Will sie mich sehen? Kann ich ihr mit meiner Anwesenheit helfen?, oder füge ich ihr nur noch mehr Schmerzen zu?

Über meine Gedanken schlafe ich irgendwann ein. Ein nicht erholsamer Schlaf, da ich im Stundenrhythmus hochschrecke.

Diese Nacht sieht man mir auch deutlich an. Ich bin blass und habe tiefe Augenringe. Ich sehe einfach so aus wie ich mich fühle. Beschissen.

Schon am Morgen schlüpfe ich in meinen schwarzen Anzug. Ich bin mir zwar immer noch nicht sicher, ob es richtig ist zur Beerdigung zu gehen, aber ich möchte vorbereitet sein.

Ohne etwas zu essen, da mir mein Magen sehr deutlich zeigt, dass er dies nicht möchte, mache ich mich auf den Weg ins Pflegeheim.

Vor der Tür straffe ich, zum wiederholten Male am heutigen Tag, meine Schultern. Ich möchte Opa Ben wirklich nicht weiter mit meinen Problemen belasten. So gebe ich vor, dass es  mir wirklich besser geht.

Opa Ben sieht heute sehr schlecht aus. Ich merke sofort, dass meine Entscheidung die richtige war. Heute muss ich wieder für ihn stark sein.

„Oh, Michael. Schön, dass du da bist.“, er versucht seiner Stimme Kraft zu geben, es gelingt ihm aber nicht wirklich. Leise setzte ich mich zu ihm.

„Wir müssen nicht reden. Ich kann auch einfach hier bei dir sein.“, schlage ich vor, da ich sehe, dass ihm das Sprechen wirklich schwer fällt.

„Nein, nein. Ich brauche nur noch heute und das schaffe ich schon.“, er setzt sich im Bett etwas auf und sieht mich bittend an. Da ich nicht weiß, ob er in diesem Zustand morgen überhaupt noch mit mir reden kann, gebe ich mal wieder nach.

„Wir waren also wieder in Deutschland. Ich wollte nicht wieder zurück in meine Heimatstadt, also haben wir uns hier niedergelassen. Wir schlugen uns eine Zeit lang mit Hilfsarbeiterjobs durch, bis wir eine einigermaßen gute Grundlage hatten. Dann suchten wir uns eine Ausbildung. Wir hätten zwar gern studiert, aber das war damals für uns einfach nicht möglich. Wir lebten uns ein, doch meine Schuldgefühle kamen immer wieder hoch. Ich bekam Alpträume, in denen ich immer und immer wieder diese zwei Männer erschoss. Ich habe mit Lilija nicht darüber gesprochen. Ich wollte es mit mir allein ausmachen. Wir hatten einfach andere Probleme. Heute weiß ich, dass es ein großer Fehler war. Man muss immer ehrlich sein und seine Gefühle offen zeigen. Ich versuchte meine in Alkohol zu ertränken. Ungefähr alle zwei Wochen, wenn die Schuld zu groß wurde, habe ich mich betrunken. Und wenn ich getrunken habe, habe ich Sachen gemacht die ich nicht wollte. Ich habe meine Wut an Lilija ausgelassen. Habe sie geschlagen.

Äußerlich haben wir uns eine gute Fassade aufgebaut. Haben geheiratet und 5 Jahre nach Kriegsende kam deine Mutter auf die Welt. Ich sollte der glücklichste Mensch der sein, doch ich war gefangen in meine Schuld und meiner Wut.

Ich danke Lilija so sehr, dass sie bei mir geblieben ist. Sie hatte genügend Gründe zu gehen, aber sie hat immer zu mir gehalten. Hat sich mir in den Weg gestellt, wenn ich betrunken war und meine Wut an deiner Mutter auslassen wollte. Ich liebe sie so sehr, hab ihr aber so viele Schmerzen zugefügt, dass ich mir dafür nie verzeihen kann.

Mein Arzt machte mir klar, wenn ich so weiter machen würde mit dem Alkohol, ich nicht mehr lang leben würde, doch ich konnte nicht aufhören. Bis zu diesem Tag. Deine Mutter muss 13 oder 14 gewesen sein. Ich kam mal wieder betrunken nach Hause. Lilija fing all meine Wut ab. Doch an diesem Tag gab ich mich nicht mit ein paar Schlägen zu frieden. Ich schubste sie, trat auf sie ein als sie am Boden lag, bis sie sich nicht mehr bewegte. Schlagartig war ich wieder nüchtern. Ich brachte sie so schnell ich konnte ins Krankenhaus. So sehr hatte ich noch nie die Kontrolle verloren.

Es kam mir vor als würde ich Tage in diesem Warteraum verbringen. Irgendwann kam der Arzt, wollte mich aber nicht zu ihr lassen, da ihnen klar war das ich an ihren Verletzungen schuld war. Er erklärte mir, was ich ihr alles angetan habe und das unser Kind es nicht überlebt hat. Kind? Lilija war schwanger und ich habe unser Kind umgebracht. Ab diesen Tag habe ich nie wieder einen Tropfen Alkohol angefasst.

Ich kümmerte mich aufopferungsvoll um sie, aber unsere Beziehung war nie wieder wie vorher und ich weiß, dass es meine Schuld ist.  

Immer mehr verschloss ich meine Gefühle vor der Außenwelt. Konnte einfach nicht zulassen, dass meine Wut mich wieder so sehr außer der Kontrolle bringt. Natürlich habe ich vielen Menschen in meiner Umgebung damit wehgetan, aber was wäre die Alternative gewesen?

Heute muss ich meinem Leben Tribut zollen. Meine Leber ist hinüber und einem trockenen Alkoholiker gibt man kein Spenderorgan. Ich verstehe es. Doch ich wünsche mir, ich hätte vieles anders gemacht. Heute bereue ich zutiefst, dass ich kein besserer Mensch sein konnte.“, endet er. Mir laufen stille Tränen über die Wange. Ich nehme seine Hand und drücke sie. Seine Finge sind eiskalt und ich weiß, dass es kein gutes Zeichen ist.

„Du bist ein guter Mensch. Nur du hattest einfach nie die Chance es zu zeigen. Die Ereignisse in deinem Leben haben es nicht zugelassen.“, versuche ich ihn zu trösten. Er schenkt mir ein halbherziges Lächeln und ihm fallen vor Erschöpfung die Augen zu.

Leise verlasse ich das Pflegeheim und trotte in den Park.

Jetzt kenne ich seine ganze Geschichte. Jetzt weiß ich was für ein Mensch er wirklich ist. Er ist kein schlechter Mensch, wirklich nicht. Er ist stark und mutig, doch er hat einfach in der falschen Zeit gelebt. Der Krieg hat aus ihm einen gebrochenen Mann gemacht.

Ich schöpfe neuen Mut und beschließe zur Beerdigung zu gehen.

Vor der Kirche treffe ich Vicky und bin so froh wenigstens sie an meiner Seite zu haben. Die Beerdigung vergeht nur äußerst schleppend. Immer wieder versuche ich Lindas Blick einzufangen aber es gelingt mir nicht. Ich halte mich im Hintergrund, möchte nicht, dass sie sich bedrängt fühlt. Doch als sie als Letzte, alleine, am Grab steht nutzte ich die Chance und gehe zu ihr.

Ich versuche ihre Hand zu nehmen, doch sie entzieht sie mir. Ich lege einen Arm um sie. Sie lässt es zu, doch sie blickt nur stumm auf das Grab.

Sie ist blass und ihre Augen sie rot und geschwollen von den Tränen die unablässig über ihre Wangen rollen.

Plötzlich sackt sie auf die Knie. Ich hocke mich neben sie und versuche sie in den Arm zu nehmen, aber sie stößt mich weg.

„Lass mich in Ruhe. Geh einfach und lass mich mein Leben leben.“, schreit sie mir entgegen, schaut mir dabei aber nicht in die Augen.

Ich starte einen neuen Versuch sie in den Arm zu nehmen, sie einfach nur festzuhalten. Jedoch ernte ich dafür eine schallende Ohrfeige.

„Fass mich nicht an. Ich will dich nie wiedersehen. Und jetzt geh endlich.“, faucht sie.

Ergeben stehe ich auf und gehe davon. Als ich bei Vicky ankomme, die mit ein paar Metern Abstand gewartet hat, drehe ich mich noch einmal um. Linda kniet noch immer auf dem Boden, ihre Schultern beben unter gewaltigen Schluchzer und mein Herz zerspringt in tausend Einzelteile, da mir bewusst wird, dass sie mich und meine Hilfe nicht will.

„Sie wird sich wieder beruhigen. Lass ihr Zeit.“, versucht Vicky mich aufzubauen, aber ich kann nur resigniert den Kopf schütteln. Sie wird nie wieder ein Wort mit mir reden. Ich werde sie nie wieder küssen. Nie wieder neben ihr aufwachen. Sie nie wieder in meinen Armen halten.

All das wird mir bewusst und ich beginne zu rennen. Einfach weg. Ich versuche meine Herzschmerzen doch körperliche Schmerzen zu vertreiben, aber es gelingt mir nicht. Egal wie sehr meine Lunge brennt, wie sehr meine Beine krampfen, mein zerbrochenes Herz bleibt der größte Schmerz in meinem Körper.

Ich weiß nicht wo ich bin, ich habe vollkommen die Orientierung verloren. Ich stolpere einfach weiter, ohne Ziel.

Irgendwann, es ist bereits dunkel, stehe ich vor einem geschlossenen Schnapsladen. Ich überlege nicht lange, wende einfach die Tricks an, die ich in den letzten Monaten gelernt habe und knacke mit Leichtigkeit das Schloss. Ich richte nicht viel Schaden an, dazu bin ich zu sehr von Schmerzen geleitet. Ich schnappe mir einfach eine Flasche Hochprozentigen und verlasse das Geschäft wieder.

Ein paar Straßen weiter lasse ich mich an einer Hauswand hinabsinken und stoße mit mir selbe auf mein beschissenes Leben an. Ich merke schnell wie mir der Alkohol in den Kopf steigt und denke zynisch, wie ähnlich ich Opa Ben doch bin.

Nur langsam verdrängt der Alkohol die Schmerzen und nimmt mir die Last von den Schultern. Ich trinke immer mehr und der Hochprozentige in meiner Hand geht langsam zur Neige.

Nur verschwommen bekomme ich meine Umgebung noch mit, als mich jemand auf die Beine zieht und mir die Flasche, die ich fest umklammere, entreißt und gegen die Hauswand schleudert. Ich schwanke stark und reiße meine Stütze bald mit mir zu Boden. Nur mit großer Konzentration kann ich ausmachen, wer mich aus meinem Selbstmitleid herauszerrt. Vicky.

„Lass mich in Ruhe“, lalle ich mit schwerer Zunge und weiß nicht ob sie mich verstanden hat. Um ihr meine Abwehr zu verdeutlichen, versuche ich mich von ihr loszumachen, lande aber nur unsanft auf den Boden.

Diese plötzliche Bewegung lässt die Welt sich um mich drehen und meine Magen fährt Achterbahn, sodass sich der Alkohol, denn er ist das Einzige was ich heute zu mir genommen habe, schon bald auf dem Bürgersteig ergießt. Vicky hilft mir, dass ich mich nicht selbst vollkotze und nachdem meine Magen nun gänzlich leer ist, kann ich auch wieder etwas klarer denken.

„Es tut mir leid.“, schluchze ich an Vickys Schulter.

„Schon Okay, dass hätte ich schon vor einigen Monaten tun sollen.“, sie nimmt mich liebevoll in den Arm und bugsiert mich zum Auto.

Ich weiß nicht wie ich in mein Bett gekommen bin, aber augenscheinlich liege ich darin. Nur beschwerlich kann ich meine Augen öffnen. Mein Kopf dröhnt wie schon lange nicht mehr und als ich mich aufsetzte entfährt mir ein lautes Stöhnen. Ich halte meinen Kopf, weil ich das Gefühl habe, dass er sonst abfällt.

Leise Klopft es an der Tür, aber für mich hört es sich an als würde mit einem Presslufthammer dagegen geschlagen werden.

„Hmm…“, bringe ich grade so hervor und muss gegen das grelle Licht anblinzeln, welches durch die Tür nun in mein dunkles Zimmer fällt.

Schnell schließt Vicky die Tür wieder und reicht mir ein Glas mit Wasser, in dem sich grade eine Tablette auflöst.

Dankend schaue ich sie an und stürze mit großen Schlucken den gesamten Inhalt hinunter.

„Ich war heute früh bei Linda. Ich hab versucht mit ihr zu reden, aber sie blockt auch mich total ab.“, sagt Vicky leise. Ich reagiere nicht. Wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen und hinterlassen eine salzige Spur auf meinen Wangen. Sanft zieht mich Vicky auf ihren Schoß und streicht mir über den Rücken.

Meine Kopfschmerzen lassen langsam nach und ich kann mich, unter großen Kraftaufwand, einigermaßen beruhigen. Ich muss stark sein. Muss über sie hinweg kommen. In einer Woche geht die Schule wieder los. Ich werde mich voll reinknien. Nicht nur um Linda aus meinem Gedächtnis zu streichen, ich möchte einen guten Abschluss machen. Die letzten Wochen habe ich mir neue Prioritäten gesetzt und das ist eine davon. Linda war eine weitere, aber das hat sich ja erledigt.

Mein Blick fällt auf die Uhr. Schon kurz nach 15Uhr. Eine weitere Priorität wartet auf mich. Opa Ben. Auch wenn seine Geschichte zu Ende ist werde ich ihn so oft wie möglich besuchen.

Bestimmt mache ich mich von Vicky los und ziehe mich an.

 

Der Rest der Woche läuft an mir vorbei wie ein Film. Ich gehe jeden Tag ins Pflegeheim. Rede mit Opa Ben über dies und das. Sehe wie er immer schwächer wird. Abends weine ich mich in den Schlaf, weil ich feststellen muss, dass ich Linda nicht vergessen kann. Zumindest nicht so schnell wie ich es mir erhofft habe.

Ich bin nur noch ein Schatten meiner selbst und bin fast froh darüber, dass Opa Ben es nicht mehr wahrnimmt.

Schon früh am Sonntagmorgen ruft das Pflegeheim bei uns an. Ich bin wach, da ich sowie so kaum noch schlafe und nehme den Anruf entgegen. Als sich die Pflegekraft meldet, erstarre ich in meiner Bewegung. Ich kann nicht antworten. Vicky stellt sich verschlafen neben mich in den Flur und meckert, wer denn so für am Sonntagmorgen schon anruft. Als sie meinen erschrockenen Gesichtsausdruck sieht nimmt sie mir das Telefon ab und spricht mit der Schwester.

Ich bekomme nichts mehr mit, spüre nur noch den unbändigen Drang so schnell wie möglich zu ihm zu kommen und das tue ich auch. Ich rase ins Pflegeheim. Total außer Atem und mit tränengetränkten Wangen, komme ich im Pflegeheim an und stürze in sein Zimmer.

Eine Pflegekraft steht an seinem Bett. Mich zur Ruhe ermahnend, aber völlig aufgelöst, trete ich heran.

Mühsam öffnet er seine Augen und ein kleines Lächeln umspielt seine Lippen, als er mich erblickt. Ich setzte mich neben das Kopfende seines Bettes und nehme seine Hand. Sie ist eiskalt.

„Schublade.“, bringt er mühsam hervor und deutet mit dem Kopf in Richtung seines Nachtschränkchens. Ich öffne die Schublade ohne seine Hand loszulassen. Darin befindet sich ein großer brauner Umschlag, der mit meinem Namen beschriftet ist. Mit einem kurzen Blick hinein erkenne ich, dass sich darin 5 kleinere weiße Umschläge befinden. Die Briefe, die er an alle schreiben sollte.

Mir steigen wieder die Tränen in die Augen, als mir bewusst wird, dass er nun wirklich bald sterben wird.

„Nicht weinen. Nicht wegen mir.“, flüstert er und schließt seine Augen. Er atmet schwer.

Ich führe seine Hand an meine Wange. Sie ist so kalt.

Leise öffnet sich die Tür. Opa Ben öffnet seine Augen nicht. Meine Eltern, Vicky und meine Oma kommen herein. Bedrückt stelle sie sich um sein Bett, nur Oma setzt sich auf die andere Seite des Kopfendes und nimmt wie ich seine Hand in ihre. Sie betrachtet ihn mit einem Blick, der so voller Liebe steckt, dass es mir das Herz zerreißt. Er hat sie so schlecht behandelt und trotzdem liebt sie ihn über alles.

„So habe ich mir das immer vorgestellt.“, haucht er und seine Stimme klingt seltsam rau und belegt. Noch einmal atmet er schwer auf, dann ist es totenstill. Absolut nichts ist zu hören.

Eine gefühlte Ewigkeit vergeht, in der wir alle nicht wahrhaben wollen, was soeben passiert ist.

Nach und nach zerreißen kleine Schluchzer meiner Mutter die Stille. Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren, doch nur langsam dring in mein Bewusstsein vor, dass Opa Ben tot ist. Er ist tot. Ich stehe hastig auf, sodass der Stuhl hinter mir umkippt. Am liebsten würde ich soweit wegrennen wie es geht, aber ich rufe mich noch ein letztes Mal zu Ruhe. Wenigstens eine Verabschiedung hat er verdient. Mit so viel Andacht, wie ich in diesem Moment aufbringen kann, beuge ich mich zu ihm.

„Danke. Danke für alles.“, flüstre ich in sein Ohr und hauche ihm ein Kuss auf die Wange.

Bedächtig wende ich mich zu gehen, aber meine Augen müssen so viel Ruhelosigkeit ausstahlen, dass mich Vicky nur anzusehen braucht, um meine Gedanken zu lesen.

Behutsam schüttelt sie den Kopf und nimmt mich fest in den Arm.

„Du kannst nicht immer weglaufen, du musst dich irgendwann deinen Gefühlen stellen“, wispert sie mir ins Ohr, sodass nur ich es hören kann. Ich weiß, dass sie Recht hat, aber im Moment kann ich es einfach nicht. Ich habe den heftigen Drang zu rennen soweit mich meine Füße tragen. Ich schaue Vicky entschuldigend an und stürme aus dem Zimmer.

Ich renne und renne. Meine tränenverhangenen Augen lassen mich keinen Blick auf meine Umgebung erhaschen, aber ich würde sie sowieso nicht wahrnehmen. Ich bin nur heilfroh, dass ich nirgendwo dagegen renne.

Irgendwann geben meine Beine einfach unter mir nach. Ich falle auf meine Hände. Ich gebe mich nun vollkommen meinem Schmerz hin und kullre mich einfach auf dem Boden zusammen und weine gänzlich haltlos. Ich versuch meinen Schmerz zu lindern in dem ich ihn laut in die Welt hinaus schreie, aber außer ein brennen im Hals hat es keinerlei Effekt.

Ich muss eingeschlafen sein. Jetzt wo ich meine Augen wieder öffne, ist es stockdunkel um mich herum. Wo bin ich? Ich versuche in meiner Umgebung irgendeinen Punkt auszumachen, der mir bekannt vorkommt, aber nichts. Ich kenne hier absolut nichts. Hier ist aber auch nicht wirklich viel. Ich liege immer noch zusammengekauert auf einem Stoppelfeld.

Mühsam rapple ich mich auf. Jeder Knochen in meinem Körper tut mir weh. In der Ferne erkenne ich eine Straße. Langsam trotte ich darauf zu. Mir ist kalt und ich fühle mich hundeelend. Prompt wird mir so übel, dass ich mich übergeben muss. Da ich in den letzten Tagen nicht wirklich viel gegessen habe, würge ich eher trocken, was mir die Tränen in die Augen treibt.

Ich komme an der Straße an und bemerke ein Schild, welches mir verrät, dass ich 15 Kilometer von zu Hause weg bin.

Schleppend bewege ich mich in die Richtung, die das Schild vorgibt. Vielleicht hab ich jetzt ein bisschen Zeit meine Gedanken zu ordnen. Doch sie rasen nur so durch meinen Kopf. Keiner bleibt lang genug um ihn einzuordnen und meine Gefühle darauf anzupassen. So wechsle ich im Sekundentakt zwischen Trauer, Wut, Verzweiflung, Liebe, Angst, Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit.

Ich bin so sehr mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich meine Umgebung mal wieder vollkommen ausblende, bis mich ein lautes Hupen direkt neben mir, in die Realität zurück reißt.

„Kann ich dich mitnehmen?“, fragt die blonde Frau aus dem Auto, das grade neben mir hält. Ich nicke stumm und steige ein. Wenn ich weitergelaufen wäre, wäre ich bestimmt in drei Tage nicht angekommen, denke ich.

„Wo soll’s denn hingehen“, will die Frau neben mir nun wissen.

„Einfach in die Stadt.“, sage ich schulterzuckend. Ich habe keinen Plan wo ich hin soll. Nach Hause? Was soll ich da? Ein anderer Ort fällt mir aber auch nicht ein.

Nur wenige Minuten später lässt mich die junge Frau am Bahnhof raus. Ich verabschiede mich mit einem leisen ‘Danke‘ und trotte weiter ziellos dahin.

Als es schon beginnt zu dämmern, beschließe ich nun doch nach Hause zu gehen.

Alle schlafen noch, als ich das Haus betrete. Ich gönne mir als Erstes eine heiße Dusche. Aber auch die kann meine Anspannung und Unruhe nicht von mir nehmen.

Ich starre ein meine Zimmerdecke. Meine Augen brennen und ich fühle mich wie erschlagen. Doch finde ich nicht in den Schlaf.

Langsam erwacht das Haus. Mein Vater steht zuerst auf. Geht an meiner offenen Zimmertür vorbei, schenkt mir aber keine Beachtung.

Meine Mutter muss nun auch zur Arbeit. Als sie an meiner Tür vorbeikommt, bleibt sie stehen. Kurz mustert sie mich.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt sie, als sie an mein Bett tritt.

Ich nicke stumm und muss meinen Kopf wegdrehen, da mir wieder die Tränen in die Augen schießen, welche meine halbherzige Lüge sofort aufdecken würden.

Ich höre, wie bei Vicky der Wecker klingelt. Sofort schaut sie in mein Zimmer und atmet hörbar aus, als sie mich entdeckt. Ohne sich etwas anders anzuziehen oder sich fertig zu machen, kuschelt sie sich neben mich in mein Bett.

„Wie geht es dir?“, stellt sie eine ähnliche Frage wie Mum, aber doch so anders. Ihr kann ich nicht mit einem simplen Nicke antworten. Ihr kann ich nichts vorspielen. Und sofort laufen mir auch schon wieder die Tränen. Sie drückt mich fest an sich.

„Doch brauchst nicht antworten. Ich weiß, dass es dir schlecht geht und du darfst auch weinen. Bei mir musst du nicht immer den Starken spielen.“, flüstert sie mir ins Ohr.

„Aber ich möchte nicht mehr weinen. Ich habe die letzten Tage so viel geweint. Ich möchte einfach, dass der Schmerz endlich weggeht.“, sagt ich mit tränenerstickter Stimme.

 

Ich schaffe es mich aufzuraffen und die ganze Woche in die Schule zu gehen, auch wenn ich mich einfach nur in eine Ecke setzten möchte. Ich nehme nicht wirklich an irgendetwas teil, alles läuft neben her. Jede Nacht liege ich wach. Vickys Versuche mich irgendwie aus meinem Zimmer rauszubekommen misslingen alle.

Am Samstag ist seine Beerdigung und schon wieder trage ich meinen schwarzen Anzug. Ich fühle mich fremd in meinem eigenen Körper. Immer noch bin ich unnatürlich blass. Meine Augen sehen matt aus, obwohl ständig Tränen darin stehen. Meine Wangen sind eingefallen, eine Folge davon, dass ich seit Tagen nichts esse. Ich habe einfach kein Hungergefühl. Meine Augenringe bekommen schon Augenringe, weil ich einfach keinen Schlaf finde. Ich bin kurz davor Tabletten zu nehmen, um endlich schlafen zu können, obwohl ich wirklich kein Fan von so etwas bin.

Schweigend fahren wir alle zusammen zu Friedhof. Vicky versucht mir etwas Halt zu geben, in dem sie meine Hand hält und ich bin ihr wirklich dankbar dafür, aber es klappt einfach nicht.

Ich bekomme nichts um mich herum mit, kann nur auf das frische Grab und den Grabstein aus schwarzen Mamor vor mir starren.

Ich blicke mich bewusst um. Nur Vicky, die immer noch meine Hand hält, und ich stehen noch am Grab. Als sie bemerkt, dass ich aus meiner Starre wieder erwacht bin, wendet sie sich zum Gehen ab und ich will ihr folgen. Doch plötzlich geben meine Beine unter mir nach und eine tröstliche Schwärze überkommt mich.

 

Meine Lider liegen wie Beton auf meinen Augen und nur unter größter Anstrengung bekomme ich sie auf. Wo bin ich?

Alles um mich ist weiß und steril. Ein Krankenhauszimmer. Vorsichtig blicke ich mich um. Ich bin an eine Infusion angeschlossen. Sonst nichts. Das Bett neben mir ist unberührt. Als ich aus dem Fenster sehe, erkenne ich, dass es Tag ist. Mehr kann ich nicht feststellen mein Zeitgefühl ist gänzlich verschwunden.

Mein Mund ist trocken. Meine Augen brennen nicht mehr ganz so schlimm, aber ich fühle mich ausgelaugt.

Ich taste nach dem Schwesternknopf auf meinem Nachttisch. Meine Arme fühlen schlaff an und nur mit viel Mühe komme ich an den Knopf und drücke ihn.

Schon kurze Zeit später öffnet sich, nach einem energischen Klopfen, die Tür.

„Wie schön, sie sind wieder wach. Ich werde sofort ihre Familie informieren. Wie geht es ihnen?“, sprudelt die Krankenschwester mittleren Alters nur so heraus.

„Bescheiden. Aber Danke.“, bringe ich mit kratziger Stimme hervor. Und schon ist sie wieder verschwunden.

Nur wenige Zeit danach klopfte es erneut. Ein in einem weißen Kittel gekleideter Mann betrit mein Zimmer.

„Michael, schön, dass sie wieder wach sind. Können sie sich erinnern, was passiert ist?“ fragt er mit sanftem Nachdruck in der Stimme.

Ich versuche mir die Erinnerungen in den Kopf zu rufen. Linda. Opa Ben. Beerdigung. Dunkelheit. Ich wünschte die Erinnerungen wären noch etwas im Verborgenen geblieben. Sie prasseln kräftig auf mich ein. Mir laufen sofort wieder die Tränen über die Wange und auch ein leichtes Schwindelgefühl setzt ein, als sich meine Gedanken überschlagen.

„Linda hat mich verlassen. Opa Ben ist tot.“, bringe ich mit bebender Stimme heraus, als ob es dem Arzt eine triftige Erklärung liefern könnte.

„Sie sind auf der Beerdigung ihres Großvaters zusammengebrochen. Ihre Schwester hat mir im Vertrauen erzählt, dass sie starken Liebeskummer haben, dass der Tod ihres Opas sie sehr mitgenommen hat und sie deswegen an Appetitlosigkeit und Schlafmangel leiden. Stimmt das soweit?“, er kommt auf mich zu und setzt sich knapp auf meine Bettkante.

Ich nicke nur stumm, die Emotionen der letzten Woche sind jetzt alle wieder da. Ich fühle mich ausgelaugt, kraftlos und demotiviert.

„Der Zusammenbruch ist durch die Mangelernährung und den Schlafentzug zu begrünen. Wir werden sie ein paar Tage hier aufpäppeln, aber sie sollten in der Zeit auch mit einem Psychologen reden. Vielleicht kann er ihnen ein wenig helfen.“, erklärt er ruhig.

Ich brauche keinen Psychologen, ich brauche Linda, denke ich sarkastisch. Was sollte er mir erzählen, was sie nicht mit einem Lächeln gut machen kann? Wie sollte er mir helfen, wenn ihre pure Anwesenheit mein Herz heilen könnte? Doch ich bleibe stumm.

Das Aufreißen der Tür und das Stimmengewirr meiner Eltern durchreißt die eingetretene Stille. Abrupt steht der Arzt auf und verlässt, durch die noch offen stehende Tür, das Krankenzimmer.

Wild gestikulieren redet meine Mutter auf mich ein. Ich kann nur Bruchstücke verstehen, doch es interessiert mich auch nicht wirklich was sie zu sagen hat.

Irgendwann, ich hab schon total abgeschalten, platzt Vicky der Kragen. Bestimmt schiebt sie unsere Eltern Richtung Tür und bietet ihnen an, sich doch in der Cafeteria einen Kaffee zu gönnen, ich bräuchte immer hin noch Ruhe.

„Puh, Gott sei Dank sind die endlich weg.“, sagt sie tief seufzend und verweilt einen Moment mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt.

„Du hast mir echt Angst gemacht Kleiner. Du kannst doch nicht einfach so zusammenklappen ohne was zu sagen.“, sagt sie betont fröhlich und knufft mich leicht in die Schulter. Doch ich merke, dass ihre Fröhlichkeit nur aufgesetzt ist und sie wirklich Angst um mich hatte und wahrscheinlich noch hat.

„Es tut mir leid. Ich weiß, ich hätte mit dir reden sollen, aber ich kann einfach nicht. Meine Gedanken und Gefühle überfordern mich einfach so sehr, dass ich selber nicht damit klarkomme. Wie soll ich sie da jemand anderen erklären?“, erwidere ich und die Gefühle, die ich vor meinen Eltern versteckt habe, übermannen mich wieder. Vicky kuschelt sich neben mich und ich fühle wieder unsere besondere Verbindung. Sie erscheint mir fast intensiver als je zuvor.

„Ich habe die ganze Woche versucht mit ihr zu reden. War jeden Tag bei ihr und ein wenig hat sie mir auch zugehört. Ich habe ihr erzählt wie schlecht es dir geht. Aber wenn ich ehrlich bin viel besser geht es ihr auch nicht. Am Donnerstag sind ihre Eltern wieder auf unbestimmte Zeit verreist und sie ist jetzt ganz allein. Gestern war ich auch bei ihr. Ich hab ihr von deinem Zusammenbruch erzählt, aber sie hat nichts erwidert. Hat mich nur ein paar Minuten angeschaut und mir dann die Tür vor der Nase zugeschlagen. Ich hoffe ich hab es nicht alles noch schlimmer gemacht.“, flüstert sie mir leise ins Ohr.

„Glaubst du sie tut sich wieder etwas an?“, frage ich und drücke damit meine größte Befürchtung aus.

„Nein.“, Vicky schüttelt energisch den Kopf. „Ich glaube den Tod ihrer Oma hat sie mittlerweile ganz gut überwunden. Ich glaube eher euer Streit und ihr Verhalten dir gegenüber ziehen sie so runter. Aber sie weiß auch, was sie dir mit ihren Aktionen antut. Und ich denke sie wird es nicht mehr tun.“, sagt sie sicher. Ich bleibe mal wieder stumm. Muss erst einmal die neuen Informationen verarbeiten.

„Okay, ich sollte jetzt gehen. Wenn Mum und Dad noch mehr Kaffee trinken, tanzen sie heute Nacht auf den Tischen.“, lacht Vicky nun und kann mir damit auch ein kleines Grinsen entlocken.

Mit einem gehauchtem ‘ich liebe dich‘ verabschieden wir uns voneinander und ich bleibe wieder allein mit meinen Gedanken und Gefühlen zurück.

Geht es Linda wirklich wegen mir schlecht? Aber sie will mich doch nicht mehr sehen. Sie hat mir so viele Schmerzen zugefügt, nicht ich ihr. Oder? Liegt es daran, dass ich nicht meine ganze Vergangenheit erzählt habe?, dass ich nicht vollkommen ehrlich zu ihr war?, dass sie glaubt ich vertraue ihr nicht? Aber ich vertraue ihr. Ich würde ihr mein Leben anvertrauen. Mein Leben für ihres geben. Ich liebe sie so sehr, obwohl sie mir mein Herz gebrochen hat. Wird das je aufhören? Wenn sie mich nicht irgendwann zurück will, kann ich eine andere Frau lieben? Kann ich eine andere so sehr lieben wie sie? Nein, niemals. Sie oder keine. Ich muss sie zurück gewinnen. Das ist mein letzter Gedanke ehe ich einschlafe.

 

Ich schrecke hoch, als ein energisches Klopfen ertönt und eine Krankenschwester mit einem Essenstablett nur Sekunden später vor mir steht.

„Guten Abend Michael, ich bringe dir dein Essen. Ich komme in einer halben Stunde wieder und wünsche, dass alles restlos leer ist.“, plappert sie auf mich ein und ehe ich etwas erwidern kann ist sie schon weg.

Wiederwillig zwinge ich mir zwei Scheiben Brot hinunter, weil ich einsehen, dass es so nicht weiter gehen kann.

Auf die Minute genau 30 Minuten nachdem sie das Essen gebracht hat, holt es die Schwester auch wieder ab. Sie bemerkt zwar, dass nicht alles leer ist, ist aber dennoch zufrieden, dass ich wenigstens etwas gegessen habe.

Danach bin ich wieder alleine mit meinen Gedanken. Ich fühle mich einsam, verlassen und hilflos. Ich versuche mich von meinen traurigen, mich gefangen nehmenden, Gedanken zu lösen und einen Plan auszuarbeiten wie ich Linda zurück gewinnen könnte. Doch ich versinke immer wieder in meinem Selbstmitleid.

Ich bin so sehr in meinem Schmerzen versunken, dass ich das leise Klopfen nicht höre. Erst als sich eine Gestalt in mein Sichtfeld schiebt, erwache ich aus meinem tranceartigen Zustand. Schnell blinzle ich die Tränen weg, um meinen Gegenüber zu erkennen.

„Süße!“, entfährt es mir freudig, bevor ich mir auf die Zunge beißen kann. Ich könnte mich selber ohrfeigen. Wir sind kein Paar mehr. Ich kann sie doch nicht einfach Süße nennen.

Doch ein zartes Lächeln fährt einen kurzen Moment über ihr Gesicht, ehe es wieder in Trauer verfällt.

Sie so zu sehen zerbricht mein Herz mehr, als ihre Worte bei der Beerdigung ihrer Oma.  Sie wirkt so schutzlos, hilfsbedürftig und niedergeschlagen, dass ich sie nur in den Arm nehmen möchte.

Ich gebe mir einen Ruck und tue es auch. Langsam schlage ich die Decke zurück und setzte mich auf. Meine Zehen berühren den kalten Linoleumboden, ich stelle meine Füße parallel und stoße mich vom Bett ab. Einen Moment stehe ich kerzengrade, doch dann kommt der Schwindel. Der Raum scheint sich um mich zu drehen und meine Beine sind aus Wackelpudding.

Linda erkennt die Situation und umschlingt mich mit ihren Armen um mir Halt zu geben. Ich hatte mir das zwar etwas anders vorgestellt, aber ihre Berührung durchströmt mich wie ein Stromschlag.

Vorsichtig setzt sie mich auf dem Bett ab. Der Schwindel verfliegt leider nicht. Immer noch scheint sich die ganze Welt um mich zu drehen. Das bringt auch meinen Magen auf Touren. Er windet sich, als würde ich Achterbahn fahren und ich bin froh, dass meine Beine auf dem Weg zur Toilette nicht unter mir nachgeben. Da verabschiedet sich auch schon wieder das Abendessen.

Linda ist an meiner Seite und streichelt mir sanft über den Rücken. Sie reicht mir ein Glas Wasser, als ich schwer atmend neben der Toilette an der Wand lehne.

„Es tut mir leid, dass du das mit ansehen musstest.“, flüstere ich und kann ihr nicht in die Augen sehen.

„Absolut nichts muss dir leidtun. Du hast mich schon in viel schwierigeren Situationen gesehen und mir geholfen.“, antwortet sie und versucht mein Blick an sich zu binden, indem sie mein Kinn umfasst und es zu sich dreht. Doch ich kann ihr einfach nicht in die Augen sehen. Ich weiß, dass ich daran schuld bin. An unserer Trennung. Weil ich ihr nicht meine ganze Vergangenheit anvertraut habe. Ist jetzt dich richtige Situation dafür? Egal. Ich muss es ihr jetzt sagen, denn vielleicht ist es die letzte Möglichkeit.

„Ich muss dir etwas sagen…“, beginne ich, stoppe aber auch gleich wieder. Wie erklärt man der Liebe seines Lebens, seine kriminelle Vergangenheit?

„Du solltest ins Bett und dich ausruhen. Wir können Morgen immer noch reden.“, sagt sie sanft und hilft mir beim Aufstehen. Auch den Weg zurück ins Bett stützt sie mich.

Als ich wieder im Bett liege, übermannt mich eine unendliche Müdigkeit, doch ich muss es ihr jetzt erzählen. Wenn ich mein Gewissen erleichtert habe, kann ich immer noch schlafen.

Sie drückt mir einen Kuss auf die Wange und wendet sich zum Gehen ab.

„Linda ich muss es dir wirklich jetzt erzählen.“, ich versuche meiner Stimme einen selbstbewussten Klang zu verleihen, aber ich bin in dieser Situation alles andere als selbstbewusst.

Sie hält in ihrer Bewegung inne und dreht sich zu mir zurück. Linda kämpft mit sich, dass sehe ich in ihren Augen. Zaghaft tippe ich neben mich auf die Decke und deute so an sie möchte sich bitte setzten. Sie kommt meiner unausgesprochenen Bitte nur zögerlich nach, aber als sie endlich neben mir sitzt huscht ein kleines Lächeln über mein Gesicht.

„Ich weiß nicht wie ich anfangen soll.“, beginne ich ehrlich.

„Die letzten Monate waren, aus heutiger Sicht, echt scheiße. Ich habe viel Mist gebaut. Angefangen hat alles vor ungefähr anderthalb Jahren. Mein bester Freund ist in eine andere Stadt gezogen.

Ich hatte nie viele Freunde, aber es hat mir gereicht um ein unbeschwertes Leben zu führen. Dann war er vom einen auf den anderen Tag einfach nicht mehr da. Mit wem sollte ich jetzt reden? Meine Zeit verbringen? Ich stand vor einem tiefen Abgrund. Eines Abends schlenderte ich ziellos durch die Stadt. Ich wusste einfach nichts mit mir anzufangen. Es begann mir alles egal zu werden.

In einem Park traf ich auf eine Gruppe Jungs. Sie tranken Bier und feierten sorglos mitten in der Woche. Ich schloss mich ihnen an, um wenigstens etwas Gesellschaft zu haben. Schnell war ich Teil ihrer Clique, vernachlässigte die Schule und meine Familie.

Irgendwann nahmen sie mich das erste Mal mit zu einem ihrer sogenannten ‘Beutezüge‘. Wir stahlen alles was uns unter die Finger kam und uns interessierte. Hauptsächlich Alkohol. Dabei achteten wir auch nicht darauf, welchen Schaden wir anrichteten. Vor einem halbe Jahr schnappte uns die Polizei. Ich bekam Sozialstunden aufgebrummt. Bin aber nicht vorbestraft, weil die Strafe zu gering war. Und ich habe meine Sozialstunden brav abgearbeitet.

Seit ich dich kenne habe ich keinen Kontakt mehr zu den Jungs. Obwohl ich nach der Beerdigung deiner Oma eine Art Rückfall hatte.“, ich versuche die letzten Worte nicht zu vorwurfsvoll klingen lassen. Ich bin selber für meine Handlungen verantwortlich und nicht Linda.

Jetzt sehe ich ihr wieder in die Augen, versuche darin zu lesen. Versuch zu erkennen, was sie nun über mich denkt. Doch ihre blauen Augen schauen mich unergründlich an.

„Du. Du hast mich gerettet. Du hast mir wieder einen Sinn im Leben gegeben. Ich liebe dich so sehr. Deine Worte haben mich verletzt, aber es verletzt mich viel mehr, dich so traurig zu sehen und zu wissen, dass ich daran schuld bin.“, ich klinge verzweifelt und das bin ich nun auch. Sie ist alles was ich habe. Mein Leben.

Natürlich weiß ich, dass auch Opa Ben und seine Geschichte mir ein Stück weit geholfen haben, aber wäre Linda nicht gewesen, hätte ich diese Geschichte nie gehört.

„Ich liebe dich auch…“, flüstert sie, sodass ich mich stark anstrengen muss um sie überhaupt zu verstehen.

„Aber…“, frage ich nach, da mir es sehr nach einem aber klingt.

„Kein aber. Ich liebe dich. Ich konnte nicht damit umgehen. Nie habe ich jemanden so geliebt wie dich. Und du, du hast meine Liebe so bedingungslos erwidert, dass es mich erschreckt hat. Keinem habe ich je mehr vertraut, als dir. Ich hatte solche Angst. Angst, du könntest mein Vertrauen missbrauchen. Angst, du könntest mich verletzten. Das konnte ich nicht zulassen, so habe ich dich verletzt, ehe du es tun konntest.

Ich danke dir, dass du so offen zu mir warst, du hättest es mir nicht erzählen müssen. Ich hätte dich nie dazu gedrängt.“, erklärt sie mit schwacher Stimme und  beginnt zu weinen. Ich ziehe sie in meine Arme. Viel zu viel wurde in letzter Zeit geweint.

„Danke, dass du hier bist. Du bist alles was ich brauche.“, hauche ich ihr ins Ohr. Langsam beruhigt sie sich wieder und ein zartes Lächeln legt sich auf ihr Gesicht.

„Vicky hätte mich umgebracht, wäre ich nicht vorbei gekommen. Sie hat mir die letzte Woche die Hölle heiß gemacht, wie schlecht es dir geht und...“, weiter kommt sie nicht, da ich sanft ihre Lippen mit meinen verschließe.

Wir versinken in einem innigen Kuss und schlafen Arm in Arm ein.

Ich wache mit einem Lächeln auf den Lippen auf, da ich ihren warmen Körper neben mir spüre.

Doch ich kann unser Zweisamkeit nicht lange genießen. Denn nach einem kurzen Klopfen stehen 5 Ärzte und Schwestern um mein Bett herum.

„Na, gut geschlafen Michael?“, fragt mich, der Arzt von Gestern, mit einem Zwinkern.

„Danke, sehr gut.“, erwidere ich mit einem breiten Grinsen.

„Da, können wir uns den Psychologen ja wohl sparen. Sie habe gestern Abend gut gegessen und ihre Schlafprobleme habe auch eine Lösung gefunden.“, lacht er verschmitzt, mit einem Seitenblick auf Linda. Ich beiße mir schuldbewusst auf der Unterlippe herum, was dem Arzt zu einem fragenden Blick verleitet.

„Das mit dem Abendessen… ist etwas anders gelaufen, als gewünscht. Nachdem ich aufstehen wollte, hat es sich ganz schnell wieder verabschiedet.“, gebe ich kleinlaut zu.

„Nun gut. Sie bekommen ein Mittel für den Magen. Sie sollten aber dennoch ein paar Tage das Bett hüten. Wir lassen sie erst wieder gehen, wenn sie wirklich fit sind.“, sagt er bestimmt, diktiert der Schwester den Namen des Arzneimittels und verabschiedet sich mit seiner Gefolgschaft.

„Guten Morgen Süße!“, hauche ich Linda ins Ohr und bemerke schmunzelnd, welche Reaktion ihr Körper mal wieder zeigt. Ich weiß, dass sie alles mitbekommen hat, da sie unter der Decke sanft meinen Arm gestreichelt hat. Ihr war die Situation, aber wahrscheinlich zu peinlich, sodass sie sich weiterhin schlafend gestellt hat.

„Guten Morgen mein Held.“, kommt es von ihr bevor sie mich in einen saften Kuss zieht.

Epilog

Ich bin erschöpft. Es hat alles in mir aufgewühlt, diese Geschichte zu erzählen. Meine Wangen sind tränengetränkt. Linda hält immer noch meine Hand, hat sie keine Sekunde losgelassen. Obwohl ich zwischen zeitlich das Gefühl hatte, sie würde am liebsten flüchten.

Langsam schaue ich in der Runde herum. Schock, Unglaube, Zorn und Fassungslosigkeit kann ich in ihren Gesichtern ablesen.

Vorsichtig greife ich in die Aktentasche neben mir und ziehe den großen braunen Umschlag hinaus. Ich habe ihn seit damals nicht mehr geöffnet. Ich hole die 5 weißen Kuverts hervor und verteile sie wie beschriftet. Mum. Dad. Vicky. Denen, mit Omas Namen, behalte ich zurück. Genauso den wo mein Name darauf steht. Ich bin etwas verwundert, dass er auch mir einen Brief geschrieben hat. Ich dachte eigentlich, dass er alles was er mir sagen wollte mir damals gesagt hat.

„Ich denke wir sollten sie laut vorlesen.“, schlägt Vicky vor und erntet zustimmendes Nicken.

„Wer soll anfangen?“ fragt meine Mutter.

„Ich würde sagen wir beginnen mit dem an Oma. Es tut mir zwar sehr weh, dass sie ihn nicht mehr selbst lesen kann, aber ich denke sie wusste wie sehr er sie geliebt hat.“, sage ich bestimmt.

Oma Lilija ist nur 2 Jahre nach Opa Ben gestorben. Sie war nie mehr wirklich glücklich, dass weiß ich.

 Ich reiche den Brief an Linda, sie nimmt ihn zögerlich und schaut mich fragend an.

„Sie mochte dich. Und ich wünsche es mir, aber nur wenn du auch möchtest.“, versuche ich zu überzeugen den Brief zu lesen.

Mit Tränen in den Augen nickt sie mir zu und öffnet mit zitternden Händen den Umschlag.

„Meine…“, sie räuspert sich und die ersten Tränen laufen ihr über die Wangen.

„Meine allerliebste Lilija,

Noch heute pocht mein Herz im Galopp wenn ich an dich denke. Du löst Gefühle in mir aus, die ich nie gedacht hätte zu finden. Geborgenheit, Sicherheit, Glück und natürlich allen voran Liebe.

Ich liebe dich so sehr und es tut mir gleichzeitig so sehr weh, dich so behandelt zu haben. Mit jedem Blick in deine liebevollen Augen, bekomme ich einen Stich in mein Herz. Ich habe dich so sehr verletzt, dass ich es nie wieder gut machen kann. Aber du warst immer an meiner Seite. Hast immer zu mir gestanden und dafür liebe ich dich noch mehr, wenn es überhaupt möglich ist.

Du hattest so viel Besseres verdient, als mich. Ich habe dir versucht alles zu geben, aber der Krieg hat mich gebrochen. Er hat mich zu sehr verändert, als das ich einfach darüber hinwegsehen konnte.

Wie wäre unser Leben ohne diesen schrecklichen Krieg verlaufen? Diese Frage habe ich mir lange gestellt, bis ich zu der Einsicht gekommen bin, dass wir ohne diesen Krieg nie zueinander gefunden hätten. Er war das schrecklichste, was ich je erlebt habe. Hat mir aber gleichzeitig das Beste in meinem Leben geschenkt.

Du bist eine so schöne, wundervolle, starke, charmante, liebevolle Frau. Mir fehlen die Worte dich zu beschreiben. Du bist perfekt, zu perfekt, als dass ich dich glücklich mache könnte. Du hast mich glücklich gemacht und ich hoffe so sehr auch du warst glücklich, trotz mir.

Ich liebe dich. Für immer.

Ben“, die letzten Worte verlieren sich in Lindas Tränen.

Auch Mum weint nun und Dad nimmt sie liebevoll in den Arm.

„Ich glaube ich mache weiter“, sagt sie und strafft ihre Schultern.

„Meine Sarah, meine Prinzessin,

Schon im ersten Moment, in dem du mir in die Augen geblickt hast, hast du mir mein Herz gestohlen. Doch ich weiß, bei dir ist es gut aufgehoben. Ich war nie ein guter Vater für dich, dass weiß ich. Ich wünschte ich könnte es ändern, aber leider kann ich selbst meiner eigenen, geliebten Tochter gegenüber nicht meine wahren Gefühle zeigen.

Ich habe deine Mutter sehr verletzt, auch körperlich, aber ich bin heute froh, dass sie sich immer vor dich gestellt hat. Ich könnte mir heute noch weniger verzeihen, wenn ich dich geschlagen hätte. Schon die seelischen Qualen, die ich dir zugefügt haben muss, kann ich nicht entschuldigen.

Ich rechne es dir ausgesprochen hoch an, dass du deine Mutter, auch nach deinem Auszug, besucht hast. Ich weiß, dass du mich alleine nie besucht hättest.

Auch wenn ich es dir wahrscheinlich nie gezeigt habe, ich liebe dich. Ich liebe dich seit deinem ersten Atemzug und werde es bis zu meinem letzten tun.

Es tut mir auch leid, dass du alleine bleiben musstest. Der letzte Mord, anders kann man es einfach nicht bezeichnen, hat mich am schlimmsten getroffen. Denn ich habe einen Teil von mir selbst getötet. Ich habe ein Teil deiner Mutter getötet und ich habe deine Chance getötet ein Geschwisterchen zu bekommen.

Noch heute, wo schon so viel Zeit vergangen ist, komme ich mit den Schuldgefühlen nicht klar.

Ich hoffe nicht darauf, dass du mir verzeihst, nicht mal das du es akzeptierst. Ich wollte dich einfach nur wissen lassen wie ich mich fühle.

Ich liebe dich. Für immer.

Dad.“, haucht sie die letzten Worte in den Raum.

„Ach Dad, Ich weiß darum, akzeptiere es und verzeihe dir.“, flüstert sie in die Stille des Raumes.

Als nächstes beginnt mein Vater zu lesen.

„David,

Danke. Das ist es was ich dir sagen möchte. Danke. Danke, dass du meiner Sarah die Liebe gibst, die sie verdient hat. Danke, dass du ihr Kraft gibst. Danke, dass du an ihrer Seite bist. Ich danke dir aus tiefsten Herzen.

Ich weiß, auch für dich war es nicht einfach mit mir und ich danke dir auch, dass du es Sarah zu liebe mit mir ausgehalten hast.

Ich weiß nicht wieviel Sarah dir von ihrer Kindheit erzählt hat, aber ich hoffe, du verurteil sie nicht wegen meiner Handlungen. Sie hat etwas bessere verdient. Aber ich bin mir sicher du bist gut zu ihr.

Ihr hab zwei so wundervolle Kinder miteinander. Ihr solltet den Zweien zeigen, wie stolz ihr auf sie seid, wie sehr ihr sie liebt. Grade für Sarah ist es nach ihrer Kindheit nicht ganz einfach ihre Gefühle zu zeigen. Deshalb bitte ich dich, hilf ihr.

Danke. Danke, dass du meine Prinzessin liebst.

Danke David

Ben.“, liest er mit seiner, wie immer, festen Stimme.

 „Er hat Recht, du bist das Beste, was mir passieren konnte.“, flüstert meine Mum, mein Dad nimmt liebevoll ihr Gesicht und küsst sie.

„Jetzt bin aber ich dran.“, schnieft Vicky und wischt sich die letzten Tränen aus den Augen.

„Liebste Vicky,

Du bist mir, wie es scheint, eine wahnsinnig gutherzige, offene und etwas verrückte junge Dame. Es war besser für dich mich nicht näher zu kennen. Ich habe mich bewusst dafür entschieden meine Probleme, durch mein Verhalten, nicht noch eine Generation weiter zu tragen.

Ich hoffe du vergibst mir, dass ich dir die Chance genommen hab, deinen Großvater kennenzulernen, aber glaub mir, es war zu deinem Besten.

Es tut mir auch leid Michael, dir vorgezogen zu haben, aber ich denke es war eine schwere Bürde für ihn und ich konnte leider nicht abschätzen, ob sie vielleicht zu schwer für dich gewesen wäre.

Ich hoffe du findest irgendwann einen jungen Mann der dich glücklich macht. Ich weiß, dass du an das Schicksal und an Seelenverwandtschaft glaubst. Ich glaube auch daran. Seit dem Moment als ich deine Oma erblickt habe, glaube ich daran und ich hoffe das Schicksal ist dir wohl gesonnen. Meines hat mir leider einige Steine in den Weg gelegt.

Ich hoffe, ihr versteht mich und meine Handlungen nun alle besser und könnt irgendwann über meine Unzulänglichkeiten hinwegsehen. Ich hoffe wirklich, ihr seid stärker als ich und könnt es. Ich selbst schaffe es nicht.

Ich liebe euch alle.

Opa Ben.“, sie schluckt schwer, dreht sich zu Jakob und küsst ihn. Während ihre Hand unterm Tisch meine sucht und sie kurz drück als, sie sie gefunden hat.

Jetzt bin wohl ich dran. Zögerlich öffne ich den Brief. Ich kann mir immer noch nicht verstellen, was darin steht.

Wie bei den anderen ist er mit Schreibmaschine geschrieben, aber handschriftlich unterschrieben.

„Lieber Michael,

in den letzten Wochen habe ich dir immer wieder erzählt, wie ähnlich wir uns doch sind. Aber das stimmt nicht. Du bist stärker. Du hast noch dein Leben vor dir. Du wirst nicht meine Fehler machen. Du wirst dein Leben in den Griff bekommen und deinen Weg finden. Du wirst immer gut mit den Menschen umgehen, die du liebst. Du wirst hoffentlich nie die Erfahrung machen müssen in eine Krieg zu ziehen.

Und all diese Tatsachen machen mich so unheimlich stolz auf dich. Ich weiß, dass es die Richtige Entscheidung war, dir meine Geschichte anzuvertrauen. Und ich weiß, dass du daran wachsen wirst.

Dass du deine Seelenverwandte bereits gefunden hast, weiß ich. Doch ich möchte dir noch eines auf den Weg geben. Lasse sie nie mehr los. Vertraue ihr und vor allem liebe sie, wie sie es verdient hat.

Ich werde zwar nicht mehr miterleben, welchen Weg du im Leben einschlägst, aber ich weiß es ist der Richtige.

Ich bin so stolz auf dich. Ich könnte mir keinen besseren Enkelsohn vorstellen. Könnte mir keinen besseren Gesprächspartner für meine Geschichte vorstellen. Mir niemanden besseres vorstellen, der mein Handeln der Familie erklärt.

Ich hoffe sie haben es dir nicht allzu schwer gemacht.

Ich danke dir, bin stolz auf dich und liebe dich.

Opa Ben.“, schluchze ich, denn ich konnte die Tränen wieder nicht zurückhalten. Ich habe es aber auch nur halbherzig versucht. Er hat diese Tränen verdient, jede Einzelne.

Er ist stolz auf mich, war es schon damals als mein Leben so verkorkst war. Ich wünscht er könnte sehen, was ich erreicht habe.

Ich habe mich wirklich in die Schule reingekniet. Habe mein Abitur mit Bestnoten bestanden. Danach habe ich begonnen Jura zu studieren. Schon während der letzten Semester habe ich mit einem Kommilitonen, der auch mein bester Freund ist, und mit Unterstützung eines Dozenten, eine Hilfsorganisation gegründet. Wir helfen überall da wo Krieg herrscht. Wir versuchen Zivilisten zu helfen und zwischen den Fronten zu vermitteln. Mittlerweile ist unsere Organisation so groß, dass wir Spendenumsätze in Milliardenhöhe verbuchen. Allein in Deutschland haben wir 20 Festangestellt und unzählige freiwillige Helfer. Ich und Florian, mein Partner, sind der Vorstand der Organisation, versuchen aber auch noch so oft wie möglich in die Einsatzgebiete zu reisen. Auch wenn mir Linda jedes Mal gern den Kopf abreisen würde, weil ich mich aus freien Stücken in ein Kriegsgebiet begebe, kann ich diese Arbeit einfach nicht abgeben. Sie erdet mich und zeigt mir jedes Mal mehr, wie sehr unsere Hilfe benötigt wird.

Vor drei Jahren habe ich außerdem einen Verein gegründet, der sich gegen das Vergessen der Schrecken des 2. Weltkrieges einsetzt. Und auch die, über Generationen weitergebenen, Probleme in den Familien betreut. Nicht nur meine Familie hat damit zu kämpfen. In vielen Familien ist auch heute noch dieser Krieg verankert. Viele wissen nicht, dass ihre Probleme darauf zurückzuführen sind, aber wir helfen ihnen dabei alles aufzuarbeiten.

Das, die Organisation und der Verein, sind die Vermächtnisse von Opa Ben. Ich bin sein Vermächtnis. Und heut bin ich froh, dass ich seine Geschichte gehört habe und er sie durch mich aufarbeiten konnte.

Ich hänge noch meinen Gedanken nach, als sich die Kaffeerunde langsam auflöst. Meine Eltern verabschieden sich nach Hause, aber nicht ohne uns alle am Sonntag bei sich zum Essen einzuladen.

Auch Jakob muss noch zu einem Termin und verlässt mit seinen Schwiegereltern das Haus.

Linda und Vicky beginnen Ordnung zu schaffen und bringen das Gedeck in die Küche. Etwas später folge ich ihnen mit den letzten Kuchentellern.

„Und wann ist es soweit?“, höre ich Vicky schon im Flur fragen.

„Wann ist was soweit?“, stelle ich ebenfalls eine Frage, als ich die Küche betrete. Ich bemerke wie Linda rot wird.

„Deine Schwester weiß mal wieder eher wann du Vater wirst, als du selber.“, lacht Linda laut auf.

Das ist mal wieder so typisch Vicky. Sie wusste immer, rein intuitiv, vor allen anderen, wenn Linda schwanger ist. Aber ebenso ist es umgekehrt. Linda spürt ebenfalls, wenn bei Vicky etwas nicht stimmt. Vor 8 Jahren hatte Vicky einen schweren Autounfall. Linda hat panisch in meinem Büro angerufen und gefragt ob ich wüsste was mit Vicky sei. Ich hatte zwar auch wieder mein bekanntes Kribbeln im Tattoo, konnte mir ihre Panik aber nicht erklären. Sofort hab ich alles stehen und liegen lassen und bin, nachdem Jakob nur zwei Minuten später angerufen hat, mit Linda ins Krankenhaus. Jedes Mal wenn es einem schlecht geht, fühlt es der Andere und ist sofort an seiner Seite.

Schnell stelle ich die Teller ab und ziehe meine wunderschöne Frau in meine Arme.

„Wollten wir nicht nach fünfen Schluss machen?“, frage ich sie scherzhaft.

„Was wir wollen, scheint die Natur nicht zu interessieren. Aber ein Kind mehr oder weniger ist jetzt auch nicht das Problem.“, antwortet sie mir ebenfalls mit einem breiten Lächeln.

„Und wann ist es nun soweit?“, mischt sich nun auch wieder Vicky ein.

„Nächstes Jahr im März. Der 14., um genau zu sein.“, gibt Linda ist endlich preis.

„Du machst mich Perfekt.“, hauche ich ihr ins Ohr und ziehe sie zu einem innigen Kuss an mich.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 24.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen, die noch heute direkt oder indirekt unter den Folgen des 2. Weltkriegs leiden.

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