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Hilflos

„Stell die Kiste hinter die Bühne.“, schreit mir Annette entgegen. Durch die lauten Bässen kann ich sie aber kaum verstehen.

Mit Mühe hieve ich die schwere Kiste hinter die Bühne, mein eingegipster Arm ist mir dabei keine große Hilfe. Hätte ich um Hilfe bitten sollen? Nein, auf diesen Gedanken wäre ich nie gekommen. Ich habe noch nie Hilfe gebrauch und brauche sie auch in Zukunft nicht.

Schnell laufe ich zurück zu Auto und hole die nächste Kiste. Als ich grade direkt vor der Bühne entlang laufe spielt die Band ein enorm lautes Gitarrensolo, vor Schreck lasse ich die Kiste fallen und die Medaillen verstreuen sich auf den Boden. Mein Arm schmerzt stark, aber hastig sammle ich die Medaillen wieder ein. Plötzlich steht ein großer, gutaussehender Mann vor mir. Er trägt eine Medaille.

Eingeschüchtert von seiner Anwesenheit und seinem Körper schaue ich ihn von unten herauf an. Ein breites Grinsen huscht über sein Gesicht.

„Die hast du wohl verloren?“, fragt er verschmitzt.

Ich sage kein Wort, versuche nur mit meinen Lippen ein Lächeln zu formen wenigstens ein kleines. Aber ich habe schon lang nicht mehr gelächelt und entlocke meinem Gesicht nur ein leichtes Zucken.

Vorsichtig legt er die Medaille zurück in die Kiste und hebt sie an.

„Wohin?“, fragt er, immer noch hat er sein breites Grinsen im Gesicht. Ich versuche ihm die Kiste wieder abzunehmen, aber er dreht sich weg und entzieht sie mir somit.

„Ich kann das schon allein.“, werfe ich ihm zickig an den Kopf.

„Das hab ich gesehen. Also wohin soll die Kiste?“, sein Grinsen verwandelt sich in einen mitleidigen Blick, der auf meinem Arm liegt. Ich verschränke die Arme vor meinen Körper um den Gips zu verstecken. Er ist dreckig und die Bandage darum  ist an einigen Stellen sehr abgewetzt.

Mit gesenktem Blick laufe ich hinter die Bühne, er folgt mir und als ich in Richtung der anderen Kisten zeige stellt er die heruntergefallene daneben.

„Ich bin übrigens David. Der neu Trainer der Bambinis.“, er steckt mir seine große Hand entgegen.

„Helena.“, murmle ich leise vor mich hin.   

Wieder lächelt er mich an, als Annette angestürmt kommt.

„Wo bleibst du? Die Kisten tragen sich nicht von allein!“, blafft sie mich an.

Ich setzte mich wieder in Bewegung und will die restlichen Kisten aus dem Wagen holen, als mich David am Handgelenk festhält. Mir stockt der Atem, mein Puls rast und mein ganzer Körper verkrampft sich unter seiner Berührung.

„Siehst du nicht, dass sie Schmerzen hat?“, fragt er an Annette gewandt.

„Die, die simuliert doch nur, um nicht mit anpacken zu müssen.“, antwortet sie flapsig.

Mein Mund steht offen und ich kann ihn gar nicht mehr schließen. So denkt sie also von mir, dass ich mir den Arm breche um der Arbeit zu entgehen. Das reicht, der zeig ich wie ich arbeiten kann. Mit aufsteigenden Tränen reiße ich mich von David los und renne zum Auto. Diesmal nehme ich gleich zwei Kartons mit einmal und trage sie hastig hinter die Bühne. Mit einem triumphierenden Lächeln empfängt mich Annette. Nachdem ich das kleine Zelt hinter der Bühne betreten habe versucht David mir sofort die Kisten zu entreißen. Nachdem ich sie sorgfältig auf die anderen gestapelt habe laufe ich zurück zu Auto. David folgt mir und kurz vor dem Wagen holte er mich ein. Er packt mich sachte am Oberarm und dreht mich zu sich um.

„Was willst du damit bezwecken?“, wütend sieht er mir tief in die verheulten Augen und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.

„Ich will Annett nicht die Genugtuung geben, dass sie gewinnt.“, immer mehr Tränen laufen über meine Wange.

„Das sie was gewinnt?“, fragt er und streicht mir die Tränen von der Wange. An meinem ganzen Körper bildet sich eine Gänsehaut, zu lange wurde ich nicht berührt.

„Meinen Stolz, das Letzte was ich noch besitze.“, sage ich hart.

Ist mir Unterbewusst nicht schon längst klar, dass sie meinen Stolz schon hat? Sie hat ihn seitdem sie mir den Arm gebrochen hat. Wir machten grade eine Übungsstunde mit den Kindern, die wir trainieren, in der Halle. Wir wollten Handstände üben um die Koordination zu fördern. Ich wollte vor machen wie sich die Kinder am besten abrollen sollten. Im höchsten Punkt meines Handstands tritt mir Annette rein zufällig gegen den Arm. Sofort hörte ich den Knochen brechen und fiel unsanft zur Seite um.

Mit einem kurzen Kopfschütteln holte ich mich selbst aus diesem Tagtraum, wieder entreiße ich mich seinen Griff und packe die zwei letzten Kisten übereinander. Auf dem Weg hinter die Bühne muss ich immer wieder David ausweichen, der sich mir permanent in den Weg stellt und mir versucht die Kartons aus den Händen zu nehmen.

Als auch die letzte Kiste an ihrem Platz steht, laufe ich. Ich laufe so schnell ich kann, einfach weg. Weg von Annette, weg von David, weg von allen.

Ich höre wie David mich ein Stück verfolgt und mir hinterher ruft, aber ich verstehe ihn nicht.

Ich laufe runter von dem Sportplatz, hinein in den Wald. Immer tiefer, bis die Dunkelheit mich in sich aufgenommen hat.

Ich kaure mich an einen Baum, ziehe meine Knie bis zum Kinn und umschließe sie mit meinen Armen.

Ich zittere am ganzen Körper und immer mehr Tränen laufen über meine heißen Wangen. Panik steigt in mir auf, mal wieder. Ich versuche sie zu unterdrücken. Ich brauche meine Pillen, ich muss zurück.

Langsam taste ich mich Schritt für Schritt zurück, ich kann nicht schneller laufen als eine Schnecke, denn ich muss mich darauf konzentrieren meine Panik unter Kontrolle zu bringen, sonst würde ich hier noch zusammenbrechen.

Ich sehe schon die Lichter der Bühne und die Musik wird immer lauter, doch plötzlich kann ich mich nicht mehr rühren. Die Panik hat gesiegt und ich sinke auf meine Knie. Ich lege meinen Kopf in die Hände und schreie so laut ich kann bis mir Schwarz vor Augen wird und ich auf den weichen Waldboden falle.

„Helena, Helena, wach auf Helena.“, immer wieder ruft mich diese Stimme, doch ich kann sie nicht zuordnen und versinke immer wieder in die Schwärze.

 

 

David Sicht

 

Warum rennt sie denn jetzt weg? Habe ich etwas falsch gemacht? Ich wollte ihr doch nur helfen. Ich hab doch gesehen, dass sie Schmerzen in ihrem Arm hat.

Ich kenne sie zwar erst seit ein paar Minuten, aber ich mache mir Sorgen um sie. Sie ist einfach in den Wald gelaufen.

Als ich sie berührt hab ist sie zusammengezuckt und ihr ganzer Körper stand wie unter Strom, so als ob ihr die Berührung unangenehm wäre, dabei habe ich sie doch nur leicht angefasst.

Ich suche Annette um sie zu fragen, was das eben sollte.

Sie sitzt mit 3 Typen an einem Tisch, trinkt und lacht, obwohl sie genauso wie ich gesehen hat, dass Helena ganz allein in den Wald gerannt ist.

„Was sollte das eben  mit Helena? Warum machst du sie so runter?“, frage ich sie. Eigentlich schreie ich mehr und bin selber über meine Emotionen erstaunt.

Wütend bohrt sie ihren Blick durch mich hindurch.

„Sie hat es doch nicht anders verdient!“, lacht sie mir entgegen, dreht sich wieder zu ihren Typen um und alle vier Lachen laut auf. Aufgebracht gehe ich in Richtung Wald um Helena zu suchen.

Ich kenne alle hier zwar noch nicht lange, aber mit Annette werde ich wohl öfter aneinander stoßen, wenn sie mit anderen Menschen so umgeht.

„Helena? Helena?“, rufe ich so laut ich kann in den Wald hinein, aber nichts, kein Mucks kommt heraus.

Nach einer ganzen Weile, die ich in dem mir unbekannten Wald herumgestolpert bin und immer darauf geachtet habe, die Lichter der Bühne nicht außer Sichtweite kommen zu lassen, höre ich ein leises Wimmern. Mit der Taschenlampe an meinem Handy suche ich dem Waldboden um mich ab. Plötzlich fällt das wenige Licht auf einen zusammen gekauerten Körper am Boden und ich erkenne Helenas grünes Top. Langsam nähre ich mich, sie zittert am ganzen Körper, dass kann ich schon aus einigen Metern Entfernung gut erkennen. Als ich ihr meine Hand auf die Schulter lege verändert sich nichts. Ich sehe, dass ihre Augen geschlossen sind und sie ihre Unterlippe blutig gebissen hat. Immer wieder Schlurzt sie laut und Wimmern dringt aus ihrer Kehle. Rasch rufe ich einen Krankenwagen zur anderen Seite des Sportplatzes um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sie zu ziehen. Dann nehme ich sie in die Arme und trage sie hinüber.

Kurze Zeit später biegt auch schon der Krankenwagen auf den kleinen Feldweg. Schnell wird Helena auf die Trage gelegt und oberflächlich untersucht. Ich sehe wie immer mehr Leute vom Sportplatz herüber kommen um zu sehen was hier los ist.

Mit einem Satz springe ich in den Rettungswagen und schließe die Tür hinter mir.

„Sie dürfen hier nicht rein!“, blafft mich einer der Sanitäter an.

„Aber ich bin doch ihr Bruder, ich muss bei ihr bleiben.“, lüge ich ihm eiskalt ins Gesicht.

Ohne auf eine Reaktion zu warten rede ich weiter.

„Können wir jetzt bitte schnell ins Krankenhaus, die gaffende Menge draußen wird immer größer und ich will nicht, dass die sie so sehen.“, flehe ich in an.

Er gibt seinem Kollegen ein Zeichen mit dem Kopf und dieser klemmt sich sofort hinters Steuer.

Seit 2 Stunden sitze ich nun neben ihrem Bett und rufe immer wieder ihren Namen, doch es kommt keine Reaktion.

Gott sei Dank, hat keine der Schwestern nochmal nachgefragt wer ich bin, die hätten mich achtkantig rausgeschmissen. Sogar der Arzt hat mit mir gesprochen und mir erklärt, dass sie einen schweren Nervenzusammenbruch hatte.

Einen Nervenzusammenbruch? Wegen der kleinen Sache mit Annette? Oder gar wegen mir? Ich wollte ihr doch nur helfen.

Nach einer Weiteren Stunde neben ihrem Bett kann ich meine Augen nicht länger offen halten und schlafe ein.

 

 

Ich möchte meine Augen nicht öffnen. Ich bin zwar schon einige Minuten wach aber ich kann sie einfach nicht öffnen, vor Angst. Wo bin ich? Wie bin ich hier hergekommen? Erste Feststellung, ich liege in einem Bett. Zweite Feststellung ich bin nicht allein im Raum, ich höre jemanden leicht schnarchen. Dritte Feststellung, ich habe nicht mehr meine Sachen an. Vorhin oder Gestern?, trug ich eine schwarze Hotpants und ein grünes, enganliegendes Top, dass was ich jetzt trage ist weit und rau.

Zaghaft blinzelnd überwinde ich mich doch mein Auge einen Spalt weit zu öffnen. Ein Krankenhauszimmer. Aber wie bin ich hier her gekommen? Die wahrscheinlichste Antwort sitzt neben mir auf einem Stuhl und schnarcht leise vor sich hin. David. War er es der mich gerufen hat? Ist er mir doch in den Wald gefolgt?

Ich kann mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen, als ich ihn so auf dem Stuhl sitzen sehen. Ich kann noch Lächeln stellte ich selber erstaunt fest. Ich drehe mich auf die Seite und beobachte David beim schlafen. Er sieht gut aus, groß, durchtrainiert, eine leicht Bräune, halblange braune Haare, die ihm ins Gesicht fallen und volle rote Lippen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und kann einen schmerzhaften Aufschrei nicht vermeiden als ich merke, dass sie total verkrustet von Blut ist.

Sofort öffnet David seine Augen und sieht mich mitleidig an.

„Wie geht es dir? Soll ich einen Arzt rufen? Hast du Schmerzen?“, seine Stimme überschlägt sich fast als er ohne Punkt und Komma auf mich einredet.

„Nein.“, sage ich kühl und abweisend.

„Warum bist du hier?“, schnaube ich noch hinterher um ihm keine Chance auf eine Weitere Frage zu geben.

„Ich habe mir Sorgen gemacht und bin dir in den Wald gefolgt. Da ich mich nicht auskenne hat es eine Weile gedauert bis ich dich gefunden hab.“, Tränen schießen ihn in die Augen.

„Du lagst da zittert und zusammengekauert auf dem kalten Waldboden. Ich hab sofort den Krankenwagen gerufen als ich gemerkt habe, dass du gar nicht mehr auf Ansprache reagierst.“, eine einzelne Träne läuft über seine Wange.

Er hat sich Sorgen gemacht? Um mich?

„Du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich wär auch ganz gut alleine klargekommen.“, meine Stimme bebt, wie konnte der sich nur einbilden, dass ich auf seine Hilfe angewiesen bin?

„Das hab ich gesehen, wenn ich dir nicht hinterhergelaufen wäre, würdest du immer noch auf dem Boden liegen und wärst wahrscheinlich halb erfroren.“, wütend steht er auf, stellt sich vor das große Fenster und schaut hinaus. Danke, flüstre ich mir zu, keine Minute länger hätte ich seinen tiefbraunen Augen standhalten können.

„Wäre nicht das erste Mal.“, zische ich ihn an.

Mit offenem Mund dreht er sich zu mir zurück.

„Du hast schön öfter mit einem Nervenzusammenbruch einfach so im Wald rumgelegen?“, mit weit aufgerissenen Augen steht er nun direkt neben meinem Bett.

Auf einmal fühle ich mich wieder so klein, so wie ich mich bei allen Leuten fühle die ich kenne.

„Nicht nur im Wald…“, flüstere ich leise und halte mir dann erschrocken die Hand vor den Mund. Wieso erzähle ich ihm das? Ich kenne ihn doch gar nicht?, und es geht ihn auch gar nichts an wo ich wie liege und warum.

Mit Tränen in den Augen drehe ich mich weg von ihm.

 

 

 

 

 

 

David Sicht

 

Was hat sie grade gesagt? Sie hat nicht das erste Mal mit einen Nervenzusammenbruch im Wald gelegen? Wie kann das sein? Warum lässt sie sich denn nicht helfen, wenn sie das schon öfter erlebt hat?

Fassungslos lasse ich mich zurück auf den Stuhl fallen und krame mein Handy aus der Hosentasche. Ich muss Annette anrufen, dass wir heute nicht beim Wettkampf mithelfen können. Lieber würde ich jemand anderen aus dem Leichtathletikverein anrufen, aber ich hab nur ihre Nummer

„Ja, Annette, ich bin‘s David.“, sage ich gefühllos, da sie, meiner Meinung nach, an der ganzen Situation Schuld ist. Als Helena diesen Namen hört dreht sie sich ängstlich zu mir um.

Annette erklärt mir lang und breit, dass ihr gestern die Nerven durchgegangen sind, weil Helena immer so eine Trantüte sei und blablabla.

Mitten im Satz unterbreche ich sie. „Helena und ich können euch heute leider nicht helfen, sie liegt im Krankenhaus. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch wegen der ganzen Geschichte gestern.“, ich sehe Helena in die Augen, sie sieht mich entsetzt an und schüttelt ungläubig den Kopf.

Am Telefon kommt Annette jetzt richtig in Rage, Helena sei doch selber Schuld und sie wolle sich ja nur wieder vor der Arbeit drücken und so weiter. Sie redete noch aber ich legte einfach auf.   

Wie kann ein Mensch nur so schlecht über einen anderen reden? Vor allem, weil sie so eng zusammenarbeiten.

 

 

 

Vorsichtig versuche ich aufzustehen, meine Glieder sind schwer und jede Bewegung ist eine Qual, aber ich muss hier raus.

„Wo willst du denn hin?“, David baut sich vor mir auf und versperrt mir den Weg ins Bad.

„Ich kann nicht länger hier bleiben ich muss arbeiten, das Geld fliegt mir nicht einfach zu.“, eigentlich musst ich heut gar nicht zu einen meiner 2 Jobs, eigentlich sollte ich heute bei dem großen Leichtathletik Meeting, welches unser Verein jedes Jahr ausrichtet, an allen Ecken und Enden mithelfen, aber das hat er ja soeben vermasselt.

Annette ist bestimmt stocksauer und gibt mir an allem die Schuld, wie ich sie kenne. Dabei will ich doch immer nur alles richtig machen.

Ich dränge mich an Davids gut bebauten Körper vorbei ins Bad, wasche mich ein wenig und betrachte mich genau im Spiegel.

Das Krankenhaushemd hängt an meinem Körper wie ein Sack. Früher war ich durchtrainiert hatte sogar ein Sixpack, aber nichts davon ist übrig. Wie denn auch?, ich esse ja kaum noch. An meiner Hüfte kann man schon die Knochen hervortreten sehen und mein Gesicht ist eingefallen. Fit bin ich auch nicht mehr, allein der kurze Lauf in den Wald gestern hat alles von mir abverlangt. Tiefe, dunkle Augenringe zeichnen mein Gesicht, ich hab mich nie viel geschminkt aber jetzt könnte ich ein gutes MakeUp vertragen. Noch kurz schmeiße ich mir eine weitere Hand voll Wasser ins Gesicht und trotte wieder ins Zimmer.

David ist weg, Gott sei Dank. Langsam begann er wirklich zu nerven. Hat der keine eigenen Probleme? Ich hab genug und die haben ihn nicht zu interessieren.

Zögernd schau ich in den Schrank und hoffe meine Sachen dort zu finden. Ich habe Glück, sie sind zwar dreckig und das Top hat einen Riss unter der Achsel, aber alles ist besser als diese Krankenhauskittel.

Ich ziehe mir grade die Shorts hoch als es an der Tür klopft. Ohne eine Antwort abzuwarten betritt David mit einem Arzt den Raum. Ich kann mir ein Augenrollen nicht verkneifen und setze mich auf die Bettkante.

„Guten Morgen Frau Juchte, wo wollen sie denn hin?“, fragt mich der Arzt mit einem Lächeln im Gesicht.

„Ich würde gern gehen, ich hab viel zu tun.“, bringe ich kleinlaut heraus.

„Das kann ich aber nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Sie hatten einen schweren Nervenzusammenbruch und wie mir ihr Bruder erzählte nicht den ersten. Außerdem sind sie Untergewichtig. Ich würde sie gern für ein paar Tage stationär aufnehmen.“, er klingt besorgt.

Bruder? Hat David echt behauptet er wäre mein Bruder? Ich werfe ihn einen Blick zu der ihn locker dreimal getötet, wenn ich es könnte. Doch er schaut mich nur fragend an.

„Das geht nicht! Obendrein geht es mir prima!“, ich springe vom Bett auf um zu Beweisen wie gut es mir geht. Schwerer Fehler, durch das schnelle aufstehen wird mir schwindlig und David muss mich festhalten, dass ich nicht umkippe.

„Das sehe ich, dass es ihnen gut geht.“, mit schüttelnden Kopf sieht er mich an.

„Ich kann sie zu nichts zwingen, aber wenn sie so nach Hause gehen würde es mich nicht wundern, wenn wir uns bald wiedersehen.“, seine Mine wird sehr ernst und er sieht mir tief in die Augen.

„Ich will hier raus.“, sage ich noch immer leicht benommen.

Schulterzuckend verlässt er den Raum

„Das kannst du doch nicht machen, du kippst doch in 5 Minuten wieder um!“, ranzt David mich von der Seite an.

„Ich kann und ich werde. Jetzt lass mich los, du tust mir weh.“, ich entreiße ihm mein Arm und reibe die Stelle, wo sich seine Finger hineingebohrt haben.

„Entschuldigung.“, sagt er geknickt.

„Dann begleite ich dich aber wenigstens nach Hause. Nur um sicher zu gehen, dass du auch wohl behalten ankommst.“, er zwingt sich zu einem Lächeln, aber ich sehe, dass es aufgesetzt ist.

„Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich komme ganz gut ohne dich klar.“, sage ich kalt.

Ich habe nie Hilfe gebraucht, habe mich immer alleine durchgekämpft und das wird sich nicht ändern.

„Wo ist meine Tasche?“, frage ich jetzt wieder kleinlaut.

„Welche Tasche? Ich habe keine Tasche bei dir gesehen!“, antwortet mir David.

Mist, die steht bestimmt immer noch hinter der Bühne. Also muss ich doch nochmal auf den Sportplatz und mir Annettes Sprüche anhören, dass ich nicht arbeiten will. Aber warum eigentlich, wenn ich schon mal da bin kann ich auch mit anpacken.

Ich gehe mit zitternden Beinen Richtung Tür.

„Was hast du denn jetzt vor?“, David springt an mir vorbei und versperrt mir schon wieder den Weg.

„Ich muss meine Tasche vom Sportplatz holen, da sind meine Schlüssel drin.“, werfe ich ihn an den Kopf und versuche ihn zur Seite zu scheiben, aber ich habe einfach keine Kraft.

„Und wie willst du dahin kommen? Bis zu Sportplatz sind es 6 Kilometer.“, ein selbstgefälliges Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.

„Scheiße!“, entfährt es mir laut. Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

„Ich mach dir einen Vorschlag.“, er verschränkt die Arme vor seinem Körper und sieht mich herausfordernd an. Ich nicke leicht, blicke aber nur auf den Boden. Wie konnte ich den nur so blöd sein und meine Tasche vergessen? Wenn ich sie gleich mitgenommen hätte, hätte ich auch im Wald meine Pillen gehabt und wär nicht in dieser Situation.

„Wir fahren gemeinsam, mit einem Taxi, zum Sportplatz ich hol deine Tasche und das Taxi fährt dich nachhause. Ich bezahle.“, er zieht fragend die Augenbrauen nach oben.

„Wenn du mir sowieso das Taxi bezahlst, wieso musst du dann mitkommen?“, meine Stimme ist wieder ängstlich wie die von einem kleinen Mädchen.

„Ich kenne dich noch keine 24 Stunden aber ich weiß, dass du nicht nur deine Tasche holen würdest und dann seelenruhig nachhause fahren könntest. Zumal du wahrscheinlich Annette über den Weg läufst.“, er streichelt mir über den Arm.

Wieder diese Berührung, meine Haare stellen sich auf und ich zittere erneut am ganzen Körper. Aber er hat mich durchschaut, anscheinend bin ich für ihn ein offenes Buch, dass muss sich ändern.

Ich nicke beschämt und folge ihm hinaus. Eine Schwester hält mir noch einen Zettel vor die Nase, den ich ihr bereitwillig unterschreibe und ich bin entlassen.

 

 

Davids Sicht

 

Ich frage mich die ganze Zeit was in ihrem Kopf vorgeht. In einem Moment ist sie hörig wie ein Kleinkind und im anderen blafft sie mich wieder an. Aber mit meiner Vermutung habe ich voll ins Schwarze getroffen. Wie kann man sich anderen nur so untertänig machen?

Ich sollte versuchen dem auf den Grund zu gehen, ich kann sie doch nicht so leiden lassen. Ich beobachte sie während der Fahrt genau. Sie muss mal der Männermagnet schlechthin gewesen sein. Sie ist groß, hat ein wunderschönes Gesicht und magische blaue Augen. Selbst der Arzt kam nicht umhin ihr hineinzusehen. Aber ihre Schönheit ist versteckt, hinter Augenringen, eingefallenen Wangen und einem viel zu dürren Körper. Ihre Augen haben früher bestimmt wie die Sterne gefunkelt, aber jetzt sind sie matt und traurig. Mir fällt auf das sie, in der zwar kurzen Zeit, aber dennoch, sie hat sie hat noch nie Gelächelt.

Mit Tränen in den Augen schaut sie mich an. Wie soll ich reagieren? Wenn ich sie darauf anspreche antwortet sie mir bestimmt nicht. Ich wende meinen mitleidvollen Blick von ihr ab und schaue aus dem Fenster.

Als wir vor dem Sportplatz halten frage ich sie, wo ihre Tasche steht nur zögernd antwortet sie mir. Ich hab das Gefühl, dass sie am liebsten wieder weglaufen möchte, aber ich sage dem Fahrer er möchte sie nicht aus den Augen lassen.

Schnell renne ich hinter die Bühne und schnappe mir Helenas Tasche, als ich das kleine Zelt wieder verlassen will steht mir Annette gegenüber.

„Na hat die kleine Schlampe dich rangelassen und jetzt spielst du ihr den Hofbuttler?“, fragt sie mich ketzerisch.

„Helena ist wirklich krank, sie war im Krankenhaus und hätte ich sie nicht gedrängt würde sie sogar in ihrem Zustand euch hier helfen.“, antworte ich schnippisch. Ich kann solche Leute einfach nicht leiden, die andere runter machen nur um sich besser zu fühlen.

Entschlossen setzte ich meinen Weg zurück zum Taxi fort.

„Lass dich von der blöden Kuh ja nicht einlullen, die verdient deine Hilfe nicht.“, ruft mir Annette noch hinterher, aber ich gehe weiter ohne ihr zu antworten.

Wütend lasse ich mich neben Helena wieder ins Taxi fallen. Sie war eingeschlafen, sieht mich nun aber groß an.

„Hier deine Tasche. Wo wohnst du?“, frage ich und versuche meinen Ärger über Annette nicht durchblicken zu lassen.

„Am Waldrand 5.“, antwortet sie verschlafen und ihre blauen Augen fallen wieder zu. Die Beruhigungsmittel müssen ganz schön reinhauen.

Kurz darauf stehen wir vor einem kleinen Häuschen, ich nehme Helena in die Arme, da ich sie nicht wecken möchte und laufe mit ihr zur Tür.

Heißt sie nicht Juchte? Am Klingelschild ist der Name nicht zu finden. Verwundert laufe ich um das Haus, vielleicht gibt es ja noch einen zweiten Eingang. Ich stehe vor einer Kellertür und schau entsetzt von der Tür zu Helena. Wohnt sie wirklich in einem Keller? Mit dem Schlüssel, den ich in ihrer Tasche gefunden habe öffne ich die Tür. Ein modrig, fauler Geruch schlägt mir entgegen. Es ist ein kleiner Raum, auf der einen Seite steht ein Bett und gegenüber ein kleiner Kleiderschrank. In der Ecke hängt ein versifftes Waschbecken und das Licht, der einzelnen Glühbirne, ist spärlich.

Ich lege Helena auf dem Bett ab, ziehe ihr die Schuhe aus und wickle sie in die Patchworkdecke.

Soll ich bleiben? Eigentlich hat sie ja gesagt ich soll ihr nicht helfen, aber kann ich das?

Nach einer Stunde beschließe ich ihr einen Zettel zu schreiben und verlasse das Kellerloch, dass sie Zuhause nennt.

 

 

 

 

Ich wache in meinem Bett auf. War das alles nur ein Traum?

Ich sehe mich um, ein Zettel liegt auf dem Boden neben meinem Bett.

 

Helena,

ich weiß du hast gesagt ich soll dir nicht helfen,

aber das kann ich nicht. Ich kenne dich noch nicht lange aber ich sehe,

dass es dir nicht gut geht, und das tut mir weh.

Es tut mir weh dich so leiden zu sehen.

Bitte lass dir von mir helfen!

Ich hoffe du freust dich wenn ich dir sage, dass du nicht mehr mit

Annette die Kinder trainieren musst. Ich habe mit Steffi gesprochen

Und sie tausch mit dir die Gruppe.

Ich hoffe dir geht es bald wieder besser.

Wir sehen uns am Dienstag (hoffe ich)!

 

David

 

 

Unter Tränen zerreiße ich den Zettel in kleine Schnipsel. Was fällt ihm ein sich einfach in mein Leben einzumischen? Ich brauch keine Hilfe erst recht nicht von ihm.

Ich lege mich mit angezogenen Knien wieder auf mein Bett. Tränen kullern mir unaufhörlich über die Wange. Ich weiß gar nicht ob sie viel Weinen gut für einen Menschen sein kann. Tag täglich weine ich mich in den Schlaf und wache mit nassen Wangen auf. An besonders harten Tagen verkriech ich mich auch mal auf eine Toilette und heule. Ich fühle dabei nicht viel, aber es beruhigt mich, wenn Tränen meine Wangen hinab rollen.

Ich stelle mir den Wecker auf um 3 um pünktlich zu Arbeit zu kommen und schlafe wieder ein.

In dieser Nacht finde ich wie so oft keinen erholsamen Schlaf meine Probleme verfolgen mich bis in meine Träume, aber als mein Wecker klingelt schlurfe ich zum Waschbecken hinüber.

Ich muss mal wieder in die Schwimmhalle, mal wieder ausgiebig duschen, stelle ich fest, während ich versuche den hartnäckigen Waldboden von meiner Wade zu waschen.

Mal wieder ohne etwas zu Essen gehe ich los. Ich laufe 5 Kilometer bis zur Bäckerei, da um diese Uhrzeit noch kein Bus fährt. Halb fünf beginne ich den Verkaufsraum vorzubereiten und um sechs öffne ich dann die Ladentür.

Ich bin immer freundlich zu den Kunden aber ein Lächeln kommt mir nur sehr selten über die Lippen. Ich glaube mein Lächeln würde die Kunden eher verschrecken, als sie erfreuen.

Plötzlich steht Annette vor mir und grinst mich überheblich an.

„Na haste dir gestern einen schönen Tag mit deinem neuen Lover gemacht, was? Wir arbeiten uns die Füße wund und die feine Lady hat nichts Besseres zu tun als den nächst besten Kerl flachzulegen. Und dann will sie auf einmal nicht mehr mit mir die Kinder trainieren. Na mir soll es recht sein, du hast ja sowieso nie die Arbeit gemacht.“, flappst sie mir ins Gesicht. Zu einer Salzsäule erstarrt steh ich da und kann ihr einfach nur verdutzt in ihre eiskalten Augen schauen. Ich, nicht die Arbeit gemacht? Wer hat den jede Woche drei neue Trainingspläne erstellt? Wer hat den die Kinder zu höheren Leistungen angefeuert? Ich! Annette hat doch die meiste Zeit nur rumgesessen und sich die Nägel gefeilt und sich dann bei den Eltern die Lorbeeren, für die gute Leistung ihres Kindes, abgeholt.

„Aber mit Steffi an meiner Seite gewinnen die Kinder bald jedes Meeting.“, trällert sie noch beschwingt und verlässt den Laden.

Als sie die Bäckerei verlässt steigen schon wieder Tränen in mir auf.

„Helena, die Kunden!“, knurrt mich Silke, meine Kollegin, von der Seite an. Hastig wische ich die Tränen von meinen Wangen und bediene weiter die Kunden, aber Annettes Worte gehen einfach nicht aus meinem Kopf.

Ich bin ein Nichtsnutz! Ich kann nichts, ich bin nichts, ich werde nie was sein!

Schnell schiebe ich mir ein trockenes Brötchen in den Mund, um meinen Magen nicht noch laute werden zu lassen. Silke hatte mich schon schief von der Seite angesehen, weil mein Magen so laut grummelt. Aber eigentlich habe ich gar kein Appetit.

Mittags mache ich mich auf den Weg ins das Bürogebäude, wo ich die Toiletten putze.

20 Uhr falle ich mal wieder vollkommen kaputt und unter Tränen ins Bett. Was habe ich nur falsch gemacht in meinem Leben? Wie soll es weiter gehen? Ich bin am Ende, ausgelaugt, restlos leer.

Vorsichtig hole ich aus dem Schrank meine Klinge, dieses silberglänzende Stück Metall, das mich meinen Körper spüren lässt.

Behutsam lasse ich den kalten Stahl über meine Haut gleiten. Wo soll ich hineinschneiden? Arme? Nein, der eine ist eingegipst und der andere besteht schon nur noch aus Narben. Es fällt kaum auf, da sie so eng aneinander liegen. Beine? Nein es ist Sommer, und jeder würde die frischen Schnitte sehen. Mein Bauch, er ist noch nahe zu frei von Narben. Auf jeden Fall frei von Narben, die ich mir selber zugefügt habe.

Ich ziehe meine Haut um den Bauchnabel straff und setzte die Klinge an. Der lange Schnitt, der über meinem Nabel entsteh ist Schnur gerade. Kleine rote Pünktchen bilden sich und Blut fliest aus der Wunde. Doch irgendwie spüre ich nichts, kein körperlicher Schmerz, der meinen seelischen Schmerz unterdrückt. Nichts.

 

Am nächsten Tag sehe ich noch beschissener aus als sonst. Herr Fischer hält mich so für nicht vorzeigbar und ich muss in der heißen Backstube Brote und Brötchen kneten.

Trostlos schlurfe ich nach der Bäckerei zurück nachhause. Heute muss ich nicht Putzen, Putzen ist nur Montag, Mittwoch und Freitag. Dafür habe ich heut Training mit den kleinen und mit David. Wie soll ich auf ihn reagieren? Soll ich es gut finden, dass er sich in mein Leben einmischt? Nein, ich brauche ihn nicht, versuche ich mir einzureden. Aber der bloße Gedanke an ihn lässt mein Herz schneller schlagen.

Ich ziehe mir Sportsachen an und betrachte die frische Wunde auf meinem Bauch. Ich streich vorsichtig darüber aber immer noch empfinde ich keinen Schmerz.

Etwas beschwingter und mit den Gedanken bei den Kindern laufe ich zum Sportplatz.

Die Kleinen sind echt süß, noch nie habe ich unsere Kleinsten trainiert. Wie reagieren sie auf mich? Kurz stehe ich einfach nur am Rand, hinter dem kleinen Geländer und beobachte Davids Umgang mit den Kindern. Er erzählt ihnen eine Geschichte von einem Drachen der sie verfolgt und sie müssten ganz schnell los laufen, dass er sie nicht frisst.

David läuft mit den Kindern zwei Runden und sagt dann gespielt erschöpft, dass sie ihn abgehängt haben.

Schüchtern laufe ich zu ihnen rüber und David zieht mich in seinen Arm. Schon wieder diese Berührung, mein Körper verkrampft und ich bekomme überall Gänsehaut.

David stellt mich vor und die Kinder lächeln mich jubelnd an. Ich kann mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen, bei so viel Kinderlachen. Mein Lächeln entgeht auch David nicht und er zieht mich noch enger an sich. Ich winde mich ausseinem Arm um nicht laut los zuschreien, denn die Panik steigt schon wieder in mir auf, aber nachdem ich mich befreit habe kann ich sie gut unterdrücken.

Nach der Stunde verabschieden wir gemeinsam die Kinder und übergeben sie ihren Eltern. Flora, unsere Kleinste mit 3 Jahren, ist sogar schon auf meinem Arm eingeschlafen, als ich sie zum Abschied umarme. Ihre Berührung macht mir nichts, da ich weiß sie tut mir nicht weh.

Nachdem ihre Mutter sie mir abgenommen hat, schnappe ich meine Tasche und will nun auch durch das kleine Tor gehen, als mich David am Handgelenk packt und mich zurückzieht.

Schon wieder diese Berührung von ihm, mein ganzer Körper zittert und mein Magen macht eine Umdrehung, aber irgendwie ist da auch Wärme, die ich nicht einordnen kann.

Er zieht mich zu den Steinstufen, neben der Laufbahn, setzt mich mit leichtem Druck auf den Schultern hin und setzt sich neben mich.

„Es war schön dich lächeln zu sehen.“, er schaut mir tief in die Augen und grinst. Ich sage nichts, meine gute Laune ist mit den Kindern einfach wieder gegangen.

„Ich weiß wir kennen uns erst kurz aber du bist mir wichtig. Ich kann es nicht genau erklären, aber ich möchte dir so gern helfen.“, er nimmt meine Hand in seine und drückt sie leicht.

Mit Tränen in den Augen sehe ich ihn an.

„Ich brauche keine Hilfe, ich komm gut alleine zurecht.“, meine Stimme ist brüchig und kraftlos. Ich wende meinen Blick von ihm ab und die ersten Tränen kullern über meine Wangen.

Er nimmt mein Kinn und zieht es zu sich, sodass ich ihn ansehen muss. Seine braunen Augen schauen mich liebevoll an.

„Ich werde versuchen dir zu helfen ob du willst oder nicht.“, sagt er genauso liebevoll wie seine Augen glänzen.

Er nimmt mein Gesicht in seine starken, weichen Hände und wischt mir die Tränen von der Wange. Seine Berührung verursacht immer noch, dass sich mein ganzer Körper verkrampft. Aber da ist auch noch etwas anderes, da wo er meine Wangen berührt entsteht ein angenehmes kribbeln und Wärme breitet sich von dieser Stelle aus. Ich weiß nicht was das soll, ich habe das noch nie gespürt.

Langsam beruhige ich mich und die Tränen versiegen. Als er mir die Letzte von der Wange gewischt hat, zieht er mein Gesicht näher zu seinen und legt zaghaft seine Lippen auf meine.

Es fühlt sich gut an, aber ich kann es nicht ertragen. Diese Berührung ist zu viel, ich reiße mich von ihm los und renne nach Hause.

 

 

Davids Sicht

 

Sie rennt schon wieder weg. Wieder lässt sie mich einfach so stehen.

Ich weiß der Kuss war wahrscheinlich zu viel, aber deswegen gleich flüchten?

Immer wieder sagt sie mir sie braucht keine Hilfe, aber ich sehe doch wie kaputt sie ist. Unter jeder noch so kleinen Berührung zittert sie und ihr Körper verkrampft sich.

Ich kann es nicht ertragen sie leiden zu sehen, sie ist ein guter Mensch. Sie geht so liebevoll mit den Kindern um. Ich habe das Gefühl bei ihnen kann sie sich richtig fallen lassen. Sie sah so glücklich aus als Flora in ihren Armen lag, doch als die Kinder weg waren, war auch ihr Lächeln wieder verschwunden.

Ich weiß nicht was sie veranlasst so zu sein, so zu reagieren, aber es muss schrecklich sein. Ich sitze noch lange auf den steinernen Stufen und grüble, wie ich ihr helfen kann. Ständig schießt mir das Bild in ihrer tränengetränkten Augen in den Kopf und in mir macht sich mehr und mehr das Gefühl breit, dass ich mich in sie verliebt hab.

Als es schon dunkel ist mache ich mich auf den Weg nach Hause. Flo sitzt noch in der Küche über seinen Büchern als ich nachdenklich die Tür öffne.

Er schaut mich mit großen Augen an.

„Wo kommst du denn her? War dein Training nicht schon vor 4 Stunden zu Ende?“, fragt er mich neugierig.

„Ja, Ja.“, sage ich immer noch gedankenversunken.

„Und? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen.“, er klappt seine Bücher zusammen und sieht mich erwartungsvoll an.

„Da ist dieses Mädchen…“ fang ich an, weiß aber selber nicht was da wirklich ist.

„Ein Mädchen, und weiter.“, bohrt er nach.

„Sie ist auch Trainerin im Leichtathletikverein.“, nur Bruchstücke verlassen meinen Mund.

„David, du bist seit dem Kindergarten mein bester Freund, du kannst mir vertrauen und nun raus mit der Sprache. Ich sehe, dass es dich bedrückt.“, seine Stimme wird fordernder und er lehnt sich zu mir über den Tisch.

„Ich habe sie am Samstag kennen gelernt. Ich wollte ihr helfen, beim Kisten schleppen. Aber irgendwie konnte sie meine Hilfe nicht annehmen. Annette, eine andere Trainerin, hat sie dann voll runter gemacht, dass sie zu faul zum arbeiten ist oder so. Helena wollte ihr beweisen, dass das nicht so ist. Ich hab gesehen, dass Helena Schmerzen in ihrem gebrochen Arm hat und wollte ihr wieder helfen, aber sie schleppte unter Tränen die Kisten hinter die Bühne und lief dann einfach weg.

Ich hab mir Sorgen gemacht und lief ihr hinterher. Irgendwann fand ich sie total apathisch im Wald und hab einen Krankenwagen gerufen. Ich hab die Sanitäter angelogen, dass ich ihr Bruder bin, dass ich mitfahren konnte. Sie hatte einen schweren Nervenzusammenbruch, aber wollte gleich wieder entlassen werden als sie aufgewacht ist. Sie hat mir Vorwürfe gemacht, dass ich ihr geholfen habe. Sie sagte es wäre nicht das erste Mal, dass sie es alleine schafft. Kannst du dir vorstellen, sie hat mir gesagt sie hat schon öfter mit einem Nervenzusammenbruch alleine im Wald gelegen?“, Tränen kullern über meine Wange. Flo sieht mich mit offenem Mund an und schüttelt nur den Kopf.

„Ich dachte ich helfe ihr und sie macht mir solche Vorwürfe. Ich hab sie dann noch nach Hause gebracht und veranlasst, dass sie nicht mehr mit dieser Annette zusammen arbeiten muss und mit mir die Kleinen trainiert. Heute mit den Kindern war sie so glücklich, aber sofort als die Kinder weg waren, war sie wieder wie Samstag. Ich hab versucht mit ihr zu reden, ihr meine Hilfe erneut angeboten, aber sie hat unter Tränen gesagt, dass sie keine Hilfe braucht. Jedes mal wenn ich sie berührt habe ist sie zusammen gezuckt, ihr Körper hat sich verkrampft und sie hat gezittert wie Espenlaub.

Dann konnte ich einfach nicht anders und habe sie geküsst. Sie ist auf gesprungen und weggerannt. Ich glaube ich hab mich verliebt.“, sage ich mit Tränen in den Augen aber mit einen Lächeln im Mundwinkel.

„Puh…“, Flo atmet schwer aus.

„Nicht mal eine Woche im neuen Verein und schon verliebt.“, er grinst mir verschmitzt entgegen.

„Aber was soll ich den jetzt machen? Sie will meine Hilfe nicht, aber ich muss ihr helfen.“, meine Stimme bebt und abermals laufen mir Tränen übers Gesicht.

„Du musst tun was du tun musst!“, antwortet mir Flo. Typisch Politikstudent, immer schön mit Floskeln antworten.

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, so war er schon immer. Früher war er Klassensprecher und natürlich auch Schülersprecher, er ist der geborene Politiker, viel erzählen aber nichts sagen.

Schon vor dem Abitur war uns klar, dass wir eine WG gründen, egal wo, Hauptsache wir zwei sind zusammen.

Es war nicht ganz leicht eine Uni zu finden, die Politik und Sport anbietet aber in Köln sind wir fündig geworden.

„Danke für deine liebevolle und hilfreiche Anteilnahme.“, sage ich betont ironisch.

„Immer gerne.“; Flo versteht meine Ironie und setzt ein extrem falsches Grinsen auf.

Ich gehe in mein Zimmer und liege noch lange wach auf meinem Bett.

 

 

 

Als ich zu Hause hereinstürme knalle ich die Tür lautstark hinter mir zu und schmeiße mich aufs Bett. Was bildet der sich ein? Versucht er den Helden zu spielen und das arme kleine Mädchen, das sich nicht helfen kann zu retten? Was fällt ihm ein mich zu küssen?

Immer noch schmecken meine Lippen nach ihm, ich lecke darüber und das warme Gefühl breitet sich wieder aus. Fühlt sich so Liebe an? Ich weiß es nicht ich habe noch nie Liebe empfunden.

Ich denke darüber nach meine Klinge aus dem Schrank zu holen aber lasse es dann doch. Mal wieder schlafe ich unter Tränen ein. Wie soll ich ihm nur am Donnerstag unter die Augen treten? Ich habe ihm schon viel zu sehr an mich herangelassen. Habe mich viel zu sehr verletzbar gezeigt. Ich muss doch stark sein.

Am Donnerstag, auf dem Weg zum Training, gehen mir immer wieder diese Gedanken durch den Kopf. Ich kann mich gar nicht richtig mit den Kindern freuen und weiche jedem Blick von David aus.

Als ich meine Tasche einpacke, stellt er sich hinter mich und ein Prickeln durchzieht meinen Körper. Er dreht mich sanft zu sich um und drückt mir seine Lippen auf meine. Ich lasse es zu und als seine Zunge über meine Lippen streift öffne ich meinen Mund. Es ist ein wundervolles Gefühl aber ich merke wie mir Tränen die Wangen hinab rinnen und Panik in mir aufkeimt. Als ich meine Augen wieder öffne und er mir tief hineinschaut, sieht er meine Panik und lässt wieder von mir ab.

„Alles Okay? Hab ich was falsch gemacht?“, fragt er und streicht die Tränen von meiner Wange.

Ich bringe kein Wort raus, in meinem Kopf drehen sich die Gedanken. Es ist falsch, aber warum fühlt es sich so gut an?

„Darf ich dich nach Hause begleiten?“, fragt er und hält mich an der Taille.

Ich nicke zaghaft, obwohl ich nicht weiß was das soll.

Er ist äußerst zuvorkommend und kauft uns unterwegs einen Döner. In meiner Wohnung angekommen sitzen wir neben einander auf dem Bett und essen. Nach drei Bissen bekomme ich nichts mehr runter und lege den angeknabberten Döner neben mich.

„Ist du den noch?“, David schaut mich fragend an.

Ich schüttle zaghaft den Kopf und er ist ihn mit nur 4 weiteren Bissen auf. Wie kann man nur soviel essen und so gut aussehen?

„Du musst eindeutig mehr essen!“, sagt er nun bestimmt und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

„Ich habe einfach kein Hunger.“, entgegne ich schnippisch. Ich bin sauer, weil er sich in mein Leben einmischt, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

Ich  wünschte er würde jetzt gehen, aber ich kann es ihm nicht sagen. Irgend ein Teil meines Körpers will das er bleibt.

Als ich mich bettfertig mache und unter die Decke schlüpfe, legt er sich neben mich und umschließt mich mit seinen starken Armen. Gefühle prasseln auf mich ein. Geborgenheit, etwas was ich dachte nie wieder zu fühlen. Trauer, wie eigentlich jeden Abend. Liebe, wie nie zuvor in meinem Leben.

In seinen Armen schlafe ich ein, ohne eine Träne zu vergießen. Wie lange ist es her, dass ich mich nicht mehr in den Schlaf geweint habe? Damals war ich noch bei meinen Eltern, also muss es mindestens 15 Jahre her sein.

Um drei Uhr klingelt mein Wecker. David erschreckt sich so sehr, dass er aus dem Bett auf den harten Steinboden fällt. Kurz lache ich auf als ich sein erschrockenes Gesicht sehe, sein braunen Augen, seine vollen Lippen.

„Das findest du jetzt lustig?“, fragt er mit einem schelmischen Grinsen.

„Ja sehr.“, ich kann mich vor Lachen kaum noch halten und mein Bauch fängt an zu schmerzen. Langsam rappelt sich David auf und beugt sich über mich. Mit einem langen Kuss unterdrückt er meinen Lachanfall.

Als ich mich wieder von ihm löse und vor dem Waschbecken stehe halte ich kurz inne. Wenn ich mich jetzt ausziehe sieht er meine Narben und meinen immer noch frischen Schnitt am Bauch. Gestern hatte ich mich schnell umgezogen als er draußen telefoniert hat, aber jetzt.

„Kannst du dich bitte umdrehen und die Augen zu machen?“, flehend sehen ich zu David und Tränen steigen mir in die Augen. Er dreht sich zur Wand.

„Warum stehst du denn so früh auf?“, fragt er. Schüchtern schaue ich über meine Schulter, sehe aber, dass er immer noch zur Wand blickt.

„Ich muss auf Arbeit.“, antworte ich  kurz.

„Was arbeitest du denn?“, fragte er weiter. Ich höre wie ein Lächeln auf seinen Lippen liegt während er fragt.

„Morgens arbeite ich in einer Bäckerei und drei Tage in der Woche am Nachmittag in einem Bürogebäude als Putzfrau.“, ich schleiche mich zu Schrank, immer darauf bedacht David im Auge zu behalten, dass er sich auch ja nicht umdreht.

„Und da kannst du dir nicht mehr leisten als diese Kellerloch?“, er dreht seinen Kopf um mir in die Augen zuschauen, aber ich zische ihn böse an.

„Nein, Köln ist teuer und ich bekomme grade genug um mir diese Wohnung leisten zu können, mir etwas zu essen zu kaufen, ab und zu im Schwimmbad zu duschen und meine Sachen in der Wäscherei zu waschen.“, wieder steigen Tränen in mir auf. Es ist zwar wirklich nicht schön hier zu wohnen, aber immerhin ist es mein kleines Reich. Ich kann mir nichts anderes Leisten und wenn eine Rechnung kommt muss ich sie häufig in Kleinstbeträgen abstottern.

 

David begleitet mich bis vor die Backerei und drückt mir dort noch einen langen zärtlichen Kuss auf die Lippen.

Das erste Mal bin ich ehrlich freundlich zu den Kunden, nur Silke schaut mich immer wieder strafend an. Als wäre meine gute Laune ihr ein Dorn im Auge.

Nach der Schicht in der Backerei habe ich ein Termin im Krankenhaus. Endlich kommt dieser Gips ab und ich kann meinen Arm fast schmerzfrei bewegen. Das Putzen geht so viel schneller mit zwei voll beweglichen Armen und mit guter Laune mache ich mich wieder auf den Weg nach Hause.

Wann hat ich das letzte Mal so gute Laune? Mit diesen Gedanken sind schnell alle meine Probleme wieder da und mein Schritt verlangsamt sich merklich. Als ich um die Ecke des Hauses schlurfe sehe ich David vor meiner Tür stehen. Er läuft auf mich zu und nimmt mich in den Arm nachdem er mich ausgiebig geküsst hat.

Wieder liege ich in seinen Armen in meinem Bett, nachdem ich penibel darauf geachtet habe, dass er weg schaut während ich mich umziehe. Auch er träg diesmal nur seine Boxershorts. Wieder schlafe ich ohne Tränen ein und wache erst auf als David mit einer Tüte Brötchen zur Tür reinkommt.

„Guten Morgen, Süße.“, sagt er freudestrahlend. Süße? Hat er grad Süße gesagt? Beschämt schaue ich zu Boden und sage nichts.

Schweigend sitzen wir nebeneinander und essen. David beobachtet mich kritisch und unter seinem Blick zwinge ich mich 2 Brötchen zu essen. Wie Steine liegen sie in meinem Magen und es fühlt sich an als ob sie gleich wieder raus wollten.

„Zufrieden?“, ich schaue ihn fragend an, er beugt sich zu mir nickt leicht und küsst mich.

„Was hältst du davon bei mir zu wohnen?“, fragt er als sich unsere Lippen trennen.

Verständnislos sehe ich ihn in die Augen.

„Ich weiß du willst mir helfen und es fühlt sich auch wirklich gut an in deine Nähe zu sein, aber ich kann das nicht machen. Ich muss meine Probleme selber lösen.“, ich löse mich aus seinem Blick und stehe hastig auf. David greift nach meiner Hand und zieht mich auf seinen Schoß.

„Ich weiß, dass es nichts bringt dir etwas einreden zu wollen, also versuche ich es erst gar nicht. Aber du musst wissen, dass ich immer für dich da bin, du bist nicht allein. Und es ist nicht verwerflich um Hilfe zu bitten.“, er drückt mir einen Kuss auf die Stirn und hinterlässt eine prickelnde Stelle. Ich löse mich aus seinem Griff und setzte mich in die Ecke des Bettes. Wieder einmal steigen mir Tränen in die Augen.

„Ich kann das nicht, ich kenne dich kaum und du weißt schon viel zu viel über mich. Das ist nicht gut. Du wirst mir wehtun sowie all die anderen.“, ich atme tief ein und aus um die aufsteigende Panik zu unterdrücken. Immer heftiger muss ich atmen und ich denke ich verliere den Kampf ein weiteres Mal als ich schon Schwarze Punkte vor den Augen sehe. Ich versuche mich in Richtung meiner Tasche zu bewegen, aber es gelingt mir nicht. Ein leises “Pillen“, kämpft sich noch über meine Lippen bevor David mich zurück in seine Arme zieht und mir über den Rücken streichelt. Es tut so gut und die Panik verfliegt langsam.

„Schsch, ich bin da. Keiner tut dir etwas.“, sagt er ruhig und drückt mir einen Kuss in die Haare.

Als ich mich beruhigt habe setzt David erneut an.

„Wie wäre es wenigsten für heute Nacht? Die Nächte hier sind echt kalt und du könntest bei mir mal wieder heiß duschen.“, bittet er mich. Um einer weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen nicke ich leicht.

Ich packe ein paar Sachen in meinen kleinen Rucksack und mache mich mit David auf den Weg zu ihm. Unterwegs erzählt er mir, dass er in einer WG mit seinem besten Freund wohnt. Wieder steigt leichte Panik in mir auf. Noch eine Person? Ein Mann?

Bei ihm angekommen ist die Tür verschlossen, also ist sein Mitbewohner nicht da, erleichtert atme ich auf.

David zeigt mir die Wohnung und ich stelle meinen Rucksack neben sein Bett, er hat mir zwar auch angeboten auf der Couch zu schlafen, aber nachdem ich die letzten zwei Nächte so gut wie lange nicht in seinen Armen geschlafen habe möchte ich das nicht.

„Ihr habt ja sogar eine Badewanne.“, sage ich erstaunt als er mich ins Bad führt.

„Ja, möchtest du baden?“, fragt er verschmitzt.

Ich nicke fröhlich. Wie lange habe ich nicht mehr in einer Badewanne gelegen?

David bringt mir Handtücher und schließt dann die Tür hinter sich. Ich lasse mir heißes Wasser ein und gleite in die Wanne. Es ist so schön ich möchte gar nicht wieder aussteigen. Mein Kopf ist wie leergefegt alle Probleme sind weg, da bin nur noch ich und dieses heiße mich umhüllende Wasser. Ich weiß nicht wie lange ich schon so in der Wanne liege, meine Finger sind schon deutlich schrumpelig. Plötzlich klopft es an der Tür und nach einem schüchterne „Ja“ tritt David herein.

„Wenn du nicht bald raus kommst bist du gänzlich verschrumpelt. Du bist schon mehr als 2 Stunden da drin. Ich hab was zu Essen gemacht und Flo ist mittlerweile auch da.“, er setzt sich auf den Wannenrand und beugt sich lächelnd zu mir. Reflexartig ziehe ich die Knie unters Kinn, sodass er nicht durch die Wasseroberfläche meine Narben sehen kann. Er küsst mich lang und innig als plötzlich jemand in der Tür steht und sich räuspert. Ich erschrecke und wickle meine Arme noch enger um meine Knie.

„Nehmt euch ein Zimmer. Aber bitte nicht das Bad, ich muss mal ganz dringen.“, übertrieben kneift er die Beine zusammen.

„Flo das ist Helena. Helena das ist Flo.“, David erhebt sich und sieht zwischen uns hin und her.

„Das hab ich mir fast gedacht.“, erwidert Flo. „Aber ich muss wirklich dringen.“ Flüstert er in Davids Richtung, aber ich verstehe es trotzdem.

„Wenn ihr endlich raus geht bin ich sofort fertig.“, sage ich und beide verlassen den Raum. Nachdem ich nur mit einem Handtuch begleitet so schnell wie möglich das Bad verlasse stürmt Flo hinein.

„Danke“, ruft er von drinnen und ich laufe den Flur entlang in die Küche, wo David schon wartet.

Ich stehe in der Tür und David stellt sich vor mich.

„Ich zieh mir noch schnell was Bequemes an dann können wir essen.“, ich will mich schon in Richtung Davids Zimmer wegdrehen als er mein Kinn zu sich zieht. Er küsst mich zärtlich und legt seine Arme um meine Taille. Seine Zunge schiebt sich in meinen Mund und ich massiere sie mit meiner. Seine rechte Hand gleitet hinab, über meinen Po und noch weiter. Als er versucht mein Handtuch hochzuschieben, ergreife ich seine Hand und löse mich aus seinem Kuss. Ohne etwas zu sagen laufe ich rasch in sein Zimmer und ziehe mich an.

Es fühlt sich gut an wenn er mich anfasst, aber alles ist so neu für mich. Ich möchte ihm gern alles geben, mein ganzer Körper brennt vor Leidenschaft. Aber es ist das erste Mal ich habe Angst etwas falsch zu machen. Angst, dass wenn ich ihn noch näher an mich heranlasse, er mich verletzt. Eine Weitere Verletzung würde ich nicht ertragen, zu oft haben Menschen mich verletzt.

Zögernd gehe ich zurück in die Küche, wo David und Flo auf mich warten.

„Ich wollte dir nicht wehtun. Du bestimmst das Tempo. Ich kann warten.“, sagt David als er mich in der Tür entdeckt.

Ohne etwas zu sagen setzte ich mich und stochre im meinem Essen. Es schmeckt wirklich gut aber ich bekomme nur wenig runter. David beobachtet mich scharf von der Seite aber ich kann einfach nicht mehr essen. Die Brötchen von heut morgen liegen mir auch immer noch schwer im Magen.

Schweigend stehe ich auf, gehe in David Zimmer und kuschle mich in sein großes Bett. Wieder mal beginnen die Tränen zu laufen, aber sie versiegen als mich zwei starke Arme von hinten umschließen und ich schlafe ein.

 

 

Davids Sicht

 

Ich halte sie fest in den Armen bis sie eingeschlafen ist. Danach rutsche ich ein Stück weg und betrachte im Dunkeln die Decke meines Zimmers.

Was ist ihr wohl passiert? Würd sie mir je so sehr vertrauen, dass es mir sagen kann? Ich habe mich Hals über Kopf in sie verliebt und weiß nicht wie ich mit ihr umgehen soll. Meine Nähe scheint ihr gut zu tun, aber tut sie mir auch gut?

Ich habe die Schnitte an ihrem Körper bemerkt auch wenn sie versucht sie vor mir zu verstecken. Der frische Schnitt über ihrem Bauchnabel war Samstag noch nicht da. Hat sie sich wegen mir geritzt? Tut sie sich wegen mir weh?

Die ganze Nacht bekomme ich kein Auge zu. Ich stehe früh auf und gehe joggen, das hat bis jetzt immer geholfen den Kopf frei zu bekommen und auch heute bekomme ich einen klareren Kopf.

Ich entschließe, dass ich für Helena da sein muss, sie braucht mich und ich brauch sie auch. Aber wie kann ich ihr helfen ohne, dass sie es merkt?

Ohne eine Antwort auf die Frage laufe ich nach Hause zurück.

Nach einer ausgiebigen Dusche betrete ich wieder mein Zimmer. Helena liegt noch immer im Bett und schläft aber jetzt laufen ihr Tränen über die Wangen und sie zittert am ganzen Körper. Ich lege mich wieder zu ihr, halte sie in den Armen und hoffe sie beruhigt sich. Aber meine Hoffnung erfüllt sich nicht. Kurz darauf schreckt sie hoch, sie atmet stockend und ihre blauen Augen schauen mich panisch an.

Unsanft löst sie sich hastig aus meinem Griff und fällt auf den Boden nachdem sie über mich gestiegen ist. Fieberhaft durchsucht sie ihre Tasche und bringt eine kleine Dose zum Vorschein. Hektisch öffnet sie sie und ein paar Pillen fallen auf den Boden. Helena schnappt sich zwei und würgt sie herunter. Ich kann sie die ganze Zeit nur entsetzt anschauen.

Ich sehe wie sich ihr Puls langsam beruhigt und sie erleichtert aufatmet. Bedächtig sammelt sie die heruntergefallenen Pillen auf und legt die Dose zurück in ihre Tasche.

„Was sind das für Pillen?“, frage ich sie, als ich meine Stimme wieder gefunden habe.

„Die helfen gegen meine Panikattacken.“, sagt sie schulterzuckend.

 

 

 

Die letzten zwei Wochen sind vergangen wie im Flug. Ich wohne jetzt fast bei David. Er küsst mich immer wieder innig und es fühlt sich echt gut an, aber zu mehr bin ich nicht bereit und das scheint er akzeptiert zu haben.

Zwei Tage waren besonders schwer. Annette war in der Bäckerei und hat mich auf ihre unnachahmliche Weise runter gemacht. An diesen zwei Tagen habe ich David nicht von der Uni abgeholt. Ich bin weinend im meine Wohnung und hatte ein solches verlangen nach meiner kalten, scharfen Klinge, dass ich nicht wiederstehen konnte. Ich setzte mir jedes Mal gleich mehrere tiefe Schnitte neben einander. Ich hoffte so sehr, dass sie mir mehr Genugtuung geben würden als der letzte Schnitt auf meinen Bauch, aber ich wurde mal wieder enttäuscht. Obwohl sie so tief sind, dass ich sie verbinden musste um die Blutung zu stillen, haben sie mir nicht geholfen. Ich fühle keinen Schmerz. Keine Möglichkeit meinen seelischen Qualen nur für einen Augenblick durch körperliche zu überlagern.

Heute geht es mir wieder besonders schlecht. Wir haben ein Treffen im Verein um die nächsten Wettkämpfe zu besprechen und ich weiß, dass Annette mich nicht in Ruhe lassen wird.

Mit einem unguten Gefühl betrete ich das Büro. Ich bin immer 1 Stunde vor unseren Treffen da um Sandra, unserer Chefin, zu helfen. Sie ist mir immer dankbar auch wenn ich weiß, dass sie mich nicht leiden kann. Sie ist Annettes Mutter.

Ich betrete das Büro und sehe Sandra am Schreibtisch sitzen, sie sieht verärgert aus als sie mich anblickt.

„Helena, setz dich ich muss mit dir reden.“, sagt sie bestimmt und deutet auf einen Stuhl ihr gegenüber. Mein ungutes Gefühl wandelt sich leicht in Panik, aber ich nehme auf dem Stuhl platz.

„Ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“, sagt sie fahrig und geht sich mit der Hand durch ihre offenen Haare. Ich sage nichts und kann schon jetzt ihrem Blick nicht mehr standhalten.

„Meiner Meinung nach hast du deine Trainer- und Hilfsarbeiten bei uns immer zufriedenstellend gemacht.“, sie lehnt sich auf den Tisch und massiert ihre Hände.

Zufriedenstellend? Ich hab immer mein bestes gegeben, habe mein nicht vorhandenes Privatleben für diesen Verein geopfert und war nur zufriedenstellend?

Mit Tränen in den Augen schaue ich sie an.

„Dann hat mir Annette ein paar beunruhigende Dinge erzählt. Du hast Kinder angefasst und das nicht nur um Hilfestellungen zu geben und warst auch öfters in den Umkleiden. Ich habe verschiedene Kinder und Eltern befragt. Sie konnten zwar nicht alles bestätigen aber mir reicht was ich weiß. Deshalb möchte ich bevor es noch zu anderen Handlungen deiner Seits kommt, dass du diesen Verein verlässt. Ich möchte dich nie wieder in der Nähe dieser Kinder sehen und jetzt verschwinde.“, sie macht eine abwertende Handgeste in Richtung Tür und dreht sich zu ihrem Computer.

Was? Schrei ich in meinem Kopf, gehe aber ohne ein Wort zu sagen hinaus. Mein Puls rast, meine Beine zittern und Tränen stehen mir in den Augen. Ich blinzle sie hastig weg und laufe, ich renne einfach drauf los.

Ich habe nie einem Kind ein Haar gekrümmt. Selbst bei Hilfestellungen habe ich penibel darauf geachtet wo ich sie anfasse. Ich war nie in einer der Umkleiden während Kinder darin waren.

Ich renne, immer weiter ohne ein Ziel. Meine Lunge brennt und meine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Ich weine nicht, ich habe den Punkt überschritten. Keine Tränen, die mir ein wenig Erleichterung verschaffen könnten, kühlen meine heißen Wangen.

Ich laufe weiter, bis meine kraftlosen Beine unter mir nachgeben. Ich sehe mich panisch suchend um, um zuerkennen wo ich bin. Ob gewollt oder nicht ich bin in der Nähe meiner Wohnung. Ich raffe mich auf und gehe die letzten Meter. Auch wenn immer mehr Panik in mir aufsteigt kommt mir nicht der Gedanke eine meiner Pillen zu nehmen.

Ich greife in den leeren Schrank, da alle meine wenigen Sachen mittlerweile bei David sind. Nur sie ist noch hier, meine Klinge. Ich lasse mich an der Wand auf den Boden gleiten, setzte die Klinge am Handgelenk an und schneide. Ich schneide tief und hastig mehrere Schnitte nebeneinander. Plötzlich tritt eine kleine Blutfontäne aus meinem Arm und mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen setzte ich die Klinge am anderen Handgelenk an. Mein Innerstes ist leer, alle Probleme sind weg und noch ehe ich das Blut der neuen Schnitte sehe umhüllt mich eine Dunkelheit. Sie ist magisch, auf einmal habe ich weder körperliche noch seelische Schmerzen. Ein Woge Glück ergreift mich und ich lasse mich in die Dunkelheit fallen.

Davids Sicht

 

Ich habe die letzten zwei Wochen genossen. Auch wenn ich immer noch keine Lösung gefunden habe um Helena zu helfen. Es reicht mir in ihrer Nähe zu sein und ich hab gute Laune. Natürlich mache ich mir viele Gedanken. Ich weiß, dass sie sich auch in diesen zwei Wochen geritzt hat. Die Wunden sehen schlimm aus und sie scheinen tief zu sein, sie hat sie sogar verbunden. Aber wenn ich ihr Lächeln sehe, wenn sie mich von der Uni abholt könnte ich dahin schmelzen. Ich hoffe es geht ihr bald besser, wenn ich ihr zeige wie sehr ich sie liebe. Ich möchte sie zu nichts dränge und warte deshalb auf ein Zeichen von ihr, um einen Schritt über das Küssen hinaus zu gehen.

Ich schlendere in Richtung Vereinsbüro und kann mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich daran denke Helena gleich wieder in die Arme zunehmen. Ich bin zu früh aber ich weiß, dass Helena schon da ist, weil sie Sandra bei den Vorbereitungen für die Besprechung hilft.

Als ich stürmisch das Büro betrete versiegt mein Grinsen, da Helena augenscheinlich nicht da ist.

„Wo ist Helena?“, frage ich Sandra barsch, die seelenruhig Gläser auf dem großen Konferenztisch verteilt.

„Weg.“, antwortet sie mir, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Wie kann man nur so herablassend sein? Aber was habe ich anderes erwartet immerhin ist sie Annettes Mutter.

„Wie weg?“, meine Stimme zittert und ich schlucke schwer.

„Ich habe sie raus geschmissen. Nachdem was Annette mir erzählt hat ist sie untragbar für diesen Verein.“, sie sieht mich verächtlich an.

„Was hast du getan?“, schrei ich ihr entgegen.

Ohne ihr eine Chance zu lassen auf die sowieso rhetorische Frage zu antworten schrei ich weiter.

„Wann ist sie weg und wohin ist sie?“, ich trete an Sandra ran und baue mich bedrohlich vor ihr auf, doch ich glaube die Tränen auf meinen Wangen lassen mich weniger bedrohlich wirken als ich es brauche.

„Sie ist vor einer halben Stunde weg. Wohin? Ich hab keine Ahnung und es interessiert mich auch nicht.“, ihre Stimme ist kalt und mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Wo ist sie hin? Mir fällt nur ein Ort ein wo sie sein könnte. Ihr Kellerloch. Auch wenn ich sie gebeten habe die „Wohnung“ aufzugeben, weiß ich, dass sie es nicht getan hat.

Ich sprinte aus dem Büro und schmeiß mich in das nächste Taxi. Ich schrei den Fahre die Adresse entgegen und er schaut mich verdutzt an. Als sein Blick auf den bereits besetzten Platz neben mir wandert, verstehe ich die Situation.

„Bitte es geht um Leben und Tod fürchte ich.“, erneut kullern mir Tränen über die Wange. Die ältere Dame, die bereits im Taxi saß, winkt ab und steigt genervt aus. Der Fahrer dreht sich zu seinem Steuer um und fährt los. Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl, deshalb rufe ich schon von unterwegs einen Krankenwagen.

Noch bevor das Taxi zum stehen kommt werfe ich dem Fahrer einen Schein aus meinem Portmonee nach vorne und springe hinaus.

Die Tür zum Keller steht offen und nachdem ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe, sehe ich sie neben dem Bett an der Wand kauern. Zwei große Blutlachen breiten sich neben ihren Armen aus. Ohne nachzudenken hebe ich sie hoch und laufe mit ihr auf die Wiese hinter dem Haus. Unter Tränen breche ich hier zusammen und drücke sie an mich. Ich drücke sie so fest ich kann an mich.

 

 

 

Die Dunkelheit ist so erholsam. Aber immer wieder lichtet sich das Dunkel und die Schmerzen kommen wieder. Keine körperlichen Schmerzen, nur die seelischen und ich ziehe mich in die Dunkelheit zurück.

Ich habe kein Zeitgefühl hier unten aber alles kommt mir vor als würde es in Zeitlupe ablaufen.

Die Dunkelheit verwandelt sich langsam in einen Grauton und Erinnerungen prasseln auf mich ein. Meine Eltern. Das Heim. Die Jungs. Die Schmerzen. Annette. David.

Ich will diese Erinnerungen nicht, ich will wieder die Dunkelheit um mich spüren. Ich habe das Gefühl ich stehe in einem vollen Raum und schreie aus Leibes Kräften aber niemand hilft mir, es schaut nicht mal jemand zu mir.

Immer heller wird meine Umgebung und ich nehme Stimmen wahr, ich verstehe sie nicht aber eine dieser Stimmen klingt seltsam vertraut.

Piep, piep, piep. Ich höre es ganz deutlich neben mir, dieses unablässige Piepen, im Gleichklang meines Herzen.

Ich fühle ein weiches Bett unter mir und einen weiten, rauen Krankenhauskittel an meinem Körper.

Dann spüre ich Lippen auf meiner Wange. Warme, zärtliche Lippen. Sie hinterlassen eine prickelnde Stelle und ich versuche die Augen zu öffnen um zu sehen wer mich geküsst hat. Aber es geht nicht, es fühlt sich an als wären meine Lider aus Beton, so schwer liegen sie auf meinen Augen. Lediglich ein kleines Wimmern dringt aus meiner Kehle.

„Helena, bist du wach?“, diese liebevolle Stimme, Davids Stimme, aber sie klingt kraftlos.

Ich habe keine Kraft mich bemerkbar zu machen und schlafe ein. Ein unruhiger Schlaf, ich merke wie ich mich immer wieder hin und her wälze. Da spüre ich zwei starke Arme mich umfassen und einen warmen Körper der sich an mich presst und werde merklich ruhiger.

Piep, piep, piep. Immer noch dieses Geräusch, im Einklang meines Herzen. Ich wache auf und öffne meine Lider. Sie sind immer noch schwer aber ich kann sie offen halten.

Ein Krankenhauszimmer, wie ich mir schon gedacht habe. Es ist dunkel und die starken Arme haben mich noch immer fest im Griff. Ich vernehme ein leises Schnarchen an meinem Ohr, ein bekannter Klang. Ich drehe mich um, entwinde mich so dem Griff und sehe in Davids schlafendes Gesicht. Ich streiche ihm vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht und er räkelt sich unter der Berührung.

Ich glaub ich liebe diesen Mann. Ich bin mir sicher, ich liebe ihn, aber es fühlt sich schlecht an, denn innerlich bin ich tot. Meine äußere Hülle hat zwar überlebt, aber im Inneren ist nichts mehr. Ich bin mir sicher, dass es mir in nächster Zeit auch gelingen wird meine äußere Hülle zu töten und ganz in die Dunkelheit zu tauchen.

Leise drängen Tränen in meine Augen und bahnen sich ihren Weg über meine Wangen. Ich fühle nichts. Keine Trauer. Keine Wut. Absolut gar nichts, aber irgendwie ist mein Körper der Meinung er braucht die Tränen.

Einer der kleinen Tropfen fällt auf Davids Hand und er schlägt zaghaft die Augen auf. Als er sieht, wie ich ihn ansehe weiten sich seine Augen und er nimmt mich in  die Arme. Als er wieder von mir ablässt drückt er mir noch einen langen Kuss auf die Stirn.

„Ich dachte du wachst nie mehr auf.“, seine Stimme zittert und Tränen sammeln sich in seinen braunen Augen.

„Wie lang hab ich den geschlafen?“, kommt es heißer von mir.

„Fünf Wochen. Anfangs sah es echt nicht gut aus, aber jetzt bis du ja wieder da.“, er legt mir eine Hand auf die Wange und wischt mir die Tränen weg.

„Du brauchst sicher Ruhe ich werde gehen, aber ich komme wieder. Morgen.“, ein Lächeln huscht über seine vollen Lippen.

„Nein, ich hab lang genug geschlafen ich möchte einfach hier mit dir liegen und reden.“, ich halte ihm am Arm fest als er versucht aufzustehen.

„Bist du dir sicher?“, fragt er nachdrücklich und ich nicke leicht.

Nein ich bin mir nicht sicher, aber ich will nicht alleine sein. Alleine mit meinen Erinnerungen.

Er legt sich zurück, neben mich und stützt seinen Kopf mit dem Arm ab.

„Was ist passiert? Ich wollte zu Sandra um ihr  zu helfen und dann weiß ich nur noch wie ich gerannt bin, einfach immer weiter.“, ich versuche meiner Stimme Festigkeit zu geben, aber ich versage kläglich.

„Meinst du das ist jetzt das richtige Thema?“, fragt er und wieder nicke ich leicht.

Gibt es das richtige Thema, in so einer Situation?

„Sandra hat dich aus dem Verein geworfen und du bist zu dir gerannt, da hast du dann…“, er stockt, nimmt meinen Arm und blickt auf mein Handgelenk, welches in einem dicken Verband liegt. Ungläubig schaue ich auch auf mein zweites Handgelenk, da erinnere ich mich an alles wieder. Sandra hatte mich nicht nur einfach rausgeworfen, sie hat mir vorgeworfen mich an Kindern vergangen zu haben. Sie hat mir nicht einmal die Möglichkeit gegeben meinen Standpunkt anzuhören, sie hat Annette einfach so geglaubt. Sie hat meine Arbeit im Verein als zufriedenstellend abgetan und mich keines Blickes mehr gewürdigt.

Die Erinnerungen erschlagen mich, ich atme schnell und ein großer Kloß bildet sich in meinem Hals.

Dann die Klinge, sie war so kalt und so genugtuend.

Panik steigt in mir auf und ich bekomme kaum noch Luft. Durch einen Tränenschleier sehe ich wie David aufspringt und angsterfüllt auf die Klingel drückt, um eine Schwester zu holen. Immer hastige ringe ich nach Luft, doch der Kloß in meinem Hals und die gewaltigen Schlurzer lassen mir keine Chance ausreichend Sauerstoff in meine Lungen zu ziehen.

Die Tür wird aufgerissen und eine wild fuchtelnde Krankenschwester kommt herein.

„Was haben sie getan?“, sie sieht David vorwurfsvoll an.

Er kauert sich auf den Boden und weint, dass ist das letzte was ich sehe bevor mich die Dunkelheit wieder in ihren Bann zieht.

 

Davids Sicht

 

Ihre blauen Augen schließen sich. Ihre wundervollen blauen Augen haben mich fixiert und mir Mitgefühl übermittelt, bevor Helena sie wieder geschlossen hat.

Ich sitze kauernd auf den Boden neben ihrem Bett und kann nicht aufhören mir Vorwürfe zu machen. Ich habe diese Panikattacke zu verantworten. Ich hätte ihr einfach ein wenig Ruhe gönnen müssen. Ich hätte ich ihr nicht davon erzählen dürfen.

Was wenn sie jetzt nie mehr aufwacht? Ich habe sie grade erst wieder und muss so einen Bockmist bauen.

Ich stehe zitternd auf und die Schwester wirft mir erneut einen bitterbösen Blick zu. Ich schiebe mich an ihr vorbei und renne, ich renne einfach darauf los.

Ich weiß nicht wie lange ich schon gerannt bin, aber es ist bereits hell als ich zu stehen komme. Ein klarer Gedanke schießt mir durch den Kopf. Der erste Seit ewigen Zeiten, er ist so klar, wie konnte ich ihn vorher nur übersehen?

Sie muss hier weg! Ich gehe mit Helena einfach weg!

Mein Studium kann ich auch irgendwo anders machen und Helena verbindet mit dieser Stadt doch sowieso nur negative Gefühle. Ein Neuanfang für uns beide.

 Ich renne nach Hause dusche heiß und mache mich dann wieder aus den Weg ins Krankenhaus.

Ich laufe schnurstracks in ihr Zimmer. Sie schläft, es sieht aus als wär sie nie wach gewesen. Nein, sie kann doch nicht wieder im Koma liegen? Sie war doch wirklich wach?

Ihr Arzt steht vor dem Bett und als er mich sieht, dreht er sich erleichtert zu mir um.

„Ihre Schwester ist wieder wach. Sie ist aus dem Koma aufgewacht.“, sagt er fast überschwänglich. Ich hatte wieder allen Glauben gemacht sie sei meine Schwester. Auch wenn mich manche komisch angeschaut haben, hat dennoch keiner nachgefragt.

„Ich weiß, ich war heute Nacht bei ihr. Ich bin schuld an ihrem Nervenzusammenbruch.“, sage ich unter Tränen und seine Mine verfinstert sich.

„Wer sagt das? Grade nach Suizidversuchen treten häufig Panikattacken auf und bei ihrer Vorgeschichte ist überhaupt niemand daran schuld. Es sind einfach alle Erinnerungen auf sie eingeprasselt.“, sein Gesicht wird wieder freundlicher und er schiebt mich auf einen Stuhl.

„Würd sie wieder aufwachen? Oder… oder liegt sie wieder im Koma?“, frage ich zittrig.

„Nein sie ist nicht wieder ins Koma gefallen. Sie steht lediglich unter starken Beruhigungsmitteln. Sie wacht wieder auf. Aber mal von ihrer Schwester abgesehen, wie geht es ihnen? Ohne ihnen zu nahe treten zu wollen sie sehen nicht gut aus.“, er legt seine schwere Hand auf meine Schulter.

„Danke für die Blumen, aber es geht um Helena und nicht um mich.“, sage ich kraftlos.

Ich weiß, das ich beschissen aussehe, ich habe tiefe Augenringe und rasiert habe ich mich schon lange nicht mehr. Ich bin Tag und Nacht im Krankenhaus. Ab und zu bringt mir Flo frische Sachen vorbei. Aber wie soll es mir den gut gehen, wenn Helena um ihr Leben kämpft?

Ich rücke mit dem Stuhl neben ihr Bett und nehme ihre Hand in meine.

 

 

 

Ich wache auf und David hält meine Hand fest in seiner. Ich fühle nichts, aber ich möchte nicht, dass er geht. Bin ich egoistisch? Ja, sicher. Aber einmal im Leben habe ich auch das Recht egoistisch zu sein. Ich bin es ja nicht mehr lange, bald kann er sein Leben wieder ohne mich weiter leben. Ich muss nur aus diesem verdammten Krankenhaus raus.

„Hey Helena, du bist ja wach.“, David wendet seinen Blick vom Boden auf mich und drückt meine Hand ein wenig fester.

„Ich hasse diese Panikattacken!“, flüstre ich ihm entgegen. Mein Mund ist trocken und meine Stimme rau und bebend. Ich kann einfach nicht lauter sprechen.

„Es tut mir leid ich bin schuld. Ich hätte mit dir nicht über den Tag reden dürfen.“, wieder wendet sich sein Blick zu Boden und ich sehe wie Tränen darauf tropfen. Er weint wegen mir, ich möchte nicht, dass er wegen mir weint, niemand soll wegen mir weinen. Ich bin es nicht wert.

„Nein, hör auf sowas zu sagen. Die Erinnerungen wären auch so wieder gekommen.“, ich lege eine Hand auf seine Wange und hoffe es beruhigt ihn. Er schaut wieder auf und versucht sich an einem Lächeln, welches ihm nur halbherzig gelingt. Er nimmt meine Hand von seiner Wange und küsst die Innenfläche.

„Kann ich dich etwas fragen?“, sein Blick wird ernst und fixiert mich unangenehm. Ich wende meinen Blick zur Decke, ich kann dem einfach nicht standhalten.

„Natürlich.“, ich versuche meiner Stimme Kraft zu verleihen aber es gelingt mir nicht, wieder ist es nur ein Hauchen, dass aus meiner Kehle kommt.

„Warum hast du das getan?“, auch seine Stimme ist nicht mehr so stark wie ich sie kenne.

Was soll ich ihm sagen? Warum wollte ich mich umbringen? Weil mein Leben verdammt nochmal Scheiße ist? Weil ich niemanden habe? Weil Sandra mir das Letzte genommen hat, was mir etwas bedeutet hat? Weil ich nicht mehr leben will?

„Weil ich mein beschissenen Leben ein Ende setzten muss.“, bricht es aus mir heraus. Auch meine Augen lassen wieder die Dämme brechen und eine Flut Tränen ergießt sich auf mein Kissen.

David schaut mich fassungslos an.

„Das ist mein Leben ein einziger, riesiger, verdammter Scheißhaufen. Jeder den ich je geliebt oder vertraut habe ist weg, hat mich im Stich gelassen und ist einfach verschwunden.“, ich kann gar nicht aufhören ihn anzuschreien. Ich will ihn gar nicht anschreien, aber es kommt einfach so raus. Ich habe noch nie jemanden meine Geschichte erzählt und hatte mir eigentlich auch vorgenommen sie mir ins Grab zu nehmen, aber sie sprudelt aus mir raus.

„Meine Eltern haben mich vom einen auf den anderen Tag einfach so ins Heim gesteckt, da war ich 7. Kein Abschied, nichts.

Im Heim haben die Jungs sich die Mädchen untertänig gemacht. Wir mussten alles machen, was sie wollten, sonst haben sie uns Schmerzen zugefügt. Auch wenn wir nicht schnell genug waren wurden wir gequält. Ich habe zahlreiche Narben auf meinen Bauch von einem Tag als ich nicht ihre vollgeschissene Toilette sauber machen wollte. Einer von ihnen hatte irgendwann mal ein kleines Küchenmesser mitgehen lassen. Ich lag drei Wochen im Krankenhaus.

Irgendwann durfte sich jeder einen Verein aussuchen um Sport zu machen. Es war super für mich ein paar Stunden die Woche den Jungs zu entkommen und alle im Verein waren echt nett, aber wir wurden Älter und meine Freund verließen den Verein. Nur ich blieb zurück. Die neuen Leute im Leichtathletikverein konnten mich von Anfang an nicht leiden. Ich habe keine Ahnung warum, besonders Annette hat mich immer runter gemacht.

So sieht mein Leben aus, ich habe zwei Jobs die ich nicht leiden kann und bei den ich nur soviel verdiene, dass ich nicht verhungere. Ich arbeite ehrenamtlich in einem Verein, in dem ich die Drecksarbeit mache und dafür noch beschimpft werde und ich wohne in einem Kellerloch, wo nicht mal die Ratten wohnen würden.

Jeder den ich je geliebt habe, meine Eltern, meine Freunde, alle haben mich verlassen und nun hat mir Sandra noch den einzigen Halt genommen, die Kinder.

Aber ich habe es nicht anders verdient, ich hätte mich einfach mehr anstrengen müssen. Ich hätte eine bessere Tochter, ein besseres Heimkind, eine bessere Trainerin, ein besserer Mensch sein müssen…“, meine Stimme versagt den der Kloß in meinem Hals lässt kein Wort mehr hindurch. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf und rolle mich zusammen. Meine Stirn berührt meine Knie und meine Arme umschlingen meine Beine so fest, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich Schlurze laut und meine Tränen versiegen nicht.

Das Bett hinter mir senkt sich und ich spüre starke Arme die mich umfassen.

„Du bist der beste Mensch, den ich kenne.“, haucht mir David ins Ohr, doch es beruhigt mich nicht.

Ein Mensch kann nicht das wieder gut machen, was die ganze Welt kaputt gemacht hat.

In seinen starken Armen schlafe ich erschöpft ein.

 

 

 

Davids Sicht

 

Wie kann man einem Menschen nur so etwas antuen? Wie kann das Leben eines Menschen nur so wertlos gemacht werden? Wie können Menschen nur so grausam zu anderen sein? Zu ihrem eigenen Kind sein?

Ich verstehe durch aus warum Helena ihr Leben beenden möchte, aber ich kann es nicht zulassen. Ich kann nicht zulassen, dass dieser wunderbare Mensch sein Leben wegwirft. Ich fühle mich ihr so verbunden wie mit keinen anderen auf der Welt. Ich muss versuchen ihr wieder einen Sinn zum leben zu geben. Doch was kann es sein? Das einzige was ich ihr geben kann ist Liebe, aber ich habe das ungute Gefühl, es wird nicht reichen. Ich habe das Gefühl, sie hat schon mit ihrem Leben abgeschlossen.

Aber einen Versuch ist es Wert. Ich lasse sie nicht im Stich. Mein Entschluss steht fest.

 

Ich bemerke, dass Helena eingeschlafen ist und mache mich von ihr los. Ich muss Vorbereitungen treffen.

Im Gang suche ich nach ihrem behandelnden Arzt.

„Herr Doktor, wann kann Helena denn entlassen werden? Unsere Eltern würden sie so gern sehen, können aber leider nicht herkommen.“, ich setzte mein breitestes falsches Grinsen auf und hoffe er kauft es mir ab.

„Das wird noch ein wenig dauern, ich würde sie gern einem Psychologen vorstellen.“, er schaut mich nicht an, kritzelt nur etwas in seine Akten.

Ich glaube nicht, dass Helena mit einem Psychologen reden wird. Ich werde sie hier so schnell wie möglich raus holen und versuchen mit ihr ein neues Leben zu starten.

Ich gehe in die WG packe meine Sachen und ihre, welche noch nicht im Krankenhaus sind.

„Wo willst du den hin?“, fragt Flo, der in der Tür steht und mich fragend ansieht.

„Ich gehe weg, mit Helena. Sie braucht einen Neuanfang und ich lasse sie nicht allein.“, ich bemerke wie meine Stimme zittert. Mache ich das Richtige?

„Sie hat dir echt den Kopf verdreht? Oder?“, ein verschmitztes Lächeln stiehlt sich über sein Gesicht. Er kennt mich zu gut, solche Gefühle habe ich noch nie für einen anderen Menschen empfunden.

„Ja, sie ist schon nach dieser kurzen Zeit alles was ich im Leben will. Und sie braucht mich also helfe ich ihr, so gut ich kann.“, ich merke wie kraftlos ich auf einmal bin und lasse mich auf mein Bett fallen. Tränen laufen meine Wangen hinab. Kann ich ihr wirklich helfen? Ist es schon zu spät? Ist sie schon verloren? Das Gefühl, dass sie ihr Leben bereits aufgegeben hat verfestigt sich in meinen Gedanken immer mehr, aber sie ist es mir Wert diesen Versuch zu starten.

Flo setzt sich neben mich und nimmt mich zaghaft in den Arm. Wir sind zwar schon ewig befreundet, aber so hat er mich noch nie gesehen. Ich merke, dass er nicht weiß wie er mit der Situation umgehen soll, aber es reicht mir, dass er da ist. Ich werde ihn vermissen.

„Es ist toll, dass du so empfindest. Ich bitte dich nur um eins.“, er sieht mich eindringend an.

„Verliere dich dabei nicht. Du warst der glücklichste Mensch den ich kannte, bevor du sie kennen gelernt hast. Jetzt sehe ich dich ständig traurig. Ich bitte dich denk auch an dich. Ich kenne dich gut genug um zu wissen, dass du dir sicher bist was du tust. Aber ist sie es Wert, dass du dich kaputt machst mit der Liebe zu ihr?“, er schaut mir tief und fragen in die verheulten Augen. Plötzlich schießt eine Energie durch meinen Körper, die ich nie zuvor gespürt habe und ich nicke entschlossen.

Mit der neu gewonnen Energie stehe ich auf schnappe mir die Taschen und bin schon auf den Weg nach draußen. Als mir einfällt, dass ich mich nicht von meinem besten Freund verabschiedet habe.

Schnell trete ich zurück in mein Zimmer und ziehe ihn in eine Umarmung.

„Ich werde dich vermissen, aber wie du schon gesagt hast `ich muss tun was ich tun muss‘. Vermiete das Zimmer weiter und häng dich ordentlich ins Studium. Ich will dich in ein paar Jahren, als neuen Bundeskanzler im Fernsehen sehen.“, ich halte Flo wieder ein Stück von mir weg und grinse ihn breit an.

„Du musst aber auch weiter studieren und melde dich.“, entgegnet er mir und ich sehe wie ihm Tränen in den Augen stehen.

„Nicht nur in Köln kann man Sport studieren, ich finde schon was.“, ich ziehe ihn erneut in eine Umarmung und verlass dann die Wohnung.

 

 

 

Als ich wieder aufwache sitzt David wieder neben meinem Bett auf dem Stuhl. Als ich mich zu ihm umdrehe grinst er mich breit an. Welche Drogen hat er den genommen? Ich schaue ihn fragend an.

„Na, ausgeschlafen? Ich habe mir Gedanken gemacht und alles für meinen Plan vorbereitet.“, er sieht mich mit einem Blick an in dem so viel Liebe liegt, dass es mir fast mein Herz zerreißt. Doch ich kann dieses Gefühl nicht zulassen, ich kann überhaupt keine Gefühle zulassen.

„Welcher Plan?“, frage ich und versuche etwas außer Kälte in meine Stimme zulegen. Er hat diese Kälte nicht verdient.

„Du brauchst einen Neuanfang, einfach in eine andere Stadt und ganz von vorne anfangen. Ich werde mitkommen und dir helfen.“, erklärt er mir und sein Grinsen wird immer breiter.

„Wir müssen nur einen weg finde, dass du hier, ohne mit diesem komischen Psychologentypen reden zu müssen, raus kommst. Denkst du, du bist bereit dafür?“, sein Blick wird von einem auf den anderen Moment ängstlich.

Ich bin von seinem Plan nicht wirklich begeistert. Ich habe ja meinen eigenen Plan und der hat ein neues Leben nicht vorgesehen. Eigentlich ist gar kein Leben mehr vorgesehen, nur hab ich noch keine Lösung für dies eine Problem gefunden. Wie tue ich es so, dass ich ihm so wenig wie möglich weh tue? Wie kann ich verhindern, dass er mich findet? Er ist der Einzige der um mich herum ist und ich möchte ihm das wirklich nicht antun, dass er mich wieder findet.

Aber obwohl sein Plan mich vor neue Fragen stellt, werde ich seine Hilfe annehmen. Ich habe sie so lange abgelehnt, ich habe einfach keine Kraft mehr.

„Wie sieht dein Plan genau aus? Sollen wir einfach hier raus spazieren?“, versuche ich herausfordernd zu fragen, aber es wird eher eine Phrase.

„So in der Art. Du kannst doch einfach wieder diesen Schriebs unterschreiben, dass du auf eigene Verantwortung das Krankenhaus verlässt. Du bist doch sicherlich nicht besonders scharf drauf weiter hier zu bleiben?“, wieder huscht ihn ein Grinsen übers Gesicht und er zieht fragend seine Augenbrauen hoch.

Ich schüttle entschlossen den Kopf. Schon im nächsten Moment stehe ich neben meinem Krankenbett und ziehe mir meine Sachen wieder an. Ich achte nicht mehr darauf, dass sich David umdreht wenn ich mich umzieh. Er ha mich mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden, da kann er mich auch nackt sehen.

Als ich meine Unterwäsche anhabe, kommt er zu mir und umschlingt meine Taille mit seinen Händen. Er haucht mir zärtliche Küsse in den Nacken und dreht mich sanft um. David streicht über meinem Körper und nimmt dann mein Gesicht in seine Hände. Innig küsst er mich, als er aber bemerkt, dass ich seinen Kuss nicht erwidere lässt er von mir ab. Ich sehe in seinen Augen die Enttäuschung und wende meinen Blick von ihm ab.

„Es tut mir leid. Du bist so gut zu mir und ich liebe dich wirklich. Aber ich möchte dir nicht wehtuen. Ich weiß, dass ich dir wehtuen werde und ich ertrage es nicht. Können wir nicht einfach hier verschwinden?“, flehe ich ohne ihn anzusehen.

Er schnappt sich unsere Taschen und läuft voraus in den Flur. Ich gehe schnell hinterher, nehme ihn eine Tasche aus der Hand und lege meine Hand in seine.

„Wo wollen sie denn hin?“, brüllt uns eine Schwester hinterher, aber wir beschleunigen unser Tempo und ohne Entlassungspapiere verlassen wir das Krankenhaus.

 

 

 

 

 

Seit 4 Wochen sind wir jetzt in Ismaningen. David geht jeden morgen zur Uni und kommt am Nachmittag zurück. Er hat schnell neuen Anschluss gefunden. Er hat anfangs auch die Leute die er kennengelernt hat mitgebrauch, um sie mir vorzustellen. Seit er aber gemerkt hat, dass ich mich nicht darauf einlassen möchte, bringt er niemanden mehr mit.

Ich treibe einfach dahin, wie auf dem offenen Meer ohne einen Kurs. Jeden Tag denke ich nach über mein Leben, über David, aber die meiste Zeit denke ich an die Dunkelheit. Diese wohltuende, magische Dunkelheit.

Jeden Morgen finde ich einen Zettel auf dem Tisch:

 

„Auch wenn du dich fühlst, als wärst du nichts,

du bist perfekt für mich.“

 

„Schöne Augen wie deine sind Sterne in der Nacht.

Drum' gebe ich ständig auf dich und deine funkelnden Augen acht.“

Und  Ähnliche Botschaften  sind darauf zu lesen.

Er versucht mich damit auf zubauen. Ich finde sie zwar alle schön und sammle sie in einem kleinen Buch. Zu jeden schreibe ich ein paar Gedanken auf, viele über die Dunkelheit, aber auch welche über die Liebe die ich zu David empfinde. Aber auch diese Liebesbekundungen ändern nichts an meinem Plan.

Heute ist es soweit. Heute werde ich einen neuen Versuch starten. Dieser wird nicht misslingen, ich habe alles geplant. David ist heute lange in der Uni und ich habe einen Elektriker bestellt, dass er mich nicht finden muss. Auch habe ich meine Mittel überdacht die ich einsetzten werde. Ich habe mir eine neue Klinge besorgt, aber zusätzlich werde ich alle Pillen die ich habe zerkleinern und in Wasser aufgelöst trinken. Dann endlich kann ich wieder in die Dunkelheit abtauchen. Für immer.

Angestachelt von dem Gedanken an die so zufriedenstellende Dunkelheit stehe ich auf. Sofort laufe ich zu Tisch um Davids Nachricht zu lesen.

„Ich werde derjenige sein, der dich aus der Hölle holt, in der du lebst und dich in das Licht führen, in das du gehörst.“

Mir laufen Tränen über die Wangen als ich diese letzte Botschaft von ihm in mein Buch klebe.

„Es tut mir so unendlich leid. Du hast mich aus der Hölle geholt, aber ich bin einfach nicht für das Licht geeignet. Ich liebe dich.“, schreibe ich unter den Zettel und lege das Buch aufs Bett, sodass er es finden kann.

Nun gehe ich in die Küche. Ich mörsre die Pillen klein und vermische sie in einem Glas mit Wasser.

Ich begebe mich ins Bad und alles schein auf einmal so einfach, so klar. Meine Zweifel sind weg, ich weiß, dass ich das Richtige tue.

Ich setzte mich auf den Boden und lehne mich gegen die Badewanne. Hastig schlucke ich das weißgefärbte Wasser. Es schmeckt scheußlich, aber eine wohlige Wärme breitet sich in mir aus. Ich nehme die Verbände, die ich noch immer um die Handgelenke trage ab. Ich schneide in die noch nicht verheilten Wunden und sofort schieß Blut heraus.

Ich höre wie sich ein Schlüssel im Schloss dreht, als ich grade die Klinge in die andere Pulsader steche.

„Helena?“, höre ich David im Flur rufen. Ich habe die Badezimmertür offen gelassen und jetzt sehe ich ihn in der Tür stehen.

Er eilt zu mir und zieht mich sanft in seine starken Arme. Er hat meinen Plan vereitelt, aber es ist schön, dass er hier ist. Ich fühle mich geborgen und ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen. Seit dem ersten Versuch habe ich nicht mehr gelächelt, aber jetzt bricht all meine Liebe zu David aus mir heraus.

Müdigkeit übermannt mich und ich kann die Augen kaum noch offen halten, doch ich sehe David an. Ich sehe in tief in die Augen. Er beugt sich zu mir und drückt mir einen langen Kuss auf die Lippen. Tränen tropfen mir ins Gesicht. Davids Tränen. Als seine Lippen meine verlassen flüstere ich mit letzter Kraft, „Ich liebe dich.“

Er legt seine Lippen wieder auf meine und um mich breitet sich die Dunkelheit aus. Diese lang ersehnte Dunkelheit.

 

 

Davids Sicht

 

Helena ist jetzt 3 Monate tot, sie fehlt mir so sehr. Ich habe sie gehen lassen, ich habe ihr in diesen letzten Moment nur mit meiner Anwesenheit geholfen. Aber ich denke, dass war alles was sie wollte und das Beste was ich tun konnte. Ich hätte sie nie solange leiden lassen dürfen.

Ihre Beerdigung war schwer, Flo war da um mich zu unterstützen. Aber er versteht mich nicht mehr. Ich versteh mich selbst kaum noch.

Wie kann sich die Welt weiter drehen? Warum läuft die Zeit weiter als wäre nichts passiert?

Ich bin seit der Beerdigung in einer Klinik, ich habe mich selbst eingewiesen, aber schnell gemerkt, dass mir hier nicht geholfen werden kann. Nur ich kann mir jetzt noch helfen.

Jedes Mal wenn ich meine Augen schließe sehe ich ihre blauen Augen, die mich in ihrem letzten Moment so voller Liebe ansehen. Ich höre ihre letzten Worte und fühle mich ihr so nah wie nie zuvor.

Ich werde bald bei ihr sein. Ich weiß jetzt wie sie gelitten hat und werde auch meinen Leid bald ein Ende setzten.

Ich habe ihr Buch gefunden. Es hat mir ihr Innerstes verraten, hat mir gezeigt, dass es einfach zu spät für und beide war. Was wäre wenn…? Diese Frage habe ich lange gestellt.

Was wäre wenn, ich sie eher getroffen hätte?

Was wäre wenn, ihre kleine Seele nicht so kaputt gewesen wäre?

Was wäre wenn, nur ein einziger Mensch ihr die Liebe gegeben hätte, die sie verdient hat?

Aber all diese Fragen sind zweitrangig. Bald werde ich für immer bei ihr sein. Ich werde es auf dieselbe Weise tun wie sie.

Ich hoffe sie wartet auf mich und ich finde sie in der Dunkelheit.

Ich liebe dich Helena, ich liebe dich so sehr. Du bist meine Seelenverwandte, die Eine, die Einzige ich wusste es vom ersten Moment.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diese Geschichte allen gequälten Seelen, die sich von Anderen, die denken sie sein stärker unterdrücken lassen.

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