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Es ist immer das Gleiche. Die Sonne scheint und der Himmel ist so wolkenlos rein. Das Publikum ist groß, manche klatschen, manche weinen, andere lachen bloß. Als ich noch klein war, habe ich oft über das Wort „Ironie“ nachgedacht. Mittlerweile wünsche ich mir, die Bedeutung niemals herausgefunden zu haben. Diese Szene jetzt gerade hier ist pure Ironie.

In wenigen Minuten wird sich das große Holztor links von mir quietschend öffnen und noch eine Minute später wird er neben mir stehen und mich so bemitleidenswert traurig anstarren, als würde ich ihm wirklich noch helfen können. Ich weiß nicht, wie ich das verdiene.
Auch ich war einmal einer von denen hinter dem großen Holztor. Ich habe meine Frau getötet. Das ist dann wohl meine dunkle Vergangenheit. Und wie es immer ist, wünsche auch ich mir heute, es niemals getan zu haben. Meine Frau hat mich betrogen. Ich habe es herausgefunden, nachdem wir zwei Jahre offiziell Mann und Frau waren. Es hat mein Leben verändert. Von einer Sekunde auf die Nächste war es nichts mehr wert. Also beschloss ich, sie zu töten.
Ich wusste nur zu gut, dass es auch mir mein Leben kosten würde, aber es war mir egal. Ich musste es tun, um wenigstens ein klitzekleines Stück meiner Ehre wieder zu bekommen. Mehr wollte ich gar nicht. Und sie? Sie hatte es verdient.

Ich wurde geschnappt und kam hierher. Ich war Mörder und Opfer zur gleichen Zeit im gleichen Körper. Für ein paar Tage haben sie mich eingesperrt, ohne wirklich viel zu reden oder zu fragen. Auch zu Trinken bekam ich kaum etwas. Es was mir egal. Sie schlugen mich, es war egal. Sie gaben mir Spritzen und Drogen, aber ich weinte nicht. Ich lachte nur über ihre Brutalität und über meine Schmerzen. Ich fürchtete mich auch nicht. Ich fürchtete nicht einmal meine Hinrichtung. Ich hatte nichts anderes erwartet. Viel mehr war ich stolz auf mich und mein Leben.

Aber dann, ein Tag vor meiner Hinrichtung, starb der damalige Hinrichter und ein Neuer wurde benötigt. Als sie mir etwas zu Essen und Trinken gaben und mich zum ersten Mal durch dieses große, quitschende Holztor in die Mitte einer lachenden und grölenden, weinenden und singenden Menge Schaulustiger stießen, entschied sich, wer ich ab nun an sein würde. Der Neue. Nur deswegen stehe ich heute hier. Ich habe seit dem Tag viele Menschen getötet. Ich weiß keine Zahl und kenne keine Zeit mehr. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich mir jedes Mal wünsche, die Person zu sein, die ich töte.

Es gibt viele Hinrichtungsmethoden. Montag wird gehängt, Dienstag vergiftet. Am Mittwoch wird gesteinigt und Donnerstag wird erschossen. Am Freitag bringen Sie den großen „elekronischen“ Stuhl raus auf meine Bühne und alles, was ich dann noch tun muss, ist den Knopf zu drücken. Samstags wird geköpft und Sonntag gehängt. Es läuft alles immer nach Plan. Heute ist Sonntag. Die Schlaufe ist schon fertig für einen neuen Kopf. Ich muss nur am Seil ziehen. Wenn es einmal nicht sofort funktioniert, bleibt es bei mir zu entscheiden, ob ich ihn langsam sterben lassen will, oder ihn erschieße.

Und da kommt er. Er müsste in etwa mein Alter haben. Ich frage mich, was er wohl getan hat, um heute hier zu stehen.

Es wird richtig still um uns. Die Menschen im Publikum halten die Luft an. Eine Frau in den hinteren Reihen weint bitterlich. Sie platzieren ihn genau neben mich. Ab jetzt gehört er mir.
Ich tue, was ich tun soll und stecke seinen Kopf sanft durch die Schlaufe. Einige Menschen fangen an zu klatschen. Irgendjemand lacht und ruft: „Ja! Endlich bezahlt das Schwein!” Jemand anderes schreit: “Das ist unmenschlich! Kommt schon, Leute, kämpft für die Menschenrechte!“ Auf seinem T-Shirt ist ein Logo von Amnesty International. Er ist einer von den Kritikern, den Denkern.
Der Mann neben mir weint und schluchzt und wispert vor sich hin: „Ich habe nichts getan, ich habe nichts getan!“ Die Tränen laufen ihm über die Wangen. Ich bilde mir ein, sein Herz schlagen zu hören. Meine Augen füllen sich mit Tränen. Am liebsten würde ich weglaufen, aber sie würden mich stoppen. Überall um uns herum und an den Eingängen stehen Wärter.
Jetzt drängen sie mich: „Es wird Zeit, mach schon!!!“ Ich weiß doch, ich weiß doch, verdammt. Ich kann einfach nicht. Wieviele habe ich schon erhängt? Wie viele geköpft? Ich weiß es nicht. Es wurde zur Routine.
Der Mann neben mir schaut ängstlich zu mir rüber. Unsere Blicken streifen sich und ich sehe nur noch seine Angst, fühle nur noch sie. Noch immer zittert er: “Ich habe nichts getan! Ich habe nichts getan!” “Ich weiß doch, ich weiß..”, höre ich mich sagen, “so läuft es eben“. Meine Hand greift nach der Waffe, die neben dem Seil liegt - für Notfälle- „es ist nur ein weitere Tag in der Hölle“. Ich setze sie an meine Schläfe. „Pure Ironie“. Ich drücke ab.

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Tag der Veröffentlichung: 04.01.2009

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