Ich gehe keinen Schritt mehr zurück. Das habe ich mir geschworen. Ich laufe weiter auf der Straße, aus der ich gekommen bin. Ich habe mich nun endgültig für die rechte Seite entschieden und laufe immer weiter, Schritt für Schritt. Die Straße führt in die Unendlichkeit. Irgendwann hüllt mich die Dunkelheit in ihre warmen Arme. Meine Beine spüre ich nicht mehr. Die Müdigkeit geht in Taubheit über, die mich langsam auffrisst. Erst die Füße, die Beine, mein Bauch. Irgendwann sacke ich einfach zu Boden. Ich weiß nicht wie lange ich dort liege. Ich höre die Eulen, höre es Rascheln, dann die Vögel. Der Tau liegt auf den Blättern. Ich bin vollkommen durchnässt und mein Bauch schmerzt vor Hunger. Seit Tagen habe ich schon kein Hunger mehr empfunden, jetzt schreit mein Magen.
Ich komme an einen kleinen Bahnhof. Keine Fußspuren weit und breit sind zu erkennen. Eine alte Holzhütte modert vor sich hin.
Erst als ich den Zug von weitem höre, kann ich glauben, dass hier noch menschliches Leben durchrauscht. Zu meinem Erstaunen hält der Zug auch wirklich. Das Quietschen der Bremsen brennt in meinen Ohren, so dass ich mir die Hände auf sie drücken muss.
Ohne eigentlich zu wissen, warum, steige ich in den Zug ein. Er ist rege gefüllt, doch keiner scheint mein Kommen zu bemerken. Außer einem kleinen Mädchen, das mich aus großen Augen anstarrt, regt sich niemand. Ein alter Mann blättert verstohlen in einem Magazin. Ich erhasche einen Blick. Es sind Frauen abgebildet. Nackte Frauen. Das Kind starrt noch immer.
Der verdammte Zug will einfach nicht halten. Wälder rasen an mir vorbei. Eben war der Baum noch da, und der da, eine Sekunde später sind sie alle weit, weit weg. Es ist so still, dass ich das Pochen meines Herzens vermag zu hören. Ich habe Angst zu ersticken und stürme beim ersten Halt aus dem Zug. Die Luft ist staubig und heiß.
Meine Beine tragen mich durch Gassen, bis ich in eine Stadt gelange. Kleine bunter Häuser reihen sich nebeneinander. Eine dickliche Frau hängt Wäsche auf eine Leine vor ihrem Haus. Es scheint sie nicht zu stören, dass die Kälte in jede Faser des Stoffs kriechen wird. Ein Hund bellt auffordernd in der Nähe. Ein paar Häuser weiter sitzen 3 Kinder auf den Stufen vor der Haustür und spielen Murmeln. Ein Winter scheint es hier nicht zu geben. Ich atme tief ein und bekomme endlich wieder richtig Luft.
Ich gehe weiter und komme bald auf einen Marktplatz. In der Mitte steht ein Brunnen. Ich durchtrenne die dünne Eisschicht mit meiner Faust und schlurfe gierig das Wasser. Es ist so klar, dass ich den Boden vom Brunnen sehen kann. Hier scheinen schon viele Menschen ihren Wunsch gelassen zu haben…
Ich vernehme Kirchengeläut, drehe mich um und wandere in die Richtung, aus der das beruhigende Geräusch kommt. Bald schon türmt sich vor mir eine schmale, aber hohe Kirche auf. Die Schneeflocken reflektieren die Sonnenstrahlen und blenden mich, sodass ich meine Augen ganz klein zusammenkneifen muss. Mutig trete ich einen Fuß vor den anderen und gehe um die Kirche herum. Vor einem Loch im Boden stehen schwarze Kreaturen, die scheinbar tot in die Gegend starren. Ich geselle mich zu ihnen ohne auch nur einen Laut von mir zu geben. Der Sarg wird in die Grube gehoben und jeder von ihnen streut etwas Sand darauf. Ich mache es ihnen gleich.
Als sie sich etwas später schluchzend in die Arme fallen, entferne ich mich bestimmt und gehe zurück zu dem Brunnen mitten auf dem Marktplatz. Das kühle Wasser fließt mir über mein Gesicht und ich beschließe, an diesem Ort zu bleiben.
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2008
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