Die folgende Geschichte ist rein fiktiv.
Alle handelnden Personen sind frei erfunden, bzw. beruhen auf Vorlagen der Bibel, sowie eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als reine Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.
"Das ist unsere Geschichte. Es ist deine, es ist meine – ein Leben lang."
Sarah stand vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer und musterte sich. Sie zog die Stirn kraus. Das was mich da ansieht, bin nicht ich. Nein, dieses 17-jährige Mädchen bin definitiv nicht ich. Es war eine Silhouette, etwas, das ihr Inneres, ihre Art nicht widerspiegelte. Sie seufzte leise und betrachtete sich ein weiteres Mal. Alles an ihr war schwarz! Schwarze Haare, schwarzer Pullover, schwarze Hosen, schwarze Socken. Ich bin das Werk meiner Mutter! Sie war ein viel zu großer Farbenmensch, als dass sie jemals ganz in Schwarz aus dem Haus ginge. Ok, ein farbiges Top mit einer dunklen Hose und passenden Schuhen kombiniert war schon in Ordnung, doch so ganz in Schwarz gehüllt war nicht ihr Ding.
Zum Glück hatte Sarahs Mutter nicht darauf bestanden, dass sie dunkle Unterwäsche trug. Immerhin einen Farbtupfer – das Dessous war leuchtend blau – wollte sie sich nicht nehmen lassen. Die Tür öffnete sich und ihre Mutter warf einen Blick ins Zimmer. Als sie ihre Tochter vor dem Spiegel stehen sah, lächelte sie zufrieden.
»Na, das sieht doch ordentlich aus!«
Sarah schaute sie, ohne sich umzudrehen, durch den Spiegel an.
»Ich sehe wie ein Schornsteinfeger aus – Schwarz, schwarz, schwarz!«
»Man zieht nichts Farbiges auf eine Beerdigung an!«
Die Mutter warf einen Blick auf den violetten, eleganten Pullover, der auf Sarahs Bett lag.
»Das ist geschmacklos!«
Ihre Tochter drehte sich um und betrachtete das Kleidungsstück. Sie verstand nicht, warum das geschmacklos sein sollte. Nur weil »man« schwarz an einem Begräbnis trug, hieße das doch nicht, dass es Pflicht war. Wer weiß, möglicherweise hätte Herr Benner es sogar gemocht, wenn die Trauergäste in Farbe bei seiner Beisetzung erschienen. Aber wissen tat sie es nicht; dafür hatte sie ihren Nachbarn viel zu wenig gekannt.
»Kann nicht Dad an meiner Stelle mitkommen?«
Ihre Mutter hob argwöhnisch die Augenbrauen.
»Er ist bei der Arbeit, das weißt du doch!«
»Er hätte ja frei nehmen können«, maulte Sarah. Ihre Mutter schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.
»Ein Kinderarzt kann nicht einfach mal so frei nehmen. Und nun komm jetzt, wir müssen los.«
»Er wird uns bestimmt nicht davonrennen«, antwortete Sarah sarkastisch. Ihre Mutter warf ihr einen strengen Blick zu.
»Ich möchte in der Kirche nicht die Letzte sein!«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ließ ihre Tochter wieder alleine. Sarah seufzte laut, während sie sich nochmals im Spiegel betrachtete. Sie sah wirklich aus wie ein Schornsteinfeger - Schwarz, schwarz, schwarz! Wenn sie daran dachte, dass sie gleich noch eine schwarze Jacke anzog, wurde ihr beinahe übel! Sie warf einen Blick auf ihren violetten Pullover. Ja, der hätte Herrn Benner bestimmt gefallen! Er besaß Dutzende von verschiedenfarbigen Blumen in seiner Wohnung. Das hatte er ihr jedenfalls bei einem ihrer eher seltenen Gespräche erzählt. Seine Frau neckte ihn früher, dass es wegen den Blumen für sie kaum mehr Platz gab. Sarah kaute geistesabwesend auf ihrer Unterlippe. Die beiden hatten sich sehr geliebt. Das spürte man sofort, auch wenn man sie nicht gut kannte. Sie gingen immer händchenhaltend die Straße entlang. Allerdings im Schneckentempo, da Herr Benner nicht mehr gut zu Fuß unterwegs war und einen Gehstock benötigte. Das machte ihnen jedoch nichts aus. Sie warfen sich dabei zärtliche Blick zu und kicherten miteinander. Manchmal schienen sie wie zwei frischverliebte Teenager. Sarah lächelte matt. Anscheinend kannte sie die beiden doch etwas besser, als ursprünglich gedacht.
Mit einem tiefen Atemzug nahm sie ihre schwarze Handtasche - schon wieder Schwarz - vom Schreibtisch und verließ das Zimmer. Ihre Gedanken schweiften ein weiteres Mal zu ihrer alten Nachbarin. Wie würde es ihr nach dem Tod ihres geschätzten Mannes gehen? Gewiss war sie am Boden zerstört. Der Verlust eines geliebten Menschen war hart. Zum Glück hatte Sarah noch beide Großeltern und sonst auch noch niemanden verloren. Ein Schmerz durchzuckte ihr Herz beim Gedanken an Bianca. Wäre sie jemals gezwungen, sie zu Grabe zu tragen, würde sie es niemals verkraften. NIEMALS!
Mit einem weiteren Seufzer ging sie zur Haustür, wo ihre Mutter ungeduldig wartete.
»Schaust du so grimmig, weil du Schwarz trägst?«, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja und nein«, antwortete ihre Tochter missmutig, »vor allem, weil ich überhaupt erst mitkommen muss! Was soll ich denn da?«
»Das haben wir bereits ein Dutzendmal besprochen. Die Benners sind unsere Nachbarn und wir erweisen ihnen unser Mitgefühl, indem wir an der Trauerfeier teilnehmen. Und ich will nun mal, dass du dabei bist!« Die Mutter betrachtete sie eindringlich. »Das tut man als guter Nachbar.«
Wieder dieses »man«, dachte Sarah. Dabei ist dieses Wort nicht mal richtig einzuordnen! Wer ist denn schon »man«? Die Menschen in diesem Dorf? Die Lebewesen allgemein? Oder nur die Personen, die einem sagen wollen, was man zu tun hat?
Sie schüttelte den Kopf um sich von den Gedanken zu befreien. Ein vollgestopftes, wirres Gehirn konnte sie nicht gebrauchen. Sie musste sich schützen, damit sie diese Trauerfeier überstand. Denn sie waren dort, innerhalb der Kirche, und dort würde sie sich ihnen nicht entziehen können! Damals war sie erst sieben Jahre alt gewesen und hatte noch keine Ahnung von ihnen – nicht, dass sie jetzt mehr davon besaß. Seit dem Schockerlebnis hatte sie nie wieder einen Fuß in eine Kirche gesetzt – bis heute!
Melanie kam mit Bianca in den Armen aus der Küche, um sich zu verabschieden. Sarahs angespannte Miene entschwand augenblicklich. Mit einem liebevollen Blick hielt sie die Hände nach ihrer Tochter aus.
Kommentarlos drückte die Babysitterin ihr das elf Monate alte Kleinkind in die Arme. Vergnügt quietschte sie laut und zappelte mit ihren kleinen Patschhändchen.
»Das du mir sie nicht wie letztes Mal vollkotzt. Verstanden?«
Sarah grinste.
»Ich glaube, das hat ihr nicht besonders gefallen.«
Melanies Mundwinkel zuckten belustigt.
»Wo du recht hast, hast du recht«, antwortete sie gespielt ernst.
»Bis bald, Spätzchen.« Sarah küsste Bianca zärtlich auf die Stirn und reichte sie daraufhin ihrer Mutter.
»Bis bald mein Schatz.«
Liebevoll drückte sie ihre Enkelin an sich.
»Wir werden über den Daumen gepeilt in zwei Stunden zurück sein. Wenn du mich brauchst, kannst du mich auf dem Handy erreichen«, erklärte Sarahs Mutter, als sie Bianca wieder in die Obhut der Babysitterin gab. Melanie nickte. »Es wird bestimmt alles gut gehen.«
»Außer sie kotzt dich doch noch an«, grinste Sarah. Melanie verzog den Mund.
»Ich hoffe nicht …«
»Lass uns jetzt gehen, sonst sind wir in der Tat noch die Letzten!« Die Mutter drückte ihrer Tochter die schwarze Jacke in die Hand, wobei diese seufzend die Augen rollte, und öffnete die Wohnungstür.
Das Treppenhaus war wie immer stickig. Der Hauseigentümer hatte vor einem halben Jahr die Fenster ersetzt. Die ließen sich nun dummerweise nicht mehr öffnen, wodurch es nun immer ungelüftet und leicht modrig roch. Den Sinn dieser supermodernen Fenster verstand Sarah allerdings nicht. Wer weiß, vielleicht hatte der Hausbesitzer einfach nur keine Ahnung von Fenstern?
Draußen blies ein kühler Herbstwind. Viele der Bäume hatten bereits ihre braun-rötliche Blätterpracht verloren, welche nun ungezügelt durch die Luft wirbelte.
»Kein guter Tag zum Sterben«, murmelte Sarah leise.
Ihre Mutter warf ihr einen mahnenden Blick zu.
»Ich hoffe nicht, dass du in der Kirche einen deiner Sprüche bringst! Die sind dort über die Maßen unpassend!«
»Mum«, begann ihre Tochter flehend, während sie um den Wagen lief und einstieg, »kann ich nicht draußen warten und Frau Benner nach dem Gottesdienst kondolieren?«
Die Mutter schnaubte verärgert, als sie den Sicherheitsgurt befestigte.
»Willst du mich um den Verstand bringen? Das haben wir die letzten Tage schon oft genug besprochen!«
»Bitte, ich …«, versuchte es Sarah ein weiteres Mal, doch sie wurde abrupt unterbrochen.
»Was hast du nur für eine Phobie gegen Kirchen?« Sie startete den Wagen und fuhr aus der Einfahrt. »Es sind schließlich die Häuser Gottes!«
»Ich mag die Orte einfach nicht. Das weißt du! Ach, jetzt komm schon Mum, es genügt doch, dass ich mitkomme!«
»Ich werde meine Meinung nicht ändern! Du kommst hinein! Das bist du mir schuldig nach all dem …!«, sie atmete geräuschvoll aus, »du weißt schon!«
Ihre Tochter warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Wie sollte ich es vergessen, schließlich erinnerst du mich ständig daran!«, sagte sie gefrustet.
»Tja, hättest du damals auf mich gehört, dann …«
»Schon gut!«
Dieses Thema brachte ihr Inneres immer zum Brodeln.
»Ich habe verstanden!«
Ihre Mutter nickte zufrieden.
»Dann ist ja alles geklärt.«
Für Sarah war allerdings nichts geklärt! Je näher sie der Kirche kamen, desto mehr breitete sich die Angst in ihrem Körper aus. Ihr Puls erhöhte sich schlagartig, als sie an das Geschehnis von vor zehn Jahren dachte. Damals betrat sie mit ihren Eltern das erste Mal eine Kathedrale. Sie war voller Neugier, wie diese innen aussah. War der Altar tatsächlich so prunkvoll, wie ihr Vater erzählte? Und gab es diese Beichtstühle, in denen man dem Pfarrer all seine Sünden anvertraute, wirklich? Sie war so erfüllt von Wissensdurst, so ungeduldig, so aufgeregt. Doch die kindliche Neugierde wurde zu einer Tragödie, welche sie durch das gesamte Leben begleitete. Ihre Eltern hatten es bis heute nie verstanden, was in dem Gotteshaus eigentlich vorgefallen war. Sie hatten die plötzliche Panikattacke ihres Kindes nicht nachvollziehen können, und waren gezwungen, ein panisch um sich schlagendes und schreiendes Mädchen aus der Kathedrale zu bringen. Damals hatte es Sarah selbst nicht verstanden, und konnte es heute immer noch nicht wirklich. Sie wurde damals in der Kirche von einem Toten attackiert!
Als sie beim Lebensmittelgeschäft um die Ecke bogen, trat der Turm der Kirche in ihr Blickfeld. Sarahs Magen zog sich auf Anhieb zusammen. Eine leichte Übelkeit überkam sie, gefolgt von einer unangenehmen Nervosität. Am liebsten hätte sie die Türe aufgerissen und wäre so schnell wie möglich geflüchtet. Obwohl das Gotteshaus mit seinen weißen Mauern und dem rötlichbraunen Dach im Grunde genommen sehr freundlich aussah, wusste Sarah, dass die Gefahr im Innern lauerte! Eine Gefahr, welche ihr als Siebenjährige monatelange Albträume bescherte. Wie würde es diesmal sein?
Sie fuhren die Einfahrt zum Kirchengebäude hoch und parkten auf dem dafür vorgesehenen Platz.
»Zum Glück haben sie einen großen Parkplatz. Hast du die vielen Menschen vor dem Eingang gesehen? Ich habe schon befürchtet, keine Parkmöglichkeit mehr zu finden.«
Die Mutter stellte den Motor ab und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.
»Du bist ja kreideweiß. Ist dir nicht gut?«
Sie warf ihrer Tochter einen fragenden Blick zu. Sarah schüttelte den Kopf. In ihrem Gehirn wirbelten die Erinnerungen an das schreckliche Kirchenerlebnis wie ein Tornado herum. Sie hatte Angst! Ja, sie hatte eine verdammte Angst, gleich in dieses Gebäude zu gehen!
Stirnrunzelnd kniff ihre Mutter die Augen zusammen.
»Ist das ein neuer Trick, um nicht mitzukommen?«
»Nein«, erwiderte Sarah matt. »Mir ist wirklich schlecht.«
Ihr war von der Anspannung noch übler als zuvor.
»Wie auch immer«, meinte ihre Mutter trocken und machte eine theatralische Geste in die Luft. »Frau Tochter wird mich trotz allem begleiten.«
Mit diesen Worten öffnete sie die Wagentür und trat hinaus, wo ihr gleich eine Windböe das Haar zerzauste. »Dieser blöde Wind!«, hörte Sarah sie fluchen, als sie ebenfalls ausstieg. Ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei, während ihre Knie gleichzeitig wie Espenholz zitterten.
Ich muss diese Beerdigung überstehen! Ich muss diese Beerdigung irgendwie überstehen!
Je näher sie der Kirche kam, umso mehr schwand ihr Glaube daran, es wirklich durchzustehen. Sie hatte einfach zu sehr Angst davor, wieder einen von ihnen zu sehen.
Oh Gott, was tue ich hier bloß!
Als Sarah neben ihrer Mutter den gepflasterten Weg entlangging, fühlte sie sich wie eine Verbrecherin, die vom Henker zum Galgen geführt wurde. Ihr Herz schlug mit jedem Schritt, dem sie dem Gotteshaus entgegenkam, schneller und heftiger. Ihre Hände waren vor Nervosität schweißnass.
Die große, hölzerne Flügeltüre war mittlerweile geöffnet und die Traube an Menschen, die zuvor noch vor der Kirche beisammenstanden, war zwischenzeitlich ins Innere getreten. Vereinzelt kamen Trauergäste zu Fuß vom Dorf her, oder fuhren an ihnen vorbei in Richtung Parkplatz.
»Nun sind wir doch noch zu spät!«, murmelte die Mutter missmutig. Dies interessierte ihre Tochter allerdings nicht. Je weiter hinten sie saßen, desto besser für sie. So nah wie möglich an der Tür, der Fluchtweg für den Notfall musste auf jeden Fall in ihrer Nähe sein.
Sarah sah zum Kirchenturm hinauf, der steil in die Höhe ragte. Er sah so idyllisch aus, so friedlich und einladend - genau wie die Kathedrale von damals. Es war kaum zu glauben, dass sie darin eine ihrer erschütterndsten Erfahrungen erlebt hatte. Warum hatte Gott ausgerechnet sie auserwählt? Wusste er damals bereits, was sie neun Jahre später für eine »verdammte Dummheit« - so wie es ihre Mutter bezeichnete – tat? War es irgendein Omen oder eine Warnung, welche sie übersehen hatte? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie in ihrem jungen Leben einen Fehler begangen hatte. Und dieser Fehler hieß Luke.
Sarah schluckte den sich bildenden Kloß in ihrem Hals hinunter, als sie vor der steinernen Treppe stand, welche sich in einer Rundung um die pompöse Flügeltür schmiegte. Nur ein paar Schritte trennten sie von dem, was ihr monatelang Albträume bereitet hatte.
Der Kloß begann erneut im Hals anzuwachsen. Dieses Mal gelang es ihr jedoch nicht, ihn einfach zu schlucken. Er schnürte ihr die Atemwege zu, so dass Sarah nur flach atmen konnte. Was würde sie tun, wenn es wieder passierte und sie von ihnen attackiert wurde? Sie konnte unmöglich mitten im Gottesdienst schreiend aus der Kirche rennen.
»Können wir …«, begann Sarah mit belegter Stimme. Sie räusperte sich. »Können wir einfach hinten sitzen?«
Ihr Unterton klang flehend. Ihre Mutter zog empört eine Augenbraue hoch.
»Hinten?«, wiederholte sie. »Natürlich nicht! Wir sind gute Nachbarn und setzen uns in die Mitte oder wenn möglich sogar weiter vorne!«
»Wir sind aber keine Familienangehörige«, erwiderte Sarah steif. »Die vorderen Reihen sind für die reserviert!«
»Soviel ich weiß, haben sie keine große Familie, jedoch eine Menge Freunde, zu denen wir auch zählen«, meinte ihre Mutter selbstsicher. »Ich kann mich erinnern wie Frau Benner von ihrer einzigen Tochter und der Enkelin sprach. Daher sollten zuvorderst auch nicht allzu viele Verwandte sein.« Sie strich sich das durch den Wind zerzauste Haar zurück. »Lass uns nun endlich reingehen!«
Ohne die Reaktion abzuwarten, legte sie ihrer Tochter die Hand auf den Rücken und schob sie zur hölzernen Flügeltür. Sarahs Herz flatterte vor Nervosität, Beklemmung und Ungewissheit. Sie fühlte sich wie ein gefangenes Tier, als sie unter dem Türbogen hindurch geschoben wurde, welcher wie die Pforte zur Hölle über sie hinweg ragte. Für sie war es nicht nur eine Tür aus Holz, in der wunderschöne biblische Bilder eingeschnitzt waren, sondern ein Durchgang zu einem Ort, der ihre Ängste hervorbrachte. Als Kind hatte sie sich geschworen, so einen Ort nie wieder zu betreten.
Sarahs Lippen begannen zu beben, als stünde sie nur leichtgekleidet seit längerer Zeit in der Eiseskälte. Doch ihr war alles andere als kalt. In ihr loderte ein regelrechtes Feuer. Die Angst spornte ihre Zellen zu Höchstleistungen an. Sie spürte, wie sie unter den Achseln und an den Händen schwitzte.
In der Kirche sah alles ganz normal aus. Ihre Schritte hallten auf dem steinernen Boden, als sie den Mittelgang entlanggingen. Würde es gleich passieren? Oder erst später? Sie wusste es nicht!
Von Furcht erfasst, spähte sie vorsichtig über die hölzernen Sitzbänke. Sie wusste, dass sie irgendwo lauerten, auch wenn sie sie nicht sah. Aber schon der Gedanke daran bereitete ihr eine mordsmäßige Angst.
Die Kirche hatte ein helles, langes Kirchenschiff mit voneinander getrennten Arkadenreihen. Die farbigen Glasmalereien zeigten Bilder aus der Bibel. Vor dem Chorraum stand ein prunkvoller Altar aus Marmorgestein. Auf beiden Seiten hingen goldene Abbildungen von Heiligen. Zur rechten stand ein wunderschön verziertes, steinernes Taufbecken, zur Linken eine hölzerne Kanzel.
Mit zusammengekniffenem Mund versuchte Sarah, sich auf die Trauergäste zu konzentrieren. Die vier vordersten Reihen waren beidseitig lückenlos besetzt. Dahinter saßen die Menschen unregelmäßig verteilt. Sarah sah an dem Gesichtsausdruck ihrer Mutter, wohin sie sich setzen wollte. Das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Es war noch immer friedlich - kein Anzeichen von ihnen. Nur ein leises Stimmengemurmel drang durch die große Kirche. Eine Beklommenheit stieg in ihr hoch. Der Wunsch, rückwärts hinauszugehen, steigerte sich immer mehr. Der beständige Druck von Mutters Hand an ihrem Rücken ließ ihn allerdings wie eine Seifenblase platzen. Unbeeindruckt schob sie ihre Tochter selbstsicher nach vorne. Immer weiter und weiter… Je mehr Sarah in das Herz dieses Gebäude tauchte, umso heftiger wurde ihr Angstgefühl.
»Lass uns hier sitzen«, bat sie leise und zeigte auf eine Bank, in der hinteren Hälfte, die kaum besetzt war. Doch ihre Mutter drückte sie wortlos weiter. Sarah versuchte vergeblich, den Kloß hinunterzuschlucken. In der fünften, linken Reihe gab es drei freie Plätze. Aber so weit nach vorne wollte sie nicht. Was, wenn es geschah und sie in Panik geriet? Dann war sie gezwungen, Hals über Kopf an dutzenden von Trauernden vorbei zu rennen.
Sarahs bleierne Beine wurden immer schwerer. Alles in ihr sträubte sich, weiter zu gehen. Wieso war sie nur so dumm gewesen, überhaupt einen Fuß in diese Kirche zu setzen? Hätte sie nicht irgendeine Krankheit vorschwindeln können? Als kleines Mädchen gelang ihr der Erkrankungs-Trick doch immer. Warum nicht jetzt auch noch als 17-Jährige?
»Setz dich«, hörte sie die herrische Stimme ihrer Mutter, als diese sie am Arm auf die Seite zog. Erschrocken zuckte Sarah zusammen und starrte sie mit weitaufgerissenen Augen an.
»Setz dich endlich!« Ihre Tochter blinzelte irritiert. So tief in ihren Gedanken versunken, hatte sie nicht mitgekriegt, dass sie bereits bei der fünften, linken Reihe angelangt waren.
»Na los!«, forderte sie ihre Mutter auf. »Auf was wartest du denn?« Wortlos setzte sie sich unbehaglich. Zwischen ihr und dem Mittelgang war noch ein Platz übrig. Hoffentlich kam niemand auf die Idee, sich neben sie zu setzen, denn es war ihr Fluchtweg, und den wollte sie sich klugerweise freihalten.
Das Herz schlug Sarah bis zum Hals. Mit zitternden Händen zog sie langsam den Reißverschluss ihrer Jacke nach unten. War es heiß oder eher kühl? Die Beklemmung in ihr löste eine gewaltige Hitze aus. Aber es war nur Sarahs Hitze, alle anderen behielten nämlich ihre Jacken an. Sarah schaute sich verstohlen um, auch wenn es die dümmste Idee war, die sie haben konnte. So würde sie ihre Aufmerksamkeit ganz sicher direkt auf sich ziehen. Taktisch geschickt war es, die Trauerfreier auf den Boden starrend durchzustehen und bei der ersten Möglichkeit aus der Kirche zu verschwinden. Das war der Plan, den sie sich zuhause zurechtgelegt hatte, um sechzig Minuten an diesem schrecklichen Ort zu überstehen. Allerdings war da etwas, was sie zwang, nach vorne zu sehen. Sie konnte nicht anders, sie musste einfach zur vordersten Reihe schauen!
Frau Benner saß auf der vorderen, rechten Bankseite. Mit ihren strahlend weißen Haaren, die sie immer zu einem Dutt hochsteckte, war sie nicht zu übersehen. Die Witwe hatte schon immer eine eigenartige Anziehung auf sie, doch heute war es irgendwie noch stärker als sonst. Sarah hatte regelrecht das Gefühl, als würde ihr Körper sie anschreien, ihre Nachbarin anzusehen.
»Starr sie nicht so an!«, ermahnte ihre Mutter, »das ist unhöflich!«
Sarah warf ihr einen Blick über die Seite zu und wollte gerade etwas erwidern, als sie eine Frau am anderen Ende der Reihe erblickte, die sie mit eisigen Augen anstarrte. Erschrocken schnappte sie nach Luft, wobei ihr Herz zu rasen begann, als würden Tausende von Wildpferden durch ihren Körper galoppieren.
Sie hatte sich allerdings getäuscht. Beim genaueren Betrachten bemerkte sie, dass es sich lediglich um einen Trauergast handelte. Angsterfüllt wandte sie sich hastig ab und sah zu ihrer Überraschung in die sanften Augen der alten Nachbarin. Hatte sie ihre vorhergehenden Blicke bemerkt oder war es ein Zufall, dass sie sich genau in diesem Augenblick zu ihr umdrehte? Frau Benner lächelte sanft, so wie sie es immer tat. Es war ein Lächeln, das zeigte, wie sehr sie mit sich selbst im Reinen war, und jedem, der sie anblickte, Ruhe und Gelassenheit schenkte. Das spürte sie zumindest immer, wenn ihre alte Nachbarin sie ansah. Die Witwe nickte ihr kurz zu. Als würde diese Geste in Sarahs Körper ein vorprogrammiertes Programm aktivieren, entfaltete sich genau in diesem Moment eine innere Entspannung.
Wie ist das nur möglich?
Sarah bemerkte, wie ihr hämmerndes Herz langsamer wurde und Ruhe die Beklommenheit ersetzte. Sie nickte zögerlich zurück. Sollte sie ihr ein Lächeln schenken? War das nicht eher geschmackslos einer Person gegenüber, die ihren Ehemann zu Grabe trug? War es aber nicht auch unhöflich, wenn sie es nicht tat? Schließlich hatte ihre Nachbarin auch gelächelt. Sarah musterte sie. Für eine Witwe sah sie erstaunlich gefasst aus. Dieses Gefühl von »im Reinen mit sich selber sein« umgab sie genauso wie an früheren Tagen. Ihre Augen waren weder gerötet noch feucht. Sie wirkten liebevoll wie eh und je. Sarah lächelte vorsichtig. Frau Benner nickte ein weiteres Mal, als ob sie auf ihr Lächeln gewartet hatte, und wandte sich wieder ihrem Sitznachbarn zu.
Eigenartig! Sarah war ganz ruhig!
Ihr Herz schlug im gewohnt ruhigen Rhythmus und sie fühlte sich absolut gelassen. Kein Schweißausbruch und keine Anzeichen von einer Panikattacke. Und das, obwohl sie in der fünften Reihe einer Kirche saß! Unfassbar, was der Blick in die Augen dieser alten Person alles bewirken konnte!
Die Orgel begann ein langsames, schweres Lied zu spielen. Die Anwesenden hielten augenblicklich inne und lauschten den Klängen des wundervollen Instruments. Es war eine schöne Arie, gefüllt von tragenden, tiefen Tönen. Sarah beobachtete die Trauergäste auf der anderen Seite. Einige tupften sich bereits jetzt schon mit einem Taschentuch die nassen Augen ab, andere hingegen versuchten, die Fassung zu wahren, und schluckten ihren Kummer hinunter. Würde sie auch weinen? Vielleicht, wenn die schwermütige Musik gemischt mit der traurigen Stimmung der anderen sie überwältigte. Aber gewiss nicht wegen des Verlusts ihres alten Nachbars, dafür hatte sie ihn viel zu wenig gekannt.
Unvermittelt blieb ihr Blick an einer Person haften, die im gegenüberliegenden Seitenschiff stand. Die Frau trug einen gelbgrünen Regenmantel, wobei die Kapuze über den Kopf gestülpt war. Sarah kniff die Augen zusammen, um sie genauer zu betrachten. Ihr Magen zog sich dabei immer mehr zusammen und ein schlechtes Gefühl überkam sie. Die Augen der Frau wirkten so leblos. Sie schluckte. Diesmal war sie sich sicher, die Frau im Regenmantel war keine Trauernde! Es war eine von Ihnen!
Augenblicklich flatterten ihre Nerven wie eine Schar aufgescheuchter Vögel. Die innere Ruhe war binnen Sekunden wie weggeblasen. Die Anspannung, die sich in kürzester Zeit im gesamten Körper ausbreitete, drückte ihr erneut den Schweiß aus den Poren. Obwohl sie rasch und oberflächlich atmete, überkam sie trotz alldem das Gefühl, keinen Sauerstoff in ihre Lungen zu transportieren. In der Hoffnung, einen helfenden Ruhepol zu finden, sah Sarah hilfesuchend zu Frau Benner hinüber. Doch diese lauschte den Klängen der Orgel und schaute vor sich auf den Boden. Zitternd presste sie ihre Hände auf die Oberschenkel und vergrub die Fingernägel tief in ihrem Fleisch, bis es wehtat. Denn Schmerz zu spüren war ihre einzige Möglichkeit, sich im Griff zu behalten. Es musste ihr gelingen, die aufkeimende Panikattacke zu überwältigen. Sie war noch zurückhaltend - sie konnte sie fühlen - aber sie kam definitiv angerollt! Wenn es ihr nicht gelang, sie abzuwerfen, würde sie in den nächsten Minuten wie eine Irre schreiend aus der Kirche stürmen. Genau wie damals! Unvermittelt bemerkte sie aus ihren Augenwinkeln etwas Gelbliches. Hastig schaute Sarah hinüber und zuckte zusammen. Die Frau im Regenmantel stand im Mittelschiff, direkt vor der gegenüberliegenden Bank. Und Sarah war die Einzige, die sie sah.
Zornig stierte die Frau sie ununterbrochen an. Nur sie, niemanden sonst. In Sarah zog sich alles zusammen. Obwohl es schon Jahre her war, fühlte es sich an, als wäre dieses schreckliche Ereignis erst gestern geschehen!
Wieso hatten es diese Menschen - oder was davon übrig geblieben war - immer auf Sarah abgesehen? Und warum war sie die Einzige, welche die Frau bemerkte? Ein Pfarrer war ein Bote Gottes, der ihm näher stand als jeder andere Anwesende. Warum konnte nicht einmal er sie sehen?
Die Panikattacke in ihr steigerte sich ins Unermessliche. Sie wollte sie bremsen, doch die Wucht, mit der sie sich in ihren Körper drang, war nicht aufzuhalten.
Schwarze Punkte tänzelten bereits vereinzelt vor Sarahs Augen und in ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. »Ich muss hier raus!«
Sie wollte gerade aufstehen, als sich unerwartet ein Junge auf den noch freien Platz neben ihr setzte. Sarah keuchte auf. In Erwartung, die Frau im Regenmantel würde sie attackieren, drückte sie sich reflexartig gegen ihre Mutter. »Was soll das!«, zischte diese verhalten. »Setz dich angemessen hin! Wir sind auf einer Beerdigung!« Ohne auf den erschreckten Gesichtsausdruck ihrer Tochter einzugehen, drückte sie Sarah zurück auf ihren Platz und widmete ihre Aufmerksamkeit wieder der Orgelmusik zu. Starr vor Angst, stierte Sarah mit weit aufgerissenen Augen den fremden Jungen neben sich an. Er trug ein silbergraues, langes Hemd, bei dem die beiden obersten Knöpfe geöffnet waren, sowie eine schwarze Hose. Seinen Hals zierte eine derbe Silberkette mit einem silbernen Anhänger, der aussah, wie zwei ineinander verschlungene Flammen. Sein Haar war blond und reichte ihm bis ans Kinn.
Erneut stieg Panik in Sarah auf. Indem er sich neben sie gesetzte hatte, blockierte er ihren Fluchtweg. Ungeachtet dessen saß er so in ihrem Blickfeld, dass sie die Frau im Regenmantel nicht mehr sah. War sie eigentlich noch da? Sarah versuchte, an ihm vorbei zu schauen, doch immer wenn sie einen kurzen Blick auf den Mittelgang erhaschen konnte, änderte er seine Sitzposition so, dass sie abermals nichts sah. Wie macht er das?, dachte Sarah. Er sieht doch zum Altar und scheint der Orgelmusik zu lauschen! Spielte er mit ihr? In einer Kirche, bei jemanden Fremden und dann noch während einer Trauerfeier? Nein, das war nicht möglich!
Einerseits ärgerte es Sarah, dass sie nichts sah, anderseits war sie ihm irgendwie dankbar - wenn sie die Frau nicht sehen konnte, sah die Frau sie auch nicht…
Als die Orgel verstummte, stand der Pfarrer auf, trat auf die Kanzel und begrüßte die Trauernden. Sarah hörte ihm allerdings nicht zu. Obwohl sie die Regenmantelfrau nicht mehr im Blickfeld hatte, herrschte in ihr immer noch diese große Angst. Sie musste versuchen, dieses Gefühl irgendwie in den Griff zu kriegen, um nicht doch noch eine Panikattacke zu bekommen.
Kaum hörbar keuchte sie vor sich hin und presste die Hände noch fester in ihre Oberschenkel.
»Sich ausschließlich auf das Ein- und Ausatmen zu konzentrieren, hilft«, flüsterte der unbekannte Junge. Unvermittelt schreckte Sarah hoch und schaute in seine wunderschönen, grauen Augen.
»Die Trauer überkommt einem oft unerwartet. Ich kenne das. Mir hilft es, die Augen zu schließen und sich ausschließlich auf den Atem zu konzentrieren.«
Sarah musterte ihn verwirrt. Dachte er, sie hätte eine Panikattacke wegen der Beerdigung?
Die schwarzen Punkte vor ihren Augen tänzelten weiterhin umher und schienen nicht die Absicht zu haben, zu verschwinden.
»Vielleicht hilft es auch dir«, sagte der Junge sanft. »Außer du möchtest natürlich schreiend aus der Kirche stürmen und alle Augen auf dich ziehen.« Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel, als er ihre perplexe Reaktion sah.
Wie konnte er davon wissen? Nichts ängstigte sie mehr, als keine Kontrolle mehr über sich zu haben und wie ein Fluchttier hinaus zu stürzen. Okay, nicht ganz! Das kam direkt nach diesen schrecklichen untoten Menschen, die hier umherirrten. Die grauen Augen des mysteriösen Jungen ruhten gelassen auf ihr.
»Versuch es«, forderte er sie im Flüsterton auf, wobei er sich leicht zu ihr hinüberlehnte. »Es wird bestimmt auch dir helfen.«
Als ob sie ihm unbewusst gehorchte, senkte sie den Kopf und schloss die Augen. Ihr Atem war immer noch viel zu oberflächlich und hastig. Das Gefühl, kaum Luft zu kriegen befahl ihren Lungen, noch schneller zu arbeiten, was leider das genaue Gegenteil auslöste.
Sarah versuchte, die Worte des Pfarrers, die überfüllte Kirche und den Jungen neben sich auszublenden. Sie wollte sich nur noch auf ihren Atem konzentrieren. Tief einatmen, tief ausatmen, tief einatmen, tief ausatmen.
Zu Beginn schlichen sich die Worte der Predigt zurück in ihr Ohr und Bewusstsein, doch mit der Zeit gelang es ihr, sich vollumfänglich mit der Atmung zu beschäftigen. Ausatmen, einatmen. Ausatmen, einatmen.
Mit jedem Atemzug trat Stück für Stück mehr Ruhe in ihr Inneres. Das rasende Herz beruhigte sich und die zitternden Hände auf den Oberschenkeln entspannten sich immer mehr. Es war ein angenehmes Gefühl so in die Gelassenheit zu kommen. Sarah hatte es nicht für möglich gehalten, doch der Trick des Jungen funktionierte.
Sarah wusste nicht, wie lange sie mit niedergeschlagenen Lidern dasaß. Sie öffnete ihre Augen erst wieder, als sich alles in ihr beruhigte und sie sich restlos entspannt fühlte. Langsam hob sie den Kopf. Der blonde Junge saß immer noch neben ihr und hörte dem Pfarrer zu, wie dieser ein Gedicht des Verstorbenen las. Er lächelte dabei liebevoll. Sarah musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er sah irgendwie gut aus mit seinen markanten Gesichtszügen, den vollen Lippen und langen Augenwimpern. Am linken Ohrenläppchen bemerkte sie einen silbernen, runden Ohrring. Als ob er ihren Blick auf sich spürte, wandte der Junge seinen Kopf und schmunzelte.
»Geht’s wieder?«
Ertappt errötete sie, hielt aber seinem Blick stand. Hatte er die ganze Zeit gewusst, dass sie ihn beobachtete? »Alles wieder ok?«
Sie nickte knapp. Erstaunlich! Ihre Panikattacke war durch seine Hilfe spurlos verschwunden - genau wie vorhin, als ihre Nachbarin sie angelächelt hatte. Hatten die beide einen Trick, oder einfach eine unglaublich beruhigende Aura, die alles um sie herum in Harmonie versetzte? Sarah runzelte die Stirn. Was auch immer es war, seine Anwesenheit half ihr, ihre Angst zu bändigen. Als ihre Gedanken kurz zur Frau im Regenmantel wanderten, beschleunigte sich Sarahs Puls wieder. Anstatt die Fingernägel in die Oberschenkel zu drücken, heftete sie ihren Blick an die grauen Augen des Jungen, die sie stumm musterten. Auf irgendeine Weise gab er ihr die Sicherheit, diese Trauerfeier, ohne schreienden Akt der Panik durchzustehen. Sie schüttelte innerlich den Kopf. Sie konnte einfach nicht glauben, was für eine Wirkung sein Dasein hatte.
Die Orgel spielte ein neues Lied. Der Junge wandte seinen Blick zur Decke, schloss die Augen und lauschte der Musik. Er schien im Klang des Instruments förmlich zu versinken. Aus Höflichkeit, und um ihn nicht wie eine nicht ganz dichte, leicht in Panik versetzbare Irre, anzustarren, begann Sarah ihre verkrampften Hände zu massieren. Ohne Frage, sie hätte nur zu gern ihren Sitznachbarn eingehender studiert. Sie konnte es nicht genau definieren, aber sie fühlte es: Irgendetwas war an dem Jungen besonders. War es der Grund, dass er für einen Trauernden äußerst gelassen wirkte? Oder fand sie es eigenartig, dass er ihre Situation gleich richtig interpretierte, obwohl sie sich nicht kannten? Das Letzte war vermutlich nicht schwer zu erraten. Gewiss war ihr vorhin die Panik ins Gesicht geschrieben. Unter Umständen war es aber auch die Tatsache, dass sie noch nie einem Jungen begegnete, der sich von den Klängen der Orgel tragen ließ. Wer hörte in ihrem Alter schon Orgelmusik? Sarah runzelte die Stirn. Wirklich ein eigenartiger Junge!
Obwohl sie diese Art von Musik nicht besonders mochte, versuchte sie darin das zu erkennen, was ihren Sitznachbarn faszinierte. Als sie stumm den Klängen lauschte, trat ihr immer wieder das Bild der Regenmantelfrau vor Augen. Ausatmen, einatmen. Ausatmen, einatmen. Diesmal schoss ihr Puls nicht gleich in die Höhe und keinerlei Zeichen von Panik breitete sich in ihren Körper aus. Unglaublich! Es wirkte ernsthaft!
Als Frau Benner sich kurz umdrehte, musterte sie Sarah kritisch. Sie stutzte. Was hatte ihre Nachbarin veranlasst, sich während des Orgelspiels umzudrehen und sie mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht zu betrachten? Hatte sie - wie auch immer - mitgekriegt, dass sie vorhin beinahe aus der Kirche gestürmt wäre? Oder störte sie das Geflüster ihres Sitznachbars? Das konnte allerdings nicht möglich sein. Er sprach so dezent, dass nicht mal ihre Mutter intervenierte. Würde diese bemerken, dass ihre Tochter sich während einer Trauerfeier mit jemanden unterhielt, hätte sie es gleich unterbunden. Was war also der Auslöser für diesen Blick?
Ohne weitere Aktion wandte sich Frau Benner wieder zum Altar und lauschte den Worten des Pfarrers, der mit seiner Andacht fortfuhr.
»Schau dir diese Menschen an«, flüsterte Sarahs Sitznachbar. Sie drehte den Kopf und musterte ihn interessiert. »Sie hören die Worte des Pfarrers, doch verstehen sie das Gesagte auch wirklich?« Er blickte zu ihr hinüber und sah sie durchdringend an. »Lassen sie die Worte überhaupt in die Nähe ihrer Herzen?« Er hob die Augenbrauen. War das eine Frage? Wollte er eine Antwort von ihr? Was sollte sie ihm sagen? Sie hatte kein Wort des Pfarrers mitbekommen. Außer der Orgelmusik hatte sie von der gesamten Trauerfeier noch gar nichts aufgeschnappt.
»Die meisten tun es nicht«, beantwortete der Junge seine Frage selbst. Langsam ließ er seinen Blick über die Trauergäste schweifen. »Sie sind viel zu sehr mit ihren Selbstzweifeln beschäftigt, um das Herz zu spüren.« Er machte eine Pause. »Habe ich mich genug um ihn gekümmert, als er noch lebte? Habe ich ihm oft genug gesagt, dass ich ihn liebe? Hätte ich ihn öfter besuchen sollen?« Der Junge sah zu Sarah. »All diese Fragen, die in diesem Moment komplett unwichtig sind, kreisen in den Köpfen der Trauernden und lassen sie nicht fühlen. Dabei sind diese Fragen alle egal! Es war so, wie es war. Es gibt nichts mehr zu ändern! Warum also seine Gedanken mit Schwere und Selbstvorwürfen quälen?« Sarah verzog spöttisch den Mund. »Ist es nicht so?«
Nicht wissend was sie darauf antworten sollte, zuckte sie kurz mit den Schultern. Sie hatte sich diese Fragen noch nie gestellt. Wie auch, dies war ihre erste Beerdigung. Und Herr Benner war auch kein Verwandter. Vielleicht quälten sich die Anwesenden mit diesen Fragen, doch sie nicht. Sie war nur hier, weil sie von ihrer Mutter gezwungen wurde – aber das konnte sie dem Jungen schlecht als Antwort geben. Schließlich wusste sie nicht, wie nahe er der Familie stand. Sie wollte verhindern, dass er sich bei ihrer Nachbarin beklagte und die wiederum bei ihrer Mutter. Das gäbe einen riesen Ärger. Der Junge warf nochmals einen Blick über die Trauernden.
»Man sollte sich nicht mit Selbstvorwürfen quälen«, wiederholte er. »Aber es gelingt einem nicht«, fügte er leise, mit einem Hauch Verbitterung dazu. Sarah musterte ihn stumm. Als er keine Anstalten mehr machte sich mit ihr zu unterhalten, richtete sie ihre Aufmerksamkeit dem Pfarrer zu, in der Hoffnung, dass der Gottesdienst bald enden würde.
Nach einer Stunde, die sich elend lang anfühlte, und in der, der sonderbare Junge kein Wort mehr gesagt hatte, drehte er sich plötzlich wieder ihr zu.
»Ich muss jetzt gehen. Denke an die Atemübung, sie wird dir helfen, den Rest der Andacht durchzustehen.« Sarah nickte perplex. Er kam zu spät und ging zu früh? Das war bei einer Beerdigung nicht üblich und sicher nicht das, was Frau Benner wünschte.
»Man sieht sich.« Er zwinkerte ihr zu, stand auf und lief gemächlich den Bankreihen entlang zum Ausgang. Keiner der anderen Anwesenden würdigte ihn eines Blickes.
Sarah sah ihm nach. Irgendetwas in ihr wollte nicht, dass er ging. So alleine, ohne ihr menschliches Schutzschild fühlte sie sich beinahe nackt. Was für ein eigenartiger Junge!
»Was soll das?«, zischte ihre Mutter leise und zog an ihren Arm. »Benimm dich und setz dich anständig hin! Was sollen die Anderen denken?« Sarah wandte sich nach vorne um. »Tu wenigstens so, als würde dich die Predigt interessieren! Du musst den Trauergästen ja nicht direkt unter die Nase reiben, dass du kein Interesse daran hast!«
»Tut mir leid.« Sarah legte ihre Hände in den Schoss und schaute zum Pfarrer. Seine Worte drangen jedoch nicht bis zu ihr. Ihre Gedanken kreisten ständig um diesen eigenartigen, blonden Jungen. Sie verstand nicht, warum er sich ausgerechnet neben sie in die fünfte Reihe setzte, um dann kurz vor Andachtsende zu verschwinden. War er unter Umständen mit der Situation überfordert? Wohl nicht. Er hatte auf sie eher gefasst gewirkt. Möglicherweise war er aber ein Meister darin, seine Gefühle zu verbergen, und hatte es nicht länger ausgehalten. Vermutlich saß er jetzt in irgendeiner Ecke und weinte sich vor Trauer um Herrn Benner das Herz aus der Brust.
Nachdem das letzte Orgellied ausklang, eilte Sarah, so schnell es ihre Mutter zuließ, aus der Kirche. Auch wenn die Anwesenheit des »menschlichen Schutzschildes« ihr half, mit der Situation klar zu kommen, keimte nach seinem Verschwinden wieder eine Beklemmung in ihr auf. Vor Angst, diese könnte sich erneut in eine Attacke wandeln, wollte sie nur noch so schnell wie möglich hinaus.
Sarah hatte eigentlich fest damit gerechnet, den Jungen außerhalb der Kirche ein weiteres Mal anzutreffen. Irgendwie hatte sie es sogar gehofft. Als die Trauergäste auf dem Platz vor dem Gotteshaus Frau Benner ihr Beileid bekundeten, schweiften ihre Blicke über die Anwesenden. Er war nirgends zu sehen. Enttäuschung schlich sich ein. Aber wieso? Wollte sie wirklich wissen, ob er in einer Ecke weinte? Oder wollte sie ihm lediglich für seine Hilfe danken? Sie war sich selbst nicht ganz klar darüber. Sie kam allerdings nicht mehr dazu, länger darüber nachzudenken. Augenblicklich wurden ihre Gedanken an den Jungen, durch eine Person überschattet, die sie hier nie erwartet hätte. In Sarah zog sich alles zusammen. Was tut sie hier?
In der Nähe des Parkplatzes stand die Anführerin der Gruftschwestern und starrte zu ihr hinüber. Wie immer trug sie eines dieser schwarzen Gothic-Kleider. Etwas anderes schien sie in ihrem Kleiderschrank nicht hängen zu haben. An ihren Ohren hingen umgekehrte Kreuze und um den Hals trug sie ein Lederband mit Stacheln. Der bodenlange, samtene Mantel war vorne kürzer geschnitten und hinten von einer kurzen Schleppe eingerahmt. Überall waren detailverliebte Schnallen und Applikationen eingefügt. Die Kapuze war groß und aus schwarzem Kunstfell. Eigentlich gefiel Sarah diese Art Mantel, aber nicht, wenn er um den Körper von Nancy geschmiegt war. Schon am ersten Schultag vor einem halben Jahr, als sie die Neue war, fielen ihr die drei Gruftschwestern auf. Sie trugen nur schwarze Kleidung und wurden von allen Mitschülern gemieden. Dass diese besondere Kleiderwahl in einem so kleinen, konservativen Dorf wie Wanora überhaupt geduldet wurde, war schon außergewöhnlich.
Nancy strahlte etwas Angsteinflößendes, Dunkles aus. Zuerst dachte Sarah, sie würde es sich nur einbilden, bis Paula, ihre mittlerweile beste Freundin, ihr das Gefühl bestätigte. Das einzig Gute war, dass die drei Gruftschwestern - so wie sie von allen hinter vorbehaltender Hand genannt wurden - unter sich blieben. Sie hatten kein Interesse an Kontakt mit anderen und achteten nur auf sich selbst, was auch allen recht war. Umso Eigenartiger, dass Nancy sie nun so durchdringend anstarrte. Sie hatte von ihr sonst noch nie Notiz genommen. Wieso ausgerechnet jetzt?
Sarah musterte sie stirnrunzelnd. War sie unter Umständen eine Verwandte von Herr Benner? Da sie die anderen Trauergäste in der Kirche nicht groß beachtete, konnte sie sich ihre eigene Frage nicht beantworten. Was sie allerdings wusste, war, das Nancys Blicke sie frösteln ließ – oder war das nur der Wind?
Sarah zuckte zusammen, als die Mutter ihr die Hand auf den Rücken legte und sie vorwärtsdrängte. Da sie sich zu den Freunden von Frau Benner zählte, standen sie logischerweise in der Schlange der Trauergäste, die Frau Benner ihre Aufwartung machen wollten, und warteten in der Kälte, bis sie an der Reihe waren.
»Unser herzliches Beileid, liebe Frau Benner«, hörte Sarah ihre Mutter neben sich säuseln. Sie hielt allerdings ihre Augen immer noch auf Nancy gerichtet. Sie stand da wie eine aus Stein gehauene Statue und starrte. Aber wieso?
»Es tut mir so unendlich leid. Wenn wir etwas für Sie tun können, dann kommen Sie bitte auf uns zu. Wir unterstützen Sie gerne in dieser schweren Zeit. Nicht wahr, Sarah?« Ihre Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter und drückte kurz aber heftig zu, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. Perplex drehte sich Sarah zu ihrer Nachbarin.
»Äh, wie bitte?«, fragte sie irritiert. Ihre Mutter warf ihr einen bitterbösen Blick zu. Frau Benner dagegen tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass Sarah mit den Gedanken irgendwo anders war. »Es freut mich, dass du zur Andacht gekommen bist. Wie ich gesehen habe, hast du die Bekanntschaft mit Gabriel gemacht.« Sarah zog verwirrt die Stirn kraus. »Der blonde Junge, der neben dir saß«, erklärte Frau Benner.
»Ach so, ja.« Sie lächelte verlegen. Aha, Gabriel hieß er also. Und wer genau war er? Wahrscheinlich stand ihr die Frage im Gesicht, denn die Nachbarin fuhr lächelnd fort: »Wahrscheinlich weißt du das nicht, aber er ist mein Enkel.« Sarahs Mutter schaute irritiert zwischen Tochter und Nachbarin hin und her.
»Er ist nett«, erwiderte Sarah freundlich. Der Junge ist ihr Enkel. Kein Wunder, dass ihn diese entspannte Aura umgibt - muss in der Familie liegen.
»Das ist er«, meinte Frau Benner und musterte sie, wobei sie diesen eigenartig besorgten Blick aufsetzte. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Hatte sie etwas Falsches getan? War sie verärgert, weil sie mit ihrem Enkel gesprochen hatte? Na ja, eigentlich hatte er ja gesprochen und sie lediglich zugehört. Hatte das ihre Nachbarin trotz allem gestört?
Ihre Mutter verabschiedete sich und zog Sarah beiseite, und gab so den anderen Trauergästen die Möglichkeit zu kondolieren. Als sie genug weit wegstanden, damit niemand ihre Unterhaltung mitanhören konnte, funkelte sie ihre Tochter wütend an.
»Kannst du mich bitte loslassen?«, bat Sarah und entzog ihren Arm aus ihrem straffen Griff.
»Wir stehen an um Frau Benner unser Beileid auszusprechen und du hast nichts Weiteres im Sinn als gedankenversunken umherzublicken? Willst du mich eigentlich vor unserer Nachbarin bloßstellen?«, zischte sie. »Sag jetzt nichts! Lass uns einfach gehen!« Super! Wieder einmal kassierte sie den Anschiss für etwas, woran sie unschuldig war! Nicht sie war schuld, sondern Nancy! Sie stutzte. Wo war sie?
Sarah schaute sich verstohlen um, als sie ihrer Mutter wortlos zum Parkplatz folgte. Vorhin stand die Gruftschwester noch auf demselben Weg. Jetzt fehlte aber von ihr jede Spur.
Genau wie von Gabriel!
Sarah saß müde am Frühstückstisch und fütterte Bianca mit einem Getreidebrei. Zwischendurch biss sie von ihrem Marmeladenbrot ab oder trank einen Schluck Kaffee. Der gestrige Tag ging ihr
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: @Sandra Berger 2017
Bildmaterialien: Claudia Schröder, Sascha Schröder
Cover: Sandra Berger
Lektorat: Claudia Schröder, Sascha Schröder
Satz: Claudia Schröder, Sascha Schröder
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2018
ISBN: 978-3-7438-7110-6
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Widmung:
Im Gedenken an meine Eltern