»Ok, Caro, schildere bitte, wohin dich dein Traum geführt hat«, meinte die Therapeutin interessiert.
Sie saß wie immer mit übereinandergeschlagenen Beinen und einem Schreibblock auf den Oberschenkeln, auf ihrem schwarzen, ledernen Sessel. Ihr Äußeres war enorm gepflegt: weiße Bluse, knielanger, brauner Rock und High Heels. Das kastanienbraune, lange Haar hatte sie sorgfältig zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In der linken Hand, welche auf dem Block ruhte, hielt sie ihren eleganten, silbernen Füllfederhalter bereit.
Caro saß ihr gegenüber auf einem weiteren schwarzen Sessel. Unruhig kaute sie auf der Unterlippe.
Sie war nervös, wie jedes Mal, wenn sie bei Frau Hoffmann saß. Obwohl die Therapeutin überaus freundlich war, hatte sich Caro immer noch nicht daran gewöhnt, mit einer fremden Person über persönliche Sachen zu sprechen.
Die Psychologin nickte aufmunternd.
Caro seufzte und begann, mit ihren Fingernägeln zu spielen. »Wir befanden uns in den Bergen«, sagte sie leise. »Sebastian und ich waren klettern. Das ist überhaupt nicht mein Ding, allerdings waren wir wirklich gut. Wir kletterten die Felswand empor, als hätten wir das schon immer gekonnt. Naja, mir ist klar, dass man im Traum Dinge tut, die man in der Realität nicht kann. Es fühlte sich einfach so echt an.« Caro biss sich angespannt auf die Lippe.
»Habt ihr miteinander gesprochen?«
»Nein«, erwiderte Caro. »Niemand sagte etwas – so wie immer.«
»Und was geschah anschließend?«, fragte Frau Hoffmann.
»Wir erklommen wie gesagt die Felswand. Nachdem wir oben auf der Plattform waren, nahm mich Sebastian in den Arm und …«, Caro strich sich verlegen über die leicht geröteten Wangen, »… küsste mich innig.«
Die Psychologin schrieb nickend eine Notiz auf ihren Block. »Und weiter?«
»Dann war er plötzlich da…!« Caros Stimme brach bei den letzten Worten. Sie wollte nicht davon erzählen – nicht schon wieder!
Nervös spielte sie mit einem Nagelhäutchen.
»Wie ging der Traum weiter?«, fragte Frau Hoffmann mit ruhiger Stimme.
»Na, wie wohl! So wie es immer endet!« Caro biss sich auf die Lippen, dass es fast weh tat. »Sie wissen doch, wie!«
»Ich möchte, dass du es mir beschreibst.«
Beschämt senkte Caro den Kopf. »Er hat mich ohne Vorwarnung die Plattform hinuntergeworfen.« Tränen rannen ihr über die Wangen, die sie barsch mit dem Handrücken entfernte. »Ich fiel und fiel …«, Sie schluckte beklommen. »Ich hatte Todesangst vor dem Aufprall am Boden!« Nervös strich Caro sich zitternd durch die Haare. »Ich …« Ihre Stimme brach erneut.
Neben ihrem Sessel befand sich ein kleiner Beistelltisch mit einer Box Taschentücher. Sie nahm eines heraus, schnäuzte kräftig und warf das Papiertaschentuch in den Abfalleimer darunter. Die Therapeutin beobachtete sie währenddessen geduldig.
Als sich Caro wieder gefangen hatte, fuhr sie fort. Sie wollte es im Prinzip nicht, allerdings fühlte es sich jedes Mal so befreiend an, dass sie es doch tat. »Ich war ein weiteres Mal dort …« Neue Tränen schwammen in ihren Augen. Befangen presste sie die Lippen aufeinander.
»Sprich weiter, Caro«, ermutigte sie die Psychologin, »erzähl mir von deinem Traum.«
»Es war wie immer!« Sie schluchzte. »Um mich befanden sich überall Flammen! Sie kamen näher und näher, bis ich restlos von ihnen umhüllt war!« Caro weinte bitterlich. »Sie haben mich gequält und fortwährend an meinem Körper gezehrt, bis sie mein Herz erreichten!«
»Und was war mit dem Jungen?«
»Na, was wohl! Er schaute wie immer zu!« Caro schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich will diese Fragen nicht beantworten! Ich will das nicht mehr!« Sie schniefte erneut und nahm ein weiteres Taschentuch.
Die Psychologin schrieb irgendwelche Notizen auf ihren Schreibblock. »Und du bist dir wirklich sicher, dass dich nichts belastet? Keine Probleme in der Schule, mit deinen Eltern oder deinem Freund?« Caro schüttelte vehement den Kopf. »Drängt er dich allenfalls zu etwas, was du nicht möchtest?« Verdattert warf sie der Therapeutin einen kurzen Blick zu.
Wie bitte?
»Drängt er dich vielleicht, mit ihm ins Bett zu gehen?«
Eine verlegene Röte schoss Caro in die Wagen und sie senkte beschämt den Blick zu Boden. »Nein, das tut er nicht.«
Ich werde sicherlich nicht mit ihr über mein Liebesleben sprechen!, entgegnete sie gedanklich. Als ob sie das irgendetwas angeht!
»Bist du dir ganz sicher? Weißt du, es ist normal …«
»Ich habe doch gesagt, dass er das nicht tut!«, unterbrach sie die Psychologin forsch. »Kann ich jetzt gehen? Ich glaube, ich werde jetzt einfach gehen!«
Ohne die Antwort abzuwarten, warf Caro entschlossen das Taschentuch in den Papierkorb und stand auf.
»Die Sitzung ist noch nicht zu Ende«, erwähnte Frau Hoffmann und betrachtete ihre Klientin durchdringend. »Und ob sie das ist!«, zischte Caro, während sie sich die letzte Träne aus dem Gesicht wischte. »Ich bin schließlich alt genug, um das eigenständig zu entscheiden! Auf Wiedersehen!« Sie wandte sich um und ging zur Türe.
»Wie du meinst, Caro. Es ist deine freie Entscheidung!«
Und ob es meine verfluchte Entscheidung ist!, dachte Caro und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Wütend stampfte sie den Flur entlang. Als ob ich zulasse, dass sie Sebastian da hineinzieht! Sie schüttelte energisch den Kopf! Ausgerechnet Sebastian! »Es gibt keinen anderen Menschen, der besser verstehen kann, was ich durchmache!«, sprach sie leise zu sich.
Gedankenversunken blieb sie vor dem Fahrstuhl stehen und starrte in ihr Spiegelbild, welches von der metallenen Tür widergespiegelt wurde. Langsam ließ sie dabei die Luft aus ihren Lungen entweichen.
Egal, was Chelsy sagt; ich bin nicht verrückt, auch wenn ich zu einer Psychologin gehe!
Mit einem lauten »Ping« öffnete sich der Fahrstuhl und ein untersetzter, kleiner Mann schaute erwartungsvoll hinaus. Er lächelte freundlich und rückte auf der Stelle etwas zur Seite. Caro schüttelte jedoch vehement den Kopf. »Danke, aber ich nehme die Treppe!«, erklärte sie und steuerte geradewegs zum Treppenhaus. Keine Zehn Pferde kriegen mich in diesen Fahrstuhl! Ich war schon mal eingesperrt! Das genügt mir!
Hastig sprang Caro die Treppen hinunter. Sie hatte für diese Woche genug von diesem Gebäude und ihrer Therapeutin. Sie wollte einfach alles hinter sich lassen und auf andere, bessere Gedanken kommen. Und sie wusste, das würde sie auch gleich. Ein wissendes Lächeln breitete sich auf ihrem durch das Weinen leicht geröteten Gesicht aus.
Sie schob die Tür des Treppenhauses auf und spähte ungeduldig zu der gläsernen Eingangstür. Ob er schon da ist? Aller Voraussicht nach nicht, zumal die Therapiesitzung eigentlich noch 15 Minuten andauerte.
Caro näherte sich der Tür und begann augenblicklich zu strahlen. Sie hatte sich geirrt! Er war da!
Den Rücken ihr zugekehrt, stand er gleich neben dem Eingang und beobachtete die vorbeifahrenden Wagen. Wahrscheinlich träumte er mit offenen Augen von seinem Traumauto.
Ihr Herz machte einen kleinen Luftsprung. Sein Anblick verzauberte sie jedes Mal aufs Neue.
Rasch überquerte sie den marmornen Flur und öffnete die Glastür. »Sebastian!«, rief sie freudestrahlend. Ein blonder Junge mit haselnussbraunen Augen drehte sich überrascht zu ihr um. Als er sie allerdings erblickte, zeichnete sich ein glückliches Lächeln auf seinem Gesicht ab. Ungestüm schlang Caro die Arme um Sebastian und legte liebevoll ihren Kopf auf seine Brust. Zärtlich drückte er ihr einen Kuss auf die Haare und zog sie enger an sich.
»Konntest du früher gehen?«, fragte er überrascht. Caro schüttelte leicht den Kopf. »Ich ging, als ich genug von der Sitzung hatte.« Sebastian schmunzelte. »Das klingt danach, als hättest du sie im Griff. Müsste das ursprünglich nicht umgekehrt sein?« Caro legte den Kopf in den Nacken und schaute ihrem Freund tief in die Augen. »Nur weil sie meine Therapeutin ist, heißt das noch lange nicht, dass ich nach ihrer Pfeife tanze.«
»Ich weiß, Caro.« Liebevoll strich er ihr über das Haar. »Ich wollte dich doch nur ein bisschen necken.« Sebastian streichelte ihr behutsam über die Wange. »Du hast wieder geweint, nicht?«, fragte er bedrückt.
Caro senkte ihren Blick und nickte kaum merklich. »Ich weiß nicht, warum meine Eltern darauf bestehen, dass ich ihr jede Woche meine Träume verrate. Das Ganze ist schon so belastend genug.«
»Du musst versuchen, sie zu verstehen«, meinte Sebastian sanft.
Seine Freundin schnaubte. »Ich muss zur Psychologin, weil SIE Angst haben! Nicht umgekehrt!«
»Ist das nicht verständlich? Die Träume häufen sich und sie sorgen sich um dich.«
Caro erwiderte nichts, sondern legte ihren Kopf wieder an seine Brust.
»Wie viele sind es mittlerweile?«, fragte Sebastian sorgenvoll.
»Über hundert …«, gab Caro zur Antwort. Trotzig hob sie den Kopf. »Wie auch immer, meine Eltern müssen nicht …«
»Caro! Die Abstände werden Mal für Mal kürzer«, fiel er ihr ins Wort. »Angenommen du wärst an ihrer Stelle. Was würdest du tun, wenn dein Kind mitten in der Nacht so laut schreit, als ob es umgebracht würde?«
»Das werde ich ja auch!« Tränen brannten in ihren Augen. Doch sie wollte diese Tränen nicht – sie wollte sie nicht mehr! Sie hatte im letzten halben Jahr genug davon vergossen. Irgendwann war es genug!
Sebastian drückte sie sanft an sich und strich ihr beruhigend über den Rücken. Erschöpft legte Caro den Kopf auf seine Brust und seufzte laut. In seiner Nähe fühlte sie sich beschützt. Als ob ihre beiden Körper ein Schutzschild umgab, welches all die schlimmen Erlebnisse abwehren konnte.
»Meinst du, ich werde die Albträume eines Tages wieder los?«
Sebastian hob unwissend die Schultern. »Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es sehr. Dein Vater ist zumal der Meinung, ihr müsst nur den dazugehörigen Auslöser finden, dann verschwinden sie auch wieder.«
Caro legte den Kopf in den Nacken und schaute ihn besorgt an. »Und wenn wir ihn niemals finden? Ich weiß ja selbst nicht, warum jeder Traum damit endet, dass ich im Flammenmeer stehe und elend verbrenne! Ich verstehe es schlichtweg nicht!« Sie schüttelte deprimiert den Kopf. »Ich habe echt genug von dieser Sache, Sebastian. Ich bin es einfach leid. Es soll endlich Schluss damit sein!«
»Und das wird es, Caro, davon bin ich überzeugt!«
Sie lächelte matt. »Du klingst schon wie meine Therapeutin.«
Sebastian grinste. »Ich bin nicht nur dein persönlicher Therapeut, sondern auch dein persönlicher Kuschelbär …«, er drückte sie zärtlich an sich, »… dein persönlicher Küsser …«, er küsste ihr gesamtes Gesicht, wobei Caro belustigt kicherte, »… und dein Spielgefährte im Bett …«, er zwinkerte ihr wissend zu. Seine Freundin schüttelte lachend den Kopf. »Du bist unverbesserlich, Sebastian. Denkst nur an das eine!«
»Ich?« Gespielt erstaunt riss er die Augen weit auf. »Ich würde nie nur an das Eine denken! Nein, ich doch nicht!«
»Spinner!«, lachte Caro und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Lippen.
Als sie sich wieder lösen wollte, legte er hastig seine Hand in ihren Nacken und küsste sie ein zweites Mal innig. Sie schmunzelte entzückt und erwiderte seinen Kuss.
»Möchtest du noch irgendetwas Besonderes unternehmen, bevor ich los muss?«, fragte Sebastian, als er sie aus seiner Umarmung ließ.
»Ich finde es doof, dass du gehst«, meinte Caro freudlos.
»Es ist nur übers Wochenende«. Ihr Freund betrachtete sie aus liebevollen Augen.
»Ich weiß einfach nicht, wie ich eine ganze Woche mit meiner zickigen Cousine überstehen soll.«
»Du könntest immer noch mitkommen«, wandte Sebastian vorsichtig ein. Augenblicklich legte sich eine leichte Verbitterung über ihr Gesicht. »Du weißt, dass ich das nicht kann!« »Aber möglicherweise passiert es ja nicht. Es ist nur eine Nacht.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Nein! Es geht nicht!«
Sebastian atmete tief ein und zog seine Freundin zu sich her. Einfühlsam drückte er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.
»Versuche, deiner Cousine einfach aus dem Weg zu gehen. Ok?«
»Haha, sehr witzig«, raunte Caro und verzog das Gesicht. »Das ist ja so gut möglich, wenn man sich das gleiche Zimmer teilen muss!«
Bedrücktheit zeichnete sich auf Sebastians Gesichtszügen ab. »Meinst du, du kriegst das in dieser Zeit mit deinen Träumen hin?«
Sie hob unwissend die Schultern. »Naja, sie wissen es ja.« Caro strich ihm grübelnd über das Brustbein. »Und dennoch hoffe ich, dass ich keinen Albtraum habe. Meine Cousine bringt mich um, wenn ich ihren Schönheitsschlaf störe.« Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Als würde das bei der noch was bringen!«
Sebastian lachte auf. »Ich sehe, das wird eine interessante Woche. Ich hoffe, ihr überlebt es beide.« Er zwinkerte belustigt.
»Dass du mir in der Zwischenzeit auch keine andere anlachst, hörst du?«, bemerkte Caro und zupfte nervös an seinem Ärmel. Sebastian schaute ihr tief in die Augen und zog sie an seine Brust. »Als hätte ich das nötig!« Ein liebevolles Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich liebe dich.« Seine Hand legte sich besitzergreifend an ihren Hinterkopf, wobei er ihr sanft einen Kuss gab.
Die weiteren Stunden verbrachten Caro und Sebastian damit, engumschlungen auf ihrem Bett zu liegen und eine DVD zu schauen. Viel davon kriegten sie nicht mit. Sie waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich hingebungsvoll zu streicheln, Neckereien zuzuflüstern und sich abermals zärtlich zu küssen.
Die hölzerne Veranda vor Caros Elternhaus verbreitete eine Spur alte Film-Romantik, als sie nun dicht beieinander standen und sich verabschiedeten.
Entschlossen zog Caro ihren Freund an ihre Brust und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. »Schreibst du mir, sobald du da bist?« Sie musterte ihn bedrückt.
»Ich weiß leider nicht, ob wir dort Empfang haben.« »Ihr geht bloß campen und nicht auf eine Wildnis-Expedition! An irgendeiner Stelle wird es sicher Handyempfang geben!«
»Was heißt hier bloß?«, bemerkte Sebastian gespielt empört. »Ich werde dir sofort schreiben, wenn wir angekommen sind – egal ob mit oder ohne Empfang.«
Caro runzelte die Stirn, begann daraufhin zu lachen. »Versuchst du mich gerade zu veräppeln?« Sie gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter.
»Das würde ich nie tun!«, entgegnete er entrüstet und küsste sie anschließend ein weiteres Mal.
»Das DU mir anständig bleibst, wenn ich fort bin.« Er lächelte ab ihren Worten. »Als würde ICH irgendetwas Unanständiges tun!«
»Also, da könnte ich schon manche Dinge aufzählen …«, meinte sie. Gekünstelt hob er die Augenbrauen, um ein leichtes Entsetzen auf sein Gesicht zu zaubern. Caro lachte auf und gab ihm einen zweiten Klaps auf die Schulter.
»Fertig rumgeschmust jetzt!« Caros Vater trat mit Koffern beladen aus dem Haus. »Ihr bekommt noch wunde Lippen von eurem ständigen Rumgeknutsche.« Er zwinkerte belustigt.
»Etwa eifersüchtig?«, entgegnete seine Tochter verschmitzt und drückte ihrem Freund einen weiteren Kuss auf die Lippen. Der Vater grinste. »Was du kannst, das beherrsche ich nicht erst seit gestern!« Er schlang die Arme um seine Frau, die in diesem Moment aus der Tür trat, und gab ihr einen dicken Schmatz. Überrascht riss diese die Augen weit auf.
Caro und Sebastian prusteten ob dieses Schauspiels lauthals heraus. Als der Vater seine Frau wieder losließ, fiel er in das Lachen mit ein.
»Habe ich irgendwas verpasst?«, fragte die Mutter verdutzt. »Nein nein, Thea.« Ihr Ehemann schüttelte den Kopf. »Ich wollte der heutigen Jugend nur zeigen, dass wir es noch genauso drauf haben wie sie!« Er zwinkerte seiner Tochter amüsiert zu.
»Aha ...« Seine Frau krauste die Stirn. »Ihr seid beide die genau gleichen Spaßvögel. Wie der Vater so die Tochter!«
»Und der Spaßvogel-Vater findet jetzt, dass wir gehen sollten. Unser Wellness-Hotel wartet!« Er trat zu Caro und umarmte sie liebevoll. »Dass du mir keine Dummheiten machst bei Tante Sophie, verstanden?«
»Dad!« Caro warf ihm einen empörten Blick zu. »Ich bin 17 und kein kleines Kind mehr!«
»Aber immer noch jung genug, um einen Streit mit deiner Cousine auszutragen!« Seine Tochter verdrehte missmutig die Augen.
»Ach, lass sie, Peter! Caro wird sich mit Chelsy schon wieder vertragen, nicht? Schließlich wart ihr mal beste Freundinnen.« »Ja, Mum, und da waren wir zwei Jahre oder so ...«, meinte Caro kopfschüttelnd.
»Egal! Ich wünsche dir in jedem Fall einen schönen Aufenthalt bei deiner Tante. Grüße sie alle von uns, in Ordnung?« Die Mutter drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Ja Mum, ich werde es ausrichten.«
»Genieße das Camping, Sebastian!« Caros Vater klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Vielen Dank, das werde ich.«
»Auf Wiedersehen, Sebastian.« Die Mutter drückte auch ihm einen Kuss auf die Wange. Angewidert verzog er leicht das Gesicht. Caro kicherte.
Freudestrahlend setzte sich Thea zu ihrem Ehemann in den Wagen. Dieser nickte den Jugendlichen zum Abschied nochmals zu und fuhr los.
Als der Wagen hinter der Kurve verschwand, wandte sich Sebastian Caro zu. Zärtlich strich er ihr über den Arm. »Ich muss auch los.« »Jetzt schon?« Er nickte. »Ich muss um zwei bei Reto sein, sonst fahren sie unter Umständen ohne mich.« Er gab ihr einen von Liebe erfüllten Kuss. »Ich werde dir schreiben, wenn es möglich ist. Versprochen.« »Ich liebe dich«, hauchte Caro und drückte ihre Lippen auf seine. »Ich liebe dich immer einmal mehr!« Ihr Freund zwinkerte amüsiert.
»Haha, sehr witzig!« Sie kicherte. »Mach das du wegkommst!«
Sebastians Rad stand an die Veranda gelehnt. Elegant hob er sein Bein und schwang sich in den Sattel.
»Und dass du mir ja anständig bleibst!« Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Keine Mädchenprügeleien! Vor allem, wenn ich nicht zusehen kann!« »Verschwinde jetzt«, schimpfte Caro lachend.
Sebastian trat grinsend in die Pedale. Zum Abschied drehte er sich nochmals um und schenkte ihr einen Luftkuss. Caro lächelte und sah ihm nach, bis auch er hinter der Kurve verschwand.
Seufzend wandte sie sich dem leeren Haus zu und ging langsam die Verandatreppen hoch. »Und da war es nur noch eine ...«, sagte sie zu sich selber.
Die Hand auf den Türknopf gelegt, blickte sie wehmütig über die Schulter zurück an den Ort, wo vorhin Sebastians Fahrrad stand. Verwundert runzelte sie die Stirn.
Ist da nicht gerade jemand um die Ecke gerannt?
Caro zog fragend die Augenbrauen hoch. »Na toll! Jetzt sehe ich schon Gespenster«, murmelte sie und öffnete die Haustür.
Ein entsetzter Schrei entfuhr augenblicklich ihrer Kehle. Ein Junge mit braunen gekrausten Haaren und blauen Augen stand direkt vor ihr. Wütend funkelte er sie an.
Von Panik ergriffen, drehte sich Caro ruckartig um und rannte die Verandatreppen hinunter. Sie wollte auf dem schnellsten Weg fort von ihm.
Auf der letzten Stufe strauchelte sie allerdings und fiel vornüber auf die Knie. Ein heftiger Schmerz durchzog unverzüglich ihren Körper. Stöhnend rollte sie sich auf die Seite. Das Herz schlug zehn Mal so schnell wie normal in ihrer Brust. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen weit aufgerissen. Mit dem Gefühl, nicht richtig atmen zu können, blickte Caro ängstlich zu der offenstehenden Tür.
Nichts! Da stand kein Junge! Niemand war zu sehen!
Verstört rappelte sie sich hoch. Ihr Knie pochte immer noch vor Schmerz, doch sie schenkte ihm keine Beachtung. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um den Jungen.
Ist er wirklich in der Tür gestanden? Aufgewühlt strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Das ist nicht möglich! Er kann nicht hier sein!
»Er ist nur ein Erzeugnis deiner Albträume!«, wiederholte sie die Worte, welche die Psychologin jeweils benützte. »Er ist nicht real! Er ist NICHT real!«
Entsetzt schüttelte sie den Kopf. »Jetzt klinge ich bereits wie Frau Hoffmann!« Caro schnaubte laut.
Ihren besorgten Blick auf die offenstehende Tür gerichtet, ging sie vorsichtig die Treppen hinauf. Ihr geschundenes Knie zitterte leicht.
Und was, wenn sich der Junge womöglich noch im Haus befindet?
Caro schüttelte erneut den Kopf. Das war aber nicht möglich! Zumal er nur ein Produkt ihrer Fantasie war. Er konnte unmöglich hier sein!
»Und ich frage mich, warum meine Eltern mich zu einer Therapeutin schicken? Sie haben wirklich allen Grund dazu!«
Vorsichtig drückte sie die Tür weiter auf und spähte hinein.
Nichts! Da war nichts Ungewöhnliches!
Vor ihr befand sich ein Regal, an dem unzählige Jacken hingen, während sich darunter die Schuhe der gesamten Familie stapelten.
Langsam betrat Caro den Flur und äugte zu ihrer Rechten ins Wohnzimmer. Das perlfarbene Sofa mit dem Beistelltisch und dem Flachbildfernseher drauf, die Bilder an der Wand, die Vase von Großvater, welche direkt neben dem Fenster stand – alles war wie immer!
»Ich habe es mir nur eingebildet! Da ist nichts! Überhaupt nichts!«
Mit dem Griff nach ihrem Rucksack, der neben dem Stapel von Schuhen lag, atmete sie erleichtert auf.
Caro nahm den Schlüssel aus einem kleinen Holzkästchen an der Wand, trat aus dem Haus und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Nachdem sie abgeschlossen hatte, verstaute sie den Schlüssel in ihrem Rucksack.
Ihr Vater hatte zum Glück bereits gestern die große Reisetasche zur Tante gebracht. So hatte sie heute nur noch das Nötigste wie Pyjama, Schminkzeug, Handy und Brieftasche in den Rucksack gepackt.
Auf der letzten Verandastufe warf Caro einen verstohlenen Blick zur Haustür zurück. Sie konnte das gerade Geschehene einfach nicht vergessen.
Es war so real! Als ob er wahrhaftig vor mir stünde!
Caro versuchte, die Gedanken abzuschütteln, und ging zu ihrem Fahrrad, welches um die Ecke bei der Garage stand.
Auf eine Art empfand sie es nun trotz alledem als Erleichterung, die gesamte Woche bei ihren Verwandten zu verbringen. Nach diesem unheimlichen Erlebnis wollte sie nicht alleine im Haus sein. Nein, nicht nach dieser eigenartigen Begegnung mit dem Peiniger ihrer Albträume!
Caro stieg gerade vom Fahrrad, als die Haustüre ihrer Tante aufgerissen wurde und ihre Cousine herausstürzte. Oh nein, bitte nicht Chelsy!
Caro verdrehte seufzend die Augen.
Ihre Cousine stemmte genervt die Fäuste in die Taille und funkelte sie zornig an. Gerade erst hier und schon ein Wutanfall? Das konnte ja heiter werden!
»Na endlich!«, zischte Chelsy unfreundlich. »Weißt du eigentlich, wie lange wir schon auf dich warten?« Wortlos befestigte Caro das Sicherheitsschloss ums Rad. »Wegen dir werden wir die Letzten sein! Hast du eine Ahnung, wie peinlich das ist?« Caro blickte verdutzt zu Chelsy. Hatte sie etwas verpasst?
»Hörst du mir überhaupt zu?«, keifte ihre Cousine.
»Ja, das tue ich! Deine piepsige Stimme ist ja kaum zu überhören!«
»Du nuschelst! Hat man dir nie beigebracht, richtig zu sprechen?«
»Ach, halt doch die …«, Caro hielt augenblicklich inne und schluckte die restlichen Worte hinunter.
Eine kleine, schlanke Frau mit kurzen, blonden Haaren trat aus dem Haus und lächelte erfreut. »Caro!«, rief sie und streckte die Arme nach ihr aus. »Tante Sophie!« Sie umarmten sich freudestrahlend.
Chelsy verdrehte verärgert die Augen.
»Herzlich willkommen. Wir freuen uns sehr, dass du die Woche bei uns verbringst.«
»Du sprichst nur für dich!«, quietschte Chelsy hinter ihrem Rücken. Die Tante warf ihrer Tochter einen mahnenden Blick zu. »Wir freuen uns wirklich, Caro. Und zwar alle!«
Die Cousine verzog wortlos das Gesicht und ging beleidigt zurück ins Haus. »Chelsy ist nur sauer, weil sie schon lange aufs Fest will.« Die Tante lächelte wissend. »Der neue Nachbarsjunge hat es ihr angetan.«
Als würde mich das interessieren, dachte Caro.
»Linn feiert heute ihren 50sten Geburtstag, und wir sind alle eingeladen – du selbstverständlich auch.«
Caro seufzte leise. Musste das sein? Auf das verstaubte Fest einer 50-jährigen hatte sie keine Lust. Sie würde lieber mit ihrem Cousin am Computer zocken. Darauf hatte sie sich schon den ganzen Tag gefreut.
»Caro!«, rief ein 25-jähriger, durchtrainierter junger Mann plötzlich und umarmte sie stürmisch. »Cousin Lukas!«, rief sie laut. Die Tante lachte.
Der Mann löste die Umarmung und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Cousin Lukas? Das klingt viel zu alt!«
»Aus diesem Grund sage ich es ja«, grinste Caro.
»Das kriegst du zurück; du wirst schon sehen«, drohte er ihr spielerisch. »Warte nur ab, bis ich dich beim Zocken schlage; danach wirst du heulen wie ein kleines Baby!«
»Wir werden sehen!«, lachte sie.
»Kann das sein, dass meine kleine Cousine Mal für Mal frecher wird?«, fragte Lukas seine Mutter und tätschelte Caros Kopf.
»Hey! Wen nennst du hier klein?« Sie warf ihm einen gespielt trotzigen Blick zu.
Chelsy stand wieder in der Tür und schaute sie angewidert an. »Könnt ihr endlich mit diesem kindischen Getue aufhören! Euer Benehmen ist oberpeinlich!«
»Du stänkerst hier lediglich rum, weil du es nicht abwarten kannst, hinüber zu Arthur zu gehen«, neckte Lukas. »Ach, halt die Fresse!«, zischte seine Schwester.
»Lasst das Gezanke jetzt!«, mischte sich die Tante ins Gespräch.
»Können wir nun endlich gehen Mum? Sie ist ja nun da!« Chelsy hob fragend die Augenbrauen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Mutter seufzte.
»Wir legen deinen Rucksack ins Haus und gehen anschließend hinüber zu Linn. Ist das für dich ebenfalls in Ordnung, Caro?«
Habe ich denn überhaupt eine andere Wahl?
»Gib das Ding schon her!«, fauchte Chelsy und riss am Rucksack. »Ist ja gut!«, erwiderte Caro leicht verärgert und nahm ihn von den Schultern. Hastig entriss ihre Cousine ihn ihr, warf ihn im hohen Bogen ins Haus und zog die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss.
Caro riss entsetzt den Mund auf. Spinnt die?
»Chelsy!« Ihre Mutter funkelte sie empört an. »Da sind eh nur ein paar öde Kleidungsstücke drin. Es ist nicht schade darum!« Chelsy drehte sich auf dem Absatz um und schritt zum Nachbarshaus.
»Chelsy, würdest du bitte kurz warten!«, ihre Mutter ging ihr wütend nach.
Lukas stieß Caro belustigt den Ellbogen in die Seite. »Das war zu viel des Guten. Jetzt kriegt die Diva eine Standpauke.« Er grinste amüsiert.
Geschieht ihr recht!
»Komm, Cousinchen, wir gehen jetzt feiern!« Er legte charmant seinen Arm um ihre Schultern und führte sie lächelnd hinüber.
Das Haus der Nachbarn war hellblau gestrichen und sah von außen sehr freundlich und einladend aus.
»Es wird dir gefallen. Auf dieser Party gibt’s nicht nur verstaubte Alte, sondern auch Jungs in deinem Alter.« Lukas zwinkerte seiner Cousine vergnügt zu.
»Danke, ich habe bereits einen Freund.« «Ach ja, stimmt. Aber anschauen ist stets erlaubt, nicht?« Er lächelte keck. »Und wenn es Mutter nicht sieht, gibt’s auch Alkohol. Einverstanden?« Caro schüttelte kichernd den Kopf. »Du bist unübertrefflich, Lukas.« Er lachte sein kehliges Lachen, welches Caro so mochte, und zwinkerte ihr zu. »Sind Cousins nicht extra für sowas geboren worden?«
Chelsy und ihre Mutter standen ein Stück weit abseits des Nachbarhauses. Die Tante sprach mit ernstem Gesichtsausdruck auf ihre Tochter ein, während diese mit verschränkten Armen vor der Brust dastand und schmollte.
Das hast du nun davon! Niemand schmeißt ungestraft meinen Rucksack umher!
Als hätte Chelsy die Gedanken gehört, warf sie ihr genau in diesem Augenblick einen bitterbösen Blick zu. Caro wandte sich unbeeindruckt ab und musterte die weiße Haustüre der Nachbarn. Wohnte nicht früher eine alte Frau mit einem Schäferhund darin? Sie wusste es nicht mehr.
Lukas klingelte. Kurz Zeit später öffnete ein zehnjähriges Mädchen mit blonden Haaren und strahlend blauen Augen die Tür. Bei Lukas´ Anblick strahlte sie über das ganze Gesicht.
»Hi, Lyss!«
«Hi, Lukas!« Sie lächelte.
»Lyss, darf ich dich mit meiner Cousine Caro bekannt machen? Sie wird die ganze Woche bei uns wohnen. Ihre Eltern sind in einem Wellness-Hotel und wollten sie nicht alleine zu Hause lassen.« Er bückte sich zu dem Mädchen hinunter. »Offensichtlich fürchten sie sich davor, Caro würde bei ihrer Abwesenheit zu viele Partys feiern.« Lyss kicherte belustigt.
»Haha, sehr witzig!«, warf Caro ein. »Glaub ihm nur kein Wort! Er lügt!«
«Nichtsdestotrotz passe ich gerne auf meine kleine Cousine auf. Sie ist beim Zocken leicht zu besiegen. Dass sie eine Niete in Computerspielen ist, weißt du allerdings nicht von mir!« Er grinste amüsiert.
»Du bist wieder mal sehr charmant, Lukas.« Eine großgewachsene Frau mit blonden, schulterlangen Haaren war in diesem Moment in die geöffnete Tür getreten. Sie hatte die gleichen strahlend blauen Augen wie Lyss. Das muss ihre Mutter sein, dachte Caro.
»Hi, Linn! Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« »Vielen Dank, Lukas«, erwiderte sie strahlend. »Schön, dass du hier bist. Hast du deine Freundin mitgebracht?« Linn warf Caro einen von Neugier erfüllten Blick zu. Lukas verkniff sich ein Lachen. »Sie und meine Freundin? Nein danke!« Er stieß seiner Cousine spielerisch den Ellbogen in die Seite. »Das ist meine Cousine Caro. Sie wohnt eine Woche bei uns.«
»Weil ihre Eltern Angst haben, sie feiert zu viele Partys«, fügte Lyss keck hinzu.
»Äh, also Letzteres ist so nicht korrekt«, verteidigte sich Caro.
Linn lachte. »Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Sie schüttelte ihr die Hand. »Ebenfalls«, erwiderte Caro höflich. »Tretet doch ein. In der Küche gibt es reichlich zu trinken und zu essen. Es ist viel zu viel. Nehmt dementsprechend, so viel ihr wollt, ansonsten müssen wir den Rest der Woche Kuchen essen.«
»Hast du das gehört Cousinchen? Kuchen!« Lukas zog einige Male vielsagend die Augenbrauen hoch.
»Ah, da kommt ja deine Mutter. Hi, Sophie!«, rief Linn und winkte Caros Tante freudig zu.
»Komm, lass uns in die Küche gehen und schauen, ob es irgendetwas Hochprozentiges gibt. Verständlicherweise nur für mich – das ist klar.« Ihr Cousin zwinkerte lächelnd. Caro verdrehte kopfschüttelnd die Augen. »Du bist wirklich unmöglich!«, lachte sie.
Lukas trat ins Wohnzimmer und bahnte sich den Weg durch die vielen Gäste. Einige standen mit einem Getränk, irgendwelchen Häppchen oder Kuchen in der Hand in Grüppchen beieinander, andere wiederum saßen auf den beiden großen Sofas und unterhielten sich angeregt. Bei manchen hob Lukas grüßend die Hand oder nickte ihnen zu.
»Du kennst eine Menge von Linns Gästen. Sind eure Familien miteinander befreundet?«, fragte seine Cousine interessiert. »Linn und ich arbeiteten bis vor einigen Jahren in der gleichen Firma. Als ich ging, blieben wir in Kontakt. Durch mich haben sie außerdem erfahren, dass dieses Haus zum Verkauf stand.« »Und so wie ich dich kenne, hast du beim Verkäufer ein gutes Wort für sie eingelegt, nicht wahr?« »Gut geraten, Cousinchen.« Lukas schmunzelte. »Aber mal unter uns …« Caro trat etwas heran. »Hat Linn im Gesicht irgendetwas machen lassen? Ich meine, sie sieht nicht aus wie 50. Eher Ende 30.«
Ihr Cousin hob unwissend die Schultern. »Nicht, dass ich wüsste. Sie sah immer schon klasse aus. Und ihre Tochter wird eines Tages ebenfalls eine Schönheit; das sieht man bereits jetzt schon.« Seine Cousine nickte zustimmend. »Komm jetzt, ich muss was zwischen die Kiefer kriegen«, meinte Lukas und zog Caro zur Küche.
Die Küche war enorm. Die Schränke bestanden aus weißen und buchefarbenen Elementen und robusten Granitabdeckungen. Die Mittelkonsole, in dem sich der Kochherd und verschiedene Auflageflächen befanden, war über und über mit Kuchen, Cremes, belegten Brötchen und Salaten bedeckt. Caro riss bei der Menge an Essen die Augen weit auf. »Egal, wie viel die Gäste essen; deine Nachbarn werden definitiv noch tagelang davon haben!«
»Arthur!«, rief Lukas erfreut und trat zu einem Jungen, der vor der Spüle stand. Neugierig sah Caro ihrem Cousin nach. Als sie diesen Arthur erblickte, blieb ihr Herz unverzüglich kurz stehen. Bereits in der nächsten Sekunde begann es allerdings wie wild zu rasen, wobei ihr kalter Schweiß den Rücken hinunterlief. Ihre Knie wurden zu Pudding und ihr Atem stach in der Brust.
Was ist mit mir los?
Verwirrt starrte sie den Jungen an. Dieser warf ihr ebenfalls einen zweifelnden Blick zu. Seine grünen Augen funkelten wie zwei Smaragde in der Sonne, wohingegen sein Haar schwarz war wie Pech.
Die Furche zwischen seinen Augenbrauen wurde sekündlich ausgeprägter, wobei er sie nicht aus seinem Blickfeld ließ. Der Brustkorb hob und senkte sich hastig. Krampfhaft drückte er seine Hand auf den Rand der Spüle, bis seine Knöchel ganz weiß wurden.
Der Junge strahlte irgendetwas aus, was sie immens berührte. Sie konnte sich das Gefühl nicht wirklich erklären. Es war aus heiterem Himmel aufgetaucht, genau wie dieser Junge.
»Kennt ihr euch?«, fragte Lukas überrascht und schaute von einem zum anderen. Keiner von beiden beantwortete seine Frage.
Caro konnte nicht anders, als den gutaussehenden Jungen anzustarren. Sein Blick hatte sie von der ersten Sekunde an gefesselt und ein riesiges Gefühlschaos in ihr ausgelöst. Sie fühlte Freude, Trauer, Fröhlichkeit, Schmerz, Liebe und Sehnsucht. Allerdings nicht nacheinander, sondern alles miteinander!
Oh Gott, was ist nur los mit mir? Sein Anblick raubt mir regelrecht den Atem! Sie musterte Arthur entgeistert. Aber wieso nur?
»Caro?« Die kräftige Stimme ihres Cousins riss sie aus ihren konfusen Gedanken. »Kennst du Arthur?«
Irritiert schüttelte sie den Kopf.
Ohne ein Wort zu sagen, fixierte der Junge sie unentwegt. Sein Brustkorb hob und senkte sich fortwährend in raschem Rhythmus, wobei er mit allen Mitteln versuchte, seine bebenden Lippen zusammenzupressen. Die smaragdgrünen Augen strahlten eine enorme Sehnsucht aus.
Caro war ebenso unfähig, ihren Blick von ihm zu lösen. Dieses »Etwas«, was sie zwischen ihnen beiden spürte, brachte sie restlos durcheinander. Sie war seiner Anziehung ergeben.
»Leute?«, fragte Lukas und betrachtete beide ratlos. »Alles in Ordnung mit euch?«
Die Furche zwischen Arthurs Augenbrauen trat nun deutlich hervor. Doch er machte weiterhin keine Anstalten, seinen Blick auch nur eine Sekunde von ihr zu lösen. Er starrte sie wortlos an.
Caro wusste nicht, wieso, aber sie musste ebenso, nein, sie wollte ihn ansehen! Da war dieses immense Gefühlsdurcheinander in ihr. Das enorme Verlangen, dem Jungen in die Arme zu rennen, ihren Kopf an seine Brust zu schmiegen und … sie krauste die Stirn … ihn zu küssen!
Was habe ich gerade für einen Wunsch geäußert? Bin ich nicht mehr ganz bei Sinnen?
»Ihr seid ja zwei grandiose Gesprächspartner!«, meinte Lukas sarkastisch. »Soll ich euch alleine lassen?«
Caro blinzelte ihren Cousin verdattert an. Was hat er gesagt?
Arthur blieb weiterhin stumm.
»Ok, Leute … ich bin hier anscheinend nicht erwünscht.« Er schenkte ihnen einen vorwurfsvollen Blick. »Dann werde ich mich mal aus dem Staub machen.«
»Nein«, zischte der Junge mit einem Mal. Beim Klang seiner Stimme kribbelte es augenblicklich in Caros Körper.
Wie von einer Meute wilder Hunde gejagt, stürmte Arthur an ihnen vorbei aus der Küche.
Beide sahen ihm verdutzt nach.
Caros inneres Gefühlschaos war so aufwühlend, dass sich eine vereinzelte Träne löste. Lukas warf seiner Cousine einen entgeisterten Blick zu. »Was ist denn mit dir los? Geht es dir nicht gut?« Sie schüttelte konfus den Kopf und wischte sich hastig über die Wange.
»Woher kennst du Arthur?« »Ich kenne ihn nicht«, entgegnete sie leise. Verwundert krauste er die Stirn. »Und warum weinst du?«
Caro hob verzweifelt die Schultern. Die bloße Anwesenheit dieses Jungen hatte in ihrem Herzen ein Chaos ausgelöst. Sie verstand es für ihren Teil auch nicht. Wie sollte sie dann ihrem Cousin erklären können, was los war?
Erschöpft fuhr sie sich durchs Haar. Sie fühlte eine so unbeschreibliche Sehnsucht nach diesem Arthur! Sie hätte ihn wahrhaftig am liebsten geküsst!
Was ist verflucht noch mal mit mir los!
»Caro?«, fragte Lukas und sah sie eindringlich an. »Hörst du mir eigentlich zu?«
»Ich weiß auch nicht, was los ist«, antwortete sie matt. »Er hat mich auf irgendeine Weise an Sebastian erinnert.« Sie wollte grundlegend nicht lügen, doch sie wusste einfach nicht, was sie ihrem Cousin erwidern sollte.
»Ja, klar! Arthur und Sebastian sehen sich ja auch ungeheuer ähnlich!«, meinte er sarkastisch.
»Vergessen wir es, ok? Ich möchte lieber die Party genießen.«
Mit schief gelegtem Kopf musterte er sie besorgt.
»Es ist wirklich alles in Ordnung, Lukas!«, sagte sie forscher als gewollt. »Wirklich!«
»Gut, du musst es selber wissen!«, antwortete ihr Cousin und nahm ein Glas Wein von der Theke. »Du warst immer schon eine miese Lügnerin!« Er warf ihr einen schneidenden Blick zu. »Wenn du mich suchst, ich mische mich unter die anderen Gäste. Die lügen immerhin nicht!«
Ohne ein weiteres Wort verließ er die Küche.
Caro blickte ihm betrübt hinterher. Er glaubte ihr nicht, was auch kein großes Wunder war – sie konnte einfach nicht lügen. Ihren Cousin hinters Licht zu führen, war davon abgesehen fast unmöglich. Dabei war er nur im Recht! Nichts war in Ordnung mit ihr! Nein, überhaupt nichts! Es war nahezu so, als hätte dieser Arthur in ihr eine Pforte zu einem unbekannten Ort geöffnet, der gefüllt mit einer geballten Ladung Gefühlen war!
Sie fühlte alles gleichzeitig und in so einer Intensität, dass es ihr beinahe den Atem raubte.
Aber sowas ist schlechthin nicht möglich! Ich kenne ihn doch nicht!
Nein! Es musste eine andere, vollkommen normale Erklärung für ihr Gefühlswirrwarr geben! Anders konnte sie es sich nicht erklären. Sie befand sich zwar in psychologischer Behandlung, dennoch, so verrückt konnte sie nun doch nicht sein! Oder lag sie falsch? Hatte sie nicht gerade eben den Wunsch geäußert, einen wildfremden Jungen zu küssen?
Caro schüttelte resolut den Kopf. »Ich vermisse Sebastian, das ist der einzige Grund für alles! Nun reiße dich zusammen!« Hastig schnappte sie sich einen Pappbecher Limo und trat entschlossen aus der Küche.
Von Lukas war weit und breit nichts zu sehen.
»Na toll! Und mit wem soll ich mich jetzt unterhalten?« Sie blickte zu den anwesenden Gästen. »Leute in meinem Alter sehe ich zumindest keine!«
Das Durchschnittsalter schätzte sie um die 40. Über welche Themen sollte sie sich mit denen unterhalten? Sie glaubte schwerlich, dass die sich für eine ihrer Lieblingsbands oder ihre Vorliebe für Mangas interessierte.
Missmutig nahm sie einen Schluck Limo und stellte den Pappbecher auf ein Möbel neben ihr.
Unvermittelt erblickte sie Chelsy in der Masse, die direkt auf sie zusteuerte.
Oh nein, bitte nicht! Kann sie mich nicht schlichtweg in Ruhe lassen?
Rasch wandte sie sich der erstbesten Gästegruppe in ihrer Nähe zu und sagte freundlich: »Hi!« Verwundert unterbrachen diese ihre Gespräche. »Oh, Hallo!«, grüßte Linn. Caro hatte nicht bemerkt, dass sie ebenfalls in der Runde anwesend war und warf ihr einen überraschten Blick zu. »Caro ist die Cousine von Lukas«, erklärte Linn ihren Freunden. »Lukas hat dir bestimmt erzählt, dass wir zusammenarbeiteten.«
»Ja, das hat er.«
»Caro, darf ich vorstellen, das sind Margo, Christian und Sonja, meine Arbeits- und Lukas Ex-Arbeitskollegen.« »Hallo«, grüßte sie höflich. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie Chelsy in der Zwischenzeit mit traktierenden Blicken an ihr vorbeiging und in der Küche verschwand. Caro grinste innerlich. Sie vor einer Gruppe Unbekannter bloßzustellen, getraute sich ihre Cousine nicht.
»Und was machst du so?«, unterbrach Sonja ihren inneren Triumph. »Gehst du zur
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: @Sandra Berger 2016
Bildmaterialien: Shutterstock.com/ Kopainski Artwork
Lektorat: Angela Hochwimmer
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2016
ISBN: 978-3-7396-7452-0
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