Mein Leib zitterte wie Espenholz, während ich mich im Spiegelbild des Fensters betrachtete.
Meine Haare waren lang! Lang, nicht kurz! Vor ein paar Minuten waren sie doch noch kurz! Aber es waren nicht nur die Haare, welche sich plötzlich verändert hatten. Es war die ganze verdammte Situation, in der ich steckte. Ich begriff es, und doch begriff ich es nicht. Ich fühlte mich, meinen Körper, meine Seele, mein Ich. Und doch war ich es irgendwie nicht.
Es war immer noch dunkel, und vom Himmel nieselte es. Ich schaute auf meine Uhr. Sie zeigte sechs Uhr. War es sechs Uhr morgens? Ich hatte mein Zeitgefühl irgendwann verloren. Das Letzte, an das ich mich erinnern konnte, war Ben. Ben und die Worte, die er zu mir sagte. Aber all das war am Abend gewesen. Damals funktionierte meine Uhr noch, das glaubte ich jedenfalls. Was war also die letzten Stunden passiert?
Mein Körper zitterte immer noch, während ich durch das Fenster in die Notfallstation blickte. Mein Spiegelbild interessierte mich nicht mehr. Es irritierte mich eher, sodass ich es nicht mehr betrachtete. Ich konnte kaum atmen. Irgendwo in meinen Lungen war eine Blockade, welche die eingeatmete Luft nicht passieren ließ. Und das alles nur wegen der ganzen beirrenden Situation, in welcher ich steckte.
Die Schwestern im Inneren des Gebäudes flitzten hektisch durch die Flure, brachten Medikamente, legten Infusionen, beruhigten Patienten und versuchten, im alltäglichen Chaos der Notfallstation den Überblick zu behalten.
In dieser Nacht war unglaublich viel los. Immer wieder wurden neue Patienten gebracht. Einige bluteten aus Wunden am Kopf oder Körper, andere hingegen humpelten oder hatten einen Arm gebrochen. Und dann gab es noch die, welche eigentlich nichts hatten. Sie hielten sich für einen Notfall und wollten nicht erst am nächsten Tag zu ihrem Hausarzt.
Es roch nach Alkohol, als die „Möchtegern-Notfälle“ an mir vorbeigingen, beziehungsweise torkelten. Dass sie noch einigermaßen gerade laufen konnten, war zu bewundern. Ich wäre in dem Zustand bestimmt gestürzt und irgendwo in der Ecke liegen geblieben.
Mein Spiegelbild im Fenster bahnte sich seinen Weg in meinen Fokus. Ich sah mich an. Und das, was ich sah, machte mir Angst. Es erinnerte mich an das, was Ben gesagt hatte, an den Grund, warum wir hier waren. Hier im Nirwana des Irgendwo. Was auch immer ich war und wo auch immer ich steckte: Ich musste einen klaren Kopf behalten.
Ich seufzte. Einen klaren Kopf behalten und ihn vom Wirrwarr darin befreien. Mutters Worte hallten in meinen Ohren. Oh Gott, wie ich sie in diesem Augenblick vermisse.
Die Tür der Notaufnahme öffnete sich. Ein junger Pfleger in einem grünen Outfit kam entspannt heraus und trällerte ein Lied. Diese gute Laune, sie machte mich etwas wütend. Warum, wusste ich eigentlich gar nicht. Vielleicht war mir einfach die ganze Sache über den Kopf gewachsen. Ich konnte die momentane Situation ja nicht mal richtig begreifen und schon gar nicht akzeptieren. Es war einfach so … unfassbar, oder sollte ich sagen nicht nachvollziehbar? Ach, ich wusste es nicht.
Der junge Mann schlenderte zu einem roten Sportwagen, der nur ein paar Meter neben dem Krankenhaus auf einem Parkplatz stand. Ich blickte dem Pfleger lustlos nach. Warum auch nicht, dachte ich. Ich hatte sowieso nichts Besseres zu tun. Jede Art von Ablenkung war mir recht. Würde ich auch nur noch einen Gedanken an dieses Nirwana verschwenden, würde ich durchdrehen.
Der junge Mann nahm eine Papiertüte vom Beifahrersitz, schloss die Tür wieder und schlenderte zurück. Mit einem kurzen, coolen Druck auf die Fernbedienung in Richtung Auto schmiegten sich die Außenspiegel mit einem leisen Surren an den Wagen. Wahrscheinlich dachte er, ich würde mich für ihn interessieren, so wie ich ihm nachsah. Sein lächelnder Mund und sein verschmitzter Blick in meine Richtung ließen mich richtig vermuten. Doch ich hatte definitiv kein Interesse. Er war einfach eine wohltuende Ablenkung von allem. Es hätte auch ein alter Greis mit dem Rollstuhl spazieren fahren können, das wäre genauso interessant gewesen. Hauptsache Ablenkung.
Der junge Mann zwinkerte mir zu und betrat wieder das Gebäude. Mein Blick folgte ihm und traf auf mein wartendes Spiegelbild.
Ich blickte mich an. Ich wollte nicht, aber ich musste mich ansehen. Meine schulterlangen roten Haare, welche am Tag sonst wie eine Karotte leuchteten, wirkten im matten Licht, welches nach außen drang, leicht bräunlich. Merkwürdig, dachte ich. Ich sehe mich, und doch bin ich gewissermaßen nicht wirklich hier. Ich fühlte die kühle Nacht, und doch schien sie nicht real zu sein. Ich bin, und doch bin ich nicht. Ich atmete geräuschvoll ein.
Das sollte nun jemand verstehen. Jedoch, wie konnte das überhaupt jemand verstehen, wenn ich es selber doch gar nicht verstehen konnte? Ich verstand nichts! Ich wusste ja nicht einmal, wo ich mich eigentlich genau befand.
„Caroline“, flüsterte eine Stimme neben mir. Ich musste mich nicht umdrehen. Die Stimme erkannte ich sofort. Obwohl sie mir in letzter Zeit so nahe gekommen war, traf sie mich jetzt wie ein unsichtbarer Dolch mitten ins Herz.
Auch Miles ist nicht real, schoss es mir durch den Kopf. Wusste er davon? Und warum hatte er es mir gegenüber nie erwähnt?
Ich verspürte den Drang, mich umzudrehen. Eigentlich wollte es jede Faser meines Körpers, doch mein Verstand bremste mich. Ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn ich mich ihm zuwenden würde. Was würde ich fühlen und was würde ich ihm sagen? Vielleicht vor seinen Füßen zusammenbrechen und einen Schreikampf bekommen, weil alles einfach zu viel ist? Ben, er und meine Mutter …
Vielleicht aber würde ich auch nur seine Nähe suchen. Mich in seine starken, liebevollen Arme sinken lassen und seinen Herzschlag spüren.
Ja, ich hatte schon seinen Herzschlag gespürt, aber war das nicht unmöglich?
„Caroline“, wiederholte er bestimmender, aber immer noch unglaublich liebevoll. Ich haderte mit mir selber. Ich wollte mich ihm zuwenden, zu ihm rennen und doch nicht.
In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Mit der Hand suchte ich Halt an der kalten Fensterscheibe. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Erschöpft legte ich meine Stirn ans kühle Glas und schloss mit einem tiefen Atemzug die Augen. Vielleicht würde das ja irgendwie meine wirren Gedanken ordnen.
Falsch gedacht.
Wie ein Film im Schnelldurchlauf schossen mir plötzlich alte Bilder ins Bewusstsein. Ich sah Ben, Miles, die Schule, den Unfall und den Tag, welcher für mich der Anfang des Endes bedeutete.
Ein paar Wochen zuvor.
Mist, dachte ich, das hätte nun wirklich nicht sein müssen!
Unsere Lehrerin hatte natürlich genau mich auserkoren, mein Gedicht vor der gesamten Klasse vorzutragen. Warum gerade mich! Hätte sie nicht die Pickel-Face Susan, so wie sie von einigen genannt wurde, nehmen können? Oder was war mit Markus? Der trug doch immer so gerne vor.
Ich hasste es! Ich hasste es besonders, vor zwei unmöglichen Mitschülern zu stehen und ihr hämisches Grinsen zu ertragen. Egal was ich tat, sie lachten ständig über mich.
Unser Klassenzimmer war in einem alten, ziegelsteinfarbenen Schulhaus untergebracht, in dem es teilweise etwas modrig roch. Wir waren die letzte Klasse, die in diesem alten Gebäude noch unterrichtet wurde. Nach den Sommerferien würden alle Klassen in das neu gebaute Schulgebäude am anderen Ende der Straße wechseln.
Natürlich ging der Übergang nicht ohne großes Aufsehen. Der Schuldirektor, Herr Speiss, hatte vor einigen Wochen ein großes Eröffnungsfest angekündigt. Nicht nur die Schüler und deren Eltern seien zu diesem speziellen Tag herzlich eingeladen, so hieß es, nein, sogar der Stadt- und Gemeinderat würde uns die Ehre erweisen. Als könnten sie uns Schüler damit locken. Was interessiert einen schon Politik, wenn man erst 16 Jahre alt ist. Der Schuldirektor hätte lieber Oliver von den Lions eingeladen, das gefiele vor allem uns Mädels besser.
Ich kannte kaum ein Mädchen, welches nicht auf Oliver stand. Seine raue Stimme, die vor allem bei den schnelleren Songs gut zur Geltung kam, ließ so manches Herz höher schlagen.
Auch ich hatte natürlich an meinen Wänden einige Poster von ihm hängen. Ganz klar, Oliver war einfach traumhaft. Er hatte gekrauste, braune Haare. Seine Augen waren groß und tiefblau. Mit seinen markanten Gesichtszügen wirkte er viel älter als 20. Vielleicht war es genau das, was es ausmachte, dass alle auf ihn flogen.
Seine Bandmitglieder, welche alle im gleichen Alter waren, sahen immer noch recht kindlich aus. Wir wollten etwas Reiferes, etwas Männlicheres - genauso einen wie Oliver.
Ich hätte lieber noch länger von ihm geträumt, doch Frau Kaiser, unsere liebe Lehrerin – welche leider einen Narren an mir gefressen hatte – holte mich wieder in die Realität zurück. „Caroline, würdest du nun bitte dein Gedicht vortragen.“ Sie machte eine einladende Handbewegung, vor ihr Pult zu kommen und lächelte trotz ihrer leicht schiefen Zähne. Eigentlich war sie schon ganz ok. Es gab schlimmere Lehrer.
Wegen ihrer zarten Körpergröße von einem Meter neunundfünfzig waren wir ihr alle hoch überlegen. Mit ihr aufnehmen konnten wir es aber trotzdem nicht. Sie hatte uns mal erzählt, dass sie und ihr Mann den schwarzen Gürtel im Karate besaßen und sie ihn vor über 30 Jahren im Dojo kennen und lieben gelernt hatte. Als dann Mike vorwitzig fragte, ob sie uns was vormachen würde, lachte sie nur verschmitzt. Ihr Kodex war, Karate nur im Dojo oder in wirklicher Gefahr anzuwenden. Jeder, der es nur zum Spaß anwandte, um sich oder anderen etwas zu beweisen, beziehungsweise um jemandem zu drohen oder jemanden zu verletzen, würde sofort aus dem Dojo verwiesen.
„Caroline?“, forderte sie mich erneut auf. Mit einem tiefen, lautlosen Seufzer richtete ich mich langsam auf und ging mit zögernden Schritten zu ihrem Pult. Frau Kaiser blickte mich durch ihre dicke Hornbrille ermunternd an. Langsam drehte ich mich um und schaute über die Köpfe meiner Mitschüler.
Wie ich es hasste! Ich hasste es, so angestarrt zu werden. Vor allem, wenn zuvorderst meine Erzfeinde Mike und Louis saßen. „Hat deine Hexen-Mutter dein Gedicht aus einem Hut hervorgezaubert?“, foppte Louis. Sie ist ein Medium und keine Hexe, schoss es mir durch den Kopf. „Los, Carotte, auf was wartest du?“, flüsterte Mike. Louis begann leise zu kichern. Dummköpfe! Ich tat so, als hätte ich sie nicht gehört. Doch ich hörte sie immer. Immer!
Sogar nachts, wenn ich im behüteten Bett lag, umgeben von Oliver und meinen anderen geliebten Filmstars und Bands, huschten ihre Worte in meine Träume und ließen mich aufschrecken oder sogar weinen.
Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann sie mir zum ersten Mal ‚Carotte‘ nachgerufen hatten. „Caro-line? Ich glaube eher, Car-otte passt besser zu dir“, hatte Mike mich damals aufgezogen. Carotte, weil meine Haare so rot wie eine Karotte waren.
Früher, als ich noch ganz klein war, da hatten alle Erwachsenen gesagt, was für eine tolle Haarfarbe ich hätte. Alle fanden sie wunderschön und außergewöhnlich. Natürlich erfüllte mich das damals mit Stolz, und ich trug meine Haare, wenn möglich, immer offen, um sie jedem zu zeigen. Doch dann kam ich in den Kindergarten und danach in die Schule. Und da waren es dann nicht mehr die Komplimente, die mich erreichten, sondern nur Hänseleien. Carotte war noch das Netteste, was hängenblieb. Ich verstand damals die Welt nicht mehr. Wie konnten die Mitschüler plötzlich alle so gegen meine Haare sein?
Ich hatte sie so lange mit Stolz offen getragen, und nun versuchte ich, die Haarfarbe möglichst in einem Zopf oder Pferdeschwanz zu verstecken. Als könnte man damit die Haarfarbe verändern. Aber was blieb mir anderes übrig?
Als ich meine Mutter anbettelte, mir die Haare zu färben, hatte sie sich vehement gewehrt. Sie verbot es entschieden, und mir blieb nichts anderes übrig, als mit den Hänseleien zu leben.
Irgendwie hatte ich mich daran gewöhnt, dass mich Mike und Louis sowie teilweise auch andere, auch die Mädchen, Carotte nannten. Wenigstens wurde ich nicht wie einige Mitschüler zusammengeschlagen - obwohl sich die Beleidigungen und Hänseleien in meinem Inneren teilweise genauso derb anfühlten.
Nun stand ich also vor der Klasse und fürchtete mich, wieder mal zur Zielscheibe zu werden. Egal, ob mein Gedicht gut oder schlecht sein würde, egal, ob es sich reimen oder poetisch klingen würde, es würde sowieso in der Luft zerrissen werden. „Du darfst beginnen, Caroline“, sagte Frau Kaiser aufmunternd. „Wir sind schon alle gespannt zu hören, was du geschrieben hast.“ Ja, klar …
Mein Herz schlug so heftig in meiner Brust, dass ich das Gefühl hatte, es würde in der nächsten Sekunde zerspringen. Meine Hände zitterten etwas vor Aufregung. Hoffentlich würden es Mike und Louis nicht bemerken. Pickel-Face Susan, die in der dritten Reihe saß, blickte mich mitleidig an.
Ich atmete tief durch. „Schattenhaft“, begann ich leise. „Etwas lauter Caroline, damit wir dich auch alle verstehen“, unterbrach mich Frau Kaiser. Einige der Mädchen kicherten miteinander. Ich räusperte mich.
Mein Herz raste jetzt vor Nervosität und Angst.
Etwas lauter, aber mit leicht zitternder Stimme, fuhr ich fort. „Schattenhaft legte sich der Nebel über den Tag. Die dunklen Wolken des Tages waren vorüber und die Stille der Nacht erhielt langsam einen Platz. Die Gunst der Stunde würde das Licht erscheinen lassen, auch zu dieser so ruhigen Zeit. Das Hell des Mondes würde erscheinen und die Nacht erglänzen lassen, wie eine Perle im Sonnenlicht.“
Ich stockte. Einige Mädchen in der hintersten Reihe begannen laut zu tuscheln. „Ich bitte um Ruhe!“, ermannte Frau Kaiser sie. Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe und blickte durch die Klasse. Ich sah niemanden Bestimmtes an. Eigentlich wusste ich gar nicht, warum ich sie ansah. Das Einzige, was ich wollte, war, wieder zurück an meinen Platz zu gehen und in Scham zu versinken. Ich hatte Zweifel an meinem Gedicht über den Mond. Wie konnte man auch überhaupt ein Gedicht über den Mond verfassen. Unglaublich, dass ich so ein blödes Thema gezogen hatte.
Frau Kaiser bat mich mit einem Nicken, fortzufahren.
Erneut atmete ich tief durch. Nur noch ein paar Zeilen und ich hätte es geschafft. „Der Tau der Nacht würde dann erscheinen und erglänzen lassen alles in einem wunderbaren Licht des Mondes.“ Einige der Schüler kicherten erneut. Ich hielt inne. Warum hatte ich nicht gesagt, ich hätte das Gedicht zu Hause vergessen, statt mich vor der gesamten Klasse zu blamieren? „Doch bald wird die Nacht vorbei sein und der Tag erwacht.“
Ich murmelte die letzten Worte rasch herunter. Mit eiligen Schritten und gesenktem Blick ging ich zu meinem Platz zurück. Ich wollte keinen Einzigen ansehen. „Das war wirklich schön, Caroline“, Frau Kaiser war begeistert und rief bereits den nächsten Schüler auf, der sein Gedicht vorzutragen hatte. Der arme Kerl!
„Das war wirklich schön, Carotte“, ahmte Silvan Frau Kaiser nach. Seine Banknachbarin kicherte leise. Sein hämisches Grinsen verriet nichts Gutes. Wahrscheinlich würde er sich wieder einmal mit Mike gegen mich verschwören und mir das Leben schwer machen. Irgendwann zahle ich es ihnen heim! Ihnen allen!
Die Schulglocke ertönte und läutete die herbeigesehnten Sommerferien ein. Wie wunderbar!
Ich atmete erleichtert tief aus. Es fühlte sich an, als würde ein schwerer Stein von meinem Herzen fallen.
Einige Wochen keinen von diesen stumpfsinnigen Mitschülern mehr zu sehen, verwandelte meine miese Stimmung augenblicklich in ein Frohlocken! Ich jubelte regelrecht.
Nun würde mir eine tolle Zeit bevorstehen! Schwimmen im Pool, Shoppen gehen mit meinen Freundinnen und einfach die Zeit genießen. Keine Hausaufgaben, keine Vorschriften – ok, nur die von meiner Mutter, aber die waren meistens in Ordnung – und keine Verpflichtungen, die anderen zu sehen. Das Beste war, dass der Spaß gleich losging.
Rosi, meine beste Freundin und treue Stütze in der Klasse, hatte mich zu meinem Geburtstag ins Kino eingeladen. Aber nicht nur das. Wir würden danach noch ein paar Stunden im Shopping Center verbringen und nach tollen Schnäppchen stöbern. Für irgendwas hatte ich ja schließlich Geld zu meinen Geburtstag bekommen.
Es schwebte mir vor, ein schönes Sommerkleid oder wenigsten ein cooles, ärmelloses T-Shirt mit einem Ausschnitt zu kaufen. Nicht zu gewagt, da meine Oberweite leider nicht so üppig war – zu hochgeschlossen sollte es aber auch nicht sein. Das Dekolleté müsste man schon sehen können.
Ich verspürte ein freudiges Kribbeln, als ich meine Schulbücher im Rucksack verstaute. Als ich ihn mir dann umhing, ächzte ich unter der Last. Ist noch niemand darauf gekommen, dass Schulbücher schleppen schon im jugendlichem Alter zu Rückenbeschwerden führen kann? Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Ich hörte mich ja schon wie meine Mutter an.
„Bereit?“, fragte Rosi aufgeregt. Wenn sie lächelte, bildeten sich um ihren Mund zwei kleine Falten. Mike und die anderen Jungs fanden darin natürlich einen Grund, um über sie zu lästern. Ich fand es dagegen einfach nur süß. Bestimmt wird irgendwann ein Junge diese genau so süß finden wie ich.
Wenn sie traurig von den Hänseleien war, erinnerte ich sie immer daran. Irgendwann würde auch unsere Zeit einmal kommen.
Wir waren sogenannte Spätzünder: wir hatten beide noch nie einen Freund gehabt, erst recht nicht so was wie ein belangloses Geknutsche. Bis jetzt war das Glück einfach nicht auf unserer Seite. Natürlich wussten wir schon, dass es für jede Pfanne auch einen Deckel gibt, doch innerlich zerfraß es uns beinahe.
Wir sprachen kaum über dieses „Problem“, obwohl wir die besten Freundinnen waren. Eigentlich völlig blöde, denn kein anderer Mensch wusste besser, was in unserem Innern vor sich ging. Wir sehnten uns nach einer starken, männlichen Schulter, die uns hielt, wenn wir zu fallen drohten, und die uns mit ihrer Wärme Schutz vor der emotionalen Kälte der Welt gab. Irgendwann würde auch unsere Zeit kommen; da waren wir uns sicher. Jede von uns litt halt einfach auf ihre eigene Weise.
Im Shopping Center herrschte emsiges Treiben. Einige hetzten von einem Shop in den nächsten, um noch Kleidung und andere Dinge zu ergattern, bevor die Läden schlossen.
Rosi und ich saßen auf einer Holzbank. Hinter uns hatten die Center-Dekorateure meterhohe Palmen gepflanzt, welche die Atmosphäre angenehmer machen sollten und die Passanten zum Verweilen einluden. Doch kaum jemand hatte die Zeit oder Muse, sich die Palmen anzuschauen und sich vorzustellen, mit einem Longdrink auf einem Liegestuhl am Meer zu liegen und auf hereinbrechende Wellen zu blicken. Herrlich! Ich konnte das unglaublich gut.
Manchmal strich ich mit der Hand sanft über den rauen, braunen Stamm der Palme und erreichte mit meinem Geist die Traumwelt, die mich seit meiner Kindheit begleitete. Dort konnte ich sein, wo und wer ich sein wollte. Ich war erfolgreich, glücklich und hatte keine unangenehmen Mitschüler, die mich wegen meiner Haarfarbe hänselten. Das Schönste war, in den Träumen hatte ich einen Freund. Meinen Freund!
„Seifenblase, platz!“, befahl Rosi und zerstach mit ihrem Zeigefinder eine imaginäre Blase, welche sich anscheinend um meinen Kopf befand. Ich war wieder einmal völlig unbewusst in die Traumwelt abgeschweift. „Schön geträumt?“, fragte sie grinsend. Ich lächelte. Eigentlich wollte ich nicht vor ihr träumen, denn so neugierig wie sie war, verlangte sie danach, wieder alles zu wissen. „Und? Warst du auf dem Liegestuhl alleine, oder war er da?“, grinste sie frech. Ich errötete und schaute verlegen zu Boden. Ich hätte ihr vor ein paar Tagen nicht von meinem Traum erzählen sollen. Jetzt zog sie mich immer ein wenig damit auf.
Mit den Augen zeichnete ich die Ränder der Platten nach. Natürlich ist er da! Er ist immer da, wenn ich träume. Rosi kicherte belustigt und piekste mir mit ihrem Zeigefinger in die Seite. „Hey!“, protestierte ich und wich aus.
„Anstatt zu träumen, würdest du lieber schauen, was sich da auf 10 Uhr an uns vorbei bewegt.“
Rosi und ich hatten vor kurzer Zeit einen Actionfilm angeschaut, in dem sie Richtungen mit Zeitangaben ausdrückten. Das taten wir seit dem Tag auch. „Rasch, er ist gleich weg!“
Eilig wandte ich meinen Blick Richtung Ausgang und konnte gerade noch einen Blick auf den gutaussehenden Jungen erhaschen. Er hatte braunes, lockiges Haar und eine kleine, lustige Nase. Sie war nicht störend, eher süß. „Zum Glück hast du mich“, meinte Rosi stolz, „sonst wärst du immer noch in deiner Traumwelt und hättest diesen süßen Jungen verpasst. Das wäre doch schade gewesen, nicht?“ Sie klopfte sich stolz auf die Schulter.
Rosi brachte mich damit zum Lachen. „Naja, nicht schlecht“, antwortete ich keck, „an meinen Traumjungen kommt er aber nicht heran.“
Ich lachte erneut. Wir verstanden uns wirklich gut, und kleine Neckereien versüßten unsere Freundschaft. Zusammen konnten wir einfach unbeschwert die Zeit genießen und so sein, wie wir sind.
Leider hatte ich weder ein Sommerkleid noch ein T-Shirt gefunden. Dafür jedoch eine schnittige blaue, anliegende Jeans, welche meine schlanke Figur noch besser betonte. Mit einer Größe von einem Meter zweiundsiebzig gehörte ich zum Durchschnitt. Einige Mädchen waren sogar etwas größer. Rosi war nur zwei Zentimeter kleiner als ich – doch ob das wirklich so blieb, würde sich dann noch zeigen.
Meine beiden Eltern waren auch eher so im Durchschnitt. Meine Mutter war einen Meter fünfundsiebzig und mein Vater … eins achtzig? Eins fünfundachtzig? Das wusste ich gar nicht mehr so genau. Meine Eltern waren geschieden und er lebte in einer anderen Stadt. Wir sahen uns nur selten, was für mich völlig in Ordnung war. Ich hatte nicht gerade das Bedürfnis, ihn zu treffen.
Als er uns vor sieben Jahren verlassen hatte, war viel zerbrochen. Nicht nur in mir, sondern auch in meiner Mutter. Sie würde das natürlich nie zugeben, doch ich hatte es ihr angesehen. Sie verlor stark an Gewicht, ihre sonst so fröhlichen Gesichtszüge wurden härter und das liebevolle Lächeln seltener. Das Strahlen ihrer blauen Augen erlosch etwas und ihre blonden Haare sahen matt und fahl aus. Trotz allem, sie war immer noch eine Schönheit.
Natürlich hatten sie mir gesagt, wie auch jedem anderen Scheidungskind gesagt wird, dass es nicht meine Schuld war. Sie hätten sich auseinander gelebt. So hatten sie schweren Herzens beschlossen, getrennte Wege zu gehen.
Das konnte man schön reden, wie man wollte. In mir drin herrschte trotzdem diese Leere und dieses Gefühl, dass ich etwas falsch gemacht hatte.
Zu Beginn setzte ich noch alles daran, sie wieder zusammenzubringen. So zauberte ich ein Essen aus rohem Dipp-Gemüse – ich konnte nicht kochen – und lud beide Seiten an einen Tisch. Natürlich geschah dies in der Hoffnung, sie würden sich wieder vertragen und zusammenkommen. Falsch gedacht! Meine verschiedenen Versuche scheiterten kläglich. Irgendwann waren meine Eltern über meine Zusammenbring-Versuche so genervt, dass meine Mutter mir verbot, in der Küche zu werkeln. So konnte ich einfach nur noch zusehen, wie sie immer mehr ihr eigenes Leben zu leben begannen.
Meine Mutter versuchte, nebenberuflich mehr als Medium zu arbeiten und richtete in ihrem alten Bügelzimmer einen Raum für ihre Jenseitskontakte ein. Nach längerem Hin und Her entschied ich mich, zu meiner Mutter zu halten. Es war schrecklich! Ich hatte das Gefühl, ich müsste mich nun für jemanden entscheiden. Ab sofort könnte ich nicht mehr beide Eltern haben, sondern nur noch einen Teil davon.
Da ich sowieso bei meiner Mutter lebte und sie das alleinige Sorgerecht vor Gericht erstritten hatte (warum auch immer), hatte ich mich für sie entschieden. Naja, entschieden ist ja irgendwie das falsche Wort. Ob ich wollte oder nicht, ich musste bei ihr leben. Aber das war ok.
Irgendwann entstand in mir aber ein starker Groll meinem Vater gegenüber. Er war eigenartiger Weise nun an allem Schuld. Schließlich hatte er uns verlassen! Er war derjenige, der mich im Stich ließ, und wegen ihm musste meine Mutter wieder arbeiten gehen, um uns über die Runden zu bringen. Konkret hieß das, sie arbeitete vermehrt in ihrem alten Bügelzimmer.
Das mit den Jenseitskontakten fand ich schon irgendwie cool, doch das behielt ich für mich. Die Außenwelt hatte schon Wind davon bekommen. Doch als Tochter einer Hexe bezeichnet zu werden, war nicht gerade das, was ich mir wünschte.
„Caroline, deine Mutter ist hier“, sagte Rosi und blickte Richtung Ausgang. Meine Mutter hatte mir versprochen, uns nach dem Kino und unserem Shopping-Trip abzuholen. Wie üblich kam sie wieder mal zu spät. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke gewesen. Und leider war es jetzt noch schlimmer als früher. Zum Glück hatte ich dies nicht von ihr geerbt. Ich war eher das pure Gegenteil: immer, wenn möglich, zu früh dran; das war meine Devise.
Sie kam mit schnellen Schritten auf uns zu. Wie es schien, hatte sie sich geärgert. Wie so oft in letzter Zeit. Zwischen ihren Augenbrauen bildeten sich dann immer zwei tiefe Furchen. Obwohl sie einen ganz normalen Bürojob hatte (die Firma verkaufte Eier), kam sie immer öfter gestresst und schlecht gelaunt nach Hause. Ich hatte mal per Zufall etwas mitbekommen, dass Arbeitsstellen weg rationalisiert wurden. Man wusste nicht, ob sogar noch mehr Köpfe rollen würden. Ich hoffte innig, meine Mutter bliebe davon verschont.
„Es tut mir leid, Caroline! Ich bin zu spät“, meinte sie hastig und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Kein Problem. Wir warten noch nicht so lange“, versuchte ich, sie zu beruhigen. Rosi zog fragend die Augenbrauen hoch. Ok, das war gelogen. Wir hatten mehr als 40 Minuten auf meine Mutter gewartet. Rosi hatte schon oft betont, ich müsste ihr sagen, dass sie ständig zu spät sei. Das hatte ich auch schon, doch heute fand ich es einfach nicht passend. Wieso jemanden stressen, der bereits schon gestresst war?
„Sollen wir dich mitnehmen, Roswitha?“, fragte meine Mutter fürsorglich. Meine Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. Rosi hasste es, bei ihrem vollen Namen genannt zu werden. Das war irgendwie ein Spleen, den sie seit einigen Jahren hatte. Rosi würde sich viel cooler anhören, als das banale ‚Roswitha‘. „Nein danke, Frau Maurer“, bedankte sie sich mit einem leicht sauren Unterton. „Ich nehme den Bus.“ „Ok, das ist auch gut. Grüße deine Mutter von mir. Ich sehe sie ja nächste Woche bei der Sitzung.“ „Werde ich machen.“
Meine und Rosis Mutter kannten sich vom Turnverein. Sie saßen beide seit einigen Jahren im Vorstand und verstanden sich genau so gut wie Rosi und ich. Eigentlich war es ja so, dass Rosis Mutter meine dazu brachte, überhaupt mal Turnvereins-Luft zu schnuppern. Dies hatte ihr so gut gefallen, dass sie sich gleich engagierte und wenig später in den Vorstand gewählt wurde.
„Nächste Woche gehen wir baden, und dann will ich deinen neuen Bikini sehen“, rief ich Rosi zu, als wir schon auf dem Weg nach draußen waren. „Und ob!“ Rosi lachte ihr lautes, mitreißendes Lachen und winkte mir nach.
Draußen herrschte wie immer um diese Zeit Verkehrschaos. Obwohl es schon nach sieben war, hatte sich die Rushhour noch nicht gelegt. Unser Auto, ein grauer Kleinwagen, parkte gleich neben dem Eingang. Es war ein Wunder, hier überhaupt einen freien Parkplatz zu finden. „Ich muss noch kurz zu Danny gehen und ihm etwas bringen“, sagte meine Mutter, als sie um den Wagen ging und einstieg. Ich stieg ebenfalls ein. „Muss das sein?“, fragte ich. Ich hatte keine Lust, ihren Arbeitskollegen zu sehen. Er war irgendwie … komisch. Jedenfalls benahm er sich immer so eigenartig, wenn ich ihn sah.
Mein Unterbewusstsein sagte mir immer wieder, dass zwischen den beiden etwas lief. Ich hätte es lieber gar nicht gespürt, denn ein Verhältnis mit dem, das ging einfach gar nicht! Nein, bitte nicht mit dem! Er sah so spießig aus mit seiner Hornbrille und den weichen Gesichtszügen. Und die Haare! Oh nein, die Haare sind ganz schlimm! Die spärlichen Überreste, die er noch besaß, waren von hinten nach vorne Richtung Stirn gekämmt, damit man die kahle Stelle am Kopf nicht sehen konnte.
Ich schüttelte mich innerlich, als ich den Sicherheitsgurt anlegte. Was fand meine Mutter nur an dem? Meine Gedanken waren schon dabei, sich selbständig zu machen und darüber nachzudenken, was die beiden tun würden, wenn ich nicht dabei war. Nein Caroline, das willst du bestimmt nicht wissen! Lass deinen Gedanken keinen freien Lauf! Nicht bei diesem Thema, sonst übergibst Du dich!
„Dieser Verkehr heute! Er ist einfach schrecklich. Wir werden wirklich nur kurz zu Danny gehen und dann gleich heim, ok?“, informierte mich meine Mutter. Ihr Unterton war recht gestresst. Sie versuchte, sich wieder nichts anmerken zu lassen, doch ich durchschaute sie. Die Furchen zwischen ihren Augenbrauen wurden immer tiefer, und ihre Augen bekamen diesen harten, angespannten Ausdruck. „Ich habe es nicht eilig“, erwiderte ich sanft. „Wir können uns ruhig etwas Zeit lassen. Bei dem Verkehr wird’s sowieso etwas dauern.“ Irgendwie klang ich gerade selber wie eine Mutter, die versuchte, ihr Kind zu beruhigen.
Ich mochte es nicht, wenn meine Mutter so gestresst war. Das war irgendwie ansteckend, und ich wollte nicht gestresst sein! Der Nachmittag mit Rosi war so toll, und diese Stimmung wollte ich noch lange in mir bewahren.
„Wir machen wirklich nur einen ganz kleinen Abstecher. Danach fahre ich dich gleich nach Hause.“ Hatte meine Mutter mir überhaupt zugehört? Anscheinend überhaupt nicht.
Im Großen und Ganzen war sie ja wirklich eine gute Mutter. Obwohl wir nicht so viel Geld besaßen, versuchte sie, mir trotzdem meine Wünsche zu erfüllen. So hatte sie alles daran gesetzt, mir zu Weihnachten eine neue, recht teure Stereoanlage zu schenken. Und zum Geburtstag schenkte sie mir sogar ein Ticket für das Konzert von den Lions. Das war echt der Hammer! Ich hatte wirklich das große Glück mit ihr. Nun musste sie nur noch etwas ruhiger und pünktlicher werden, dann wäre es perfekt.
„Achtung!“, schrie ich plötzlich. Meine Mutter bremste in letzter Sekunde, bevor wir den vorderen Wagen rammten. Mein Herz setzte in dieser Schrecksekunde kurz aus. Das ging gerade nochmal gut. Langsam und mit einem tiefen Atemzug versuchte ich, mich wieder zu beruhigen. „Dieser Verkehr ist so ein Mist!“, fluchte meine Mutter genervt vor sich hin. Warum war sie denn heute so unglaublich gestresst?
Sie übersah eine Ampel, welche gerade auf rot wechselte und bremste erneut abrupt. Ich hielt mich am Sitz fest, um nicht in den Sicherheitsgurt geschleudert zu werden. Wenn das so weitergeht, dann wird mein Herz vor lauter Aussetzern noch stehen bleiben, dachte ich. „Wir haben es ja nicht eilig“, versuchte ich sie zu beruhigen.
„Das ist einfach so ein Mist! Es ist nach sieben und so viel Verkehr auf der Straße! Unglaublich!“
„Vielleicht können wir ja morgen zu Danny gehen?“, fragte ich vorsichtig.
In diesem Zustand, in dem sich meine Mutter befand, wäre ich lieber mit dem Bus gefahren. Sie fuhr sehr hastig, immer im Versuch, die beste Spur zu erreichen und möglichst rasch vorwärtszukommen. Als würde es etwas nützen, jedes Mal die Spur zu wechseln, wenn sich nebenan eine Lücke auftat.
„Und ob wir zu Danny müssen!“, antwortete sie sauer. „Er hat morgen früh noch einen Kundentermin und benötigt meine Unterlagen dazu. Hast du etwa das Gefühl, ich würde die Strecke fahren, wenn es nicht wichtig wäre?“ Naja, vielleicht, weil du ihn einfach gerne sehen möchtest, dachte ich. Aber das verschwieg ich, sonst wäre sie bestimmt explodiert. Daher entschied ich mich für ein unbedeutendes: „Hmm.“ Ich hoffte, sie würde es irgendwie als beschwichtigend auffassen.
Die Ampel wechselte wieder auf grün und wir bogen auf die Schnellstraße ab. Auch hier herrschte emsiger Verkehr, doch wir kamen sehr gut voran. Vielleicht würde sich meine Mutter nun wieder etwas beruhigen, damit die Fahrt einigermaßen ohne Herzrasen und ständiges Festklammern stattfinden konnte.
Ich spürte eine leichte Übelkeit und etwas, das sich wie Beruhigung anfühlte. Dieses seltsame Gefühl verbreitete sich schlagartig von meinem Herzen aus über den ganzen Körper. Ich konnte regelrecht spüren, wie sich jede einzelne Muskelfaser nach und nach anspannte. Irgendwas ist nicht in Ordnung. Aber was?
„Super, jetzt das auch noch!“ Sie schnaubte laut durch ihre Nase.
Stau! Soweit meine Augen sehen konnten, erblickte ich nur stehende Autos. Ihre Bremslichter bildeten eine Spur ins Nirgendwo. Meine Mutter bremste diesmal sogar vorsichtiger als vorhin und rollte langsam hinter den vorderen Wagen. Scheiße, dachte ich. Nun würde es ewig dauern, bis wir Danny erreichten. Von Zuhause gar nicht zu sprechen. „Dieser verdammte Abend …“
„…verkehr“, wollte meine Mutter noch ergänzen, doch dazu kam sie nicht mehr.
Urplötzlich schepperte es ohrenbetäubend. Ungebremst knallte ein großer Geländewagen direkt in unser Auto. Das Geräusch von brechendem und sich verformendem Metall war ohrenbetäubend laut. Mir schien es, als würde ich augenblicklich in die Luft katapultiert werden. Wir preschten direkt in den vorderen Wagen, wobei mein Kopf in die Kopfstütze gedrückt würde.
Meine Mutter schrie laut auf.
Ich war stumm wie ein Fisch. Meine Stimmbänder waren vor Schock wie gelähmt. Ich brachte keinen noch so leisen Ton heraus.
Metall drückte sich in meine Beine. Immer fester, bis ich spürte, dass etwas Warmes, Feuchtes meine Unterschenkel hinunterlief.
Es knallte - die Airbags wurden ausgelöst. Mein Kopf prallte ins Luftkissen und ein Schmerz durchfuhr schlagartig mein Gesicht. Ich hielt den Atem an. Unsere Autohupe dröhnte dumpf in meinen Ohren. Meine Mutter schrie erneut. Ihr Schrei war voller Panik und ging mir durch Mark und Bein.
Kein Laut durchdrang meine Lippen, keine Luft entrann meinen Lungen. Ich hatte das Gefühl, als bliebe ich in Raum und Zeit stehen, spürte keinen Schmerz, keine Angst, kein Herzklopfen.
Dadurch, dass mein Verstand so unter Schock war, bekam ich alles nur noch gedämpft mit. Ich war eine Hülle meines Seins.
Doch plötzlich, es war für mich, als wären Stunden vergangen, kam alles auf einmal. Der Schmerz schoss durch meinen geschundenen Körper, die Lungen zogen gierig den Sauerstoff tief in sich ein und das Herz flatterte beinahe vor lauter Panik. Der Aufprall, die Schmerzen, das Geschrei und die rasende Angst meiner Mutter. Es war zu viel, einfach zu viel!
Ich schrie! Ich schrie, was ich konnte! Es tut so weh, so weh!
„Bitte mach, dass es aufhört, bitte!“, flehte ich. Es tat so weh!
Und dann, so schnell wie es gekommen war, verschwand alles wieder. Benommen fiel ich in mich zusammen, und eine schwarze Kälte überkam mich.
Es war alles ruhig, ganz ruhig. Ich fühlte mich wie auf Wolken gebettet. Meine Augen waren geschlossen und ich hörte leisen Vogelgesang. Es klang wie der erste Frühlingstag nach einem harten Winter, wenn die Vögel die Sonne und Wärme begrüßten. Es war warm. Ja, ich fror nicht. Es war angenehm warm. Mein Herz schlug ganz ruhig in meiner Brust und der Atem ging langsam und geregelt. Keine Hektik war in meinem Körper zu spüren. Und ja, auch kein Schmerz. Da war wirklich nichts. Ich fühlte mich äußerst wohl in meinem jetzigen Zustand.
War dieses Empfinden das Resultat von Schmerzmitteln, welche mir die Ärzte gaben? In welchem Krankenhaus hatten sie mich nach dem Unfall gebracht? Ich versuchte,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: @Sandra Berger, 2015
Bildmaterialien: Shutterstock.com/ @Olga Nikonova / @korionov / @jason Salmon / @paffy /@ Ase Umschlaggestaltung: Kopainski Artwork
Lektorat: Angela Hochwimmer, Michaela Greuter
Tag der Veröffentlichung: 09.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0439-8
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Jedem Einzelnen gewidmet, der dieses Buch liest.
Vielen Dank für deine Unterstützung!