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Prolog




Gleißend helles Licht bohrte sich in meine Augen und ich sah wie dunkle Schatten sich vor mir bewegten. Es wirkte fast so, als würden sie in diesem unendlichen Weiß tanzen.
Etwas kühles, lederartiges betastete meinen Körper. Die feinen Härchen auf meinem Arm streckten sich gen Licht.
Was war das bloß und wo befand ich mich überhaupt? Mein Körper fühlte sich wund und kühl an und mein Rücken schmerzte fürchterlich.
Ein Piepen klang gellend in meinem Kopf wider wie ein schrilles Echo.
Ich schrie, als ein entsetzlich brennender Schmerz meinen Körper durchfuhr und ich etwas warmes auf meinem Bauch spürte. Ein metallischer Geruch stieg mir in die Nase und vermischte sich mit etwas, das nach moderigen Algen roch.
Mein Körper wollte sich aufbäumen, doch ich war fast vollkommen bewegungsunfähig. Schwere Fesseln schnitten mir in die Haut.
Panik ergriff mich, während sich mein Herz schon längst so anfühlte, als hätte es gerade zehn Fahrten in einem Mixer hinter sich und danach noch ein paar Aufputschmittel genommen. Es pochte wild in meiner Brust und ich hatte das Bedürfnis zu weinen, allerdings waren meine Augen so trocken, dass es fürchterlich brannte und das grelle Licht über mir sie zu verätzten schien.
Der grausame Schmerz in meinem Bauch breitete sich aus und ließ es fast so erscheinen, als würden mir meine Organe entrissen werden. Ich schrie ein zweites Mal auf, doch unterbrach, als mir die warme Flüssigkeit die Luftröhre empor stieg und aus meinem Mund lief.
War das Blut?
Ich hatte das Gefühl darin zu ertrinken.
Verzweifelt keuchend versuchte ich mich von den Fesseln zu befreien, jedoch konnte ich mich nun gar nicht mehr bewegen. Keinen einzigen Millimeter. Meine Motorik schien nicht mehr vorhanden zu sein.
„Unterschätze niemals die Illusion“, flüsterte jemand an meinem Ohr und ich spürte eine raue Hand an meiner Wange. Fingernägel gruben sich in mein Gesicht.
Ich übergab mich ein weiteres mal. Der ekelhafte Geschmack von Blut hatte sich in meinem Mund festgesetzt.
Plötzlich hörten die Schatten auf im Licht zu tanzen und die Dunkelheit nahm alles um mich herum in Gewahrsam. 

Kapitel 1: The night it all began




Glas ist wie eine Illusion. Eine Täuschung der Sinne. Hinter ihm könnte sich ein Feuerwerk über seichtem Meereswasser an einem lauen Sommerabend befinden, doch solange man das Glas nicht berührt, würde man die Kälte und Härte, die einem von dem Spektakel abhält, nicht bemerken. Doch spätestens wenn die Scheibe Risse bekommt, erkennt man, dass man jahrelang im gläsernen Käfig gefangen war.
Und man würde sich sehnen. Sehnen nach dem salzigen Geruch des Meeres, den zischenden Lauten des Feuerwerks und dem Gefühl der Wärme auf der nackten Haut. Alles was man zuvor nicht hatte. So sind wir Menschen eben: Wir wollen im Grunde immer das, was wir nie bekommen können oder das, wofür es sich zu kämpfen lohnt.


Wie an jedem Arbeitstag roch ich nach süßen Aprikosen und chemischen Bodyglitter. Meine Haare waren zu wilden, dunkelbraunen Locken frisiert und die Wimpern tief schwarz getuscht. Die Schminke verstopfte meine eh schon strapazierten Poren, doch ich durfte mir davon nichts anmerken lassen. Auf meinem Rücken befanden sich blaue Schmetterlingsflügel, die so detailgetreu gearbeitet waren, dass man schon glatt denken konnte, man habe einen dieser schönen Falter um ein Vielfaches vergrößert, nur um ihm daraufhin die Flügel abzureißen. Das war mein Arbeitsoutfit im ''Papillon'', einem Bielefelder Stripplokal.
Frisch aus Frankreich war der Trend der zauberhaften Mädchen mit den Schmetterlingsflügeln und den verruchten Tanzbewegungen an der Stange vor wenigen Jahren auch zu uns herüber geschwappt. Das besondere an diesem Lokal war, dass die meisten Männer nicht hier her kamen, um sich bei dem Anblick der jungen Mädchen in den knappen Outfits aufzugeilen, sondern um etwas zu genießen, was – meiner Meinung nach - fast schon Kunst war.
Ich liebte es hier zu sein, denn hier zählte nicht wie man aussah oder oder was einem im Leben zugestoßen war, sondern nur der Augenblick. Man konnte alles um sich herum vergessen und einfach tanzen und Spaß haben.
Unsere männlichen Gäste waren normalerweise höflich und spendabel. Häufig waren sie mit Klamotten im Vintage Stil, einem Bart, unordentlichen Haar, Skinny Jeans und Vans oder Chucks anzutreffen. Die jüngeren von ihnen waren nicht gerade selten mit Hornbrillen unterwegs. Zu jeder vollen Stunde hatten unsere Gäste fünfzehn Minuten Zeit um selbst einmal auf die Bühne zu gehen und einen kleinen Poetry-Slam zu veranstalten. 
Manche Texten waren nur oberflächlich betrachtet tiefgründig, doch andere waren so beeindruckend anders, dass es mir manchmal den Atem raubte. Es war wirklich erstaunlich, dass anderthalb Jahren Arbeitserfahrung in diesem Lokal mehr zu meiner Charakterentwicklung beigetragen hatte, als neunzig Prozent meiner Schulzeit.
Die Mädchen um mich wuselten nervös herum und wirkten dabei wie Steckmücken in der Sommerhitze, die ich zu dieser winterlichen Jahreszeit schmerzlich vermisste. Leonie, ein schlankes, blondes Mädchen mit einem Bein, welches von tiefen, schwülstigen Narben übersät war, schloss Nadia, einer korpulenten russischen Schönheit mit riesigem Busen und einem sechsten Fingern an der linken Hand, den Verschluss ihres Kleider. Währenddessen warfen die fünf anderen Mädchen noch einen letzten prüfenden Blick in die großen Spiegel, bevor sie auf den Bühnen verschwanden.
In den Medien wurde das Papillon meist als Freak Show mit Strip- und Kunstflair stigmatisiert. Mir machte das nichts aus. Ich war es gewohnt angestarrt zu werden, denn ich hatte Heterochromie – zwei verschiedenfarbige Augen. Das linke war grau-blau wie Nebelschwaden über einem tosenden Meer und das rechte war so grün wie ein hoffnungslos verdreckter Tümpel.
Eine kühle Hand legte sich plötzlich auf meine Schulter. Innerlich erschrak ich, doch äußerlich blieb ich ganz ruhig.
„Ariana, komm bitte mal mit“, bat mich Frau Markesch, die Leiterin des Papillon, als ich mich zu ihr umgedreht hatte. Auf ihrem Gesicht befand sich ein gutmütiges Lächeln, dass neben ihren Augen zu kleinen Falten überging.
Ich folgte ihr durch die schmalen Gänge des Ladens bis zu einem kleinen Aufenthaltsraum, in dem es immer nach frischen Keksen, Orangensaft und Kakao duftete. Meist lagerten wir hier unsere Jacken und Taschen, bevor wir uns im Schmink- und Ankleideraum fertig machten. Heute waren jedoch all unsere Sachen auf einen Stuhl verfrachtet und ein junger Mann saß mitten im Raum auf einem Stuhl. Er besaß kurzes, blondes Haar, eine knubbelige Nase, dunkle Bartstoppeln und große, abstehende Ohren. Ich schätze ihn auf etwa Mitte zwanzig.
„Das ist Collin Altena von der Zeitschrift ''Suit of Success'' hier aus Bielefeld“, stellte Frau Markesch den jungen Mann vor - „Er möchte für die Februar Ausgabe einen Artikel über unser Lokal schreiben und würde gerne eine der Tänzerinnen interviewen und da dachte ich an dich, schließlich bist du von allen schon am längsten hier.“
„Natürlich“, willigte ich freudig ein und streckte dem Redakteur lächelnd die Hand hin, die er mit einem Augenverdrehen ergriff und nur für einen Sekundenbruchteil schüttelte. Danach wischte er sich die Hand an seiner Hose ab.
Pikiert kniff ich meine Lippen zusammen. Ich fragte mich, ob er niemals gute Manieren beigebracht bekommen hatte.
„Mein Name ist Ariana Linnea Nordin“, stellte ich mich vor und setzte mich ihm gegenüber auf einen freien Stuhl.
„Aha“, murmelte der junge Mann nur genervt.
„Sei einfach so nett und höflich wie immer. Herr Altena ist zwar schwierig, aber hoch angesehen und die Zeitschrift wird von Männern in ganz Deutschland gelesen“, flüsterte Frau Marksch mir noch ins Ohr, bevor sie wieder verschwand und mich alleine mit Herr Altena zurückließ.
„Entschuldigen Sie die Frage, aber um was für Themen dreht sich Ihre Zeitschrift?“, fragte ich ihn interessiert.
„Sport, Style, Wirtschaft, Politik und Sex“, antwortete er mir, ohne von seinem Notizblock aufzusehen, aus dem er plötzlich das obere, beschriebene Blatt hinausrupfte, es zerknüllte und neben sich auf den Boden fallen ließ.
„Die Fragen sind scheiße“, erklärte er sein Verhalten - „Ich improvisiere einfach.“
„Na, dann.“ Ich zog eine Augenbraue empor und wartete darauf, dass er begann mir die üblichen Standartfragen zu stellen, die ich schon bei tausend Interviews zuvor gehört hatte.
„Wieso sind alle Mädchen hier so hässlich?“
Für einen Moment starrte ich ihn verwundert in die kühlen, hellgrünen Augen. Normalerweise waren die Fragen deutlich vorsichtiger formuliert.
Der junge Mann beugte sich ein Stück vor und sah mich abwartend an, indem er eine Braue hob.
„Haben Sie mich nicht verstanden?“, wollte er wissen.
Er roch nach neuem Leder, was wahrscheinlich auf die Lederjacke, die er trug, zurückzuführen war.
„Doch, klar und deutlich“, antwortete ich erstaunlich ruhig und ratterte den altbekannten Text hinab: „Die Mädchen hier haben allesamt etwas an sich, was sie außergewöhnlich macht und genau das gefällt unseren Gästen. Sie haben keine Lust mehr auf Hollywoods Perfektion, sondern wollen Mädchen mit Fehlern sehen. Ich denke es ist wie eine künstlerische Ausstellung für sie.“
„Sie betiteln sich also selbst als Kunstwerk?“ Er musterte mich von Kopf bis Fuß. Die Missbilligung in seinem Blick war nicht zu übersehen.
„Sind wir das nicht alle?“ Ich lächelte ihn freundlich an.
Er gab keine Antwort auf meine Gegenfrage, sondern lehnte sich einfach wieder in seinem Stuhl zurück.
„Finden Sie nicht, dass Sie die jahrelange Arbeit der Feministinnen zu Nichte machen, wenn Sie so leicht bekleidet tanzen und sich somit wieder zum Sexobjekt degradieren?“
„Oh nein“, rief ich lachend - „Ganz und gar nicht. Schließlich laufen Männer doch beim Sport auch gerne mal oberkörperfrei herum. Wieso sollten wir Frauen das dann nicht auch tun? Zudem ist es nur mein Körper, mehr nicht. Was ist schon groß dabei? Ich habe noch nie verstanden, wieso Mädchen immer Komplimente für ihre Augen und ihr Lächeln oder so etwas bekommen wollen, aber sofort sauer sind, wenn ihnen mal von einem Mann gesagt wird, dass sie einen schönen Arsch oder Busen haben. Ich denke Feminismus bedeutet Gleichberechtigung für Männer und Frauen, doch viele ''Feministinnen'' verstehen es einfach vollkommen falsch.“
Ich entdeckte ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, welches aber schnell wieder seinen stahlharten Gesichtszügen wich.
„Interessante Ansicht“, gab er zu und notierte sich eifrig Wörter auf seinem Notizblock.
„Wie steht es mit Ihrem Verdienst?“, erkundigte er sich unverfroren.
„Das ändert sich je nach Stundenzahl. Normalerweise arbeite ich freitags und samstags von 22:00 Uhr bis 04:00 Uhr und sonntags, dienstags und mittwochs von 20:00 Uhr bis Mitternacht. Pro Abend bekomme ich 140 Euro brutto. Das dürfen Sie sich nun gerne selbst ausrechnen.“
Aus seiner Jackentasche fischte er sich sein Smartphone, öffnete dort die Taschenrechnerfunktion und begann die Angabe einzutippen.
„Sie bekommen also 2240 Euro brutto für einen 96 Stunden Monat“, schlussfolgerte er nach einer Weile - „Oh Gott, manche haben das als Wochenstunden. Und Sie müssen sich nur nackig machen, räkeln und nuttig mit dem Arsch wackeln. Was ist nur aus Deutschland geworden? Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“
„Das ist auch harte Arbeit“, wehrte ich mich. Eigentlich interessierte ich mich nicht dafür was andere Leute von mir hielten, aber Frau Markesch hatte viel Arbeit in ihren Laden gesteckt und verdiente eine positiven Artikel.
„Ein wenig mit dem Arsch zu wackeln, seine Titten zu entblößen und sich zu benehmen wie irgendeine Gossenschlampe ist bestimmt uuunglaublich harte Arbeit. Nun ja, genaugenommen benehmen sich manche hier nicht nur wie Gossenschlampen, sondern sind vermutlich wirklich welche. Wie viele der Mitarbeiterinnen hier gegen nebenbei noch auf den Strich? Ich wette beinahe alle.“ In Herr Altenas Blick schwang etwas mit, von dem ich nicht genau wusste, ob es eher herausfordernd oder belustigend war.
Ich ballte wütend die Fäuste zusammen.
„Wieso haben Sie solche immensen Vorurteile gegen diesen Beruf? Sie hätten den Artikel doch einfach jemand anderes schreiben lassen können.“ Ich konnte meine Stimme nur mit Mühe im Zaum halten, so wütend war ich.
Er verschränkte die Arme. Auf seinem Lippen lag ein überheblicher Ausdruck. 
„Eigentlich sollte mein Kollege diesen Artikel schreiben, doch er wurde krank, deswegen musste ich kurzfristig für ihn einspringen“, erklärte er mir - „Und Sie sollten sich selbst mal an die eigene Nase fassen, bevor Sie andere beschuldigen Vorurteile zu haben, denn Sie können einfach keine Meinung anderer akzeptieren.“
„Natürlich kann ich das“, entrüstete ich mich.
Wütend sprang ich auf und ging eilig zur Tür. Soetwas musste ich mir wirklich nicht mehr bieten lassen.
„Nein, können Sie nicht und jetzt hauen Sie ab, weil es Ihnen zu viel wird“, analysierte er mich.
Ich schnaufte wütend und riss die Tür auf.
„Bravo, was für ein unfassbar erwachsener Abgang“, kommentierte er sarkastisch und lachte in einem ekelhaft schnöseligen Tonfall.

 
„Ist das Interview schon zu Ende?“, wollte Frau Markesch verwundert wissen, als ich in den Schminkraum gestürmt kam und mich sauer auf meinen Stuhl fallen ließ, der daraufhin gefährlich schwankte.
„Dieser Typ ist ein Arsch“, knurrte ich und beobachte meine Chefin dabei wie sie Leonies blonde Mähne mit dem Glätteisen bearbeitete.
Ich drehte mein Gesicht zum Spiegel und erschrak kurz über meinen grimmigen Gesichtsausdruck. Meine Brauen hingen nur ein kleines Stückchen über den zu Schlitzen gezogen Augen. Seufzend entspannte ich mein Gesicht und begann damit mich abzupudern. Ich wollte jetzt so schnell wie möglich raus und einfach nur tanzen.
„Oh Ariana, was ist passiert? Bitte sag nicht, dass du ihn beleidigt hast. Seine Zeitschrift ist wirklich unglaublich einflussreich und ein guter Artikel wäre Gold wert.“ Frau Markesch drückte Leonie das Glätteisen in die Hand und eilte zu mir.
„Nicht ich habe ihn beleidigt, sondern er mich“, regte ich mich auf und fuhr mit dem bauschigen Puderpinsel über meine lange, leicht buckelige Hexennase.
„Und was hast du dann gemacht? Bist du einfach abgehauen?“, wollte Frau Markesch wissen. Ihre braunen Augen waren weit aufgerissen.
Plötzlich tat es mir Leid, dass ich sie so im Stich gelassen hatte und nicht noch mehr versuchte hatte Herr Altenas Sicht ins positive zu kehren.
„Seine Meinung zu unserem Beruf ist schon gefestigt, da konnte ich rein gar nichts tun“, nahm ich mich selbst in Schutz. Er hätte schließlich so oder so einen schlechten Artikel über das Papillon verfasst.
Schwer atmend massierte sich Frau Markesch ihre Schläfe. Ihre Unterlippe zitterte.
„Von dir hätte ich wirklich etwas mehr Professionalität erwartet“, schnaufte sie und sah mich enttäuscht an, bevor sie sich zu Leonie drehte und fortfuhr - „Leonie, bitte komm du mit und hilf mir Herr Altena zu besänftigen. Ariana scheint wohl nicht ganz verstanden zu haben wie einflussreich dieser Mann ist.“
Stinksauer klatsche ich mir noch mehr Puder ins Gesicht, um meine zahlreichen Sommersprossen zu verbergen. Ich wusste nicht genau, ob ich sauer auf Frau Markesch oder auf den jungen Redakteur war. Wahrscheinlich auf beide, doch am meisten auf mich selbst. Ich hasste es Frau Markesch zu enttäuschen und die Worte des jungen Mannes waren im Grunde nur die Wahrheit gewesen.
Ich stützte meine Ellenbogen auf den weißen Schminktisch und platzierte zwei Fingerspitzen an die Stelle zwischen den Augen. Den ganzen Tag hatte mein Kopf schon unglaublich weh getan, doch nun erreichte es den Höhepunkt. Es fühlte sich an, als würden hundert Presslufthammer in meinem Oberstübchen wüten.
Leicht zittrig nahm ich meine Tasche vom Boden und holte eine Packung Aspirin hinaus.
„Reiß dich zusammen“, keifte ich mich selbst an, als ich die kleine, weiße Tablette mit Wasser runter spülte.
Ein letztes Mal betrachte ich mich noch im Spiegel, bevor ich auf die Bühne ging und das tat was ich liebte: Ich tanzte.

 
Die lange Landstraße vor mir war nur spärlich von den Scheinwerfern meines Autos erhellt. Ich hatte trotz meiner - noch immer beträchtlichen – Kopfschmerzen das Radio leise aufgedreht. Es war eine meiner kleinen Macken, dass ich nach Mitternacht nur mit Musik Auto fuhr. Dämlicherweise bildete ich mir ein, dass mich Musik beschützen und Stille töten könne. Ziemlich töricht von mir, doch so war ich nun mal.
Krampfhaft versuchte ich meine Augen an die Fahrbahn zu fesseln, doch meine Kopfschmerzen schienen von Sekunde zu Sekunde heftiger zu werden. Mittlerweile hatte sich auch noch Übelkeit dazu gesellt und half dem Schmerzen in meinem Haupt mich zu übermannen. Sie schafften es.
Schwer atmend stoppte ich den Wagen, der im frisch gefallenen Schnee noch ein Stück weiter schlitterte. Mir war es vollkommen egal, dass ich mitten auf der Straße stand. Ich konnte einfach nicht mehr. Ich verließ den Wagen und ließ mich neben der Straße in den Schnee fallen. Die Kälte brannte sich förmlich in die nackten Stellen meines Körpers ein. Zog da jemand an meinen Gliedmaßen? Es fühlte sich an, als würde ich auseinander gezogen werden, während ich in der Ferne Schreie hörte und ein Tropfen, als würde Blut auf kalte Fliesen treffen. Ich zog angsterfüllt die Luft ein, als es um mich herum schwarz wurde.

 
Ich stand in einem langen Gang. Die Wände waren aus dunklem, tropfend nassem Gestein, aus dem Stacheln hinaus ragten. Am Ende des Ganges war eine winzige Luke, die gerade groß genug für einen kleine, zierlichen Menschen wie mich zu sein schien. Hinter diesem Loch erkannte ich eine wunderschöne Blumenwiese.
Verwirrt machte ich einige Schritte vorwärts.
Hier roch es entfernt nach dem wunderschönen Duft der Blumen, doch hauptsächlich nach Blut und verwesenden Fleisch.
War das hier ein Traum? Es fühlte sich doch aber alles so real an. Selbst die Kälte spürte ich auf meiner Haut. Sie fraß sich in meine Haut wie der Schnee.
Plötzlich setzte sich die Wände in Bewegung und kamen auf mich zu. Ich hörte ein psychopathisches Lachen in meinem Kopf, als würden die Stacheln mir ihre Vorfreude auf meinen Körper bekunden wollen.
Ich rannte los. Ich musste den Ausgang erreichen. Unbedingt. 

 



Kapitel 2: Strangers at the glade




Ich fühle mich wie in einem Tunnel, der immer schmaler wird. Ich bin schon viel zu weit drin, um umzukehren. Seht, am Ende des Tunnels empfängt mich die Erlösung in verheißungsvollen Farben. Hell wie das Licht, wärmend wie eine heiße Schokolade. Ich werde mit ihr verschmelzen.

 


Mein Atem ging flach und mein Körper zitterte vor Angst und Kälte. Verzweifelt versuchte ich den spitzen Stacheln auszuweichen, die aussahen wie die einer gigantischen, genmanipulierten Rose. Das hier konnte doch nur ein Traum sein. Ein dummer Albtraum, mehr nicht.
Ich blieb stehen, kniff die Augen zusammen und zwickte mich mehrmals in den Arm, doch ich wachte nicht auf, stattdessen verspürte ich nur einen leichten Schmerz am Unterarm.
War das hier etwa doch Realität?
Als ich wieder die Augen öffnete und weiter rennen wollte, war der Ausgang am Ende des Tunnel verschwunden. Die Stacheln kamen unaufhörlich näher. Mittlerweile war der Gang nur noch knapp zwei Meter breit. Wenn man die Länge der Stacheln abzog, hatte ich nur noch etwa anderthalb Meter Platz und pro Sekunde überbrückten die beiden Wänden zusammen etwa ein bis zwei Zentimeter.
100 Sekunden. Das war die Zeit, die mir noch circa blieb. Und kein Ausweg war in Sicht. Ich drehte mich hilfesuchend im Kreis. Irgendwo musste es doch einen Ausgang geben. Es gab jedoch keinen.
Vielleicht könnte ich solange gegen den Ausgang von vorhin treten, bis er wieder aufgeht oder dort wenigstens eine Lücke finden, in der ich von den Stacheln nicht erwischt werden könnte. Einen Versuch war es auf jeden Fall wert.
Ich rannte los. Die Kälte peitschte mir unablässig ins Gesicht, als würde sie mir Backpfeifen geben.
Woher kam dieser Wind?
Als ich am Ende des Tunnel ankam, war dort – wie ich es eigentlich auch schon erwartete hatte – keine Lücke. Frustriert hämmerte ich gegen die harte Wand, die dünn mit Eis beschichtet war. Meine Panik schwoll an, meine Schläge wurden aggressiver und meine Angst größer.
„Es ist nur ein Traum. Es kann nur ein Traum sein. Das alles hier ist keine Wirklichkeit“, versuchte ich mir einzureden, doch ich glaubte mir selbst nicht. Alles war viel zu real für einen Traum.
„Hilfe!“, schrie ich. Meine Stimme zitterte und ich war den Tränen nahe.
„Ist da jemand?“, hörte ich eine weibliche Stimme rufen.
Geschockt hielt ich inne. Hoffnung keimte in mir auf. Ich war nicht alleine! Doch wo kam die Stimme her?
„Ja!“, brüllte ich zurück und ich war nicht die einzige, die der Frau antwortet, stattdessen hörte ich, wie viele verschiedene Stimmen ihre Anwesenheit bekundeten. Von weiblich, bis männlich, von weinerlich bis aggressiv – scheinbar alles war vorhanden.
„Wo seid ihr?“, schrie ein Mann. Seine Stimme war dunkel und rau, aber auf eine beruhigende Art und Weise, wie ein Opa, der seinem Enkel eine Gute-Nacht-Geschichte über mutige Ritter und schöne Prinzessinnen erzählt – oder anders herum.
Für einen kleinen Moment lullte mich seine Stimme in schöne Erinnerungen an meinen eigenen Großvater aus Norwegen, bei dem ich früher jeden Winter verbracht hatte. Er hatte mir immer Geschichten auf norwegisch erzählt und trotz der Tatsache, dass ich kaum etwas verstanden hatte, schlief ich danach immer viel besser. Diese Nostalgie verblasste jedoch schnell wieder, als ich plötzlich spürte wie sich einer der Stacheln langsam in meinem Rücken bohrte. Geschockt machte ich einen kleinen Schritt nach vorne, doch auch da kamen die Stacheln meiner Brust schon gefährlich nah.
„Ihr müsst an den Stacheln nach oben klettern!“, rief eine Person, deren Stimme ich weder als weiblich, noch als männlich einordnen konnte, die aber einen starken französischen Akzent besaß.
Verwirrt sah ich empor, doch auch dort entdeckte ich nur Schwärze.
„Da ist doch auch nur Stein“, rief ich wütend zurück. Wollte er mich etwa zum Narren halten?
„Versucht es, vertraut mir“, kam zurück.
Was blieb mir schon anderes übrig?
„Das ist alles eh nur ein Traum, ich habe nichts zu verlieren“, sagte ich mir als eine Art persönliches Mantra leise auf, während ich den Fuß auf den ersten Stachel stellte und mit der Hand einen Zacken weiter oben umfasste und mich hochzog. Die Widerharken bohrten sich tief in mein Fleisch und ich spürte wie ich begann zu bluten, doch ich versuchte den Schmerz auszublenden und mich auf das Klettern zu konzentrieren.
Der nächste Fuß folgte und auch meine andere Hand wanderte höher, allerdings kamen auch die Stacheln immer näher. Ich hatte noch höchstens vierzig Sekunden, bis mein Körper keinen Platz mehr zwischen ihnen finden würde.
Ich beeilte mich und schaffte es schnell zwei Meter zu überwinden. Ein Meter fehlte mir noch bis zum Ausgang. Ein Fußtritt. Ein Handgriff. Noch ein Fußtritt. Noch ein Handgriff. Dreißig Zentimeter. Ich streckte meine Hand gen Decke. Entgegensätzlich meiner Erwartungen war diese weich und anscheinend nicht aus Stein wie die Wände. Ich schlug kräftig dagegen. Meine Faust durchbrach die Decke. Frische Luft strömte in die Höhle und der Gestank von Blut und Verwesung wurde etwas erträglicher. Abermals durchstieß ich die Decke mit meiner Faust, um eine Lücke zu bilden, die groß genug zum Durchschlüpfen wäre. Ich sah einen wolkenlosen, azurblauen Himmel über mir und musste kurz blinzeln, weil das Licht so viel greller und wärmer schien, als die Dunkelheit, die mich zuvor in der Höhle umgeben hatte.
Mit meiner blutüberströmten Handfläche griff ich aus der Höhle und versuchte mich am Rand festzuhalten. Taufrische Grashalme kitzelten meine verwundeten Handinnenflächen. Das kühlende Gefühl war so angenehm, dass ich für einen kleinen Moment nicht aufpasste. Mein Fuß rutschte ab und auch meine Hand schlitterte über den feuchten Rand. Ich schrie panisch auf, doch bevor ich in in die Tiefe fallen konnte, packte mich jemand am Handgelenk und zog mich an die Oberfläche. Grob wurde mein Körper ins taufrische Gras gepresst. Ein muskulöser, anscheinend mit Steroiden aufgepumpter, Mann stand über mir und musterte mich mit seinen winzigen Augen eingehend.
„Alles in Ordnung?“, brummte er in tiefer Stimmlage.
Ich nickte und wusste selbst nicht, ob es es eine Lüge oder die Wahrheit war. Der Schock saß noch tief in meinen Knochen und mein Herz pochte wild gegen meine Brust, während mein Rücken und meine Hände höllisch brannten und pulsierten.
Der Muskelprotz hielt sich nicht länger mit mir auf und eilte plötzlich davon.
„Wo willst du hin? Lass mich nicht alleine“, brachte ich keuchend hervor und drehte mich ächzend zur Seite, um sehen zu können, wohin er lief.
Ich lag auf einer kreisförmigen Wiese, die umgeben war von dichten Bäumen und dunkelgrünen Gestrüpp. Strahlend rote Mohnblumen blühten hier in merkwürdigen Anordnungen, die aussahen wie Vierecke mit einem komischen Muster, welches ich noch nicht genau erkennen konnte in meiner Position. Am Rande dieser Wiese, direkt neben dem Bäumen, befanden sich anscheinend weitere Höhlen, denn ich sah bei vielen ebenfalls die zerstörte Deckenschicht und Menschen, die sich auf der Wiese tummelten. Die meisten wirkten zutiefst verängstigt.
Ein paar Männer und Frauen, zu denen nun auch mein Retter lief, hämmerten auf zwei übrig gebliebene Schichten ein. Sie durchbrachen eine davon und zogen schnell einen schmächtigen, brünetten Jungen hervor, der keines Falls älter als zehn sein konnte. Er fiel schluchzend zu Boden und grub seine kleinen Finger kreischend in die Erde. Sein Gesicht drückte er so fest an den Boden, dass sicherlich einige Grashalme dabei verschluckte. Eine junge Frau eilte zu ihm und strich ihm behutsam über den Rücken.
Noch bevor die Decke der anderen Höhle zerstört werden konnte, gab es einen lauten Knall und die Leute darum wichen panisch zurück.
„Die Höhle hat sich geschlossen!“, schluchzte eine ältere Frau mit schneeweißem Haar und einem genauso weißen Nachthemd - „Sie ist tot!“
Auf der Lichtung herrschte Totenstille.
„Nein, nein, nein“, ertönte wieder die Stimme mit dem französischen Akzent. Sie gehörte einem dicklichen, kleinen Mann mit Brille und dunklem Haar, der nur eine graue Boxershorts trug.
„Sie hatte noch Zeit! Wieso hat die Uhr bei sieben Sekunden gestoppt?“ Die junge Frau, die dem kleinen Jungen eben noch beruhigend über den Rücken gestrichen hatte, wirkte nun so, als wüsste sie nicht, ob sie aufgebracht oder den Tränen nahe sein sollte.
Ich war verwirrt. Von was für einer Uhr sprachen die Leute hier und wieso wussten sie, dass die Person in der Höhle weiblich war?
Ich folgte ihren Blicken und entdeckte rechts von mir eine großen digitalisierten, etwa zwei mal drei Meter großen Bildschirm an einem Baum. Auf ihm prangten Gesichter. Unsere Gesichter. Es waren insgesamt 14 Bilder, die uns alle im Schlaf zeigten, doch eines der Portraits war durchgestrichen. Es war das Bild eines jungen, blonden Mädchens, das sich an blaues Kuscheltier klammerte. Ich kannte das Mädchen.
„Es ist alles nur ein Albtraum!“, redete ich mir ein, während ich auf das Bild von Mila starrte.
Sie war die Nachbarstochter, streng protestantisch erzogen, hatte immer ihr blaues Kuscheltier bei sich, stotterte und war erst fünf Jahre alt.
Neben jedem Gesicht leuchtete eine Uhr auf, die allesamt grün waren – bis auf Milas. Ihre Uhr war rot, doch sie war nicht bis auf die letzte Sekunde heruntergelaufen, sondern hatte bei 0:07 gestoppt.
Mein Blick glitt wieder über die Bilder. Ich suchte nach bekannten Gesichtern.
Frau Doperski – meine ehemalige Musik Lehrerin.
Samira Terr – ein Mädchen aus dem Tanzkurs, den ich vor einigen Jahren gemacht hatte.
Collin Altena … Ich verzog instinktiv das Gesicht. Was hatte der denn hier zu suchen?
Der Rest kam mir teilweise bekannt vor, doch ich konnte sie nicht zu ordnen. Ich wendete meinen Blick vom Bildschirm ab und widmete ihn stattdessen den anderen Leuten.
„Was ist hier los?“, wollte ich wissen.
Alle starrten mich an, antworteten jedoch nicht und bevor ich ansetzen konnte, um noch etwas zu sagen, verschwammen ihre Gesichtszüge vor meinen Augen. Ich hörte ein Klicken und Knartschen, dann war ich umgeben von Dunkelheit.



Kapitel 3: Raindrop tears

 


Als sich der erste Schnee auf das Grab meines Geliebten legte und die Blumen ihren Lebensgeist verloren, wusste ich, dass ich mit ihm gestorben war.

 


Als ich wieder zu Bewusstsein kam, spürte ich kuschelige Wärme, die mich sanft einhüllte. Langsam öffnete ich meine Augen. Im Dunkeln tastete ich herum, bis ich mein Handy fand und es entsperrte. Ich stellte die Taschenlampenfunktion an, setzte mich hin und durchleuchtete den Raum, der sich als mein Zimmer heraus stellte.
Mein Aufenthalt in der Höhle und auf der Lichtung, war also doch nur ein Albtraum gewesen!
Ich seufzte erleichtert, stellte die Taschenlampe auf meinem Handy aus und ließ mich zurück in die Kissen sinken. Meine Lider fühlten sich so schwer an, als hätte ich in dieser Nacht keine einzige Sekunde geschlafen. Verschlafen starrte ich auf die Uhr meines Handys. 10:23 Uhr.
Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, um wie viel Uhr ich vergangene Nacht nach Hause gekommen war. Genaugenommen konnte ich mich gar nicht mehr daran erinnern nach Hause gekommen zu sein.
Viel dachte ich mir nicht dabei. Es war mir schon früher oft passiert, dass ich mich morgens nicht mehr an die Nacht zuvor erinnern konnte. Woran das lag, wusste ich nicht. Vermutlich wurde mein Verstand einfach verschwommen, sobald ich müde wurde.
Ich öffnete die Tumblr App auf meinem Handy und scrollte auf mein Dashboard hinab. Einigen Bildern gab ich ein Herz, um sie nachher zu rebloggen und andere rebloggte ich sofort. Das grelle Displaylicht erleuchtete meine Finger, die stetig am Scrollen waren. Ich bemerkte merkwürdige Flecken auf ihnen.
Neben meinem Bett tastete ich nach dem Schalter meiner Nachtischlampe. Das Licht blendete mich kurz, als es an ging. Ich blinzelte mehrmals, bis sich meine Augen an die Helligkeitsveränderung gewöhnt hatten.
Verwundert betrachtete ich meine Hände. Auf ihnen befanden sich blaue Flecken, Abschürfungen und etwas, das aussah wie getrocknetes Blut. Ich runzelte die Stirn, denn ich wusste einfach nicht was passiert sein konnte.
Für einen kurzen Moment zog ich in Erwägung, dass mein Traum vielleicht doch kein Traum gewesen sein könnte, doch den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Weiterhin an ihm festzuhalten wäre albern gewesen.
Wahrscheinlich war ich im Schlaf einfach mit der Hand an meine Bettkante geschlagen. Vielleicht hatte ich mich auch gestern beim Tanzen verletzt und den Schmerz nur nicht gespürt, weil ich beim Tanzen immer vollgepumpt mit Endorphinen und Dopaminen war. Diese Vermutungen bläute ich mir selbst so sehr ein, dass ich mir sofort glaubte. Doch es kam mir vor, als würde ich mich selbst anlügen. Wieso wusste ich jedoch nicht.
Mein Kopf brummte. Ich brauchte definitiv einen Kaffee.
Missmutig schlüpfte ich in kuschelige, graue Hausschuhe und schlurfte müde durch den Flur der WG. Nachdem ich mir im Badezimmer das Blut von den Fingern gewaschen hatte, ging ich in die Küche, in der ich zuallererst die Kaffeemaschine an stellte, danach steckte ich zwei Toastbrote in den Toaster und setzte mich gähnend auf die Küchenplatte.
Manuel Scheer, mein 21-jähriger Mitbewohner, der vor kurzem den Blumenladen seines Vaters übernommen hatte, hasste es, wenn ich oder unsere andere Mitbewohnerin sich darauf setzten. Er war der festen Überzeugung, dass die Platte irgendwann brechen würde, was Kiara und ich überaus unrealistisch fanden. Wir hatten mit Manuel deswegen sogar eine Wette am laufen.
Generell wetteten wir oft untereinander. Kiara und ich schlossen jedes Mal eine Wette ab wie lange die Beziehung diesmal halten würde, wenn Manuel wieder ein neues Mädchen mitbrachte. Meist hielten seine Beziehungen maximal zwei Monate. Manuel und ich wetteten immer, wenn Kiara versuchte etwas zu kochen. Fast immer gewann die Person, die darauf gewettet hatte, dass sie es wieder anbrennen lässt. Und Kiara und Manuel hatten eine Wette, bei der sie schätzten, wann ich endlich das Strippen aufgeben würde, um was „normales“ zu machen. Sie akzeptierten meinen Beruf, doch sie verstanden es nicht. Oft hatte ich versucht ihnen meine Leidenschaft zu beschreiben und so näher zu bringen, doch ich schaffte es einfach nie die richtigen Worte zu finden.
Die Toasts flippte aus dem Toaster und zeitgleich wurde auch mein Kaffee fertig. Ich beschmierte meinen Toast mit Marmelade und setzt mich mit meinem Frühstück an den Tisch in der Küche, der an der Wand befestigt war und der so hoch war, dass man nur mit Barhockern an ihm sitzen konnte.
Ich fand es ein wenig Schade, dass wir alle immer in unserer kleinen Küche nebeneinander gequetscht sitzen mussten und nicht gegenüber, doch unsere Einkommen reichten nicht für eine größere Wohnung und unser Wohnzimmer war vollkommen zugestellt mit Kiaras Keyboard und zwei von Manuels Fitnessgeräten, sowie unserem Sofa, dem Sessel und dem Fernseher.
Gerade als ich anfangen wollte zu essen, klingelte es an unserer Haustür. Auf dem Weg zur Tür versuchte ich noch schnell meine Haare einigermaßen zu richten, damit ich mehr oder weniger passabel aussah. Als ich die Tür öffnete stand da – entgegen meiner Erwartungen – nicht der Postbote, sondern Frau Verl, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter Mila in der Wohnung neben uns hauste. Ihr Augen und Nase waren stark gerötet, sie zitterte und ich sah, dass Tränen in ihren Augen glänzten, wie kleine Regentropfen, die traurig darüber waren, dass sie immer nur in Gebieten fielen, in denen sie nicht gebraucht wurden.
„Hast du Mila gesehen?“ Ihre Stimme zitterte unerträglich - „Sie ist so gerne bei euch. Ist sie da?“
Ich schüttelte langsam den Kopf und starrte Frau Verl geschockt an. Die Erinnerungen an meinen Traum drängten sich mir wieder auf und mir wurde schlecht, als ich daran dachte, wie die Wände sie zerquetscht hatten.
„Wieso?“, fragte ich leise, obwohl ich es mir schon denken konnte. Die Angst schnürte mir die Kehle zusammen.
„Sie ist seit letzter Nacht verschwunden.“

 
„Du bist gar nicht bei der Sache, Ariana“, beschwerte sich meine Freundin Aylin und warf mir den Tennisball zu - „Los wir haben Aufschlag.“
Gedankenversunken schlug ich den Ball auf die andere Seite zu Kiara und Felix. Mit Leichtigkeit parierte Felix den Ball, der nun wieder in meine Richtung flog. Ich konnte mich jedoch wirklich nicht konzentrieren und achtete kaum auf den Ball, während ich meinen Gedanken nachging, die sich nur um Mila und meinen Traum drehten. Das konnte doch kein Zufall gewesen sein!
„ARIANA!“, schrie Aylin aufgebracht und hechtete zu mir hin.
Nur knapp bevor der kleine, gelbe Ball den Boden berührte, schlug ich ihn, doch er landete im Netz.
Aylin fluchte leise auf türkisch. Sie hasste es zu Verlieren.
„Irgendwas ist doch los mit dir“, stellte Kiara fest und versuchte übers Netz zu klettern, was jedoch eher nach Fallen aussah. Schnell eilte Felix zu ihr und half ihr. Kiara wurde ein wenig rot und ihre Augen fingen an zu strahlen, wie immer, wenn Felix sie berührte. Der junge, dunkelblonde Mann schenkte ihr ein sanftmütiges Lächeln und ich sah sogar von hier aus, dass seine Stirn vor Schweiß anfing zu glänzen. Jeder Blinde konnte die erotische und romantische Spannung erkenne, die seit etwa einem Jahr zwischen den beiden pulsierte, nur Kiara und Felix war das Ganze immer noch nicht wirklich klar geworden.
Da wir vier uns seit der weiterführenden Schule kannten, waren wir seit jeher beste Freunde und Kiara und Felix hatten sich in der Zeit gegenseitig in die Friendzone gesteckt, doch dieses Gefängnis bröckelte mittlerweile gewaltig.
„Denkt du an David und Isabella?“, wollte Aylin einfühlsam wissen.
Jeder von uns zuckte bei diesen beiden Namen zusammen. Mein Herz fühlte sich schwer an und ich musste mehrmals tief durchatmen, bis ich es schaffte den Gedanken an die beiden zu verscheuchen.
„Nein, ich habe einfach nur schlecht geträumt“, murmelte ich und strich mir einige Strähnen, die sich aus meine Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht.
Meine Freunde schienen mir nicht zu glauben und kamen auf mich zu. Aylin und Kiara zogen mich gleichzeitig in eine Umarmung, während mir Felix, der mittlerweile auch über das Netz geklettert war, beruhigend über den Rücken strich.
„Es geht wirklich nicht um die beiden“, beteuerte ich - „Ich habe das überwunden!“
„Gehst du noch zu deiner Psychologin?“, wollte Felix wissen.
„Nein. Ich muss da nicht mehr hin. Mir geht es gut. Ich habe einfach schlecht geträumt und das ist alles“, antwortete ich ihm gereizt und löste mich aus der Umarmung.
Meine Freunde musterten mich zweifelnd und wirkten so, als hätten sie Angst, dass ich wieder einen Nervenzusammenbruch erleiden könnte – genau wie nach Davids Tod und wie nach Isabellas ein Jahr später.
„Lasst uns was trinken. Ich bin erschöpft vom Spiel“, schlug Kiara vor, die anscheinend die Anspannung bemerkt hatte, die in der Luft lag.
Wir nickten alle stumm und schlenderten an den anderen Feldern der Turnhalle vorbei. Von den zehn Feldern, waren heute nur zwei weitere besetzt. Frisch gefallener Schnee hatte sich auf der Glasdecke der flachen Halle abgelegt und versperrte somit die Sicht auf den Himmel, sodass die Halle mit den Lampen, die an den Stützpfeilern hingen, beleuchtet werden musste.
Direkt neben der Halle gab es im gleichen Gebäude mehrere kleine Restaurants, ein Solarium und eine Praxis für Krankengymnastik. Zielstrebig liefen wir auf unser Stammcafé Meremi zu, in dem vier wir jeden Donnerstag nach dem Tennisspielen Kaffee und Kuchen bestellten.
„Was gibt es neues bei euch?“, fragte ich interessiert. Seitdem wir nicht mehr alle zusammen zur Schule gingen, hatten wir leider nur wenig Kontakt, deswegen war uns unser wöchentliches Treffen zum Tennisspielen und zum Kaffee und Kuchen so wichtig. Kiara studierte mittlerweile Englisch und Biologie auf Lehramt, Aylin hatte sich bei ihrem Studium der Erziehungswissenschaft gewidmet und Felix machte eine Ausbildung als Reisebürokaufmann.
Aylin grinste und fing an zu kichern wie ein kleines Mädchen.
„Sebastian und ich wollen zusammenziehen“, verkündete sie und strahlte uns an.
Ich versuchte es aufzuhalten, doch meine Augenbrauen hoben sich automatisch. Mein Zweifel war unverkennbar. Sebastian war ein besserwisserischer, schnöseliger Mathematik-Student, mit dem Aylin gerade mal neun Monate zusammen war.
„Jetzt schon?“, wollte Felix, der noch bei seinen Eltern wohnte, wissen.
„Wir lieben uns und ich denke wir sind beide bereit den nächsten Schritt zu machen“, sagte Aylin begeistert und schien unsere Zweifel gar nicht zu bemerken - „Und im Sommer will er mich mit nach Frankreich zu seinen Großeltern nehmen. Die leben in Paris. Ich freue mich schon so darauf. Ich war noch nie in Paris!“
„Oh mein Gott, ich will auch nach Paris!“, kreischte Kiara begeistert und riss ihre hellbraunen Augen weit auf. Immer wenn sie das tat, wirkten ihre riesigen Augen viel zu groß für ihren kleinen, dünnen Körper, der gerade mal eine Größe von etwa 1,50m aufwies. Es sah immer lustig aus, wenn Felix, der fast 1,90m groß und ein wenig pummelig war, neben ihr stand.
Nachdem wir bestellt hatte, redeten wir noch weiter über das geplante Zusammenziehen von Aylin und Sebastian, ihre Reise und über Felix kleine Schwester, die vor kurzem einen großen deutschen Tanzwettbewerb gewonnen hatte. Von meinem merkwürdigen Traum und Milas Verschwinden erzählte ich jedoch nichts.
Gerade als die Kellnerin mit unseren Getränken kam, klingelte mein Handy. Ich sah auf den Display. Es war Frau Markesch, die Leterin des Papillon.
„Hey“, sagte ich, während ich mir das Handy ans Ohr hielt.
„Hallo Ariana, könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?“ Es klang nicht so, als hätte ich eine Wahl, was den Gefallen anging.
„Natürlich“, antwortete ich - „Worum geht es?“
„Bitte fahr in die Redaktion von Suit of Success. Du musst wirklich nochmal mit Herr Altena sprechen und dich entschuldigen. Der Artikel ist unglaublich wichtig für uns, das weißt du doch.“
Ich murrte bestätigend, aber gleichzeitig auch sehr genervt.
„Ich weiß, dass du das nicht gerne machst, aber du musst es tun!“, klärte mich Frau Markesch streng auf.
„Okay.“ Ich seufzte - „Ich fahre nachher hin.“
„Nein, nicht nachher, sondern jetzt. Es ist schon 16 Uhr und die Redaktion hat nur bis 17 Uhr geöffnet.“
„Aber -“, begann ich, doch meine Chefin schnitt mir einfach das Wort ab.
„Kein aber! Wir können uns von so einer einflussreichen Zeitschrift keinen schlechten Artikel leisten!“, herrschte sie.
Ich seufzte erneut.
„Okay“, wiederholte ich.
„Prima“, freute sich Frau Markesch und legte dann auf.
Ich erklärte meinen Freunden die Situation und verabschiedete mich dann von ihnen. Nachdem ich mich umgezogen hatte ging ich draußen auf meinen alten, blauen VW Polo zu, den ich mit 18 von meinem ersten Gehalt von Bekannten meiner Eltern gebraucht gekauft hatte. Er lief nicht mehr einwandfrei und war auch nicht mehr sonderlich modern, doch ich mochte ihn, denn ich hatte ihn ganz alleine bezahlt und für meine jungen 19 Jahre reichte dieses Auto allemal.
Auf meiner Fahrt zur Redaktion, die ich mithilfe der Kartenfunktion meines Handys fand, stand ich vor gefühlt einer Milliarden roter Ampeln, deswegen kam ich erst um 16:45 Uhr an, obwohl die Redaktion gar nicht so weit von der Tennishalle entfernt war.
Als ich ausstieg strich ich meine Klamotten glatt und fuhr mir nochmal durch die Haare. Nach dem Sport sah ich immer total fertig aus. Meine Haare lagen vollkommen platt auf meinem Kopf. Die schönen Locken der vergangenen Nacht waren verschwunden. Ich presste die Lippen aufeinander, als ich mich im Schaufenster der Redaktion betrachtete, in dem einige der berühmtesten Ausgaben der letzten fünfzehn Jahre lagen, so hieß es auf dem Schild, das über den Zeitschriften hing.
Wiedereinmal seufzte ich. Ich hatte das Gefühl, dass sich dies noch zu einen Tick von mir entwickeln würde.
Ich riss meinen Blick von meinem Anblick los. Mir war klar, dass ich gerade größere Probleme hatte, denn jetzt musste ich erst einmal ein Gespräch mit Collin Altena überstehen.

Kapitel 4: The true meaning of superficiality

 



Ich bin bin ein Sonnenstrahl. Tanzend bewege ich mich und bringe das Eis eines kleinen Kindes zum schmelzen. Nicht nur die Dunkelheit ist böse, sondern auch das Licht.


 
„Hallo, mein Name ist Ariana Linnea Nordin“, stellte ich mich dem Rezeptionist vor, nachdem ich die Redaktion betreten hatte - „Ich würde gerne mit Herr Altena sprechen.“
Der junge Mann schenkte mir keine Beachtung und tippte schweigend in seinen Computer. Nach etwa zehn Sekunden, sah er endlich auf und schenkte mir ein gezwungen freundliches Lächeln.
„Wir haben Sie schon erwartet, Frau Nordin. Wir wurden von Frau Markesch über ihr Kommen informiert. Sie sind ziemlich spät. Herr Altena wartet schon in seinem Büro auf Sie. Fahren Sie einfach mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock, gehen sie dann zum Ende des Ganges. Sein Büro hat die Nummer zwölf.“
„Dankeschön“, bedankte ich mich und ging zum Fahrstuhl. Die Eingangshalle war ungewöhnlich klein und schlicht aus, wenn man bedachte, dass die Zeitschrift, die hier verfasst wurde, von mehreren Hunderttausend Männern in Deutschland gelesen wird. Abgesehen von einer kleinen Sitzecke mit zwei Sofas, einem Sessel und einem niedrigen Tisch, auf dem die letzten Ausgaben der Zeitschrift lagen, standen hier noch zwei – vermutlich künstliche – Palmen herum. Die Wände waren perlweiß, abgesehen von dem eleganten Schriftzug Suit of Success, der über der Rezeption prangte.
Nur wenige Sekunden nachdem ich auf den Knopf neben dem Fahrstuhl gedrückt hatte, öffneten sich die Türen von diesem. Ich war etwas überrascht, dass es nur drei Knöpfe für die Stockwerke gab. Definitiv hatte ich mir hier alles viel größer vorgestellt. Als ich im zweiten Stockwerk ankam, stellte ich fest, dass der kurze Flur nur sechs Türen beinhaltete, die mit Zahlen von sieben bis zwölf beschriftet waren. Ich ging bis hinten durch, wie es mir der Mann an der Rezeption gesagt hatte, und klopfte gegen die Tür mit der Nummer zwölf.
„Herein“, hörte ich Herr Altena sagen.
Indem ich die Lippen wieder zusammenpresste, versuchte ich mich vom Seufzen abzuhalten. Diesen Tick wollte ich wirklich unterbinden.
„Guten Tag“, sagte ich, bemüht um einen professionellen, distanzierten Tonfall, nachdem ich den Raum betreten hatte.
„Hallo“, sagte er knapp und deutete auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch - „Setzen Sie sich doch bitte.“
Schweigend tat ich dies.
Sein Büro sah – genaue wie die Eingangshalle – ziemlich schlicht aus. Die Wände waren ebenfalls weiß und die einzigen Möbel waren ein Bücherregal, in dem einige alphabetisch geordnete Aktenordner standen, sein Schreibtisch und die zwei Stühle auf denen wir saßen. Rechts neben dem Schreibtisch war ein großes Fenster, aus dem man einen guten Blick auf einen kleinen Park hatte. Es sah schön aus, dass alles so wirkte, als wäre es in Watte gepackt worden und gleichzeitig verliehen die kahlen, dunklen Bäume dem ganzen etwas gruseliges und geheimnisvolles. Zwar hasste ich den Winter eigentlich, doch diese kleine Wattelandschaft gefiel mir ausnahmsweise sehr gut.
Herr Altenas Schreibtisch war ordentlich. Rechts stand ein weißer Apple Computer, der in seine Richtung gedreht war. Die Tastatur lag vor ihm und auf der linken Seite stand ein Bilderrahmen. Er war jedoch zu ihm ausgerichtet, sodass ich nicht sehen konnte, was für ein Bild zwischen den Halterungen steckte.
„Frau Markesch hat bei ihrem Anruf gesagt, dass Sie sich entschuldigen wollen“, kam Herr Altena gleich auf den Punkt - „Dann fangen Sie mal an.“
Wieder wollte sich ein Seufzer meine Kehle hoch kämpfen, doch ich unterdrückte diesen krampfhaft.
„Es tut mir sehr Leid“, log ich, doch versuchte es ehrlich klingen zu lassen.
„Was genau tut Ihnen Leid?“, wollte er wissen und lächelte mich überheblich an. Er genoss es sichtbar, dass ich gezwungen war mich bei ihm zu entschuldigen. Ich fühlte mich unterdrückt.
„Es tut mir Leid, weil“, begann ich, doch mir fiel einfach nichts ein. Es tat mir schlichtweg nicht Leid.
„Sie sind während des Interviews abgehauen. Tut Ihnen das vielleicht Leid?“, half er mir.
„Ja, sehr“, sagte ich, konnte aber nicht die Ironie unterdrücken, die unüberhörbar in meiner Stimme mitschwang.
„Also wenn Sie denken, dass eine solche Entschuldigung ausreicht, dann liegen Sie falsch“, klärte er mich auf.
Ich schnaufte wütend und sah ihn feindselig an. Seine Art war schrecklich. Er wirkte auf mich, als würde er sich gottgleich fühlen. Selbstbewusstsein war gut, Selbstverliebtheit jedoch nicht und Collin Altena kannte scheinbar den feinen Unterschied nicht.
„Hören Sie mal zu, Sie haben meine Kolleginnen und mich als Gossenschlampen betitelt und ich bin nur gegangen, weil ich mir so etwas nicht bieten lassen wollte. Sie sind unprofessionell und sollten sich bei mir entschuldigen, nicht anders herum.“ Mein Gesicht wurde leicht rot vor Wut.
„Sie sind sauer, weil ich Sie als hässlich bezeichnet habe, nicht wahr?“, wollte er wissen und versuchte sichtbar ein Lachen zu unterdrücken.
„Nein“, sagte ich genervt und fragte mich, wie er auf einen solchen Gedanken kam. Konnte er nicht über den Tellerrand hinaus denken? Zogen seine Gedanken stetige Kreise im tiefen Suppenteller der Welt und kamen erst gar nicht auf die Idee die Höhen zu erklimmen?
„Oh doch, das merke ich doch. Aber wenn es ihnen damit besser geht, dann werde ich heute mal nett sein. So hässlich sind Sie nicht. Wäre Ihre komische Nase nicht, dann würden Sie bestimmt im Durchschnitt liegen. Und machen Sie sich keine Sorge um den Artikel, ihre Kollegin hat Ihren kleinen Wutanfall gestern Abend mit ihrem Interview wieder weitgehend wett machen könne.“ Herr Altena lächelte mich an und es sah schon fast freundlich aus.
„Ich halte hässlich nicht für eine Beleidigung“, widersprach ich ihm mit einem belehrenden Unterton.
„Wieso denn das nicht?“ Er sah mich nun aufmerksam und interessiert an.
„Meiner Meinung nach, fühlen sich nur oberflächliche Leute davon beleidigt. Meist werden die Leute, die andere als hässlich bezeichnen, als oberflächlich stigmatisiert, doch eigentlich sind nur die Leute oberflächlich, die sich davon beleidigen lassen, denn das zeigt, dass ihnen gutes Aussehen sehr wichtig ist und sie hässliche Menschen als minderwertig empfinden. Ich denke es gibt kein universelles hässlich und hübsch, da jeder seine eigene Definition davon hat. Die Menschen, die sich davon beleidigt fühlen, kommen einfach nicht mit der Meinung anderer klar und würden lieber eine Lüge von ihnen hören, anstatt die Wahrheit“, erklärte ich ihm meinen Standpunkt.
Er nickte. Langsam und anerkennend.
„Der Gedanke gefällt mir“, meinte er - „Ich denke ich kann auch ohne eine richtige Entschuldigung von Ihnen leben, aber ich brauche doch noch einige Informationen für meine Artikel, deswegen werde ich morgen Nacht gegen 23 Uhr vorbei kommen und dann können wir unser Interview fortführen. Abgemacht?“ Er streckte mir die Hand entgegen, damit ich die Abmachung mit meinem Handschlag besiegeln konnte.
„Hat meine Kollegin nicht mein abgebrochenes Interview mit Ihnen weitergeführt?“, fragte ich nach, da mir nicht klar war, wieso er jetzt noch ein Interview wollte.
„Ja, aber sie war ziemlich langweilig. Wenn Sie wollen, dass der Artikel positiv ausfällt, dann müssen Sie mir schon was bieten. Außerdem wurde ich gar nicht richtig herumgeführt, das würde ich gerne nachholen, um mir einen besseren Eindruck verschaffen zu können“, antwortete er mir.
Ich ergriff seine Hand und schüttelte diese kurz: „Abgemacht.“

 
Alabasterweiß lag frisch gefallene Schnee auf den Straßen Bielefelds. Ein scheinbar endloses Grau bedeckte den Himmel. Der kleine, knochig aussehender Baum - auf der gegenüberliegenden Straßenseite - war von den zarten Flocken weiß gesprenkelt. Die Schneedecke lichtete sich, als ein Auto über die Straße fuhr und zwei graue Linien hinter sich zurück ließ. Desto mehr Autos vorbeifuhren, desto bräunlicher verfärbte sich der Schnee durch die Abgase.
Ich vermisste den Frühling.
Die triste Dunkelheit des Winters empfand ich als ziemlich traurig. Im Dezember war man immer weihnachtlich gestimmt und verscheuchte so die schlechte Laune, doch umso härter wurde man nun im Januar von ihr getroffen. Der Januar war für mich ein schrecklicher Monat. Er wirkte so tot. Der Frühling schien der Welt hingehen stets neues Leben einzuhauchen. Ich konnte ihn kaum noch erwarten.
Mit einer Sehnsucht nach dem Frühling, stapfte ich durch den Schnee und war mehr als froh darüber, dass ich mich am Mittag doch noch dazu entschieden hatte meine schwarzen, wasserfesten Chelsea Boots anzuziehen, denn so blieben wenigstens meine Füße trocken, während sich die Eiskristalle jedoch sanft auf mein Haupt legten.
Als ich beim Besucherparkplatz der Redaktion ankam, stieg ich in mein Auto und schaltete den tragbaren Autoheizlüfter ein, den meine Eltern mir zu Weihnachten geschenkt hatten, da ich immer fror beim Autofahren. Warme Luft blies mir entgegen und es kam mir vor, als würden sich die Schneeflocken auf meiner Kleidung in Feuerfunken verwandeln und mich sanft in einen feurigen Mantel hüllen.
Ich startete den Wagen, doch dieser gab nur für ein paar Sekunden ein klägliches Rattern von sich und verstummte dann wieder. Genervt startete ich einen zweiten Versuch. Dieses Mal sprang mein alter Wagen nicht einmal mehr an. Dritter, vierter, fünfter Versuch. Fehlanzeige.
„Verdammt“, fluchte ich laut und schlug genervt gegen das Lenkrad.
Plötzlich klopfte jemand an die Fensterscheibe. Es war Collin Altena.
Ich konnte mein Seufzen nicht unterdrücken, als ich die Scheibe runterkurbelte, um zu hören, was er zu sagen hatte.
„Du solltest dir ein Auto aus diesem Jahrhundert kaufen“, stellte Collin fest und musterte die Innenausstattung meines Wagens spöttisch.
„Aha“, entgegnete ich nur genervt und fing an das Fenster wieder hochzukurbeln.
Für seine besserwisserische Art hatte ich gerade absolut keine Nerven. Zuallererst musste ich mich um mein Auto kümmern.
„Wo wohnst du?“, wollte er wissen, als ich die Scheibe schon fast bis zur Hälfte hochgekurbelt hatte.
„Was geht dich das an?“ Ich kurbelte weiter.
„Ich kann dich nach Hause fahren, dann musst du nicht den Pannendienst rufen oder mit dem Taxi zurück fahren“, schlug er freundlich vor.
Ich stoppte. Verwunderung fand sich in meinem Gesicht wieder.
„Wieso solltest du das für mich tun?“, fragte ich und versuchte seine Absicht dahinter zu erkennen, schließlich hatte er bisher nicht so gewirkt, als wäre er der perfekte Gentleman aus dem Bilderbuch.
„Vielleicht habe ich mir ja als Neujahrsvorsatz vorgenommen netter und hilfsbereiter zu meinen Mitmenschen zu sein.“ Er grinste mich an und es wirkte wirklich freundlich.
Ich biss mir auf die Unterlippe und überlegte, ob ich sein Angebot annehmen sollte. Ich wollte echt gerne in meine warme Wohnung und dort so schnell wie möglich heiß duschen.
„Möglicherweise habe ich aber einfach noch nie während des Fahrens einen Blowjob bekommen und will das jetzt einfach nachholen“, sagte er und sein freundliches Grinsen verwandelte sich zu einem versauten, mit hochgezogenen Augenbrauen und einem auffordernden Glänzen in den Augen.
Ich schnaufte verächtlich. Daher wehte also der Wind.
„Nein, danke!“ Ich fing wieder an Fenster meines Autos hochzukurbeln.
Collin Altena fing an lautstark zu lachen.
„Stop!“, brachte er unter lautem Gelächter hervor - „Hast du das gerade echt ernst genommen?“
Ich stoppte wieder musterte ihn eingehend. Wie konnte nur so viel Intoleranz in ihn passen?
„Nur weil ich eine Stripperin bin, heißt das nicht, dass ich es mit jedem tue“, zickte ich ihn an.
„Das war ein Scherz, keine Sorge! Ich erwarte von dir keinen Blowjob oder sonst etwas“, stellte er klar - „Außerdem ist es mir ziemlich egal mit wie vielen Typen du ins Bett gehst. Also soll ich dich jetzt nach Hause fahren, ja oder nein?“
Nachdenklich trommelte ich mit meinen Fingern gegen den Lenkrad.
„Überlege es dir lieber schnell, sonst überlege ich es mir vielleicht doch noch anders.“ Er ahmte mein Trommeln gegen das Lenkrad nach, indem mit seinen Fingerspitzen gegen die Scheibe trommelte.
„Na gut.“ Ich seufzte. Schon wieder. Diesen Tick sollte ich mir definitiv abgewöhnen.


Wir schwiegen fast die ganze Fahrt über. Ich wusste nicht, ob ich es als angenehmes oder unangenehmes Schweigen einordnen sollte. Abgesehen von der leisen Rap Musik, die mit vulgären Begriffen aus dem Radio floss, war es still. Collin Altenas Blick war starr auf die Fahrbahn gerichtet, während ich ihn im Augenwinkel beobachtete. Ich wollte ihn einschätzen können, doch ich schaffte es einfach nicht ihn in eine Schublade einzuordnen. Dieses Schubladendenken war dumm, das wusste ich, aber niemand konnte sich dagegen wehren. Wir Menschen machten es uns halt gerne einfach.
Eingehend musterte ich ihn und suchte nach etwas, was ihn verriet. Einen Hinweis, der seinen Charakter für meinen Verstand vereinfachen würde.
Jedes Muttermal wurde von mir gescannt, als könne in ihm die Welt erklärt sein. Ich begann sie zu zählen. Fünf befanden sich auf seinem Hals, doch vermutlich konnte er die Anzahl meiner Muttermale nicht mal annähernd überbieten. Ich war so übersät von den kleinen braunen Flecken, dass ich mir manchmal vorkam wie eine Milka Kuh.
„Bin ich so faszinierend?“, fragte er spöttisch, als er meinen Blick bemerkte und kurz zu mir sah, anstatt auf die Fahrbahn.
„Nein“, antwortete ich nur und wendete meinen Blick von ihm ab, um aus dem Fenster sehen zu können.
Wir bogen in die Straße ein, in der ich wohnte.
„44?“, erkundigte er sich nochmal nach meiner Hausnummer, die ich ihm schon vor der Abfahrt einmal genannt hatte.
Ich murrte bestätigend und er bog in die Einfahrt des Hauses ein, in dem sich einige Mietwohnungen befanden und unter anderem auch die von Manuel, Kiara und mir. Und von Mila und ihren Eltern …
Die Gedanken an meinen merkwürdigen Albtraum und an Milas plötzliches Verschwinden schossen zurück in meinen Kopf, als hätte eine Abrissbirne all meine anderen Gedanken zertrümmert.
Auf der Straßenlaterne vor der Einfahrt klebte ein Bild von ihr. „Vermisst“ stand mit roten Großbuchstaben unter ihrem, von blonden Locken eingerahmten, Gesicht. Ich warf einen Blick zu Collin Altena. Er starrte ebenfalls auf das Bild des jungen Mädchens und wirkte dabei geschockt. Seine Augen waren ein wenig geweitet und sein Mund angespannt zusammengepresst. Sein Adamsapfel hüpfte deutlich, als er schluckte und weiter in die Einfahrt fuhr, bis man das Bild nicht mehr sehen konnte.
„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast“, bedankte ich mich höflich, als er hielt.
„Kein Problem“, murmelte er ebenso gesittet, doch er schien nicht bei der Sache zu sein. Mir kam es so vor, als könnte ich seine Gedanken sehen, die wie Nebelschwaden durch sein Auto waberten und sich – zusammen mit meinen Gedankengängen – im Kreis um ein Thema drehten: Mila.
Es überforderte mich. Wieder erwischte ich mich dabei die Vermutung zu hegen, dass mein Traum vielleicht keiner war. Ich redete mir ein es sei töricht, doch überzeugen konnte ich mich nicht.
„Ähm“, machte ich und öffnete eilig die Tür, um auszusteigen - „Wir sehen uns ja vermutlich morgen Abend wieder, also bis nachher.“
Ich wusste nicht, wie ich mich von ihm verabschieden sollte. Seine Hand zu schütteln käme mir komisch und zu distanziert vor und eine Umarmung viel zu intim.
Ihm schien es gleich zu ergehen, denn er beugte sich ein Stück vor, um mich anscheinend zu umarmen, doch als ich es ihm nicht gleich tat, wich er langsam wieder zurück.
Er fuhr sich etwas verlegen durch die Haare, als wir beide in peinliches Schweigen verfielen.
„Gute Nacht“, wünschte ich ihm und wollte schon aussteigen, als er mir plötzlich seine Handfläche zu einem High-Five entgegenstreckte.
Ich schlug mit einem kleinen Grinsen ein.
„Schlaf schön“, verabschiedete er sich von mir.
„Wünsche ich Ihnen ebenfalls.“

 
Eilig rannte ich das Treppenhaus hoch und nahm mehrere Stufen auf einmal. Mir kam es so vor, als würde meine Dusche schon nach mir schreien, dass sie mich wärmen wolle.
Mit einem großen Schritt erklomm ich die nächste Stufe, als mir plötzlich schwindelig wurde. Intensiv hämmerte es in meinem Kopf, als ich würgend mit dem Kopf auf der Kante einer Treppenstufe aufschlug. Mir war so kalt und ich war plötzlich bewegungsunfähig, dass ich das Gefühl hatte mein Blut hätte sich vereist.
Ich wollte um Hilfe schreien, doch ich konnte meinen Mund nicht öffnen. Der Geschmack von Blut setzt sich darin fest. Als ein Schluchzen das Hämmern in meinem Kopf ersetzte, wurde alles schwarz. Pechschwarz.

Kapitel 5: Sorrow

 


Mein Leben ist eine Sanduhr mit Rissen. Der Sand der Lebendigkeit rieselt hinaus und wird vom Wind verweht. Ich bin vergänglich.

 


Das Schwarz um mich herum wirkte dunkler als jeder Schatten. Es war düsterer, als jedes einzelne Schwarz, das ich bisher gesehen hatte. Auf eine merkwürdige Weise wirkte es nicht so, als würde es in unsere Welt passen. Dieses Schwarz war so finster, dass es mir falsch erschien ihm einen solch simplen Namen wie „Schwarz“ zu geben. Es war zu komplex, zu abnormal, zu perfekt.
Ich tastete in dieser merkwürdigen Dunkelheit umher. Meine Finger umfassten etwas hölzernes, an dem ich mich festhielt wie an einem Rettungsboot. Mir war noch immer ein wenig schwindelig und ich war so unterkühlt, dass meine Haut sich ganz taub anfühlte.
„Ich träume das nur“, redete ich mir ein, als allmählich die Angst in mir hervor kam.
Zitternd und mit flachem Atem tastete ich mich weiter, bis ich gegen etwas Hartes stieß. Ich konnte nicht einschätzen, ob es nass oder einfach nur sehr kalt war.
Plötzlich flackerte über mir an der Decke ein Licht auf. Blinzelnd sah ich mehrere Neonröhren, die bläuliches Licht in dem Raum warfen.
Ich war alleine in diesem Raum, in dem das einzige Möbelstück ein alter Schaukelstuhl aus morschem Holz war. Die weißen Wände des kleine, viereckigen Raums waren übersät mit gerahmten Bildern. Man konnte auf diesen Bildern nicht erkennen, was sie darstellen sollten, doch trotzdem verstörten sie mich zutiefst. Irgendwas an ihnen erinnerte mich an den Tod und an Mila, David und Isabella. All dieser Schmerz kam von der einen auf die andere Sekunde wieder zurück. Er schlug mir schadenfroh ins Gesicht. Immer und immer wieder. Ich hatte das Gefühl an diesen imaginären Schlägen, die sich doch so real anfühlten, zu zerbrechen.
Schluchzend und schreiend ging ich zu Boden. Irgendwas bohrte sich in meinen Kopf. Es fühlte sich an, als würde jemand mit einem Akkuschrauber durch meinen Kopf stoßen. Verzweifelt schlug ich um mich, suchte nach Halt.
Jemand packte mich an den Schultern und zog mich zurück in Richtung Tür. Ich schlug weiterhin um mich und versuchte mich aus dem Griff zu befreien. Tränen kullerten wie Wasserfälle über meine Wangen. Der Schmerz breitete sich in meinem Körper aus, bis ich mich so fürchterlich fühlte, dass ich mir wünschte auf der Stelle zu sterben. Ich ließ locker und wollte mich meinen scheinbaren Schicksal hingeben.
Mein Schluchzen erlosch und ich machte mich bereit all die Toten bald wiederzusehen. Ich war bereit zu sterben, doch es kam ganz anders.
Der Schmerz verschwand so schnell wie er gekommen war, als ich mich plötzlich nicht mehr in diesem Raum befand. Verwundert sah ich meine Retterin an. Sie war eine brünette Frau mittleren Alters. Ich hatte sie schon einmal auf der Lichtung gesehen.
Wir befanden uns nun in einem spärlich beleuchteten Flur. Die wenigen Lampen an der Decke flackerten verhängnisvoll, während ich einen Blick in den Raum warf, in dem ich eben noch so viel Schmerz verspürt hatte. In ihm waberte eine Art schwarzer Rauch, der sich wie ein kleiner Wirbelsturm zu drehen schien, nur sehr viel langsamer.
„Was ist das?“, fragte ich die Brünette. Meine Stimme zitterte leicht.
„Ich glaube jeder von uns ist in einem Raum gefangen, der uns unerträglichen Schmerz bereitet. Ich konnte aus meinem fliehen und die Räume der anderen haben anscheinend nicht so eine Wirkung auf uns. Ich habe eigentlich einen Ausweg gesucht, dann stieß ich jedoch auf dich“, murmelte sie nachdenklich und betrachtete die anderen Türen.
Jede der dreizehn Türen war aus einem anderen Material gefertigt worden. Meine war hölzern, die daneben aus Metall, rechts davon eine aus Strukturglas und davon gegenüber befand sich eine Tür, die wirkte, als wäre sie aus purem Gold. Dieser Facettenreichtum faszinierte mich. Wenn die Frau recht hatte, dann war jeder Raum so auf uns abgestimmt, dass er uns Schmerzen bereitete und anscheinend sollten die verschiedenen Türen einen Teil unserer Seele zeigen.
Meine Gedanken wurden von einem Schrei zerrissen. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Arm. Noch nie hatte ich so viel Schmerz in einem Schrei gespürt. Es war beängstigend und traurig zugleich.
„Komm wir helfen den anderen“, forderte ich die Frau auf.
Voller Elan stürmten wir los. Ich rannte zu dem Raum, aus dem ich den Schrei vernommen hatte und dessen Tür aus Metall war. Meine Retterin öffnete derweilen die halbdurchsichtige Tür aus Strukturglas.
In meinem Raum befand sich Collin Altena, der in einer Ecke kauerte. Er weinte. Ein Zucken ließ seinen Körper in unregelmäßigen Abständen erbeben.
„Ich bin Schuld“, flüsterte er zwischen einigen Schluchzern.
Eilig durchquerte ich den Raum, nahm ihn an den Schultern und versuchte ihn hinaus zu zerren.
„Ich bin Schuld“, wiederholte er, dieses Mal lauter. Er begann noch heftiger zu weinen.
Es war merkwürdig und traurig ihn so zu sehen. Kein Mensch hatte verdient so zu leiden und obwohl ich nicht gerade sein größter Fan war, wollte ich nicht, dass er solche Schmerzen ertragen musste. Bis vor knapp einer Minute, hatte ich selbst diesen Schmerz noch am eigenen Leib erfahren müssen.
Ich war schon bei der Hälfte des Raumes angelangt, als er plötzlich aufhörte zu Schluchzen und ganz still wurde. Gefährlich still.
„Lasst mich in Ruhe“, sagte er plötzlich leise, doch die Wut, die in seiner Stimme mitschwang, machte mir Angst. Man konnte es schon fast als Knurren bezeichnen.
Trotzdem zerrte ich ihn weiter. Er musste hier raus. Dringend.
„Lasst mich in Ruhe!“ Sein Gebrüll ging mir durch Mark und Bein.
Ich ging davon aus, dass dieser Satz nicht an mich gerichtet war, da er Mehrzahl benutzt hatte und ich alleine war, dennoch ließ ich ihn los, als er begann um sich zu schlagen.
„Ruhig pscht“, redete ich beruhigend auf ihn ein, als wäre er ein Tier.
Ich startete einen Versuch mich ihm zu nähern, doch einer seiner Schläge erwischte mich und brachte mich ins taumeln. Mit einem lauten Knall prallte ich gegen die rote Wand, wobei das Bild neben mir aus der Halterung gerissen wurde. Das Glas zerschellte auf dem Boden.
Collin Altena hörte auf um sich zu schlagen und wirkte für ein paar kurze Sekunden einfach nur verwirrt. Statt seines unkontrollierten Wutausbruches, begann er nun wieder leise zu weinen, doch längst nicht mehr so schlimm wie zuvor.
In mir keimte eine Idee auf.
Mutwillig schmiss ich ein weiteres Bild zu Boden, dann noch eins, gefolgt von einem weiteren. Als die Splitter des letzten Bildes sich auf dem Boden verteilten, hörte der Redakteur auf zu weinen und blinzelte mehrmals.
„Wo bin ich? Was ist hier los?“, wollte er wissen. Sein Blick schweift durch den Raum und auf die Scherben, die um ihn herum verteilt waren.
„Ich weiß auch nicht wo wir sind. Das einzige was ich weiß, ist, dass wir die anderen aus ihrem Räumen retten müssen. Keine Angst, die Räume der anderen können vermutlich nicht so etwas mit dir anrichten wie dein eigener Raum“, klärte ich ihn auf und eilte im nächsten Moment schon zurück in den Flur, schließlich waren noch viele Leute gefangen.
Die Schreie der Schmerzerfüllten wichen aus den Räumen an mein Ohr, doch da war noch ein weiteres Geräusch. Ein Knurren und Kratzen.
Ich wirbelte herum. Vor mir stand ein wolfartiges Wesen. Sein schwarzes Fell stand ihm struppig vom Körper ab und seine messerscharfen Zähne waren gebleckt. Unbarmherzig waren seine gelben Augen auf mich gerichtet. Ohne Gnade. Voller Hass.
Geschockt wich ich einige Schritte zurück. Das Tier näherte sich mir. All seine Muskeln schienen angespannt. Er ging in Sprungstellung und ich war die Beute, die den Jagdtrieb in ihm weckte.

Kapitel 6: Sacrifice

 

 


Schneeflocken brennen auf meiner Haut wie kleine Feuerbälle. Sie brandmarken das Wort „Illusion“ tief in meine Haut. Ich schreie. Stumm.

 
Das schwarze Tier riss sein Maul auf und stellte eine Reihe scharfer, bräunlicher Zähne zur Schau, als es auf mich zu sprang. Angst überflutete meinen Körper, wie eine Welle, und lähmt mich. Ich fühlte mich unterdrückt vom imaginären Wasser. Ertrinkend.
„Lauf!“, hörte ich Collin Altena schreien.
Ich konnte mich nicht rühren. Meine Muskeln schienen ihre Funktion verlernt zu haben. Ausschließlich meine Augenlider waren zu einer Bewegung fähig: Sie schlossen sich. Langsam. In Zeitlupe. Ich hatte das Gefühl mit jedem Millimeter, den sie hinter sich brachten, rann ein bisschen mehr Leben aus mir.
Es war schwarz hinter meinen geschlossenen Lidern, doch ich spürte keinen Schmerz, stattdessen hörte ich nur einen Schrei. Etwas warmes Zähflüssiges spritze gegen meinen Körper, befeuchtete mein Gesicht. Ich leckte über meine Lippen. Es schmeckte so, als würde ich ein Stück Eisen ablecken. Ekelhafter Gestank stieg mir in die Nase. Ein Würgen entkam meinem Mund.
Etwas streifte meine Haut. Es war weich wie eine Feder. Kitzelnd tanzte es über meinen Körper. Neugierig öffnete ich meine Augen und sah nur Schutt und Asche. Ich stand mitten in den Trümmern des Hauses, in dem ich vor ein paar Sekunden fast gestorben wäre.
„Er hat sich für sie geopfert“, murmelte meine Retterin geschockt und starrte mich an. Mein Herzschlag beschleunigte sich.
„Was ist passiert?“, stammelte ich. Mein Mund war ganz trocken und Sprechen fiel mir schwer.
„Ein junger Mann hat sich vor das Ding geworfen, das dich bedroht hat. Er wurde einfach in der Mitte durchgebissen“, sagte Collin leise, doch alle Menschen, die hier in den Trümmern standen, waren stumm, sodass wir ihn dennoch verstanden - „Danach ist das Haus zusammengefallen, aber komischerweise tat es nicht weh, als es über uns zusammenfiel. Es war kaum spürbar.“
Samira Terr, die ich vor einigen Jahren in einem Tanzkurs kennengelernt hatte, weinte leise und begann stark zu zittern. Auch die anderen Leute schienen zutiefst verstört.
„Was ist hier bloß los? Wo sind wir gelandet? Ich will nach Hause!“, jammerte Samira und wischte sich mit dem Ärmel ihres zu großen grauen Pullis die Tränen aus dem blassen Gesicht.
„Ich weiß es nicht“, sagte der korpulente Franzose, der wieder nur eine Boxershorts trug - „Aber ich will definitiv kein Teil dieses kranken Spieles mehr sein!“
„Dito“, stimmte eine junge Frau mit pinken Dreadlocks ihm zu.
„Vermutlich ist das keine Entscheidung, die wir treffen können. Ich habe das Gefühl, dass – wer auch immer uns immer wieder hier her schickt – uns nicht grundlos hier wieder raus lassen wird“, erhob Collin erneut seine Stimme - „Aber möglicherweise finden wir ja einen Ausweg.“
„Und wie?“, wollte die Frau mit den pinken Dreadlocks aufgebracht wissen - „Du tust so, als wäre es einfach einen Ausweg zu finden, doch das ist es bestimmt nicht. Das ganze hier grenzt an Zauberei. Die Leute, die uns hier herbringen, müssen Genies sein, die können wir Normalos nicht so leicht überlisten!“
Während die beiden diskutierten, sah ich zu den anderen Menschen, die in den Trümmern standen. Deren Blicke waren nach links gerichtet. Ich folgte ihnen und bemerkte erst jetzt, dass wir wieder auf der Lichtung standen, auf der wir auch letztes Mal gelandet waren, doch die Löcher, in denen wir vergangene Nacht gefangen waren, waren nicht mehr da. Die digitalisierte Tafel war noch präsent, jedoch war nicht mehr nur Milas Portrait durchgestrichen, sondern auch das eines Jungen mit braunen Locken, der etwas jünger als ich zu sein schien. Auf seinem Bild wirkte er so ruhig und friedlich, dass es mir das Herz zerriss, als mir klar wurde, dass er tot ist. Er hatte sich für mich geopfert, dafür war ich ihm unfassbar dankbar, doch gleichzeitig durchflutete mich Schmerz.
Ich hätte sterben sollen, nicht er.
Eigentlich hätte mein Portrait durchgestrichen und meine Uhr bei 2:57 stoppen sollen, nicht seine.
Seine Zeit war eigentlich noch nicht reif gewesen, doch er hatte mit dem Schicksal spielen müssen und alles geändert. Ich hatte noch nie eine so selbstlose Person getroffen und ich kannte nicht mal seinen Namen. Außerdem schämte ich mich, dass ich ihn nicht gehindert hatte sich für mich zu opfern. Meine Angst selber zu sterben war zu groß gewesen und hatte mich gelähmt. Das würde ich mir niemals verzeihen können.
„Vielleicht ist er gar nicht tot“, unterbrach ein älterer Herr meinen Gedankengang. Er legte seine Hand auf mein Kreuz, als wäre er mein Opa und ich seine Enkelin - „Dieses merkwürdige Szenario ist schon wunderlich genug. Wenn die Spielmacher es sogar geschafft haben ein Haus über uns zusammenfallen zu lassen, ohne dass wir Schmerzen oder Verletzungen erleiden, können sie auch den Tod eines jungen Mannes inszenieren. Vielleicht müssen wir dieses perfide Spiele einfach zu Ende spielen und dann kommen alle wider frei.“
Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln, das mich ebenfalls zum lächeln brachte.
„Ja, vielleicht“, antwortete ich und lächelte ihn an, doch innerlich glaube ich nicht an seine Vermutung. Ich wollte ihm jedoch nicht die Hoffnung nehmen, denn manchmal half es an törichten Gedanken festzuhalten, selbst wenn es um die Auferstehung der Toten ging. Das wusste vermutlich niemand besser als ich. Ich war zwar erst 19, doch mit Tod und Hoffnung war ich schon oft in Berührung gekommen. Zu oft.
Der ältere Herr öffnete seinen Mund und schien etwas sagen zu wollen, doch bevor er die Chance dazu bekam, verschwamm sein Gesicht vor meinen Augen, als würde man ein Bild weichzeichnen. Ich hörte wieder dieses komische Klicken und Knartschen, dann verschlang mich die Dunkelheit, wie ein Löwe sein Opfer.

 
Ich erwachte keuchend. Mein Körper war schweißgebadet. Mit Wucht schlug ich auf den Schalter meiner Nachttischlampe. Ich untersuchte meinen Körper nach Spuren, die auf das merkwürdig Ereignis hinwiesen, doch ich fand nichts.
Als ich mein Bett verließ, das Hauptlicht anschaltete und mich vor meinen Ganzkörperspiegel stellte, zitterte ich vor Angst doch noch etwas zu entdecken. Ich nahm jeden Millimeter meines Körpers ganz genau unter die Lupe. Auch dieses Mal fand ich nichts. Um sicher zu sein, entledigte ich mich meinen Klamotten, bis ich nackt vor dem großen Spiegel stand. Mir fiel nichts ungewöhnliches an meinem Körper auf. Alles war normal, alles war wie immer. Unverändert.
Ich seufzte beruhigt.
„Dieses Mal war es wirklich nur ein Traum“, sagte ich mir selbst. Ob ich mir glauben sollte, wusste ich nicht. Ich tat es eher nicht.
Aus meinem Kleiderschrank zog ich mir einen Slip, eine Leggings, einen übergroßen Pulli und Kuschelsocken. Das perfekte Gammeloutfit.
Ich wusste, dass ich mich jetzt auf irgendeine Weise ablenken musste, denn, obwohl ich mir einredete, dass es nur ein Albtraum war, war ich mir da nicht ganz sicher. Verzweifelt versucht ich an etwas anderes zu denken. Meine Gedanken wandern zu Collin Altena. Er verwirrte mich. Mal war er überheblich und beleidigte mich wo er nur konnte und dann plötzlich war er der perfekte Gentleman. Vielleicht hätte ich ihn nicht so schnell verurteilen sollen.
Plötzlich keimte eine Idee für eine Geschichte in mir auf und breitete sich so rasant in meinem Hirn aus, dass ich die Zeit, die mein Laptop zum hochfahren benötigte, als unerträgliche Qual empfand. Ich liebte es zu schreiben und wenn ich einmal eine gute Idee hatte, dann blendete ich alles um mich herum aus und war nicht mehr aufzuhalten. Meine Finger flogen förmlich über die Tastatur als ich die Worte voller Leidenschaft eintippte:

 
Ungeduldig schob ich mit meinen Füßen das Laub, welches sowohl unter den Fußsohlen der Passanten, als auch vom kräftigen Wind, in die Innenstadt getragen wurde, vor mir hin und her. Abermals starrte ich auf den Display meines Handys und wartete auf eine Nachricht von Emily. Anscheinend Vergeblich. Regentropfen landeten auf den Buchstaben, die ich kurz zuvor noch eingetippt hatte. Ein glitzernder, faszinierender Regenbogen bildete sich über den Worten 'Wo bleibst du?'. Die einzelnen Buchstaben verschwammen und wurden von den kuppelartigen Regenbögen verdeckt, sodass sie wie Hieroglyphen für mich aussahen. Es faszinierte mich auf eine suspekte Weise.
Ich hörte wie ein Betrunkener seine Mitmenschen anpöbelte und Flaschen klirrend zu Boden gingen. Mein Kopf hob sich wie automatisch. Ich sah wie eine klare Flüssigkeit aus einer zersplitterten Flasche rann und in die Bodenrillen kroch, so als würde sie aus ihrem gläsernen Gefängnis fliehen wollen.
Der trunkene Mann starrte erzürnt auf die Sauerei. Die Augen hatte er grimmig zusammengekniffen, sein Gesicht war knallrot – ob dies vom Alkohol oder von seiner Wut kam, wusste ich jedoch nicht.
Er versuchte sich zu bücken, doch verlor die Kontrolle über seinen Körper und fiel. Nur knapp verfehlte er den Scherbenhaufen. Wenige Sekunden später richtete er sich, stark zitternd, wieder auf. Er griff nach einer großen Scherbe und umklammerte diese so fest, dass ich sah wie Blut aus seiner Hand auf den Bordstein tropfte und sich mit dem Alkohol vermischte. Vereinzelte Tränen zogen Linien auf seiner Wangen, trafen am Kinn zusammen und stürzten sich schließlich auch in die Rillen des Bordsteins – in die Freiheit.
Tüchtige Anzugträger wichen dem, am Boden kauernden, Häufchen Elend aus und würdigten ihm nur eines angewiderten Blickes. Zwei junge Mädchen, die höchstens vierzehn seien konnte, fotografierten den Mann kichernd mit ihren Smartphones und einige Frauen, die vollgepackte Einkaufstüten mit sich rumschleppten, unterhielten sich im abfälligen Tonfall über den Alkoholkonsum unserer Gesellschaft.
Der Mann, der am Boden lag, sah sich hilfesuchend um. Sein Blick blieb an mir hängen. In ihm lag Verzweiflung. Ich fragte mich, was er durchgemacht haben musste, um so zu enden.
Tut mir Leid, dass ich zu spät bin“, riss mich plötzlich Emilys Stimme aus meinen Gedanken.
Schon okay“, murmelte ich, sah jedoch nicht auf, sondern hielt dem Blick des Mannes stand.
Ich bemerkte im Augenwinkel wie Emily meinem Blick folgte.
Scher dich um den Typen. Der ist doch selber Schuld, wenn er soviel trink“, motzte Emily und zog angeekelt die Nase kraus.
Wir können ihn doch nicht da liegen lasse. Er braucht Hilfe“, protestierte ich und riss meinen Blick kurz von ihm.
Emily verdrehte genervt die Augen.
Komm, ich muss unbedingt noch zu H&M. Zudem will ich mich nicht hier vollkommen nass regnen lassen.“ Sie harkte sich bei mir ein und zog mich förmlich voran.
Meine Gedanken hingen jedoch immer noch bei dem armen Mann. War es unmenschlich ihn gleich zu verurteilen oder hatte er keine Hilfe verdient?

 
Der Betrunkene stand für mich für Collin. Vielleicht war er auch missverstanden und einsam – andererseits könnte es auch sein, dass er wirklich einfach nur verdammt hochnäsig und eingebildet war. Solange ich es jedoch nicht wusste, nahm ich mir vor, ihn nicht gleich in eine Schublade zu stecken wie die Passanten den Betrunken. Es wäre möglich, dass er sich doch als liebenswerter junger Mann entpuppen könnte, schließlich war es wirklich sehr höflich von ihm gewesen, mich nach Hause zu fahren.
Was ich am jenem Morgen jedoch noch nicht wusste, war, dass ich in der kommenden Nacht eine Seite an Collin Altena entdecken werde, die besser im Verborgenen geblieben wäre.

- Dieses Buch ist eine Rohfassung und wird überarbeitet, sobald es fertig ist - 

Letzte Fortsetzung: Sonntag, 12. April 2015
Nächste Fortsetzung: Freitag, 17. April 2015

Impressum

Bildmaterialien: Annibunny
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2014

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