Der dritte Weltkrieg
Am 01.10.2021 schloss sich ganz Asien zu einem Staat mit gemeinsamen Regime zusammen. Zunächst hieß es, dass dies nicht geschehe, um gegenüber den anderen Ländern einen militärischen Vorteil zu haben, doch einige Wochen später erfolgten die ersten Angriffe auf die USA und Russland. Erst später wurde klar, dass sich Asien schon seit längerem auf den Krieg vorbereitet und etliche Waffen gehortet hatte. Die Atombomben-Produktion wurde schon Jahre vorher stark angekurbelt.
Der amerikanische Präsident verkündetet, dass Amerika sich gegen die Bedrohung wehren müsse. Er befahl am 20.11.2021 einigen Truppen in Asien einzuwandern, doch das übermächtige asiatische Militär vernichtete diese schon an der Staatsgrenze.
Sofort reagierte Asien auf Amerikas Angriff mit Atombomben, die sie über Washington und Denver abschmissen. Dabei kamen etliche Politiker ums Leben, die sich in Washington zu einem Staats Bankett getroffen hatten. Außerdem wurden in Denver durch die Atombombe die wichtigsten Waffenlager der Vereinigten Staaten zerstört. Auch Teile Russlands wurden von Atombomben zerstört.
Nachdem die erste Waffenlieferung von England in die USA gebracht werden sollte, wurde in der Nacht vom ersten auf den zweiten Dezember ganz England durch einen Angriff Asiens unbewohnbar gemacht. England und Australien wurden ebenfalls zerstört, als sie heimlich Waffen an Amerika liefern wollten.
Amerika und Russland starteten am 9. Dezember 2021 einen gemeinsamen Luftangriff auf Asien und zerstörten dabei fast 40% des Kontinent. Dabei wurden Asiens größtes Waffenlager jedoch nicht vernichtet.
Auch viele kleine europäische Länder wurden durch Bomben stark beschädigt, dennoch waren die meisten von ihnen dennoch weiterhin bewohnbar.
Nachdem Amerika und Russland von Asien vollkommen dem Erdboden gleich gemacht worden sind, flüchteten die wenigen Überlebenden in andere Länder – Deutschland war eines der beliebtesten Orte dafür. Gleichzeitig flüchteten jedoch viele deutsche Bürger aus ihrem Land, aus Angst, dass Deutschland sich gegen Asien wehren würde. Diese Sorge blieb jedoch unbegründet, da kurze Zeit später durch diverse Naturkatastrophen die übrigen Atombomben in Asien auslösten und so den kompletten Kontinent zerstörten.
Im Laufe der Zeit schotteten sich alle Länder mehr und mehr von einander ab und erbauten teilweise riesige Mauern. Sie wollten nicht riskieren, dass es noch einmal zu einem Streit kommen könnte und vermieden so gut wie möglich jede Interaktion miteinander.
Nur der Regierung ist es nun erlaubt mit den anderen Ländern in Kontakt zu stehen, um den In- und Export wichtiger Produkte zu regeln.
Aufbau einer neuen Gesellschaft
Unser glorreiches Land hatte jedoch ein großes Problem, denn die Geburtenrate sank innerhalb der Jahre um ein vielfaches und die Bevölkerungszahlen verminderten sich rapide. Es wurde entschieden, dass unser Land, das einst Deutschland hieß, nun den Namen Xetaria tragen solle. In einer landesweiten Abstimmung entschied sich ein Großteil der Bürger für einen Neuanfang.
Innerhalb weniger Monate verfassten die Politiker ein neues Gesetzbuch und evozierten eine neue Zeitrechnung. Am 01.01.01 [frühere Zeitrechnung: 01.01.2029] traten alle diese neuen Gesetze in Kraft: Ein weibliches Neugeborenes wird nun unverzüglich nach seiner Geburt zur Erziehungsanstalt gebracht, dort bleibt es bis zu seinem achtzehnten Geburtstag, denn ab dem Tag wird das kleine Mädchen zu einer jungen Frau und kommt auf den 'Heiratsmarkt', auf dem sie von einem Mann finanziell erworben werden kann. Zu Identifizierung bekommt jede heiratsfähige Frau eine Nummer zugeteilt. Wenn eine Frau stirbt wird ihre Nummer wieder frei und ein Neugeborenes kann diese bekommen.
Das Land ist in vier Sektoren eingeteilt: Erox (Norden), Daminox (Osten), Teinox (Süden) und Ranox (Westen). In jedem Sektor gibt es 100 Erziehungsanstalten und ebensoviele Heiratsmärkte.
Da der Krieg vieles zerstört hatte, brauchten wir Menschen lange bis wir unser Land wieder aufbauten. Am 15. Dezember 52 proklamierte Präsident Cunningham, dass wir uns nun auf dem industriellen Stand zurück sind, auf dem wir am Anfang des 21. Jahrhunderts waren. Präsident Lennard Cunningham dankte daraufhin im Februar 53 ab. Ryan Otrowski wurde mit 76 % aller eingegangen Stimmen zum neuen Staatsoberhaupt gewählt. Er trat am 1. Januar 54 sein Amt an.
Auflistung der Grundregeln, denen die Ehefrauen Folge leisten müssen:
- Dein Ehemann hat immer Recht, deswegen widerspreche ihm nicht und tue alles, was er dir befiehlt.
- Das Verlassen des Grundstückes ist nur mit einem männlichen Begleiter gestattet. Dieser Begleiter muss dein Ehemann sein oder zumindest ein Verwandter von ihm.
- Bekomme mindestens ein Kind, ausgenommen, du bist nicht in der Lage dazu, was jedoch von einem Arzt bestätigt werden muss.
- Die einzige Berufung der Frauen besteht aus Hausarbeit und der Erziehung der Kinder.
- Jegliche negativen Äußerungen gegen die Politik werden mit dem Tode bestraft.
- Gewalttätige Handlungen sind strengstens untersagt.
- Der Versuch Kontakt zu den Eltern aufzunehmen ist den Frauen verboten.
- Frauen haben kein Wahlrecht.
[Aus: "Der Beginn einer neuen Ära“ - Harald Grinz, 54, Ternzter Verlag]
"Ich kann es nicht fassen. Morgen früh wirst du achtzehn und lässt mich in diesem Drecksloch alleine", wimmerte Mona unter Tränen.
"Mona", fuhr ich meine etwas korpulente Zimmernachbarin an - "ich habe dir doch schon tausendmal gesagt, dass du die Erziehungsanstalt nicht als 'Drecksloch' bezeichnen sollst. Früher oder später bekommt es jemand mit und dann wird es in deinem Führungszeugnis vermerkt und negative Bemerkungen sind wirklich nicht gerade die beste Voraussetzung, um ausgesucht zu werden."
Ich bemerkte wie sie bei meinem anklagenden Blick die Miene verzog. Mein kleiner Vortrag war zwar nicht sonderlich einfühlsam gewesen, aber ich wollte meine beste Freundin doch nur vor Problemen bewahren, in die sie immer wieder geriet.
"Ach Sissi, ich hätte auch gerne so eine naive Weltanschauung wie du", seufzte diese nur und wischte sich mit dem Ärmel ihres Nachthemdes die Tränen aus dem Augenwinkel.
Normalerweise hätte ich ihr widersprochen, doch auf Streit mit Mona kurz vor meinem Geburtstag hatte ich wirklich keine Lust.
Meine beste Freundin setzte sich aufrecht in ihr Bett. Vor dem tristen Grauton der Wand hinter ihr wirkte sie schrecklich deplaziert, nicht weil sie so ungewöhnlich aussah, sondern weil sie etwas so sonderbares ausstrahlte, was man einfach nicht beschreiben konnte. Die meisten Mädchen mieden sie, wahrscheinlich aus Angst auch von diesem anders sein befallen zu werden. Für mich jedoch war sie wie eine Schwester.
"Ich werde dich auch vermissen", sagte ich stattdessen und musste schlucken, da sich, bei dem Gedanken Mona nie wieder zu sehen, ein riesiger Kloß in meinem Hals bildete.
Seit wir mit sechs Jahren von der Kinderstation auf die Schulstation der Erziehungsanstalt kamen - waren wir Zimmernachbarinnen und es dauerte damals nicht lange bis wir unzertrennlich geworden waren. Zwar waren wir sowohl vom Charakter, als auch vom Aussehen unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch genau das machte unsere Freundschaft so besonders, wir ergänzten uns einfach prima.
Erneut sah ich, wie Mona zu weinen begann. Die Tränen liefen ihr als Rinnsal über die schöne, dunkelbraune Haut und tropften dann von ihrem markanten Kinn hinunter auf ihr unschuldweißes Nachthemd. Die Situation war komisch, denn normalerweise war ich die Emotionale von uns beiden, doch die Aufregung ließ mich viel stärker und psychisch stabiler sein als sonst.
"Nicht weinen", befahl ich ihr traurig - "wir sehen uns doch in zwei Monaten wieder."
Ungläubig schnaufend wischte sich Mona abermals ihre Tränen weg, doch es kamen immer wieder neue nach, die ihr Gesicht befeuchteten.
"Und wer sagt, dass du bis dahin nicht schon längst gekauft wurdest, von einem diesen Bastarde?" Ihre Stimme wurde laut und wütend und wurde einige Male von ihrem eigenen Schniefen unterbrochen.
"Nenn sie bloß nie wieder 'Bastarde'", flüsterte ich ihr - erschrocken über ihre Bezeichnung - zu, damit es bloß niemand außer ihr hörte.
Die Wände hier waren dünn wie Papier, manchmal hörte ich sogar ein Mädchen im Nebenzimmer schnarchen.
Mona war schon immer eine Person für sich gewesen, die gerne frei ihre Meinung äußerste, doch manchmal sagte sie Sachen, für die sie mit dem Tod hätte bestraft werden können. Ich fragte mich, wie es bloß werden sollte, wenn sie ihrem zukünftigen Mann so eine Beleidigung an den Kopf werfen würde. Mit so einem aufsässigen Charakterzug konnte man schließlich nicht lange überleben und genau das machte mir so Angst. Wenn ich morgen zum Heiratsmarkt fahre, dann ist Mona auf sich alleine gestellt und muss selber aufpassen, dass sie ihre Zunge hütet, wurde mir schmerzlich bewusst.
"Irgendwann wird es dir auch noch klar", sagte Mona tonlos und wischte sich mit eiskalter Miene die übrigen Tränen weg.
Ich wollte noch etwas erwidern, doch dann ertönte der Gong, der die Nachtruhe einleitete.
"Gute Nacht", murmelte mir Mona zu, was ich knapp erwiderte und dann unter meine Decke schlüpfte.
Nachdem auch der letzte Gongschlag verklungen war, ging das Licht automatisch aus und es wurde still. Das einzige Geräusch, dass die Stille durchbrach, war das beruhigende Zirpen der Grillen, die mich mit ihrer Melodie in den Schlaf sangen.
Wie jeden Morgen weckte mich das, im Zimmer wiederhallende, Geräusch des Morgengongs, in Kombination mit dem Erhellen des Zimmern durch die - meiner Meinung nach - viel zu grellen Deckenlampen, die stets um 7:00 Uhr in der Früh aufflackerten, nur um wieder um 22:00 Uhr zu erlischen. Gerade wollte ich mir meine Decke über den Kopf ziehen, um noch etwas weiterzuschlafen, als ich hörte wie Mona unter dem Quietschen der Matratzenfedern aus ihrem Bett kletterte und sich auf meine Bettkante setzte. Verwirrt schlug ich die Augen auf und zog die Stirn kraus, während ich zu ihr hochblinzelte. Mit einem etwas gezwungen wirkendem Lächeln stimmte sie "Happy Birthday" an und da wurde mir erst klar, dass heute mein Geburtstag war.
"Heute ist es soweit", flüsterte ich und meine Stimme hörte sich dabei sowohl ängstlich, als auch fröhlich an.
"Ja ..." Mona zog das Wort merkwürdig lang und ihr fiel es sichtlich immer schwerer zu lächeln.
"Hey, nicht traurig sein", versuchte ich sie zu beruhigen und nahm ihre weiche Hand, um diese zuversichtlich zu drücken.
"Wir sollten uns jetzt fertig machen", murmelte die Schwarzhaarige und verließ unser Schlafzimmer.
Sie wollte anscheinend keinen großen, emotionalen Abschied und das war mir Recht, schließlich hatten wir den gestern Abend schon einmal gehabt und noch einmal würde ich ihn wahrscheinlich nicht überstehen. Zumindest nicht, ohne total verheult und verrotzt auf dem Heiratsmarkt anzukommen.
Der warme Wasserstrahl entspannte meine Muskeln, als ich in der Dusche stand. Für einen Moment schloss ich meine Augenlider und vernahm erst dann das leichte Stechen in meiner Schläfe, welches wohl von der Aufregung ausging. Ich hielt den Duschkopf vor meinen Mund und ließ Wasser hinein, danach spuckte ich es wieder aus und fing erneut mit der Prozedur an. Warum ich das tat wusste ich selbst nicht so genau, auf irgendeine skurrile Weise beruhigte es mich und half mir klar Gedanken zu fassen.
Wie sieht es wohl im Heiratsmarkt aus?
Wie lange werde ich dableiben müssen?
Und das wohl wichtigste:
Was für einen Mann werde ich heiraten?
Seufzend stieg ich aus der Dusche und machte mich weiter fertig.
Nachdem ich die restliche morgendliche Katzenwäsche erledigt und ein ziemlich klägliches Frühstück verspeist hatte - ich bekam momentan echt nicht viel runter -, stellte ich mich vor das riesige eiserne Ausgangstor der Erziehungsanstalt Daminox 93, vor dem ich auf den Wagen wartete, der mich zum Heiratsmarkt bringen würde. Es kamen noch ein paar Mädchen aus meinem Jahrgang zu mir und verabschiedeten sich von mir, was mich wieder emotional werden ließ. Ich wünschte Mona würde doch noch mal kommen und sich richtig von mir verabschieden, doch als die beiden Soldaten im Auto vorfuhren, wurde meine Hoffnung endgültig vernichtet. Einer der beiden stieg aus und baute sich vor mir auf.
"Nr. 54453, Cecilia?", fragte er mit ausdrucksloser Miene. Ich nickte schweigend, als er meine mir zugeteilte Nummer und meinen Namen nannte.
Auf seiner schwarzen Uniform befand sich das Symbol unserer Welt: Ein weißer Kreis, indem sich vier Xe befanden, die für die vier Himmelsrichtungen und somit auch für die Städte standen: Erox (Norden), Daminox (Osten), Teinox (Süden) und Ranox (Westen). Sie waren untereinander mit jedem verbunden, sodass ein senkrechte Raute entstand, die ein Kreuz in der Mitte trug.
Er führte mich, ebenfalls wortlos, zum Wagen und hielt mir die Tür auf. Es war so weit. Nun würde ich alles mir bekannte zurücklassen, um einen neuen Abschnitt meines Lebens zu beginnen. Mit gemischten Gefühlen stieg ich in den dunklen Wagen, der sich daraufhin in Bewegung setzte. Mein Blick war fest auf den Eingang des Schulgebäudes geheftet, da ich immer noch hoffte mich nochmal richtig von Mona verabschieden zu können, doch bevor ich darum bitten konnte meine beste Freundin noch ein letztes mal zu sehen, hatten wir den Campus schon verlassen und waren in der Außenwelt. Der Männerwelt.
Eine einsame Träne rann mir über das blasse Gesicht und versiegte auf meinen schmalen Lippen.
Die Autofahrt dauerte nicht lange, da die Erziehungsanstalt unserer Stadt nur wenige Kilometer vom städtischen Hochzeitsmarkt entfernt war, doch trotzdem versetzte mich diese kurze Strecke schon ins Staunen. Es sah so atemberaubend aus wie die riesigen, aneinandergereihten Gebäude in die Höhe ragten oder wie dicke Stahlseile eine Brücke über dem ruhigen Gewässer hielten, über das riesige Frachter Waren von einem Ort zum anderen brachten. Es war alles so neu für mich, so vieles hatte ich noch zu entdecken, doch dann hielten wir schon vor einer riesigen weißen Halle, die nur knapp drei Meter hoch war und deren Decke flach wie ein Pfannkuchen war, das faszinierte mich jedoch an dem Gebäude: Es war das genaue Gegenteil der Häuser, die ich eben gesehen hatte.
Der Fahrer entriegelte die Türen. Komischerweise war es mir bei der Abfahrt gar nicht aufgefallen, dass er sie verriegelt hatte. Normalerweise entgingen mir solche Details nicht.
Ich öffnete meine Tür und stieg aus, um ein paar Schritte zu machen. Es waren meine ersten Schritte in der neuen Welt. Unter meinen Füßen fühlte sich die Erde genauso an wie immer, doch das Gefühl dabei war ein ganz anderes. Schnell sprangen die beiden Soldaten ebenfalls aus dem Auto und einer von ihnen packte mich grob am Arm und wirbelte mich heftig herum, sodass ich nur wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war und seinen grässlichen Mundgeruch roch, als er mich anmeckerte: "Hör zu, junge Dame, versuch gar nicht erst abzuhauen, schließlich steht darauf Todesstrafe."
"I-Ich habe doch gar nicht versucht abzuhauen", stammelte ich erschrocken und sah ihn etwas ängstlich an.
Ungläubig schnaubend zog er mich hinter sich her in das Gebäude, in dem wir durch einen langen, dunklen Flur liefen, der so gar nicht einladend war, dann stieß er eine Tür auf und da war er: Der Heiratsmarkt.
Mir stockte der Atem und ich unterdrückte einen Schrei, der mir langsam die Kehle raufkrabbelte.
In der dunklen, tristen Halle waren überall kleine Käfige in denen - meist zusammengekauert - Frauen saßen. Vor jedem Käfig war ein Schild aufgebaut, wo groß die Nummer derjenigen Frau drauf stand, mitsamt einigen allgemeinen Informationen und ihrem Führungszeugnis.
Plötzlich wurde mir schlecht und ich hatte das Gefühl mich übergeben zu müssen.
In der Schule hatten sie in den höchsten Tönen von diesem Ort gesprochen, sodass ich mir einen perfekten Palast ausgemalt hatte, in dem uns professionelle Stylisten für die Männerwelt hübsch machten, doch dem war nicht so.
Der Soldat übergab mich einem anderen hochgewachsenen, jungen Mann, der mich daraufhin genauso grob wie der Soldat eben durch die Reihen zerrte. Ein paar Frauen sahen zu mir auf und sofort entdecke ich die tiefe Traurigkeit in ihren verheulten Augen. Mit einem unsanften Schubs landete ich in einem Käfig, den der Mann eilig hinter mir schloss.
Die Tage vergingen nur schleppend. Tag und Nacht konnte ich in dieser fensterlosen Halle nur dadurch erahnen, dass ich die Mahlzeiten zählte. Nebenbei gesagt waren diese ziemlich kläglich und bestanden meist nur aus Brot, Wasser und mittags und abends noch etwas Suppe. Zudem bekamen wir etwa einmal pro Woche noch einen Apfel dazu, den ich nach dieser Zeit schon als wahre Leckerei ansah. Die meiste Zeit verbrachte ich damit die anderen Frauen zu beobachten oder mit dem Zeigefinger über den kalten Boden zu streichen, das beruhigte mich etwas. Schlafen war hier auch nicht gerade sonderlich bequem, da ich nur eine dünne, etwas miefende Decke bekommen hatte, die die Härte des Bodes kaum minderte.
So kann es doch nicht weitergehen!
Ich musste mir etwas ausdenken, um hier wegzukommen, doch an den ganzen Wachen vorbei zu schleichen war so gut wie unmöglich und würde mir nur unnötige Strafen einhandeln. Ich brauchte einen totsicheren Plan, aber wo bekam man so einen her? Schließlich konnte ich sowas nicht mal eben aus dem Ärmel schütteln. Angestrengt dachte ich nach.
In diesem Gebäude gab es - soweit ich wusste - nur zwei Ein- beziehungsweise Ausgänge und beide waren von Wachen gesichert, an denen ich unmöglich vorbeigekommen wäre. Fenster besaß dieses Gebäude leider auch keine, außer denen auf der Toilette und die waren mit Gitterstäben verriegelt.
Nach kurzem abwägen meiner Möglichkeiten entschied ich mich dafür mir die Fenster noch ein mal anzusehen. Vielleicht könnte ich mich durch eins durchzwängen, auch wenn es sehr unwahrscheinlich war, doch was hatte ich schon zu verlieren? Es war kein totsicherer Plan, doch Plan war Plan.
Ich drückt auf den kleinen roten Knopf, der daraufhin aufleuchtete. Er war dafür gedacht, dass man damit rechtzeitig Bescheid geben konnte, wenn man auf Toilette musste, damit man von einem Wachen in Handschellen zu den sanitären Anlagen gebracht wurde. Wie jedes mal kam auch nun wieder einer der Wachen zu mir, um meinen Käfig zu öffnen, mir die Hände mit Handschellen zu versehen und mich zu den Toiletten zubringen, vor denen er mir die Handschellen wieder abnahm und mir die Tür zur Kabine öffnete. Wortlos betrat ich den kleinen Raum und schloss die Tür hinter mir. Abschließen war leider nicht möglich. Unter dem breiten Türschlitz sah ich die schwarzen Schuhe des Wachmanns, der bewegungslos vor der Kabinentür verhaarte.
Ich blickte hoch zum Fenster, welches sehr klein war. Selbst ohne die Gitterstäbe und dem Fensterglas wäre es mir wahrscheinlich schwer gefallen hindurch zu schlüpfen, doch ich wollte nichts unversucht lassen und klappte deswegen langsam den Klodeckel runter. Glücklicherweise fing der Wachmann, der mich hergebracht hatte, genau dann ein Gespräch mit einem Kollegen an, als der Klodeckel und die Kloschüssel beim berühren ein leises, aber dennoch wahrnehmbares Geräusch von sich gaben. Kurz verharrte ich, um zuhören, ob die beiden Wachen etwas mitbekommen hatten, doch diese redeten seelenruhig miteinander weiter.
Vorsichtig kletterte ich auf den Toilettendeckel und versuche mit aller Kraft die Stäbe auseinanderzudrücken. Fehlanzeige. Sie rührten sich keinen Millimeter.
Der alleinige Versuch die Stäbe zu verbiegen kam mir plötzlich albern und dumm vor. Mit zerknautschter Miene wollte ich wieder von der Toilette runterklettern, doch ich rutschte urplötzlich ab und knallte gegen eine der Außenwände der Kabine. Sofort wurde die Tür aufgerissen und zwei wütende Männergesichter starrten mich an. Sie schienen verstanden zu haben, was mein Plan gewesen war. Aus purer Panik heraus tat ich das erste was mir in den Sinn kam: Ich trat dem einen Wachmann so doll ich konnte in die Weichteile.
Überraschenderweise taumelte dieser daraufhin wirklich zurück und fiel somit in die Arme des zweiten. Das war meine Chance. Ich rannte an den beiden vorbei, hinaus aus den sanitären Anlagen und hinein in die große Halle. Einige Wachen sahen mir für ein paar Momente nur verwirrt hinter her, bis sie realisierten, dass ich versuchte abzuhauen, doch diese wenigen Momente brachten mir einen guten Vorsprung ein.
Es sind nur noch wenige Meter bis zum Ausgang. Ich kann es wirklich schaffen!
Plötzlich spürte ich zuerst einen heftigen Zug am Arm, dann einen sengenden Schmerz im Schulterblatt und zu letzte wurde schlagartig alles schwarz.
Um mich herum war es schwarz, doch diese Schwärze konnte man nicht mit der Nacht vergleichen. Schließlich beinhaltete die Nacht einen Mond und zahlreiche Sterne, die man - mal mehr, mal weniger - sehen konnte.
Oft hatten Mona und ich im Sommer ein Fenster in unserem kleinen Zimmer offen gelassen, um uns vor dem Schlafen noch den Nachthimmel ansehen zu können. Auf mich hatten die Sterne und der Mond immer eine ganz besondere - fast schon euphorische - Wirkung gehabt, die mich immer so sorglos werden ließ. Doch dieses schwarz, welches mich nun zu umhüllten schien, rief eine schwere Trägheit in mir hervor. Mein Geist war noch merkwürdig benebelt, als wäre ich ein Computer, der sich gerade erst neu startete. Ich nahm jedoch einen wummernden Beat wahr und die Schmerzen in meinem Körper.
Wo bin ich?, fragte ich mich in Gedanken und hatte Angst die Augen zu öffnen, weil ich die Befürchtung hegte, dass ich mich auf dem Weg zu meiner Hinrichtung befand. Zumindest erschien es mir logisch, da die Regierung es sicherlich nicht gerne sah, wenn jemand einen Fluchtversuch startete.
Ich brauchte Klarheit, deswegen öffnete ich langsam meine Augen, die erstmal eine paar Sekunden brauchten, um sich wieder an das Licht der Straßenlaternen zu gewöhnen. Wie ich schon befürchtet hatte, befand ich mich wirklich in einem Auto, was wohl hieß, dass mir mein baldiger Tod bevorstand. Einige Sekunden lang blieb ruhig, bis ich realisierte, was das eigentlich hieß und mir sogleich die Tränen in die Augen traten.
"Ich werde sterben", wimmerte ich leise vor mich hin.
Panik stieg in mir hoch. Mein Herz hämmerte schnell und unregelmäßig in meinem Körper und ein Gemisch aus Tränen und Todesangst verschnürten meine Kehle. Mein Magen tat es ihr gleich. Kalte Schauer krochen mir über den Rücken, während sich alle Muskeln meines Körpers anspannten, als ob ich mich darauf vorbereiten würde jemanden zu verprügeln. Ich fühlte mich so hilflos, denn ich wusste, dass niemand, über den je ein Todesurteil verhängt wurde, ungestraft davongekommen war.
"Du wirst nicht sterben", sagte plötzlich eine männliche Stimme - "außer du übergibst dich hier in meinem neuen Wagen, dann muss ich dich leider umbringen."
Ich sah den jungen Mann neben mir überrascht an. Man hatte an seiner Tonlage gehört, dass er letzteres nicht ernst gemeint hatte, doch was den ersten Satz anging, wusste ich nicht ob ich ihm Glaube schenken sollte.
Ich musterte ihn, denn bisher hatte ich mich bloß mit meinen Angstzuständen beschäftigt. Er hatte ein markantes Kinn und kräftige, hohe Wangenknochen, dazukam noch eine hohe Stirn und eher schmale Lippen. Schräg unter seinem rechten Auge befand sich ein kleines Muttermal, dass seine dunkelbraunen Augen betonten. Ich hatte zuvor mit braunen Augen immer Treue, Wärme und Ehrlichkeit assoziierte, doch in seinen Augen lag etwas berechnendes, was mir Angst machte. Seine Haare waren von einem etwas helleren Braun als seine Augen und hatten einen ungewöhnlichen Schnitt. Bisher hatten fast alle Männer, die ich gesehen hatten, sehr kurzes Haar gehabt, was anscheinend im Trend lag. Mein Fahrer jedoch hatte zwar an den Seiten auch nur ein paar Millimeter lange Haare, doch oben auf dem Kopf hatte er sie lässig zur Seite gestylt, sodass es nicht das Volumen verlor und es einer schokobraunen Welle glich. Ich musste zugeben, dass er, mitsamt seiner Frisur, nicht gerade schlecht aussah.
"Bist du so überwältigt von meinem guten Aussehen?", fragte er mich feixend und ich bemerkte wie er mich während des Fahrens die ganze Zeit im Augenwinkel beobachtete.
Ich errötete, doch erwiderte lieber nichts, da ich noch nicht wusste wo er mich hinbringen würde, wollte ich bei ihm nicht in Ungnade fallen.
"Du bist nicht so gesprächig, oder?", stellte er fest und bog in eine Seitenstraße ein.
Ich schwieg und beobachte die Umgebung. Wir fuhren gerade durch eine lange Straße, in der Haus an Haus gereiht war. Die Unmengen an Straßenlaternen, die hier aufgebaut waren leuchteten mir so grell entgegen, dass mir alles für ein paar Augenblicke grotesk vorkam. Es schien so, als hätten die Ingenieur die Hässlichkeit der gequetschten Betonblöcke durch Helligkeit wettmachen wollen, doch das war nach hinten los gegangen. Ich schloss die Augen und sah tanzende, weiße Punkte. Plötzlich wurde es wieder schlagartig dunkler und der Vorhang vor den 'Tänzern' schloss sich augenblicklich. Als ich die Augen wieder aufmachte, sah ich wie der junge Mann in eine Straße abbog, die von riesigen Getreidefeldern umgeben war. Nun spendete nur noch die Autoscheinwerfer Licht.
Wahrscheinlich war ihnen hier das Geld für die Straßenbeleuchtung ausgegangen, da sie es in der vorherigen Straße so übertrieben hatten, schlussfolgerte ich.
Da ich draußen kaum noch was erkennen konnte, entschied ich mich dafür, meinen Fahrer zubeobachten und ihn über sein Vorhaben auszuquetschen.
"Wer bist du und wohin bringst du mich?", erkundigte ich mich.
Einerseits wollte ich die Antwort wissen, andererseits hatte ich Angst davor. Was wäre, wenn er mir sagen würde, dass ich doch sterben müsste? Das Zittern kehrte wieder in meinen Körper zurück. Schweigend hielt er an einem Straßenrand, neben einem kleinen Wäldchen, und drehte sich zu mir.
Die Situation löste Unbehagen in mir aus, was von seinem überheblichen Grinsen nur noch verstärkt wurde. Ich mochte ihn schon jetzt nicht.
"Ich bin Nathan Burghley, dein Ehemann", stellte er sich mir vor - "Und ich werde dich in mein Haus bringen."
Ich schwieg betreten. Darauf hätte ich schon früher kommen können.
Verheiratet zu sein war merkwürdig, anders als ich gedacht hatte. Sehr anders. Trotz der herben Enttäuschung, was den Heiratsmarkt anging, hatte ich kleine naives Ding, mir im Unterbewusstsein immer noch einen liebevollen Mann ausgemalt, mit dem ich zusammen in einem schönen, großen Haus am See leben, zwei Kinder bekomme und bis an das Ende meiner Tage glücklich sein würde. Eine sehr infantile Vorstellung, wie sich nun herausgestellt hatte.
"Freu dich lieber. Nach deinem Fluchtversuch nahm dein Marktwert rapide ab. Ich war so barmherzig und habe dich genommen, sonst hätten sie dich womöglich noch köpfen lassen", hielt er eine Lobhymne über sich selbst.
"Warum nimmst du ein Mädchen zur Frau, das versucht hatte zu flüchten?", wollte ich etwas irritiert wissen.
Uns wurde in der Erziehungsanstalt beigebracht, dass Männer großen Wert auf Schönheit, Intelligenz, Tugend und ganz besonders auf Gehorsamkeit legten. Für letzteres war ich ganz sicher nicht das Paradebeispiel. Zumindest nicht mehr seit meinem Fluchtversuch.
Nathan zuckte mit den Schultern und musterte mich kurz, was mir sichtlich unangenehm war.
"Es kam mir halt so in den Sinn. Ich denke es gefiel mir einfach, dass du nicht so eine Marionette bist wie der Rest eurer minderbemittelten Spezies Frau, sondern ein bisschen Pfeffer im Hintern hast." Er machte eine kurze Pause - "Das ist sicherlich auch keine schlechte Eigenschaft im Bett."
"Minderbemittelt?", fragte ich spitz, ballte wütend meine Hände zu Fäusten und ignorierte seine geschmacklose Beifügung.
Ich hatte jahrelang hart für die Schule gelernt und meist gute Noten bekommen. In Mathematik und Psychologie hatte ich sogar zu den Klassenbesten gehört, deswegen fand ich es lächerlich mich als dumm zu betiteln.
"Ich wette du bist selbst nicht gerade der hellste Stern am Firmament", keifte ich ihn wütend an und verschränkte bockig die Arme vor der Brust - "Was machst du überhaupt beruflich? Kanalisationen säubern?"
Er fing an zu lachen, was - das musste ich zugeben - schön männlich und tief klang und mir eine leichte Gänsehaut bereitete.
"Ich arbeite als Wächter auf dem Heiratsmarkt", erklärte er und zeigte auf seine Uniform.
Nun kam ich mir wirklich dumm vor. Warum hatte ich das erst jetzt bemerkt? Zudem hätte ich ihn wiedererkennen können. Wenn ich ihn nun so genau betrachtete und in meinem noch immer benebelten Gedächtnis nach Erinnerungen an die zahlreichen Wachen suchte, erinnerte ich mich an ihn. Er hatte sich meist im Hintergrund gehalten, als würde er die Wächter stets beobachten. Eine Art Wache für die Wache.
"Und ich war der Mann, der dich dank eines Elektroschockers von der Flucht abgehalten hatte", erzählte er lässig weiter.
Für ihn schien das hier normal zu sein, fast schon alltäglich, so als würde er sich mit einem entfernten Verwandten über das Wetter unterhalten. Gefühlskarg und oberflächlich.
Wäre er nicht gewesen, wäre ich jetzt wahrscheinlich auf freien Fuß, schoss es mir durch den Kopf.
Meine anfängliche Abneigung gegen diesen Mann verwandelte sich langsam, aber sicher, in Hass.
"Du bist ein Arschloch", fauchte ich wütend und meine Hände fingen an, vor Wut, zu zittern.
Ich wäre bereit gewesen ihm ins Gesicht zu schlagen, doch ich versuchte mich unter Kontrolle zu halten.
"Nanana" Er warf mir einen tadelnden Blick zu - "Auf Beleidigen des Ehemannes steht die Todesstrafe aus. Hast du das etwa schon wieder vergessen, kleine Hellcat?"
"Nein, nur ignoriert", erwiderte ich grimmig - "Und was zum Teufel ist eine Hellcat?"
"Hellcat bedeutet Furie", übersetzte er mir knapp und schenkte mir abermals eins seiner herablassenden Lächeln - "Du scheinst im Englischunterricht nicht so gut aufgepasst zu haben."
Wütend wendete ich mich von ihm ab und blickte wortlos auf das Feld. Wenn ich nicht mehr antwortete, würde er sicherlich irgendwann weiterfahren und dann wären wir bald in seinem Haus, in dem ich mich schnell in irgendeinem Raum einschließen würde. Er murmelte leise etwas vor sich hin, von dem ich lediglich das Wort "Hellcat" verstand und startete dann wieder den Motor.
Den Rest der Fahrt hatten wir schweigend im Auto verbracht. Nathan hatte nach einer Weile dieser unangenehmen Stille die Musik einfach lauter gedreht und leise mitgesummt. Den Musikstil, den er dort abgespielt hatte, hatte ich zuvor nie gehört. Er beinhaltete kaum Gesang und eine starke Bassbetonung, doch es gefiel mir und half mir den Rest der Autofahrt gut zu überstehen.
Ich musste mich zusammenreißen, damit mir nicht die Augen zufielen. Die ganze Erschöpfung und Müdigkeit der letzten Wochen fiel plötzlich über mich her. Meine Augenlider fühlten sich schwer an, so als wären jeweils ein Elefant an ihnen befestigt, doch ich bemühte mich wach zu bleiben. Würde ich einschlafen, hätte ich keine Kontrolle und genau die brauchte ich doch gerade. Es fiel mir zunehmend schwerer klare Gedanken zu fassen, denn die Energielosigkeit ließ die Welt vor meinen Augen verschwimmen und verlieh ihr einen gräulichen Unterton. Das Nathan auf einem kleinen Parkplatz einparkte, bekam ich nur im Hintergrund mit. Mir wurde erst richtig bewusst, dass wir da waren, als die Autotür auf meiner Seite geöffnete wurde und dort Nathan stand, der mir eine Hand hinstreckte. Zunächst hatte ich nicht verstanden, was er wollte, deswegen versuchte ich meine Übermüdung so gut wie möglich zur Seite zu schieben und meine Energie aus meinem körperlichen Notstromaggregat zu tanken. Mein Kopf arbeitete auf Hochtouren und brachte mir, zu meinen tränenden Augen, auch noch Kopfschmerzen ein. Wahrscheinlich musste er mich nun für strohdumm halten, doch wenn ich schlaftrunken war, war ich nicht viel zu gebrauchen.
Ich hörte wie er seufzte, meine Augen waren nun komplett geschlossen. Seine Stimme kam mir unendlich weit entfernt vor, doch ich bemerkte wie ich von zwei starken Armen hochgehoben wurde und wie ein warmer Luftzug gleichmäßig über mein Haar floss. Leichte Erschütterungen beeinträchtigten meinen Halbschlaf, aber das störte mich damals herzlich wenig, was für mich zählte, war, dass ich endlich schlafen konnte. Das hatte ich anscheinend dringend nötig.
„Du bist viel fetter als du ausschaust.“
„Das habe ich gehört“, murmelte ich leise, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Ich verzog den Mund, als mich jemanden schmerzhaft an der Schulter rüttelte.
„Was -“, setzte ich an und bemühte mich meine Augen zu öffnen, was mir jedoch schwer fiel, da sie sich noch immer so bleiern wie am Vorabend anfühlten.
„Aufwachen“, befahl mir Nathan und rüttelte unachtsam weiter.
„Aufhören“, zickte ich ihn an.
Unsanft schlug ich seine Hand beiseite und wollte mich auf auf die andere Seite drehen - von ihm weg - doch statt auf einer weichen Matratze lag ich plötzlich auf dem Boden.
„Aua“, stöhnte ich auf und schlug nun endlich meine Augen auf.
Mit schmerzverzerrter Miene richtete ich mich langsam auf und rieb mir über meinen schmerzenden Po. Ein kurzer Blick zu Nathan zeigte mir, dass seine Mimik kalt und beherrscht war.
„Eigentlich hätte ich dich wegen deines Regelbruchs nach Paragraph 2, Absatz 14 verhaften müssen, doch ich belasse mal bei einer Verwarnung. Zudem hat dich dein Sturz ja schon ein wenig bestraft.“ Über sein Gesicht huschte eine minimale Hebung der Mundwinkel, doch es war nur so kurz, dass es auch einfach eine optische Täuschung hätte sein können.
„Paragraph 2, Absatz 14?“, fragte ich, schockiert über sein Fachwissen, nach.
Wache bei einem Heiratsmarkt zu sein war zwar kein schlechter Beruf, aber auch nicht so gut, dass dort Leute mit Jurakenntnissen ihre Zeit vertrieben.
Seufzend fuhr er sich durchs verwühlte Haar, man sah ihn an, dass er noch nicht all zu lange wach war.
„Gewalttätige Handlungen sind strengstens untersagt“, zitierte er, worauf er von mir ein desinteressiertes „Mhm“ erntete.
„Wir sollten jetzt etwas essen. Ich habe Hunger“, sprach er aus, was ich dachte.
Ich nickte und mein Magen knurrte bekräftigend.
Für eine Weile starrten wir uns beide nur erwartungsvoll an, dann fiel mir wieder ein, dass ich nun für das Kochen zuständig war.
„Durch den Flur und dann die zweite Tür rechts“, deutete er meinen Blick falsch als Orientierungslosigkeit.
Soll ich mich weigern und mich einfach wieder schlafen legen?, überlegte ich kurz, doch das kam mir albern vor.
Sicherlich gab es strengere Ehemänner, die härter durchgriffen als Nathan, doch ich konnte mir auch nicht alles bei ihm erlauben. Zudem hatte ich schon in der Erziehungsanstalt den Kochunterricht gemocht, auch wenn ich nie sonderlich gute Noten dort bekommen hatte.
„Worauf wartest du noch? Hop, Hop, ab in die Küche mit dir, da wo du hingehörst“, scheuchte mich Nathan weg.
Schnaubend wandte ich mich von ihm ab und stapfte wütend in die Küche.
Bloß nicht die Beherrschung verlieren, sagte ich mir in Gedanken, irgendwann wird der Mistkerl das bekommen, was er verdient.
Das Frühstück verlief ruhig, denn wir sprachen nur das Nötigste miteinander. Er schien genauso wenig Interesse an meinen Gefühlen und Gedanken zu habe, wie ich an seinen und das war gleich Null. Die Stille tat mir eigentlich ganz gut. Ruhe hatte ich schließlich lange nicht mehr gehabt, da auf dem Heiratsmarkt stetiger Tumult herrschte. Nun wusste ich jedoch nicht mehr was ich mit der neugewonnenen Stille anstellten sollte, wahrscheinlich war sie einfach noch zu ungewohnt für mich.
„Ich hoffe dir gefällt die Einrichtung der Küche, immerhin wirst in diesem Raum einen Großteils deines Lebens verbringen.“
Ich sah mich um. Die Küche war ein gut beleuchteter Raum, mit einem kleinen Kühlschrank, einem Herd, einer Spüle und einer Arbeitsfläche, auf der sich noch mehrere kleinere Geräte wie eine Mikrowelle und ein Toaster befanden. Des weiteren stand ein hoher, weißer Tisch an der gegenüberliegenden Wand, an dem wir gerade auf Hockern saßen, welche so hoch waren, dass Nathan und ich mit unseren Füßen nicht den Boden berühren konnten. Insgesamt war der Raum eher etwas kleiner, doch für zwei Personen reichte er völlig. Das einzige, was ich hätte bemängelt können wäre die Tristheit dieses Raumes gewesen. Zwar war er schön in weiß-, schwarz- und Silbertönen gehalten, doch es gab hier nichts persönliches. Im Unterricht wurden uns einst Beispielbilder von Wohnungen gezeigt, in denen sich in der Küche meist zahlreiche Familienbilder und Kinderzeichnungen befanden und das vermisste ich hier sehr.
„Passt schon“, murmelte ich und nahm einen kräftigen Zug von meinem Orangensaft.
Es tat so gut, als mir der süße, gelbe Saft die Kehle runter rann. Orangensaft war schon in der Erziehungsanstalt mein Lieblingsgetränk gewesen, aber ihn gab es nur bei besonderen Anlässen wie Staatsfeiertagen. Der Saft dieser seltenen Frucht war nämlich zu teuer, um ihn an uns Mädchen zu verschwenden, das sagte zumindest immer unser Schuldirektor Herr Jarmer. Zudem fand er weiterhin, dass Wasser viel besser für uns geeignet war, damit wir nicht dick wurden. Grundsätzlich wurde dort sehr auf unsere Ernährung geachtet und jeder musste einmal pro Woche auf die Waage. Die einzigen mit Übergewicht waren die Leute, die krankheitsbedingt darunter litten, wie Mona zum Beispiel. Leider hatte auf ihre Darmunterfunktion niemand Rücksicht genommen und das hieß für sie: Noch weniger Essen und mehr Sport als die anderen Schüler. „Kein Mann möchte ein fette Ehefrau.“ hatte ein Lehrer von mir einst behauptet und ich hatte ihm geglaubt. Vielleicht hatte er sogar damit Recht, dass Speckrollen Männern nicht gefielen, aber was wusste ich schon? Ich hatte bisher noch nicht die Chance mit Männern über ihre Figurvorlieben zu reden und wenn ich ehrlich war, war das auch nur wenig relevant für mich.
„Heute hat mein großer Bruder Geburtstag“, begann Nathan zögerlich - „Und du darfst mitkommen und meine Familie kennenlernen.“
„Wie alt wird er?“, fragte ich, da mir keine bessere Antwort einfiel.
„Fünfundzwanzig.“
Etwas desinteressiert nickte ich, zum Zeichen, dass ich es zur Kenntnis genommen hatte, und wandte mich dann wieder meinem wundervollen Orangensaft zu, indem ich mir schon zum vierten Mal etwas nach schenkte.
„So wie du jetzt aussiehst kann ich dir jedoch nicht meiner Familie vorstellen, also müssen wir wohl Klamotten einkaufen gehen und dich umstylen lassen“, erklärte er sachlich.
Ich hätte ihm, wegen seinem Satz 'So wie du jetzt aussiehst', gerne meine Meinung gegeigt, jedoch hielt ich mich zurück. Er hatte da vielleicht nicht ganz unrecht. Mein Spiegelbild im Fenster wirkte wirklich nicht gerade tauglich für eine Feier. Deutlich bildeten sich dunkle Augenringe unter meinen Augen ab und meine hellblonden Haare standen mir verwuschelt vom Kopf ab. Ich spürte die Hitze, die von meinen leicht abstehenden Ohren ausging, und schloss daraus, dass sie wahrscheinlich knallrot waren und somit mein Gesicht, mitsamt den zahlreichen Sommersprossen, mal wieder viel blasser erscheinen ließen, als es eigentlich war.
„Von mir aus.“
Knapp fünfzehn Minuten später saßen wir zwei dann schon in seinem kleinen, schwarzen Auto und fuhren in die Stadt. Zuvor hatte ich mir die Zähne geputzt – zum Glück hatte er noch eine neue Ersatzzahnbürste daheim –, geduscht und mir danach die Haare geföhnt und gebürstet.
Die Fahrt in die Innenstadt dauert eine Weile, denn Nathan schien eher etwas entfernt vom Trubel der Stadt zu wohnen. Das gefiel mir ausnahmsweise mal, denn die grellen Lichter der Städte und die Hässlichkeit der Betongebäude traf so gar nicht meinen Geschmack, das hatte ich ja schon vergangene Nacht festgestellt.
Auch dieses Mal spielte mein Ehemann wieder dieser interessante Musik ab, in die man vollkommen versinken konnte und die eine Erinnerung in mir aufkeimen ließ.
Mit sechs Jahren bekam jedes Mädchen in der Erziehungsanstalt Schwimmunterricht. Schon als wir nur die Bewegung der Arme im brusthohen Wasser üben sollten, hatte ich mich mit dem Wasser verbunden gefühlt. Zwischen uns entwickelte sich mehr und mehr so etwas wie ein merkwürdige Freundschaft. Eines Tages korrigierte unser Schwimmlehrer gerade die Bewegungen einiger Mädchen, da entfernte ich mich einfach von der Gruppe und schwamm zu einer Stelle, an der ich nicht mehr stehen konnte. Ich hielt die Luft an und ließ mich wie ein Stein zu Boden sinken. Dort war ich nicht lange, denn jemand merkte, dass ich fehle, woraufhin mich der Lehrer hoch holte, doch diese Sekunden dort unten alleine am stillen Grund waren so magisch. Meine, damals schulterlangen, Haare waren wie flüssiges Gold um mich herum geflossen und das Wasser hatte jede freie Stelle meines Körper liebkost, zumindest fühlte es sich so für mich an.
Diese bezaubernden Gefühle, von vor zwölf Jahren, kamen nun durch die Musik zurück und durchströmten meine Körper. Vielleicht hätten diese Klänge andere Leute kalt gelassen, doch ich verfiel durch sie in eine wunderschöne Ekstase und bildete mir ein im 'Paradies' zu sein, denn dieses Wort sang der Sänger immer wieder im Refrain. Und – wie sollte es anders sein – war mein 'Paradies' die kleine Welt unter Wasser, in der ich so gerne leben würde, fernab von jeglicher Zivilisation. Leider wusste ich auch, dass das nur ein alberner Wunschtraum war. Selbst wenn ich hätte fliehen können, hätten mir erst Kiemen wachsen müssen, um meinen Traum wahr werden zu lassen, denn nur wenn ich das Wasser überall spüren würde, wäre mein Verlangen gestillt.
Nachdem mein Lieblingslied vorbei war, konnte ich mich langsam aus meiner Trance lösen und riskierte einen kurzen Blick zu Nathan. Sein Blick wiederum war vorbildlich auf die Fahrbahn gerichtet, doch auf seinen, kaum merklich zitternden, Arm hatte sich eine Gänsehaut gebildet. Wenigstens das macht ihn das ein wenig menschlicher, dachte ich und sah ihn jetzt nicht mehr als so großen Unmenschen an, der mich andauernd herum kommandierte.
„Was ist das für Musik?“ Ich hatte all meinen Mut zusammengenommen und ihn einfach gefragt.
„Dubstep“, antwortete er, würdigte mich dabei zwar keines Blickes, doch ich entdeckte ein dezente zucken der Mundwinkel nach oben und ein fröhliches leuchten in seinen Augen.
Ihn schien es zu gefallen, dass ich Interesse zeigte.
„Habe ich noch nie von gehört“, grübelte ich - „Ist diese Musikrichtung überhaupt erlaubt?“Es wäre komisch, wenn ich sie nicht kennen würde, denn es gab nur fünf erlaubte Musikstile und die hatten wir im Musikunterricht alle ausführlich besprochen.
„Nein.“
Verblüfft sah ich ihn an. Ich hätte nicht erwartet, dass er etwas regelwidriges tun würde, das passte so gar nicht zu ihm. Oder doch? Wenn ich recht überlegte wusste ich kaum etwas über ihn, von daher hatte ich mir wohl ziemlich voreilig eine Meinung über ihn gebildet.
„Und was ist, wenn die Regierung rausbekommt, dass du verbotene Musik besitzt? Wie bist du da überhaupt dran gekommen?“
„Pass auf, kleine Hellcat, wenn wir beide Stillschweigen bewahren, dann wird die Regierung uns nicht dran bekommen, doch wenn du den Beatmen unbedingt jede Straftat melden willst, dann los. Doch dann musst du dir auch bewusst sein, dass du somit dein eigenes Todesurteil unterschreiben würdest, denn wenn der Ehemann etwas strafbares tut, ist die Frau automatisch mitschuldig“, machte er mit in einem Oberlehrerton verständlich - „Und wie ich sie bekommen habe, geht dich nichts an.“
Vielleicht war mein erster Eindruck von ihm doch richtig. Er war ein egozentrischer Hornochse und würde es wohl immer bleiben.
„Und wie hieß das Lied eben?“, fragte ich und blickte ihn direkt an.
Er zögerte kurz und warf mir einen Blicke zu, bei dem wir uns für eine geringe Zeitspanne direkt in die Augen schauten und ich glaubte etwas Unsicherheit bei ihm zu erkennen.
„Paradies“, begann er - „Ursprünglich war es ein Lied der Band Coldplay, doch dann wurde es geremixt.“
„Es gefällt mir.“ Ein leicht verträumtes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen.
Wortlos und mit undurchschaubarer Mimik drückte Nathan auf einen Knopf und die schönen Töne des Liedes erklangen von neuem.
„Mir auch.“
Der Laden, in den Nathan mich brachte, war recht klein und besaß ausschließlich Abendkleider und hohe Schuhe. Ordentlich waren diese nach Farben sortiert worden und wie ein Regenbogen angeordnet. Staunend sah ich mich um. Bisher trug ich immer nur die Uniformen, die mir und den anderen Frauen von der Regierung bereit gestellt wurden. Während Nathan mit einem Verkäufer sprach sah ich mich etwas eingeschüchtert um. In der Theorie hatten wir im Unterricht oft durchgenommen wie man einkaufte, doch nun in der Praxis waren die ganzen verschiedenen Eindrücke zu viel für mich. Es faszinierte mich wie die Kleider an den silbernen Kleiderstangen hingen, die an der cremeweißen Wand befestigt waren. Die hölzernen Regale, auf denen sich Dekoration und Absatzschuhe befanden ließen die Boutique gemütlich und rustikal erscheinen, ohne den Kleidern ihre glänzend Schönheit zu nehmen. Hier gefiel es mir. Zumindest hatte dieser Raum alleine schon mehr Persönlichkeit, als alles, was ich bisher von Nathans Wohnung gesehen hatte.
„Ich habe an etwas festliches gedacht in einer traditionellen Farben. Meine Familie achtet sehr auf die Etikette“, versuchte Nathan gerade seine Vorstellung dem Verkäufer zu beschreiben.
„Da werden wir sicherlich etwas schönes für die junge Lady finden“, sagte der alte Mann und lächelte mir unter seinem ergrauten Schnurrbart zu.
Sein Lächeln wirkte falsch – aufgesetzt -, denn seine Augen lachten nicht mit, sondern sahen mich voller Abscheu an, als wäre ich ein fehlgeschlagenes Experiment. Ein Fehler der Natur.
„Komm her, Kleine“, rief er mich zu sich.
Zaghaft befolgte ich seinen Befehl. Ich kam mir vor wie eine willenlose Marionette, aber ich konnte ihm seinen Wunsch nicht abschlagen, sonst hätte er die Polizei wegen meines aufmüpfigen Verhaltens gerufen. Bei Nathan konnte ich mir rebellisches Verhalten eher erlauben, da er mir mehr durchgehen ließ. In der Öffentlichkeit war das jedoch etwas ganz anderes.
Der etwas rundliche Verkäufer zückte ein Maßband legte es an verschiedene Stellen meines Körpers, während er mich eingehend taxierte.
„Geht doch schon mal in die Umkleide, dann bringe ich euch einige Kleider zum anprobieren.“
„Werden wir tun. Dankeschön“, antwortete Nathan dem Mann, legte seinen Arm um mich und schob mich an den zahlreichen Kleidern vorbei in Richtung Umkleiden.
Während er mich vorwärts dirigierte, entwand ich mich plötzlich seinem Griff und blieb, mit vor der Brust verschränkten Armen, stehen.
„Ich möchte mir mein Kleid selbst aussuchen“, stellte ich bockig klar.
Noch nie konnte ich mir selbst aussuchen wie ich mich einkleiden wollte, denn zuvor hatte ich immer die Schuluniform tragen müssen, die aus einem knielangen schwarzen Rock, schwarzen Pumps mit vier Zentimeter Absatz und einer alabasterfarbenden Bluse bestand, die mich wegen meiner hellen Haut immer etwas kränklich aussehen ließ. Zum Schlafen wurden uns dann noch graue Nachthemden bereitgelegt. Winterjacken, Stiefel und dicke Strumpfhosen gab es natürlich auch im Winter.
'Das einzig Gute daran, hier bald raus zu sein ist, dass wir dann nicht mehr so aussehen werden wie Lemminge, sondern unsere eigenen Stil an die Öffentlichkeit tragen dürfen' hatte Mona einst gesagt. Ich weiß noch, dass wir an jenem Tag an dem kleine See saßen, der sich auf dem Grundstück der Erziehungsanstalt befunden hatte. Er war vereist und einige Mädchen schlitterten darüber und spielten kichernd Fangen. Dabei fingen die immer wieder andere Mädchen, die gar nicht mitmachten und einfach nur so über das Eis laufen wollten. Diese kleinen Verwechslungen brachten Mona mal wieder dazu sich fürchterlich über die Erziehungsanstalt aufzuregen. Damals hatte ich jedoch noch nicht so richtig verstanden wieso sie sich auch klamottentechnisch gesehen so unbedingt von dem Rest abheben wollte, schließlich wurde sie ja schon genug gemieden, doch langsam verstand ich es. Ich hatte es auch satt nicht selbst entscheiden zu können, sei es auch nur so etwas belangloses wie ein Kleid für die Feier auszusuchen.
Bei dem Gedanken an unsere Gespräche am See zog sich mein Herz zusammen. Im Gegensatz zu Mona hatte ich Wintertage gehasst, dennoch hatte sie mich jeden Tag aufs neue mit ihrer herzensguten Art überredet mit ihr hinunter zum See zu kommen. Ich konnte nun förmlich den Schnee auf meiner Haut spüren, der durch meine Erinnerung rieselte und sich sanft auf mein Haupt legte, um dort zu schmelzen. Wahrscheinlich verherrlichte ich die Vergangenheit, doch trotzdem sehnte ich mich gerade so sehr nach meiner besten Freundin, dass mir Tränen kamen, die ich jedoch sofort weg blinzelte. Ich wollte vor Nathan keine Schwäche zeigen.
Was macht Mona wohl gerade? Hatte sie schon Geburtstag?, überlegte ich.
Ich hatte nach meinem Heiratsmarktaufenthalt noch nicht mein Zeitgefühl zurück erlangt, doch an der Wand entdeckte ich aber glücklicherweise einen Kalender, der den 18. Juni 55 anzeigte. Würde das stimmen, dann wären exakt drei Wochen seit meinem Geburtstag vergangen. Drei Wochen in denen Mona ohne mich und ich ohne sie auskommen musste und dabei war sie doch das Puzzelstück, welches mich komplettierte. Mir wurde wieder schlecht. Ich wusste, dass die Chance Mona wiederzusehen unglaublich gering war.
„Das geht nicht, du kannst doch den Verkäufern nicht ihren einfach ihren Job wegnehmen“, empörte sich Nathan vehement.
„Wieso nicht?“, wollte ich wissen und sah ihm unverwandt in die Augen.
Er schwieg kurz und schien zu überlegen was er auf meine Frage antworten sollte, dabei trat eine dünne Ader an der linken Schläfe leicht hervor.
„Sie wissen halt was dir am besten steht“, versuchte er mich zu überzeugen.
„Ich sehe mich jeden morgen im Spiegel und hatte nunmehr achtzehn Jahre Zeit alles über mich und mein Aussehen in Erfahrung zu bringen und der Mann hat mich noch nicht mal eine halbe Minute betrachtet. Weshalb sollte er qualifizierter sein als ich?“ Ich konnte der Logik der Männer einfach nichts Gutes abgewinnen.
„Weil ich – im Gegensatz zu dir – ein Mann bin und es ist allseits bekannt, dass Frauen und Mode einfach nicht zusammenpassen. Man kann euch zwar gut einkleiden, doch wenn es bei euch ums Outfit zusammen stellen geht, seid ihr vollkommen untalentiert“, gab mir der Verkäufer zu wissen, der urplötzlich hinter mir aufgetaucht war und noch immer die Maske der falschen Freundlichkeit im Gesicht trug. In der Hand hielt er mehrere schwarze Cocktailkleider, die allesamt ordentlich an einem Kleiderbügel hingen.
„Probier die doch erst mal an“, bat mich der Verkäufer und lächelte, doch auch dieses Mal konnten seinen gehobenen Mundwinkel die Arglist seiner Augen nicht wett machen.
Gerade wollte ich verneinen, als mir Nathan einen strengen Blick zuwarf.
„Vielen Dank für ihre äußerst kompetente Hilfe. Ich werde mit Freuden alles anprobieren.“ Meine Stimme triefte nur so von Sarkasmus, dennoch fiel es dem Verkäufer anscheinend nicht auf, denn dieser gab mir freudig die Kleider in die Hand und scheuchte mich in eine Umkleide.
So leicht würde ich nicht aufgeben, darauf konnten sie sich gefasst machen
„Komm schon, zeig dich uns“, flötete der Verkäufer, nachdem ich schon das dritte Kleid anziehen musste und in jedem einzelnen hatte ich mich verkleidet gefühlt. Langsam zog ich den Vorhang beiseite und trat hinaus aus dem kleinen Umkleideraum, damit mich die beiden Männer betrachten konnten. Sie lächelten.
„Wunderbar, der Stoff liegt perfekt auf ihrer Haut sie wirkt dabei nicht vulgär“, kommentierte Nathan zufrieden und zog mich zu sich ran.
Mit einer federleichten Berührung strich er mir langsam über den Rücken und stoppte bei meinem Po, während ich an seine warme Brust gepresst war. Es hätte mir eigentlich unangenehm seien müssen einem Macho wie Nathan so nah zu sein, allerdings spürte ich nichts, nur ein obskures Interesse. Noch nie wurde ich so angefasst und so etwas neues kennenzulernen war gleichzeitig faszinierend, als auch unbehaglich. Nichtsdestotrotz blieb ich wie angewurzelt stehen und ließ ihn gewähren. Wo meine neu errungene patzige Art hin war, wusste ich nicht.
Wieso muss ich ausgerechnet jetzt wieder zu dem naiven kleinen Blondchen aus der Erziehungsanstalt mutieren?
„Wir nehmen es“, beschloss Nathan, entfernte seine Hände von meinem Po und legte mir stattdessen einen Arm um die Hüfte - „Wie viel macht das?“
„Ich will das Kleid aber nicht“, fauchte ich wütend und befreite mich unsanft aus seinem Griff.
„170 Zump.“ Der Verkäufer beachtete meinen Protest erst gar nicht.
„Prima“, fand Nathan und lächelte - „Schatz, zieh dich jetzt bitte wieder um, damit wir bezahlen können.“
Seine Worte hatten mich irritiert. Das 'Schatz' hatte so fehl am Platz gewirkt wie das Lächeln auf den Lippen des Verkäufers und das 'bitte' war auch nur ein kleines Detaille unserer Maskerade. Was mich jedoch erst richtig stutzig gemachte hatte war, dass Nathan den Preis so leicht hin nahm. 170 Zump für ein Kleid, das ich vielleicht nur ein mal tragen würde, war eine ganze Menge. In der Erziehungsanstalt wurde uns die Währung mit Hilfe von Äpfel beigebracht, damit es für uns anschaulicher wurde. Ein Kilo Äpfel kostete in der Regel einen Zump oder hundert Loang. Für dieses Kleid hätten Nathan und ich uns somit 170 Kilo Äpfel kaufen können. Es kam mir nicht richtig vor so viel Geld für etwas so belangloses auszugeben.
„Aber -“, setzte ich erneut an, doch Nathan legte einfach seine raue Hand auf meinen Mund.
„Frauen“, murmelte er genervt und schob mich in die Umkleide. „Glauben Sie mir, meine war anfangs auch nicht besser. Wie langen haben sie die junge Dame schon?“ Plötzlich wirkte der Verkäufer sehr interessiert, was wahrscheinlich davon kam, dass er wusste, dass er nun das Geschäft so gut wie in der Tasche hatte und sich Small Talk erlauben konnte.
„Seit gestern Abend erst.“ Ich zog den Vorhang der Umkleide zu und schloss kurz die Augen, um Kraft zu sammeln. Als ich sie wieder öffnete sah ich mein Spiegelbild vor mir.
Nathan hatte Recht gehabt, mir stand das Kleid wirklich. Das überraschte mich. Durch das Nichtvorhandensein der Träger wirkten meine Schultern zart, aber trotzdem anmutig und die Taillierung brachte meine Taille zur Geltung. Der matte Stoff fiel dann unterhalb der Taillierung sanft hinab, bis knapp über meine Knie. Mir gefiel, dass es so schlicht war und trotzdem so viel ausmachte. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht, während ich mich drehte, damit ich jedes kleine Detaille erfassen konnte. Hinten an der Taillierung war noch eine kleine Schleife angebracht, die meinem Auftreten mehr Niedlichkeit verlieh. So schlecht hatte der Verkäufer seinen Job also doch nicht gemacht, denn das Kleid war optimal für so eine Feier – soweit ich das beurteilen konnte.
„Oh, herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit. Ist die junge Dame ihre erste Gemahlin?“, hörte ich den Verkäufer reden. Ich zog mir das Kleid über den Kopf und hängte es ordentlich wieder über den Bügel.
„Nein“, sagte Nathan leise und zögerlich. Hörte ich da etwa Verletzlichkeit in seiner Stimme?
„Was ist mit ihr geschehen?“, wollte der Verkäufer wissen und Neugierde lag in seiner Stimme.
„Ich spreche nicht darüber.“ Seine Stimmen war wie ein Eiszapfen. Kühl und spitz. Tödlich, wenn er auf jemanden hinab fallen würde.
Ich bekam eine Gänsehaut.
„Erzähl mir, was mit ihr passiert ist“, verlange ich von ihm, nachdem er bezahlt hatten und wir zurück im Auto saßen.
Ich hoffte, dass er es lediglich den Verkäufer nicht erzählen wollte und es mir erklären würde, schließlich war ich seine Gemahlin.
„Ich rede immer noch nicht darüber“, erwiderte er wütend und ich entdeckte ein leichtes Zittern seiner Hände, mit denen er nun den Schlüssel im Zündschloss umdrehte und so den Motor startete.
„Wieso nicht?“
Was ist bloß damals geschehen? Hat er sie etwa umgebracht?
„Weil es dich nichts angeht.“
„Ich bin deine Ehefrau“, erinnerte ich ihn - „Es geht mich also sehr wohl etwas an.“
„Nein.“ Seine Stimme wurde lauter und fing an vor Wut zu beben.
„Willst du es mir nicht sagen, weil du sie umgebracht hast?“ Mein Puls schlug schneller, als ich ihm diese Frage stellte.
Seine Augen weiteten sich und ich entdeckte ein Mischung aus Zorn und Trauer in ihnen, dann holte er mit seiner linken Hand weit aus. Sie flog blitzschnell auf mich zu. Ich spürte einen schlimmen Schmerz, der meine Wange zum pulsieren brachte. Wegen der Wucht, mit der mich seine flache Hand getroffen hatte, war ich zudem noch mit dem Hinterkopf gegen die Fensterscheibe gekracht, die daraufhin ein Knacken von sich gegeben hatte. Erst keuchte ich nur auf vor Schmerz, denn zu mehr war ich anfangs nicht in der Lage, doch als ich die pulsierenden Schmerzen in Wange und Hinterkopf richtig wahr nah, fing ich laut an zu wimmern. Es fühlte sich an, als würde dieser Schlag tausende Male wiederholt werden. Wenigstens wurde er bei jedem mal ein klein wenig schwächer. Trotzdem tat es so sehr weh, dass es mir die Tränen in die Augen trieb, die ich nur mit Mühe zurück halten konnte.
„Schimpfe mich nie wieder als Mörder“, schrie er mich aufgebracht an - „Ich bin nämlich überzeugter Pazifist.“
Ich zog die Beine an mich heran, schlang meine Arme darum und vergrub mein Gesicht zwischen meinen Knien und meiner Brust, während Tränen über mein Gesicht liefen, die schlussendlich auf meinen Oberschenkeln landeten. Der Schmerz bohrte sich förmlich in mein Gehirn und schnitt dort meine Gedankenfäden in Abermillionen Teile, die nun in Fetzen durch meinen Kopf flogen und Chaos verursachten. Die Kraft nachzufragen was ein Pazifist ist, hatte ich nicht mehr. Ich war viel zu sehr darauf konzentriert nicht in meinen eigenen Schoß zu kotzen.
„Pazifisten halten Krieg und Gewaltanwendung für ethisch nicht vertretbar und setzten sich für den Frieden auf dieser Welt ein“, erklärte er mit deutlicher ruhigerer Stimme.
Er schien noch etwas sagen zu wollen, als er mir besänftigend die Hand auf die Schulter legte, doch ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
„Toller Pazifist bist du, verstößt gegen deine eigenen Grundsätze“, schnaufte ich - „Oder bist du nur einer, wenn es dir gerade so in den Kram passt?“
„Cecilia, es tut mit wirklich Leid. So etwas tue ich normalerweise nicht“, versuchte er sich zu entschuldigen und klang dabei sogar wirklich wehmütig.
„War der Mord an deiner Frau etwa auch eine Ausnahme?“ Meine Stimme wurde noch lauter und ich hob meinen Kopf leicht an, was mir schwer fiel.
Ich war mir merkwürdiger Weise sicher, dass er sie umgebracht hatte, doch trotzdem hatte ich keine Angst, sondern empfand nur Abscheu gegenüber ihm. Wahrscheinlich würde die Angst auch getötet zu werden erst später kommen, sobald mein Gedanken wieder akkurat in eine Richtung flossen.
„Ich habe sie nicht getötet“, beteuerte Nathan eindringlich. Noch immer schwang dieselbe Mixtur aus Wut und Trauer mit, die ich zuvor auch schon in seinen Augen entdecken konnte, doch dieses Mal war ersteres etwas abgeschwächter.
Ich erwiderte nichts auf seine Worte und sah ihm stattdessen nur an. Er sollte ruhig mein geschundenes, tränennasses Gesicht in Kombination mit meinen glänzenden, geröteten Augen sehen und er sollte seine Tat bereuen. Anscheinend ging mein Plan auf, denn er sah mich nur kurz betreten an, senkte seinen Blick daraufhin und fuhr schweigend los.
Als wir auf dem kleinen Parkplatz vor Nathans Haus parkten, sah ich es mir das erste Mal richtig von Außen an. Meine stechenden Kopfschmerzen hinderten mich zwar daran jedes Detail dieses Hauses zu erfassen, doch ich war trotzdem deutlich klarer im Kopf, als gestern Nacht. Das Gebäude war nicht sonderlich groß, doch für zwei Personen reichte es alle Male. Es war flach und besaß nur ein Stockwerk, doch dafür ging es in die Breite. Die Fassade des Hauses war glatt und weiß es besaß ein ein rotes Dach, welches von den Witterungsverhältnissen schon ein wenig mitgenommen aussah. Mir fiel auf, dass dieses Bauwerk merkwürdig deplatziert wirkte, neben dem kleinen Wald und dem See, den man mit seinen knapp 200m² sogar noch als großen Teich durchgehen lassen konnte. Zudem besaßen wir keinen direkten Nachbarn.
Die perfekte Behausung, um jemanden heimlich, still und leise umzubringen und die Leiche im Wald zu vergraben, schoss es mir durch den Kopf.
Das Blut in meinen Adern schien zu gefrieren.
Wäre ich nicht so wütend auf ihn gewesen, hätte ich ihn gefragt, wieso er ein so modernes Haus so abgeschiedenen gebaut hatte, doch vielleicht wollte ich die Antwort eigentlich gar nicht wissen.
„Pass beim aussteigen auf deine Frisur auf“, ermahnte mich Nathan, als ich gerade dabei war aus dem kleinen Auto auszusteigen.
Nachdem wir das Kleid gekauft hatten, waren wir nämlich noch in einen kleinen Salon gefahren, wo ein netter, exzentrisch wirkender Mann mir eine komplizierte Hochsteckfrisur gezaubert hatte und mir ein wenig Make-up drauf gemacht hatte. Mit ihm hatte ich mich sehr gut verstanden und er hatte seine Arbeit – meiner Meinung nach – hervorragend gemacht. Lächelnd dachte ich daran zurück wie er mir von seinem vierjährigen Sohn erzählt hatte, der es liebte zu malen. Der Stylist war sich sicher, dass aus seinem kleinen Jungen irgendwann man ein berühmter Künstler werden würde und ich hatte ihm versichert, dass ich dann eines seiner Gemälde kaufen werde. Leider waren mir dort nicht alle Mitarbeiter so sympathisch gewesen wie mein Stylist, denn nachdem ich fertig war und zufrieden mein Spiegelbild betrachtet hatte, sagte einer der Mitarbeiter „Und so wurde das hässliche Entlein zum schönen Schwan“. Fast alle hatten bei diesem Spruch angefangen zu lachen, doch ich hatte nur dort gesessen und einen säuerlichen Gesichtsausdruck gemacht. Genau diesen setzte ich nun auch wieder auf.
Als ich ausstieg, war Nathan schon eilig um das Auto herum gesprintet und hatte sich meine Hand genommen, um mich zum Haus zu führen. Ich fand das albern, schließlich würde ich eh nicht weit kommen, wenn ich versuchen würde abzuhauen.
„Lass mich los“, fauchte ich - „Ich will nicht, dass ein Mörder mich berührt.“
Augenblicklich ließ er mich los, als hätte er sich verbrannt, und wendete den Blick ab. Er wirkte wie ein kleines Reh, dass angeschossen wurde, was bei seiner Statur ziemlich ulkig aussah.
Ich hätte fast Mitleid mit ihm gehabt, doch ich rief mir schnell wieder ins Gedächtnis, dass er es als Mörder nicht anders verdient hatte.
Er räusperte sich kurz und sah mich dann an, dabei wirkte er merkwürdig abwesend. Seine steife Körperhaltung und der schwermütige Blick strahlten Benommenheit aus.
„Dann geh voraus, Cecilia“, murmelte er.
Seine Melancholie machte sich in jedem freien Winkel breit. Um ihr zu entkommen ging ich hastig zur Tür, die daraufhin von Nathan aufgeschlossen wurde.
„Ich mache mich schnell fertig und in einer viertel Stunde fahren wir dann los zu dem Geburtstag. Also sei bitte fertig.“
Ich nickte.
Was blieb mir denn auch schon anderes übrig?
Ich hatte mich beeilt, als ich mir das Kleid angezogen hatte, denn er war einfach in das Badezimmer gegangen und hatte mich im Wohnzimmer stehen lassen, wo ich ständig Angst haben musste, dass er plötzlich reinkommen könnte. Natürlich hatten uns unsere Lehrer in der Erziehungsanstalt erklärt, dass wir bereit dazu sein müssten unseren Ehemann jeden Wunsch von den Augen ablesen zu müssen – also auch sexuell – und ich hatte mich damit abgefunden, doch damals konnte ich ja noch nicht ahnen, dass ausgerechnet ich ein Monster als Ehemann bekommen würde. Und man konnte ja nie wissen zu was so jemand imstande war.
„Bist du fertig?“, riss mich Nathans forsche Stimme aus meinen Gedanken.
„Sonst würde ich wohl nicht hier sitzen und Däumchen drehen“, gab ich bissig zurück und stand auf.
Ein kleines, zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er mich eingehend betrachtete.
Ich musterte ihn ebenfalls von oben bis unten. Er trug einen schwarzen Anzug mit einem weißen Einstecktuch. Dazu hatte er schwarze Lackschuhe kombiniert, sowie weißes Hemd unter seinem Jackett und einer schwarzen Krawatte. Seine Haare waren nach hinten gegelt und er wirkte auf mich wie ein wahrer Gentleman, doch ich wusste ja, dass er keiner war.
„Können wir jetzt los?“, quengelte ich und ging zur Haustür.
Ich konnte es gar nicht erwarten endlich andere Menschen kennenzulernen und nicht mehr mit dem Monster alleine zu sein, dennoch befürchtete ich, dass seine Verwandten wahrscheinlich genauso schrecklich waren wie Nathan selbst.
„Nach ihnen, Mylady.“ Nathan hielt mir die Tür auf und schenkte mir ein versöhnendes Lächeln.
„Tz“, machte sich genervt und stapfte zum Auto, in das ich mich wortlos setzte.
Mit einem Mörder würde ich mich ganz sicher nicht versöhnen.
Zehn Minuten lang saßen wir stillschweigend nebeneinander im Auto. Keine Musik. Kein Gespräch. Einfach nur Stille.
Nathan schien andauernd etwas sagen zu wollen, doch nachdem er Luft geholt hatte und den Mund aufmachte, schloss er ihn wieder. Das ging noch etwa fünf Minuten so weiter, bis er endlich „Es tut mir Leid“ über die Lippen brachte.
Ich würdigte ihn keines Blickes.
Denkt er wirklich, er könne sich so einfach bei mir entschuldigen?
„Ich weiß nicht was in mich gefahren ist“, beteuerte er verzweifelt.
Wer es glaubt, wird selig!
„Verdammt, so etwas passiert mir normalerweise nicht“, versuchte er mich zu überzeugen.
„Und was war mit deiner damaligen Ehefrau?“, zeterte ich.
„Ich rede nicht ger -“, begann er, doch ich schnitt ihm das Wort ab.
„Jaja, ich weiß. Du redest nicht gerne darüber, aber vielleicht solltest du mir den Grund dafür nennen, warum sie ihr Leben lassen musste. Hat sie etwa einen Fleck auf dem Geschirr übersehen, als sie abgewaschen hatte? Machst du das mit mir auch bald?“ Ich schrie ihn wütend an, denn je lauter ich wurde, desto besser konnte ich mein Angst verstecken. Zumindest stellte ich mir das so vor.
„Sie haben sie vor meinen Augen getötet“ Tränen liefen plötzlich quer über Nathans Gesicht, während er hörbar schluchzte.
Es schien ihm schwerzufallen seinen Blick auf der Fahrbahn zu halten.
„W-Was?“, stammelte ich verdutzt - „Wer hat sie getötet?“
Er schüttelte langsam den Kopf, was wohl heißen sollte, dass er darüber nicht reden wollte. Schnell wischte er sich die Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht. Sein Blick wurde wieder ausdruckslos, doch ich entdeckte noch ein leichtes Zittern seiner Hände und als ich genauer hinsah, bemerkte ich wie angespannt sein Kiefer war. Wäre diese Situation nicht so merkwürdig gewesen, hätte ich jetzt wirklich zugeben müssen, dass er gerade verdammt scharf aussah. Trotz seines kleinen emotionalen Ausbruchs eben wirkte er sehr maskulin. Oder vielleicht auch nur deswegen? Mir gefiel es, wenn er Gefühle zeigte. Alles war besser, als dieses unartikulierte Pokerface, welches viel zu oft sein Gesicht zierte.
„Vergiss einfach meinen kleinen Ausbruch“, murmelte er, während er vor einer Ampel Halt machte.
„Wie soll ich so etwas vergessen? Von einer Sekunde auf die andere bist du in Tränen ausgebrochen und hast mir von dem Tod deiner Ehefrau erzählt.“ Meine Blick ruhte beständig auf ihm, doch mich sah er einfach nicht an.
Er schwieg eine Weile und ich rechnete gar nicht mehr mit einer Antwort als er sagte: „Ich mag deine Augen. Sie haben so ein schönes, intensives Grün, welches ganz innen und ganz außen am dunkelsten ist. Dazu hast du noch schwarze Sprenkel in den Augen und einen dünnen, hellbraunen Rand drumherum. Sie sehen aus, wie eine Kiwi, die man aufgeschnitten hat.“
Irritiert starrte ich ihn an.
Mir war klar, dass er damit versuchte hatte das Thema zu wechseln, doch ich war zu fasziniert von seinen Worten, um ihn wieder auf seine Frau anzusprechen. Ein schöneres Kompliment, als meine Augen mit irgendwas wunderbarem zu vergleichen, konnte man mir gar nicht machen. Zwischen mir und meinen Augen war das immer so eine Sache gewesen, denn ich wurde früher oftmals wegen ihnen gehänselt, da nur 0,1 Prozent der Bevölkerung diese Augenfarbe mit mir teile. Die Mädchen aus meiner Klasse hatten mich unter anderem als 'Froschauge' betitelt und mich gefragt, warum meine Augen angeschimmelt sind. Damals hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als blaue Augen zu haben, wie sie die meisten besaßen, oder wenigstens braune. Mit der Zeit wurden wir alle älter und die Hänselei ließ erheblich nach, doch die komischen Blicke blieben. Sie klebten wie ein Kaugummi unter einer Schuhsohle, an mir, doch man konnte sie einfach entfernen. Sie hatten sich festgesetzte. Wie Zecken. Und sie sogen mir langsam das Blut aus dem Körper, denn mein Tod sollte langsam und schmerzhaft sein. Anders hatte ich es in deren Augen nicht verdient. Ich ekeliges, schimmliges Froschauge.
„Alles in Ordnung?“, riss mich Nathan plötzlich aus meinen Gedanken. Sorgenfalten waren auf seinem fürsorglichen Gesicht erschienen.
„Danke“, antwortete ich nun knapp auf sein Kompliment.
Ich hätte gerne auch etwas süßes zu ihm erwidert, doch ich konnte ihn noch immer nicht vollkommen einschätzen. Manchmal war er so wirklich nett und dann nur Sekunden später wieder ein frauenschlagender Idiot.
„Wow, du hast gerade mal zwei Minuten gebracht, um auf mein Kompliment zu antworten. Deine Reaktionszeit ist ja der Wahnsinn“ Seine Worte waren ein großer, brennender Haufen Ironie, der nun auf mich zugeschossen kam.
„Wenigstens heule ich nicht herum“, parierte ich den Feuerball geschickt. Nun flogen meine eisigen Wörter auf ihn zu, die ihn erbarmungslos trafen.
Fast hätte ich geglaubt, dass ihm mein Eisball nichts ausgemacht hatte, doch ein leichtes Zucken der Mundwinkel verriet ihn. Triumphierend sah ich ihn an.
Wahrscheinlich hätte ich einfühlsamer sein sollen, schließlich hatte er einen guten Grund zu weinen, jedoch war es nun eh zu spät, um Gesagtes rückgängig zu machen, deswegen war es eh egal, ob es nun gut oder schlecht war.
„Wir sind übrigens da“, informierte er mich knapp und deutete mit einem evidenten Kopfnicken in Richtung der riesigen, weißen Villa, die mit den Unmengen an Fenstern und Balkons aussah wie aus einem Märchen entsprungen.
„Woah“, keuchte ich, außer Stande etwas vernünftiges zu sagen - „Und da wohnt wirklich dein Cousin? Der muss ja unglaublich reich sein.
„Ja … er ist genau wie mein Vater.“ Diese Worte sprach er mit so viel Abscheu aus, dass ich nicht anders konnte, als meinen Hand besänftigend auf seine Schulter zu legen, da es aussah, als stände er wieder einmal kurz vor einem seiner Gefühlsausbrüche.
Er warf mir einen knappen Blick zu, in dem ich ein klitzekleines Aufblitzen von Dankbarkeit in seinen Augen erkennen konnte, dann stieg er wortlos aus und ging voran, ohne auf mich zu warten. Eilig schnallte ich mich ab, stieg ebenfalls aus dem Auto und rannte ihm hinterher, um wieder aufzuholen. Ich liebte es wie die Kieselsteine beim Rennen unter meinen hohen Schuhen knirschten und das Geräusch wie Rabe versuchte die zarte Stimme der Rotkehlchen nachzuahmen, was ihm jedoch einfach nicht gelang. Erst als ich neben Nathan angekommen war, bemerkte ich, dass ich gerade den Versucht verpatzt hatte wegzulaufen. Paradoxerweise wollte ich allerdings auch gar nicht fort. Meine Neugierde zwang mich dazu bei ihm zu bleiben. Zudem hatte er Recht: Ich würde nicht weit kommen. Wo sollte ich denn auch schon hin?
Zusammen mit meinem Ehemann – es war ein komisches Gefühl, wenn man es sich wirklich eingestand, dass man verheiratet ist – ging ich zwischen dem Springbrunnen mit dem glasklaren Wasser und den akkurat geschnittenen, kleinen Hecken entlang, die teils kreisrund und teils nur knapp 20cm hoch gerade in die Luft ragten und ein kleines Blumenbeet einrahmten, welches aus lila Blumen bestanden, die ich nicht kannte. Das Grundstück war wirklich schön, aber für mich wäre so ein Haus nichts. Es wirkte einfach zu perfekt und glatt. Scheinbar besaß es keine Ecken und Kanten, welche es irgendwie Einzigartig hätte machen können.
„Hast du eigentlich gar kein Geschenk für deinen Bruder dabei?“, wollte ich wissen.
Komisch, dass mir seine leeren Hände erst jetzt auffielen.
„Ich habe meinem Cousin vorab ein wenig Geld gegeben, da wir wie jedes Jahr für ein Geschenk zusammenlegen konnten. Er ist immer sehr kreativ was Geschenkideen angeht“, erklärte er, derweil er die Haustürklingel betätigte.
Nur wenige Sekunden später wurde die Tür weit geöffnet und eine Frau mit streng nach hinten gebundenen, brauen Pferdeschwanz und einem grauen Kostüm, in dem sie noch unscheinbarer wirkte als sie es schon war, stand vor uns und machte einen höflichen Knicks. Sie war zwar wunderschön mit der scheinbar makellosen, leicht gebräunten Haut, den großen blauen Augen, den vollen Lippen und der schlanken Figur sowie der recht großen Brüste, doch sie umgab eine so fahle Aura, die sie sofort uninteressant wirkte. Nathan schien das auch aufzufallen, denn er würdigte sie keines Blickes und ging unbeirrt an ihr vorbei, hinein ins Haus. Man mochte es kaum glauben, aber von Innen war es noch beeindruckender. Riesige Marmorne Säulen ragten bis an die kuppelförmige Decke, die mit goldenen Stuck verziert war und von der mehrere ebenso goldene Kronleuchter hinab hingen. Insgesamt war vieles in diesem Raum vergoldet: Das Gestell der Stühle, die Verzierungen der Türen und die Vasen, die am Rande standen, um nur weniges zu benennen.
Zusammen mit dem glänzenden Schmuck der Leute, die überall in dieser riesigen Eingangshalle, die anscheinend auch als Feierraum genutzt wurde, standen, wirke es auf mich ziemlich überladen und ich kam mir sogleich verloren und unbedeutend vor. Ich passte nicht hier her. Genausowenig wie der arme Rabe, der sich den grazilen Rotkehlchen anpassen wollte.
Nathan schien mein Unbehagen schnell zu bemerken und ergriff sogleich meine Hand. Er führte mich zu einer Gruppe Menschen, die sich in in einem Halbkreis aufgestellt hatten und dort angeregt über etwas redeten und lachten. Zumindest lachten die Männer, während ihre Frauen brav daneben standen und manierlich den Anektoten der Männer lauschten.
„...und so habe ich meinem Mandanten ganz souverän den Sieg geholt“, erzählte gerade ein junger, gutaussehender Mann, der die gleiche Nase, Stirn, Augenfarbe und Gesichtsform besaß wie Nathan. Die einzigen wirklich prägnanten Unterschied ezwischen den beiden war, dass Nathans offensichtlicher Bruder blonde, kurz geschorene Haare und um einiges schmalere Augen hatte.
Nathan räusperte sich kurz und setzte ein gezwungenes Lächeln auf.
„Herzlichen Glückwunsch zum fünfundzwanzigsten, Jason“, beglückwünschte er seine Bruder und schüttelte ihm reserviert die Hand.
Man merkte, dass die beiden nicht gerade beste Freunde waren und sich gegenseitig auf Abstand hielten, doch vor den anderen Menschen versuchten ein erwachsenes Verhalten an den Tag zu legen.
„Ich wusste gar nicht, dass du geheiratet hast“, sagte Jason etwas überrascht, als er mich wahrnahm.
Es fiel mir schwer ihn einzuschätzen. Er wirkte auf mich irgendwie professionell, so als hätte wäre es seine Berufung Leute zu mustern, ohne dabei Gefühlsregungen zu zeigen. Komischerweise machte mir das Angst und ich rückte automatisch etwas näher zu Nathan, dessen Hand ich noch immer hielt. Verdammt, ich wirkte wie ein kleines Schäfchen, dass sich an seine Hirten kuschelte.
„War eine ziemlich spontane Entscheidung“, gab Nathan zu. Auch er besaß anscheinend keine Mimik mehr in seinem Blick.
Er begrüßte einige Leute und stellte mich ihnen vor, danach ging er mit mir zu einer kleinen Bar, an der er zwei Cocktails orderte.
„Trink langsam, das Zeug kann echt reinhauen“, warnte er mich, als er mir ein hellgrünes Getränk in die Hand drückte, an dessen Rand eine Kiwi befestigt war.
Zögerlich nippte ich daran. Es lief kühl meine Kehle hinunter und hinterließ einen angenehmen, fruchtigen Nachgeschmack. Ich nahm größere Schlücke und plötzlich wurde mein Magen warm, während gleichzeitig meine Kehle gekühlt wurde.
„Das ist so cool“, brachte ich hervor und leerte rasch mein Glas.
„Mehr“, verlange ich mit einem glitzern in den Augen.
Es wirkte so tröstend und war anscheinend der einzige Lichtblick, um diesen Abend zwischen den Marionetten auszuhalten, die sich hauptsächlich darüber unterhielten wie toll unsere Gesellschaft sei und wie gut die Politiker ihren Job machen würden. Zusammen mit Nathan verbrachte ich somit den Großteil des Abends damit die grünen Cocktails zu schlürfen und die Leute zu beobachten, doch trotzdem wechselten mein Ehemann und ich kein Wort. Zu groß war unser Angst, dass jemand zu uns kommen könnte, um sich an unserem Gespräch zu beteiligen. Wie aus heiterem Himmel tauchte dann wirklich ein Junge mit sehr schmaler Statur auf, dessen Augen so hellblau waren, dass sie einem eigentlich Angst hätte machen müssen, doch das einzige was ich in ihnen sah, war kindliche Freude, obwohl er in etwa so alt sein musste wie ich.
Nathan lächelte plötzlich und schien zum ersten Mal wirklich froh zu sein, hier zu sein. Er entblößte bei seinem breiten Grinsen einer Reihe gerade, weißer Zähne und sein Blick wurde ganz sanft, sodass sich kleine Falten um seine Augen herum bildeten.
„Das ist mein Cousin Lucas, der immer so gute Geschenkideen hat“, erklärte Nathan mir und sah mich erwartungsvoll an, da er anscheinend erwartete, dass ich Lucas begrüßte, doch mir war so schwindelig und schlecht, dass ich nichts hervorbrachte und nur zittrig aufstand.
„Ich gehe auf Klo“, murmelte ich benommen und ging an einem kleinen Schild vorbei, welches zeigte, wo sich die Damentoiletten befanden.Ich stand in einem kleinen Flur, in dem überall Gemälde mit – wie sollte es auch anders sein? - goldenen Rahmen hingen, als ich die Tür zur Damentoilette entdeckte und auf diese zusteuerte.
„Na, süße. Wie heißt du denn?“ Plötzlich legten sich schwitzige Hände um meine Taille und ich spürte einen warmen, nach Alkohol stinkenden Atem in meinem Nacken - „Lass uns ein wenig Spaß haben.“Angewiderte versuchte ich mich von dem älteren Anzugträger hinter mir loszureißen, doch er war zu stark, als er anfing meinen Nacken mit Küssen zu bedecken. Dadurch wurde mir nur noch schlechter. Ich würgte kurz.
Schlagartig wurde er wieder von mir weggerissen. Mit einem dumpfen Laut knallte er gegen die Wand. Geschockt sah ich Nathan an, der den Mann nun an die Wand drückte und ihn bedrohlich anfunkelte.
„Du wirst Cecilia nicht das Gleiche an tun, was du Lucie, Mutter und Mandy angetan hast“, schnauzte Nathan aufgebracht - „So jemand wie du, gehört ins Gefängnis.“
„Nathan, mein junger Bursche, ich bin enttäuscht, dass du es immer noch nicht verstanden hast: Frauen sind eine untere Lebensform, die nur zum putzen, kochen, Kindererziehen und natürlich zum Sex zu gebrauchen sind. Gönn mir doch dieses eine mal ein wenig Frischfleisch.“ Der Mann mit den graumelierten Haare und den Falten warf mir einen lüsternen Blick zu. Seine Augen waren vom Staub der Zeit bedeckt.
Die Übelkeit in mir stieg an.
Wütend schnaufend ließ Nathan von dem Mann ab und drehte sich zu mir, als die ersten Schaulustigen kamen, die von unserer Lautstärke angelockt worden waren.
„Komm“, befahl er, schnappte meine Hand und zog mich hinter sich her durch die Gänge der riesigen Villa.
Wie ein Tornado fegten wir durch die Villa und nahmen keine Rücksicht auf Verluste. Als uns eine Kellnerin mit einem Tablett voller kleiner Schälchen, die mit etwas rosé farbenden gefüllt waren, entgegenkam, rempelten wir sie aus Versehen an. Ich rief ihr noch eine Entschuldigung zu, während mich Nathan unbeirrt weiterzog. Er tat so, als hätte er nicht gehört wie die Glasschalen auf dem Boden zerbarstet waren. Möglicherweise hatte er es aber wirklich nicht gehört, denn er war erschreckenderweise so darauf fixiert mich schnell durch die Gänge zu lotsen, dass er ganz abwesend wirkte. Andererseits konnte er auch einfach ziemlich betrunken sein.
„Wo willst du hin?“, versuchte ich ihn aus seiner Trance zu befreien.
Ich bekam keine Antwort.
Scheinbar kannte sich Nathan hier gut aus, denn er schien immer genau zu wissen wo es lang ging. Zudem erschien es mir so, als würde er extra Umwege einlegen, um sicher zu gehen, dass uns niemand folgte. Bei seiner Familie wusste man schließlich nie. Sie machte nämlich den Eindruck auf mich, dass sie nichts mehr begeistern konnte als neuer Klatsch und Tratsch. Das kam davon, weil ich den ganzen Abend lang mitbekommen hatte wie sie über Leute hergezogen hatten, die auf der Arbeit einen Fehler gemacht hatten oder einfach zu einer Gala etwas unpassendes getragen hatten. So viel Oberflächlichkeit hatte ich nur wegen der Drinks überstanden, die immer noch in meinem Blutkreislauf waberten wie Stechmücken, die sich ein kleines Plätzchen Haut suchten, um dieses zu infizieren. Das stand natürlich symbolisch für die kleinen Kotzbrocken, die sich in meinem Körper zu einem riesigen Ball formen zu schienen und hinaus wollten.
Irgendwann stoppte Nathan vor einer kalkweißen Wand, an der ein großer, antik wirkender Wandleuchter befestigt war. Nathan ließ abrupt meine Hand los. Mir war schwindelig und ich hatte die Befürchtung, dass ich ohne ihn umkippen würde, deswegen klammerte ich mich sogleich wieder an ihm fest.
„Wow, so anhänglich warst du ja noch nie“, stellte Nathan lachend fest - „Vielleicht sollte ich dir öfter Alkohol geben.“Er musterte mich kurz.
„Andererseits bist du dann jedoch irgendwie langweilig und nicht du selbst. Du hast dann einfach keine Ecken und Kanten und deine Bockigkeit fehlt mir, die brauchst du doch schließlich als Hellcat.“
Ich erwiderte nichts. Mein Kopf fühlte sich an, als wäre ein Vakuum in ihm, der jeden Moment implodieren könnte, während mein Körper bleiern schwer auf mich wirkte und dabei gleichzeitig so zerbrechlich wie ein hauchzartes Gänseblümchen, welches sich sanft im Wind hin und her bewegte. Die Welt sah ich wie durch einen Schleier. Instinktiv kicherte ich leise vor mich hin, obwohl nichts lustig war. Im Unterricht hatten wir einst über Alkohol gesprochen, doch das er so etwas auslösen konnte wurde uns nichts gesagt. Unser Lehrer hatte uns nur gezeigt wie man die Gläser manierlich hält und diverse andere gesellschaftliche Etiketten. Ich war damals nie ein großer Fan des Benimmunterichts gewesen, der neben Kindererziehung, Kochen und Hausputz ebenfalls ein Hauptfach war. Insgeheim machte es mich früher immer schrecklich wütend, wenn Herr Aunello uns vorschrieb wie wir zu sitzen, essen und reden hatten. Ich fühlte mich dann immer wie eine Marionette.
Abermals ließ Nathan meine Hand los und schien nach dem Wandleuchter greifen zu wollen, doch ich klammerte mich schnell wieder an seinen Arm fest, der mir so viel Sicherheit bot. Mir war so schwindelig, dass ich nicht mehr wusste wo oben und wo unten war.
Seufzend sah er mich an, aber ich entdecke trotzdem ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen, welches eigentlich gar nicht zu ihm passte. Er nahm nun die linke Hand und tastete damit den Wandleuchter ab, bis er auf etwas drückte und erwartungsvoll zu mir schaute.
Plötzlich entzweite sich die Wand vor uns. Nathan griff um die Ecke, in die Dunkelheit hinter der Wand und sogleich gingen die Lichter flackernd an und erhellten den fensterlosen Raum, der mit einem alten Ledersofa, vielen schon halb zerfallenen Büchern, die auf Holzregalen angeordnet waren und einem merkwürdigen schwarzen, kastenförmigen Ding mit Lautsprechern an beiden Seiten und einer Knopfleiste unter dem Display, eingerichtete war.
„Wasch isch dasch?“, lallte ich verwirrt.
„Das Paradies“, erwiderte Nathan ehrfürchtig.
Nachdem Nathan die Wände hinter uns wieder geschlossen hatte, hatte er mich auf das braune Sofa gelegt und meinen Kopf auf seinen Schoß gebettet. Mit sanften Bewegungen hatte er mir durch die hellen Haare gestrichen, bis ich eingeschlafen war.
Als ich wieder aufwachte, waren wir noch immer in der gleichen Position: Er strich behutsam durch mein Haar und ich schlief halb auf ihm, halb auf dem Sofa. Doch sein Blick ruhte nun nicht auf mir, sondern auf dem schwarzen Kasten, der sich nun als veralteter Fernseher herausstellte.
Ich versuchte mich aufzurichten, was sich als fatale Entscheidung herausstellte, denn sofort begann mein Kopf penetrant zu schmerzen. Aus meinem Mund wich sogleich ein gequältes Stöhnen, während ich mich auf meine Ellenbogen abstützte.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du nach so einer Aktion wie gestern einen Kater haben würdest“, bemitleidete er mich, doch er schien sich ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen zu können - „Trink das.“
Er drückte mir ein Glas in die Hand, in dem sich leicht trübes Wasser befand.
Eigentlich war ich eine sehr misstrauische Person, doch mein Kopf tat so weh, dass mir wirklich jeder Versuch Recht war, der diesen Schmerz vielleicht lindern konnte, deswegen trank ich das Glas brav aus.
Es schmeckte wie herkömmliches Wasser, nur der Nachgeschmack hatte etwas leicht säuerliches an sich.
„Du musst es etwa eine Minute einwirken lassen, dann müsste es dir wieder prima gehen“, erklärte mir Nathan sachlich.
Skeptisch zog ich die Augenbrauen hoch. Es kam mir ziemlich komisch vor, dass irgendeine Medizin so schnell so wirken sollte.
„Es ist ziemlich neu auf dem Markt und momentan noch ein Geheimtipp der Reichen“, sagte Nathan, nachdem er meinen argwöhnischen Blick bemerkt hatte.
Etwas Misstrauen blieb mir zwar immer noch, doch ich bemerkte ja selbst wie schnell sich mein Zustand besserte, deswegen hinterfragte ich es nicht. „Was guckst du?“, wollte ich wissen, während ich mich nun aufrecht auf das Sofa setzte und den Fernseher betrachtete.
Das was da im Fernseher zu sehen war, sah äußerst komisch aus, denn ein Mann und eine Frau lieferten sich ein hitziges Wortgefecht im Wohnzimmer. Dabei war es verboten so etwas auszustrahlen. Nur Dokumentationen, Propaganda-Filme und Sportsendungen waren erlaubt.
„How I met your mother“, antwortete Nathan mit einem Lächeln - „Das ist echt eine tolle Serie.“
„Serie?“, wiederholte ich das unbekannte Wort - „Was ist das?“
Er schaltete den Fernseher mit einem langen, schwarzen Ding mit Knöpfen aus. Es schien eine Fernbedienung zu sein. Das war mir sehr suspekt. Heutzutage waren Fernbedienungen rund und um einiges flacher und kleiner.
„Früher wurden oft kleine Mini-Filme gedreht, die dann aneinandergereiht eine große Geschichte ergaben. Jeder Teil dieser Geschichte war eine Folge und alles zusammen war eine Serie.“Ich hasste es, wenn er nur so kurze Antworten gab. Wer sollte so etwas bitte schön verstehen?
Er seufzte leise, als er meinen verwirrten Blick sah.
„Ich erkläre es dir ein andermal genauer“, murmelte er und stand auf.
Er richtete sich seinen zerknitterten Anzug, indem er den dunklen Stoff des Anzugs glatt strich und seine Krawatte zurecht rückte. Vergeblich. Noch immer sah er schrecklich aus, doch genau das gefiel mir. Dieser frisch aus dem Ei gepellte Look stand ihm zwar toll gestern Abend, aber nun sah er merkwürdigerweise besser aus. Vielleicht lag es auch nur an seinen Augen. Sie hatten zum ersten Mal wirklich Wärme in sich.
„Sollen wir gehen“, fragte er mich und streckte mir seine Hand hin, um mir zu suggerieren, dass er mir vom Sofa aufhelfen wollte und ich mich ihm nicht zu widersetzten hatte.
„Warte, lass uns noch kurz hier bleiben“, bat ich ihn - „Ich habe eine Frage an dich. Oder besser gesagt mehrere Fragen.“
„Ich erzähle dir nichts mehr über Lucie“, stellte er sofort klar. Die Wärme war aus seinen Augen war sogleich verschwunden und er erschien mir wieder kühl und reserviert.
„Es geht nicht um sie“, versprach ich ihm und setzte mich aufrecht hin, damit er genügend Platz hatte sich neben mich zu setzten.
Deutlich entspannter ließ er sich neben mich sinken.
„Warum bist du manchmal so gemein zu mir und dann wieder so nett?“, stellte ich ihm meine erste Frage.
Er schwieg und sah ausweichend zur Decke. Ich zählte die Sekunden. Nach genau Siebenundzwanzig brach ich die Stille.
„Und ich soll die mit der schlechten Reaktionszeit sein?“, spottete ich hämisch.
Er überging mein Kommentar und fing einfach an zu reden: „Mit Lucie ist etwas sehr, sehr schlimmes passiert. Nach ihrem Tod wollte ich einfach nur der typische Durschnittstyp sein mit einer hübschen, gehorsamen Frau, damit diese Bastarde mir nicht noch mal meine Ehefrau stehlen konnten. Und dann kamst du. Ich war so beeindruckt, dass du so sehr für deine Freiheit gekämpft hast und deswegen hielt ich dich auf. Erst sehr wenige haben versucht zu fliehen, die anderen waren einfach zu eingeschüchtert.“
„Wo ist da die Logik? Ohne dich wäre ich jetzt frei“, schnaubte ich.
„Es ist sehr logisch, Cecilia“, belehrte er mich - „Selbst wenn du aus dieser Tür hinaus gekommen wärst, hättest du noch einen Stacheldrahtzaun vor dir gehabt. Und dadurch kommt man nur, wenn man an der Tür seinen Ausweis einscannen lässt. Ich habe dich nur beschützte. Als du bewusstlos warst, war es um einiges einfacher dich zu kaufen. Hätten sie dich einfach nur gefangen genommen hättest du sicher Einwände hervorgebracht und irgendwelche Schimpfwörter losgelassen und das hätte meine Kollegen dann nur vollends überzeugt dich zum Tode zu verurteilen. Und um wieder auf deine Frage zurück zu kommen: Ich habe bisweilen noch immer versucht das Arschloch zu miemen, aber das bin halt nicht ich. Zumindest nicht immer. Ich gebe gerne zu, dass ich manchmal verdammt leicht reizbar bin, aber du bist ja auch nicht ganz ohne, kleine Hellcat.“
Sagt er die Wahrheit?, fragte ich mich und musterte ihn skeptisch.
Er sah aufrichtig zu mir zurück. Die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln erhoben. Es wirkte echt, denn seine Augen lächelten mit und leuchteten im Schein der Neonröhren.
Ich entschied, dass ich ihm Glauben schenken sollte. Augen konnten schließlich nie lügen.
„Es tut mir Leid“, entschuldigte ich mich leise und reumütig.
„Was?“, wollte er wissen.
„Dass ich dich immer wieder von neuem provoziert habe und gemein zu dir war. Du hast es nicht verdient. Das weiß ich jetzt. Ich wünschte du hättest eine andere Frau genommen, dann wärst du jetzt vielleicht glücklich“, antwortete ich ihm seufzend und scharte mit meinen Füßen über den Boden. Ich fühlte mich mies. Er hatte ein nettes, liebes Mädchen verdient und keine Furie wie mich.
Er nahm mein Kinn sanft in die Hand und drehte meinen Kopf in seine Richtung. Tief sah er mich in die Augen.
„Ich bin glücklich und froh darüber dich genommen zu haben“, versicherte er mir und lächelte mich liebevoll an.
Instinktiv lächelte ich zurück.
Schon wieder strahlte er Ehrlichkeit aus mit seinen Augen. Sie zogen mich in ihren Bann. Es war, als würde ich in ihnen versinken. Sie waren ein dunkler Wirbelsturm, gefüllt mit schönen Gefühlen, die sich schüchtern hinter der Dunkelheit seiner Augen verstecken zu versuchten, jedoch gelang es ihnen nicht. Das Glänzen seiner Augen verriet ihre Anwesenheit zu sehr und schien den ganzen Raum mit dieser Aufrichtigkeit zu erfüllen.
Noch immer hielt er mein Kinn behutsam zwischen den Fingern, obwohl es das längst nicht mehr nötig war, denn ich wollte meinen Blick gar nicht mehr von ihm abwenden. Wir redeten nicht, während wir uns so ansahen, aber für mich fühlte es sich so an, als würden wir schon stundenlang ein tiefgründiges Gespräch führen.
Langsam kam sein Gesicht näher.
Ich war nicht mehr in der Lage zu atmen. Mein Herz begann zu rasen.
Ohne großartig darüber nachzudenken rückte auch ich näher an ihn, den Blick abwechselnd auf seine Lippen und die Wirbelsturm-Augen gerichtet. Der Abstand zwischen uns wurde mit jedem Herzschlag geringer.
Ich spürte seinen regelmäßigen Atem auf meinen Lippen, die nur noch wenige Millimeter von seinen entfernt waren. Die Luft um uns herum schien zu pulsieren. Meine Sicht verschwamm. Fast kam ich mir vor, als wäre ich wieder betrunken und hätte dadurch all meine Sorgen und Bedenken fallen gelassen. In seiner Nähe fühlte ich mich frei und gleichzeitig sicher und behütet. Ich schloss die Augen. So hauchzart und sanft, dass ich seine Berührungen kaum noch wahrnehmen konnte, strich er mit seinen Fingern über meinen Schulter, bewegte sich meinem Ober- und Unterarm hinab und verstärke den Druck seiner Berührung schlussendlich, als er meine Hand erreichte. Diese bettete er, zusammen mit seiner Hand, auf der Stelle, wo sich unsere Knie trafen. Es kam mir wie eine Brücke zu unseren Körpern vor. Klein, aber standfest.
Plötzlich wurde unser romantisches Zusammensein jäh unterbrochen, als sich die Wand auseinander schob und ein schlaksiger, junger Mann mit strohblondem Haar und wachsamen, hellblauen Augen, die fast schon weiß wirkten, hineintrat und eilig wieder die Gemäuer hinter sich zusammenschob.
Sofort zerstörte ich diese knisternde Verbindung zwischen Nathan und mir und rückte mit hochroten Kopf von ihm ab.
„Stör ich?“, fragte der junge Mann mit einem schelmischen Grinsen auf dem Gesicht, nachdem er uns kurz gemustert hatte.
Wahrscheinlich sahen wir aus wie kleine Kinder, die so taten, als hätten sie keinen Mist gebaut, es aber insgeheim getan hatten und sich nun ihrer Fehler bewusst wurden. Bei mir und Nathan war es jedoch anders gewesen: Wir wurden unterbrochen, bevor wir etwas dummes anstellen konnten. Das war wahrscheinlich auch besser so, trotzdem kam ich nicht umhin mich zu fragen wie es gewesen wäre, wenn ich Nathans Lippen auf meinen gehabt hätte und seinen warmen Atem in meinem Mund gespürt hätte. Wäre er genauso sanft gewesen wie mit seinen Händen und hätte meine Zunge zart mit seiner liebkost oder wäre er eher leidenschaftlich und wild gewesen?
Ich darf nicht darüber nachdenken. Es ist falsch. Er liebt mich nicht und hängt sicherlich noch an Lucie. Ich bin nur ihr Ersatz. Eine schlechte Kopie, rief ich mir schnell ins Gedächtnis.
Ich atmete kurz leise ein und ebenso gedämpft wieder aus. Bis eben hatte ich anscheinend vor Aufregung und Anspannung die Luft angehalten.
„Schon gut“, murmelte Nathan und schien kurzzeitig etwas sauer und angespannt, was ich wegen seiner zwei verhaltenen Zornesfalten, die sich zwischen seinen Augenbrauen befanden, vermutete. Das legte sich jedoch binnen weniger Sekunden wieder und er lächelte den jungen Mann, der etwa so alt wie ich sein musste und trotz seiner hochgewachsenen Statur ein extrem kindliches Gesicht besaß, an.
Irgendwoher kam er mir bekannt vor. Ich dachte scharf nach.
„Du bist Nathans Cousin Luis. Nicht wahr?“ Ich sah ihn triumphierend an und war Stolz auf mich, dass ich mich doch noch vage an ihn erinnert konnte.
„Lucas“, verbesserte er mich leise lachend und reichte mir dann die Hand - „Schön dich endlich mal nüchtern kennenzulernen, Cecilia“
„Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte ich kokett und schüttelte seine Hand für ein paar Sekunden.
Lucas war mir mit seiner fröhlichen, aufgeschlossenen und gleichzeitig höflichen Art schon jetzt sympathisch.
„Wie gefällt dir unser Geheimversteck? Nathan und ich waren hier schon als Kinder immer, nachdem mein Vater uns diesen Ort gezeigt hatte.“ Lässig lehnte sich Lucas gegen die Wand.
„Ich habe mich hier noch nicht sonderlich viel umgesehen“, gab ich zu.
„Oh, ich verstehe. Du hattest etwas wichtigeres zu tun“, sagte Lucas und grinste schelmisch und äußerst anzüglich zu Nathan und mir.
„Ich habe es mir anderes überlegt, wir wären doch gerne alleine“, mischte sich Nathan mit ernstem Tonfall in unser Gespräch.
Lucas lachte leise und grinste breit, was ihn noch jünger wirken ließ.
„Dann lass ich euch beiden Turteltäubchen mal alleine.“ Er wackelte ungebührlich mit den Augenbrauen und stieß sich salopp von der Wand ab.
„Bleib ruhig hier“, bot ich ihm an.
Ich wollte nicht, dass er ging, denn dann würde sicherlich eine unangenehme, peinliche Situation zwischen mir und Nathan entstehen. Das wollte ich nicht. Wir brauchten jetzt Ablenkung.
„Wenn Nate möchte, dass ich ...“, begann Lucas, doch ich fiel ihm einfach ins Wort.
„Nathans Wort ist nicht immer Gesetz. Du bleibst. Punkt. Aus. Ende.“
Verwundert über meine plötzlich so schroffe Art musterte mich Lucas.
„Es war so klar, dass Nate so ein Mädchen wie dich nimmt“, gab mir Lucas lachend zu wissen - „Aber ich muss eh noch weg und kann leider nicht länger bleiben. Tut mir Leid.“
Nathans Miene, die bisweilen noch etwas belustigt ausgesehen hatte, wurde plötzlich ernst.
„Zu deinem Vater?“, fragte er leise, als würde er sich einbilden, dass ich es nicht hören könnte, wenn er so leise sprach.
Lucas nickte. Die Kindlichkeit war von ihm gewichen und stattdessen wirkte er erschreckend aufgeklärt und erwachsen. Die Lippen hatte er zusammengekniffen, die Augen hatte ihr strahlen verloren und seine Körperhaltung wirkte geknickt.Ich sah fragend zwischen den beiden hin und her.
„Schaffst du das alleine?“, wollte Nathan einfühlsam wissen und musterte seinen Cousin besorgt.
Lucas nickte ein zweites mal. Unsicher.
„Ich bringe Cecilia nach Hause und begleite dich dann.“ Es war kein Angebot, was Nathan Lucas da machte. Er verlangte keine Widerworte.
„Sie kann mit kommen“, sagte Lucas und sah mir direkt in die Augen - „Ich finde sie sollte mehr über unsere Familie erfahren, schließlich ist sie deine Ehefrau.“
Zaghaft sah ich zurück zu Nathan und wusste gar nicht, ob ich überhaupt mit wollte. Vielleicht sollte manches einfach unausgesprochen bleiben.
„Wenn das dein Wunsch ist, dann kann ich ihn dir nicht ausschlagen.“ Nathan seufzte.
Nur wenige Minuten später saßen wir drei auch schon in den beiden Autos. Lucas fuhr voraus und wir folgten ihm in Nathans dunklen Kleinwagen. Die Situation war angespannt. Es brannte mir förmlich auf der Zunge zu fragen, wo wir überhaupt hinfuhren, doch ich versuchte es mir zu verkneifen. Nathan schien noch immer so abwesend. Körperlich war er hier, doch geistig anscheinend ganz woanders. Zumindest suggerierte mir das sein nachdenklicher Blick.
Vielleicht sollte ich ihn auf den Beinahe-Kuss ansprechen, überlegte ich, verwarf den Gedanken dann aber wieder. Schließlich waren wir verheiratet und da gehörten Küsse normalerweise dazu. Eigentlich hätten wir uns beide schon längst geküsst haben müssen.
Eigentlich. Normalerweise.
Die Wörter bohrten sich in meinen Kopf. Tief und schnell. Und sie blieben stecken. Fast so, als hätte mir jemanden einen Dolch in den Kopf gerammt und würde ihn nun nicht mehr aus meiner Schädeldecke hinausziehen könne.
Langsam wurde mir bewusst, dass Nathan und ich kein Ehepaar herkömmlicher Art waren. Vielleicht waren wir noch nicht mal Freunde. Ich wusste es nicht. Zwar war Nathan mir in dieser Nacht plötzlich sympathisch geworden, doch Lucie stand zwischen uns. Wie sollte ich einen Mann lieben, der noch immer an seine Ex hing? Am besten gar nicht.
Mühsam unterdrückte ich einen Seufzer.
Ich fragte mich wie Lucie wohl gewesen war. Sicherlich war sie schön, intelligent und liebenswert gewesen. Ich stellte mir vor wie hier auf dem Beifahrersitz gesessen hatte – genau wie ich nun - doch Nathan strahlte sie in meiner Vorstellung verliebt an, ganz im Gegensatz zu der Situation gerade.
Sie haben sie vor meinen Augen getötet.
Mir wurde schlecht, als ich ans Nathans Worte von gestern Abend dachte.
„Wer...“, begann ich, rief mich aber schnell zur Besinnung. Ich konnte ihn nicht wieder auf den Tod von Lucie ansprechen.
„Hm?“, machte Nathan fragend und wendete nun seinen Blick zu mir.
Na toll, jetzt habe ich ihn aus seinen Gedanken gerissen.
„Wer war der Mann gestern Abend? Ich meine den, vor dem du mich gerettet hast.“ Die Frage hatte mich eh schon beschäftigt und war als Rettung ideal.
Nathan schwieg und sein Blick legte sich wieder auf die spärlich befahrene Straße vor uns. Nach einigen Sekunden unangenehmer Stille erwartete ich gar kein Antwort mehr, doch ich bekam eine.
„Mein Vater.“
„Oh“, war das vorerst einzige, was ich herausbrachte.
Nathan sah mich nicht an. Ich hatte es wohl mal wieder vermasselt.
Manchmal verdiente ich echt einen High Five. Ins Gesicht. Mit einem Stuhl. Sehr, sehr oft.
Verzweifelt suchte ich nach den richtigen Worten, doch ich fand sie nicht. Was sollte man denn auch schon sagen, wenn der eigene Ehemann einem sagte, dass sein Vater drei Frauen etwas angetan hatte, für das er – Nathans Meinung nach – ins Gefängnis gehörte?
„Hat dein Vater Lucie, deine Mutter und diese Mandy umgebracht?“ Ich hoffte inständig, dass meine Frage nicht wieder seinen wunden Punkt traf.
„Nein, aber er hat dazu beigetragen“, antwortete er mir. Dieses Mal wirkte seine Stimme nicht so brüchig wie sonst, wenn er über solche Themen sprach, sondern eher stark und wütend wie ein angreifender Löwe bei einem Kampf um Leben und Tod. Der Hass zu seinem Vater war unverhohlen.
„Was hat er getan?“, wollte ich wissen.
„Er hat die drei vergewaltigt und ...“, begann er, stockte jedoch dann - „Wir sollten ein andermal darüber reden.“
Erschrocken sah ich ihn an. Ich verstand allmählich warum er nicht gerne über seine Familie redete und wieso er keine Erinnerungsbilder in der Küche aufgehängt hatte. Er schien, außer Lucas und dessen Vater, niemanden zu haben, dem er wirklich Vertrauen konnte.
„Vielleicht solltest du es mir jetzt erzählen. Du kannst nicht immer alle deine Sorge hinunter schlucken. Das ist sicherlich nicht gesund. Es würde dir bestimmt gut tun, wenn du es mir anvertraust“, schlug ich hilfsbereit vor und lächelte ihn etwas zurückhaltend an, um ihm zu zeigen, dass ich wirklich vertrauenswürdig war.
„Nein“, antwortete er sogleich gereizt.
„Aber -“, begann ich, wurde jedoch schnell von Nathan unterbrochen.
„Keine Widerworte.“ Sein Tonlage war so barsch, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte.
Nathan seufzte laut, als er mein Aufschrecken bemerkte. Er drehte das Lenkrad nach rechts und fuhr an den Straßenrand, wo er dann stehen blieb und sich zu mir drehte.
„Was wird das?“, fragte ich verwirrt - „Wir verlieren den Anschluss zu Lucas.“
„Das ist jetzt egal.“ Nathan sah mich eindringlich an und streckte seine Hand aus, mit der er sanft meine Wange berührte und über diese strich. Er rückte ein weniger näher zu mir. Instinktiv tat ich es ihm gleich.
„Du brauchst wirklich keine Angst vor mir zu haben“, versicherte er mir - „Der Schlag war eine einmalige Sache und so etwas wird nie wieder vorkommen. Das schwöre ich dir.“
„Ich habe keine Angst vor dir und der Ausrutscher ist dir schon längst verziehen“, stellte ich klar.
Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Augenblick wurde mir bei seinem Anblick warm.
„Du solltest mehr Lächeln, das steht dir“, sagte ich. Ich untertrieb. Maßlos. Sein Lächeln sah nicht nur gut aus, sondern ließ förmlich die Sonne für mich aufgehen. Genaugenommen konnte sich nicht mal die Sonne sich mit seiner Strahlkraft messen.
Es klang für mich selbst kitschig, als mir klar wurde wie sehr ich ihn gerade begehrte. Sein Blick setzte meine Lippen in Brand und die einzige Rettung waren seine Lippen, dir für mich das rettende Wasser waren.
Noch immer strichen seine Finger über meine Wange. So sanft, so behutsam, so zärtlich und gleichzeitig so sinnlich.
Intuitiv beugte ich mich vor und wollte den fast schon unerträglichen Brand löschen, doch Nathan rückte von mir ab. Nun sah er mich nicht mehr so liebevoll an, sondern eher angespannt.
„Ich glaube ich bringe dich besser nach Hause. Meinen Onkel können wir sicherlich noch ein andermal besuchen.“ Er sah in meine Richtung, doch es kam vor, als würde er an mir vorbeisehen.
Ich schluckte. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals gebildet. Verletzt wendete ich den Blick ab.
Wieso bin ich nur so dumm? Er will ganz augenscheinlich nichts von mir. Ich bedeute ihm nichts. Er liebt noch immer Lucie und wahrscheinlich wird er nie aufhören sie zu lieben.
Die Tage glitten an mir vorbei wie Vögel im Wind, die immer wieder die gleiche Route flogen. Nathan ging von montags bis freitags arbeiten und ich verbrachte meine Zeit mit putzen, kochen und Serien zu schauen, die mir Nathan rausgelegt hatte. Mein bisheriger Favorit war Pretty little liars gewesen, jedoch nur bis Nathan mir erzählte, dass es auch Lucies Lieblingsserie gewesen war. Nun fühlte ich mich immer wie eine Diebin, wenn ich diese geniale Serie sah, weswegen ich daraufhin lieber How I met your mother schaute.
Jeden Morgen verabschiede sich Nathan auf die gleiche Art und Weise: Mit einem sanften Kuss auf meine Stirn.
Diese Geste war schön und schmerzlich zugleich. Sie erinnerte mich unweigerlich daran, was ich wahrscheinlich nie vollkommen haben konnte, denn Lucies Seele schien noch immer präsent zu sein. Jede Berührung von Nathan rief Schuldgefühle ihn mir hervor, die mich beinahe um den Verstand brachten. Ich kam mir vor, als würde ich Lucie ihren Mann ausspannen. Allmählich fand ich gut, dass Nathan meinen Kuss-Versuch im Auto abgewiesen hatte, obgleich es zermarternd für mich gewesen war. Wegen meines schlechten Gewissens schlief ich auf dem Sofa, was mir mit der Zeit Rückenschmerzen eingebracht hatte, doch ich ließ mir nichts anmerken. Ich konnte einfach nicht in dem Bett liegen, in dem auch Lucie schon mal mit Nathan geschlafen hatte.
Starke Arme schlangen sich von hinten um meine Taille und ich spürte einen warmen Atem an meinem Hinterkopf, der langsam hinab wanderte und schließlich – nachdem mir raue Hände die dünnen, hellblonden Haare beiseite gestrichen hatte – auf der nackten Haut meines Nackens zu einem Kuss verebbten. Gänsehaut bildete sich an der Stelle. Gespielt ausgeglichen legte ich das Messer zur Seite, mit dem ich eben noch Radieschen geschnitten hatte, und drehte mich zu meinem Gatten um.
Ein sanftes Lächeln umspielte seine Lippen. Ich zwang mich dazu es zu erwidern.
Wahrscheinlich wussten wir beide, dass wir uns mit diesem scheinbar perfekten Eheleben nur etwas vormachte, doch niemand von uns beiden wollte die Illusion zerstören.
Nathan schaltete den CD-Player aus, der neben mir auf der Küchenzeile stand und aus dem bisweilen ein bassreicher Dubstep Song zu hören gewesen war.
„Musst du dich immer so anschleichen? Irgendwann verliere ich vor Schreck noch meine Finger“, tadelte ich ihn. Die falsche Glückseligkeit wich nicht aus meinem Gesicht.
„Würdest du die Musik nicht immer so laut drehen, könntest du hören, wenn ich wieder nach Hause kommen“, gab er zurück. Man merkte an seinem Lächeln, dass er eigentlich nichts dagegen hatte, wenn ich die Musik so laut drehte. Es schien ihm anscheinend sogar zu gefallen.
Neugierig lugte er mir über die Schulter.
„Oh, es gibt ja heute Wraps“, stellte er freudig fest, nachdem er einen Blick auf meine Arbeitsplatz geworfen hatte.
„Sie sind in etwa zwei Minuten fertig“, verkündete ich mit meinem aufgesetzten Lächeln.
„Super“, freute sich Nathan. Mit einem Grinsen umfasste er meine Hüften, zog mich an sich, senkte seinen Kopf und vergrub sein Gesicht in meinen Haaren. Langsam wanderten seine Hände von meinen Hüften runter zu meinem Po, wo diese auch liegen blieben.
Er fühlte sich warm an und ein wohliges Gefühl machte sich in mir breit. Seine Berührungen setzten mich unter Strom, als wäre ich eine Hochspannungsleitung. Ich wollte ihn noch näher bei mir haben. Viel, viel näher. Nichts wünschte ich mir in diesem Augenblick mehr, als in seinen Armen zu versinken wie ein Stein in den unergründlichen Tiefen des Ozeans. Ich fühlte mich so wohl wie damals im Wasser bei meinem Schwimmunterricht. Seinerzeit konnte ich diesen kurzen Augenblick der Ruhe genießen, welches ich nun verspürte. Jedoch ließ dieses wunderschöne Gefühl schnell wieder nach, denn ein Name brannte sich zurück in mein Gedächtnis, der mir schlagartig bewusste machte, dass dies alles nur eine Illusion war und mich und Nathan in Wirklichkeit nichts verband: Lucie.
Sofort versteifte ich mich, obwohl ich mir eigentlich nichts anmerken lassen wollte.
Nathan löste die Umarmung und musterte mich verwundert.
„Was ist los?“, fragte er besorgt.
„Nichts“, murmelte ich, drehte mich um und schnitt die Radieschen weiter.
Ich wollte ihn nicht ansehen. Es schmerzte zu sehr. Noch immer konnte ich die Erinnerung an meinen, von ihm abgewiesenen, Kuss-Versuch nicht vergessen. Er tat mir Leid. Wahrscheinlich machte er sich nun selbst vor, dass er mich begehren würde und fasste mich deswegen so an, doch sobald etwas über diese scheuen Berührungen hinaus ging, kniff er. Ich vermutete, dass er sich dann innerlich so fühlen würde, als würde er Lucie betrügen. Das verstand ich, denn ich würde mich an seiner Stelle ganz genauso fühlen.
„Cecilia“, sprach Nathan sanftmütig meinen Namen aus, drehte meinen Körper behutsam zurück in seine Richtung und sah mir tief in die Augen - „Irgendwas ist doch. Du kannst ruhig mit mir darüber sprechen.“Ich schwieg und biss mir auf die Lippen. Mein Blick wanderte zu den Fliesen auf den Boden, da ich es nicht schaffte dem Blick seiner Augen standzuhalten.
„Du sollst nur wissen, dass ich immer für dich da bin, um dir zuzuhören.“ Seine Stimme war so unglaublich verständnisvoll.
„Alles ok“, sagte ich etwas zu zickig.
Noch immer schien er beunruhigt über mein Verhalten zu sein, doch gleichzeitig war er ganz ruhig und hatte die Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln erhoben, als ob er vermutete, dass ich es ihm schon früher oder später sagen würde.
„Meine kleine Hellcat“, murmelte er mit seinem typisch hingebungsvollem Tonfall, in dem – wie auch nun – eine ordentliche Portion Belustigung mitschwang.
Sanft drückte er mir einen kleinen Kuss auf die Stirn.
„Wohin willst du gehen?“, fragte ich sofort, denn mit diesem Stirnkuss-Geste assoziierte ich mittlerweile immer, dass er ging. Ich war ja schon so abgerichtet wie ein Hund.
„Nur ins Wohnzimmer“, antwortete er mir - „Dort habe ich eine Überraschung für dich.“
Verblüfft zog ich die Augenbrauen hoch.
„Und was ist das für eine Überraschung?“, erkundigte ich mich.
„Das wirst du dann noch sehen.“ Er verschwand mit einem geheimnisvollen Grinsen im Wohnzimmer.
„Nathan, die Wraps sind fertig. Darf ich ins Wohnzimmer kommen oder bist du mit der Überraschung noch nicht fertig?“, rief ich, wenige Minuten später, aus der Küche ins Wohnzimmer.
Freudestrahlend kam Nathan zu mir und nahm mir das Tablett ab, auf dem ich die Wraps und zwei Gläser Orangensanft gestellt hatte.
„Komm mit“, forderte er mich auf, ging mit dem Tablett ins Wohnzimmer, wo er es auf dem kleinen Glastisch abstellte. Danach ließ er sich auf die Couch fallen.
Zögerlich folgte ich ihm.
„Ist die Überraschung etwa eine Serie?“, fragte ich ihn und war etwas enttäuscht. Ich liebte es zwar Serien zu schauen, dennoch hatte ich etwas anderes erwartet.
„Ich erwarte etwas mehr Enthusiasmus“, forderte mich Nathan mit einem schiefen Grinsen auf - „Und übrigens ist es keine Serie, sondern ein Film.“
Etwas gelangweilt setzte ich mich neben ihn.„Ich habe heute schon viel fern gesehen und würde jetzt eigentlich lieber meine Augen ausruhen“, versuchte ich ihm zu erklären.
„Glaub mir, dieses Film wird dich umhauen, da wirst du keinen Zeit finden, darüber nachzudenken, dass deine Augen wehtun.“
Seufzend gab ich nach.
„Ok. Wie heißt der Film denn?“
Nathan zog eine große Kiste unter dem Glastisch hervor und kramte in den Unmengen von Filmen herum, bis er mit einem stolzen Lächeln eine DVD herauszog und mir diese überglücklich präsentierte. Auf dem Cover der DVD standen mehrere Tiere auf einem Felsvorsprung. Mit wallender roter Mähne schaute der majestätische Löwe zufrieden in die Ferne. Rechts neben ihm stand eine, sanftmütig lächelnde, Löwin und links befand sich ein grinsendes Warzenschwein, auf dessen Kopf ein Erdmännchen thronte, welches die Pfoten triumphierend empor reckte. Über dem Felsvorsprung drehte ein schöner, blauer Vogel seine Runden, während hinter den beiden Löwen ein Pavian mit einem Stock stand, an dem irgendetwas oranges befestigt war. Ganz hinten lauerte ein Löwe mit schwarzer Mähne, zu Schlitzen gezogenen Augen und einem spöttisch-genervten Blick. Der azurblaue Himmel, an dem ein Löwengesicht beschützend wachte, rundete das ganze Bild ab.
„Der König der Löwen“, las ich den Titel des Filmes vor, der in gerader, goldener Schrift auf dem Cover prankte - „Das sieht aus wie ein Kinderfilm.“
Nathan schüttelte vehement den Kopf.
„Es ist so viel mehr“, flüsterte er mir ehrfürchtig zu, als wäre es ein Geheimnis.
Als Nathan mir erklärte, worum es in dem Film ging, war ich anfangs nicht gerade übermäßig begeistert gewesen, doch als der Film begann, war ich spätestens an der Stelle, an der Raficki Simba der Menge entgegen streckte und diese schöne Hintergrundmusik spielte, vollkommen hin und weg. Allein schon wegen der schönen Landschaftsbilder bekam ich eine Gänsehaut. Gleichzeitig machte es mich jedoch ein ein wenig traurig zu wissen, dass dies alles nicht echt war, sondern nur aneinandergereihte Zeichnungen.
„Wow.“ Das war das einzige Wort, welches ich zu Endes des Filmes hinaus brachte.
Nathan hatte Recht behalten, denn dieser Film war wirklich mehr als nur ein Kinderfilm. Viel mehr.
„Das war so … wow“, stammelte ich und suchte verzweifelt nach Worten.
Ich war vollkommen überwältigt. Gefesselt. Gebannt. Ergriffen. Gerührt.
„Habe ich dir doch gleich gesagt, Dummerchen“, neckte er mich und wackelte grinsend mit den Augenbraue. „Du bist hier das Dummerchen“, widersprach ich ihm kichernd.
„Müssen wir etwa darum kämpfen, wer von uns die Hosen anhat?“, wollte er lachend wissen.
„Das bin eh ich“, sagte ich boshaft grinsend und schmiss ihn ohne Vorwarnung vom Sofa auf den Boden. Seine Hände drückte ich auf den Boden, der mit beigen Teppich überzogen war.
„Festgenagelt“, zitierte ich Nala mit einem altklugen Lächeln.
Mühelos befreite sich Nathan aus meinem Griff und drehte mich blitzschnell, sodass ich nun unter ihm lag. Meine Hände drückte er neben meinem Kopf auf den weichen Teppich – genau wie ich es eben bei ihm gemacht hatte.
„Du hast vergessen, dass ich um einiges stärker bin als du.“ Er grinste mich belustigt an, während ich kichernd versuchte mich zu befreien.
Wenn ich ehrlich war, wollte ich mich gar nicht befreien. Mein Befreiungsversuch war nur Teil des Spieles, denn ich wusste, dass Nathan eh stärker als ich war. Es machte Spaß mit ihm so rumzublödeln und es fühlte sich so richtig an. So unbeschwert.
„Das denkst auch nur du“, gluckste ich.
„Nein, das weiß ich sogar.“ Er grinste.
„Beweis es“, forderte ich ihn auf und schenkte ihm ebenfalls ein Grinsen.
„Ich halte dich hier fest. Ist das nicht Beweis genug?“
„Ich könnte mich jeder Zeit befreien“, log ich.
Er lachte spöttisch.
„Beweis es“, verlangte er.
Ich strampelte unter ihm und versuchte mich zu befreien, doch er machte sich noch schwerer, was es mir unmöglich machte mich auch nur einen Millimeter unter ihm zu rühren.
„Aua“, jaulte ich gequält auf und tat so, als würde sein Gewicht mich zerquetschen, obwohl das gar nicht der Fall war.
Wie ich mir gedacht hatte, ließ er sofort meine Handgelenk, die er bisweilen noch gegen den weichen Teppich gedrückt hatte, los und stützte sich mit seinen Händen neben meinem Kopf ab, damit kaum Gewicht mehr auf mir lastete. Entschuldigend sah er mich an und biss sich dabei nervös auf die Lippen, was wirklich heiß aussah.
„Alles ok?“, wollte er besorgt wissen.
Ein keckes Grinsen glitt über meine Gesichtszüge und bevor er es überhaupt realisieren konnte, hatte ich ihn umgeworfen und nach unten gedrückt. Unverhohlen grinste ich über seine Dummheit, während ich mich auf seinen Bauch setzte und seine Hände gegen seine Brust drückte.
„Wieder festgenagelt.“
„Das ist schon dein zweites Zitat aus dem Film, kleine Hellcat“, stellte Nathan freudig fest - „Ich bin stolz auf dich und auf dein raffiniertes, kleines Köpflein. Wer hätte gedacht, dass in so einem zierlichen Blondschopf solch ein bösartiger Geist steckt?“
„Wer hätte gedacht, dass in so einem großen, fetten Typen soviel Dummheit steckt?“, erwiderte ich und lächelte dabei gespielt kokett, doch ein leises Kichern konnte ich nicht unterdrücken.
„Tz“, machte er lachend - „Ich bin nicht fett.“
„Ich weiß, ich wollte dich nur ärgern“, gab ich feixend zu.
Er schmunzelte und sah mich lange an. Mir wurde warm und ich spürte wie mir die Röte ins Gesicht stieg, was komisch war, denn sonst passierte mir das nur, wenn mir etwas peinlich war und diese Situation war ganz und gar nicht peinlich, sondern schön. Sehr schön, wenn ich ehrlich war.
Problemlos richtete sich Nathan wieder auf und drückte mich sanft gegen die Couch. Ich war zu paralysiert, um mich zu wehren und selbst wenn ich bei vollkommen bei Verstand gewesen wäre, wusste ich nicht, ob ich mich überhaupt wehren wollte.
Bedächtig näherten sich unsere Lippen. Wahrscheinlich war uns beiden nicht klar von wem es ausging. Da war so ein Prickeln auf meiner Haut. Ein Kitzeln in der Magengegend. Ein Schalter, der die ganzen unschönen Gedanken aus meinem Kopf verbannte. Und ein elektrisierendes Gefühl, welches mich suspekterweise glauben ließ, dass sich auf Nathans Lippen der Geschmack der Freiheit befand.
Sanft trafen sich unsere Lippen und verschmolzen förmlich miteinander. Ich spürte seine Zunge in meinem Mund, die zärtlich meine berührte und mir dabei ein merkwürdiges Gefühl von Geborgenheit bescherte. Seine Hände fuhren langsam über meinen Körper, was auf eine angenehme weise kitzelte. Mein Kopf fühlte sich seltsam leer und gleichzeitig vollkommen gefüllt an, als hätte man mir meinen Verstand genommen, stattdessen ein Bild von Nathan in die Mitte meines Gehirns platziert und meinen Gedanken genötigt um dieses Gemälde zu fließen und sich diesem farblich anzupassen.
In meinem Körper herrschte auf jeden Falle ein Überschuss an Edorphinen.
Nathan zog mich auf seine angewinkelten Knie und ich schlang meine Beine um seine Mitte. Seine Lippen verließen die meinen und wanderten über meine Wange hinunter zu meinem Hals. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich spürte wie seine warmen, weichen Lippen meine blasse Haut streiften, doch dieses Lächeln hielt nicht lange an, denn ich musste instinktiv an einen zugefrorenen See denken. Die Welt, in der wir lebten, war wie eine undurchlässige Eisplatte – fest und kalt – und wir Menschen waren die Fische unter ihr. Es gab viele verschiedene Arten – große, kleine, helle, dunkle -, doch im Grunde waren wir alle die selbe Spezies. Und wir alle waren irgendwie verloren in diesem riesigen, vereisten Teich. Zusammengepfercht, eingeschlossen und trotzdem alleine.
Ich wusste nicht wieso mir genau das durch den Kopf ging, als Nathan mich küsste, doch ich konnte diesen Gedanken einfach nicht verdrängen. Seine Küsse waren wunderschön und ich wünschte mir nichts sehnlicher als sie erwidern zu können, aber gleichzeitig wurde mir auch bewusst, dass er mich kaum kannte. Was war ich für ihn? Das törichte Mädchen, dass versuchte vom Heiratsmarkt zu fliehen? Die Hellcat, die schnell beleidigt war? Oder gar der Ersatz für Lucie? Ich wusste es nicht. Was ich jedoch wusste, war, dass dieser Kuss kein Akt der Liebe war, sondern nur aus körperlicher Leidenschaft bestand. Zwar musste ich zugeben, dass ich für Nathan schwärmte, doch Liebe war doch ein ganz anderes Kaliber. Glaubte ich zumindest. Ich stellte mir Liebe anders vor – irgendwie stärker. Liebe hatte ich immer mit etwas suggeriert, was Berge versetzen konnte und nicht nur als etwas, was lediglich meinen Körper zum Durchdrehen brachte.
Nathan schien zu merken, dass ich nicht mehr ganz bei der Sache war und ließ von mir ab. Fragend hob er eine Augenbraue.
„Ich … kann das nicht“, gab ich kleinlaut zu.
„Für mich küsst du perfekt, kleine Hellcat“, schmeichelte mir Nathan und strich mir einige blonde Haarsträhnen hinter das Ohr.
„Das ist es nicht.“ Ich seufzte leise und hievte mich von seinem Schoß hinunter, zurück auf die Couch.
„Und was dann?“, wollte er wissen. Er stand ebenfalls auf und setzte sich neben mich. Seine Hand legte er auf mein Knie und seinen Zeigefinger ließ er dort kleine Kreise zeichnen.
„Es ist irgendwie … komisch“, begann ich zögerlich und kaute mir ein paar Sekunden lang nervös auf meiner Lippe herum, bis ich mich jedoch zur Besinnung rief, da ich genau wusste wie empfindlich meine Lippen waren - „Du bist merkwürdig. Manchmal erscheint es so, als würdest du mich küssen wollen und dann weist du mich ab und jetzt küsst du mich plötzlich doch. Das verwirrt mich. Zudem weiß ich selbst noch nicht genau, was ich für dich empfinde. Ich mag dich wirklich und merke, dass da irgendwas zwischen uns ist, doch ich glaube eher, dass es sich dabei um sexuelle Anziehungskraft handelt. Wir sollten vielleicht lieber nichts überstürzen.“
„Ich wollte ...“ Er stoppte für ein paar Sekunden - „Cecilia, könntest du mich bitte ansehen, wenn ich mit dir rede? Ich komme mir sonst so vor, als würde ich mit deinen Haaren reden.“
Ohne Widerworte hob ich meinen Kopf und sah ihm direkt in die dunkelbraunen Augen. Er hatte Recht, denn es war wirklich nicht fair ihm gegenüber, wenn ich ihn nicht mal ansah, wenn wir über soetwas wichtiges sprachen.
„Nun gut. Ich wollte, als ich dich letztens im Auto abwies, wirklich nicht deine Gefühle verletzen. Der einzige Grund, weshalb ich dich dort nicht geküsst habe, war, dass ich einen besseren Moment abwarten wollte. Du kannst mich ruhig einen Kontrollfreak und Perfektionisten nennen, doch ich empfand die Atmosphäre im Auto auf der verdreckten Landstraße nicht gerade als passend, um dir deinen ersten Kuss zu stehlen.“ Ein – fast schon scheues – aufmunterndes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Du hast mir nichts gestohlen“, fiel ich dazwischen, bevor er weiter reden konnte.
Ein stummes Nicken seinerseit, als Zeichen der Kenntnisnahme meiner Worte, folgte.
„Und woher weißt du, dass das hier zwischen uns ...“ Er fuchtelte in der Luft herum und sah dabei aus wie ein Zauberer, der seine Magie im ganzen Raum verteilen wollte - „... keine Liebe ist?“
„Ich weiß es ja nicht genau“, gab ich zu - „Aber ich denke, dass Liebe sich anders anfühlt und einfach mehr ist, als ein körperliches Verlangen zueinander. Und wie könntest du mich lieben, wenn du so gut wie nichts über mich weißt? Sag mir, was fühlst du, wenn du mich ansiehst, berührst und küsst?“
Nathan schwieg einige Sekunden und ich hielt unwillkürlich den Atem an, während er nachdachte.
„Ich fühle mich zu dir hingezogen und will dich küssen und bei mir haben. Du riechst so gut und immer wenn du lächelst wird man automatisch glücklich. Wenn ich dich küsse geht es mir einfach gut und ich möchte nicht damit aufhören und deine Haut ist so kühl, dass ich stets das Bedürfnis besitze dich zu wärmen, weil ich denke, dass dir kalt ist. Jedoch glaube, dass du mit deiner These wirklich recht hast … leider.“
Wieder vergingen Momente der Stille, in denen wir uns nur anstarrten. Keiner von uns schien die richtigen Worte zu finden.
„Wie könnten ein wenig spazieren gehen und uns kennenlernen. Und zwar richtig. Als Freunde“, schlug Nathan vor.
Ich lächelte ihn an.
„Einverstanden.“
„Das ist doch unmöglich“, rief ich verblüfft aus - „Wie kann ein Mensch keine Schokolade mögen?“
„Ich bin halt komisch.“ Nathan zuckte lachend mit den Achseln, während wir – nun schon zum vierten Mal – den kleinen See vor unserem Haus entlang schlenderten. Der Mond war schon längst über unseren Köpfen aufgegangen und erhellte uns den Weg in dieser unbewölkten Sommernacht. Trotz der kühlen Brise, die uns sanft um die Nase wehte und meine Haare immer wieder in scheußlichste Unordnung brachten, war es noch angenehm warm.
„Komisch ist gar kein Ausdruck für dieses Vergehen“, erklärte ich ihm - „Was magst du daran denn bloß nicht?“
„Es hinterlässt immer so einen widerlichen, schleimigen Rest im Mund, den man nur mit mehrmaligem Schlucken wegbekommt und ich finde es schmeckt extrem nach Zucker. Das ekelt mich an. Ich bin schließlich kein Elefant, den man mit einem Zuckerstück füttern kann“, entrüstete er sich und verzog angewidert den Mund - „Zudem ist noch viel merkwürdiger, dass dir Tomaten nicht schmecken.“
„Das ist was anderes. Tomaten sind die Ausgeburt der Hölle“, stelle ich klar und schnaufte, bei dem Gedanken an diese matschigen, roten Dinger, verächtlich.
Nathan lachte belustigt.
„Fassen wir nun zusammen: Du hasst Tomaten, Schnee, Unordnung und Insekten . Hingegen liebst du Schokolade, Schwimmen, Serien, Dubstep, Orangensaft, Mathe, Frühling und den Geruch von Zitronen und von Feuer“, fasste er meine Vorlieben und Abneigungen, von denen ich ihm zuvor erzählt hatte, zusammen.
„Korrekt. Und du kannst Unpünktlichkeit, Gewalt, Schokolade, Vampirromane und die Farbe gelb nicht ausstehen und liebst ebenfalls Dubstep und Serien (insbesondere Supernatural, The walking Dead und The big Bang Theory), sowie Früchtetee, Honig, Kaffee und die Harry Potter Bücher“, zählte ich auf.
„Ich glaube das reicht jetzt mit dem oberflächlichen Smalltalk, sonst komme ich mir vor, als würde ich mit dir eine Liste abarbeiten. Sollen wir jetzt über den Tiefgrund unser Seele reden?“ Freundlich lächelte mich Nathan an.
„Tiefgrund unserer Seele?“, wiederhole ich spöttisch - „Klingt ganz schön melodramatisch.“
„Hör auf mit dem Mobbing“, beschwerte sich mein Ehemann scherzhaft und lachte leise.
„Ich kann doch nicht anders, wenn du so etwas von dir gibst.“ Ich kicherte.
„Du erinnerst mich an Lucie, wenn du kicherst“, gab er leise zu. Sein Lachen war verklungen und eine unangenehme, ernste Stimmung machte sich breit - „Ihr Kichern war ebenso hell und sie machte auch immer diese niedliche Glucks-Laute dabei.“Ich hätte ihm wegen den Glucks-Lauten gerne widersprochen, doch das wäre in dieser Situation vermutlich mehr als unpassend gewesen. Zudem hatte ich das Gefühl, dass er besagt Glucks-Laute mochte und es somit keine Beleidigung war.
Soll ich ihn fragen, was mit Lucie passiert ist?, fragte ich mich. Diese Frage war mir schon so unglaublich oft durch den Kopf gegangen, dass es mittlerweile wirklich erschreckend war, doch ich musste mir nicht länger den Kopf darüber zerbrechen, denn Nathan deutete nun mit dem Zeigefinger auf einige, aus den Boden ragende, Baumwurzeln, die nur wenige Meter entfernt waren.
„Setz' dich“, bat er mich - „Es wird höchste Zeit, dir einiges zu erzählen.“
Nickend folgte ich ihm und setzte mich auf eine der moosbedeckten Wurzeln. Mein Po wurde sogleich kühl, was nicht zuletzt an dem dünnen Stoff meines schlicht schwarzen Sommerkleides lag, welches unter anderem zu der Grundausstattung der Frauen gehörte, die jedem Mann nach der Hochzeit für die Frau ausgehändigt wurde.
Nathan setzte sich auf die gegenüberliegende Wurzel und sah mir lange in die Augen, wobei ich nicht anders konnte, als die Luft anzuhalten, denn die Intensität seines Blickes war wahrlich immens. Es lag so viel Trauer, Mut und gleichzeitig Angst in seinem Blick. Irgendwann konnte ich seinem Blick nicht mehr standhalten und auch die Luft wurde knapp, deswegen senkte ich mein Haupt gen Boden.
„Ich fange mal ganz am Anfang an, also bei meiner Kindheit.“ Seine Stimme klang hohl.
Ich zwang mich aufzusehen, doch unsere Blicke trafen sich nicht, denn er sah tief in den Wald hinein. Er wirkte fast schon abwesend.
„Ich und mein Bruder wurden früher von unserem Vater geschlagen. Meistens mehrmals täglich. Er hatte einen Job an der Börse und als sie vor sechzehn Jahren das erste Mal radikal abstürzte, fing er an zu trinken und durch den Alkohol wurde er gewalttätig. Zuerst ließ er den Ärger nur an meiner Mutter aus, schlug sie dreimal krankenhausreif und vergewaltigte sie. Damit unsere Mitmenschen nicht mitbekamen was für ein Arschloch er doch war, unterstellte er ihr Suizid Versuche und die Richter glaubten ihm, da diese fast immer auf der Seite des Mannes sind, selbst wenn es offensichtlich ist, dass der Mann der Frau Unrecht getan hat. Zumindest wurde meine Mutter in eine Nervenheilanstalt eingeliefert … Das ist zumindest die Version, die meinem Bruder und mir vom Gericht aufgetischt wurde. Unser Vater erzählte mir jedoch die Wahrheit, als er unter starkem Alkoholeinfluss stand: Man hatte unsere Mutter umgebracht. Ohne Reue. Und er sagte mir, dass er sogar froh darüber war, weil er sie mittlerweile eh zu fett und zu alt gefunden hatte.“ Er schluckte hörbar, bevor er fortfuhr - „Schon wenige Wochen später schaffte er sich eine neue Frau an, die er genauso schlimm zurichtete. Dieses Mal sagte er, sie sei auf ihn losgegangen und er habe sich lediglich gewehrt. Die Richter hatten seine Aussage nicht in Frage gestellt und so wurde die arme, junge Frau hingerichtet, wegen gewalttätigen Handlungen gegenüber ihrem Ehemann.
Kurz nach Mandys Tod, vor etwa vier einhalb Jahren, wurde ich endlich achtzehn und zog schnell aus. Mein Vater heiratete daraufhin noch eine andere Frau, doch ich versuchte ihn aus meinem Leben fern zu halten und nichts mit ihm zu tun zu haben. Anfangs studierte ich Jura – genau wie mein großer Bruder es getan hatte - , brach aber das Studium ab, weil ich merkte, dass ich es mir nicht zur Lebensaufgabe machen wollte unschuldige Frauen grundlos zu verurteilen. Mein Vater drohte mir damit mir den Geldhahn zuzudrehen und ich sagte ihm, dass er das gerne machen könnte, denn ich wollte nicht auf ihn angewiesen sein wollte, doch natürlich tat er es nicht. Selbstverständlich nicht aus Liebe zu mir, sondern weil er wollte, dass aus mir und meinem Bruder erfolgreiche Unternehmer werden. Bei meinem Bruder hat das gut funktioniert. Er ließ sich von dem ganzen Geld blenden und vergaß dabei was für ein Unmensch unser Vater hinter seiner Mauer aus Geld war.
Zu der Zeit war ich sehr einsam und verbrachte viel Zeit mit Lucas und seinen Eltern. Die drei sind für mich meine wahre Familie. Eines Tages verschaffte mir Lucas Vater einen Job bei dem Stadtrat. Ich war dort Azubi und musste einige Akten einsortieren und irgendwann stieß ich dann auf die Akte meiner Familie und was ich dort fand, beeinflusste den Rest meines Lebens enorm.“
„Was?“, brachte ich heiser hervor - „Was stand in dieser Akte?“
Ein verzerrtes Lächeln erschien auf seinem Gesicht und erreichte seine glasigen Augen nicht. Er sah aus, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen solle. Seine Hände hatte er in das Moos gedrückt, das auf seiner Wurzel wuchs. Immer tiefer bohrte er seine Finger in die grüne Pflanze, bis er schließlich ein Teil der Flechte hinausrupfte und benommen auf den grasbedeckten Waldboden fallen ließ.
„Da stand, dass ich eine Schwester habe“, sagte er leise - „Sie hieß Lucie.“
„Deine Ehefrau Lucie?“, fragte ich geschockt nach.
„Exfrau“, verbesserte mich Nathan und schluckte schwer - „Es klingt für dich sicherlich komisch, dass ich meine Schwester geheiratet habe, doch das war die einzige Möglichkeit bei ihr zu sein. Ich fälschte noch am gleichen Tag die Daten in der Akte und im Computerprogramm. Es war für mich ein leichtes, denn die Regierung hatte es bis dahin nicht für Möglich gehalten, dass sich Männer gegen das Regime auflehnen würden und besonders keine aus gutem Hause. Wer wäre denn schon so töricht und würde eine gute Zukunftsaussicht einfach wegschmeißen?“
„Du“, sagte ich leise. Bewunderung lag in meiner Stimme.
„Ich habe das nur für mich und Lucie getan, denn ich wollte sie unbedingt treffen. Da gibt es nichts zu ehren“, stellte er klar.
„Nicht jeder hätte das getan“, widersprach ich ihm mit Nachdruck.
„Lass uns nicht darüber diskutieren“, wehrte er meine Worte ab und räusperte sich verhalten, nachdem er sich verstohlen über die Augen gewischt hatte. Anscheinend dachte er, ich hätte es nicht mitbekommen - „Wenige Tage später fuhr ich zum Heiratsmarkt und füllte die Formulare mit den Informationen so aus, dass sie perfekt mit Lucies Aussehen, Noten und Charaktereigenschaften übereinstimmten. Das alles kannte ich wegen der Mappe aus dem Rathaus. Es dauerte nicht lange, bis zehn Damen von Wachmännern rein geführt wurden. Auch Lucie war unter ihnen. Ich erkannte sie sofort.“
Er lehnte sich ein Stück nach hinten, um besser in seiner Hosentasche nach etwas kramen zu können und zog ein braunes Portemonnaie hervor, dessen Leder alt und faltig aussah. Wortlos öffnete er es und überreichte mir ein Bild, auf dem eine junge Frau zu sehen war. Sie hatte ihren Kopf leicht seitlich gedreht, sodass man ihren langen, hellbraunen Pferdeschwanz sehen konnten. Ponyfransen hingen ihr bis knapp über die säuberlich gezupften Augenbrauen. Ihre Augen waren groß und genauso dunkelbraun wie die von Nathan, doch sie besaß – im Gegensatz zu ihm – helle Wimpern, die man kaum erkennen konnte. Die Lippen der Frau waren sehr voll und passten toll in ihr herzförmiges Gesicht. Ein kleines Grübchen grub sich in ihre rechte Gesichtshälfte und verlieh ihren eigentlich so strengen, aristokratischen Gesichtszügen etwas kindlich süßes. Das Mädchen wirkte sehr glücklich auf mich.
„Ist das Lucie?“
„Ja.“ Nathan schluckte abermals, als wäre seine Kehle durch einen Lawine versperrt worden - „Das Foto habe ich wenige Wochen vor ihrem Tod gemacht.“
Auch ich musste nun schlucken, um den Kloß zu vertreiben, der sich in meinem Hals breit machte. Es war merkwürdig, wenn ich mir klarmachte, dass das junge Mädchen auf dem Foto längst tot war.
Ich wusste nicht was ich sagen sollte und wahrscheinlich hätte ich eh nichts vernünftiges hervorgebracht, deswegen nahm ich nur Nathans Hand und drückte diese, als Zeichen, dass ich für ihn da war.
Nathan sah auf und Dankbarkeit war deutlich von seinen Gesichtszügen abzulesen.
Mit meinem Daumen strich ich über seine Handfläche.
Seine Körperhaltung wechselte von angespannt zu entspannt.
Es war wirklich faszinierend, was ein simpler Händedruck bei ihm ausrichten konnte.
Er erwiderte den Druck.
Ich konnte es auch spüren. Dieser Händedruck war ganz und gar nicht simpel. Hinter ihm versteckte sich die Welt – so kläglich und gleichzeitig so unglaublich mächtig. Man hatte das Gefühl, dass man nicht alleine war, sondern das jemand für einen da war und man beschützt wurde. Geborgenheit – wahrscheinlich hätten es so die meisten Menschen beschrieben, doch irgendwie war es besser. Ich mochte es wie seine warme, leicht schwitzige, Hand sich um meine schmiegte und sie so sanft drückte, als würde er versuchen seine letzte Kraft auf mich zu übertragen. Verbundenheit – das sagte die Geste aus.
„Nachdem ich Lucie gekauft hatte, nahm ich sie mit nach Hause und erzählte ihr, dass ich ihr Bruder sei. Sie war zuerst bestürzt und glaube mir nicht, doch als ich ihr die Kopie der Akte zeigte, verflogen ihre Zweifel schnell. Zwei Jahre verbrachten wir miteinander und diese Zeit schweißte uns zusammen. Wir wurden beste Freunde und ...“ Nathan machte eine kurze Pause - „... ich kann heute noch oftmals ihr Lachen in meinem Kopf erklingen hören und sehen wie sie kritisch die Lippen zusammenpresst und den Kopf leicht nach links dreht, wenn ihr etwas missfällt. Oder ihre Macke, dass sie immer wenn sie gewaschen hatte, die Klamotten nicht in einem Wäschekorb trug, sondern jedes Kleidungsstück einzeln hoch brachte. Sie konnte mir nicht mal selbst sagen wieso sie das tat, doch aufhören wollte ich damit auch nicht. Ich vermisse das alles an ihr. Sehr sogar. Es fühlt sich an, als hätten sie mir einen Stück von mir rausgerissen. Lucie war für mich wie ein Teil meiner Persönlichkeit – der merkwürdige, intelligente, lebensfrohe Teil. Und nun ist sie tot und an jenem Tag ist auch ein Stückchen von mir gestorben. Jeder Tag, den sie nicht miterleben kann, fühlt sich so an, als würde eine Scherbe meines zersplitterten Herzens geschmolzen werden.“ Er atmete zitternd ein und aus und ich sah wie sich Tränen in seinen Augen sammelten, die er mühsam zurück hielt.
„Es ist ok“, versicherte ich ihm leise und drückte seine Hand.
Tatsächlich liefen ihm daraufhin sofort einige Tränen über die Wangen, trafen an seinem Kinn zusammen und tropfen auf sein Hemd, die Jeans und den Waldboden. Er wirkte nicht verletzlich, als er weinte, stattdessen strahlte er eine subtile Stärke aus, die mich erschaudern ließ, weil sie so unglaublich präsent war.
„Wenn es zu nervenaufreibend für dich ist, kannst du es mir auch ein andermal erzählen. Ich will nicht, dass du dich quälst.“ Ich beugte mich vor und fing eine Träne, die gerade von seinem Kinn stürzen wollte, mit meinem Daumen auf. Mit einem einem kleinen Lächeln, dass tröstlich aussehen sollte, pustete ich die Träne von meinem Daumen davon.
„Nein“, sagte er leise - „Ich habe jetzt damit begonnen und werde es auch durchziehen.“
Erstaunlicherweise klang seine Stimme wieder viel fester und bestimmter als vorher. Das Zittern war fast gänzlich verschwunden, sowohl aus seinem Körper, als auch aus seiner Stimme.
„Mein Vater war der Übeltäter. Wäre er nicht, würde Lucie heute noch leben“, erzählte Nathan hasserfüllt.
„Was hat er getan?“, forschte ich nach.
„Er hatte eine Art Obsession mit Lucie. Das kam wahrscheinlich davon, dass sie unserer Mutter erschreckend ähnlich sah. Als er sie das erste Mal erblickte, bemerkte ich gleich, dass mein Vater ganz fasziniert von ihr war. Von ihrer Contenance, die sie in der Gegenwart von Fremden an den Tag legte, bis hin zu den feinen Gesichtszügen, die sie von unserer Mutter geerbt hatte. Noch heute weiß ich nicht, ob er schon damals vermutete, dass etwas faul war.
Ein Tages, als ich arbeiten war, kam er hier her und klingelte. Lucie ließ ihn rein, obwohl sie ihn nicht ausstehen konnte. Höflichkeit stand bei ihr immer hoch im Kurs. Mein Vater wurde jedoch so aufdringlich und berührte sie immer wieder so intim, dass sie ihn aufforderte zu gehen, doch das tat er natürlich nicht. Stattdessen spornte ihn Lucies Angst und ihre Wut nur noch mehr an. Er riss ihr förmlich die Kleider vom Leib und als er kurz davor war in sie einzudringen, flehte sie um Gnade und verriet ihm, dass sie seine Tochter ist. Ein Fehler mit irreparablen Folgen. Trotz dieser neuen Erkenntnis verging er sich an ihr und ließ sie dann vollkommen aufgelöst zurück. Als ich heim kam, fand ich sie zitternd und weinend in einer Ecke kauern. Es dauerte mehrere Stunden, bis ich sie dazu bringen konnte mir zu erzählen, was geschehen war … und dann kamen auch schon die Polizisten, denn mein Vater hatte uns noch am gleichen Tag angezeigt. Sie zerrten Lucie von mir weg, richteten die Pistole auf sie und ...“ Statt den Satz auszusprechen senkte er den Blick.
„Sie erschossen sie vor deinen Augen“, sprach ich fassungslos das auch, was er nicht sagen konnte.
Nathan nickte. Langsam wie in Zeitlupe. Er wirkte wie betäubt.
„Danach nahmen mich die Polizisten mit auf das Revier. Ich sollte eine Aussage machen und mich rechtfertigen. Eisige, gequälte, traumatisierte Stille – das war das einzige, was ich von mir geben konnte.“ Genau die Art des Stillschweigens legte er nun auch wieder an den Tag.
„Wieso haben sie dich nicht auch umgebracht oder ins Gefängnis gesteckt?“, fragte ich ihn.
„Mein Vater ist ein einflussreicher Mann. Viel einflussreicher, als du dir vorstellen kannst, Cecilia“, erklärte er mir mit belegter Stimme - „Er kaufte mich frei, denn er wollte seinen guten Ruf nicht mit einem Sohn besudeln, der im Gefängnis sitzt.“
„Aber die Polizisten haben deine Schwester doch einfach ermordet, obwohl sie nichts getan hat und niemanden hätte gefährlich werden können. Wieso solltest du dafür büßen? Ich verstehe das nicht. Wieso macht die Regierung soetwas?“, suchte ich verzweifelt nach dem Sinn.
„Menschen sind dumm, das beweisen sie oft genug.“ Nathan schloss die Augen, um sie kurz danach wieder zu öffnen und mich durchdringend anzusehen.
„Das würde bedeuten, dass auch wir beide dumm sind“, fiel mir auf.
„Vielleicht sind wir das auch. Wahrscheinlich nicht nur vielleicht. Im Grunde sind alle Menschen dumm, doch es gibt Abstufungen der Dummheit. Manche machen viele Fehler und bereuen diese. Ihre Fehler helfen ihnen dabei zu wachsen und schlauer zu werden. Sie lernen aus ihnen. Das sind die Art Menschen, die noch am wenigsten minderbemittelt sind. Danach kommt die Gruppe der Verdränger. Sie wissen tief in sich drin, dass sie einen Fehler gemacht haben, doch wollen sich dies meist nicht eingestehen und verdrängen es. So können sie natürlich kaum aus ihren Fehlern lernen und obgleich sie ihr Handeln innerlich in Frage stellen, tun sie nichts um sich weiterzuentwickeln. Und zu letzte sind da die Skrupellosen, die einem Befehl unseres Präsidenten Folge leisten – egal wie dämlich er ist. Sie wollen Götter spielen, weil sie manchmal über Leben und Tot entscheiden können, doch wir Menschen sind nicht dazu erschaffen um solche Entscheidungen zu treffen. Die Skrupellosen hinterfragen ihre Taten nicht und lernen somit nicht daraus. Sie bleiben dumm.“
Nathans kleiner Vortrag über Dummheit hatte mich beeindruckt. Ich hatte ihm solche Gedanken gar nicht zugetraut.
„Um auf deine Frage zurück zukommen, Cecilia“, begann er - „Wahrscheinlich dachten die Skrupellosen, dass wir Inzest betreiben würden, was wir natürlich nicht getan haben. Es wird beim Verkauf immer sehr darauf geachtet, dass das zukünftige Paar nicht miteinander verwandt ist, denn unser Staat will nur gesunde Kinder. Ich habe mal gehört, dass alle Kinder mit Behinderungen gleich nach ihrer Geburt getötet werden, doch ob da wirklich was dran ist, kann ich dir leider nicht sagen. Jedoch habe ich vor vielen Jahren mal einen Streit zwischen meinem Vater und unserem Hausarzt miterlebt. Er hatte mit uns Sehtests durchgeführt und stieß anscheinend bei meinem Bruder auf eine Fehlsichtigkeit. Wenn ich mich mich recht erinnere, hieß die Krankheit Blaublindheit. Ich habe gehört wie der Arzt meinem Vater erklärte, dass Jason die Farbe Blau nicht wahrnehmen könne und auch andere Farbe andauernd verwechseln würde. Mein Vater geriet nach dieser Erklärung voller außer sich. Er flehte unseren Augenarzt an niemanden von Jasons Augenproblemen zu erzählen und drückte ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand. Ich konnte nicht sehen wie viel er ihm gab, da ich mich schnell unter dem Tisch versteckt hatte, als die beiden reinkamen und deswegen nur eine beschränkte Sicht hatte, doch wenig war es sicherlich nicht, denn Doktor Grenz gab ein entzücktes Grunzen von sich und versprach meinem Vater, dass er niemals wieder ein Sterbenswörtchen über Jasons Augendefizit verlieren würde.
Ich glaube mein Vater weiß, was Leuten mit Behinderungen blüht, sonst wäre er nicht so ausgerastet. Es war einer der unglaublich wenigen Momente, in denen ich meinen Vater emotional gesehen habe, einer in dem er ausnahmsweise nicht völlig kalt war. In jener Nacht bin ich mit einem Lächeln auf dem Gesicht eingeschlafen, denn ich hatte das Gefühl, dass unser Vater Jason und mich tief in seinem Inneren doch liebte.“
Er seufzte leise und klang dabei unendlich müde.
„Tut mir Leid, ich bin schon wieder abgeschweift. Worauf ich eigentlich hinaus wollte war, dass Inzest verboten ist, was ich persönlich ziemlich dumm finde. Man sollte keine Liebe verbieten und solange zwei Personen, die miteinander verwandt sind, keine Kinder zusammen bekommen, ist – meiner Meinung nach – alles im Lot. Liebe ist Liebe, egal wer sie im Herzen trägt“, beendete Nathan seine Ansprache.
„Du hältst tolle Reden“, fiel mir auf - „Daraus solltest du etwas machen. Ich liebe die Art wie du denkst und sprichst. Es ist so emotional und gleichzeitig so ernst.“
Traurig schüttelte Nathan den Kopf und kniff die Lippen zusammen.
„Daraus wird wohl nichts“, sagte er und schluckte - „Nach meiner Vorstrafe wurde ich zum Wachdienst eingeteilt. Es ist – finanziell gesehen – kein schlechter Job, doch dort besteht immer die Gefahr auf einen Terroranschlag und der Arbeitsplatz ist auch nicht der schönste und deswegen ist er nicht gerade der beliebteste Job. Zumindest wird es wohl noch Jahre dauern, bis überhaupt eine Chance besteht, dass ich trotz meiner Vorstrafe, den Beruf wechseln kann.“
„Terroranschlag?“, wiederholte ich überrascht - „Wieso sollte jemand einen Terroranschlag auf den Heiratsmarkt planen?“
„Es gibt da mehrere Aspekte. Einerseits könnte jemand allein aus perfider Lust am Töten einen Anschlag planen. Andererseits könnte er auch einfach Frauen verabscheuen und ist deswegen auf den Tod möglichst vieler aus. Und zu guter Letzt gibt es die Rebellen-Gruppen, die von der Regierung totgeschwiegen werden, doch viele Leute wissen über sie Bescheid. Jedoch redet kaum jemand über sie. Es ist ihnen zu riskant, dass sie selbst für Rebellen gehalten werden. Die Regierung würde sie wahrscheinlich sofort töten und mit ihnen ihre gesamte Familie.“
„Wie viele Rebellen gibt es wohl?“, wollte ich neugierig wissen.
Ein merkwürdiges Gefühl keimte in mir auf. Wärme breitete sich in meinem Körper aus und ein nervöses Kribbeln zog sich über meine Haut. Hoffnung.
„Ich weiß es nicht“, gab Nathan zu - „Aber ich hoffe es sind viele.“
Es enttäuschte mich, dass Nathan mir nicht noch mehr darüber erzählen konnte, doch daran ließ sich leider nichts ändern.
„Wir sollten jetzt schlafen. Ich bin müde.“ Nathan gähnte demonstrativ, richtete sich auf und streckte mir seine Hand hin. Ich ergriff diese und ließ mir von ihm aufhelfen.
Sorgfältig strich ich mein Nachthemd glatt und versuchte das Moos zu entfernen, dass an meinem Po hängen geblieben war.
Nathan sah mir dabei grinsend zu.
„Wenn dein Hintern grün ist, können wir das Nachthemd in die Wäsche tun. Deine Hände werden da wohl nicht mehr viel ausrichten könne“, gab er mir schmunzelnd zu wissen.
Ich nickte. Er hatte vollkommen Recht.
Zusammen gingen wir wieder am See entlang zu unserem kleinen Haus. Dort folgte ich ihm in sein Schlafzimmer. Für einen Moment schien er überrascht, als ich mich neben ihm ins Bett legte, doch dann lächelte er mich an.
Wir lagen da als Freunde. Als Freunde mit grünen Fußsohlen und ebenso grünen Hintern und Handflächen. Ich fühlte mich wohl, denn wir gaben einander freundschaftlichen Halt.
„Träum süß, kleine Hellcat“, flüsterte er mir lächelnd zu, als er das Licht mit einer Fernbedienung löschte.
„Schlaf schön, du nachdenkliches Pseudo-Arschloch.“
„Sei leise“, hörte ich Nathan eindringlich sagen, als ich erwachte.
Für einen kleinen Moment dachte ich, er meine mich damit, doch sie Stimme war zu weit entfernt.
Ich zwang mich, meine Augen zu öffnen und versuchte in der Dunkelheit des Zimmers etwas zu erkennen. Die Tür war einen kleinen Spalt geöffnet, doch das Licht konnte kaum in das Schlafzimmer gelangen, da jemand die Lücke fast komplett versperrte. Lange, dünne Beine steckten in recht engen, schwarzen Jeans. Dazu trug die Person, die fast den Türrahmen überragte, einen dunkelbraunen Pulli, dessen Kapuze er sich über den Kopf gezogen hatte. Nathan konnte das nicht sein, denn er war ein ganzes Stück kleiner als der Türrahmen und ich hatte noch nie einen Kapuzenpulli in seinem Kleiderschrank entdeckt. Er war nicht die Art von Person, die sich gerne versteckte.
„Wer sollte uns schon hören?“ Das war Lucas Stimme. Den schnöseligen Tonfall konnte ich schnell wieder erkennen. Charakterlich war Lucas überhaupt kein verwöhnter Schnösel - zumindest hatte ich das seit der kurzen Zeit, die ich ihn kannte, nicht so empfunden -, doch seine Stimme klang immer wie die eines hochnäsigen Millionärserben.
„Cecilia schläft im Nebenraum“, erklärte Nathan seinem Cousin leise - „Sie soll nicht mitbekommen, was wir vorhaben. Vielleicht schaffen wir es wiederzukommen, bevor sie aufwacht, dann müssten wir ihr nichts erklären.“
Die Frage, was sie vorhatten und mir nicht erklären wollten, lag mir auf der Zunge, doch ich schluckte sie runter und verbannte sie in die tiefen meiner Kehle. Vorerst.
Wahrscheinlich werden die beiden gleich selbst darauf zusprechen kommen, da sie ja denken, dass ich schlafe.
„Ich finde du solltest es ihr sagen. Sie ist deine Ehefrau und hat das Recht es zu erfahren“, klagte Lucas Nathan an verlagerte sein Gewicht vom rechten auf den linken Fuß.
Ich hörte wie Nathan etwas von sich gab, konnte jedoch nicht verstehen was er sagte. Er sprach einfach zu leise. Törichterweise beugte ich mich ein paar Zentimeter vor und versuchte, mit leicht zusammengekniffenen Augen, die Ohren zu spitzen, was selbstverständlich nicht viel nützte.
„Was ist, wenn wir gefangen genommen werden oder gar sterben, Nathan? Sag mir, was Cecilia dann machen sollte. Du musst sie darauf vorbereiten.“ Lucas Tonfall war erschreckend harsch.
Was ist, wenn wir gefangen genommen werden oder gar sterben, Nathan?, hallten Lucas Worte in meinem Kopf wider. Wie in einem Strudel, der alles immer weiter hinabsog, sanken auch seine Worte unweigerlich schneller und tiefer in mein Gehirn und blieben wie ein Schiffswracks am Grund liegen.
Panik schoss statt Blut durch meinen Adern. Mein Körper war plötzlich wie gelähmt.
Was haben die beiden vor?, überlegte ich entsetzt.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Kühler Angstschweiß benetzte meinen Rücken.
„Lucas“, knurrte Nathan wütend - „Hör auf auf soetwas zu sagen. Ok? Wir werden weder gefangen genommen, noch werden wir sterben. Alles wird so laufen wie wir es geplant haben.“
„Nur weil du es dir einredest, wird es noch lange nicht Wirklichkeit“, erklärte Lucas - „Der Tod ist näher als du denkst. Du hast doch gesehen wie schnell sie ihre Pistole zücken und schießen. Sie sind nicht dazu da, um Fragen zu stellen und Leute zu verschonen … sie sind ausgebildet zum töten.“
Wie von allein sprang ich aus dem Bett. Mein Herz steuerte meinen Körper. Ich riss die Tür auf und funkelte sie beiden jungen Männer böse an.
„Ich weiß nicht was ihr vorhabt, doch ich will nicht, dass ihr euch in Gefahr begebt. Ihr bleibt gefälligst hier“, schnauzte ich die beiden an und blinzelte verzweifelt die Tränen weg, die sich in meinen Augenwinkeln ansammelten.
Augenblick riss Nathan erschrocken die Augen auf, als er mich sah und Lucas Gesicht wurde sogleich um einiges blasser.
„Cecilia“, fing Nathan besänftigend an, doch bevor er weiter reden konnte, schnitt ich ihm das Wort ab:„Versuch mich nicht zu beruhigen. Ich werde euch auf gar keinen Fall gehen lassen.“
Ich schrie schon fast und bemerkte, dass mein Gesicht vor Wut, Angst und Verwirrtheit ganz heiß wurde. Wahrscheinlich war ich knallrot.
Nathans Miene verdunkelte sich. Plötzlich hob er mich einfach hoch und setzte mich erst auf dem Bett wieder ab. Unsanft drückte er mich in die Kissen und zog mir die wärmende Bettdecke bis zum Hals.
„Lucas, geh schon mal zum Auto vor“, bat er seinen Cousin, der uns belustigt beobachtete.
Ich schrie und versuchte um mich zu treten und zu schlagen, was sich unter dem Bettdecke als schwierig gestaltete.
„Nein Lucas, geh nicht“, verlangte ich panisch - „Was auch immer ihr vorhabt, tut es einfach nicht. Bitte, Lucas, rede Nathan diese Idee aus.“
„Es war meine Idee“, antwortete Lucas mir - „Und wir müssen sie durchziehen.“
„Nein“, kreischte ich bockig auf.
Nathan presste seine Hand auf meinen Mund, doch ich biss ihn, sodass er mich losließ und mit schmerzverzerrter Miene seine Hand ausschüttelte, als könnte er so auch den Schmerz abschütteln.
„Bitte bleibt hier, ihr seid die einzigen Personen, die ich noch hab und ich sehe euch mittlerweile als Freunde an“, versuchte ich sie verzweifelt vom Bleiben zu überzeugen.
Nathan sah mich mitleidig an und setzte sich auf den Rand des Bettes, während er, mit er Hand, in die ich ihm nicht gebissen hatte, mein hellblondes Haar zurück strich.
„Lucas und ich sind nur kurz weg und kommen in spätestens zwei Stunden wieder. Danach unternehmen wir beide was schönes zusammen und du darfst dir sogar was wünschen. Wir machen uns dann einen richtig schönen Tag und genießen die Sonne draußen. Wir könnten versuchen im Teich schwimmen zu gehen und ein Picknick machen. Solange ich weg bin, kannst du ja schon mal den Picknickkorb mit leckeren Sachen und Gesellschaftsspielen packen. Ich glaube im Keller müsste ein Korb und eine orange Picknickdecke liegen“, säuselte Nathan.
Ich schüttelte den Kopf.
„Wenn du darauf keine Lust hast, können wir auch was anderes unternehmen. Du kannst dir alles wünschen, was du willst.“ Nathan lächelte mich liebevoll an.
„Sag mir, was ihr vorhabt“, verlangte ich.
„Umso weniger du weißt, desto besser“, versuchte er mich abzuspeisen.
„Ich dachte wir haben keine Geheimnisse mehr voreinander.“ Ich schnaufte erbost.
„Jeder Mensch braucht Geheimnisse. Ich möchte dir davon nicht erzählen und ich bitte dich inständig mir einfach zu vertrauen und abzuwarten. Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin nämlich für dich da, aber das klappt nur, wenn du mir meinen Freiraum lässt und zuversichtlich bist.“ Nathan strich sanft über meine Wange und malte verworrene Linien auf ihr.
„Und was ist wenn du stirbst?“, wollte ich wissen und versuchte noch immer mich aufzurichten, doch Nathan drückte mich zu sehr in die Matratze.
„Ich werde nicht sterben, genauso wenig wie Lucas.“ Nathan betonte jedes einzelne Wort so selbstsicher, dass es mir vorkam, als würde er damit eher sich, statt mich, überzeugen wollen.
„Kannst du mir das schwören?“, fragte ich ihn tonlos.
Wie ich es mir schon gedachte hatte, schwieg Nathan darauf nur betreten. Nachdenklich biss er sich auf die Unterlippe und starrte auf das Muster der Bettdecke.
„Es geht um meinen Vater. Er sitzt im Gefängnis“, meldete sich plötzlich Lucas zu Wort, der noch immer am Türrahmen lehnte und uns beobachtete. Sein Tonfall klang etwas zittrig.
„Wieso ist er dort?“, erkundigte ich mich.
„Vor einem Jahr wurden sehr viele Häuser in unserer Straße durchsucht, weil das Gerücht herum gegangen war, dass irgendwo dort ein Rebellen Stützpunkt unter den Häusern sei. Die Polizisten kamen absolut unerwartet und somit hatte mein Vater auch keine Zeit seine DVD- und CD-Sammlung zu verstecken, die er von seinem Vater geerbt hatte. Ich weiß nicht, ob Nate es dir schon erzählt hat, aber solch ein Besitz ist strafbar. Vermutlich hat Präsident Otrowski zu sehr Angst, dass die Menschen dadurch merken könnten, dass früher, als Mann und Frau noch gleichberechtigt waren, alles viel schöner war. Die DVDs und CDs wurden natürlich von der Polizei konfisziert und mein Vater wurde ohne Umschweife ins Gefängnis verfrachtet“, erzählte Lucas, während er wütend die Augenbrauen senkte und einen imaginären Punkt an der kahlen, weißen Wand fixierte.
„Ihr wollt ihn befreien“, schlussfolgerte ich erstaunt.
Nathan nickte und lockerte seinen Griff instinktiv etwas. Das nutzte ich aus und wand mich aus seinem Griff, streifte die dicke Decke von mir und richtete meinen Oberkörper auf.
„Ich werde mitkommen.“
„Nein, wirst du nicht!“ Nathan klang gereizt.
„Ich finde auch, dass du hier bleiben solltest“, fand Lucas - „Es ist zu gefährlich für dich. Nathan und ich haben den ganzen Ablauf schon tausendmal durchgesprochen und alles durchgeplant. Es wäre zu riskant den Plan noch in der letzten Minute zu ändern.“
„Ich werde euch nicht gehen lassen“, stellte ich klar.
„Wir werden eh gehen, denn du kannst dagegen nichts ausrichten. Sieh dich doch mal an und dann betrachte mich und Lucas. Mal abgesehen, dass er und ich zu zweit sind, wären wir sogar alleine um einiges stärker als du. Das ist anatomisch so vorgesehen.“
„Aber-“, setzte ich an, wusste jedoch nicht wie den Satz weiterführen sollte und seufzte stattdessen nur leise.
Nathan griff in seinem Nachtschränkchen, fischte etwas hinaus und drückte es mir in die Hand. Es fühlte sich kalt und scharf an. Neugierig betrachtete ich den silbernen Schlüssel in meiner Hand.
„Dieser Schlüssel öffnet dir alle Türen in diesem Haus. Falls Polizisten hier klingeln sollten, dann benutze ihn, um die Hintertür aufzuschließen und dann renn so schnell wie möglich in den Wald. Dreh dich nicht um, renn einfach und versuch so viel Distanz wie möglich zwischen dich und das Haus zu bringen“, ordnete Nathan mir an.
Ich nickte ängstlich. Die Hand, mit der ich den Schlüssel nun umklammerte, zitterte.
„Und wenn ich wieder da bin, dann unternehmen wir wirklich was schönes zusammen. Auf was hättest du Lust?“ Es war gruselig wie schnell er den Tonfall von eindringlich zu enthusiastisch gewechselt hatte. Es wirkte so künstlich, doch genau das brauchte ich gerade, um nicht durchzudrehen.
„Das mit dem Picknick und dem Schwimmen im See hat schon sehr verlockend geklungen, aber-“ Ich machte eine kurze Kunstpause - „ich glaube ich würde noch lieber das Haus einrichten. Es ist so kahl und trist. Ein bisschen Farbe an der Wand würde sich gut machen und Fotos.“Ein warmes Lächeln erschien auf Nathans Gesicht.
„Das hört sich wunderbar an“, meinte er und strich mir einige blonde Strähnen hinters Ohr, dann beugte er sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn – die Geste der Vergänglichkeit.
„Ich will nicht mit ansehen wie du gehst“, gab ich leise zu.
„Dann sieh nicht hin.“ Mit seinen Fingerkuppen schloss er mir vorsichtig die Augen.
Ich ließ sie zu, selbst als ich merkte wie die Matratze wieder dort hob, wo er eben noch gesessen hatte und er mit leisen Schritten den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.
Innerlich zählte ich die Sekunden, die vergingen, bis ich die Haustür ins Schloss fallen hörte. Neunzehn.
Quälend langsam hob ich meine Lider wieder und betrachtete die Stelle, wo er eben noch gesessen hatte. Ich streckte meine Finger danach aus wie ein kleines Kind, doch meine Hand wurde nur von Luft umhüllt, da war keine feste Materie. Kein Leben. Nichts.
Wie in Trance stand ich auf und durchquerte das Zimmer. Ich ging durch den engen Flur in die Küche und stellte mich vor das Fenster. Als ich sah wie das Auto auf dem Hof startete, überlegte ich, ob ich doch noch rauslaufen sollte, um sie aufzuhalten, doch bevor ich zu Ende denken konnte, legte Nathan am Steuer schon den Rückwärtsgang ein, um auszuparken, und fuhr eilig davon. Lange sah ich ihnen nach. Selbst als sie schon lange außer Sichtweite waren, heftete mein Blick auf der unbefahrenen Einfahrt.
War es richtig sie gehen zu lassen?
Ein riesiger Kloß siedelte sich in meiner Kehle an.
Hätte ich mehr protestieren sollen?
Meine Hände begannen zu zittern.
Was passiert, wenn die beiden gefangen genommen werden?
Eisige Schauer liefen quer über meinen Rücken.
Würden die Gefängniswachen wirklich nicht zögern Nathan und Lucas zu töten?
Übelkeit keimte bei dem Gedanken in mir auf.
Meine bebenden Hände bildeten Fäuste, die ich durch meinen Tränenschleier nur verschwommen erkennen konnte.
„Ich würde alles daran setzen sie zu retten“, sagte ich mir.
Oh ja, das würde ich.
Ich fühlte mich komisch. Leer, wütend, alleine, traurig – irgendwie alles zusammen. Mir war zu Mute, als hätte jemand meine Gefühle vermischt, in einen Mixer getan und jahrelang durchgerührt, sodass am Ende nur noch eine gammelige Masse hinauskam.
Ich saß auf den kühlen, harten Küchenfliesen, den Kopf zur Seite gedreht, das Kinn halb auf der knochigen Schulter liegend, die Beine leicht angewinkelt und die Arme fest darum geschlungen. Die blaue Vase, die ich eben zerdeppert hatte, lag in Scherben vor mir in einer Pfütze aus schmutzigem Wasser und zerrissenen Blumen. Nathan hatte sie einst mitgebracht. Ich fühlte mich schuldig, weil ich sie zerstört hatte, aber ich hatte es tun müssen. Vielleicht war es komisch, doch ich fühlte so lebendig, als ich die Vase zerspringen sah und danach die Blumen zerriss. Es war ein kläglicher Versuch gewesen mich aus meiner sonderbaren Trance zu befreien, allerdings hatte der Moment der Lebendigkeit nur wenige Sekunden angehalten.
Tief atmete ich ein und aus. Ich musste mich endlich wieder beruhigen.
Meine Augen schwirrten durch den Raum. Alles wirkte so groß, dass es mir Angst machte.
Ich schluckte. Einmal, zweimal und zu guter letzte noch ein drittes Mal, doch der Kloß in meinem Hals blieb. Trotzdem richtete ich mich auf und fühlte mich dabei erschreckend senil.
Die glatte Arbeitsplatte unter meinen Fingern gab mir Halt, als ich mich auf ihr abstützte. Zögerlich umfasste ich schließlich den Schlüssel, den ich auf der Fensterbank abgelegt hatte. Mittlerweile hatte die Sonne den Stahl des Schlüssels erhitzt, sodass dieser meine Handinnenflächen auf eine angenehme Art erwärmte. Ich schloss kurz die Augen und genoss das schöne Gefühl, welches mich ein wenig beruhigte.
Normalität, dachte ich, ich brauche Normalität.
In meinem Kopf lief dieses Wort in Dauerschleife hinunter.
„Ich packe jetzt den Picknickkorb“, murmelte ich zerstreut vor mich hin, obwohl niemand da war, der mir hätte zuhören können.
Ohne weiterhin über meine merkwürdige, neue Angewohnheit nachzudenken, ging ich zur Kellertür und öffnete diese. Zwanghaft kämpfte ich gegen meine Gedanken, die sich immer wieder einen Platz in meinem Kopf zu verschaffen wollten. Ich versuchte sie zu einem anderen Thema zu lenken und konzentrierte mich nun auf den dunklen Raum, der vor mir lag. Nur acht Treppenstufen trennten mich von ihm. Keller machten mich nervös und ich fürchtete mich vor ihnen, schließlich konnte man nie wissen, was sich in der Dunkelheit - tief unter der Erde - alles befand.
Ich drückte den Lichtschalter neben der Tür, sodass flackernd die seichte Beleuchtung ansprang, die dem Raum eine ungemütliche, schaurige Stimmung verlieh, die mindestens genauso schlimm war wie die vorherige Dunkelheit. Während mir mein Herz heftig gegen den Brustkorb schlug, rannte ich die Stufen hinunter und sah mich verzweifelt nach dem Picknickkorb um.
Der Raum war circa vier Quadratmeter groß und – abgesehen von einigen abgenutzten Gartenmöbeln, einem Heizkasten und zwei kaputten Autoreifen – völlig leer. Hier war kein Picknickkorb. Ich drehte mich zweimal um die eigene Achse, um sicher zu gehen, dass ich ihn nicht nur übersehen hatte, doch er befand sich definitiv nicht in diesem Raum, deswegen sprintete ich eilig die Treppe wieder hinauf, schaltete, mit einem kräftigen Schlag gegen den Schalter, das Licht aus und knallte die Tür hinter mir zu, als ich mich wieder im Flur des Hauses befand.
Zwar mochte ich den Keller nicht, doch für kurze Zeit hatte er mich von meiner Angst Nathan und Lucas zu verlieren, befreit und mir dafür einen anderen Grund gegeben furchtsam zu sein. Dafür war ich dem Keller dankbar. Trotzdem wollte ich nicht mehr Zeit als nötig in ihm verbringen.
Nachdenklich kratzte ich mich am Hinterkopf und überlegte wo sich ein Picknickkorb noch befinden könnte. Vielleicht hatte Nathan ihn ja, statt in den Keller, in die Abstellkammer gestellt.
Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass sich dort nur Putzutensilien befanden, doch nachsehen wollte ich trotzdem einmal, deswegen ging ich durch den Flur, durchquerte das Wohnzimmer und stieg die Treppe hinauf.
Vor mir lag wieder ein Flur, an dem vier Türen mündeten. Die erste von links war die Badezimmertür und durch zweite gelangte man in einen winzigen Raum, in dem die Waschmaschine stand. Am Ende des Ganges befand sich die Abstellkammer, deren Tür eher provisorisch an einem der Rahmen angelehnt war. Die Scharniere hatten immer so schrecklich gequietscht, sodass Nathan versucht hatte dieses Problem zu beheben, doch dabei ging eines der Scharniere kaputt und er baute kurzer Hand die die ganze Tür aus. Handwerklich war er wirklich absolut unbegabt.
Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht, als die Erinnerungen Projektionen von sich vor meine Augen warf. Ich sah Nathan fluchend und mit hochrotem Kopf, als die Tür plötzlich oben aus der Angel fiel und er sie reflexartig festhielt, wobei er mit dem Ellenbogen gegen die Wand knallte. Danach hatte er seinen Kopf in meine Richtung gedreht und gefragt, ob ich ihm einen Eisbeutel für seinen Ellenbogen holen könnte. Ich hatte gescherzt, dass es sicherlich lustig wäre, wenn ich ihn jetzt durchkitzeln würde. Daraufhin hatte ich nur einen Augenverdreher geerntet, doch das warme Lächeln auf seinen Gesicht hatte er nicht verbergen können.
Mein Herz wurde bei dieser Erinnerung erhitzt, zerschmolz und floss angenehm wärmend durch meine Adern.
Wieder einmal atmete ich tief durch und versuchte klare Gedanken zu fassen. Ich straffte meine hängenden Schultern und ging auf die Abstellkammer zu, doch bevor ich ich bei ihr ankam stoppte ich, als ich an der einzigen Tür auf der rechten Seite vorbeikam. Ein großes L war mit rosa Farbe auf das Holz gepinselt worden. Ich starrte es lange an, bis ich mich traue mit den Fingern darüber zu streichen. Die Farbe bröckelte bei meiner Berührung.
Noch immer hielt ich den Schlüssel in der Hand. Ich wusste, dass ich damit Lucies Zimmertür öffnen konnte, doch ich wusste nicht, ob ich es mir zutraute damit konfrontiert zu werden. Oft war ich an diesem Raum vorbeigelaufen, doch nie hatte ich die Chance gehabt ihn auch betreten zu können.
Wie automatisch bewegte meine zitternde Hand den Schlüssel zum Schloss und rammte ihn förmlich hinein. Ich drehte ihn schnell und legte meine andere Hand auf die Klinke.
Ich sollte doch lieber einen Rückzieher machen, dachte ich, doch bevor ich meine Gedanken an meine Hände weiter leiden konnte, hatte eine von ihnen schon die Türklinke hinunter gedrückt und die andere die Tür aufgeschoben.
Die Luft, die mir entgegen kam, war staubig und schwer. Wahrscheinlich war lange niemand mehr hier drin gewesen. In der Dunkelheit tastete ich nach dem Lichtschalter und fand ihn nach einer geschlagenen Ewigkeit. Die Glühbirnen am kleinen, silbernen Kronleuchter an der Decke gingen sofort an. Lucies Zimmer war interessant. Es sah aus, als hätte sie tausende verschiedene Epochen der Zeit vermischt und ihr Zimmer katapultiert. Der Kronleuchter passte überhaupt nicht zum Bett mit dem Holzgestell und genauso wenig harmonierte das hellgrüne Kopfkissen mit der Bettdecke, die in einem dunklen lila gehalten wurde. Das Laken darunter war hellblau. Der Rest ihres Zimmers war eher schlicht und modern gestaltet. Die Wände erstrahlten cremé farbend und eine rosa Schlangenlinie zog sich darüber. Ihr Kleiderschrank bestand aus einem weißen Gestell mit durchsichtigen Türen, hinter denen sich Klamotten in hauptsächlich zarten, gediegenen Farben versteckten.
Besonders angetan war ich von dem kleinen, weißen Schminktisch über dem sich ein großer Spiegel befand, dessen Rand mit eleganten Ornamenten versehen war. Ich wollte dahin gehen und mir die ganzen Dinge genauer ansehen, doch die Spinnenweben, die so gut wie überall zu sehen waren, hielten mich ab. Insekten, insbesondere Spinnen, konnte ich gar nicht leiden. Dennoch überwand ich mich und steuerte nun auf den Tisch zu, auf dem sich ein Stapel Briefe und verschiedene Make-up-Utensilien befanden. In der Erziehungsanstalt hatten wir Schminkkurse bekommen, damit wir das beste aus uns rauszuholen konnten, doch ich war nie besonders gut darin gewesen mein Gesicht anzupinseln. Oft wurde mir gesagt, dass ich viel besser aussehen würde, wenn ich meine dunklen Augenringe abdecken und meine längliche Nase mit einer Schattierung kaschieren würde, doch eigentlich gefielen mir diese Dinge an mir. Sie waren nicht perfekt, aber sie gehörten zu mir und machten mich aus.
Ich verstand diesen Schönheitswahn einfach nicht. Früher hatte ich - beim Zähneputzen in dem Badezimmer meiner Etage - oft gehört wie sich Mädchen übergaben. Es war erschreckend mit welch einem Freudestrahlen sie danach hinaus traten und voller Stolz die Hände in die knochigen Hüften gestemmt hatten. Jedes mal wurde mir bei diesem Anblick selbst schlecht, sodass ich oftmals kurz davor war selbst kotzen zu müssen.
Lieber Optik-Perfektionismus, ich hasse dich.
Ich stellte das matte Puder, dass ich ich bisweilen betrachtet hatte, wieder zurück auf den Tisch und nahm mir den obersten Brief vom Stapel. Gegen meine unbändige Neugier konnte ich mal wieder nicht ankämpfen, deswegen öffnete ich den leicht vergilbten und verstaubten Umschlag vorsichtig an der oberen Kante und zog ein dünnes Blatt Papier hervor, welches winzig klein gefaltet worden war.
Ich sollte das nicht lesen, schließlich wäre das gemein gegenüber Lucie. Sie hat ein Recht auf Privatsphäre.
Meine Finger waren jedoch wieder einmal schneller als meine Gedanken und entfalteten das Papier zügig. Sogleich glitten meine Augen über die dünne Schrift, die anfangs elegant und vollkommen wirkte und dann immer krakeliger wurde. Teilweise war die Schrift verwischt, als hätte Lucie geweint, während sie den Brief schrieb, doch nichtsdestoweniger konnte man die Sätze noch gut entziffern.
Geliebter Ben,
ich weiß, dass du Briefe nicht ausstehen kannst und sie für reine Zeitverschwendung in unserem elektronischen Zeitalter hältst, doch trotzdem komme ich nicht umhin dir zu schreiben. Vielleicht wirst du mir dann einen Antwort zukommen lassen und endlich merken wie faszinierend es ist Wörter in Sätze zu verpacken und sie auf ein Blatt zu bringen. Es ist wie Zauberei, aber viel magischer.
Ich vermisse dich. Sehr sogar. Dass du nicht bei mir bist, frisst mich innerlich auf. Langsam und qualvoll. Ich bewundere dich sehr dafür, dass du freiwillig beim Wiederaufbau der Häuser hilfst, die bei dem Hurricane beschädigt wurden. Dadurch sehe ich nur wieder einmal was für einen wunderbaren Charakter du hast. Wahrscheinlich bin ich selbstsüchtig, weil ich trotzdem will, dass du zurück kommst, doch ich kann einfach nicht gegen meine Gefühle für dich ankämpfen. Du hast selbst einmal gesagt, dass wir zusammen stark sind – stärker als alles andere. Doch leider muss ich mir eingestehen, dass dies nicht stimmt. Gegen das System kommen nicht einmal wir an. Du hast deine Frau Fran und ich bin mit Nathan verheiratet, obwohl er selbstverständlich nichts sexuelles von mir will. Zudem mag ich Fran, denn sie ist ein herzensguter Mensch. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie von unserer Affäre erfährt. Sie liebt dich abgöttisch, das merkt man. Manchmal denke ich, dass wir das mit uns beiden beenden sollten. Vielleicht würdest du dann ja Gefühle für sie entwickeln und alles wäre perfekt.
Bisher hat Nathan übrigens noch nicht bemerkt, dass ich von dir schwanger bin, aber langsam wird mein Bauch runder und ich befürchte, dass ich es nicht immer vor ihm geheim halten kann. Er ist dein bester Freund und du weißt deswegen sicherlich, dass er mich behütete wie seinen Augapfel. Er soll nicht enttäuscht von mir sein, weil ich mich an einen verheirateten Mann rangeschmissen hab.
Aber weißt du, wovor ich noch viel mehr Angst habe? Unser Kind könnte ein Mädchen werden …
Ich würde nicht zulassen, dass uns jemand sie wegnimmt. Für unser Baby würde ich kämpfen – bis in den Tod.
Bitte melde dich bei mir und besuch mich, sobald du wieder zu Hause bist. Du weißt ja, wann Nate arbeiten muss. Wir sollten besprechen wie es weiter geht und wie wir es ihm sagen. Dem Regime kann ich sagen, dass das Kind von Nathan ist. Ich hoffe inständig, dass es mehr nach mir kommt, damit wir nicht auffliegen. Und trotzdem kann ich den Wunsch, dass es dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist, nicht unterdrücken.
Ich liebe dich und werde es wahrscheinlich immer tun, aber diese Welt ist nicht erschaffen für Liebe. Hier ist kein Platz dafür. Zumindest nicht für unsere Liebe. An unserem letzten Treffen werden wir es beenden. Für immer.
Ich wünsche dir und Fran alles Glück der Welt.
In Liebe,
Lucie
Unzählige Male glitten meine Finger über die Buchstaben, die sich zu Wörtern vereinten, aus denen sich Sätze bildeten. Stellenweise war das Papier des Briefes gewellt, was wahrscheinlich an Lucies salzigen Tränen gelegen hat. Ich konnte mir gut vorstellen wie sie hier am Schminktisch gesessen und versuchte hatte ihre Gefühle auf einen Zettel zu bannen. Meiner Meinung nach, eine ziemlich kluge Idee, denn Gefühle im Herzen konnte man nicht einfach vernichten, doch ein Zettel war nicht so widerstandsfähig. Ihn könnte man zerreißen, verbrennen oder einfach für immer und ewig in eine Schublade sperren.
Ich strich die fingerdicke Staubschicht von der Fensterbank und zog die knartschende Jalousie hoch. Als die Sonne durch das Fenster schien, sah das Zimmer gleich viel freundlicher aus. Ich öffnete das Fenster komplett, um richtig durchzulüften.
Es war süß von Nathan, dass er ihr Zimmer anscheinend so gelassen hatte wie sie es verließ, doch vielleicht war es auch Zeit für etwas Frische, Veränderung und einen Neuanfang. Trauer konnte man nicht ewig wegsperren, sonst würde man vermutlich irgendwann daran draufgehen. Ich fasste den Entschluss noch an jenem Tag mit Nathan Zeit in diesem Zimmer zu verbringen. Vielleicht würde ich ihn überreden können einen Brief an Lucie zu schreiben und ihn ganz oben auf den Stapel zu legen. Das würde ihm sicherlich helfen seine Kummer ein wenig zu mildern, auch wenn seine Schwester seinen Brief nie würde lesen können.
Mit einem Ruck zog ich die dicke Bettdecke vom Bett. Staubkörner wirbelte durch die Luft und drehten ihre Pirouetten in der Luft, die mittlerweile glücklicherweise nicht mehr so dick war, als dass man sie nur hätte mit einem Fleischerbeil durchtrennen können. Ich schüttelte das Oberbett über dem Boden aus und zerrte es dann zum Fenster, aus dem ich es raus hielt und erneut kräftig ausschüttelte. Der übrig gebliebene Staub der Zeit rieselte gen Boden.
Nachdem ich die Bettdecke wieder auf das Spannbettlaken gelegt hatte, schüttelte ich auch das grüne Kopfkissen aus, auf dem sich das Motiv eines springenden Frosches befand.
Ich wusste nicht genau wie lange ich das Zimmer noch auf Vordermann brachte, doch als ich fertig war, sah es aus wie neu. Der Spiegel des Schminktisches reflektierte das Licht, welches durch das säuberlich geputzte Fenster fiel, der Staub befand sich nun größtenteils im Staubsauger und das Zimmer roch angenehm nach Zitrone, da ich mit einem Raumerfrischer rumgesprüht hatte.
Ich hoffte inständig, dass Nathan meine Putzaktion gefallen würde. Vielleicht hätte ich ihn erst fragen sollen, bevor ich einfach so das Zimmer seiner toten Schwester auf Vordermann brachte.
Gerade als ich dabei war noch einige Feinheiten zu korrigieren und alles ordentlich drapierte, hörte ich wie ein Auto auf die Einfahrt fuhr und Türen knallten. Ich sah aus dem Fenster und entdeckte Nathans und Lucas Kleinwagen. Erleichtert atmete ich aus. Anscheinend war ihnen niemand gefolgt.
Eilig verließ ich das Zimmer und rannte die Treppe hinab, wobei ich fast über meine eigenen Füße stolperte. Just in dem Moment, in dem ich im Wohnzimmer ankam, sah ich von dort aus wie Lucas den Raum betrat. Meine Euphorie verblasste jedoch schnell, als ich sah, dass er Nathan stützte, dessen Unterschenkel blutüberströmt war. Ein hochgewachsener, schlaksiger Mann betrat nach ihnen die Wohnung. Man sah ihm an, dass er Lucas Vater sein musste, da er seinem Sohn so sehr glich, dass es schon ein wenig erschreckend war.
„Was ist passiert?“, hauchte ich geschockt.
„Es ist nicht so schlimm. Mach dir keine Sorge, nur eine kleine Kampfverletzung“, murmelte Nathan. Er schien schwach und benommen, so, als wäre er gedanklich gerade ganz woanders.
Lucas schleppte Nathan zur Couch und legte ihn dort vorsichtig ab.
„Könntest du Verbands- und Desinfektionszeug holen?“, bat Lucas mich.
Ich nickte und suchte im Arzneischrank der Küche alles so schnell ich konnte zusammen.
Als ich zurückkehrte, hockte Lucas Vater vor der Couch und musterte Nathans Bein. Die Hose hatten sie bis zum Oberschenkel hochgekrempelt.
Erst jetzt bemerkte ich, dass alle drei merkwürdige Klamotten trugen. Sie waren komplett in dunkelblau gekleidet, mit einer langen Knopfleiste an der Brust und sie trugen eine merkwürdige Kappe auf dem Kopf, die ihre Haare fast komplett bedeckte. Weiße Namensschilder prangten auf ihrer Brust.
A. Fredson
S. Harris
D. Müller
Ich zog fragend die Augenbrauen hoch.
„Erklärungen gibt es zu späterer Stund'.“ Lucas hatte meinen Blick wirklich schnell gedeutet - „Jetzt müssen wir uns erst einmal um Nathans Wunde kümmern. Er wurde angeschossen.“
Ich wollte unbedingt wissen wie es dazu gekommen war, doch Nathans Wohlergehen ging wirklich vor. Meine Neugier könnte ich nachher sicher noch zur Genüge stillen.
„Könntest du mir ein Glas Orangensaft und ein paar Stückchen Zucker holen, Liebes? Ich fühle mich so unterzuckert und brauche für mein Vorhaben ruhige Hände“, bat mich Lucas Vater, der mich nur kurz mit seinen grauen Augen ansah. Sanftmut lag in ihnen.
Auch dieses Mal tat ich wieder brav das, was mir befohlen wurde.
Während meiner kurzen Abwesenheit hatte Lucas Vater begonnen mit einem kleinen Messer in Nathans Wunde rumzupulen. Immer wieder schrie Nathan gequält auf, verzog schmerzverzerrt das Gesicht oder stöhnte leidend. Ich hockte mich neben Lucas ans Kopfende und nahm Nathans Hand, die ich schonend drückte.
„Keine Sorge, alles wird gut“, versprach ich, obwohl ich nicht wusste wie schlimm es wirklich um sein Bein bestellt war. Ich versuchte optimistisch zu denken.
Seine Hand verkrampfte sich und presste meine heftig, während sein Bein mit warmen Wasser behandelt wurde, das Lucas in einem Eimer aus dem Badezimmer geholt hatte. Daraufhin setzte Lucas Vater Desinfektionsmittel ein, was Nathan fast an den Rand der Verzweiflung trieb. Seine dunkelbraunen Augen waren schreckhaft geweitet, der Körper wirkte steif und angespannt, während aus seiner Kehle nur ein klägliches Wimmern entfleuchte.
Es tat mir in der Seele weh ihn so zu sehen.
„Am besten hälst du das Bein für die nächsten Tage ruhig“, riet Lucas Vater Nathan, nachdem er dessen Verletzung mit einer Wundsalbe eingeschmiert und daraufhin einen Verband drum gewickelt hatte.
Nathan nickte und stützte sich auf seine Ellenbogen ab. Noch immer erschien es mir so, als würde er mit seinem Kopf in den Wolken hängen – in grauen Gewitterwolken.
„Ich bin übrigens Lucas Vater und heiße Paavo – das ist finnisch. Wenn du willst, kannst du mich aber auch einfach nur Pave nennen. Du musst sicherlich Cecilia sein, nicht wahr? Lucas hat mir schon erzählt, dass du Nathans Ehefrau bist.“ Paavo ratterte seine Worte so schnell hinunter, dass ich Mühe hatte ihm zu folgen.
„Ähm… ja“, stammelte ich - „Die bin ich.“
„On mukava viimein tavata“, rief Paavo freudig aus.
Verwirrt und hilfesuchend sah ich zu Lucas, der grinsend die Augen verdrehte. War sein Vater durch die Zeit im Gefängnis verrückt geworden?
„Mein Vater ist zur Hälfte Finne. Vor dem Krieg hat mein Großvater in Finnland gelebt und, auch wenn nun niemand mehr finnisch spricht, wollte er damals, dass seine Söhne ihre Herkunft genug würdigen und brachte ihnen deswegen finnisch bei. Mein Vater handhabte es bei mir genauso, deswegen sprechen wir miteinander gerne finnisch. Er hat eben zur dir gesagt, dass es ihn freut dich endlich kennen zu lernen“, erklärte mir Lucas.
„Das ist echt cool. Ihr habt ja dann so etwas wie eine eigene Geheimsprache und die hört sich sogar gut an“, stellte ich lächelnd fest - „Und es freut mich auch ihn kennen zu lernen.“
Mein Blick wanderte zu Nathan, der abwesend gegen die Wand starrte und nicht wirklich in der Lage zu sein schien ein Gespräch zu führen.
„Spricht Nathan auch finnisch? Ihr habt ja schließlich den selben Großvater“, wollte ich wissen.
„Nein, leider nicht. Sein Vater hielt nicht viel von Finnland. Nate kann ein paar Wörter, die wir ihm beigebracht haben, doch er ist generell nicht gut darin Sprachen zu erlernen. Er ist eher so der Biologie Mensch. Früher hat er mir immer Nachhilfe in Bio geben. Glaub mir, so einen strengen Lehrer hatte ich noch nie zuvor. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, zieht er das wirklich knallhart durch. Er ist wie eine Abrissbirne.“ Lucas lachte auf.
Noch immer lag mein Blick auf Nathan und ich fragte mich was er hatte.
„Was ist mit ihm?“, fragte ich nun leise in die Richtung von Paavo und Lucas und nickte in Nathans Richtung.
Sofort wurden die beiden wieder ernst. Ihr fröhliches Grinsen sackte zu einem schnörkellosen Strich zusammen.
„Er musste heute eine wichtige Entscheidung treffen“, flüsterte Paavo mir zu.
„Und die wäre?“, harkte ich nach.
„Ich habe einen Mann getötet.“ Urplötzlich drehte sich Nathan zu uns um und sah mich direkt aus seinen traurigen, dunklen Augen an - „Und das schlimmste daran war: Ich war froh, als er auf dem Boden leblos zusammensackte.“
Eine beklemmende Stille beherrschte für einige Momente den Raum.
„Es war ein Reflex, du kannst nichts dafür“, versuchte Lucas ihm einzureden, doch Nathan schüttelte nur entschieden den Kopf, als wären Lucas Worte Fliegen, die man einfach verscheuchen konnte.
„Ob Reflex oder nicht, das tut nichts zur Sache. Er ist tot und das ist meine Schuld. Ich bin nicht besser als Lucies Mörder.“ Nathan schluckte schwer und wendete den Blick ab.
„Er hat es nicht anders verdient. Zudem ist Gewalt die beste Möglichkeit, um Leute zu befreien. Denk doch nur an das Ende des zweiten Weltkrieges aus dem Geschichtsunterricht. Die Gefangenen des Konzentrationslager wurde von Soldaten befreit“, widersprach Lucas vehement.
„Da hast du recht, aber sie hätten es sicherlich auch friedlicher lösen können“, gab Nathan zurück.
Lucas schnaufte ungläubig.
„Glaubst du wirklich, dass sich die Nazis ergeben hätte, wenn die Alliierten mit Blumensträußen und Pralinen angedackelt gekommen wären und ganz lieb 'Bitte, Bitte' gesagt hätten? Nathan, denk mal realistisch.“
„Einschüchterung“, presste Nathan wütend hervor zog seine Augen leicht zu Schlitzen - „Sie waren so viele, dass es gereicht hätte, wenn sie die Nationalsozialisten mit ihren Waffen eingeschüchtert und lebenslang weggesperrt hätten. Zwar waren die Nazis skrupellose Arschlöcher, doch kein Mensch hat den Tod verdient – ganz gleich, was er getan hat.“
„Ist lebenslange Haft denn soviel gütiger als der schnell Tod?“, warf ich ein.
Nathan und Lucas wendeten ihre wütenden Blicke voneinander ab und starrten nun mich an. Sie schienen ratlos.
„Sie hat recht. Manchmal habe ich mir den Tod gewünscht, weil ich es nicht mehr ertragen habe wie mich die Wärter behandelten. Ich fühlte mich wie Abschaum und sie gaben mir das zu spüren – jeden verdammten Tag. Manchmal waren die Blicke, in denen purer Hass und Anwiderung lag, noch viel schlimmer als die Schläge, die sie regelmäßig austeilten“, meldete sich Paavo zu Wort. Sein Blick war gesenkt und seine Stimme krächzte leise
„Themawechsel“, kommandierte Nathan streng und wirkte dabei äußert autoritär in der Wächteruniform - „Vielleicht sollten wir uns umziehen. Ich will nicht länger diese Klamotten tragen.“
Nathan begann die Knöpfe seines blauen Hemdes unachtsam aufzureißen.
„Ich habe eine Frage“, sagte ich nach reiflicher Überlegung - „Fällt es nicht auf, dass ihr beiden ausgerechnet dann zu Besuch gekommen seid, als Paavo befreit wurde? Und was ist eigentlich mit den Kameras?“
„Wir haben gefälschte Ausweise am Eingang vorgezeigt und taten so, als würden wir einen anderen Gefangenen besuchen wollen – Paolo Biasini, ein Freund meines Vaters. Er sitzt wegen Steuerhinterziehung im großen Stil.
Lucas überwältigte den Wachmann, der uns zu Paolo bringen sollte, im Flur mit seinem Karate und zog sich dessen Uniform an. Seinen Körper versteckten wir in einer Abstellkammer. Lucas bekam in seinem Aufzug problemlos Zutritt zu den Überwachungskammern und stellte die Kameras ab, nachdem er auch den Wachmann auf diesem Posten ohnmächtig geschlagen hatte. Er gab mir die Uniform und wir verschafften uns Zutritt zu Paves Abteilung. Wir holten ihn aus der Zelle und brauchten nun natürlich auch noch eine Uniform für ihn. Als ein weiterer Wachmann unseren Weg kreuzte, sahen wir die Gelegenheit dazu. Sofort ging Lucas auf ihn los, doch der Mann war schneller, drückte Lucas zu Boden und richtete seine Pistole auf seinen Kopf. Ich geriet in Panik, zog die Pistole, die im Gürtel der Uniform steckte und richtete sie auf seinen Kopf. Kurz bevor ich schoss, bemerkte mich der Mann und versuchte mich zuvor zu töten, doch er erwischte nur meinen Unterschenkel. Ich schoss ihn daraufhin in den Kopf.“ Nathan presste kurz seine Lippen zusammen, bevor er fortfuhr - „Pave zog sich die Uniform des toten Mannes an und wir verließen das Gefängnis durch den Hinterausgang, um 'eine zu rauchen'.“
„Aber die Wachen werden doch sicherlich irgendwann bemerken, dass Paavo weg ist und dann werden sie mit seinen Verwandten sprechen wollen und deren Haus durchsuchen“, überlegte ich.
„Wir haben ein Versteck für Pave und werden ihn in ein paar Tagen dahin fahren. Ich glaube es wäre zu gefährlich ihn jetzt schon dorthin zu bringen, da wahrscheinlich Polizisten nach ihm suchen. Zudem werden sie sicher nicht in meinem Haus suchen“, erklärte Nathan.
„Wart ihr betrunken, als ihr den Plan entwickelt habt? Ich dachte ihr hättet ihn tausend mal durchgesprochen und alles bis ins kleinste Detail geplant“, rief ich aus - „Natürlich werden sie auch dein Haus durchsuchen. Du hat ihn doch sicherlich auch oft genug besucht!“
„Nein.“ Nathan schüttelte den Kopf - „Ich habe immer einen gefälschten Ausweis genommen, denn ich mag es nicht, wenn der Staat weiß, wann ich wo meine Zeit verbracht habe.“
„Aber du gehörst trotzdem zur Familie. Sie werden sich die Akten ansehen und früher oder später auch bei dir vorbeischauen. Zudem ist deine Weste wegen der Sache mit Lucie nicht gerade rein“, widersprach ich.
Nathan und Lucas tauschten geschockte Blicke.
„Scheiße, daran habe ich noch gar nicht gedacht“, gab Lucas zu.
Angst durchflutete den Raum wie eine Sturmflutwelle.
„Und jetzt?“, wollte Nathan verzweifelt wissen und versuchte sich mit seinem verletzten Bein aufzurichten.
„Wir müssen Paavo verstecken“, ordnete ich an und versuchte ruhig zu bleiben, obwohl sich die Panik in meinem Körper verbissen hatte wie ein Rudel Wölfe - „Am besten nicht im Haus, sondern im Wald, damit er bei einer Durchsuchung nicht gefunden wird. Wie du schon sagtes, wäre es sicherlich zu riskant, um ihn jetzt noch zum Versteck zu fahren.“
„Und meine CDs, DVDs und Bücher müssen auch aus dem Haus geschafft werden“, fügte Nathan hinzu.
Lucas sog geräuschvoll die Luft ein und legte seinen Kopf kurz leicht in den Nacken.
„Mist“, fluchte er leise und kramte nur wenige Sekunden später eine Zigarettenpackung aus den Taschen der Wächteruniform hervor.
„Wenigstens hatte er einen guten Geschmack“, murmelte er, während er einen der weiß-orangen Stängel aus der Packung zog und die andere Tasche durchsuchte.
„Toll, kein Feuerzeug“, beschwerte er sich aufgebracht, steckte sich den Anfang der Zigarette in den Mund und fing an daran zu nuckeln wie ein kleines Baby am Schnuller.
„Lucas, leg die Zigarette weg. Wir haben keinen Zeit für soetwas“, schnauzte Nathan und zog seinem Cousin die Tabakware aus dem Mund, während er sich mit einer Hand an meiner Schulter abstützte, da er wegen seiner Verletzung noch immer wackelig auf den Beinen war.
„Du, als ehemaliger Raucher, musst doch wissen wie beruhigend es ist einen Glimmstängel zwischen den Lippen zu haben und den Rauch in die Welt hinaus pusten zu könne. Erinnerst du dich noch daran, als du selbst damals sagtest, dass es ein unglaublich ekstatisches Gefühl sei, wenn Dopamin sich durch den Geschmack freisetzt und den Körper durchflutet? Man fühlt sich wie ein Gott in Flammen. Es ist magisch und gleichzeitig unglaublich beruhigend. Hast du etwa schon vergessen, dass Nebel ein Anagramm von Leben ist?“ Lucas Augen wurden groß, als er eindringlich auf Nathan einredete.
Nathan betrachtete mit einem sehnsüchtigen Blick die Zigarette zwischen seinen Fingern und drehte sie hin und her.
„Ich habe mit dem Rauchen abgeschlossen“, murmelte er nur leise vor sich hin. Es klang nicht so, als wäre es die Antwort für Lucas gewesen, sondern eher so wie sein persönliches Mantra.
Plötzlich klingelte es an der Haustür.
Geschockt hoben wir alle unsere Köpfe und starrten die Tür an, als könnten wir sie dadurch zuschweißen. Natürlich hatten wir mit ihnen gerechnet, jedoch noch nicht so früh.
„Hier spricht die Polizei. Öffnen sie sofort die Tür oder wir müssen uns selbst Einlass verschaffen“, donnerte die Stimme des Polizisten von draußen an unsere Ohren.
Ich schluckte und griff instinktiv nach Nathans Hand.
„Cecilia, der Schlüssel“, flüsterte er mir zu und ich drückte ihm zitternd den Schlüssel für die Hintertür in die Hand, den er wiederum Lucas überreichte.
„Wir halten die Wachen hier im Haus auf und du rennst mit Pave durch die Hintertür in den Wald. Und bitte nimm die Kiste mit.“ Nathans bemühte sich leise zu sprechen, doch sah dabei aus, als würde er lieber schreien.Nochmals schallte das Schellen der Klingel durchs Haus und ging mir durch Mark und Bein.
„Wenn sie nicht in den nächsten zehn Sekunden die Tür öffnen, bleibt uns wirklich keine andere Wahl als die Tür aufzubrechen und alle Insassen dieses Hauses festzunehmen“, rief der Polizist.
Paavo und Lucas schnappten sich die Kiste mit den Büchern, CDs und DVDs und rasten zur Hintertür.
„Zehn … Neun...“, fing der Polizist langsam an hinunter zu zählen.
„Mach die Tür auf und tue so, als wärst du gerade erst aufgestanden. Ich brauche Zeit mich umziehen, also sag, dass ich noch im Bett liege, wenn sie nach mir fragen, dann versuch sie aufzuhalten. Biete ihnen Kaffee an oder sonst was.“ Nathan umfasste kurz sanft meine Schultern, beugte sich zu mir hinab und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Danach wuschelte er meine Haare zu einem Gerade-erst-aufgestanden-Look durch.
„... Vier… Drei...“
Nathan eilte ins Schlafzimmer, während ich zur Tür rannte und diese zaghaft aufzog. Ich bemühte mich um einen verschlafenen Blick.
„Oh, guten Morgen, Offiziers“, begrüßte ich die zwei Polizisten, die schwarze Uniformen trugen. Beide hatten das Abzeichen unserer Welt auf der Brust. Genau wie bei den Wachen war das linke Kreuz rot unterlegt und stand für den Daminox Sektor.
Auf den breiten Schultern des rechten Polizisten prankten zwei silberne Schnallen, die ihn als Generalmajor auswiesen. Der Aufzug der beiden erinnerte mich an Krieg. Insbesondere die Pistole, die in den Gürtelschnallen der beiden steckte. Es wirkte auf mich, als würden sie damit prahlen wollen, dass sie jederzeit Leute erschießen könnten.
„Cecilia Burghley?“, fragte der andere, den ich als Leutnant einschätze.
In der Erziehungsanstalt hatten wir gelernt die Abzeichen der Polizei zu erkennen, doch diese Schulstunden kamen mir vor, als wären sie schon eine halbe Ewigkeit her. Ich wusste noch, dass unser Lehrer uns erzählt hatte, dass es zehn Offizierdienstgradgruppen gibt, vom Leutnant bis zum General. Sie waren genauso geordnet wie in einem Heer. Nach dem Krieg hatte Präsident Otroswski angewiesen, dass diese Posten beibehalten werden sollten. Ich persönlich vermutete, dass diese Bezeichnungen auf die Leute einschüchternd wirken sollten.
„Ja, die bin ich“, antwortete ich und versuchte mich an einem koketten Lächeln.
Die beiden Polizisten reagierten nicht auf mein falsches Lächeln. Ihre Mienen blieben wie versteinert.
„Wir würden gerne mit Ihrem Gatten sprechen“, sagte der Generalmajor. Man hörte an seiner spitzen Tonlage, dass es keine Bitte war, sondern ein Befehl.
„Nathan liegt noch im Bett, aber ich werde ihn sogleich wecken, dann wird er in wenigen Minuten bei Ihnen sein. Möchten sie bis dahin noch etwas zu trinken?“ Die gefälschte Höflichkeit brannte mir unechte Grübchen in die Wangen - „Vielleicht einen Kaffee, Orangensaft oder Tee?“
„Herr Burghley hat eine Minute Zeit, um hier aufzukreuzen, sonst sind wir dazu gewillt ihn ziemlich unsanft auf den Träumen zu reißen.“
„Ja, natürlich“, drückte ich hervor. Die Männer waren mir unsympathisch. Genaugenommen sogar mehr als das. Mit ihren überlegenen Blicken, der erhobenen Brust und der leicht emporgestreckten Nase wirkten sie schrecklich eingebildet. Sie sahen aus, als könnte niemand sie bezwingen, aber wahrscheinlich war es normal, dass man so aussah, wenn man über Leben und Tod seiner Mitmenschen entscheiden konnte.
„Nehmen sie doch kurz im Wohnzimmer platz“, bot ich ihnen an.
Wortlos folgten sie meiner Einladung und gingen hinter mir her ins Wohnzimmer.
„Willkommen in unserem trauten H-“, begann ich, doch stockte dann.
Ein weiterer Mann stand nun ebenfalls in unserem Wohnzimmer neben den Polizisten. Er trug die gleiche Uniform wie die, die von Nathan, Paavo und Lucas geklaut worden waren, doch bei ihm war kein Namensschild auf der Brust. Vielleicht war es eine Ersatzuniform. Sein Auge war blau und leicht angeschwollen und an seinem rechten Mundwinkel klebte etwas Blut. Anscheinend war er entweder eben erst nach gekommen oder hatte bisher hinter den beiden Polizisten versteckt gestanden. Groß und breit genug waren die zwei dafür auf jeden Fall.
Ich räusperte mich kurz.
„Entschuldigung, Frosch im Hals“, log ich - „Ich wollte sagen: Willkommen in unserem trauten Heim.“
Nur mit Mühe konnte ich das Zittern unterdrücken, dass meinen Körper übernehmen wollte. Es war absolut offensichtlich, dass die Polizisten diesen Wachen für eine Gegenüberstellung mitgenommen hatten. Möglicherweise wussten sie sogar schon, dass Nathan an der Befreiungsaktion beteiligt gewesen war. Hatten sie vielleicht sogar ein Foto von ihm in der Kartei der Polizei?Ich schluckte kurz unbemerkt.
„Die Minute läuft“, verkündete der Mann, den ich für einen Leutnant hielt.
Ich nickte stumpf und drehte mich eilig um. Es kostete mich viel Überwindung, dass ich nicht zu Nathan ins Schlafzimmer rannte, sondern ein normales Tempo einschlug. Ich drückte schnell die Tür auf und schloss sie hinter mir genauso flugs wieder.
Nathan stand im Schlafanzug vor mir. Die Haare hatte er ein wenig zerzaust, um seinen verschlafenen Look zu komplementieren.
„Wir müssen weg hier“, brachte ich verzweifelt flüsternd hervor - „Sie haben einen der Wachen dabei. Ich wette es ist einer von denen, die Lucas verprügelt hat. Der erkennt dich bestimmt wieder, wenn du jetzt ins Wohnzimmer gehst.“
Nathan wurde noch blasser, als er eh schon wegen dem Blutverlust war. Für wenige Millisekunden sahen wir uns einfach nur schweigend an, dann schnappte Nathan rasch sein Portmonee und eine Jacke, sowie einen Pulli, aus seinem Kleiderschrank und humpelte mit seinem verletzten Bein zum Fenster, welches er aufriss.
„Komm“, wies er mich an.
Übereilt nahm er die wenigen Gegenstände von dem Fensterbrett und schmiss sie aufs Bett. Eine Vase wollte jedoch nicht auf dem weichen Bett verweilen, sondern verlor am Rand das Gleichgewicht und zerschellte auf dem Parkettboden.
Stille. Panik. Herzrasen. Angstschweiß.
Ich starrte noch wie gelähmt auf die Scherben, als Nathan mich förmlich aus dem Fenster schmiss und dabei gequält ächzte. Vollkommen unvorbereitet landete ich auf dem warmen Gras. Zum Glück hatten wir uns nur im Erdgeschoss befunden.
Als ich hörte wie die Tür im Zimmer aufgerissen wurde und anscheinend gegen den Schrank knallte, erhob ich mich eilig und rannte um die nächste Ecke des Hauses. Hätte ich versucht zum Wald zu rennen, wäre ich sicherlich von einer Kugel getroffen worden. Wie aufs Stichwort hörte ich die ersten Schüsse. Und ein Keuchen...
Nathan, erinnerte ich mich geschockt an ihn.
Vor lauter Panik war ich doch gar ohne ihn geflohen. Übelkeit machte sich in mit breit, die nur von der Angst überlagert wurde. Ich fühlte mich, als müsste ich kotzen.
Den Tränen vor Angst nahe, spähte ich um die Ecke. Eine männliche Brust kam blitzschnell auf mich zugerast und drückte mich kurz gegen die Wand des Hauses. Dann wurde mein Hand ergriffen und ich wurde unbehutsam voran gezogen. Ich atmete kurz erleichtert aus, als es sich als Nathan herausstellte. Der Stoff des Schlafanzuges hatte sich an seinem rechten Bein kirschrot gefärbt. Ich fragte mich, ob es noch von seiner vorherigen Verletzung kam oder er eine Kugel abbekommen hatte.
Wir rannten in Richtung Wald. Noch nie in meinem Leben lief ich so schnell. Ich kam mir vor, als würde ich fliegen, doch ich hatte schreckliche Angst vor dem Absturz. Furcht trieb Menschen wahrlich zu Meisterleistungen an. Meine Motorik fühlte sich nicht wie die meine an.
Wieder hörte ich Schüsse. Nathan zog mich an sich ran, was mich beinahe ins Straucheln gebracht hätte. Ich spürte den Luftzug einer Kugel. Es hatte sich so angefühlt, als wäre sie durch meine unkontrolliert wehenden Haare hindurch geschossen.
Gleich hätten wir es geschafft. Nur noch zehn Meter bis zum Schutz der Bäume. Maximal.
„Runter!“, schrie Paavo plötzlich, der aus dem Wald hinaus auf uns zu sprintete.
Nathan ließ sich sogleich flach auf den Bauch fallen und zog mich mit. Ich landete unsanft auf meinem Kinn. Der Geschmack von Blut machte sich in meinem Mund breit und ein hartes Etwas fiel mir in den Rachen und brachte mich kurz zum röcheln. Hatte ich gerade einen Zahn verloren?
Genauso schnell wie wir zu Boden fielen, richteten wir uns auch schon wieder auf. Blut rann aus meinem Mundwinkel und lief ekelhaft warm meinen Hals hinab.
Nur noch fünf Meter bis zum Wald.
Ich hörte wie weitere Kugeln abgefeuert wurden und ich sah wie Paavo sprang. Direkt hinter uns ging er dumpf zu Boden.
Lucas schrie. So laut, dass mein Trommelfell sich massakriert anfühlte.
Als ich Lucas im Wald sah, war Verzweiflung in sein junges Gesicht geschrieben. Ich erhaschte während des Rennens kurz einen Blick auf Nathans Gesicht: Seine Augen tränten, die Lippen waren gequält zusammengepresst.
Und ich glaubte zu wissen, was eben geschehen war: Paavo war tot, weil er sich für Nathan und mich geopfert hatte.
Nathan griff Lucas, genau wie mich, am Handgelenk und zog uns unablässig hinter sich her.
Es war zwar hart, doch er hatte keine Zeit zum trauern.
Lucas kniff so heftig die Lippen zusammen, dass es aussah, als würde er versuchen sich selbst zu ersticken.
Wieder ertönten Schüsse hinter uns. Ich sah wie sich eine der Kugeln in die Rinde des Baumes bohrte, den ich kurz darauf mit meiner Schulter streift.
Meine Lungen füllten sich mit heißer Luft und mein Blut fing an zu brodeln, doch meine Füße sprangen schmerzend, dennoch unermüdlich, weiter. Mittlerweile zog nicht Nathan Lucas und mich voran, sondern ich die beiden. Nathan wurde immer langsamer. Wahrscheinlich war die Schusswunde an seinem Bein einfach noch zu frisch, als das er damit einen kleinen Marathon hätte laufen können. Trotzdem zog ich ihn weiter, bis er urplötzlich stehen blieb und meine Hand los ließ. Ich wollte eilig wieder seine Hand ergreifen, doch er zog sie weg.
„Verdammt, Nathan“, fluchte ich unter Tränen - „Wir müssen weiter!“
„Lauf, Cecilia“, befahl er mir tonlos.
„Ich gehe nicht ohne euch“, widersprach ich wütend.
„Verschwinde, du Flittchen. Wir kommen gut ohne dich klar. Du bist schließlich eine Frau und zu nichts gebrauchen. Ich habe dich nie gemocht.“ Seine Worte bohrten sich tief in mein Herz und ich spürte jeden der tausend Stiche, die sie dort hinterließen.
Wortlos drehte ich mich um und rannte.
Hinter mir hört ich Schreie, die klangen wie gequälte Hunde. Mit Tränen in den Augen spurtete ich weiter. Ein weiterer Schrei ertönte, danach zwei Schüsse. Stille folgte. Totenstille.
Ich blendete meine Umgebung aus und rannte einfach. Rannte so schnell ich konnte und wusste dabei selbst nicht mehr, ob ich vor den Polizisten oder meinem schlechten Gewissen floh.
Tränen flossen über mein Gesicht. Die Schüsse echoten in meinen Ohren wider. Immer und immer wieder.
Schluchzend presste ich mir beide Hände über die Ohren, in der Hoffnung, dass dies irgendwas nützen könnte, doch das tat es nicht. Natürlich nicht.
Tausend Bilder drängten sich gewaltsam in meinem Kopf. Sie ketteten sich dort mit schweren Fesseln an allem fest, was ihnen Halt bieten konnte. Ich dachte an Nathan und die Beleidigungen. Hatte er das alles vielleicht nur gesagt, um mich los zu werden, weil ich ohne die beiden schneller unterwegs war oder wollte er mir vor seinem Tod einfach nur reinen Tisch machen?
Erneut kam ein riesiger Schwall an Tränen aus meinen brennenden Augen. War Nathan wirklich tot? Ich konnte und wollte es mir einfach nicht eingestehen. Er konnte nicht tot sein. Nicht er. Nathan hatte es nicht verdient. Er war doch einer der Guten. Oder?Ich löste meine Hände von meinen Ohren und legte sie auf meinem Mund. Einerseits, weil ich Angst hatte mich übergeben zu müssen und andererseits um meine lauten Schluchzer abzudämpfen.
Ich konnte schon längst nicht mehr sagen wie lange ich schon lief. Meine Orientierung hatte ich verloren, doch ich zwang mich dazu weiter zu rennen, obwohl mein ganzer Körper schmerzte. Diesen körperlichen Schmerz konnte ich jedoch gut ausblenden, während mich mein mentaler Schmerz immer weiter in den Wald trieb.
Ich blieb erst stehen, als ich einen kleinen Bach entdeckte. Meine Kehle war so trocken, dass ich mittlerweile noch nicht mal mehr schlucken konnte. Zitternd kniete ich mich davor und schöpfte mit meinen Händen etwas Wasser. Vollkommen erschöpft trank ich davon und benetzte meine Haut mit dem kühlen Nass.
Mittlerweile stand die Sonne mitten am Himmel und zeige mir ihre komplette Strahlkraft. Es mussten sicherlich schon ein paar Stunden vergangen sein seitdem die Polizisten bei uns geklingelt hatten. Das erleichterte mich ein wenig, denn ich glaubte nicht, dass die beiden mir so lange hinterherlaufen würden. Ich war schließlich keine Bedrohung.
Schnaufend ließ ich mich in das warme Gras sinken und schloss meine Augen.
Ich brauchte Ruhe. Und zwar dringend.
Doch leider schwirrten meine Gedanken viel zu laut in meinem Kopf herum.
Wo soll ich bloß hin? Ich kann mich doch nicht selbst der Polizei ausliefern, aber wenn ich es nicht tue, dann überlebe ich sicherlich nicht lange hier im Wald.
Tränen liefen über meine Wange. Meine Lage war absolut aussichtslos. Ich hatte Nathan, den ich mit der Zeit als besten Freund angesehen hatte, verloren und war nun auf mich alleine gestellt. Welchen Sinn hatte mein Leben noch? Es würde nie wieder normal werden können.
In diesem Moment wünschte ich mir hier und jetzt zu sterben. Dieser Wunsch war so mächtig, dass ich versuchte meine Gedanken krampfhaft in eine andere Richtung zu lenken, um nicht schon innerlich drauf zu gehen.
Plötzlich hörte ich Schritte.
Ich blieb in einer Schockstarre liegen und kniff die Augen zusammen wie ein Kind, das dachte, dass niemand es sehen kann, wenn es selbst nichts sieht. Meine Atem wurde flach. Waren das die Polizisten, die kamen, um mich zu erschießen?
Ein überraschter Laut ertönte hinter mir.
„Oh Gott, verschwinde und zwar schnell“, ertönte eine männliche Stimme hinter mir - „Er darf dich keinesfalls finden.“
Verwirrt öffnete ich meine Augen und richtete mich auf. Vor mir stand ein junger, pummeliger Mann mit Hornbrille und einem schicken, schwarzen Anzug. Das blonde Haar wütete lockig auf seinem Kopf, während der dunkle Drei-Tage-Bart sein Doppelkinn verbarg und seine hellblauen Augen gekonnt in Szene setzte. Er wirkte ängstlich, doch gleichzeitig ging auch Wärme und Freundlichkeit von seinen Augen aus.
„Wer?“, fragte ich verschüchtert und kraftlos.
„Mein Chef“, antwortete mir der junge Mann und kam auf mich zu. Er zog mich unsanft auf die Füße und schob mich in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war - „Du musst hier weg. Er wird gleich kommen, um eine Zigarette rauchen zu wollen und wenn er dich sieht wird er dich sicherlich mitnehmen.“
„Mitnehmen?“, wiederholte ich verwirrt - „Wohin?“
„In sein Haus zu all seinen anderen Frauen natürlich“, sprach der Anzugträger in einem so schnellen Tonfall, dass seine Worte sich fast überschlugen - „Und jetzt lauf, bitte. Du sollst nicht bei ihm enden. Glaub mir, sogar sich in diesem Wald den Tod zu holen, wäre besser, als einen Tag mit ihm zu verbringen.“
„Wieso bist du dann sein Angestellter? Ist es nicht verboten mehrere Frauen zu kaufen?“ Ich runzelte verwirrt die Stirn.
„Das hat seine Gründe“, murmelte er und klang dabei unendlich traurig. Er schluckte, bevor er weitersprach - „Herr Zurbor weiß genau wie er Gesetzte gekonnt umgehen kann, deswegen ist er ja auch Politiker. Und tue mir jetzt bitte den Gefallen und lauf endlich los.“
Ich hatte noch tausend Fragen, doch ich als ich fremde Schritte hörte, konnte ich keinen dieser Sätze mehr aussprechen. Das einzige was ich jetzt noch konnte war rennen. Und genau das tat ich. Ich wusste nicht wie Herr Zurbor war und was er mit mir machen würden, doch die Worte des jungen Mannes hatten sich nicht gerade vielversprechend angehört.
„Hey, komm zurück“, brüllte plötzlich eine tiefe Tenorstimme hinter mir. Das war nicht die Stimme des pummeligen Mannes, sondern eine fremde.
War das dieser Herr Zurbor?
Ich beschleunigte meine Schritte. Mein Herz raste und meine Muskeln fühlten sich an, als würden sie kurz vor dem Zerreißen stehen. Ich war definitiv schon zu viel gerannt für diesen Tag.
Jagte dieser ominöse Politiker mit den vielen Frauen mir wohl hinterher?
Ich riskierte einen Blick nach hinten. Ein dicklicher Mann mit schütterem Haar, winzigen Augen und einem hochrotem Kopf war nur wenige Meter hinter mir.
Vor Angst kämpfte ich mit den Tränen und vergaß dabei vollkommen auf den Weg zu achten. Prompt fiel ich über etwas und knallte auf den harten Waldboden. Sogleich schmerzte mein rechter Knöchel grausam und er schien auf seine dreifache Größe anzuschwellen.
Während ein pulsierendes Gemisch aus Angst und Schmerz durch meine Adern schoss, versuchte ich mich aufzurichten und weiter zu rennen, doch da spürte ich auch schon eine feuchte, speckige Hand auf meiner Schulter, die mich schroff zurück in den Dreck drückte.
„Jetzt gehörst du mir, mein Schatz.“
Herr Zurbor war augenscheinlich ein reicher Mann. Ich vermutete, dass sein Bauchumfang ungefähr den gleichen Wert besitzen musste wie seine Ersparnisse in Millionen. Seine Villa war gigantisch. Wahrscheinlich noch um ein vielfaches größer, als das Haus, in dem Nathans Bruder und sein Vater gehaust hatten. Doch das alles beeindruckte mich nicht. Sein Geld ließ mich vollkommen kalt, das einzige was ich in seiner Gegenwart verspürte war Ekel und Hass.
Er hielt mich so nah an seine Brust gedrückte, dass ich nichts anderes als seinen Schweiß riechen konnte, der nur unzureichend von seinem widerlichen holzigen After Shave überdeckt wurde. Ich fühlte mich in seinen Armen wie eine ungeliebte Puppe, die kurz davor stand im Mülleimer zu landen. Jeglicher Versuch mich, trotz meines vor Schmerzen pochenden Knöchels, aus seinem Griff zu befreien, wurde von ihm damit honoriert, dass er seine Fingernägel in meinen Oberarm bohrte, bis ich anfing zu wimmern. Das quittierte er dann mit einem Lachen.
Mit einem traurigen Blick schob der Mann, der mir eben noch zur Flucht geraten hatte, das riesige Eisentor auf, hinter dem sich die Villa befand.
Herr Zubors starke, schwitzige Hände fühlten sich auf meiner Haut an wie die Pranken eines Löwen, der seine Beute verschleppte, um sie vor dem Akt des Fressens noch ein wenig zu quälen.
„Lass mich los“, fauchte ich ihn wütend an, während ich versuchte ihn zu treten, beißen oder zu schlagen, doch sein Griff ließ dies nicht zu.
Gewaltsam riss er mich herum und zog mich an den Händen empor, sodass ich gut zwanzig Zentimeter über dem Boden schwebte. Ein höllisch brennendes Ziehen ging durch meinen Körper.
„Hör mir gut zu“, forderte er, wobei seine widerliche Zwiebelfahne mir in die Nase stieg - „Ich bin jetzt dein Besitzer – dein Gott - und als dein Herrscher befehle ich dir mich zu siezen und mir jeden verdammtem Wunsch von den Augen abzulesen. Haben wir uns verstanden, du kleines Stück Dreck?“
Als antworte schwang ich meine Beine nach vorne und trat ihm so doll ich konnte in den Bauch. Wir beiden schrien auf – Ich vor Schmerzen, die meinen Fuß heftig zum Pochen brachten, und er anscheinend nur vor Schreck.
Er ließ mich zu Boden fallen und bedeckte mich daraufhin mit seinen Fettmassen.
„Wenn du nicht gehorchst, können wir es auch hier und jetzt auf dem Boden treiben!“, brüllte er mich wütend an und ohrfeigte mich mehrmals, bis sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund breit machte und alles vor meinen Augen verschwamm.
„Herr Zurbor, hören Sie auf. Wir können der jungen Dame bestimmt noch Manieren beibringen. Sie müssen Verständnis haben, dass eine Streunerin wie sie soetwas noch nicht besitzt“, versuchte Herr Zurbors Angestellter ihn zu besänftigen. Seine Worte waren das letzte was ich mitbekam, bevor meine Umwelt von dem bedrückenden Schwarz eingefärbt wurde.
Mein ganzer Körper war von Schmerzen gepeinigt. Mein Knöchel fühlte sich noch immer an, als hätte sich ein Elefant auf ihn gesetzte und die Haut meiner linken Wange war – meines Empfindens nach – bis zum Zerreißen gespannt. Noch immer hatte ich das Gefühl, als wäre mein Mund mit Blut gefüllt, aber nach ein paar Sekunden realisierte ich, dass es sich nur so anfühlte, weil meine Wange so heftig geschwollen war.
Ich stöhnte gequält auf. Oder besser gesagt: Ich versuchte es. Heraus kam etwas, was sich an hörte, als würde ein alter Mann im Sterbebett liegen und seinen letzten Atemzug tätigen.
Ich spürte auf einmal eine kühle, kleine Hand auf meiner Stirn.
„Alles wird gut“, versprach mir eine helle Stimme. Sie glich der eines Engels – so hell und klar.
„Bin ich im Himmel?“, keuchte ich leise und ehrfürchtig. Eigentlich wusste ich nicht einmal, ob ich überhaupt an den Himmel glaubte.
„Nein“, hörte ich die Stimme traurig sagen - „In der Hölle.“
Ich zwang mich die Augen zu öffnen. Das Mädchen hockte neben der Matratze, auf der ich lag, und musterte mich mit ihren besorgten dunkelbraunen Augen. Die vollen Lippen waren beklommen zusammengepresst, während ihre dunkel Haut fahl und das ebenso dunkle Haar spröde wirkte.
Narben und blaue Flecken zogen sich über ihren nur leicht bedeckten Körper, doch das alles tat ihrer Schönheit keinen Abbruch.
„Wer bist du und wo bin ich?“ Ich versuchte mich aufzurichten, um mehr sehen zu können, als nur die Zimmerdecke, das Mädchen und die gegenüberliegende, weiße Wand, doch die junge Frau drückte mich behutsam wieder hinunter.
„Ich heiße Mariam und wir beide befinden uns in Herr Zurbors Anwesen.“ Sie spuckte seinen Namen förmlich aus und wirkte danach so, als hätte sie das dringende Bedürfnis sich den Mund auszuspülen.
„Was hat er vor?“, fragte ich ängstlich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon wusste.
„Was denn wohl? Er benutzt uns als Putzen, Köchinnen und Lustobjekte, so wie alle Männer es tun“, schnaufte sie erbost.
„Nicht alle Männer sind so“, verteidigte ich das männliche Geschlecht. KURSIV: Nathan. Nathan. Nathan.
Er spukte plötzlich wieder in meinem Kopf herum. Nur mit Mühe konnte ich die anbahnenden Tränen unterdrücken.
Mariam musterte mich ungläubig.
„Wie auch immer“, meinte sie - „Wie heißt du eigentlich?“
„Cecilia“, antwortete ich.
„Ein ganz schön gewöhnlicher Name für ein Mädchen, das so viel durchgemacht zu haben scheint“, kommentiere sie - „Was ist deine Geschichte?“
Ich musterte sie eingehend. Mein Kopf pochte immer noch so stark, dass ich kaum Konzentration aufbringen konnte.
„Du willst meine ganze Lebensgeschichte hören?“, fragte ich irritiert nach.Mariam nickte eifrig. Einige dunkle Strähnen lösten sich aus ihrem Dutt und fielen ihr ins Gesicht.
Dieses Mädchen war definitiv viel zu neugierig.
„Ich kenne dich doch gar nicht“, versuchte ich mich raus zu reden. Man wusste ja nie, ob man sie nur darauf angesetzt hatte mich auszuhorchen.
„Dann halt nicht.“ Sie seufzte und wirkte ehrlich enttäuscht.
„Wieso darf Herr Zurbor mehrere Frauen haben?“, fragte ich nach einer kurzen Schweigepause.
„Er darf es nicht, er macht es einfach“, erklärte mir das junge Mädchen - „Weißt du über den Schwarzmarkt Bescheid?“
„Nein. Was ist das?“ Ich runzelte die Stirn.
Gerade als Mariam zum reden ansetzte, wurde die Tür unsanft aufgestoßen. Herr Zurbor stand nur in einer engen Unterhose im Türrahmen. Sein schwabbeliger Arm war um ein großes rothaariges Mädchen in Unterwäsche gelegt. Ihr Blick war so voller Verzweiflung, dass es mir kalt den Rücken runter lief. Genau wie bei Mariam war auch ihr blasser Körper von Narben und Flecken übersät.
„Ist sie schon wach?“, wollte er wissen, doch bevor jemand auf seine Frage antworten konnte, sah er mir direkt in die Augen. Ein boshaftes Grinsen legte sich auf seine Mundwinkel.
„Komm her, Kleine“, befahl er mir in einem – für seine Verhältnisse – ziemlich sanften Tonfall.
Ich rührte mich nicht. Mein Herz schlug so wild, als würde es aus meiner Brust entfliehen wollen.
„Komm her“, wiederholte er nochmal. Dieses Mal war seine Stimmlage um einiges bedrohlicher.
Noch immer rührte ich mich nicht. Einerseits hatte ich zwar Angst vor ihm, doch andererseits tat mein rechter Knöchel noch immer schrecklich weh, sodass ich nicht aufstehen konnte.
„Tue es lieber“, wisperte Mariam mir ängstlich zu - „Sonst kann er sehr ungemütlich werden.“
„Du hast gehört was sie gesagt hat.“ Seine Stimme konnte man schon fast als Brüllen einstufen - „Komm her, sonst wird es dir noch Leid tun.“
Meine Angst überwog. Zitternd schob ich die die dünne, beige Bettdecke zurück und richtete mich auf. Mein kompletter Körper schmerzte so fürchterlich, dass es mir die Tränen in die Augenwinkel trieb.
Herr Zurbor beobachtete mich mit einem selbstgefälligen Grinsen.
„Wenigstens ist es dir nun eine Lehre, dass du dich mir gestern so infantil widersetzt hast“, kommentierte er, als ich auf ihn zu schritt, die Lippen vor Schmerzen zusammengepresst, die Hände am zittern und mit dem Fuß leicht am hinken. Ich war ein Wrack.
Er zog mich mit einer schnellen Bewegung an mich heran und ließ seine Hände über meinen Körper wandern. Es widerte mich an.
„Wie heißt du?“, wollte er von mir wissen, während seine Hände zu meinem Arsch wanderten und er fest hinein kniff. Ich zuckte leicht zusammen. Mein Herz riet mir, mich auf der Stelle von ihm loszureißen, doch mein Verstand sagte etwas anderes. Ausnahmsweise siegte mein Gehirn.
„Cecilia“, antwortete ich ihm leise.
„Vergiss diesen Namen. Er gefällt mir nicht. Ab heute heißt du -“, begann er und und biss sich überlegend auf die rissige Unterlippe - „Amanda.“
Bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte ihm zu widersprechen, drückte er seine Lippen auf meine. Mit Mühe unterdrückte ich ein Würgen. Es war grässlich. Seine warme Spucke vermischte sich in meinem Mund mit meiner. Ich begann zu würgen. Wenigstens war meine Mundpartie noch so taub, dass ich es kaum spürte wie seine Zunge immer wieder fordernd gegen die Innenseite meiner Wange drückte. Trotzdem brachte mich das Wissen ihn zu küssen um den Verstand. Mir wurde zunehmend schlechter und ich würgte immer heftiger, bis er von mir abließ.
„Was soll ich bloß mit dir machen?“, fragte er sich nachdenklich selbst. Ich zitterte, als ich mir mit meiner Hand über den Mund fuhr und heimlich darein spuckte.
Sobald er raus gegangen ist, werden ich definitiv meinen Mund sehr gründlich auswaschen.
„Du bist sexuell auf dem Niveau einer 12-jährigen und besitzt auch einen dementsprechenden Körper. Das kannst du auch nicht mit deinem Gesicht ausgleichen, das bestenfalls Durchschnitt ist. Vielleicht sollte ich dich einfach auf dem Markt verkaufen“, fuhr er fort und musterte mich von oben bis unten - „Andererseits sind deine Augen außergewöhnlich und bestimmt ziemlich geil, wenn sie einen anstarren, während du mir einen Blowjob gibst. Ich denke ich lasse dich vorerst noch hier, den Erlös vom Weiterverkauf hätte ich eh nicht nötig.“
Er kratze sich am Unterleib.
„Kannst du kochen?“, wollte er von mir wissen.
Ich nickte langsam. Wenn ich die Wahl zwischen Kochen und Sex mit ihm hatte, entschied ich mich ganz klar für ersteres.
„Gut, Stacey wird dir die Küche zeigen“, sagte er und zeigte auf das Mädchen, das sich mir eben noch als Mariam vorgestellt hatte. Mit diesen Worten verließ er den Raum und nahm das große, rothaarige Mädchen mit sich.
„Wenn deine Schmerzen noch zu stark sind, kann ich auch alleine kochen und du setzt dich einfach daneben und sobald er kommt, tust du so, als würdest du Karotten schneiden oder so“, bot mir Mariam an und strich mir aufmuntert über den entblößten Oberarm - „Ich weiß genau wie du dich fühlst. Vor knapp einem Jahr war ich in genau der gleichen Lage wie du.“
Ihr Blick heftete sich auf den Boden. Ich sah wie sie die vollen Lippen zusammenpresste.
„Wie auch immer“, sagte sie mal wieder. Anscheinend war es ihre liebste Redewendung - „Wir sollten jetzt runter in die Küche.“
Sie setzte sich in Bewegung. Ich folgte ihr. Langsam. Fast schon schleichend. Noch immer brannte mein Körper höllisch. Ich fühlte mich, als stünde ich kurz vorm zerbersten. Mariam schien es zu bemerken und stützte mich, als wir eine scheinbar endlos lange Wendeltreppe hinunter gingen. Ihr Geländer war golden und ich kam nicht umhin zu vermuten, dass es echtes Gold sein könnte. Der Boden der Treppenstufen war mit einem weichen beigen Teppich belegt, in dem immer mal wieder etwas verräterisch aufblitze, als hätte man in den Teppich stellenweise Gold eingeflochten. Doch am meisten schockierten mich die Gemälde, die an den Wänden hingen. Werke von Goranté, Zarom und Jemour reihten sich dicht an dicht an der braunen Tapete, die, an den freien Stellen, mit Ornamenten verziert war.
In der Erziehungsanstalt hatten wir gelernt, dass diese drei Künstler zu den renommiertesten unserer Zeit gehörten und dass Gemälde von ihnen mindestens bei einem Wert im hohen fünfstelligen Bereich lagen. Ich hätte niemals gedacht, dass jemand wirklich so viel Geld für so ein unnützes Gekrakel ausgeben würde. Für mich sagten die Bilder noch nicht mal etwas aus, abgesehen von wirren Linien, die Goranté mit abstrakten Farben gemalt hatte. Zarom bevorzugte es dünne, kleine Menschen zu malen, die in scheinbar makellosen Reihenhäusern mit strahlend bunten Vorgärten wohnten und auf Jemours Gemälde fand sich immer wieder ein Auge wieder. Die Iris war grau wie kalter Beton, doch der Rest des Bildes war kunterbunt.
Die Küche, in die Mariam mich führte, war groß und weiß. Sie wirkte noch unpersönlicher, als Nathans Küche und ich hatte bisweilen eigentlich gedacht, dass das gar nicht möglich ist. Alles in dieser Küche strahlte im perfekten Glanz auf. Es war beängstigend makellos.
Mariam ging zu einer langen Liste, die an einer Pinnwand am anderen Ende des Raumes hing und strich mit ihrem Finger unter den Worten entlang, während sie stumm las.
„Herr Zurbor wünscht zur Vorspeise einen kleinen Eisbergsalat, zur Hauptspeise Lachforelle und zum Nachtisch ein Erdbeer-Vanille-Biskuit“, informierte sie mich - „Setzt dich einfach hin und ruhe dich aus. Ich glaube dein Fuß ist nicht gerade leicht verletzte, du solltest ihn nicht zu sehr belasten.“
Ohne auf meine Antwort meinerseits zu warten, schob sie mich vorsichtig zu einem Stuhl.
„Da der Stuhl direkt an der Spüle steht, kannst du den Salat waschen“, wies sie mir eine Aufgabe zu.Ich tat es. Ohne Widerworte.
„Was hat es mit dem Schwarzmarkt auf sich?“, wollte ich wissen, während ich den Wasserhahn aufdrehte.
Mariam seufzte laut.
„Es ist ein schrecklicher Ort, fast noch schrecklicher als hier“, begann sie. Ein Zittern lag in ihrer Stimme.
„Wieso?“ Es war nicht fair von mir so neugierig zu sein, obwohl ich merkte wie sehr sie unter der Geschichte litt, doch ich wollte einfach unbedingt wissen, weshalb Mariam das männliche Geschlecht so sehr verabscheute.
„Meine Geschichte fängt an mit Blut. Viel Blut ...“
„In meiner Erziehungsanstalt an der Grenze vom Erox und dem Daminox Sektor gab es einen Lehrer. Er war Fitness-Lehrer und hieß Herr Peterson“, begann Mariam und sah aus, als würde sie bei dem Gedanken an ihn einen Würgereiz unterdrücken müssen - „Widerlich – das Wort beschreibt ihn vermutlich perfekt. Es war nicht so, dass er nicht gut aussah oder so. Eigentlich sah er recht gut aus, wenn man bedachte, dass er schon Anfang 30 war. Viele Mädchen himmelten ihn an. Ich auch. Zumindest tat ich dies am Anfang.
Eines Tages nach dem Unterricht, war ich die letzte in der Turnhalle, da Herr Peterson mich beauftragt hatte die Yoga Matten aufzusammeln. Ich verstaute gerade die Matten in einem Fach, als ich plötzlich seine warmen, weichen Lippen auf meinem Hals spürte und seine starken, muskulösen Arme sich um meine Taille legten. Es war ein umwerfendes Gefühl. Seine Körper presste sich an meinen und es kam mir vor, als würden unsere Körper miteinander verschmelzen. Ich hatte mit meinen damaligen sechzehn Jahren vermutlich nie etwas perfekteres empfunden.
Ich keuchte jedes Mal erschreckt und erregt auf, wenn seine Hände über meine Brüste oder meinen Unterleib fuhren. Er war so sanft und trotzdem bestimmt. Geschickt suchte er sich den Weg unter meine Bluse. Innerhalb weniger Sekunden landete diese auf einer Gymnastikstange und ich wurde auf den harten Hallenboden gepresst. Seine Hand wanderte unter meinen Rock und nachdem er meinen Slip zur Seite gezogen hatte, begann er damit meine Klitoris zu stimulieren.
Es fühlte sich gut an.
Verdammt gut.
Mein Körper spannte sich vor Lust an und ein unterdrücktes Stöhnen kroch aus meiner Kehle. Er erhöhte den Druck und die Geschwindigkeit seines Massieren und mir wurde so unfassbar heiß. Ich fühlte mich, als würde ich am lebendigen Leib verbrennen, aber auf eine gute Art und Weise. Immer lauter wurde mein Keuchen und es fühlte sich so unfassbar gut an, dass ich seine Berührung kaum noch ertragen konnten. Ich stand kurz vorm explodieren.
Eine Wärmewelle durchflutete meinen Körper. Meine Zehen bogen sich, als würden sie die Form der Welle, die meinen Körper durchflutete, annehmen wollen. Ich verzog vor Erleichterung und Geilheit das Gesicht, als sich die Muskeln in meinem Unterleib mehrmals zusammen zogen und mir damit das herrlichste Gefühl bereiteten, dass ich bisher gespürt hatte.“
Ich starrte Mariam verwirrt und neugierig an, denn bisher klang Herr Peterson nicht widerlich, sondern eher himmlisch. Tief in meinem Inneren fragte ich mich, ob Sex mit Nathan sich auch so gut anfühlen würde, doch mir wurde auch schnell klar, dass diese bloße Überlegung dumm war, denn Nathan war vermutlich tot.
„Das klingt so, als hättest du es sehr genossen“, stellte ich fest.
„Ohja, das hab ich auch. Jedoch nur vorerst.“ Mariam seufzte leise, bevor sie fortfuhr - „Da lag ich nun also: Vollkommen befriedigt von dem ersten Orgasmus in meinem Leben und über mir ein gutaussehender, älterer Mann mit anscheinend viel Erfahrung. Klingt eigentlich ziemlich gut, doch so blieb es nicht. Er fing an sich und mich auszuziehen. Ich war noch vollkommen in Ekstase und lag einfach nur da und lächelte ihn verträumt an. Als wir nur noch Unterwäsche am Leib trugen, drückte er fordernd seine Lippen auf meine. Es war mein erster Kuss und ich hatte im Grunde keine Ahnung was ich tun sollte, deswegen versuchte ich mich irgendwie an den Takt seiner Lippenbewegungen anzupassen, aber es gelang mir nicht wirklich.
Vermutlich nervten ihn meine unsicheren Küsse, deswegen ließ er schnell von meinen Lippen wieder ab und widmete sich stattdessen dem Abstreifen meiner Unterwäsche. Nackt lag ich daraufhin vor ihm und er verteilte Küsse auf meinem Körper und schien dabei keinen Zentimeter auslassen zu wollen.
„Du bist mein kleines Stück dunkle Schokolade und ich will dich zum Schmelzen bringen“, flüsterte er mir ins Ohr und biss sanft auf mein Ohrläppchen.
Ich wusste nicht, ob ich das erotisch, rassistisch oder einfach nur lustig finden sollte, aber ich war zu sehr von ihm erregt, als dass ich hätte lange darüber nachdenken können.
Seine Boxershorts landete in der Nähe von meiner Bluse. Wir waren beide vollkommen nackt.
Komischerweise fühlte ich kaum Scham, als Herr Petersons Augen gierig über meinen Körper glitten.
Er nahm meine Hand und führte diese zu seiner Erektion. Etwas scheu berührte ich diese. Ich hatte – ausgenommen von den Bildern in den Büchern des Aufklärungsunterrichts – noch nie einen Penis gesehen, geschweige denn angefasst. Das war alles so neu für mich!
Meine Hand zitterte ziemlich, als ich mit meinen Fingerspitzen ganz sanft über sein Glied fuhr. Das Ding war härter, als ich es mir vorgestellt hatte.
„Nein“, sagte ich leise.Ich war noch nicht bereit für Sex. Außerdem war es verboten vor der Hochzeit Sex zu haben.
„Keine Angst, ich werde dich nicht entjungfern“, versprach Herr Peterson und mit einem Ruck wendete er meinen Körper unsanft, sodass ich auf dem Bauch lag - „Aber ich habe dir einen schönen Gefallen getan, also bleib einfach nur ein paar Minuten still liegen, dann sind wir quitt.“
„Nein“, wiederholte ich mit Nachdruck und versucht mich aufzurichten.
Als ich auf allen Vieren war und mich gerade aufrichten wollte, drang er in mich ein. Er schob seinen Penis jedoch nicht in meine Scheide, sondern in meinem Arsch! Ich wusste zuvor nicht einmal, dass so etwas möglich war. Woher denn auch? Beim Aufklärungsunterricht wurde das nie erwähnt.
Ich schrie vor Schmerzen auf. Mit meiner Erregung war es vollkommen vorbei, stattdessen wurde ich panisch und versuchte meinen Lehrer abzuschütteln, doch das schmerzte nur noch mehr. Er hielt mich unablässig an der Hüfte fest und rammte seine Erektion immer wieder in mein Arschloch. Seine Eier klatschten bei jedem Stoß erneut an meine Pobacken. Ich fühlte mich, als würde mir gleich der Arsch aufreißen.
„AUFHÖREN!“, kreischte ich unter Tränen, doch er ließ sich nicht beirren und machte grunzend und stöhnend weiter.
„Bitte“, wimmerte ich. Ich versuchte mich so wenig wie möglich anzuspannen und schloss die Augen, in der Hoffnung, dass er bald kommen und mich dann von meiner Qual erlösen würde.
Ich hatte Glück und er kam schnell. Das Sperma schoss in meinen Arsch und als er seinen Penis wieder hinaus zog, floss ein wenig mit ihm hinaus. Angewidert begann ich zu würgen. Er wendete mich wieder, als wäre ich ein Pfannkuchen. Noch immer tat mein Arsch schrecklich weh. Ich hatte noch nie so einen heftigen Schmerz gespürt.
„Einen kleinen Gefallen müsstest du mir noch tun, meine Liebe“, säuselte er.
„Ich will gehen … Lassen Sie mich sofort gehen“, versuchte ich zu schreien, doch es war eher ein jämmerliches Keuchen unter Tränen. Meine Stimme wackelte so sehr, dass ich mich gerne selbst geohrfeigt hätte. Ich hasste es Verletzlichkeit zu zeigen und ich wollte nicht so sein. Viel lieber wäre ich in dieser Situation stark und selbstbewusst gewesen. Ich hätte einfach wegrennen können, doch stattdessen kauerte ich mich nur ängstlich in eine Ecke des Geräteraums.
„Du bist so schön. Ich glaube du bist die Schönste, die ich je hatte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unfassbar hübsch du bist“, flüsterte er mir zu und wickelte sich eine Strähne meines schwarzen Haares um den Finger.“
Mariam hatte beim Erzählen Tränen in den Augen bekommen. Sie drehte sich kurz von mir weg und starrte aus dem Fenster.
„Ich glaube ich verstehe jetzt, wieso du ihn widerlich findest. Er ist wirklich ein Schwein!“, sagte ich und überlegte kurz, ob ich aufstehen sollte, um sie in den Arm zu nehmen oder so etwas in der Art, doch mein Fuß tat zum Aufstehen noch zu sehr weg.
„Das ist nicht das Ende“, murmelte Mariam und drehte sich wieder zu mir. Tränen rannen wie Sintfluten über ihr schönes Gesicht.
„Er zog mich daraufhin auf meine Knie und drückte mir den Kiefer auf. Ich wusste nicht, was er vor hatte, doch ich vermutete nichts gutes.
„Nimm ihn in den Mund“, befahl er mir.
Ich wollte den Kopf schütteln, doch er hielt mich so doll fest, dass ich dazu nicht in der Lage war. Gewaltsam öffnete er meine Mund und führte seinen Penis hinein. Immer tiefer und tiefer – bis er an meinem Zäpfchen ankam und ihn mir in den Hals schob. Ich begann heftig zu würgen und bekam kaum noch Luft. Panisch versuchte ich ihn wegzudrücken, doch er war zu stark.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und biss ihn so heftig ich konnte. Er schrie auf – wütend und schmerzerfüllt.
Während er seine Penis aus meinem Mund zog, nutzte ich die Zeit und sprang auf. Meine Blick glitt durch den Raum und suchte nach irgendwas, mit dem ich mich verteidigen könnte. Ich entdeckte eine Hantel und hob diese hoch. Stocksauer und mit hochrotem Kopf kam Herr Peterson wütend schnaufend auf mich zu. Er sah nicht so aus, als würde er mich verschonen wollen.
„Du schuldest mir jetzt doch noch was, du kleine Schlampe. Ich glaube ich könnte noch eine Runde anal vertragen“, sagte er hämisch grinsend und kam auf mich zu.
„Bleiben Sie fern von mir“, schrie ich - „Ich warne Sie!“
Er blieb jedoch nicht stehen.
„HILFE“, kreischte ich. Es war ziemlich dumm von mir, erst jetzt nach Hilfe zu rufen.
„Hier hört dich eh niemand“, sagte er herablassend.
Er hatte recht. Die Turnhalle war einem anderen Gebäude als der Rest der Erziehungsanstalt und um diese Uhrzeit war normalerweise niemand mehr hier.
„Kommen Sie mir nicht zu Nahe“, schluchzte ich und ich fing wieder an zu weinen.
„Nur noch ein kurzer Fick, dann kannst du gehen“, sagte er und lächelte mich boshaft an. Es sah fast aus, als würde er seine Zähne fletschen. Das war furchterregend.
Gerade als er nach mir greifen wollte, erhob ich mit all meiner Kraft die Hantel und schlug sie gegen seinen Kopf.
Er ging zu Boden.
Blut sickerte aus seinem Kopf und die Augen hatte er geschlossen. Da war so viel Blut, dass mir schlecht wurde. Ich wusste nicht genau, ob er bewusstlos war oder nur simulierte, deswegen trat ich ihn mehrmals mit dem Fuß in den Bauch und wartete auf eine kleine Reaktion, doch er regt sich nicht. Ich kniete mich vor ihn drückte zwei Finger auf die Innenseite seines Handgelenks, wo sich die Pulsschlagadern befanden. Spüren tat ich nichts. Gar nichts.
Ich wurde panisch. Hatte ich ihn etwa umgebracht?
Verzweifelt startete ich einen weiteren Versuch am anderen Arm und danach probierte ich am Hals aus seinen Pulsschlag zu fühlen, doch es geschah nichts. In meiner puren Angst lauschte ich an seinem Mund und der Nase und hoffte seinen Atem zu hören oder zu spüren – wieder nur eine bittere Enttäuschung.
Sein Körper lag einfach da. Leblos. Tot.
„Was soll ich bloß tun? Ich habe ihn umgebracht. Oh mein Gott, ich habe wirklich einen Menschen umgebracht. Ich bin Schuld an seinem Tod. Und jetzt muss ich auch sterben. Die Regierung wird mich deswegen töten. Oh Gott! Oh Scheiße! Was soll ich nur tun?“, redete ich mit mir selbst und begann bitterlich zu weinen.
Ich musste weg aus der Erziehungsanstalt. So schnell wie möglich.“
„Du hast versucht zu flüchten?“ Ich starrte Mariam schockiert an. Die Erziehungsanstalt war ein hochgesichertes Gebäude, man konnte nicht so einfach flüchten. Im Grunde war es unmöglich.
„Ich habe es nicht nur versucht. Ich habe es getan“, verbesserte mich Mariam tonlos.
„Aber wie?“, stammelte ich verblüfft.
„Erox 100 gehört zu den ärmeren Erziehungsanstalten und die Sicherheitsanlage war ziemlich veraltet. Ich zog mir Herr Petersons Uniform an, versteckte meine langen Haare unter seiner grauen Wollmütze und hielt meinen Blick beim Passieren der Tore gesenkt, damit die Kameras mein Gesicht nicht aufzeichnen konnten. Die Sicherheitstore konnte ich alle problemlos öffnen, indem ich einfach Herr Petersons Ausweis einscannte, den ich in seiner Hosentasche gefunden hatte. Es war im Grunde eine Leichtigkeit zu fliehen, doch als ich es hinaus geschaffte hatte, wurde es erst richtig schwer.
Ich hatte keine Ahnung wo ich hin sollte. Tagelang irrte ich durch die schneebedeckten Wälder Richtung Daminox. Dauernd fragte ich mich, wie es weiter gehen sollte. Nachts stand ich immer kurz vor dem Erfrieren und mein Essen suchte ich mir aus den Mülltonnen vor Restaurants. Ich war alleine und verängstigt. Mein einziger, ständiger Begleiter war meine Angst. Ich wusste, dass sie mich umbringen würde, wenn mich Polizisten alleine entdecken würden. Nach etwa einer Woche quartierte ich mich unter einer kleinen Brücke ein, über die nur selten Menschen fuhren. Ich zog mir die Mütze dabei so weit wie möglich ins Gesicht und wickelte mir dazu noch einen Schal um, den ich bei meiner täglichen Mülleimerdurchsuchung gefunden hatte. Man musste mich einfach für einen obdachlosen Mann halten, denn für die interessierte sich niemand. Mann war schließlich Mann.
Nach etwa einer Woche verschwand der Schnee gänzlich und die Temperaturen stiegen ein wenig. Ich dachte mir, dass ich endlich ein kleines bisschen Glück hätte, doch das war ein fataler Fehlschluss. An jenem Tag entdeckte mich eine Gruppe Männer und sie nahmen mich mit. Zu meiner Verwunderung brachten sie mich jedoch nicht um, sondern sie sperrten mich in einen dunklen Raum. Dieser Raum stank fürchterlich nach Blut, Kotze und Fäkalien. Essen bekam ich höchstens einmal am Tag. Ein Klo gab es nicht. Ich musste also da essen, wo ich auch mein Geschäft verrichtet hatte. Wie du dir jetzt vermutlich schon denken kannst, ist dieser Ort der Schwarzmarkt.“
Mariam sah nicht mehr so aus, als wäre sie kurz davor in Tränen auszubrechen, stattdessen wirkte sie sauer. Sehr sauer. So sauer, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie gleich alles in Schutt und Asche legen würde.
„Das Wort Schwarzmarkt trifft es ziemlich gut, denn alles was ich wochenlang sah war Schwärze. Nur einmal am Tag wurde meine Zelle spärlich beleuchtet, damit ich mein Essen erkennen konnte. Ein Bett gab es übrigens auch nicht und da die Zelle so winzig war, musste ich jede Nacht frierend in meinen eigenen Fäkalien und Essensresten auf dem Steinboden schlafen.
Jeden Sonntag gab es eine Art Ausstellung, bei der alle Mädchen zuvor mit kaltem Wasser abgespritzt und dann in Käfige gesteckt wurden. Zu dieser Ausstellung kamen Männer, die eine zweite Frau wollten – oder eine dritte, vierte oder fünfte. Wie du weißt, erlaubt die Regierung jedem Mann nur eine Frau – egal wie reich und einflussreich er ist -, aber bei den illegalen Schwarzmärkten kann man sich heimlich noch mehr anschaffen und das sogar günstiger als beim Heiratsmarkt. Herr Zurbor entschied sich unter anderem für mich und seitdem bin ich hier.“
Lange starrte ich Mariam an. Ich konnte gar nicht fassen, was sie alles durchgemacht hatte. Trotz meines schmerzenden Fußes stand ich auf und schloss sie in meine Arme.
„Wir schaffen das. Zusammen. Wir werden es schaffen uns ein besseres Leben aufzubauen. Irgendwie“, versprach ich ihr, doch ich hatte keine Ahnung wie ich dieses Versprechen einhalten sollte.
- Dieses Buch ist eine Rohfassung, die ich gründlich überarbeiten werde, sobald ich es beendet habe -
Texte: Lisa Menke
Bildmaterialien: Teetrinkerin
Tag der Veröffentlichung: 19.03.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine kleinen Komparsen, die selbst wissen, dass sie hiermit gemeint sind ♥