Keiner weiß es, keiner spürt es, aber ich bin hier. Ich sitze im Gebüsch, versuche mich nicht zu bewegen, nicht zu atmen. Ich liebe dieses Halbdunkel, die mit Sparflamme beleuchteten Sandwege, die am großen See vorbeiführen und eine Abkürzung zum Bahnhof bedeuten. Viele Frauen gehen da am Abend längst und machen sich keine Gedanken, wer oder was sich im Gebüsch verstecken könnte. Ich liebe ihre entsetzten Gesichter, wenn sie bemerken, dass ich es bin. Ich, der ihnen wahrscheinlich nichts Gutes will. Ich, der keine Spuren hinterlassen will. Es gibt keine Reste von meinen Opfern. Das stimmt auch nicht so ganz. Es gibt diese wunderschönen Bilder.
Angefangen habe ich vor fünf Jahren als Tierfotograf. Ich habe mich in Zelten und Tarnkleidung versteckt, bewaffnet mit einem Objektiv. Ich habe mich im Wald auf die Lauer gelegt, Vögel, Wölfe, Wild abgelichtet und diese Bilder auch veröffentlicht. Aber sie fanden nicht so den richtigen Anklang. Dann kaufte ich mir eine Mini-Kamera, buchte mir meinen Urlaub in fremden Gefilden, legte mich an den Strand und beobachtete die letzte Gruppe Tiere, die ich noch nie fotografiert hatte, die Menschen. Mein Spezialgebiet wurde die Po-Fotografie. Immer wenn ich einen wolhl geformten Hintern, egal ob Mann oder Frau in Badekleidung oder engen Hosen sah, musste ich heimlich ein Foto machen.
Auf meinen SD-Karten wimmelt es von Hinterteilen, mal braun gebrannt, mal blendend weiß. Mal knackig wie ein Apfel, mal rot wie eine Kirsche. Aber auch diesem Motiv wurde ich bald überdrüssig. Ich brauchte etwas anderes.
Eines Abends, als ich durch den dunklen Park ging, kam mir der Zufall zur Hilfe. Ich hatte mal wieder versucht back tot he roots zu gehen und ein paar Tieraufnahmen zu machen. Bekleidet mit meinem Tarnanzug, meiner Kamera und einer schwarzen Maske, hatte ich mich im Gebüsch versteckt und versucht ein paar Igelaufnahmen zu machen. Ich vergaß die Zeit um mich herum. Es wurde dunkler. Ich war vertieft in meine Beobachtungen, hatte jedoch noch kein Bild geschossen. Plötzlich hörte ich Schritte näherkommen. Feste, starke Schritte. Ich weiß bis heute nicht, was mich auf die Idee brachte. Ich brachte meine Kamera in den Anschlag, sprang aus dem Gebüsch hervor, hielt die Kamera in Höhe des Kopfes meines Gegenübers und drückte ab. Mehrere Fotos auf einmal. Dann rannte ich los. Der Mann war zu verdutzt, um zu reagieren. Zuhause angekommen, schaute ich mir die Bilder auf meinem PC an. Diese weit aufgerissenen Augen, dieser Angstschweiß, der sich sofort auf der Stirn bildete, den Mund geöffnet zum Schrei. Fantastisch. Ich konnte meinen Blick nicht von diesen Aufnahmen lösen.
Eine Idee wuchs in mir, mein nächstes Projekt. FoF, faces of fear, Gesichter der Angst. Nach diesem Abend wurde es zu meinem Hobby, mich in Gebüschen zu verstecken, jedes Mal, wenn ich auf Beobachtungstour ging, an einem anderen Ort, in einer anderen Stadt, in einem anderen Gebüsch, immer auf der Suche nach der Angst.
Ich beobachte die ausgewählten Personen bereits von Weitem mit meinem Fernglas. Habe ich sie auserkoren, meine Hauptfigur für den heutigen Abend zu sein, begebe ich mich in Stellung. Maske auf, Kamera im Anschlag, bereit zum Sprung aus dem Gebüsch. Ist mein Opfer nahe genug dran, springe ich hervor, drücke ab und bin gleichzeitig auch schon wieder auf der Flucht. Ich werde weltweit gesucht, aber das macht mir nichts. Meine Sammlung ist unermesslich. Die SD-Karten mit meinen Bildern habe ich im Wald vergraben, aber der Tag wird kommen, an dem ich ein Buch draus machen werde. Und diesmal wird man meine Bilder zu würdigen wissen.
Psst, da kommt jemand. Ich bin bereit und Tschüss.
Cover: Pixabay - fotshot
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2023
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