Wo ist ...? Teil 1

Es sollte mein großer Tag werden. Vorstellungsgespräch in der deutschen Niederlassung einer asiatischen Reederei. Ich war aufgeregt, das letzte Gespräch dieser Art hatte ich vor 25 Jahren geführt und nun durfte ich es wiederholen. Mal gucken, ob meine jahrelange Berufserfahrung auch etwas für die Gesprächsführung dieser besonderen Art gebracht hatte. Den Vortag hatte ich bei der Kosmetikerin und dem Friseur meines Vertrauens verbracht. Neue Haarfarbe, neuer Schnitt, ordentlich Peeling und Cremes im Gesicht, um es optisch zu straffen und schon fühlte ich mich wohler. Im Anschluss fuhr ich mit meinem Auto ins AEZ, kaufte mir ein schönes Sommerkleid und neue Schuhe.

 

So stand ich nun vor dem Spiegel und betrachtete mich runderneuert im Spiegel. So konnte man gehen. Ein Griff in das Handtaschenregal hinter mir und erst einmal die passende Handtasche zum neuen Stil herausgesucht. Handtasche ist jetzt etwas untertrieben, es war ein Shopper, diese etwas größeren Teile, die man über der Schulter trug und in der man auch noch mal schnell ein paar Einkäufe verstauen kann. Einziger Nachteil dieses Formats, es passt auch zu viel Kleinkram hinein, so dass Frau ständig am Suchen ist und das Unterste zu Oberst kehrt. Wie soll man da noch den Überblick behalten. Ich schmiss meine Utensilien in die Tasche, sprich Handy, Make-up, Katenbörse, Block, Schreibstifte, Handcreme und was Frau sonst noch so bracht, Dinge halt, wie Tampons, Taschentücher, Wattepads, Maniküre-Set, falls ein Nagel abbricht, Nagellack für den Fall der Fälle, die Kopfhörer fürs Handy, die Tasche füllte sich. Ordentlich gepackt, stellte ich die Tasche auf den Schuhschrank im Flur, legte meine Klamotten zurecht und begab mich ins Bett.

 

Am nächsten Morgen erwachte ich gut gelaunt. Ich freute mich bereits auf das Gespräch, hatte diesen berühmten flauen Magen. Ich bereitete mich vor. Nachdem die Körperpflege beendet war, ich einen kleinen Bissen im Mund hatte, machte ich mich an das Make-up. Geschafft, Gesicht sah immer noch gestraffter aus, auch wenn dieses wohl eher einer optischen Täuschung entsprach. Nagellack noch einmal überprüft, extra dezent rosa gewählt, da fiel es nicht so auf, wenn etwas fehlte und Tasche über die Schulter geworfen. Ein Blick in den Spiegel, ich gefiel mir. Jetzt noch schnell mein Schlüsselbund gegriffen…

 

Wo war mein Schlüsselbund? Ich wusste genau, ich hatte ihn an einen Ort gelegt, den ich nicht vergessen konnte. Richtig sicher. Ein Blick auf seinen Stammplatz, nein, da lag er nicht. Die Handtasche durchwühlt. Vom Boden aufwärts und zurück, alle Seitentaschen ebenso, auch nichts. Der Schlüssel war weg, ich musste los. Noch einmal den Gang vom gestrigen Tage nach vollzogen, und zwar Tatortbegehung gleich. Haustür auf, Schuhe aus, Einkaufstaschen in die Küche gebracht. Schuhe weggepackt, Jacke aufgehängt, Taschen ausgepackt, Kaffee gekocht, aufs Sofa gelegt und Fernsehen geguckt, aber kein Schlüssel zu sehen.

 

Ich hatte keine Zeit mehr. Nunmehr schwer in Panik, das Bett auseinandergebaut, den Ausschnitt des Teppichbodens hochgehoben und die Ersatzschlüssel hervorgekramt. Ein Blick auf die Fingernägel, kleine künstlerische Placken zeigten ein neues Nageldesign. Dann musste man halt die Finger verstecken, während man im Gespräch saß. Ich rannte zum Auto, schloss auf, setzte mich hinters Steuer und kramte den Nagellack hervor. Neue Idee, schnell lackierte ich die linke Hand, startete den Motor und fuhr los. Solange die Hand am Steuer blieb, konnte ich den Lack nicht wieder ruinieren. Zehn Minuten später kam die andere Hand dran. Gott sei Dank hatte ich einen Automatikwagen, so ging durch das Schalten nicht wieder der Lack kaputt. So gut vorbereitet kam ich an, führte ein souveränes Gespräch und bekam den Job.

 

Wieder zuhause angekommen, schmiss ich meine Tasche auf die Spülablage, es klirrte und da war er, der Schlüsselbund meiner Begierde. Ein echt guter Platz, den man nicht vergessen kann.

 

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Cover: Pixabay j_lloa
Tag der Veröffentlichung: 29.06.2023

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