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Ansichten eines ICEs

Ich stehe hier und warte. Wie so oft, verharre ich im Ruhestand, aus einem mir unerfindlichen Grund. Ich wurde geschaffen, zu fahren, zu transportierten, zu befördern, einfach nur, um Wege schneller zu machen. Ich schleppe zwischen 406 und 455 Tonnen Leergewicht mit mir rum, wenn die Fracht, mich nicht auseinandergenommen hat.

 

Stolz blicke ich mich um. Ja Leute, kriecht in meinen Bauch, lasst euch nieder und lasst euch auf mich und meine Launen ein. Mit was soll ich euch heute den Tag verderben? Schweinetransporter? Geht nicht. Ein Blick in mein System zeigt mit, ich bin komplett, alle Wagen sind angeschlossen, mit Zusammenpferchen wird das heute nichts.

 

Nächste Möglichkeit, technischer Defekt. Klimaanlage, gute Idee. Temperatur runterregeln auf 18 Grad. Ich frier nicht, alles was ich dem Transportgut nicht gebe, kann ich selbst behalten.

 

Weichenstörung? Kann ich nicht beeinflussen. Bord-Bistro? Oh, guter Einfall, Stromausfall am Kaffeevollautomaten und an der Mikrowelle. Es reicht, wenn sich die Ware Fahrgast mit Snacks und Sandwiches bis Kassel über Wasser halten kann. Dann kommt, wenn sie Glück haben, der Snackwagen mit frischem Kaffee und neuen Snacks und Sandwiches oder der Brezelverkäufer. Cappuccino und Café Latte sind heute nicht. So, Strom im Bistrowagen, heruntergefahren, Check.

 

Soll das Gut doch bekommen, was es immer von uns fordert, seine Verspätung und die sollte heute schon üppig ausfallen. Noch ein paar kleine Fehler ins System eingebaut, die sollen sich aber erst unterwegs bemerkbar machen.Was für eine Idee, Ausfall der Toiletten, nicht alle, aber immerhin so viele, dass es ein Gedrängel davor geben wird. So!

 

Die Türen öffnen sich endlich, es kann losgehen. An den Einstiegen ein Gedränge, ein Schupsen. Mein Korpus geschändet durch das ewige Anschlagen der schweren Koffer und anderer Gepäckgegenstände, wie Kinderkarren und Musikinstrumente. Wäre ich Mensch, hätte ich jetzt Aberdutzende blaue Flecken, einen von Dritten geschundenen Körper.

 

Das Wetter lässt mich auch leiden, denn es regnet ohne Unterlass, was wiederum heißt, mein schöner blauer Teppich weißt weitere dreckverschmierte Flecken auf. Keine Rücksicht nimmt dieses Transportgut auf mich, unausstehlich.Jeder kümmert sich nur um sich und seine elektronischen Geräte, will ab und an mal etwas Kaffee loswerden und auch mal welchen konsumieren. Ich hasse euch. Die Ladung ist verstaut, die Fahrt kann losgehen. Ich zeige euch jetzt….

 

Puh, der Strom durchfließt meine Adern. Langsam fange ich an zu laufen. Versuche, mich in Bewegung zu setzen. Gar nicht so einfach. Ich spüre es in meinen Knochen, da ist mehr Ware verstaut worden, als ich Plätze habe. Sie können den Hals nicht voll genug bekommen.

 

Wenn man mich vorher fragen würde, dann würde ich die Türen schließen, wenn mir mein Bauchgefühl sagt, genug ist genug. Aber nein, alles muss rein, alles muss weg.

 

Ich setze mich weiter in Bewegung, schwer schnaubend und das, obwohl ich trainiert bin. Ich dürfte so an die 1000 Tonnen bewegen. Wir werden schneller. Ein Blick nach links und rechts, wunderschön diese Fahrt über die Mainbrücke.

 

Fünf Minuten unterwegs und die erste Störung, da raucht doch irgend so ein Idiot auf der Toilette in Wagen 8, das muss unterbunden werden. System durchsuchen, ach, da ist es ja. Spülung aus. So, das habt ihr jetzt davon. Jetzt muss der Zugbegleiter die Türen verschließen, Wagen acht ohne Toilette, wir bewegen uns meinem Ziel >Verspätung< entgegen.

 

Ne, jetzt ist aber gut, da hat doch einer die Kaffeemaschine wieder in Gang gebracht. Ich muss tätig werden. Strom kappen an anderer Stelle. In Kassel können sie sich ja Kaffeekannen und mehr Snacks an Bord bringen lassen. Und was nun?

 

Rumms, Vollbremsung. Die Fracht wird durcheinandergeschüttelt, ich spüre Flüssigkeit auf meinem Boden. Ich habe die Schnauze voll, keiner respektiert mich und meinen Körper. Ich bin zwar kein Mensch, aber ich lebe auch. So, Warnblinkleuchten an im Cockpit des Zugführers. Wollen doch mal sehen, wie er darauf reagiert.

 

Oh, er drückt panisch Knöpfe. Kurz mal Augen auf, Shit, die Weiterfahrt ist erlaubt, aber er gibt kein Gas. Hey, was soll das? Ich will noch ein wenig Spaß haben.

 

Durchsage: »Aufgrund einer Systemstörung müssen wir den Zug einmal runterfahren und neu starten, das kennen sie ja von ihren Computern zuhause. Dies kann bis zu einer halben Stunde dauern.«

 

Juhu, Ziel erreicht, Verspätung. Was ist jetzt? Mir wird schwarz vor Augen. Ich ....

 

So ein neuer Tag ist doch was Schönes. Einmal kurz schütteln, Systemcheck durchführen, alle Systeme okay. Kann losgehen. Wieso stehen wir auf freier Strecke. Auf Befehl, sprich Knopfdruck, des Zugführers setze ich mich langsam in Bewegung. Etwas schwer heute, aber was tut man nicht alles, um eine Fracht wohl behalten an ihr Ziel zu bringen. Ich werde schneller. Das macht richtig Spaß und bald kommt mein Lieblingsabschnitt, das Bergabfahren zwischen Göttingen und Hannover. Hui, das wird spaßig.

 

 

Wobei, eine Verspätung herausfahren, wäre jetzt auch ein netter Spaß.

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Cover: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 19.01.2023

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