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Raub der Sinne 2011

 

Rothenburg ob der Tauber das Mekka der Weihnachtsfetischisten

 

Home of Käthe Wohlfahrt.

 

Der Ort, der meine EC-Karte zum Glühen brachte.

 

Es gibt nur einen Platz auf dieser Welt, an den Menschen reisen sollten, die von diesem geheimnisvollen Virus, den man Weihnachten nennt, infiziert sind und auch nicht wieder davon loskommen. Bis heute hat die medizinische Forschung kein Mittel gegen diesen Virus gefunden, der uns an den Rand der Pleite bringt und das mit allen gemeinen Tricks, die auf der Erde existieren. Gemeint ist Rothenburg ob der Tauber, die Heimat der weltberühmten „Käthe Wohlfahrt“ Produktionsstätte. Dieses kleine, beschaulich romantische Städtchen mit seinen guterhaltenem Ortskern, der einen stets an alte Zeiten erinnert, ist das ganze Jahr über besiedelt von Touristen aus aller Welt, hauptsächlich aber Amerikaner und Japaner. Und jeder dieser Touristen will das Gleiche, dass auch wir wollten, als wir uns entschieden, dieses Plätzchen zu erobern: Käthe Wohlfarths Weihnachtsmarkt und seine Erzeugnisse.

 

Wir reisten mit kleinem Gepäck, Grund war unser Zimmer in einer kleinen Pension im alten Stadtkern. Wir wussten, dass wir mit dem Gepäck vom Bahnhof, dorthin wandern mussten. Es war kalt an diesem Novembertag 2005. Vor der Pension mussten wir auf die Eigentümer warten, die man per Klingel herbeirufen konnte. Klingelte man an der Tür, klingelte 10 Autominuten entfernt bei ihnen zuhause das Telefon.

 

Nach besagten 10 Minuten in der Kälte, bei beginnendem Schneefall, erschien der Vermieter, händigte uns unsere Schlüssel aus und verschwand wieder. Er wusste warum. Es gab kein warmes Wasser, bzw. dieses kam erst, nachdem man es hatte, 10 Minuten laufen lassen. Egal, denn wir wollten hier ja nur schlafen. Unser größtes Ziel war es den Tempel der Weihnachts-fetischisten zu erforschen, mit der Gewissheit, dass unser Konto sehr darunter leiden würde.

 

Nachdem die Siebensachen verstaut waren, machten wir uns sofort auf den Weg. Leider kamen wir an diesem Abend nur ca. 350 Meter weit. Der Grund hierfür waren die vielen Geschäfte, die den Weg kreuzten, aus denen es weihnachtlich blinkte und glitzerte. Nach zwei Stunden kehrten wir vollbepackt, der Sinne schon in der ersten Straße beraubt, in die Pension zurück. Nachdem wir uns von der wundervollen Last befreit hatten, ging es auf die Suche nach einem Restaurant, in dem wir zu Abend essen konnten. Wir fanden es, nur ca. 100 Meter vom Tempel der Sehnsüchte entfernt, gleich neben dem Rathaus. Nach dem Essen gingen wir zum Gebäude der Weihnachtsgläubigen, schauten in die Schaufenster und drückten uns die Nasen an selbigen platt. Mittlerweile hatte man die Käthe Wohlfahrt Gehirnwäsche bei uns abgeschlossen und uns jeglichen Verstands beraubt. Unser Hirn hatte nur ein Ziel, Eintritt in den Tempel der Sehnsüchte, und all die wundervollen Dinge zu bestaunen und zu kaufen. Wie sehr man uns verzaubert hatte, sollten wir und unsere Geldbörse erst einen Tag später erfahren.

 

Am nächsten Tag besichtigten wir, nach unserem mehr als dürftigem Frühstück, das Spielzeug Museum. Bewusst schlugen wir einen anderen Weg ein, um der Gefahr dieser gefährlichen 350 Meter langen Geschäftsstraße zu entgehen. Für Menschen, die altes Spielzeug lieben, ist dieses Museum einfach ein Muss. Aber dann kam der große Augenblick. Wir betraten den Tempel unserer Sehnsüchte, die Kathedrale der Kugeln und Anhänger, den Dom der Weihnachtsfetischisten, kurz und bündig; Käthe Wohlfahrt. Nachdem wir unsere Füße in den Andachtsort gesetzt und einen ersten Blick in das Innere geworfen hatten, beteten wir zu unserem Bankkonto; möge unsere EC-Karte und unser Kontostand reichen bis zum Schluss.

 

Wir stiegen hinab in die Düfte der Weihnachtswelt, bewunderten die leuchtenden Weihnachtsgegenstände und folgten den Spuren von Hunderttausenden vor uns. Aus unseren Mündern entwich nur noch ein Oh und Ah oder ein, das muss ich haben. Es wurde eingepackt und eingepackt. Jedes Stück schöner als das Vorhergehende und die Augen der Verkäufer leuchteten ob unseres ausgeschalteten Gehirns. Ihr Glimmen erhellte den Gang durchs Mittelschiff. Wir wurden ferngelenkt. Es war, als ob die Weihnachtsengel mit uns sprachen; nimm mich, kauf mich. Wir hielten uns vier Stunden in unserem Lieblingstempel auf. Als wir ihn verließen, fühlten wir uns glücklich und zufrieden.

 

Der folgende Tag begann mit dem Kauf von zusätzlichen Reisetaschen, um das Erworbene gut und sicher nach Hamburg zu bringen. Und dann taten wir das, für Normaldenkende, unfassbare, wir betraten noch einmal unseren Tempel zum Gebet, wohl wissend, dass diese Entscheidung unser Konto sprengen konnte. Es half nichts, Käthe hatte uns voll im Griff mit ihren Taschenspielertricks, dem Glitzer der Kugeln, dem Klingeln der Glocken, dem Klang der Spieluhren und dem Leuchten der Weihnachtsengel.

 

Wir haben es überlebt und planen eine neue Wallfahrt nach Rotenburg ob der Tauber, allerdings erst im nächsten Jahr, da sich unsere Konten immer noch in der Rekonvaleszenz befinden. Derweil gründeten wir mit anderen Geschädigten eine Selbsthilfegruppe gegen die Gehirnwäsche und erhoben eine Massenklage gegen die Diebstähle der Sinne. Wir werden nach unserer Genesung eine Tatortbesichtigung einplanen wohl wissend, dass man uns erneut den Verstand rauben wird, während unserer Wallfahrt zum Tempel der Sehnsüchte.

 

 

Schiet Weihnachten 2012

 

Leise rieselten die Schneeflocken vom Himmel. Das Weiß dämpfte die Schritte von Sarah, die sich gerade vollbepackt auf dem Weg zu ihrer kleinen Altbauwohnung in Dulsberg befand. Sie kam von der Tafel. Dort hatte sie sich und ihre Kinder mit Lebensmitteln für die nächste Woche versorgt. Die Schlaufen der Plastiktüten schnürten sich in ihre Hände, die fast taub waren vor Kälte. Sie hatte Schwierigkeiten die Tür aufzuschließen, so sehr schmerzten ihre Finger. Als Erstes klingelte sie im Erdgeschoss bei der alten Frau Lehmann, um ihre beiden Sprösslinge dort abzuholen, auf die ihre Nachbarin aufgepasst hatte, während Sarah die Tafel aufgesucht und die Besorgungen für die Nachbarn erledigte.

 

Bernd und Lena kamen ihr, vor Freude, strahlend entgegengelaufen. „Mama, Mama guck mal, was Oma Lehmann mit uns gemacht hat? Wir haben Wunschzettel für Weihnachten geschrieben. Ich möchte so gerne eine Barbie haben.“ „Und ich ein ferngesteuertes Feuerwehrauto und ein Buch und Schlittschuhe.“ Sarah strich Bernd durch sein kurzes braunes Haar. „Da müssen wir einmal gucken, ob ihr brav gewesen seid im letzten Jahr und was euch der Weihnachtsmann bringen wird.“ Sie lieferte, auf dem Weg zu ihrer Dachgeschoss-Wohnung, die Besorgungen für die restlichen Nachbarn ab. Endlich schloss sie die Tür zu ihrer kleinen Zweizimmerwohnung auf und ließ die Kinder hineinlaufen. Sarah räumte die Lebensmittel ein, um anschließend essen zu kochen. Nachdem ihre kleine Familie gegessen hatte, wusch sie das Geschirr ab, setzte sich ans Fenster und schaute hinaus in die sternenklare Winternacht. Eine Träne lief über ihre rechte Wange, als sie über ihr Schicksal nachdachte. Vor zwei Jahren war

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 16.11.2021
ISBN: 978-3-7487-9952-8

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